Sicherheit und Humanität im Ersten und Zweiten Weltkrieg: Der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Ausnahmezustand 9783110532203, 9783110529951, 9783111086996

Das vorliegende Werk behandelt die repressiven Maßnahmen, die während der beiden Weltkriege in den kriegführenden Staate

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Sicherheit und Humanität im Ersten und Zweiten Weltkrieg: Der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Ausnahmezustand
 9783110532203, 9783110529951, 9783111086996

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung: Sicherheit und Menschenrechte. Dilemmata und Diskussionen in Gegenwart und Geschichte
2 Konzeptionelle Grundlage: Sicherheit, Menschenrechte und Zivilgesellschaft in vergleichs- und verflechtungsgeschichtlicher Perspektive
3 Mobilisierung und Überwachung im Zeichen der Sicherheit in den beiden Weltkriegen: die Internierung von Feindstaatenangehörigen und ihre Kontexte
4 Sicherheit und „innere Feinde“: Propaganda, Mobilisierung und Politik im Ersten Weltkrieg
4.1 Großbritannien
4.2 Deutsches Kaiserreich
4.3 Frankreich
4.4 Russisches Zarenreich
4.5 Österreich-Ungarn
4.6 Osmanisches Reich
4.7 Italien
4.8 Rumänien und Bulgarien
4.9 Vereinigte Staaten von Amerika
4.10 Lateinamerika
4.11 Japan
4.12 Britische Kolonien und Dominions
4.13 Neutrale Staaten
5 Ambivalente Gegenkräfte: zivilgesellschaftliche Aktivitäten und humanitäres Engagement im Ersten Weltkrieg
6 Der „innere Feind“: Propaganda, Mobilisierung und Politik im Zweiten Weltkrieg
7 Humanitäres und zivilgesellschaftliches Engagement für zivile Feindstaatenangehörige im Zweiten Weltkrieg
8 Fazit: Der Umgang mit „inneren Feinden“ in den beiden Weltkriegen zwischen Sicherheitskonstruktionen und Humanitätspostulaten
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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Arnd Bauerkämper Sicherheit und Humanität im Ersten und Zweiten Weltkrieg

Bibliotheks- und Informationspraxis

 Herausgegeben von Klaus Gantert und Ulrike Junger

Band 67

Arnd Bauerkämper

Sicherheit und Humanität im Ersten und Zweiten Weltkrieg  Der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Ausnahmezustand

Band 1: Erster Weltkrieg

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort

ISBN 978-3-11-052995-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053220-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053004-9 Library of Congress Control Number: 2020950599 Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Reinhard Mundschütz: Eingang zum Internierungslager Markl (1914–1918) Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

www.degruyter.com

 Für Anke

Vorwort Dieses Buch hat eine längere Geschichte. Sie begann mit der Diskussion über den Umgang mit dem Terrorismus nach den Anschlägen vom 11. September 2001, die nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch in anderen Ländern z. T. heftige politische Kontroversen über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit ausgelöst hat. Wie können angesichts akuter Gefahren in Demokratien die Gewaltenteilung bewahrt und Menschenrechte als wichtiges Wertefundament geschützt werden? Meine Studien zur Entstehung und zum Wandel von Zivilgesellschaft nahmen diese Debatten ebenso auf wie meine Untersuchungen zu Sicherheitsdiskursen und -maßnahmen in den beiden Weltkriegen. Der Gerda-Henkel-Stiftung bin ich besonders verbunden durch die Verleihung einer Gastprofessur, die mir 2017/18 in London eine konzentrierte Arbeit an dem Manuskript erlaubte. Weiterführende Anregungen erhielt ich dort in Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen am Deutschen Historischen Institut und im Department of International History der London School of Economics and Political Science. Darüber hinaus erwies sich die Mitarbeit im Internationalen Graduiertenkolleg „Human Rights under Pressure“ an der Freien Universität Berlin und an der Hebrew University of Jerusalem als besonders fruchtbar. Nicht zuletzt waren Hinweise von Studierenden in mehreren Lehrveranstaltungen an der Freien Universität Berlin weiterführend. Bei der Recherche halfen in den verschiedenen Stadien der Vorbereitung Alice Hailperin, Verena Nöthig, Felicitas Remer und Franziska Bolz als zuverlässige Studentische Hilfskräfte. Bei der Endredaktion engagierte sich Maximilian Vogel überaus tatkräftig. Clara von Hirschhausen unterstützte mich in der letzten Phase bei der Anfertigung des Personen- und Sachregisters. Dr. Georg Wurzer bin ich für zahlreiche Hinweise zu den Abschnitten über Russland verbunden. Rabea Rittgerodt, Martin Rethmeier und Andreas Brandmair (Verlag de Gruyter Oldenbourg) danke ich für ihre ausgezeichnete Betreuung, das Lektorat und ihre Geduld. Der Druck erfolgt mit freundlicher Unterstützung der VG Wort (München). Zur Entstehung des Buches hat meine Ehefrau Anke mit ihren Anregungen, aber auch ansonsten mit ihrer kontinuierlichen Unterstützung besonders kräftig beigetragen. Ihr ist das Buch deshalb gewidmet. Berlin, im Herbst 2020

https://doi.org/10.1515/9783110529951-201

Arnd Bauerkämper

Inhaltsverzeichnis

Band 1: Erster Weltkrieg Vorwort  VII Abkürzungsverzeichnis  XI 1

Einleitung: Sicherheit und Menschenrechte. Dilemmata und Diskussionen in Gegenwart und Geschichte  1

2

Konzeptionelle Grundlage: Sicherheit, Menschenrechte und Zivilgesellschaft in vergleichs- und verflechtungsgeschichtlicher Perspektive  39 Sicherheit  39 Humanität und Menschenrechte  70 Zivilgesellschaft  126

2.1 2.2 2.3 3

Mobilisierung und Überwachung im Zeichen der Sicherheit in den beiden Weltkriegen: die Internierung von Feindstaatenangehörigen und ihre Kontexte  130

4

Sicherheit und „innere Feinde“: Propaganda, Mobilisierung und Politik im Ersten Weltkrieg  189 Großbritannien  189 Deutsches Kaiserreich  293 Frankreich  343 Russisches Zarenreich  367 Österreich-Ungarn  419 Osmanisches Reich  448 Italien  469 Rumänien und Bulgarien  478 Vereinigte Staaten von Amerika  481 Lateinamerika  502 Japan  510

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11

X  Inhaltsverzeichnis

4.12 4.12.1 4.12.2 4.13 5

Britische Kolonien und Dominions  515 Dominions  519 Kolonien  556 Neutrale Staaten  575 Ambivalente Gegenkräfte: zivilgesellschaftliche Aktivitäten und humanitäres Engagement im Ersten Weltkrieg  595

Band 2: Zweiter Weltkrieg 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.9.1 6.9.2 6.9.3 6.10

Der „innere Feind“: Propaganda, Mobilisierung und Politik im Zweiten Weltkrieg  689 Großbritannien  689 Deutschland  760 Frankreich  778 Sowjetunion  793 Italien  800 Vereinigte Staaten von Amerika  806 Lateinamerika  837 Japan und Ostasien  844 Britische Kolonien, Mandatsgebiete und (ehemalige) Dominions  860 (Ehemalige) Dominions  860 Kolonien  891 Andere Dominions, Kolonien und Mandatsgebiete im Empire  895 Neutrale Staaten  907

7

Humanitäres und zivilgesellschaftliches Engagement für zivile Feindstaatenangehörige im Zweiten Weltkrieg  918

8

Fazit: Der Umgang mit „inneren Feinden“ in den beiden Weltkriegen zwischen Sicherheitskonstruktionen und Humanitätspostulaten  1002

Literaturverzeichnis  1043 Personenregister  1119 Sachregister  1131

Abkürzungsverzeichnis AAAC

Academic Assistance Council

ACLU

American Civil Liberties Union

ACMA

Authorised Competent Military Authorities

ADM

Admiralty

ADV

Alldeutscher Verband

AECU

Alien Enemy Control Unit

AFSC

American Friends Service Committee

AI

Amnesty International

AIGP

Agence internationale des prisonniers de guerre

APL

American Protective League

ARA

American Relief Administration

ARC

American Red Cross

ASU

Anti-Socialist Union

BBL

British Brothers’ League

BCSC

British Columbia Security Commission

BEU

British Empire Union

BF

British Fascisti (British Fascists)

BNV

Bund Neues Vaterland

BOI

Bureau of Investigation

BRA

British Residents’ Association

BRC

British Red Cross Society

BSP

British Socialist Party

BUF

British Union of Fascists

BWL

British Workers’ League

CBF

Central British Fund for the Jewish Relief and Rehabilitation

CCR

Commission des Centres de Ressemblement

CCUARS

Central Council of United Alien Relief Societies

CFR

Commission for Relief

CIA

Central Intelligence Agency

CIB

Commonwealth Investigation Branch

CID

Committee of Imperial Defence

CIMADE

Service œcuménique d’entraide

CJV

Comité voor Joodsche Vluchtelingen

CO

Colonial Office

CPD

Emergency Advisory Committee for Political Defense

CPGB

Communist Party of Great Britain

https://doi.org/10.1515/9783110529951-203

XII  Abkürzungsverzeichnis

CUST

Boards of Customs, Excise, and Customs and Excise, and HM Revenue and Customs

DAI

Deutsches Ausland-Institut

DLM

Deutsche Liga für Menschenrechte

DORA

Defence of the Realm Act

DP

Displaced Person

DRK

Deutsches Rotes Kreuz

EMIGDIRECT

Emigrations directorium

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FBI

Federal Bureau of Investigation

FCR

Friends Committee for Refugees

FCRA

Friends Committee for Refugees and Aliens

FEC

Friends Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians, Hungarians and Turks in Distress

FEWVRC/EME Friends Emergency and War Victims Relief Committee FO

Foreign Office

FVP

Fortschrittliche Volkspartei

GAC

German Jewish Aid Committee

GAV

Gustav-Adolf-Verein

GEC

Germany Emergency Committee

GRO

General Register Office for England and Wales

GVD

Grensbewaking en Vreemdelingendienst

HIAS

Hebrew Immigrant Aid Society

HICEM

Abkürzung des Zusammenschlusses von HIAS, JCA and EMIGDIRECT

HO

Home Office

IFL

Imperial Fascist League

IKRK

Internationales Komitee vom Roten Kreuz

ILO

International Labour Organization

ILP

Independent Labour Party

INS

Immigration and Naturalization Service

IRA

Irish Republican Army

IRO

International Refugee Organisation

IWRC

International Women’s Relief Committee

IWW

Industrial Workers of the World

JACD

Japanese American Committee for Democracy

JACL

Japanese American Citizens League

JCA

Jewish Colonization Association

JCCC

Japanese Canadian Citizens Council

JDC

Jewish Joint Distribution Committee

JIC

Joint Intelligence Committee

Abkürzungsverzeichnis 

JOINT

American Joint Distribution Committee

JPC

Jewish People’s Council

JRA

Jewish Relief Association

JRC

Jewish Refugees Committee

JWC

Joint War Comittee

KEF

Komitee für Einheit und Fortschritt

Komintern

Kommunistischen Internationale

KSZE

Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit

KV

Security Service (Großbritannien)

KZ

Konzentrationslager

LCO

Lord Chancellor’s Office

LGB

Local Government Boards

LRCS

League of Red Cross Societies

LSF

Library of the Religious Society of Friends

MO5

Military Operations Directorate 5

MO9

Military Operations Directorate 9

MEW

Ministry of Economic Warfare

XIII

MI5

Military Intelligence 5

MI9

Military Intelligence 9

MID

Military Intelligence Department

MSPD

Mehrheitssozialdemokratische Partei

NCCL

National Council for Civil Liberties

NJCSR

National Joint Committee for Spanish Relief

NKWD

Narodnyj kommissariat wnutrennich djel (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten)

NMEG

Nisei Mass Evacuation Group

NP

National Party

NSA

National Security Agency

NSB

Nationaal-Socialistische Beweging

NSC

National Savings Committee

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NSL

National Service League

NUWM

National Unemployed Workers Movement

NWAC

National War Aims Committee

OGPU

Objedinjonnoje gossudarstwennoje polititscheskoje uprawlenije (Vereinigte staatliche politische Verwaltung)

OSE

Oeuvre de Secouraux Enfants

PMS2

Parliamentary Military Secretary Department, No. 2 Section

PREM

Prime Minister’s Office

PWRA

Prisoners of War Relief Agency

XIV 

RF

Abkürzungsverzeichnis

Rockefeller Foundation

RG

General Register Office

RMCP

Royal Canadian Mounted Police

RSHA

Reichssicherheitshauptamt

SCFIU

Save the Children Fund International Union

SFFD

Society of Friends of Foreigners in Distress

SHAEF

Supreme Headquarters of the Allied Expeditionary Force

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SPSL

Society for the Protection of Science and Learning

SRF

Serbian Relief Fund

SRK

Schweizerisches Rotes Kreuz

TUC

Trades Union Congress

UDC

Union of Democratic Control

UGIP

Union Générale des Israélites de France

UNRRA

United Nations Relief and Rehabilitation Administration

USPD

Unabhängige Sozialdemokratische Partei

VDA

Verein für das Deutschtum im Ausland

VRC

War Victims’ Relief Committee

WAGL

Women’s Anti-German League

WCCA

Wartime Civil Control Administration

WILPF

Women’s International League für Peace and Freedom

WO

War Office

WPA

War Prisoners Aid

WRA

War Relocation Authority

WRB

War Refugee Board

WRC

War Refugees Committee

YMCA

Young Men’s Christian Association

ZA

Zentral-Ausschuss für Hilfe und Aufbau

1 Einleitung: Sicherheit und Menschenrechte. Dilemmata und Diskussionen in Gegenwart und Geschichte It is impossible to read the history of the petty republics of Greece and Italy without feeling sensations of horror and disgust at the distractions with which they were continually agitated, and at the rapid succession of revolutions by which they were kept in a state of perpetual vibration between the extremes of tyranny and anarchy. […] From the disorders that disfigure the annals of those republics the advocates of despotism have drawn arguments, not only against the forms of republican government, but against the very principles of civil liberty. They have decried all free government as inconsistent with the order of society, and have indulged themselves in malicious exultation over its friends and partisans.1

Schon in den Federalist Papers beschwor Alexander Hamilton 1787 mit Hinweis auf die antiken griechischen und römischen Republiken die Gefahr, dass Demokratien bei akuten Gefahren und inneren Krisen zu Diktaturen werden könnten. Im Ausnahmezustand ziehen – so die Befürchtung – Bevölkerungen Sicherheit der Freiheit und Humanität vor. Aber vor allem im 20. Jahrhundert ist wiederholt heftig über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit gestritten worden. Beide Begriffe sind in der politischen Diskussion der letzten Jahrzehnte zu einflussreichen, aber oft nahezu beliebig benutzten Konzepten geworden, die verschiedene Akteure – unter anderem Politiker und Journalisten – auf unterschiedliche Politikfelder bezogen haben. Sie sind nicht nur für Schutz vor Kriegen, Kriminalität und Lebensrisiken eingetreten, sondern auch für Versorgungssicherheit. So ist angesichts der Nuklearkatastrophe in Japan 2011 von Politikern wie Norbert Röttgen nachdrücklich verlangt worden, in der Energiepolitik „Sicherheit neu [zu] denken“, um die „Sicherheit kommender Generationen“ zu gewährleisten. Damit haben sich auch zahlreiche neugegründete Verbände und Gesellschaften zur Sicherheitspolitik befasst. Die Herausbildung eines grenzüberschreitenden universalistischen Menschenrechtsdiskurses hat schließlich sogar dem noch weiterreichenden Ziel der human security Auftrieb verliehen. Damit verbunden, ist risk management zu einer zentralen politischen Aufgabe geworden.2 Von der Römischen Republik, die Sulla als dictator 82 v. Chr. beseitigte, über die Gesetze gegen die Revolutionäre in verschiedenen europäischen Ländern bis zum „Ermächtigungsgesetz“ der Nationalsozialisten vom 24. März 1933 1 Alexander Hamilton, The Federalist Paper No. 9 (1787), in: Garry Wills (Hg.), The Federalist Papers of Alexander Hamilton, James Madison and John Jay, Toronto 1982, S. 44. 2 Der Spiegel, Nr. 17, 23. April 2011, S. 31. https://doi.org/10.1515/9783110529951-001

2  1 Einleitung

oder zu den außerordentlichen Vollmachten, die 2020 infolge (und unter dem Vorwand) der Corona-Pandemie weltweit in über achtzig Ländern durchgesetzt worden sind – immer haben Regierungen im Ausnahmezustand freiheitliche, demokratische und republikanische Ordnungen ausgehöhlt oder sogar beseitigt.3 Kritiker haben jeweils davor gewarnt, Freiheit gegen Sicherheit auszuspielen. Auch im 21. Jahrhundert ist das Menetekel einer „Sicherheitsgesellschaft“ beschworen und eine „Versicherheitlichung“ (securitization) der Politik zurückgewiesen worden. 1989 erklärte der Richter am Obersten Gericht der USA, Thurgood Marshall, den Umgang mit Freiheits- und Menschenrechten in Ausnahmesituationen deshalb zu einer Bewährungsprobe für demokratische Ordnungen und freie Gesellschaften: „… history teaches that grave threats to liberty often come in times of urgency, when constitutional rights seem too extravagant to endure.“4 Rund zwei Jahrzehnte später kritisierte der Schriftsteller Peter Sloterdijk die Herausbildung einer „sekuritären Gesellschaft“, und er bezeichnete die Freiheit als „Opfer“ der politisch-sozialen Entwicklung seit 2001.5 Auch Wissenschaftler haben vor allem angesichts der z. T. einschneidenden Maßnahmen gegen den Terrorismus vor einer „Transformation des Rechtsstaates zum Sicherheitsstaat“ gewarnt. Dabei ist gelegentlich sogar einseitig eine Kontinuität der Ausnahmegesetzgebung seit dem frühen 20. Jahrhundert konstruiert worden, die jeweils Demokratien und Menschenrechte ausgehebelt hätten. Diese Interpretation blendet aber nicht nur institutionelle Barrieren gegen eine Steigerung staatlicher Sicherheitspolitik aus, sondern auch deren wiederholte Rücknahme. Auch sind unterschiedliche Ausprägungen im Ländervergleich unverkennbar. Sicherheitspolitik ist damit different, variabel und veränderbar. Dies unterschätzen einfache Interpretationen.6

3 Zahl nach Angabe des Centre for Civil and Political Rights (http://ccprcentre.org/ccprpages/ tracking-tool-impact-of-states-of-emergencies-on-civil-and-political-rights, Zugriff am 22. Mai 2020); Die Zeit, Nr. 20 / 7. Mai 2020, S. 5. Zur Debatte auch: Stephen Hopgood, Morbide Symptome. Die Krise der Menschenrechte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 20 / 2020, 11. Mai 2020, S. 16–1; Die Zeit, Nr. 14 / 26. März 2020, S. 17. Zu Ungarn: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Nr. 73 / 26. März 2020, S. 1; FAZ, Nr. 75 / 28. März 2020, S. 1. 4 Im Fall „Skinner versus Railway Labor Executives“, Zitat: Michael Linfield, Freedom under Fire: U. S. Civil Liberties in Times of war, Boston 1990, S. 1. 5 Zeit-Magazin, Nr. 51 / 11. Dezember 2008, S. 30 f. 6 So Jennifer Luff, Covert and Overt Operations: Interwar Political Policing in the United States and the United Kingdom, in: American Historical Review 122 (2017), S. 727–757, hier: S. 730– 732, 757. Zitate nach (in dieser Reihenfolge): Zeit-Magazin, Nr. 51 / 11. Dezember 2008, S. 30 f.; Günter Frankenberg, Staatstechnik. Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand, Berlin 2010, S. 38. Zur Debatte über die „Sicherheitsgesellschaft“: Stefan Kaufmann / Ricky

1 Einleitung 

3

Im Folgenden wird das damit berührte Verhältnis von Sicherheit einerseits und Freiheit, Humanität und Menschenrechten andererseits zunächst anhand aktueller Auseinandersetzungen über den Kampf gegen den Terrorismus und die Regulierung von Migration erläutert. Diese beiden Herausforderungen sind zwar unterschiedlich; die darauf bezogenen politischen Maßnahmen ähneln sich aber im Hinblick auf die präventive Einweisung von oft pauschal als bedrohlich stigmatisierten Gruppen in Lager, die grundsätzlich der Unterdrückung, aber zumindest gelegentlich auch dem Schutz gedient haben.7 Anschließend sollen die historischen Bezüge zu den beiden Weltkriegen skizziert werden. Dieses einleitende Kapitel schließt mit Hinweisen zum Vorgehen und zur Gliederung des Buches.

Sicherheit und Freiheit im Zeichen des „War on Terror“ In den letzten Jahren ist das Verhältnis von Sicherheit und Menschenrechten besonders im Hinblick auf die Terrorismusabwehr überaus kontrovers diskutiert worden. Die Anschläge, die am 11. September 2001 das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington trafen, und der Beginn des daraufhin von US-Präsident George W. Bush proklamierten „Krieg gegen den Terror“ (War on Terror) haben eine heftige, anhaltende Kontroverse über die Berechtigung und Legitimität umfassender staatlicher Sicherheitskompetenzen ausgelöst. Diese Debatte hat sich erstens auf die präzedenzlose Erweiterung exekutiver Sondervollmachten des Präsidenten bezogen, vor denen James Madison, ein anderer Verfasser der Federalist Papers, schon im späten 18. Jahrhundert gewarnt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg intensivierte sich die Diskussion. So wandte sich Ramsey Clark, der von 1967 bis 1969 US-Präsident Lyndon B. Johnson als Justizminister diente, gegen eine weitgehende Einschränkung von Menschenrechten in Ausnahmezuständen.8 Nachdem die Macht des Präsidenten wegen des Missbrauchs durch Richard Nixon ab 1974 vorübergehend beschnitten worden war, sind die exekutiven Kompetenzen im Zeichen einer neuen Imperial Presidency seit den neunziger Jahren erneut gewachsen. Dazu gehörte auch ein Recht zur Prävention nach dem am 14. September 2001 von Bush verWichum, Risk and Security: Diagnosis of the Present in the Context of (Post-)Modern Insecurities, in: Historical Social Research 41 (2016), Nr. 1, S. 48–69, bes. S. 49, 66. 7 Aidan Forth, Barbed-Wire Imperialism. Britain’s Empire of Camps, 1876–1903, Oakland 2017, S. 14, 225. 8 Allan Rosas, Emergency Regimes: A Comparison, in: Donna Gomien (Hg.), Broadening the Frontiers of Human Rights. Essays in Honour of Asbjorn Eide, Oslo 1993, S. 165–199, hier: S. 165.

4  1 Einleitung

kündeten Ausnahmezustand. So verabschiedete der Kongress am 26. Oktober den USA Patriot Act, mit dem die Exekutive – vor allem der Präsident – nochmals weitreichende Befugnisse gewann, um Sicherheit zu gewährleisten.9 Damit sind aber auch verbriefte Freiheiten erheblich beschnitten worden. Diese Einschränkungen haben wiederholt Widerspruch und Opposition ausgelöst. Humanitäre Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) kritisierten schon früh die Proklamation eines „Krieges“ gegen den Terrorismus. Gegner der staatlichen Sicherheitspolitik haben auch auf das Department of Homeland Security verwiesen, welches Bush im November 2001 gründete und mit umfassenden Kompetenzen versah. So ist befürchtet worden, dass Bürgerrechte dauerhaft außer Kraft gesetzt werden könnten.10 Besonders die auf der Grundlage des USA Patriot Act getroffene Entscheidung der US-Regierung, Gefangene, die des Terrorismus verdächtigt wurden, im Camp Delta auf dem amerikanischen Militärstützpunkt Guantánamo Bay unbefristet zu internieren, hat international Protest hervorgerufen. In dem Marinestützpunkt der Vereinigten Staaten auf Kuba gelten weder das allgemeine amerikanische Recht noch die Verfassung. Insgesamt wurden 779 Verdächtige aus 48 Ländern (darunter 214 Afghanen) in das dortige Lager eingewiesen, das als „crown jewel of the new American detention system“ bezeichnet worden ist.11 Das Netz der USInternierungseinrichtungen umfasste auch verborgene Verhörzentren und Gefängnisse (black sites) in anderen Staaten wie Polen, Pakistan und Usbekistan. Insgesamt wurden nach Presseberichten allein von Herbst 2001 bis Januar 2003 rund 3.000 Menschen aus neunzig Staaten verhaftet.12 9 Text des Gesetzes in: https://www.sec.gov/about/offices/ocie/aml/patriotact2001.pdf (Zugriff am 14. Mai 2019), Vgl. auch Olaf Stieglitz, Undercover. Die Kultur der Denunziation in den USA, Frankfurt/M. 2013, S. 291. 10 David P. Forsythe, The Humanitarians. The International Committee of the Red Cross, Cambridge 2005, S. 129; Stieglitz, Undercover, S. 201. 11 Andrea Pitzer, One Long Night. A Global History of Concentration Camps, New York 2017, S. 358; Matthew Stibbe, Gendered Experiences of Civilian Internment during the First World War. A Forgotten Dimension of Wartime Violence, in: Ana Carden-Coyne (Hg.), Gender and Conflict since 1914. Historical and Interdisciplinary Perspectives, Basingstoke 2012, S. 14–28, hier: S. 16; Jonathan Gumz, International Law and the Transformation of War, 1899–1949: The Case of Military Occupation, in: Journal of Modern History 90 (2018), S. 621–660, hier: S. 621. 12 David Cole, Enemy Aliens: Double Standards and Constitutional Freedoms in the War on Terrorism. New York 2003; Johan Steyn, Guantánamo Bay: The Legal Black Hole, in: International and Comparative Law Quarterly 53 (2004), S. 1–15, hier: S. 6 f.; Matthew Stibbe, Civilian Internment during the First World War. A European and Global History, London 2019, S. 30 f.; John Horne, Introduction. Wartime Imprisonment in the Twentieth Century, in: Anne-Marie Pathé / Fabien Théofilakis (Hg.), Wartime Captivity in the 20th Century: Archives, Stories, Memories, New York 2016, S. 13–24, hier: S. 19. Angaben nach: Bernd Greiner, Die Abschaffung der Lager. Lektionen nach zehn Jahren „Anti-Terror-Krieg“, in: Bettina Greiner / Alan Kramer

1 Einleitung



5

Für diese Gefangenen hatte Bush im Februar 2002 in einem Memorandum die Bestimmungen der Genfer Konventionen von 1949 suspendiert, indem er den War on Terror nicht als reguläre militärische Auseinandersetzung zwischen Staaten, sondern als außergewöhnlichen Krieg gegen ungesetzliche Kombattanten definierte. Die exterritorialen Lager, in denen vermeintliche oder tatsächliche Terroristen interniert worden sind, haben sich der Kontrolle der jeweiligen staatlichen Institutionen entzogen. Sie unterstanden zunächst nicht der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit, sondern Militärgerichten. Zudem waren die Häftlinge im Lager Guantánamo und in den black sites ohne Haftbefehl festgenommen und verschleppt worden. Darüber hinaus konnten die Betroffenen keinen Einspruch gegen ihre Internierung einlegen. Reguläre juristische Verfahren wurden bewusst und gezielt umgangen, um Verdächtige unbegrenzt internieren zu können.13 Damit widersprach das Vorgehen der amerikanischen Regierung fundamentalen Prinzipien wie dem des Habeas Corpus Amendment Act, der Verhafteten 1679 – zunächst in England – grundlegende Rechte wie die Überprüfung der Haft eingeräumt hatte. Kritiker der Internierungspolitik des US-Präsidenten haben deshalb wiederholt auf den Stellenwert hingewiesen, den die Verfassungen der demokratischen Länder den individuellen Freiheitsrechten zuweist. So urteilte in Großbritannien das House of Lords am 16. Dezember 2004, dass eine Inhaftierung von Verdächtigen ohne Anklage der Bindung des Landes an die 1950 unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Menschenrechtskonvention) widerspreche. Auch gegen die Administration unter Bush ist eingewandt worden, dass sie willkürlich „Feinde“ konstruierte, die – so die offizielle Argumentation – die „nationale Sicherheit“ gefährdeten. Die Maßnahmen, die gegen diese Gruppe ergriffen wur(Hg.), Die Welt der Lager. Zur „Erfolgsgeschichte“ einer Institution, Hamburg 2013, S. 328–354, hier: S. 329, 342. 13 Alfred de Zayas, Human Rights and Indefinite Detention, in: International Review of the Red Cross 87 (2005), Nr. 857, S. 15–38, hier: S. 24; Daniel Marc Segesser, Lager und Recht – Recht im Lager. Die Internierung von Kriegsgefangenen und Zivilisten in rechtshistorischer Perspektive von der Aufklärung bis zur Gegenwart, in: Christoph Jahr / Jens Thiel (Hg.), Lager vor Auschwitz. Gewalt und Integration im 20. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 38–53, hier: S. 52; Bernd Greiner, 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen, München 2011, bes. S. 131–208, 225–236; ders., Abschaffung, S. 331 f.; Pitzer, Night, S. 362. Zur Internierungspraxis in Guantánamo auch: Manfred Nowak, Das System Guantánamo, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36 / 2006, 4. September 2006, S. 23–30; Steyn, Guantánamo Bay, S. 7, 9 f., 12 f.; FAZ, Nr. 97, 27. April 2011, S. 33; Die Zeit, Nr. 18, 28. April 2011, S. 5. Vergleichend: Cynthia Banham / Brett Goodin, Negotiating Liberty: The Use of Political Opportunities and Civil Society by Barbary State Captives and Guantánamo Bay Detainees, in: Australian Journal of Politics and History 62 (2016), H. 2, S. 171–185.

6  1 Einleitung

den, schlossen auch die Kontrolle der Kommunikation durch die globalen Überwachungsprogramme der National Security Agency (NSA) ein. Die Regierung unter Präsident Barack Obama (2009–2017) hielt daran ebenso fest wie am Internierungslager Guantánamo. Damit hat sie Maßnahmen verlängert, die Menschenrechte verletzen, wie der „Folterbericht“ des Senats vom 9. Dezember 2014 ebenso gezeigt hat wie der nahezu zeitgleich veröffentlichte autobiographische Report des Mauretaniers Mohamed Ould Slahi über seine Erfahrungen als Häftling in der Guantánamo Bay Naval Base und anderen amerikanischen Camps.14 Allerdings ging die Zahl der Internierten in dem Lager auf Kuba von 2009 bis 2013 von 242 auf 107 zurück. Am Ende der zweiten Amtszeit Obamas Anfang 2017 litten noch 41 Gefangene auf dem Marinestützpunkt. Auch wurden unter seiner Ägide einzelne Sicherheitsgesetze in den USA entschärft. So hat der im Mai 2015 vom Repräsentantenhaus verabschiedete USA Freedom Act die Erfassung von Daten durch die NSA eingeschränkt. Der Oberste Gerichtshof der USA (Supreme Court) hatte schon am 28. Juni 2004 entschieden, dass das Lager Guantánamo amerikanischen Gesetzen und der Rechtsprechung von US-Gerichten untersteht. Damit war zumindest das Recht auf Verteidiger, Anhörungen und Überprüfungen wiederhergestellt worden.15 In Deutschland sind weniger einschneidende Gesetze erlassen worden. Das am 15. Januar 2005 in Kraft getretene Luftsicherheitsgesetz, welches unter bestimmten Bedingungen den Abschuss von Passagierflugzeugen erlaubte, war aber ebenfalls äußerst umstritten, bevor das Bundesverfassungsgericht das Gesetz im Februar 2006 als verfassungswidrig einstufte. Die Föderalismusreform, die in demselben Jahr verabschiedet wurde, stärkte zudem die Macht des Bundeskriminalamtes bei der Terrorismusabwehr. In Frankreich ist besonders nach den Anschlägen vom Januar und November 2015 die Macht des Sicherheitsapparats enorm gewachsen. Ende 2015 verhängte die französische Regierung den Ausnahmezustand, der im Mai 2016 nochmals um zwei Monate verlängert wurde. Inzwischen ist er zwar aufgehoben worden; die Regierung hat aber wichtige 14 Loch K. Johnson, Security, Privacy, and the German-American Relationship, in: Bulletin of the German Historical Institute 57 (2015), S. 47–73, hier: S. 48, 57, 69. Dazu ausführlich auch die Beiträge in: Kurt Graulich / Dieter Simon (Hg.), Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit. Analysen, Handlungsoptionen, Perspektiven, Berlin 2007; Richard Ashby Wilson (Hg.), Human Rights in the ‚War on Terror‘, Cambridge 2006. Zur rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Folter instruktiv: Frankenberg, Staatstechnik, S. 294–307. Zur Debatte: Wolfgang Neškovic (Hg.), Der CIA-Folterreport. Der offizielle Bericht des US-Senats zum Internierungs- und Verhörprogramm der CIA, Frankfurt/M. 2015, bes. S. 36–55; Mohammed Ould Slahi, Das Guantánamo Tagebuch, hg. von Larry Siems, Stuttgart 2015. 15 Forsythe, Humanitarians, S. 133. Angaben nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 301.

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Kompetenzen, die ihr verliehen worden waren, in reguläres Recht überführt. Dennoch hat der Sicherheitsexperte der rechtsbürgerlichen Oppositionspartei Les Républicains nach einem weiteren Mord eines islamistischen Terroristen im Juni 2016 verlangt, polizeibekannte „Gefährder“ zu internieren. Seit 2003/04 ist aber auch der Druck jener zivilgesellschaftlichen Organisationen gewachsen, die fordern, die Internierung eigener Staatsangehörigen zu beenden oder zumindest zu überprüfen.16 Umgekehrt haben sich die Terroristen des Islamischen Staates in ihren Aktionen direkt auf Guantánamo bezogen. So stigmatisieren sie ihrerseits nicht kooperationswillige Gefangene – wie sonst in den USA üblich – durch orangefarbene Kleidung. Dieses Vorgehen verweist auf den Stellenwert wechselseitiger Beobachtung und aufeinander bezogener Repressalien gegen Zivilisten in einer globalen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus.17 Weltweit sind auch die euphemistisch verbrämten Praktiken der enhanced interrogation techniques heftig kritisiert worden, denn sie widersprechen dem Anti-Folter-Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1984 und der drei Jahre später vom Europarat verabschiedeten Europäischen Konvention zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Auch die Verschleppung festgenommener Terroristen in geheime Gefängnisse und Sammelstellen in anderen Staaten (extraordinary rendition) verstößt gegen Grundsätze des humanitären Völkerrechts. In diesen black sites wurden Gefangene von der Central Intelligence Agency (CIA) ohne Anklage festgehalten und sogar gefoltert. Die Genfer Abkommen von 1864, 1929 und 1949 schützen aber die Rechte von Soldaten und Zivilisten während militärischer Auseinandersetzungen. Deshalb haben Kritiker die Erpressung von Geständnissen und die Überführung von Verdächtigten in andere Staaten als Verstöße gegen das Völkerrecht verurteilt. Demgegenüber schuf die US-Regierung nach 2001 für Personen, die des Terrorismus verdächtigt waren, die Kategorie des „illegalen Kämpfers“ (unlawful combatant) oder „feindlichen Kombattanten“ (enemy combatant). Damit wurde dieser Gruppe bis 2006 der Status von Kriegsgefangenen abgesprochen, um so eine Internierung zu rechtfertigen. Darüber hinaus ist von Präsident Bush der Hinweis auf „militärische Notwendigkeiten“ und die „nationale Sicherheit“ genutzt worden, um dieses Vorgehen zu legitimieren. Solche Vorwände haben auch dazu gedient, harmlose Flüchtlinge zu verhaften

16 Pistol, Internment, S. 2; FAZ, Nr. 137, 15. Juni 2016. S. 3. 17 Vgl. https://www.washingtonpost.com/news/checkpoint/wp/2014/08/28/once-again-militants-use-guantanamos-orange-jumpsuit-in-an-execution/?noredirect=on&utm_term=.991dcc0edc6a; https://www.iwm.org.uk/history/john-keane-on-exploring-conflict-imagery-in-art (Zugriff am 28. April 2018). Den Hinweis verdanke ich Friedrich Huneke (Hannover).

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und andere Immigranten abzuschrecken. Der ehemalige Vizepräsident Richard Cheney hat die „national security“ sogar offen als „one percent doctrine“ bezeichnet, um damit den US-Amerikanern auch Schutz vor überaus unwahrscheinlichen Anschlägen zu versprechen. Die Regierungen anderer Staaten sind damit ermutigt worden, ebenfalls völkerrechtliche Schutzgesetze und -bestimmungen zu missachten.18 Angehörige und humanitäre Organisationen erhielten von der Bush-Administration (2001–2009) nur unregelmäßig vage Informationen, so dass der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus in der Presse als „war of fog“ bezeichnet worden ist.19 Das IKRK konnte das Lager Guantánamo zwar grundsätzlich besichtigen, stellte seine Inspektionen aber wiederholt ein, um gegen den Umgang der Militärbehörden und Geheimdienste mit den Internierten – besonders die oft brutalen Verhöre – zu protestieren. Überdies gewährte die US-Regierung dem Roten Kreuz keinen freien Zugang zu allen Gefangenen, die in dem Camp auf dem Luftwaffenstützpunkt in Bagram (Afghanistan) untergebracht worden waren. Das amerikanische Gefängnis in Kandahar durfte das IKRK sogar erst ab 2004 besichtigen. Dennoch blieb die Kritik des Internationalen Komitees am weltweiten Internierungs- und Deportationsprogramm der US-Regierung insgesamt eher zurückhaltend. Damit sollte die traditionale Neutralität des Roten Kreuzes gewahrt, eine noch schärfere amerikanische Blockadepolitik vermieden und die Lage der Internierten nicht weiter verschlechtert werden. Die Organisation setzte damit die leise und diskrete Diplomatie fort, die sie seit ihrer Gründung 1863 nahezu durchweg bevorzugt hatte. Das IKRK wurde dafür jedoch nicht belohnt, denn letztlich hielten Präsident Bush und seine Rechtsberater unnachgiebig am Grundsatz nationaler Souveränität fest. So weigerte sich die US-Regierung auch, das 1998 in Rom verabschiedete Statut des Internationalen Strafgerichtshofes zu unterzeichnen. Die Behandlung der „feindlichen Kämpfer“ in Guantánamo blieb damit einer internationalen rechtlichen Kontrolle entzogen. Jedoch bestätigte 2008 der Oberste Gerichtshof der USA die Gel-

18 Zitat: Andrew Preston, Monsters Everywhere: A Genealogy of National Security, in: Diplomatic History 48 (2014), S. 477–500, hier: S. 500. Vgl. auch David D. Cole, Outsourcing Torture. Extraordinary Rendition and the Necessity for Extraterritorial Protection of Human Rights, in: Sibylle Scheipers (Hg.), Prisoners in War, Oxford 2011, S. 281–296, hier: S. 284–286, 288, 292; Dawid Danilo Bartelt / Ferdinand Muggenthaler, Das Rendition-Programm der USA und die Rolle Europas, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36 / 2006, 4. September 2006, S. 31–38; Thomas Bruha / Christian Tams, Folter und Völkerrecht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36 / 2006, 4. September 2006, S. 16–22; de Zayas, Human Rights, S. 23, 28; Stibbe, Civilian Internment, S. 301; Forsythe, Humanitarians, S. 131–133, 135, 137, 146, 150. 19 John Tierney, Hot Seat Grows Lukewarm under Capital’s Fog of War, in: New York Times, 20. Mai 2004, Seite A 14, Zitat: Forsythe, Humanitarians, S. 145.

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tung der Grundsätze des Habeas Corpus auch für Internierte, die des Terrorismus verdächtigt werden.20

Sicherheit und Menschenrechte in der Debatte über Einwanderung Auch darüber hinaus haben Regierungen in wahrgenommenen Not- und Ausnahmezuständen wiederholt grundlegende Freiheits- und Menschenrechte z. T. gravierend verletzt. In jüngster Zeit hat das Verhältnis zwischen Menschenrechten, Humanität und Freizügigkeit einerseits und Sicherheit und Stabilität andererseits auch in der Debatte über die Zuwanderung und den Umgang mit Minderheiten eine wichtige Rolle gespielt. Die zugenommene Immigration hat in vielen Staaten Ängste vor dem Verlust kultureller Identitäten, gesellschaftlichem Abstieg und wirtschaftlicher Verdrängung verstärkt. Diese Verunsicherung hat die Fremdenfeindlichkeit genährt, die freilich auch von politischen Akteuren und Parteien gezielt geschürt worden ist. Wegen des wachsenden Drucks haben Regierungen die Zuwanderung mit dem Hinweis auf die Sicherheit und Stabilität der bestehenden Ordnung zusehends begrenzt. Nach seiner Vereidigung im Januar 2017 hat US-Präsident Donald Trump die Immigration von Ausländern und den Aufenthalt von „Fremden“ in den USA besonders tiefgreifend eingeschränkt, wenngleich Urteile verschiedener Gerichte die neue Regierung wiederholt gezwungen haben, verfassungswidrige Gesetze zurückzunehmen. Schon im Wahlkampf um die Präsidentschaft waren Zuwanderer – vor allem Immigranten aus islamischen Ländern und Mexiko – als Bedrohung der nationalen Sicherheit diffamiert und pauschal mit Terrorismus assoziiert worden. Anhänger Trumps haben sich dabei auf die extrem repressive Politik gegenüber den Japanern im Zweiten Weltkrieg berufen, um ihre Forderung nach einer Registrierung aller in den USA lebenden Muslime zu rechtfertigen. Damit sollen letztlich grundlegende Freiheitsrechte dieser Gruppe beseitigt werden. Überdies hat sich die Kampagne sogar gegen eingebürgerte US-Bürgerinnen gerichtet, besonders Politikerinnen der oppositionellen Demokraten.21 Auch die Regierungen europäischer Staaten haben in den letzten Jahren weitreichende Sicherheitsgesetze erlassen, die Regierungen außerordentliche

20 Daniel Marc Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? Die Ahndung von Kriegsverbrechen in der internationalen wissenschaftlichen Debatte 1872–1945, Paderborn 2010, S. 406 f.; Forsythe, Humanitarians, S. 135 f., 140, 142–147; Cole, Torture, S. 289. 21 Rachel Pistol, Internment during the Second World War. A Comparative Study of Great Britain and the USA, London 2017, S. 3 f.

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Vollmachten verliehen. Diese Kompetenzen sind mit dem Ziel gerechtfertigt worden, Gefahren abzuwehren, die von islamischen und – damit oft gleichgesetzten – islamistischen Einwanderern ausgehen. So erlaubte der 2001 vom britischen Parlament verabschiedeten Anti-terrorism, Crime and Security Act nach seinem Artikel 23 eine Internierung von Verdächtigen ohne Anklage. Daraufhin wurden bis zu 650 muslimische Männer und Jungen festgesetzt.22 In der Kampagne über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union haben sich Anhänger des „Brexit“ wie die Labour-Politikerin Gisela Stuart scharf gegen Einwanderung gewandt und den von ihnen behaupteten Kontrollverlust als Gefahr für die Sicherheit des Vereinigten Königreiches dargestellt. Alles in allem sind Bedrohungen so breit gefasst worden, dass damit umfassende Sicherheitsmaßnahmen gerechtfertigt werden konnten.23 Jedoch hatte die britische Regierung schon zuvor Rechte von Immigranten beschnitten, beispielsweise mit dem British Nationality Act von 1981, der die Verleihung des Staatsbürgerrechts auf dauerhaft im Land Sesshafte begrenzte. Seit der Jahrtausendwende ist überdies eine – in regierungsinternen Dokumenten geforderte – „feindselige Umgebung“ (hostile environment) geschaffen worden. In diesem Kontext hat die Regierung Einwanderer, die – wie die Generation der westindischen Windrush-Immigranten von 1948 bis 1971– bereits seit Jahrzehnten im Vereinigten Königreich lebten, interniert oder deportiert. Darunter waren auch die Kinder abgelehnter Asylbewerber.24 Nach einem Bericht, den ein Komitee des Unterhauses am 31. März 2019 veröffentlichte, waren 2018 24.748 „illegale“ Einwanderer festgesetzt worden, während 25.487 aus der Haft entlassen wurden. Davon hatte die Regierung 43,8 Prozent ausgewiesen.25 Ebenso heftige Kontroversen über die Balance zwischen Sicherheit und Menschenrechten, Humanität und Liberalität in der Migrationspolitik sind in Frankreich und Deutschland geführt worden, wo vor allem die camps de détention (Internierungslager) bzw. die „Ankerzentren“ kritisiert worden sind. In beiden Ländern wird weiterhin über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit

22 Stibbe, Experiences, S. 16. 23 Larry Frohman, Eine unerkennbare Zukunft regieren: Recht, Ausnahme und die Logik der präventiven Überwachung, in: Christoph Kampmann u. a. (Hg.), „Security turns its Eye Exclusively to the Future“. Zum Verhältnis von Sicherheit und Zukunft in der Geschichte, BadenBaden 2018, S. 285–303, hier: S. 296. 24 Rachel Pistol, From World War II ‚enemy‘ internment to Windrush: Britain quickly forgets its gratitude to economic migrants, in: The Conversation, 22. Juni 2018 (https://theconversation.com/from-world-war-ii-enemy-internment-to-windrush-britain-quickly-forgets-its-gratitude-to-economic-migrants-98331; Zugriff am 22. Juni 2018); Stibbe, Civilian Internment, S. 302– 304; ders., Experiences, S. 16. 25 Stibbe, Civilian Internment, S. 303.

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gestritten, nicht nur in Wahlkämpfen.26 Wegen der Weigerung, Migranten, die abgeschoben werden sollen, in „Transitzonen“ mit Lebensmitteln zu versorgen, hat die Kommission der Europäischen Union die Regierung Ungarns sogar vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt.27 Allgemein sind vor allem in autoritären Systemen und totalitären Diktaturen unter dem Vorwand der Antiterrorismuspolitik Minderheiten und Oppositionelle verfolgt und ohne Anklage in Arbeits- oder Umerziehungslagern festgehalten worden, so in China, Nordkorea und Russland. So hält die chinesische Regierung nach begründeten Schätzungen internationaler Menschenrechtsorganisationen rund eine Million Uiguren in der Region Xinjiang in „Berufsbildungszentren“ gefangen, weil sie die politische und nationale Loyalität der Minderheit bezweifelt.28 Darüber hinaus haben die Behörden in einzelnen Ländern dort bereits lebende Migranten überprüft, zumindest vorübergehend in Lagern festgehalten oder sogar zwangsweise in ihre Heimat zurückgebracht. So hat die die Zwangsinternierung der Rohingya in Myanmar seit 2017 weltweit Proteste ausgelöst.29 Besonders kritisch sind Verstöße gegen humanitäre Grundsätze und Menschenrechte in Staaten diskutiert worden, die lange als gefestigte Demokratien galten, da sie hier selbst gesteckte freiheitliche und humanitäre Ansprüche verletzen. So haben Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Politiker in den USA den Umgang mit Einwanderern – darunter die Trennung von Kindern von ihren Eltern – und die unerträglichen Lebensbedingungen in den Camps gebrandmarkt, die von der Regierung unter US-Präsident Donald Trump an der Grenze zu Mexiko errichtet worden sind. Im Sommer 2019 erregten Pläne, 1.400 Immigranten in Fort Sill (Oklahoma) zu internieren, beträchtliches Aufsehen, denn hier waren schon im Zweiten Weltkrieg aus Japan stammende Amerikaner festgehalten worden.30

26 Dazu z. B. das Streitgespräch zwischen Hans-Georg Maaßen und Gerhart Baum in: Die Zeit, Nr. 40 / 26. September 2019, S. 10 f. 27 FAZ, Nr. 171 / 26. Juli 2019, S. 1. 28 Stibbe, Civilian Internment, S. 301. Exemplarisch die Opferberichte in: Die Zeit, Nr. 32 / 1. August 2019, S. 6. 29 Pitzer, Night, S. 370–385. 30 Vgl. z. B. die Berichte in: FAZ, Nr. 157 / 10. Juli 2019, Seite N 4; Die Zeit, Nr. 30 / 18. Juli 2019, S. 4.

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Historische Bezüge: der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen in den beiden Weltkriegen im Spannungsfeld von Sicherheit und Humanität In der neueren Debatte über den Kampf gegen den Terrorismus und über Migration haben auch Wissenschaftler grundsätzlich zum Verhältnis von Sicherheit auf der einen und Menschen- sowie Grundrechten auf der anderen Seite Stellung genommen.31 Dabei ist besonders auf den Umgang mit „inneren Feinden“ in den beiden Weltkriegen hingewiesen worden. Zwar sind direkte Analogien verfehlt; der Blick auf ähnliche Problemkonstellationen in der Vergangenheit kann aber gegenwärtigen Diskussionen historische Tiefenschärfe verleihen und diese in längerfristige Entwicklungen einordnen. So handelt es sich in diesen Ausnahmezuständen durchweg um eine Bedrohungskommunikation, in der Vorstellungen von Sicherheit Konzepte gegenwärtiger und zukünftiger Ordnung rechtfertigen sollten. Dabei haben Akteure Dringlichkeit und Notstände behauptet oder in Frage gestellt. Auch sind in den verschiedenen Konstellationen und Situationen durchweg unterschiedliche Verständnisse von Sicherheit auf der einen sowie Humanität, Menschenrechten und Freiheit auf der anderen Seite aufeinandergetroffen. Aushandlungsprozesse, die im Allgemeinen von Machtverhältnissen geprägt und deshalb asymmetrisch gewesen sind, haben über den Einschluss von Bevölkerungsgruppen in die Gesellschaft und die Ausgrenzung anderer entschieden, die gelegentlich sogar als „Feinde“ verteufelt worden sind. Umgekehrt können die Kontroversen über die Politik gegenüber dem „neuen“ Terrorismus ab 2001 als ein wesentlicher Impuls der Forschung über die Gewalt in den beiden Weltkriegen angesehen werden. In diesen totalen Konflikten lösten sich die Grenzen zwischen „innen“ und „außen“ umfassend auf, so dass Gewalt das Leben der gesamten Bevölkerung prägte, wenngleich in unterschiedlicher Weise.32 31 Vgl. beispielsweise Rachel Pistol, World War II. Ähnlich hat die amerikanische Historikerin Jennifer Luff mit Bezug auf den früheren Direktor der amerikanischen Bundespolizei FBI, J. Edgar Hoover, und den Direktor des britischen Geheimdienstes MI5 von 1909 bis 1940, Vernon Kell, betont: „We are living in an era when a global security state has been constructed before our eyes, one that surpasses the wildest dreams of J. Edgar Hoover and Vernon Kell“ (Luff, Operations, S. 756). 32 Vgl. dazu das dritte Kapitel und Matthew Stibbe, Introduction: Captivity, Forced Labour and Forced Migration during the First World War, in: ders. (Hg.), Captivity, Forced Labour and Forced Migration in Europe during the First World War, London 2009, S. 1–18, hier: S. 3 f.; Jost Dülffer, Alte und neue Kriege. Gewaltkonflikte und Völkerrecht seit dem 19. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 35–36 / 2016, S. 4–10, hier: S. 10; Steyn, Guantánamo Bay, S. 1; Jörn Leonhard, The Overburdened Peace. Competing Visions of World Order in 1918/19, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington 62 (2018), S. 31–50, hier: S. 42. Allgemein: Steffen Henne, „Security turns its eye exclusively to the future“. Zum Ver-

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Auseinandersetzungen über die Balance zwischen den leitenden Werten von Sicherheit und Humanität und dem darauf bezogenen Handeln sind damit keineswegs erst im neuen Jahrhundert entstanden. Vielmehr hat die Debatte die neuere Geschichte zahlreicher Nationalstaaten geprägt. So ist in den USA seit dem 1798 verabschiedeten Alien and Sedition Act über das Verhältnis zwischen Sekurität und humanitären Grundsätzen gestritten worden.33 In der „Hochmoderne“ um 1900 wurde Sicherheit vollends zu einer Leitkategorie des politischgesellschaftlichen Diskurses und Handelns. Zugleich blieb die Politik der Regierungen aber zumindest in den westlichen Demokratien der Bewahrung der Menschenrechte verpflichtet. Diese sind allgemein als „die allen Menschen kraft ihrer Geburt zustehenden, egalitären und vorstaatlichen Rechte“ definiert worden, „die auf Achtung, Schutz und Erfüllung an staatliche oder überstaatliche Hoheitsgewalt gerichtet sind.“ Nach diesem Verständnis beanspruchen Menschenrechte universelle Geltung. Zudem gelten sie als „unveräußerlich, unteilbar und interdependent“.34 Grundsätzlich konfrontierte die Notwendigkeit, jeweils das Verhältnis von Sicherheit und Menschenrechten zu bestimmen und daraus konkrete Handlungspraktiken, politische Entscheidungen und Maßnahmen (so Gesetze) abzuleiten, die Zeitgenossen jeweils mit erheblichen Abwägungsdilemmata. Im 20. Jahrhundert trugen spezifische Konstruktionen und Handlungsformen, die sich auf das Verhältnis von Sicherheit und Menschenrechten bezogen, letztlich auch nachhaltig zu den Vergesellschaftungsprozessen bei, die sich im „Zeitalter der Extreme“ vollzogen.35 An der jeweiligen Balance der beiden Leitkategorien in unterschiedlichen Ländern und Zeitabschnitten lassen sich deshalb nationale Besonderheiten, spezifische Vorstellungen und Normen ebenso ablesen wie politisch-gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Nicht nur in Diktaturen, sondern auch in Dehältnis von Sicherheit und Zukunft in der Geschichte, in: Kampmann u. a. (Hg.), „Security turns its eye exclusively to the future“, S. 9–36, hier: S. 15, 24, 29–31. 33 Max Paul Friedman, Trading Civil Liberties for National Security: Warnings from a World War II Internment Program, in: Journal of Policy History 17 (2005), S. 294–307, hier: S. 294, 304. 34 Michael-Lysander Fremuth, Menschenrechte. Grundlagen und Dokumente, Berlin 2015, S. 23. Vgl. auch Lutz Raphael, Ordnungsmuster der „Hochmoderne“? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Ute Schneider / Lutz Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift Christof Dipper, Frankfurt/M. 2008, S. 73–91. Terminologische und konzeptionelle Differenzierung zwischen „Grundrechten“ und „Menschenrechten“ in: Arnd Pollmann, Menschenrechte, Grundrechte, Bürgerrechte, in: ders. / Georg Lohmann (Hg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2012, S. 129–136, bes. S. 129 f. 35 Eric J. Hobsbawm, Age of Extremes. The short twentieth century, 1914–1991, London 1994 (dt. Ausgabe: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995).

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mokratien sind besonders angesichts außergewöhnlicher Bedrohungen Menschenrechte wiederholt eingeschränkt und aufgehoben worden. Dies soll in diesem Buch am Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen dargelegt werden. Diese Gruppe wurde im anglo-amerikanischen Kulturraum im Allgemeinen als „enemy aliens“, „alien enemies“ oder „aliens of enemy nationality“ bezeichnet.36 In Frankreich waren sie offiziell „étrangers de nationalité ennemie“. Diese Begriffe waren zwar staatsrechtlich definiert; im Hinblick auf die Einschätzung der Loyalität kamen aber Kriterien ethnisch-kultureller Zugehörigkeit und politischer Loyalität hinzu. Damit muss über die zivilen Angehörigen gegnerischer Staaten auch die Behandlung der größeren Gruppe der „inneren Feinde“ in die Darstellung einbezogen werden.37 Der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen konfrontierte alle kriegführenden Staaten in den beiden Weltkriegen mit erheblichen Problemen. Im Völkerrecht waren Zivilisten nicht präzise und umfassend geschützt. Auch konnten sich die Regierungen kaum auf Präzedenzfälle stützen. Deshalb gewann das Verhältnis zwischen der Leitkategorie der nationalen bzw. öffentlichen Sicherheit und den Bürgerrechten von Ausländern von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 erhebliche Brisanz.38 Diese Balance musste jeweils in oft schnell wechselnden Kontexten und Konstellationen austariert werden. Die weit verbreitete Unsicherheit der Regierungen und der Verwaltungsbehörden im Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen spiegelt sich sogar im Sprachgebrauch wider. Auch wegen der Ähnlichkeiten zwischen den Kriegsgefange36 Den Begriff „alien enemy“ prägte der englische Jurist William Blackstone 1766. Vgl. Pitzer, Night, S. 91. Der Begriff des „Feindstaatenangehörigen“ wird hier bevorzugt gegenüber dem Konzept des „Feindstaatenausländers“. Vgl. Christoph Jahr, Zivilisten als Kriegsgefangene. Die Internierung von „Feindstaaten-Ausländern“ in Deutschland während des Ersten Weltkrieges am Beispiel des „Engländerlagers“ in Ruhleben, in: Rüdiger Overmans (Hg.), In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1999, S. 297– 321, hier: S. 298. 37 Dieter Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 124–126; Richard B. Speed, Prisoners, Diplomats, and the Great War. A Study in the Diplomacy of Captivity, New York 1990, S. 141; Matthew Stibbe, Enemy Aliens and Internment, in: 1914–1918 online. International Encyclopedia of the First World War (http:// encyclopedia.1914-1918-online.net/pdf/1914-1918-online.net/article/enemy/aliens_and_internment-2014-10-08.pdf; Zugriff am 21. Juli 2016); George E. Pozzetta Alien Enemies or Loyal Americans? The Internment of Italian-Americans, in: Kay Saunders / Roger Daniels (Hg.), Alien Justice. Wartime Internment in Australia and North America, St. Lucia 2000, S. 80–92, hier: S. 273 (Anm. 2). 38 Dazu beispielhaft für die USA: Jörg Nagler, Control and Internment of Enemy Aliens in the United States during the First World War, in: Stefan Manz / Panikos Panayi / Matthew Stibbe (Hg.), Internment during the First World War. A Mass Global Phenomenon, London 2019, S. 181–203, hier: S. 181.

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nen und Zivilinternierten wurden beide Begriffe noch im Ersten Weltkrieg synonym verwendet. So bezeichnete in Großbritannien „prisoners of war“ oft ebenso festgesetzte Zivilisten, die in Deutschland vielfach als „Zivilgefangene“ bezeichnet wurden.39 Zudem differierten die Definitionen zwischen den kriegführenden Staaten aufgrund unterschiedlicher Interessen. So verstand die britische Regierung 1918 gefangene Offiziere der Handelsmarine als Soldaten, Deutschland aber als Zivilisten.40 Besonders in außereuropäischen Räumen unterschieden auch die französischen Kolonialbehörden oft nicht klar zwischen den beiden Gruppen. Zwar bezogen sich einige bilaterale Abkommen zu Kriegsfangenen ausdrücklich auch auf Zivilinternierte. So einigte sich Frankreich mit Deutschland und ÖsterreichUngarn auf ein Verbot von Zwangsarbeit für gefangene Zivilisten. Insgesamt kann die Behandlung dieser Gruppe in den beiden Weltkriegen aber analytisch nicht vollständig vom Umgang mit kriegsgefangenen Soldaten getrennt werden.41 Auch der rechtliche Status von Feindstaatenangehörigen blieb weitgehend unklar. Bereits die revolutionären Jakobiner hatten 1793 in Frankreich ein Gesetz erlassen, nach dem Angehörige von Staaten, die gegen das Regime Krieg führten, inhaftiert werden konnten. Ebenso waren im Verlauf des 19. Jahrhunderts Zivilisten festgesetzt worden, die nicht direkt an bewaffneten Konflikten mitgewirkt hatten, aber potentielle Soldaten waren. Konfrontiert mit unerwarteten Guerillakriegen, richteten Militärs überdies in Kolonien erstmals Lager ein, um alle Zivilisten, die als Freischärler verdächtigt wurden, zu konzentrieren und festzuhalten. Diese radikale Kriegspolitik bezog auch Frauen und Kinder ein. Die Camps gingen damit aus einer Fixierung auf (z. T. konstruierte) militärische Zwangslagen hervor, hinter der sich eine Professionalisierung der Armeekommandos und ein zweckgebundenes Denken verbargen. Obwohl sie keine Vernichtungslager waren, kennzeichnete sie eine hohe Sterblichkeit. So starben während des Amerikanischen Bürgerkrieges im Lager Andersonville (Georgia), welches die Südstaaten im Februar 1964 eröffneten, rund 13.000 Internierte (29 39 Jones, Great War, S. 88. 40 Dazu das Schreiben der britischen Admiralität vom 14. Januar 1918 in: NA, FO 383/424. 41 Stibbe, Civilian Internment, S. 13. Dazu auch schon Elfriede Underberg (Übers.), Dänische Hilfe für die vom Kriege betroffenen Länder im und nach dem Weltkrieg 1914–1918, in: Hans Weiland / Leopold Kern (Hg.), In Feindeshand. Die Gefangenschaft im Weltkriege in Einzeldarstellungen, Bd. 1, Wien 1931, S. 295–299, hier: S. 296. Vgl. auch Simon Giuseppi, The Internment of Enemy Aliens in France during the First World War: The ‚Depot‘ at Corbora in Corsica, in: Panayi / Stibbe (Hg.), Internment, S. 85–124, hier: S. 86–88; Mahon Murphy, Colonial Captivity during the First World War. Internment and the Fall of the German Empire, Cambridge 2018, S. 1 f., 9.

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Prozent der Insassen). Im Camp Salisbury (North Carolina) fanden 10.321 Gefangene (34 Prozent aller Insassen) den Tod.42 Im Anschluss an diese Politik und Praktiken in den Kolonien wurden zivile Feindstaatenangehörige in den beiden Weltkriegen in der Regel interniert. „Internierung“ wird als Festsetzung einer Gruppe gefasst, die als feindlich eingestuft worden ist. Dabei vollzieht sich die Einweisung ohne Gerichtsverfahren. Internierte müssen analytisch von Kriegsgefangenen unterschieden werden, auch wenn sich beide Kategorien in den beiden Weltkriegen teilweise überschnitten, besonders in Regionen außerhalb Europas. Zudem ist in Rechnung zu stellen, dass die Internierung in einzelnen Ländern während der beiden Weltkriege unterschiedlich bezeichnet worden ist, so in den USA von 1941 bis 1945 als „internment“, „relocation“ oder „evacuation“. Interniert wurden nicht nur zivile Feindstaatenangehörige, sondern auch andere Zivilisten, die als „innere Feinde“ galten, besonders Minderheiten, Gruppen mit abweichendem Verhalten und andere gesellschaftliche Randgruppen sowie politische Oppositionelle.43 In den beiden Weltkriegen wurden die betroffenen Personen überwiegend in gesonderte Lager eingewiesen, oft nach vorangegangenen Deportationen. Diese bezeichnen „staatlich verordnete und planmäßig durchgeführte Zwangsverschickungen von ausgewählten Bevölkerungsgruppen unter Einbeziehung militärischer Eskorten oder anderer Bewachungseinheiten von einem Ort A nach einem Ort B, wobei letzterer unter Strafandrohung meist lebenslänglich nicht mehr verlassen werden darf.“44 Von 1914 bis 1918 und zwischen 1939 und 1945 dienten Deportationen ebenso wie Internierungen in Lagern zunächst dem Zweck, den gegnerischen Staaten potenzielle Rekruten zu entziehen. Darüber hinaus sollten bestimmte Gruppen, die der Spionage und Sabotage verdächtigt und bezichtigt wurden, isoliert werden. Dazu gehören zivile Angehörige gegnerischer Staaten ebenso wie Minderheiten und politische Widersacher (so Pazifisten und Sozialisten), die als „innere Feinde“ vermeintlich im Dienst feindlicher Mächte standen. Diese Gruppen wurden länger, aber im Allgemeinen unter besseren Bedingungen festgehalten als zuvor Zivilisten in Südafrika und auf Kuba. Die Errichtung von Internierungslagern spiegelte letztlich deshalb die Entgrenzung der Gewalt in den 42 Joël Kotek / Pierre Rigoulot, Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung, Berlin 2001, S. 25 f., 89 f. 43 André Keil / Matthew Stibbe, Ein Laboratorium des Ausnahmezustands. Schutzhaft während des Ersten Weltkriegs und in den Anfangsjahren der Weimarer Republik – Preußen und Bayern 1914 bis 1923, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 68 (2020), S. 535–573, hier: S. 543– 552; Panayi, Societies, S. 9; Pistol, Internment, S. 6 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 31. 44 Stephan Steiner, Rückkehr unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext, Wien 2014, S. 32.

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totalen Kriegen wider, in denen im 20. Jahrhundert die Grenzen zwischen inneren und äußeren Feinden verschwammen. Camps waren schon vor 1914 in den Kolonien zur Unterdrückung von Rebellionen etabliert und anschließend im Rahmen globaler Wissenstransfers verbreitet worden, die sich nach dem Ersten Weltkrieg noch beschleunigten. Allerdings wurden fremde Vorbilder an die jeweils vorherrschenden Bedingungen und Ziele angepasst.45 Alle Formen der Repression gegen Feindstaatenangehörige sind seit der Wende zum 20. Jahrhundert mit dem Ziel gerechtfertigt worden, die Fortexistenz der jeweils betroffenen Nationen zu gewährleisten und diese zu schützen. Repressive Maßnahmen sollten besonders Spionage, Verrat und subversive Aktivitäten verhindern. Allerdings haben unterschiedliche Akteure Sicherheit auch als Argument genutzt. Dabei ist Furcht z. T. gezielt herbeigeführt oder zumindest verstärkt worden. „Sicherheit“ und „Unsicherheit“ sind deshalb nicht nur objektive, überprüfbare Kategorien, sondern durchweg auch Konstruktionen, die mit dem Anspruch genutzt worden sind, äußere und innere Gefahren zu bannen.46 Mit der Zunahme der Kriegsgewalt gingen im 20. Jahrhundert jedoch zugleich Bemühungen einher, Übergriffe gegen gefangene Soldaten und wehrlose Zivilisten zu verhindern. Auch die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger und die humanitäre Hilfe für diese Opfergruppe waren wechselseitig aufeinander bezogen. So hat der Verweis auf den Humanitarismus und das Konzept der „humanity“ seit dem 19. Jahrhundert den Befürwortern einer Zähmung von Kriegsgewalt dazu gedient, Mindestanforderungen im Umgang mit feindlichen Soldaten und Zivilisten einzufordern.47 Dabei verwiesen vor allem zivilgesell45 Klaus Mühlhahn, The Concentration Camp in Global Historical Perspective, in: History Compass 8/6 (2010), S. 543–561, hier: S. 543–555 (allerdings ohne explizite Erwähnung von Lagern für zivile Feindstaatenangehörige). Vgl. auch Panikos Panayi, Dominant Societies and Minorities in the Two World Wars, in: ders. (Hg.), Minorities in Wartime. National and Racial Groupings in Europe, North America and Australia during the two World Wars, Oxford 1993, S. 3–23, hier: S. 7, 10; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 87, 89; Leonhard, Peace, S. 42. 46 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit. Das Leitbild beherrschbarer Komplexität, in: Stephan Lessenich (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt/M. 2003, S. 73–104, hier: S. 73. 47 „Humanitarismus“ ist allgemein als „helping others, promoting the general welfare of mankind, and rescuing endangered people“ definiert worden. Vgl. Branden Little, An Explosion of New Endeavours: Global Humanitarian Responses to Industrialized Warfare in the First World War Era, in: First World War Studies 5 (2014), Nr. 1, S. 1–16, hier: S. 2. Enger gefasst bezeichnet „Humanitarismus“ vor allem „the idea of ‚saving strangers‘, of helping victims, of protecting foreign, apparently innocent, civilian populations“ (Davide Rodogno, Against Massacre: Humanitarian Interventions in the Ottoman Empire 1815–1914: The Emergence of a European Concept and International Practice, Princeton 2012, S. 2). Zum Konzept der humanity das zweite

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schaftliche Organisationen bis zu den 1930er Jahren auf „Zivilisationsstandards“, welche die Geltung völkerrechtlicher Bestimmungen auf Europa und die USA beschränkten und viele asiatische Staaten ebenso ausschlossen wie Kolonien. In einem langfristigen Prozess der Verrechtlichung wurden Vergehen gegen unschuldige Zivilisten (crimes against humanity) im 19. Jahrhundert zwar zunächst moralisch gebrandmarkt und im frühen 20. Jahrhundert auch politisch verurteilt. In Kriegen blieben Zivilisten – im Gegensatz zu Soldaten – bis zum Zweiten Weltkrieg aber völkerrechtlich ungeschützt, und Kriegsverbrecher konnten international nicht bestraft werden.48 Erst als Reaktion auf die extreme Gewalt gegen Zivilisten und den Völkermord an den Juden und anderen Minderheiten verabschiedeten die alliierten Mächte schließlich am 8. August 1945 die Charta für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. Damit waren crimes against humanity zu einem völkerrechtlichen Instrument geworden, das zur Universalisierung der Menschenund Bürgerrechte erheblich beitrug. Diese hatten zwar schon die französischen Revolutionäre 1789 proklamiert; sie waren aber bis zum frühen 20. Jahrhundert lediglich von einzelnen Gruppen für ihre politischen Ziele in Anspruch genommen worden. Die Allgemeine Erklärung der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 formulierte demgegenüber einen universellen Anspruch, der aber Lücken aufwies und zudem hinsichtlich seiner Durchsetzung begrenzt blieb.49 Auch das politische und völkerrechtliche Konzept der Humanität, dem die extreme Gewalt in den beiden Weltkriegen Auftrieb verliehen hatte, blieb zwischen verschiedenen Akteuren umstritten. Außerdem verlief die Zähmung der

Kapitel in diesem Buch und Bruce Mazlish, The Idea of Humanity in a Global Era, New York 2009, S. 32. Vgl. auch Mühlhahn, Concentration Camp, S. 547. 48 Vgl. die detaillierte Darstellung im zweiten Kapitel. 49 Zur Argumentation besonders: Kerstin von Lingen, „Crimes against Humanity“. Eine Ideengeschichte der Zivilisierung von Kriegsgewalt, 1864–1945, Paderborn 2018, S. 11 f., 14 f., 17, 24 f., 28, 35–37, 45, 188–190; dies., „Crimes against Humanity“. Eine umstrittene Universalie im Völkerrecht des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), S. 373–393. Daneben: Stefan-Ludwig Hoffmann, Einführung. Zur Genealogie der Menschenrechte, in: ders. (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 7–37, hier: S. 14. In der Forschung ist der Einfluss des Holocaust auf den Menschenrechtsdiskurs seit 1945 im Allgemeinen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die UN-Genozidkonvention (Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes) vom 10. bzw. 9. Dezember 1948 im Besonderen umstritten geblieben. Vgl. Annette Weinke, Vom „Nie wieder“ zur diskursiven Ressource. Menschenrechte als Strukturprinzip internationaler Politik seit 1945, in: dies. / Norbert Frei (Hg.), Toward a New Moral World Order? Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945, Göttingen 2013, S. 12–39, hier: S. 21; John Cooper, Raphael Lemkin and the Struggle for Genocide Convention, Houndmills 2008, S. 184, 198, 276.

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Kriegsgewalt gegenüber Zivilisten keineswegs ungebrochen, und sie ist bis zur Gegenwart auf beträchtliche Hindernisse und Widerstände getroffen. Besonders mit dem Prinzip nationalstaatlicher Souveränität haben Regierungen ihre Sicherheitspolitik gegenüber äußeren Eingriffen zugunsten der Humanität und der Menschenrechte abgeschirmt.50 Trotz der Einrichtung internationaler Gerichtshöfe und der wichtigen Ansätze internationaler Kooperation in diesem Bereich, besonders seit der Jahrtausendwende, sind humanitäre Interventionen bis zur Gegenwart vielfach am Grundsatz der Staatssouveränität gescheitert. Zudem haben Völkerrechtler wie Ian Brownlie (1932–2010) zu Recht auf die Gefahr hingewiesen, dass sich die Regierungen von Großmächten auf den Schutz von Menschenrechten berufen könnten, um Übergriffe auf schwächere Staaten zu rechtfertigen. Diese unauflösbaren Aporien des Menschenrechtsdiskurses haben wiederum Passivität gegenüber massiven Verletzungen von Menschenrechten gerechtfertigt.51

Kontexte und Stand der Forschung Wie hier angedeutet, eröffnet die Untersuchung des komplexen Verhältnisses von Humanität und Sicherheit am Beispiel des Umgangs mit zivilen Feindstaatenangehörigen in den beiden Weltkriegen instruktive Befunde und Einsichten, die auch aktuellen Diskussionen eine unabdingbare historische Tiefenschärfe verleiht. Allgemein basiert dieses Buch damit auf einem Verständnis von Zeitgeschichte, das von aktuellen Problemen ausgeht. So kann eine geschichtswissenschaftliche Perspektive auf den Umgang mit „Feinden“ die bereits skizzierte gegenwärtige Diskussion über Sicherheitspolitik und Menschenrechte bereichern. Auch hierbei ist zwischen den Sicherheitsbedürfnissen der verschiedenen Akteure zu unterscheiden. Überdies müssen einfache Analogien zur Problematik im spezifischen Kontext der beiden Weltkriege vermieden werden. Vielmehr ist der Vergangenheit ein eigener Stellenwert einzuräumen. Auch verbieten sich vorschnelle Kontinuitätskonstruktionen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Jedoch werfen aktuelle Kontroversen durchaus wichtige Fragen 50 Mazlish, Idea, S. 32–36; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 24. 51 Fabian Klose, The Emergence of Humanitarian Intervention. Three Centuries of Enforcing Humanity, in: ders. (Hg.), The Emergence of Humanitarian Intervention. Ideas and Practice from the Nineteenth Century to the Present, Cambridge 2016, S. 1–27, hier: S. 2, 8–10, 20 f.; ders., Protecting Universal Rights through Invasion. International Debates from the 1930s to the 1980s, in: Norbert Frei / Daniel Stahl / Annette Weinke (Hg.), Humanitarian Rights and Humanitarian Intervention. Legitimizing the Use of Force Since the 1970s, Göttingen 2017, S. 169–183.

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und analytische Perspektiven auf, die in diesem Buch aufgegriffen werden. Umgekehrt können Befunde und Einsichten historischer Studien auf aktuelle Probleme bezogen werden, wie der englische Historiker Geoffrey Barraclough (1908–1984) schon 1967 betont hat: „Contemporary history begins when the problems which are actual in the world today first take visible shape“.52 Der Gegenwartsbezug hat auch die neuere historische Forschung über die Menschenrechte und Zivilgesellschaft kräftig vorangetrieben.53 Obgleich vor allem die Internierung eine einschneidende Maßnahme war, die das Leben zahlreicher Menschen bestimmte, ist die Behandlung der zivilen Feindstaatenausländer in der Geschichtsschreibung und in der öffentlichen Debatte deutlich weniger beachtet und untersucht worden als der Umgang mit den Kriegsgefangenen der beiden Weltkriege. Flüchtlinge, unterdrückte Minoritäten und Zivilinternierte zählten deshalb lange zu den vergessenen Opfern des Ersten Weltkrieges. Die hohe Zahl der Zivilisten, die im Zweiten Weltkrieg starben (mit allein 5,7 Millionen jüdischen Opfern des Holocaust), hat die Vernachlässigung des Leidens dieser Gruppe in den Jahren von 1914 bis 1918 begünstigt. Außerdem galten Zivilisten, die in den beiden Weltkriegen starben, in den jeweiligen Staaten gedächtnispolitisch nicht als „Helden“, sondern als „Opfer“.54 52 Geoffrey Barraclough, An Introduction to Contemporary History, Harmondsworth 1967, S. 20. In den letzten Jahren ist diese Überlegung in den Diskussionen über den Stellenwert und die Aufgaben der Zeitgeschichte erneut aufgenommen worden. So hat Kristina Spohr Readman argumentiert: „… the principal distinguishing feature of ‚contemporary history‘ (in the truest sense of the term) is surely that its practitioners will write in medias res about events and developments that are perceived as actual and central to present-day life, as perceived by publics and political elites, and the outcome of which might still be uncertain […] contemporary historians need not only work from a certain starting point forward, exploring temporal causalities, contingency and agency of their object of research. They must also look backwards for explanatory depth …“ Kristina Spohr Readman, Contemporary History in Europe: From Mastering National Pasts to the Future of Writing the World, in: Journal of Contemporary History 46 (2011), S. 506–530, hier: S. 526. 53 Robert Brier, Beyond the Quest for a „Breakthrough“: Reflections on the Recent Historiographie on Human Rights, in: Jahrbücher für Europäische Geschichte 16 (2015), S. 155–173, hier: S. 172. 54 Bruce Scates / Rebecca Wheatley, War Memorials, in: Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, Bd. 5: The Social History of Cultural Life, Cambridge 2014, S. 528–556, hier: S. 543, 556; Sven Oliver Müller, Tod und Verklärung. Denkmale des Krieges in Großbritannien nach 1918, in: Heinz-Gerhard Haupt / Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19 und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2004, S. 173–201, hier: S. 196; Hannah Ewence, Bridging the Gap Between „War“ and „Peace“: The Case of Belgian Refugees in Britain, in: dies. / Tim Grady (Hg.), Minorities and the First World War. From War to Peace, London 2017, S. 89–113, hier: S. 91; Becker, Captive Civilians, S. 261; Jones, Great War, S. 84.

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Daher nahmen sie bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Erinnerungskulturen der Länder, die an den beiden Weltkriegen beteiligt waren, nur eine untergeordnete Rolle ein, auch wenn in einzelnen Ländern wie Großbritannien schon in den 1920er Jahren durchaus auch Denkmale für bestimmte Gruppen (beispielsweise internierte Frauen) eingeweiht worden waren. Aber sogar in Serbien, dessen Bewohner von den jeweiligen Besatzungsmächten von 1915 bis 1918 und von 1941 bis 1944 besonders rücksichtslos behandelt wurden, haben zivile Kriegsopfer kaum Beachtung gefunden, denn sie konnten in der national geprägten Gedächtnispolitik nicht für das vorherrschende Paradigma des heroischen Kämpfers in Anspruch genommen werden. Noch weniger passten sie in den Totenkult, der die Gefallenen ehrte. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg quälte viele ehemalige Zivilinternierte deshalb ein Schuldkomplex, auf den sie als Überlebende mit Schweigen reagierten.55 Erst mit der Abkehr von heroischen Erinnerungsnarrativen ist seit den 1980er Jahren auch das Leiden der Zivilisten hervorgehoben worden. Zugleich haben Ausstellungen und geschichtswissenschaftliche Deutungen nicht nur die Überhöhung der Gefallenen zurückgenommen, die zuvor in vielen Ländern vorgeherrscht hatte, sondern z. T. überhaupt einen Sinn des Leidens in Abrede gestellt. Im Rahmen der Hinwendung zur „Zivilhistoriographie“, die Kriegsopfer, Identitäten und Erinnerungen einbezogen hat, sind auch die zivilen Feindstaatengehörigen ebenso zunehmend beachtet worden wie die Minderheiten und Flüchtlingen in den kriegführenden Mächten. Dabei hat die Geschichtsschreibung die Feindpropaganda der kriegführenden Staaten ebenso untersucht wie die Behandlung der Zivilinternierten und den rechtlichen Status der Lager, in die sie verbracht wurden. Im Allgemeinen ist dabei die Perspektive der beteilig55 Oliver Wilkinson, British Prisoners of War in First World War Germany, Cambridge 2017, S. 277–281. Zu den Erinnerungen in Serbien: Trifunović, Prisoners of War. Zeitgenössisch schon: Hans Weiland, Pioniere der Menschlichkeit, in: ders. / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 237 f. Vergleichend: Arnd Bauerkämper, World War I in Twentieth-Century European History, in: Jarosław Suchoples / Stefanie James (Hg.), Re-visiting World War I. Interpretations and Perspectives of the Great Conflict, Frankfurt/M. 2016, S. 187–206; Kenneth S. Inglis: The Homecoming: The War Memorial Movement in Cambridge, England, in: Journal of Contemporary History 27 (1992), S. 583–605, hier: S. 585 f. „Gedächtnispolitik“ ist institutionell verfasst und zielt auf die Aktualisierung ausgewählter Erinnerungen in Repräsentationen, Ritualen und Inszenierungen, in denen jeweils die Gegenwart auf die Vergangenheit und Zukunft bezogen wird. Das Konzept der „Gedächtnispolitik“ lenkt die Aufmerksamkeit auf Interaktionen zwischen politischen Akteuren (vor allem nationalen Eliten), die jeweils versuchen, ihre Ziele und ihr Handeln zu legitimieren. Dazu formen und funktionalisieren sie bewusst Erinnerungen, die sie symbolisch und öffentlichkeitswirksam kommunizieren. Vgl. Erik Meyer, Memory and Politics, in: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.), A Companion to Cultural Memory Studies, Berlin 2010, S. 173–180.

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ten Regierungen, neutraler Staaten und humanitärer Organisationen vorherrschend geblieben. Davon kann eine neuere Forschungsrichtung unterschieden werden, welche (auch) die Erfahrungen der Betroffenen rekonstruiert und analysiert.56 Als wichtiger Kontext gilt in der Geschichtsschreibung auch die umfassende Mobilisierung aller Kräfte für die Kriegführung in den einzelnen Ländern. Dafür waren Emotionen vor allem bei der Dämonisierung von Feinden in der Propaganda wichtig, wie schon früh erkannt worden ist.57 In sozialpsychologischer Hinsicht vollzog sich die Unterdrückung von Feindstaatenangehörigen in einer Ausnahmesituation, so dass in diesem Buch die neuere historische Forschung zu Emotionen zu berücksichtigen ist. So schlugen sich Angst und Unsicherheit in Feindbildern nieder, die in den beiden Weltkriegen die Hasspropaganda kennzeichneten. Die Dämonisierung der jeweiligen Kriegsgegner festigte verzerrende und verengte Wahrnehmungen, die schon im frühen 20. Jahrhundert u. a. in Reden, Flugblättern, Zeitungen und Zeitschriften vermittelt worden waren. In vielen Staaten beeinflussten sogar fiktionale Kriegsszenarien in Zukunftsromanen die Regierungspolitik.58 56 Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010, S. 114 f.; Tammy M. Proctor, Civilians in a World at War, New York 2010, S. 275; Rachamimov, ‚Zivilhistoriographie‘, S. 28. Zur Erinnerungsgeschichte vgl. Arnd Bauerkämper, Zwischen nationaler Selbstbestätigung und Universalisierung des Leids. Der Erste Weltkrieg in intellektuellen Diskursen, in der Geschichtsschreibung und Erinnerung, in: Gislinde Seybert / Thomas Stauder (Hg.), Heroisches Elend. Der Erste Weltkrieg im intellektuellen, literarischen und bildnerischen Gedächtnis der europäischen Kulturen, Frankfurt/M. 2014, S. 63–93; Peter Landley / Nigel Steel, Der Erste Weltkrieg als nationaler Erinnerungsort. Das „Imperial War Museum“ in Canberra, in: Barbara Korte / Wolfgang Hochbruck (Hg.), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur, Essen 2008, S. 27–46, S. 32 f., S. 35–41; Gerd Krumeich, Der Erste Weltkrieg im Museum. Das Historial de la Grande Guerre in Péronne und neuere Entwicklungen in der musealen Präsentation des Ersten Weltkriegs, in: Korte / Hochbruck (Hg.), Der Erste Weltkrieg, S. 59–71, 62; Barton, Internment, S. 4. 57 Vgl. z. B. Elsa Brändström, Among Prisoners of War in Russia and Siberia, London 1929, S. 24: „…feelings and passions […] are absolutely necessary for the successful carrying on of any war – conviction, namely, of the wrong suffered at the hands of the enemy and blind hatred.“ 58 Hierzu und zum Folgenden: Steffen Bruendel, Kriegsgreuel 1914–18. Rezeption und Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen im Spannungsfeld von Völkerrecht und Kriegspropaganda, in: Sönke Neitzel / Daniel Hohrath (Hg.), Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn 2008, S. 293–316; Rüdiger Overmans, „Hunnen“ und „Untermenschen“. Deutsche und russisch / sowjetische Kriegsgefangenschaftserfahrungen im Zeitalter der Weltkriege, in: Bruno Thoß / Hans-Erich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002, S. 335–365, hier: S. 338; Rachamimov, POWs, S. 161 f. Dazu exemplarisch: Verena Moritz, „Schauermärchen“ und „Greueldichtun-

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In den beiden Weltkriegen führte Furcht besonders in akuten Krisen – so nach militärischen Niederlagen – zu verzerrten Wahrnehmungen, unbegründeten Verdächtigungen oder sogar zu Panik und Verschwörungsvorstellungen. Dabei wurden Zivilinternierte ebenso wie Kriegsgefangene Opfer eines Propagandakrieges, in dem Regierungen ihre Behandlung fremder Feindstaatenangehöriger jeweils verteidigten, den gegnerischen Staaten aber Misshandlungen und „Barbarei“ vorwarfen. So wurde in einer Publikation, die 1918 in Deutschland erschien, behauptet, dass zivile Feindstaatenangehörige im Ersten Weltkrieg human behandelt würden, während die Deutschen in den Entente-Staaten vor allem unmittelbar nach Kriegsbeginn verleumdet, angegriffen und ihres Eigentums beraubt worden seien. Damit sollte zwar weniger den eigenen Staatsangehörigen geholfen werden, deren Leben in der Gefangenschaft für alle Regierungen letztlich nebensächlich blieb. Vielmehr diente die Propaganda durchweg dem Zweck, jeweils die eigene Kriegführung zu rechtfertigen und dafür Unterstützung zu mobilisieren. Zugleich erforderte gerade diese politische Indienstnahme, humanitäre Mindeststandards einzuhalten, denn Informationen zu Übergriffen konnten von gegnerischen Staaten ausgenutzt werden. Deshalb wurden Nachrichten zu eigenen Übergriffen, die völkerrechtliche Abkommen verletzten, in den beiden Weltkriegen mit Hilfe der Zensur unterdrückt.59 In der Historiographie ist der Stellenwert der Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger in der längerfristigen Entwicklung vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges unterschiedlich bestimmt worden.60 Im Allgemeinen kann die Unterdrückung ziviler Feindstaatenangehöriger in den beiden Weltkriegen nicht ohne die Entwicklung der Migration und des Staatsbürgerrechts verstanden werden. Die Internierung basierte auf der staatlichen Politik der Regulierung von Migration im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. gen“, „Barbarei“ und „Massenmord“. Die Behandlung von Kriegsgefangenen als Gegenstand der österreichischen Pressepropaganda, 1914–1918, in: Zeitgeschichte 45 (2018), S. 35–56, bes. S. 36–38, 45; Ignatius Frederick Clarke, Introduction: ‚Horribly Stuffed with Epithets of War‘, in: ders. (Hg.), The Great War with Germany, 1890–1914. Fictions and Fantasies of the War-tocome, Liverpool 1997, S. 1–27, hier: S. 1; Stefan Manz / Panikos Panayi, The Internment of Civilian ‚Enemy Aliens‘ in the British Empire, in: Manz / Panayi / Stibbe (Hg.), Internment, S. 19–40, hier: S. 33. Überblick zur Rolle von Emotionen in: Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012. 59 Die Behandlung der feindlichen Zivilpersonen in den kriegführenden Staaten nach Ausbruch des Krieges, Berlin 1918, bes. S. VI, 58. Den Hinweis auf diese Publikation verdanke ich Matthias Kiekebusch, Berlin. Dazu jetzt umfassend: Eberhard Demm, Censorship and Propaganda in World War I. A Comprehensive History, London 2019, bes. S. 118–137. 60 Iris Rachamimov, ‚Zivilhistoriographie‘ des Ersten Weltkrieges: Der Erste Weltkrieg in der jüngeren akademischen Forschung, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 43 (2015), S. 21–52, hier: S. 26, 32 f., 37, 39, 52.

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Wanderungen und die darauf bezogenen staatlichen Kontrollregimes müssen deshalb in die Darstellung einbezogen werden. Allerdings diente die Internierung weder unmittelbar der Einwanderungskontrolle noch der Ein- und Ausbürgerung. Außerdem erwies sich die Zugehörigkeit zu einer Nation als rechtliche Kategorie in der Politik gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen in den Jahren von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 nicht als eindeutig, wie besonders der Umgang mit Eingebürgerten und Bürgern multiethnischer Reiche zeigte.61 Die nationalistische Mobilisierung in den beiden Weltkriegen verstärkte vorangegangene Bemühungen um eine vollständige Integration der Staatsbürger in die einzelnen Staaten und – damit einhergehend – den Ausschluss von Fremden. Seit der Französischen Revolution hatten Nationalstaaten ihren Angehörigen Teilhabe am Staat in Aussicht gestellt. Das wichtigste Instrument dafür war im 19. Jahrhundert das Staatsbürgerschaftsrecht. Damit bildeten sich Staatsvölker heraus, in denen Rechte an Nationen gebunden waren. Ausländer sollten bei der Einreise und in den einzelnen Ländern kontrolliert werden, vor allem durch Pässe und eine Registrierungspflicht, die europäische Regierungen im 19. Jahrhundert sukzessive einführten. Zugleich hatte die Wehrpflicht die Selbstbehauptung der einzelnen Nationalstaaten im globalen Wettbewerb mit konkurrierenden Ländern zu gewährleisten. Die dafür notwendige umfassende Mobilisierung steigerte in den beiden Weltkriegen Loyalitäts- und Partizipationserwartungen an die Staatsbürger, deren rechtliche Integration in die Nationalstaaten bereits vor 1914 vorangetrieben worden war. Damit hatte sich auch das Streben nach einer ethnischen Homogenisierung und gesellschaftlicher Integration verstärkt. Zugleich lud der neue Nationalismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert den Tatbestand des „Landesverrats“, der als rechtliche Kategorie schon im 16. Jahrhundert entstanden war, politisch und moralisch enorm auf. Diesen Prozess noch radikalisierend, verhängte das NS-Regime schließlich nicht nur für Hochverrat die Todesstrafe, sondern führte mit dem „Volksverrat“ 1934 auch einen neuen Straftatbestand ein.62 61 Stibbe, Civilian Internment, S. 32 f. Vgl auch Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000; ders. u. a. (Hg.), The Encyclopedia of Migration and Minorities in Europe: From the Seventeenth Century to the Present, Cambridge Press 2013; Jochen Oltmer, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München 2012; ders., Einführung: Steuerung und Verwaltung von Migration in Deutschland seit dem späten 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2003, S. 9–56; ders., Migration im 19. und 20. Jahrhundert. 62 Andreas Fahrmeir, Citizenship: The Rise and Fall of a Modern Concept, New Haven 2007; Benno Gammerl, Staatsbürger, Untertanen und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918, Göttingen 2010; ders., Passports and the Status of Aliens, in: Martin H. Geyer / Johannes Paulmann (Hg.), The Mechanics

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Minderheiten mussten sich damit anpassen oder ihre Ausgrenzung hinnehmen – von rechtlichen Benachteiligungen und sozialen Diskriminierungen bis zu Vertreibung oder sogar Ermordung. Besonders in den beiden Weltkriegen gerieten Minoritäten unter erheblichen Druck, da sie vielfach mit den jeweiligen gegnerischen Ländern assoziiert wurden. Der Verdacht der Illoyalität, Sabotage und Unterwanderung richtete sich dabei nicht nur gegen Angehörige der Feindstaaten, sondern auch gegen Eingebürgerte, die den gegnerischen Ländern entstammten. Darüber hinaus steigerten die Belastungen der totalen Kriege den Hass auf Minderheiten, die in zahlreichen Staaten lebten. So radikalisierte sich der Antisemitismus im Ersten Weltkrieg vor allem in Osteuropa, wo der vielerorts extreme Fremdenhass bereits im späten 19. Jahrhundert Pogrome herbeigeführt hatte, zu einer umfassenden Verfolgung der Juden, die systematisch deportiert, enteignet, vertrieben und ermordet wurden.63 „Ethnische Säuberungen“ trafen aber auch andere Minderheiten, die als vermeintlich illoyale „innere Feinde“ verdächtigt wurden. Vor allem in Gemenge- und Grenzlagen wie in den multiethnischen Imperien war in den einzelnen Staaten die Abgrenzung von zivilen Feindstaatenangehörigen und eigenen Minderheiten bis 1918 oft schwierig. So lebten Armenier nicht nur in den gegeneinander kämpfenden Reichen der Osmanen und Russen, sondern auch in anderen Staaten des östlichen Mittelmeerraumes. Nachdem die Jungtürken bis 1913 ihr Bekenntnis zu einem multiethnischen Osmanischen Reich aufgegeben hatten, nutzen sie den totalen Ersten Weltkrieg zu einem radikalen demographic engineering zugunsten der Muslime und Türken. Diese Politik mündete 1915/16 in den Völkermord an den Armeniern und Assyrern. Aber auch in Osteuropa verband sich der äußere Konflikt mit dem Kampf gegen Minderheiten wie den Juden, die offiziell als „innere Feinde“ galten. Diese Auseinandersetzungen waren eine wichtige Dimension der Entwicklung zum totalen Krieg, der in den Jahren von 1941 bis 1945 schließlich im Holocaust gipfelte.64 of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, Oxford 2001, S. 93–119, hier: S. 95, 98, 107; Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880–1930, München 2010. Übersicht in: Dieter Langewiesche, Nationalstaat, in: Rüdiger Voigt (Hg.), Handbuch Staat, Bd. 1, Wiesbaden 2018, S. 339–348, hier. S. 339 f.; ders., Nation als Ressourcengemeinschaft. Ein generalisierender Vergleich, in: ders., Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008, S. 36–52; ders., Jahrhundert, S. 34, 43, 46; Krischer, Judas, S. 26 f. Vgl. auch Daniela L. Caglioti, Waging War on Civilians: The Expulsion of Aliens in the Franco-Prussian War, in: Past and Present 221 (2013), S. 161–195, hier: S. 162 f. 63 Langewiesche, Nationalstaat, S. 340. 64 Omer Batrov / Eric D. Weitz, Introduction. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian and Ottoman Borderlands, in: dies. (Hg.), Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian and Ottoman Empire, Bloomington 2013, S. 1–

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Wie bereits angedeutet, war der Umgang mit Feindstaatenangehörigen in den beiden Weltkriegen auch eng mit Vertreibung verbunden. Davon ist analytisch die Flucht von Bevölkerungsgruppen aus Regionen zu unterschieden, die von feindlichen Streitkräften bedroht oder besetzt wurden. Allerdings wirkten beide Prozesse oft zusammen. So flohen aus den nördlichen und östlichen Départements Frankreichs im August und September 1914 viele Zivilisten. An strategisch wichtigen Verteidigungsanlagen – wie denjenigen in Toul, Longwy und Verdun – zwangen die Militärs aber auch Bewohner zur Umsiedlung, nicht zuletzt wegen der Furcht vor Illoyalität und Verrat. Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges verließen außerdem rund 50.000 Belgier ihr Land. Davon flohen 10.000 nach Großbritannien; aber auch die Niederlande und Frankreich nahmen belgische Flüchtlinge auf, deren Zahl sich bis Ende 1915 insgesamt auf 1,5 Millionen belief. Flucht, Zwangsaussiedlungen und Vertreibungen im Hinterland der Fronten gingen in den beiden Weltkriegen aber besonders in Ostmittelund Osteuropa mit Kämpfen einher. So ist die Zahl der Flüchtlinge allein im Russischen Reich für den Sommer 1915 mit rund drei und für November 1917 mit sieben Millionen veranschlagt worden.65 Hier, im Osmanischen Reich und in der Habsburgermonarchie verwiesen die Militärführungen im Ersten Weltkrieg viele Bewohner aus ihren Siedlungen, vor allem Minderheiten und Juden, die als Helfer der jeweiligen Kriegsgegner galten. So sollte der Hinweis auf die Sicherheit des Staates sowohl die Zwangsevakuierung von Deutschen und jüdischen Staatsangehörigen in Russland als auch die Verschleppung von Italienern in Lager in Österreich rechtfertigen. Besonders eklatant wirkten sich die Sicherheitsmanie und die damit verbundene Angst vor „inneren Feinden“ im Osmanischen Reich aus, wo die Zwangsumsiedlung der christlichen Armenier und Assyrer 1915 sogar in einen Genozid mündete, vor dem die russische Staatsführung im Zarenreich demgegenüber letztlich zurückschreckte.66 Die Verschleppten mischten sich mit Zivilisten, die vor den Kämpfen geflohen waren und gleichfalls im Hinterland versorgt werden 20, hier: S. 2, 5, 10–12; Jay Winter, Under Cover of War. The Armenian Genocide in the Context of Total War, in: Robert Gellately / Ben Kiernan (Hg.), The Specter of Genocide. Mass Murder in Historical Perspective, Cambridge 2003, S. 189–213, hier: S. 191, 208, 212 f.; Panayi, Minorities, S. 216, 218, 222, 238. Demographic engineering nach: Kieser / Bloxham, Genocide, S. 599. Ähnlich: Taner Akçam, The Young Turks and the Plans for the Ethnic Homogenization of Anatolia, in: Bartov / Weitz (Hg.), Shatterzone, S. 258–279, hier: S. 259. Zum Konzept der „ethnischen Säuerungen“ (gegenüber „Genoziden“): Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2011, S. 7–14. 65 Angaben nach: Peter Gatrell / Philippe Nivet, Refugees and exiles, in: Winter (Hg.), Cambridge History, Bd. 3, S. 189 f., 203. 66 Winter, Cover, S. 208–210. Zu Flucht und Vertreibung auch Tony Kushner / Katherine Knox, Refugees in an Age of Genocide. Global, National and Local Perspectives during the

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mussten. So herrschten in Österreich-Ungarn in vielen Städten wie Wien, Prag, Graz und Brünn schon im Herbst 1914 katastrophale Zustände.67 Ebenso wie die Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, die sich in der Hand der Gegner befanden, wurden auch Flüchtlinge, Vertriebene und Deportierte von staatlichen Institutionen unterstützt. So organisierte in Frankreich eine Gruppe um den Schriftsteller André Gide im Ersten Weltkrieg Hilfsleistungen, und in Russland kümmerten sich beispielsweise lokale Selbstverwaltungsorgane und das halboffizielle „Tatjana-Komitee“ (benannt nach der Großfürstin Tatjana Nikolajewna Romanowa) um Flüchtlinge und Zwangsausgesiedelte. Allerdings blieb die karitative Unterstützung selektiv, und sie wurde unterschiedlich bewertet, wie die Unterstützung für die Belgier zeigt. Diese wurden in Frankreich und Großbritannien zumindest in den ersten Monaten als Bundesgenossen begrüßt, während die Aufnahme in den Niederlanden distanzierter blieb.68 Wie dargelegt, hat sich die Forschung zum humanitären Engagement für zivile Opfer der beiden Weltkriege aber erst in den letzten beiden Jahrzehnten intensiviert. Zudem ist der Bezug zur Geschichtsschreibung zu den Menschenrechten und die ambivalente Rolle internationaler Organisationen, die sich zu teilweise erheblichen Zugeständnissen an die kriegführenden Staaten gezwungen sahen, vernachlässigt worden. Noch während des Ersten Weltkrieges und in den darauffolgenden Jahren untersuchten Rechtswissenschaftler wie James W. Garner (1871–1938), Ronald Roxburgh (1889–1981) und Ernst (Ernest) M. Satow (1843–1929) den Problemkomplex. Weitere Studien zu den völkerrechtlichen Problemen wurden in den zwanziger Jahren veröffentlicht. In dieser frühen Phase der Aufarbeitung veröffentlichten auch betroffene Internierte und Diplomaten wie der ehemalige USBotschafter in Berlin, James W. Gerard (1867–1951), und der frühere amerikanische Botschafter im Osmanischen Reich, Henry Morgenthau (1856–1946), ihre Memoiren. Ebenso erschienen Erinnerungen von Personen, die Kriegsgefangenen und Zivilinternierten in den Jahren von 1914 bis 1918 geholfen hatten. So publizierte die schwedische Krankenschwester Elsa Brändström (1888–1948), die sich vor allem in Russland für die Gefangenen eingesetzt hatte, ErinnerunTwentieth Century, London 1999, S. 43–63, 172–214; Peter Gatrell, Refugees and Forced Migrants during the First World War, in. Immigrants and Minorities 26 (2008), Nr. 1–2, S. 82–110. 67 Antje Senarclens de Grancy, Different Housing Spaces – Space, Function, and Use of Barrack-Huts in World War I Refugee Camps, in: Zeitgeschichte 45 (2018), S. 457–482, hier: S. 460 f. 68 Gatrell / Philippe Nivet, Refugees, S. 193, 196, 205. Zum „Tatjana-Komitee“: Dmytro Myeshkov, Art. „Tetjana-Komitee“, in: Detlef Brandes / Holm Sundhaussen / Stefan Troebst (Hg.), Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien 2010, S. 637 f.

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gen. Einige Rückblicke, die in den 1920er und 1930er Jahren erschienen, waren einseitig und spiegelten noch die Frontstellungen der Kämpfe von 1914 bis 1918 wider.69 Nach dem Zweiten Weltkrieg bewerteten Juristen und Politiker unter dem Eindruck der noch umfassenderen Internierungs- und Unterdrückungspolitik, die in den Jahren von 1939 bis 1945 Millionen Opfer gefordert hatte, die Unterdrückungspolitik gegenüber Zivilisten im vorangegangenen Krieg neu. Dazu trug auch die in den vierziger Jahren intensive völkerrechtliche und politische Diskussion über Menschenrechte und Genozide bei.70 In der Geschichtsschreibung fehlte lange eine kritische Auseinandersetzung mit Gewalt gegenüber Zivilisten in den beiden Weltkriegen. Auch das Ausmaß und die Formen der Verfolgung und Unterdrückung von enemy aliens hat die historische Forschung erst seit den achtziger Jahren aufgezeigt und analysiert. Jüngst sind auch erste Gesamtdarstellungen vorgelegt worden.71 Dabei ist die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger und ethnisch-nationaler Minderheiten über (Zwangs-) Migrationen und die Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechts hinaus auch auf andere übergreifende Probleme bezogen worden, so die Herausbildung von Kriegskulturen, die Geschichte der Zwangsarbeit, Gewalt gegen Soldaten und Zivilisten, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sowie die Diskriminierung von Minoritäten. Diese Prozesse vollzogen sich in lokalen, nationalen und transnationalen Räumen. Nicht zuletzt haben neuere Studien Interpretationen, die Gefangene und Internierte entweder als Helden oder passive, willenlose Opfer gekennzeichnet haben, nachdrücklich in Frage gestellt. Die Betroffenen erweiterten während der Internierung ihre Fähigkeiten und verfügten auch in den Lagern über Handlungsmöglichkeiten, für die sie auch ihre 69 So Wilhelm Doegen, Kriegsgefangene Völker, Bd. 1: Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal in Deutschland, im Auftrage des Reichswehr-Ministeriums, Berlin 1919. Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Linguisten, der in Kriegsgefangenen- und Internierungslagern die Sprache der Insassen untersuchte. Vgl. Tim Grady, A Deadly Legacy. German Jews and the Great War, New Haven 2017, S. 132. Ähnlich tendenziös: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, 2 Bde., Wien 1931. Zu dieser Publikation kritisch: Hannes Leidinger, Habsburgs schmutziger Krieg. Ermittlungen zur österreichisch-ungarischen Kriegsführung 1914–1918, St. Pölten 2014, S. 102; Stibbe, Civilian Internment, S. 307. 70 Überblick zur Geschichtsschreibung in: Caglioti, Aliens, S. 452–455; Stibbe, Enemy Aliens and Internment. Vgl. auch die Beiträge zu Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, 2 Bde.; Elsa Brandström, Among Prisoners of War in Russia and Siberia, London 1929; Ronald F. Roxburgh, The Prisoners of War Information Bureau in London, London 1915; ders., German Property in the War and the Peace, in: Law Quarterly Review 37 (1921), Nr. 1, S. 50–56; James W. Gerard, My Four Years in Germany, New York 1917; Henry Morgenthau, Ambassador Morgenthau’s Story, New York 1918; Garner, Treatment; Satow, Treatment. 71 Vgl. vor allem Stefan Manz / Panikos Panayi, Enemies in the Empire. Civilian Internment in the British Empire during the First World War, Oxford 2020; Stibbe, Civilian Internment.

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Erfahrungen vor der Gefangennahme bzw. Internierung nutzten. Damit konnten vor allem frühe Deutungen, die Fluchten verherrlicht oder einseitig die Repression in den Lagern betont hatten, differenziert und letztlich überwunden werden. Zugleich sollte die Kreativität vieler Internierter nicht verdecken, dass die Einweisung in Lager humanitäre Standards und Freiheitsrechte fundamental verletzte.72 Aber auch weiterhin erwähnen Gesamtdarstellungen des Ersten Weltkrieges den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen und Minoritäten allenfalls am Rande.73 Vor allem aber ist das Verhältnis zwischen humanitären Gesichtspunkten und Menschenrechten einerseits und Sicherheit andererseits bislang kaum beachtet worden. Vielmehr hat sich die jüngere Historiographie wie auch die intensive wissenschaftliche und öffentliche Diskussion, die 2014 vor allem in Deutschland, aber auch in anderen Staaten über den Ersten Weltkrieg geführt worden ist, erneut einseitig auf die Verantwortung für den Ausbruch des blutigen Konfliktes konzentriert. Dabei ist mit der Verteilung der Schuld auf die beteiligen Nationen auch ein Problemkomplex behandelt worden, der gegenüber den vorangegangenen Diskussionen seit den 1960er Jahren nur wenige neue Erkenntnisse erbracht hat. Zudem herrscht in der historischen Forschung weiterhin eine Fixierung auf die Westfront vor. Diese überkommene Perspektive ist erst seit der Jahrtausendwende schrittweise aufgebrochen worden. Nicht zuletzt bleibt der nationale Rahmen trotz einer zögernden Hinwendung zu vergleichs- und verflechtungsgeschichtlichen Perspektiven und Untersuchungsansätzen weiterhin vorherrschend.74 72 Harold Myrtum, A Tale of Two Treatments. The Materiality of Internment on the Isle of Man in World Wars I and II, in: Adrian Myers / Gabriel Moshenska (Hg.), Archaeologies of Internment, New York 2011, S. 33–52, hier: S. 43, 46; Wilkinson, Prisoners of War, S. 58, 68–77, 262, 270 f., 277–283; Stibbe, Civilian Internment, S. 4 f. Zu Österreich: Leidinger, Krieg, S. 102. Für Großbritannien: Panikos Panayi, A Marginalized Subject? The Historiography of Enemy Alien Internment in Britain, in: Richard Dove (Hg.), Totally un-English? Britain’s Internment of „Enemy Aliens“ in Two World Wars, Amsterdam 2005, S. 17–23. Zum Zusammenhang von Menschenrechten und gewaltsamen Vertreibungen im 20. Jahrhundert: Jan M. Piskorski, Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts. München 2013, S. 23, 26. 73 Vgl. z. B. Christopher Clark, Schlafwandler, München 2013; Herfried Münkler, Der Große Krieg, Berlin 2013, Ernst Piper, Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges, Berlin 2013; Volker Berghahn, Der Erste Weltkrieg, München22004, S. 8. Dagegen kurze Hinweise auf die Internierung in: Oliver Janz, 14. Der Große Krieg, Frankfurt/M. 2013, S. 122–128; Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 353–356. 74 Vgl. Annika Mombauer, Die Julikrise, Europas Weg in den Ersten Weltkrieg, München 2014, S. 7–15; Stephan Lehnstaedt, In der Endlosschleife? Debatten über die Schuld am Ersten Weltkrieg von Emil Ludwig bis Christopher Clark, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016), S. 620–641; Ulrich Wyrwa, Zum Hundersten nichts Neues. Deutschsprachige Neu-

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Abgesehen von den traditionellen Studien zur internationalen Diplomatie, hat das grenzüberschreitende Ausmaß der beiden Weltkriege nur langsam Aufmerksamkeit gefunden. Dabei ist über Europa hinaus sukzessive auch die globale Dimension der Kriegführung deutlich geworden. In der transnationalen Geschichtsschreibung sind darüber hinaus zunehmend auch das Handeln und die Rollen von Akteuren, die nicht Regierungen angehörten, nachgezeichnet worden. So haben neuere Studien die Verfolgung von ethnischen Minderheiten und Opponenten gegen den Krieg untersucht. In detaillierten Untersuchungen sind zum Ersten Weltkrieg besonders die rigorose Unterdrückung, Not und Armut von Belgiern, Franzosen und Ost- und Südosteuropäern unter Bedingungen der Besatzungsherrschaft herausgearbeitet worden.75 Auch hat die Forschung zumindest angedeutet, dass die Repression ziviler Feindstaatenangehöriger in den beiden Weltkriegen maßgeblich zur ideologischen Aufladung der Politik und Gesellschaften beitrug, so mit radikalen Freund-Feind-Abgrenzungen. Die Ursachen, das Ausmaß und die Auswirkungen dieses Prozesses sind aber umstritten geblieben. So verweisen Verhandlungen und Abkommen zum Austausch von Gefangenen, aber auch Hilfsleistungen für diese Opfer auf Grenzen des totalen Krieges, vor allem in den Jahren von 1914 bis 1918. Aber auch im zweiten globalen Konflikt begrenzten vorübergehende Vereinbarungen und humanitäres Engagement Kriegsgewalt.76 Zwar liegen inzwischen einzelne Studien zur Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger in verschiedenen Räumen vor, allerdings vorrangig zu einzelnen Nationen im Ersten Weltkrieg.77 Demgegenüber ist dieser Prozess für die Jahre von 1939 bis 1945 allenfalls punktuell analysiert worden. Die Forschung hat sich lange auf militärhistorische Probleme und die Kriegsziele der beteiligerscheinungen zum Ersten Weltkrieg (Teil II), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016), S. 683–702; Stig Förster, Hundert Jahre danach. Neue Literatur zum Ersten Weltkrieg, in: Neue Politische Literatur 60 (2015), S. 5–25, bes. S. 8; Michael Epkenhans, Der Erste Weltkrieg – Jahresgedenken, neue Forschungen und Debatten einhundert Jahre nach seinem Beginn, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63 (2015), S. 135–165, bes. S. 148 f.; Jost Dülffer, Einhundert Jahre Erster Weltkrieg. Eine Bilanz des Jahres 2014, in: Osteuropa 64 (2014), Nr. 11– 12, S. 45–58; Sönke Neitzel, Der Erste Weltkrieg und kein Ende, in: Historische Zeitschrift 300 (2015), S. 121–148, bes. S. 121 f., 138. 75 Vgl. z. B. Christian Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzen Polen und Litauen 1914–1918, Paderborn 2012. 76 Heather Jones, As the Centenary Approaches: The Regeneration of First World War Historiography, in: Historical Journal 56 (2013), S. 857–878, hier: S. 857, 873 f., 877 f.; Alan Kramer, Recent Historiography of the First World War, in: Journal of Modern European History 12 (2014), S. 5–27, hier: S. 9, 16–22; Becker / Krumeich, Krieg, S. 176, 188, 194 f.; Leonhard, Peace, S. 42 f. 77 Vgl. besonders die Beiträge zu Manz / Panayi / Stibbe (Hg.), Internment.

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ten Mächte, die ideologische Grundlage der NS-Außenpolitik und Hitlers Rolle als „Führer“ im Herrschaftssystem des „Dritten Reiches“ konzentriert. Seit den 1980er Jahren ist auch der Massenmord an den Juden verstärkt untersucht worden, so in detaillierten Studien zu einzelnen Tätergruppen und Regionen (besonders in Osteuropa). Mit der Hinwendung zur Kulturgeschichte der Gewalt haben in der Geschichtsschreibung darüber hinaus Massaker an Zivilisten in den besetzten Gebieten – auch durch Einheiten der Wehrmacht – zusehends Aufmerksamkeit gefunden.78 Demgegenüber sind die Politik und der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen, die sich in den kriegführenden Staaten befanden, im Schatten dieser Verbrechen geblieben. Allerdings richtete sich besonders der Holocaust mit den Juden auch gegen eine Gruppe, die als „innere Feinde“ galten, die 1935 im Staatsbürgerrecht des „Dritten Reiches“ diskriminiert und 1941 offiziell ausgebürgert wurden. Diese Überschneidung ist hier in Rechnung zu stellen. Darüber hinaus fehlen vergleichs- und verflechtungsgeschichtliche Untersuchungen.79 Wie in diesem Buch anhand des Umgangs mit Feindstaatenangehörigen gezeigt wird, war die Politik der kriegführenden Mächte gegenüber (vermeintlichen oder tatsächlichen) Gegnern im Innern im Allgemeinen und Feindstaatenangehörigen im Besonderen aber weltweit miteinander verflochten. In den Kolonien und in den britischen Dominions, wo Zivilisten vielerorts interniert wurden, etablierten die imperialen Mächte in beiden Weltkriegen ein umfangreiches Lagersystem. In den Camps hielten allein die Entente-Mächte im Ersten Weltkrieg rund 20.000 Deutsche fest. Das Netzwerk der Lager reichte dabei von Ahmednagar (Indien) über Pietermaritzburg (Südafrika) und Französisch-Dahomey bis Liverpool (Australien) und Bandō (Japan). Dieses System verband mehrere Kriegsschauplätze miteinander.80 Darüber hinaus reagierten die kriegführenden Staaten hinsichtlich der Behandlung der Internierten aufeinander. Zwischen den Staaten vollzogen sich 78 Knappe Überblicke in: Elke Fröhlich, Der Zweite Weltkrieg. Eine kurze Geschichte, Stuttgart 2013, S. 232–262; Gerhard Schreiber, Der Zweite Weltkrieg, München 42007, bes. S. 64–69; Julian Kümmerle, Der Holocaust, Stuttgart 2016, S. 107–121. Vgl. als neuere Übersichten auch Joseph W. Bendersky, Trajectories in the Study of National Socialism, in: German Studies Review 39 (2016), S. 577–588, hier: S. 586 f.; Waitman Wade Beorn, New Paths, New Directions: Reflections on Forty Years of Holocaust Studies and the GSA, in: German Studies Review 39 (2016), S. 589–599, bes. S. 595–597. Zu den Verbrechen der Wehrmacht detailliert: Wolfram Wette, Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden, Frankfurt/M. 2002. 79 Wilkinson, Prisoners of War, S. 273. 80 Hierzu und zum Folgenden: Stefan Manz, „Enemy Aliens“ in Scotland in a Global Context, 1914–1919: Germanophobia, Internment, Forgetting, in: Ewence / Grady (Hg.), Minorities, S. 117–142, hier: S. 119; Mühlhahn, Concentration Camp, S. 547; Murphy, Captivity, S. 56; Overmans, „Hunnen“, S. 351.

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sogar Lernprozesse. Noch wichtiger waren Reziprozitätsbeziehungen. So wurden Zivilinternierte in viele der Abkommen der europäischen Mächte über Erleichterungen und Austauschaktionen für Kriegsgefangene einbezogen. Umgekehrt bestraften Regierungen zivile Feindstaatenangehörige, die sich in ihrer Hand befanden, für Übergriffe gegnerischer Nationen gegen eigene Staatsbürger. In diesen Repressalien, aber auch in Erleichterungen sind die globalen Wechselbezüge beim Umgang der kriegführenden Staaten mit Kriegsgefangenen und Zivilinternierten unübersehbar. Außer dem historischen Vergleich müssen zur Analyse des Umgangs mit diesen Gruppen deshalb verflechtungsgeschichtliche Untersuchungsansätze genutzt werden. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen den beiden Weltkriegen. Zwar unterschieden sie sich deutlich, und der zweite globale Konflikt ging nicht direkt aus dem ersten hervor. So zielten die Nationalsozialisten nur vordergründig auf eine Revision des Versailler Friedensvertrages. Auch ansonsten kann nicht von einer linearen Entwicklung von 1918 bis 1939 ausgegangen werden, so dass dem Konzept eines zweiten „Dreißigjährigen Krieges“ die Grundlage fehlt. Allerdings war der Erste Weltkrieg in vielerlei Hinsicht ein Präzedenzfall. So nahmen die Gewalt und Brutalität im Umgang mit Minderheiten und Zivilisten, die als „innere Feinde“ galten, sprunghaft zu, obwohl das humanitäre Völkerrecht vor 1914 erheblich erweitert worden war. Damit wurden auch zivile Angehörige gegnerischer Staaten Opfer einer ausufernden Sicherheitspolitik, die im totalen Krieg auf Angst und Panik beruhte.81

Untersuchungsansatz, methodische Grundlage, Quellen und Literatur In dieser Studie wird das Verhältnis zwischen Sicherheitskulturen und -politik einerseits sowie Menschenrechten und Zivilgesellschaft andererseits im Kontext der beiden Weltkriege analysiert, in denen in den beteiligten Staaten jeweils ein Ausnahmezustand verhängt wurde. Der französische Philosoph und Soziologe Michel Foucault hat diesen als Ausdruck und Folge biopolitischer Sicherheitsdispositive interpretiert, die nach dieser Deutung neuzeitliche Regierungsformen kennzeichnet. Diese „Gouvernementalität“ beruhe im Kern auf „Überwachen und Strafen“.82 Demgegenüber hat der italienische Philosoph Giorgio 81 Jörg Echternkamp, 1914–1945: Ein zweiter Dreißigjähriger Krieg? Vom Nutzen und Nachteil eines Deutungsmodells der Zeitgeschichte, in: Sven-Oliver Müller / Cornelius Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 265–280, hier: S. 269; Stibbe, Civilian Internment, S. z; Schreiber, Der Zweite Weltkrieg, S. 7 f. 82 Zu dieser – hier notwendigerweise verkürzten – Darstellung umfassend: Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994. Vgl. auch Thomas

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Agamben eine längere Kontinuität des Ausnahmezustandes diagnostiziert. Seine Überlegungen bündeln sich in der Figur des Homo sacer, des Eidbrüchigen, der nach dem römischen Strafrecht getötet werden durfte, da er außerhalb der Rechtsordnung stand. Ihm stellt Agamben den Souverän als Begründer des Rechts gegenüber. Souveränität entsteht aus dieser Sicht durch die Herrschaft über rechtloses Leben. Der italienische Wissenschaftler, der Foucaults Konzept rechtsphilosophisch und souveränitätstheoretisch weiterentwickelt hat, ist zwar davon ausgegangen, dass der Ausnahmezustand nicht auf die Moderne beschränkt werden dürfe. Agamben hat aber auch betont, dass dieser erst seit dem 19. Jahrhundert im Konzentrationslager einen konkreten Ort gefunden habe.83 Letztlich ist diese Deutung jedoch überaus teleologisch, und sie ebnet die unterschiedlichen historischen Kontexte zu stark ein. Die hier beabsichtigte geschichtswissenschaftliche Darstellung nimmt deshalb Agambens und Foucaults Überlegungen auf, spezifiziert sie aber im Hinblick auf die jeweilige historische Situation. Für die Darstellung des politischen und gesellschaftlichen Umgangs mit zivilen Feindstaatenangehörigen im breiteren Kontext der Repression „innerer Feinde“ in den beiden Weltkriegen empfiehlt sich im Hinblick auf die Sicherheitspolitik und die damit verbundenen Wahrnehmungen von Gefahren und Risiken wegen des extremen Nationalismus und der bedeutenden Rolle der staatlichen Institutionen als erster Zugriff ein nationalhistorischer Untersuchungsansatz. Wie erläutert, muss allerdings ein historisch-vergleichender und verflechtungsgeschichtlicher Ansatz hinzutreten. Komparative Studien, die Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede zwischen mindestens zwei Untersuchungsgegenständen identifizieren und erklären sollen, sind in der Geschichtswissenschaft – besonders in Deutschland – seit den zwanziger Jahren und verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen worden. Systematische und methodisch reflektierte Analysen zu interkulturellen und transnationalen Beziehungen, Transfers und Verflechtungen hat die Historiographie aber erst seit den 1980er Jahren hervorgebracht, obgleich konzeptionelle Vorüberlegungen in anderen Disziplinen bis zur Jahrhundertwende zurückreichen. Damit hat sich die Rekonstruktion und Analyse grenzüberschreitender Wahrnehmungen, Aus-

Lenk, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997. Übersicht in: Andreas Gestrich, Konzentrationslager: Voraussetzungen und Vorläufer vor der Moderne, in: Bettina Greiner / Alan Kramer (Hg.), Die Welt der Lager. Zur „Erfolgsgeschichte“ einer Institution, Hamburg 2013, S. 43–61, hier: S. 43. 83 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/ M. 2002; ders., State of Exception, Chicago 2005, bes. S. 1–31. Guter Überblick in: Eva Geulen, Giorgio Agamben zur Einführung, Hamburg 2005; Gestrich, Konzentrationslager, S. 43 f.

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tauschprozesse und Wechselwirkungen zu einer wichtigen Aufgabe der historischen Forschung entwickelt.84 Zwar ist in der Geschichtsschreibung zunächst kontrovers diskutiert worden, ob, inwieweit und wie die komparative Methode mit transfer- bzw. verflechtungsgeschichtlichen Untersuchungsansätzen kombiniert werden kann. Inzwischen hat sich allerdings ein weitreichender Konsens herausgebildet, der davon ausgeht, dass die Transferforschung der Ergänzung durch die komparative Methode bedarf, zumal die einzelnen und sich teilweise überlagernden Ebenen von Transferprozessen – Problemwahrnehmung, Rezeption fremder Lösungsstrategien, Vermittlung und Übertragung, Aneignung und Transformation – in der sozialen Praxis selber von (jeweils zeitgenössischen) Vergleichen bestimmt worden sind. Andererseits ergänzen verflechtungsgeschichtliche Studien vergleichende Untersuchungen, da sie Wechselbeziehungen erfassen und damit vor allem Ähnlichkeiten erklären können. Alles in allem bietet sich deshalb an, die vergleichende Methode mit transfergeschichtlichen Untersuchungsansätzen zu kombinieren. Dabei muss aber analytisch und heuristisch zwischen beiden Verfahren getrennt werden. Auch wird durchweg zu beachten sein, dass interkulturelle und transnationale Transfers und Verflechtungen normativ grundsätzlich ambivalent sind. So waren der Austausch zwischen faschistischen Bewegungen (trotz ihres radikalen Nationalismus) und die Kooperation orthodox-kommunistischer Parteien in der III. Internationale ebenso integraler Bestandteil dieser Prozesse wie die Entstehung transnationaler Beziehungsnetze zwischen Friedensbewegungen und zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen.85 In methodologisch-theoretischer Hinsicht schließt das Buch nicht zuletzt an die im Folgenden erläuterte Neuorientierung der Politikgeschichte und zur historischen Forschung über die internationalen Beziehungen an, die in der Tradition des Historismus besonders in Deutschland lange auf das Handeln der Staatsmänner und Regierungen, die Spitzendiplomatie und die Außenpolitik fi-

84 Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka (Hg.), Comparative and Transnational History. Central European Approaches and New Perspectives, New York 2009. Überblick in: Margrit Pernau, Transnationale Geschichte, Stuttgart 2011. 85 Jörn Leonhard, Comparison, Transfer and Entanglement, or: How to Write Modern European History today?, in: Journal of Modern European History 14 (2016), Nr. 2, S. 149–163; Arnd Bauerkämper, Wege zur europäischen Geschichte. Erträge und Perspektiven der vergleichs- und transfergeschichtlichen Forschung, in: Agnes Arndt / Joachim C. Häberlen / Christiane Reinecke (Hg.), Vergleichen, verflechten, verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011, S. 33–60; ders., Ambiguities of Transnationalism: Fascism in Europe Between Pan-Europeanism and Ultra-Nationalism, 1919–39, in: German Historical Institute Bulletin 29 (2007), Nr. 2, S. 43–67.

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xiert geblieben waren. Diese verengte Perspektive, die Politik als abgeschlossenen Bereich staatspolitischen (Ver-) Handelns gefasst hat, ist in den 1970er Jahren von Vertretern der neuentwickelten Sozialgeschichte – vor allem Hans-Ulrich Wehler (1931–2014) – scharf kritisiert worden. Gegenüber der „großen Politik der Kabinette“ hat diese Forschungsrichtung auf die gesellschaftlichen und (weniger prononciert) wirtschaftlichen Bedingungen politischen Handelns abgehoben. Demgegenüber haben Vertreter der Politikgeschichte aber weiterhin auf die relative Autonomie und Eigenlogik politischen Handelns insistiert.86 Die heftige Kontroverse über grundsätzliche Perspektiven der Geschichtsschreibung hat letztlich zu keiner Annäherung der gegensätzlichen Positionen geführt. Seit der Jahrtausendwende sind schließlich verstärkt Überlegungen zu einer Neuausrichtung der Politikgeschichte vorgestellt und dazu auch erste empirische Studien vorgelegt worden. Dabei ist eine Erweiterung auf nichtstaatliche Akteure auffallend. Zudem sollten – so die Forderung – die Definitionen, Verständnisse, Vorstellungen, Repräsentationsformen und Praktiken der Politik untersucht werden.87 Diese Hinwendung zur Kulturgeschichte sowie zur Analyse von Performanz und Praxis hat sich in verschiedenen Versuchen niedergeschlagen, gesellschaftliche Rückwirkungen, kulturelle Traditionen und Sinngebungen der Außenpolitik ebenso in historische Untersuchungen einzubeziehen wie Wahrnehmungen der Diplomatie und die ihr zu Grunde liegenden kollektiven Wertesysteme.88 Überdies hat sich das Verständnis des Staates in Studien 86 Klaus Hildebrand, Geschichte oder „Gesellschaftsgeschichte“? Die Notwendigkeit einer Politischen Geschichtsschreibung von den Internationalen Beziehungen, in: Historische Zeitschrift 223 (1976), S. 328–357; Hans-Ulrich Wehler, Kritik und kritische Antikritik, in: Historische Zeitschrift 225 (1977), S. 347–384; Thomas Nipperdey, Wehlers „Kaiserreich“. Eine kritische Auseinandersetzung, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 539–560; Hans-Jürgen Puhle, Zur Legende von der „Kehrschen Schule“, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 108–119. Bilanz in: Hans-Ulrich Thamer, Politische Geschichte, Geschichte der internationalen Beziehungen, in: Richard van Dülmen (Hg.), Fischer-Lexikon Geschichte, Frankfurt/M. 2003, S. 38–55; Georg G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 1993, S. 54–63. 87 Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach / Günther Lottes (Hg.), Kompass der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002, S. 152–164; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606. Dazu auch die Beiträge zu: Ute Frevert / Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt/M. 2005. Als Pionierstudie: Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000. 88 Eckart Conze, Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension in der Internationalen Geschichte, in: Wilfried Loth / Jürgen Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München 2000, S. 117–140, bes.

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zur Politikgeschichte und zu den internationalen Beziehungen verändert. Zahlreiche Historiker haben nach der Auflösung der internationalen Ordnung des Kalten Krieges und unter dem Eindruck des Zerfalls von Staaten wie Jugoslawien gefordert, die analytische Fixierung auf den souveränen Territorial- und Nationalstaat (nach dem „Westfälischen System“) zu überwinden. Darüber hinaus sollen auch (vermittelnde) nichtstaatliche Akteure und Institutionen – zum Beispiel Nichtregierungsorganisationen – einbezogen werden. Nicht zuletzt wird angestrebt, nationalhistorische und eurozentrische Perspektiven aufzubrechen und die transnationale Bedingtheit von Politik zu berücksichtigen.89 Dazu hat auch die neuere Global- und Imperialgeschichte beigetragen.90 Diese Studie über den Umgang mit „inneren Feinden“ im Ausnahmezustand der beiden Weltkriege schließt an die Neuorientierung der Geschichtsschreibung zu den internationalen Beziehungen an, indem sie auf die wechselseitige Bedingtheit von Politik und Gesellschaft abhebt. Darüber hinaus wird das Verhältnis von sicherheitsbezogenen und humanitären Diskursen und Praktiken untersucht, die in der Geschichtsschreibung zu den internationalen Beziehungen bereits erforscht worden sind.91 Dabei werden Außen- und Innenpolitik S. 131 f.; 135; Gottfried Niedhart, Selektive Wahrnehmung und politisches Handeln: internationale Beziehungen im Perzeptionsparadigma, in: ebd., S. 141–157, bes. S. 147 f., 155; Guido Müller, Internationale Gesellschaftsgeschichte und internationale Gesellschaftsbeziehungen aus der Sicht der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Eckart Conze / Ulrich Lappenküper / Guido Müller (Hg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln 2004, S. 231–258, hier: S. 236, 249 f., 252; Jost Dülffer / Wilfried Loth, Einleitung, in: dies (Hg.), Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, S. 1–8, bes. S. 3 f.; Akira Iriye, Internationalizing International History, in: Thomas Bender (Hg.), Rethinking American History in a Global Age, Berkeley 2002, S. 47–62, bes. S. 49, 51– 53, 60; Wolfram Kaiser, Globalisierung und Geschichte. Einige methodische Überlegungen zur Zeitgeschichtsschreibung der internationalen Beziehungen, in: Guido Müller (Hg.), Deutschland und der Westen. Internationale Beziehungen im 20. Jahrhundert. Fs. Klaus Schwabe, Stuttgart 1998, S. 31–48, bes. S. 42, 44, 48; Ursula Lehmkuhl, Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte: Theoretische Ansätze und empirische Forschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Soziologischem Internationalismus, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 394–423, bes. S. 410 f., 415, 416 f. 89 Eckart Conze, Abschied von Staat und Politik? Überlegungen zur Geschichte der internationalen Politik, in: ders. / Lappenküper / Müller (Hg.), Geschichte, S. 15–43, bes. S. 35, 40–42; 90 Überblicke in: Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013; Jürgen Osterhammel, Internationale Geschichte, Globalisierung und die Pluralität der Kulturen, in: Loth / Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte, S. 387–408, bes. S. 394, 408; Benedikt Stuchtey, Zeitgeschichte und Imperialgeschichte. Wendepunkte der internationalen Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), S. 301–337. 91 Luke Kelly, British Humanitarian Activity in Russia, 1890–1923, Cham 2018, S. 6. Vgl. auch die Anregungen in: Sandrine Kott, Internationalism in Wartime. Introduction, in: Journal of Modern European History 12 (2014), S. 317–322, bes. S. 317.

1 Einleitung 

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miteinander verschränkt und gesellschaftliche Mobilisierungsprozesse auf die Politik von Regierungen und Verwaltungen bezogen. Zudem bezieht die Darstellung außer Diskursen auch konkrete Praktiken – so Gesetze und Maßnahmen – ein. Die Darstellung gründet im Wesentlichen auf einer umfassenden Auswertung der Forschungsliteratur. Auch wurden Memoiren und Tagebücher beteiligter Akteure einbezogen. Darüber hinaus basiert die Darstellung auf Quelleneditionen und Gesetzestexten, die vielfach im Internet verfügbar sind. Jedoch konnten auch umfangreiche Bestände der National Archives (NA, London) eingesehen werden, die wichtige Befunde und Einsichten zur Sicherheitspolitik der kriegführenden Staaten, zu ihren Beziehungen und zur Rolle der neutralen Länder vermittelten.92 In der ebenfalls genutzten Library of the Religious Society of Friends (LSF, London) wurden Dokumente zur Unterstützung der Quäker für zivile Feindstaatenangehörigen und zur Kooperation dieses Verbandes mit anderen Hilfsorganisationen ausgewertet.93 Zwar dominiert in der Überlieferung der beiden Archive die britische Perspektive. Die Quäker verfügten aber weltweit über Verbindungen, und auch die Regierungsinstitutionen des Vereinigten Königreiches unterhielten nicht nur enge Beziehungen zu den Regierungen anderer Staaten, sondern auch zu humanitären Organisationen wie dem IKRK. In diesem Buch werden unterschiedliche Formen des Umgangs mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den Forderungen nach Sicherheit und Menschenrechten analysiert. Demgegenüber bezieht die Darstellung andere Kriegsopfer wie gefangene Soldaten, Versehrte, Geiseln, verfolgte Minderheiten, Flüchtlinge und politische Oppositionelle nur ein, soweit sie den Umgang mit den Zivilisten der jeweiligen gegnerischen Staaten berührten. Dabei behandelt die Studie nicht nur staatliche Institutionen, sondern auch gesellschaftliche Akteure. Im Gegensatz zu bisher veröffentlichten Arbeiten, die oft einen gegebenen Ausnahmezustand vorausgesetzt haben, wird hier untersucht, wie Regierungen und zivile Feindstaatenangehörige die Konstellation der beiden Weltkriege für ihr Handeln, dessen Begründung und Legitimation nutzten. Dabei sollen über die häufig repressive Politik in den kriegführenden Staaten hinaus auch Akteure, Potentiale, Ansätze und Grenzen humanitären zivilgesellschaftlichen Handelns im Ersten Weltkrieg konturiert werden.94

92 Es handelt sich im Einzelnen besonders um Bestände des Home Office, des Foreign Office und des Colonial Office. Vgl. im Einzelnen das Literaturverzeichnis. 93 Aufschlussreich war besonders die Überlieferung des Friends Emergency and War Victims Relief Committee und des Friends Committee for Refugees and Aliens. Auch dazu detailliert das Literaturverzeichnis. 94 Luff, Operations, S. 730.

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Die Darstellung konzentriert sich im Anschluss an eine Erläuterung der leitenden Begriffe (zweites Kapitel) und eine Einbettung in den historischen Kontext der beiden Weltkriege (drittes Kapitel) auf die Sicherheitspolitik in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn und das Russische Zarenreich bzw. die Sowjetunion in den beiden Weltkriegen. Da vom Vereinigten Königreich schon in den Jahren von 1914 bis 1918 eine „systematische Verschärfung der nationalen Abgrenzungspolitik“ ausging, wird dieses Land besonders eingehend untersucht.95 Die Abhandlung, welche die beiden Weltkriege in getrennten Bänden behandelt, bezieht aber auch andere europäische Staaten und außereuropäische Räume ein. Im vierten und sechsten Kapitel wird der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Ersten bzw. im Zweiten Weltkrieg rekonstruiert. Die Ausführungen zu den einzelnen Ländern sind vergleichend angelegt. Zudem werden die staatlichen Sicherheitsmaßnahmen jeweils beziehungs- und verflechtungsgeschichtlich eingeordnet, da die Regierungen der kriegführenden Staaten ihre Politik wechselseitig wahrnahmen und aufeinander reagierten. Das transnationale Engagement humanitärer Organisationen als Gegenpol zu den Sicherheitsdiskursen und -maßnahmen in den beiden Weltkriegen wird im fünften und siebten Kapitel nachgezeichnet und erklärt. Zuvor müssen im folgenden Abschnitt aber zunächst die leitenden Begriffe „Sicherheit“, „Freiheit“ und „Zivilgesellschaft“ erläutert und in die Forschungsdiskussion eingeordnet werden.

95 Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 119. Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 306.

2 Konzeptionelle Grundlage: Sicherheit, Menschenrechte und Zivilgesellschaft in vergleichs- und verflechtungsgeschichtlicher Perspektive 1961 erinnerte der kanadische Psychologe John Davidson Ketchum (1893–1962), der 1914 als 21-jähriger Musikstudent in Deutschland interniert und bis 1918 im Lager Ruhleben festgehalten wurde, an die „ruthless inhumanity of the modern armed state, and the readiness of millions to acquiesce in it. It is this passive acquience that is so frightening, for it means that we are losing the most human of all our capacities – the power of imagination, the ability to feel with and for our fellow-men. If this is the price we must pay for ‚national security‘ its cost will be disastrous.“1 Im Rückblick verwies damit ein unmittelbar Betroffener nicht nur auf die Deformation zivilgesellschaftlicher Normen wie Empathie im Ersten Weltkrieg, sondern auch auf die Verdrängung von Humanität bzw. Menschenrechten zugunsten weitgespannter Sicherheitsansprüche. Bevor diese Probleme mit Bezug auf die beiden Weltkriege untersucht werden, sind in diesem Kapitel zunächst die leitenden Begriffe und Konzepte zu diskutieren: „Sicherheit“, „Humanität“, „Menschenrechte“ und „Zivilgesellschaft“. Da vor allem die ersten beiden analytischen Kategorien grundlegend für die weitere Darstellung sind, werden sie besonders ausführlich diskutiert.

2.1 Sicherheit Begriff und Konzept „Sicherheit“ kann als Zustand, Konzept, Ziel und Konstruktion gefasst werden. Sie ist direkt oder implizit auf Unsicherheit und Risiko bezogen. Sowohl materielle Bedingungen als auch menschliches Verhalten vermögen Sicherheit zu verleihen. Grundsätzlich muss zwischen einem negativen Sicherheitsverständnis (als Schutz vor Gefahr) und einem positiven Konzept (als rechtlicher Rahmen) differenziert werden. Die Beziehung zwischen Sicherheit und Freiheit ist deshalb unterschiedlich gefasst worden. Während viele Kommentatoren vor allem angesichts der Erfahrung der Kontrolle in den Diktaturen des 20. Jahrhundert von einem Spannungsverhältnis ausgegangen sind, hat schon der englische Ju1 John Davidson Ketchum, Ruhleben. A Prison Camp Society, London 1965, S. XVIII. https://doi.org/10.1515/9783110529951-002

40  2 Konzeptionelle Grundlage

rist und Sozialphilosoph Jeremy Bentham (1748–1832) beide Konzepte eng aufeinander bezogen. Nach ihm setzt Freiheit sogar Sicherheit voraus. Auch das Verhältnis zwischen innerer und äußerer Sekurität ist ambivalent geblieben. Einerseits sind beide Bereiche mit der Trennung von Staat und Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert auseinandergetreten. Andererseits kann eine Verflechtung von innerer und äußerer Sicherheit bis zur Gegenwart nicht übersehen werden.2 Deutlich ist in der neueren Forschung auch herausgearbeitet worden, dass „Sicherheit“ als soziale Konstruktion spezifischer Akteure zu verstehen ist. In Auseinandersetzungen ringen sie nicht nur um ihre jeweiligen Normen, Werte, Überzeugungen und Deutungen, sondern sie vertreten dabei auch jeweils partikulare Interessen. Seit dem 19. Jahrhundert haben sich die Vorstellungen und Wahrnehmungen zu Sicherheitskulturen verdichtet, die Identitäten gestiftet und damit zur Bildung von Gemeinschaften beitragen haben. Dieser Prozess, den die Entstehung von Territorial- und Nationalstaaten mit ihren politischen Sicherheitsansprüchen seit der Frühen Neuzeit kräftig gefördert hat, ist von mächtigen Emotionen – vor allem Angst – getragen worden. Diese haben den Einschluss von (jeweils unterschiedlich definierten) Staatsangehörigen ebenso vorangetrieben wie den Ausschluss von „Feinden“. Sicherheit ist damit nicht nur eine objektive, sondern auch eine subjektive Kategorie, die politisch und gesellschaftlich ausgehandelt wird. Diese verschiedenen Dimensionen, die in diesem Buch anhand des Umgangs mit zivilen Feindstaatenangehörigen in den beiden Weltkriegen behandelt werden, sind im Folgenden zu erläutern. Zunächst sollte Sicherheit nicht statisch verstanden werden. Vielmehr muss von einem beträchtlichen historischen Wandel ausgegangen werden, so dass der Stellenwert und die Formen der Sicherheitspolitik und die ihr zu Grunde liegenden Ziele, Interessen, Diskurse und Überzeugungen variiert haben. Dabei wechselten jeweils Phasen der Ver- und Entsicherheitlichung (securitization und desecuritization). Die Abfolge von Bedrohungen und „Bedrohungsvergessenheit“ mit den daraus resultierenden Sicherheitsrisiken ist deshalb ebenso zu untersuchen wie das Verhältnis zwischen Bedrohungsdiagnosen und Strategien sowie Praktiken der Sekurität. So sind Risiken zwar allgegenwärtig; zugleich finden sich in Gesellschaft und Politik Rhetoriken der Sicherheit, die darauf verweisen, dass die Herstellung von Sekurität das Ausscheiden von Unsicherheit 2 Hierzu und zum Folgenden: Werner Conze, Art. „Sicherheit, Schutz“, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862; Matthias Schulz, Cultures of Peace and Security from the Vienna Congress to the Twenty-First Century. Characteristics and Dilemmas, in: Beatrice de Graaf / Ido de Haan / Brian Vick (Hg.), Securing Europe after Napoleon. 1815 and the New European Security Culture, Cambridge 2019, S. 21–39, hier: S. 21; Henne, „Security turns its eye exclusively to the future“, S. 10.

2.1 Sicherheit



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voraussetzt. Auch der Zufall soll mit politischen Eingriffen ausgeschaltet werden. Sicherheit und Unsicherheit bestehen demgegenüber nicht nur gleichzeitig, sondern sie sind in ambivalenter Weise aufeinander bezogen. Nicht zuletzt ist das Streben nach Sekurität durchweg mit oft alltäglichen Grenzerfahrungen verbunden.3

Untersuchungsansatz Im Gegensatz zur „Kopenhagener Schule“, die Sicherheit weitgehend auf Sprechakte und Diskurse reduziert hat, sind von der „Pariser Schule“ auch Handlungen, politisch-gesellschaftliche Praktiken, soziale Beziehungen und Konflikte einbezogen worden. Seit der Frühen Neuzeit ist Sicherheitspolitik in spezifischen Konstellationen und als Resultat (symmetrischer oder asymmetrischer) Aushandlungsprozesse durchgesetzt und implementiert worden. Dabei mussten Konflikte über unterschiedliche Perzeptionen, Konzepte und Maßnahmen entschieden werden. Auseinandersetzungen über Sicherheit haben nicht nur wiederholt zu einer umfassenden politischen und sozialen Mobilisierung geführt, sondern auch zur Vergesellschaftung beigetragen. Alles in allem ist das Konzept der „Pariser Schule“ von Sicherheit als Prozess von Diskursen und Handlungen für historische Studien besonders anschlussfähig und geeignet. Es wird deshalb der Untersuchung des Umgangs mit zivilen Feindstaatenangehörigen in diesem Buch zu Grunde gelegt.4

3 Eckart Conze, Historicising a Security Culture: Peace, Security and the Vienna System in History and Politics, 1815 to the Present, in: de Graaf / de Haan / Vick (Hg.), Europe, S. 40– 55, hier: S. 49, 54; Jan Hinrichsen / Reinhard Johler / Sandro Kott, Katastrophen. Vom Umgang mit (außer)alltäglichen Bedrohungen, in: Ewald Frie / Mischa Meier (Hg.), Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften, Tübingen 2014, S. 61–82, hier: S. 70 (Zitat), 75, 81; Katharina Eisch-Angus, Absurde Angst. Narrationen der Sicherheitsgesellschaft, Wiesbaden 2019, S. 13–15, 31 f. 4 Grundlegend: Barry Buzan / Ole Waever / Jaap De Wilde, Security: A New Framework for Analysis, Boulder 1998. Vgl. im Einzelnen Eckart Conze, Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven, Göttingen 2018, S. 82–98; ders., Securitization. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz?, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 453–467; Christopher Daase / Stefan Engert / Julian Junk, Gesellschaftliche Verunsicherung als Herausforderung des Staates: Eine Einführung, in: dies. (Hg.), Verunsicherte Gesellschaft – überforderter Staat. Zum Wandel der Sicherheitskultur, Frankfurt/M. 2013, S. 9–32, hier: S. 11 f., S. 19; Arnd Bauerkämper, Einleitung: Sicherheitskulturen. Konzeptionelle Überlegungen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive, in: Arnd Bauerkämper / Natalia Rostislavleva (Hg.), Sicherheitskulturen im Vergleich. Deutschland und Russland / UdSSR seit dem späten 19. Jahrhundert, Paderborn 2014, S. 7–31, hier: S. 21–26.

42  2 Konzeptionelle Grundlage

Auseinandersetzungen über Sicherheit sind nicht zuletzt von der Macht einzelner Akteure bestimmt worden, die bestrebt waren, ihre jeweiligen Konzeptionen von Sekurität durchzusetzen und dabei andere Gruppen ein- bzw. ausschlossen. Auf diesem Konfliktfeld ist das Verhältnis zwischen Sicherheit und grundlegenden Menschenrechten – so persönliche Unversehrtheit – entweder komplementär oder antinomisch verstanden, konzipiert und funktionalisiert worden. Dabei hat die mediale Vermittlung besonders seit dem 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle eingenommen. Zudem haben sich die Handlungspraktiken der jeweils beteiligten politischen Gruppen unterschieden. Alles in allem ist bei der Konzipierung und Implementation von Sicherheitspolitik seit dem späten 19. Jahrhundert der Einfluss nichtstaatlicher, gesellschaftlicher Akteure gewachsen, so dass in der politikwissenschaftlichen Forschung inzwischen sogar von einer security governance ausgegangen wird. In der Mobilisierung und im Aktivismus der Bevölkerung gegen „Feinde“ im Ersten Weltkrieg erreichte dieser Prozess einen ersten Höhepunkt.5 Wie bereits angedeutet, ist grundsätzlich zwischen Wahrnehmungen von Sicherheitsgefahren und konkreten Bedrohungen von Sekurität zu unterscheiden. Zwar überhöht die Differenzierung zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ bzw. „affektiver“ Sicherheit eine Expertenkultur, die beansprucht, „wirkliche“ und scheinbare Gefahren eindeutig voneinander abgrenzen zu können. Jedoch bestimmen, konstruieren, kommunizieren und verhandeln spezifische Akteure mit ihren Wahrnehmungen, Interessen, Überzeugungen, Normen und Werten durchweg Angstgefühle einerseits und Sicherheitsgewissheiten andererseits.6 In spezifischen historischen Konstellationen haben Gefahren- und Risikoperzeptionen von Akteuren und die von ihnen jeweils vertretenen Werte, Normen und Ziele jeweils Diskussionen über Sekurität ebenso geprägt wie politische und gesellschaftliche Handlungen zugunsten der Sicherheit, z. B. die Vorbereitung und Verabschiedung von Gesetzen. Daraus sind seit dem 19. Jahrhundert „Sicherheitskulturen“ hervorgegangen. Sie umfassen grundsätzlich die „Überzeugungen, Werte und Praktiken von Institutionen und Individuen […], die darüber entscheiden, was als eine Gefahr anzusehen ist und wie und 5 Allgemein: Christoph Gusy, Sicherheitskultur – Sicherheitspolitik – Sicherheitsrecht, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 93 (2010), H. 2, S. 111–128, hier: S. 114, 125. 6 Andreas Anter, Die politische Idee der Sicherheit. Theoriegeschichte und Staatspraxis eines modernen Konzepts, in: Martin Möllers / Robert van Ooyen (Hg.), Jahrbuch öffentliche Sicherheit 2008/2009, Frankfurt/M. 2008, S. 15–25, hier: S. 18. Ähnlich hat Franz-Xaver Kaufmann zwischen „Systemsicherheit“ und „Selbstsicherheit“ unterschieden. Vgl. Kaufmann, Sicherheit, S. 88 f.

2.1 Sicherheit 

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mit welchen Mitteln dieser Gefahr begegnet werden soll.“ Damit sind auch zwischenstaatliche und innergesellschaftliche Konflikte über Sekurität zu untersuchen.7 Der Begriff „Sicherheitskultur“ ist in den westlichen Staaten nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 geprägt worden. In den neunziger Jahren wurde er auch in der politik- und rechtswissenschaftlichen Forschung aufgenommen, wobei er allerdings entweder auf Nationalstaaten oder auf „Weltkulturen“ bezogen worden ist. Im Anschluss an Christopher Daase wird hier demgegenüber ein kulturwissenschaftlich-praxeologisch orientiertes und inspiriertes Konzept der „Sicherheitskultur“ vorgeschlagen. Es hebt darauf ab, dass Sicherheitsprobleme jeweils von einer einflussreichen Adressatengruppe wahrgenommen, definiert und akzeptiert werden. Daraus resultiert jeweils politisches und gesellschaftliches Handeln. Ausgehend von dieser Überlegung, sollten historische Studien (oft nicht bewusste) Konzepte und Sinngebungen von Sicherheit rekonstruieren und analysieren, die sich in sozialen Praktiken niederschlagen. „Sicherheitskultur“ umfasst damit „diejenigen Werte, Diskurse und Praktiken […], die dem auf Erzeugung von Sicherheit und Reduzierung von Unsicherheit gerichteten sozialen Handeln individueller und kollektiver Akteure Sinn und Bedeutung geben.“8 Das Konzept vermag Ansätze unterschiedlicher Disziplinen zu Problemen der Sicherheit zu integrieren und wird der Einsicht gerecht, dass Sicherheitskulturen als Ensemble spezifischer, in der Regel interessengeleiteter Konstruktionen und Praxen gefasst werden sollten. „Sicherheitskultur“ erfasst die objektive und subjektive Dimension, Diskurse und Handeln sowie Sicherheitspolitik und -regimes auf nationaler, internationaler und transnationaler Ebene. Damit können auch Vorwände und vordergründige Rechtfertigungen von Unterdrückung, Verfolgung und Mord identifiziert und analysiert werden. Die Durchsetzung besonderer Verständnisse und Vorstellungen von Sekurität wird darüber hinaus maßgeblich von den jeweiligen Machtverhältnissen bestimmt. Die Untersuchung von Praktiken der Überwachung und Repression ist in diesem Zusammenhang besonders relevant und fruchtbar. Dabei sind allerdings polizeiliche Maßnahmen von geheimdienstlichen Aktivitäten zu unterscheiden. Indem dar7 Zitat: Daase, Wandel, S. 9; ders., Sicherheitskultur, S. 40. Vgl. auch Daase, National, Societal, and Human Security, S. 22. Zur akteurstheoretischen Ausrichtung grundsätzlich die Überlegungen in: Frank Adloff, Kollektives Handeln und kollektive Akteure, in: Friedrich Jaeger / Jürgen Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Paradigmen und Disziplinen, Bd. 2. Stuttgart 2004, S. 308–326. 8 Zitat: Christopher Daase, Sicherheitskultur – Ein Konzept zur interdisziplinären Erforschung politischen und sozialen Wandels. In: Sicherheit und Frieden 29 (2011) 2, S. 59–65, hier: S. 63. Vgl. auch Conze: Securitization, S. 456; Kaufmann, Sicherheit, S. 97.

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über hinaus Freiheit als konkurrierender Leitwert in Studien einbezogen wird, entsteht ein Spannungsbogen, der Sicherheit als Konfliktfeld konstituiert. So gefasst, sind geschichtswissenschaftliche Studien zum Wandel von Sicherheitsvorstellen und -politik auch unmittelbar anschlussfähig gegenüber der neueren interdisziplinären Demokratisierungsforschung.9

„Sicherheit“, „Kontingenz“ und „Risiko“ Von diesen allgemeinen Überlegungen ausgehend, müssen Sicherheit und Unsicherheit konsequent historisiert werden. Im 16. und 17. Jahrhundert vollzog sich ein Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas und der damit einhergehenden Vorstellungen. Die Schutz- und Sicherheitszusagen für einzelne Personen und bestimmte Räume wurden vom Bezug auf den Territorialstaat verdrängt. Damit verbunden, bildete sich eine staatliche Sicherheitspolitik heraus. Diese Entwicklung begleitete eine Neuorientierung der Welterkenntnis. Der Unterschied zwischen Wissen und Gewissheit, die Martin Luther (1483–1546) noch auf das Heil begrenzt hatte, spiegelte sich in der Trennung von Theologie und Philosophie wider. Ihnen wurden der Glaube bzw. die Vernunft zugeordnet. Insgesamt traten Glauben und Wissen auseinander, und die zeitgenössische Diskussion erkannte und akzeptierte diese Differenz zusehends. Damit wurde Unsicherheit als „Risiko“ kalkulierbar und Sicherheit gestaltbar. Zugleich entwickelten sich darüber Konflikte.10 Auf dieser Grundlage konnte die Staatsgewalt ihren Anspruch auf Sicherheit bis zum 18. Jahrhundert sukzessive gegenüber konkurrierenden Instanzen durchsetzen. Dieser Prozess vollzog sich aber ungleichmäßig. Auch bildeten sich in der Frühen Neuzeit keineswegs überall ein Staatsvolk und ein Staatsgebiet mit klaren Grenzen heraus, so nicht im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (bis 1806). Damit überlappten sich im 16. und 17. Jahrhundert noch personen- und territorialstaatliche Sicherheitsregimes. In beiden Verständnissen hob Sekurität im Allgemeinen aber eng auf Frieden und Schutz vor Verschwörungen (conjuratiae) ab. Dazu bezogen Territorialherren einen breiten 9 Dazu das Plädoyer in: Paul Nolte, Jenseits des Westens? Überlegungen zu einer Zeitgeschichte der Demokratie, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 275–301, hier S. 279. Zu den hier erläuterten Dimensionen von Studien zu Sicherheit: Conze, Security Culture, S. 45, 54; Paul Gordon Lauren, The Evolution of International Human Rights. Visions Seen, Philadelphia 2011, S. 301 f., 306, 310; Luff, Operations, S. 731, 733. 10 Andrea Schrimm-Heins, Gewißheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas, in: Archiv für Begriffsgeschichte 34 (1991), S. 123–213, hier: S. 127–131, 197; Conze, Geschichte, S. 22, 107–109; ders., Security Culture, S. 46.

2.1 Sicherheit



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Fundus von Tatbeständen, die als „Verrat“ galten, auf die öffentliche Sicherheit (securitas publica). Umgekehrt sollte im frühneuzeitlichen Staat die Herstellung von Sicherheit Herrschaft ermöglichen und rechtfertigen. „Policey“ bezeichnete in diesem Sinne zugleich die Ordnung eines Gemeinwesens und dieses selber. Allerdings bildete sich bis zum Dreißigjährigen Krieg kein allgemeines Sicherheitsverständnis heraus. Vielmehr blieben pax publica und pax civilis die vorherrschenden Begriffe. Auch nutzten die Obrigkeiten zwar die Justiz, um politische Verbrechen zu delegitimieren und zu bekämpfen. Die dafür genutzten Normen blieben aber uneinheitlich. Sicherheit und Ordnung wurden dabei in der Vergangenheit identifiziert, die deshalb wiederhergestellt werden sollte.11 Erst im 18. Jahrhundert definierten die strafrechtliche Literatur, die Gesetzgebung und die Praxis der Sicherheitspolitik in den verschiedenen Territorien spezifische Bedrohungen und Maßnahmen, um die jeweils identifizierten Gefahren abzuwenden. Obwohl „Policey“ weiterhin auch die Wohlfahrtspflege umfasste, galt sie nunmehr erstmals als Institution, der die Obrigkeiten Aufgaben zum Schutz von Gemeinwesen übertrugen. Zugleich wurde Sicherheitspolitik zu einer wichtigen Grundlage der Legitimation staatlicher Herrschaft. Damit waren staatliche Akteure aber auch mit einem neuen Dilemma konfrontiert, denn die Bemühungen um Ordnung und Sicherheit deckten fortlaufend „Leerstellen des Nicht-Überwachten, Unsicheren und Ungeordneten“ auf. So konnte die Legitimität von Herrschaft unterminiert werden.12 Sicherheitspolitische Maßnahmen schufen damit neue Erwartungen, die wiederum weitere Eingriffe zur Gefahrenabwehr begründeten und herbeiführ11 Karl Härter / Beatrice de Graaf, Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus: Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus: Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2012, S. 1–22, hier: S. 3– 8; ders., Sicherheit und Frieden im frühneuzeitlichen Alten Reich. Zur Funktion der Reichsverfassung als Sicherheits- und Friedensordnung 1648–1806, in: Zeitschrift für Historische Forschung 20 (2003), S. 413–431, hier: S. 415–419; Cornel Zwierlein / Beatrice de Graaf, Security and Conspiracy in Modern History, in: Historical Social Research 38 (2013), Nr. 1, S. 7–45, hier: S. 7–15; Cornel Zwierlein, Return to Premodern Times? – Contemporary Security Studies, the Early Modern Holy Roman Empire, and Coping with Achronies, in: German Studies Review 38 (2015), S. 373–392, bes. S. 373, 378 f., 381, 383, 387; Achim Landwehr, Zukunft – Sicherheit – Moderne. Betrachtungen zu einem unklaren Verhältnis, in: Christoph Kampmann / Angela Marciniak / Wencke Meteling (Hg.), „Security turns ist eye exclusively to the future“. Zum Verhältnis von Sicherheit und Zukunft in der Geschichte, Baden-Baden 2018, S. 37–56, hier: S. 50 f.; André Krischer, Von Judas bis zum Unwort des Jahres 2016: Verrat als Deutungsmuster und seine Deutungsrahmen im Wandel, in: ders. (Hg.), Verräter. Geschichte eines Deutungsmusters, Wien 2019, S. 7–41, hier: S. 22; Conze, Geschichte, S. 25; Kaufmann, Sicherheit, S. 76, 81. 12 Landwehr, Zukunft, S. 53.

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ten. Auf dieses Sicherheitsdilemma ist schon im späten 18. Jahrhunderts hingewiesen worden. Darüber hinaus stellte die kritische Intelligenz in der Aufklärung dem Polizeistaat erstmals den Rechtsstaat gegenüber. So warnte Günther Heinrich von Berg (1765–1843) in seinem „Handbuch des Teutschen Polizeirechts“ 1799 vor einer Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten durch die Sicherheitspolizei, die sich im späten 18. Jahrhundert herausbildete. Ähnlich hatte der preußische Gelehrte Wilhelm vom Humboldt (1767–1835) Sicherheit schon sieben Jahre zuvor gleichermaßen auf den Staat und die Bürger bezogen. Der moderne Territorialstaat verhieß Schutz, drohte aber auch mit Kontrolle und Unterdrückung. Demgegenüber fassten konservative Kritiker der Französischen Revolution Freiheit einseitig als Recht auf Sicherheit.13 Die sich öffnende Kluft zwischen „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“14 verlieh im 19. Jahrhundert der Erkenntnis und Vorstellung Auftrieb, dass Menschen Zeit gestalten können. Zwar hatten sich Sicherheitsvorstellungen schon in der Frühen Neuzeit auf Zukunftserwartungen bezogen, die im Allgemeinen als Utopie, Prophetie, Prognose oder Planung gefasst worden waren. Mit der Ausweitung der politischen Teilhabe um 1900 sollte Sicherheit demgegenüber zunehmend bestimmte politische Ordnungsentwürfe legitimieren. Diese mussten diskutiert, gerechtfertigt und ausgehandelt werden. Zugleich traten Grenzen der Plan- und Kalkulierbarkeit hervor. Das Bewusstsein von Kontingenz verschärfte sich in der „klassischen Moderne“, als besonders die Industrialisierung, Urbanisierung und Rationalisierung traditionale Lebenswelten umfassender erschütterten als zuvor. Zudem stellten Nationalisten und Liberale die Legitimität multiethnischer Imperien und dynastischer Herrschaft in Frage.15

13 Franz-Ludwig Knemeyer, Artikel „Polizei“, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 875–897, hier: S. 883, 886 f.; Hans Erich Bödeker, Artikel „Menschheit, Humanität, Humanismus“, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 1063–1128, hier: S. 1103; Conze, Geschichte, S. 24–31, S. 128; Kaufmann, Sicherheit, S. 76, 81; Eisch-Angus, Angst, S. 16 f. 14 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/ M. 1979, S. 359, S. 364, S. 372. Dazu: Anders Schinkel, Imagination as a Category of History: An Essay Concerning Koselleck’s Concepts of Erfahrungsraum and Erwartungshorizont, in: History and Theory 44 (2005), S. 42–54, bes. S. 42, 45, 47 f., 52–54. 15 Detlev K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt/ M. 1987; Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 3 (2006), S. 5–21; Jan-Werner Müller, Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth-Century Europa, New Haven 2011, S. 9–16. Dazu auch: Au-

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Im Allgemeinen kann Kontingenz als „Nicht-Wissen über zukünftige Ereignisse bei gleichzeitigem Wissen um die Möglichkeit zukünftiger Negativ-Ereignisse“ gefasst werden. Sie zeichnet sich durch die „Ambivalenz von Unsicherheit und Handlungsoffenheit“ aus. Kontingenz ist zugleich verfügbar (durch Handlungen) und unverfügbar (als Zufall). Ihr Verständnis wird gesellschaftlich ausgehandelt und unterliegt damit dem Wandel, und ihre Erfahrung hat wiederholt Bemühungen um eine Kontrolle und Einschränkung ausgelöst. Dabei entwickelten sich verschiedene Formen von Versicherungen.16 In der Krise des fin de siècle um 1900 war aus der Sicht vieler Zeitgenossen „fundamentale Unsicherheit zum Signum der Moderne“ geworden, die sich als „Bewegung in eine unbekannte Zukunft“ entpuppte. Dabei wurde die Gegenwart im Allgemeinen eng auf die Zukunft, aber auch auf die Vergangenheit bezogen. Aus der intensiven Erfahrung von Unsicherheit resultierte ein verstärktes Bedürfnis nach Kontingenzreduktion.17 „Sicherheit“ verhieß angesichts dieses Bewusstseins von der Unbestimmtheit der Zukunft („known unknowns“) die „Lösung des Problems gesteigerter Kontingenz von Individuen.“18 Als Leitbild war Sekurität gegen die „Kontingenz der Zeit“ und die „Ungewissheit der Zukunft“ gerichtet. Der Begriff antwortete auf „charakteristische Problemlagen der Moderne in utopischer Weise, und gegust Nitschke u. a. (Hg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, Reinbek 1990; Henne, „Security turns its eye exclusively to the future“, S. 10 f., 28. 16 Zitate (in dieser Reihenfolge): Benjamin Scheller, Kontingenzkulturen – Kontingenzgeschichten: Zur Einleitung, in: Becker / Scheller / Schneider (Hg.), Ungewissheit, S. 9–30, hier: S. 16; Michael Makropoulos, Möglichkeitsbändigungen. Disziplin und Versicherung als Konzepte der sozialen Steuerung von Kontingenz, in: Soziale Welt 41 (1990), S. 407–423, hier: S. 407. Vgl. auch Michael Makropoulos, Kontingenz. Aspekte einer theoretischen Semantik der Moderne, in: Archives Européennes de Sociologie 45 (2004), Nr. 1, S. 369–399; Cornel Zwierlein / Rüdiger Graf, The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History, in: Historical Social Research 35 (2010), H. 4, S. 7–21, hier: S. 16; Peter Itzen / Simone M. Müller, Risk as a Category of Analysis for a Social History of the Twentieth Century: An Introduction, in: Historical Social Research 41 (2016), S. 7–29, hier: S. 16 f.; Conze, Geschichte, S. 110 f. 17 Jörg Fisch, Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850–1914, Stuttgart 2002, S. 318 f. Vgl. auch Wolfgang Bonß, (Un-)Sicherheit in der Moderne, in: Peter Zoche / Stefan Kaufmann / Rita Haverkamp (Hg.), Zivile Sicherheit. Gesellschaftliche Dimensionen gegenwärtiger Sicherheitspolitiken, Bielefeld 2001, S. 43–69, hier: S. 47; Lucian Hölscher, Heute war damals keine Zukunft – Dimensionen einer Historischen Zukunftsforschung im 20. Jahrhundert, in: Frank Becker / Benjamin Scheller / Ute Schneider (Hg.), Die Ungewissheit des Zukünftigen, Frankfurt/M. 2016, S. 59–94, hier: S. 85; Henne, „Security turns ist eye exclusively to the future“, S. 9; Conze, Geschichte, S. 44, 133, 140–142; Schrimm-Heins, Gewißheit, S. 125. 18 Michael Makropoulos, „Sicherheit“, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, S. 745–750, hier: S. 748.

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rade darin liegt seine Attraktivität.“ Das Leben in modernen Gesellschaften ist durch Kontingenz und das Bewusstsein von Unsicherheit gekennzeichnet. Die Debatte über Sekurität und Risiko ist deshalb weniger auf einzelne Ereignisse wie Havarien in Atomkraftwerken zurückzuführen, sondern vorrangig auf die Komplexität moderner Gesellschaften, die zudem eng miteinander verwoben und auch deshalb überaus verwundbar sind.19 Kontingenz bezieht sich unmittelbar auf „Risiko“ als besondere Form der Unsicherheit über Zukünftiges. Der Begriff kennzeichnet eine Gefahr, die Menschen durch ihre Entscheidungen eingehen und damit zugleich schaffen. Risiken sind abhängig von materiellen Bedingungen, aber auch von Wahrnehmungen und Bemühungen, Gefahren zu berechnen, zu beherrschen oder zumindest zu verringern. Sie setzten nicht erst mit der Lösung vom Gottglauben in der Aufklärung und Säkularisierung ein, sondern beeinflussten elaborierte Rechtsordnungen bereits seit der Antike. Allerdings hat sich das Reden über Risiken und der Umgang mit ihnen in der Moderne verändert, besonders durch den Aufstieg von Staat und Recht zu wichtigen Ordnungsinstrumenten. Damit sind ungeahnte Handlungskapazitäten, aber auch neue Risikolagen entstanden. Ebenso haben sich die Wahrnehmungen von Bedrohungen in der Moderne intensiviert und gewandelt, so dass eine neue Risikokultur entstanden ist. Alles in allem haben sich spezifische Arrangements herausgebildet, die „künftige Bedrohungen kalkulierbar machen sollen.“20 Im Gegensatz zu Gefahren, denen Menschen aufgrund äußerer Einflüsse ausgesetzt sind, können Risiken durch menschliche Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen beeinflusst werden, wie besonders Niklas Luh19 Zit. nach (in dieser Reihenfolge): Kaufmann, Sicherheit, S. 92, 74. Dazu auch anhand der Konzepte, die Franz-Xaver Kaufmann, Niklas Luhmann und Ulrich Beck entwickelt haben: Kaufmann / Wichum, Risk, S. 50, 62, 67. Darüber hinaus: Andreas Thier, Mala futura, securitas und „Spekulation“: Rechtskulturen des Risikos im historischen Wandel, in: Rolf H. Weber u. a. (Hg.), Aktuelle Herausforderungen des Gesellschafts- und Finanzmarktrechts. Fs. Hans Caspar von der Crone, Zürich 2017, S. 845–862, hier: S. 846, 851. 20 Scheller, Kontingenzkulturen, S. 14. Vgl. auch Herfried Münkler, Strategien der Sicherung: Welten der Sicherheit und Kulturen des Risikos, in: ders. / Matthias Bohlender / Sabine Meurer (Hg), Welten der Sicherheit und Kulturen des Risikos. Theoretische Perspektiven, in: Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2010, S. 11–34, hier: S. 11 f., 25; ders., Die Untrennbarkeit von Sicherheit und Risiko – Über die Komplementarität von Strategien und Mentalitäten in Sicherheitsregimen und Risikomanagement, in: Becker / Scheller / Schneider (Hg.), Ungewissheit, S. 161–184, hier: S. 162; Eva von Contzen / Tobias Huff / Peter Itzen, Risikogesellschaften: Eine Einführung. Reden über Risiko jenseits der Disziplin, in: dies. (Hg.), Risikogesellschaften. Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2018, S. 7–32, hier: S. 8, 10, 13–15; Henne, „Security turns its eye exclusively to the future“, S. 25; Eisch-Angus, Angst, S. 182 f.

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mann betont hat. Angesichts der Entstehung von „Risikogesellschaften“ haben in der Moderne deshalb Präventions- und Vorsorgeversuche zugenommen. Seit dem 19. Jahrhundert sollte vor allem staatliche Prävention Risiken verringern, die nunmehr als grundsätzlich kalkulierbar galten. Damit setzte eine Debatte über Mittel zur kollektiven Gefahrenabwehr, Vorsorge und Risikomanagement ein, um so Katastrophen zu verhindern oder einzudämmen. Als politisches Konzept versprach gerade der Präventionsstaat eine Beherrschbarkeit zukünftiger Gefahren. Aber auch darüber hinaus hat sich seit dem 19. Jahrhundert eine umfassende Versicherheitlichung vollzogen. Allerdings war dieser Prozess keineswegs linear, wie Phasen der Rücknahme von Sicherheitsmaßnahmen in den späten 1820er Jahren und von 1842 bis 1848 zeigen.21 Diese konzeptionellen Überlegungen eröffnen Einsichten in historische Konstellationen der Unbestimmtheit. Untersuchungen dazu müssen „qualitative Zuschreibungen durch die Akteure bzw. Handlungsparadigmen – Risiko, Gefahr, Mut, Wagnis, Planung, Strategie, Taktik, Kalkül, Entscheidung, Krise, Spiel und Glück, Erfolg und Scheitern – in den Blick nehmen, um den aktiven und dynamisierenden Charakter eines vergangenen Kontingenzbewusstseins zu markieren.“22 So können im 20. Jahrhundert die beiden Weltkriege als Konstellationen verdichteter Kontingenz verstanden werden. Zugleich verstärkten sich Prozesse der Risikokontrolle, besonders durch Planung und social engineering, aber auch Überwachung, Repression und Sicherheitspolitik, die ihrerseits mit Debatten über Kontingenz einhergingen. Damit verknüpft, hat sich das Sicherheitsverständnis differenziert. Technische und öffentliche Sekurität (safety bzw. security) sind zunehmend voneinander unterschieden worden. Daneben trat Gewissheit (certainty). Insgesamt werden damit Studien zu Formen des „Kontin-

21 Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, Berlin 1991, S. 31; ders., Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral, in: Gotthard Bechmann (Hg.), Risiko und Gesellschaft – Grundlagen und Ergebnisse interdisziplinärer Risikoforschung, Opladen 1993, S. 327–338, hier: S. 177 f. Vgl. auch Michael Makropoulos, Kontingenz. Aspekte einer theoretischen Semantik der Moderne, in: Archives Européennes de Sociologie 45 (2004), Nr. 1, S. 369–399; Peter Itzen / Simone M. Müller, Risk as a Category of Analysis for a Social History of the Twentieth Century: An Introduction, in: Historical Social Research 41 (2016), S. 7–29, hier: S. 16 f.; Meike Haunschild, Freedom versus Security. Debates on Social Risks in Western Germany in the 1950s, in: Historical Social Research 41 (2016), S. 176–200, hier: S. 177; Zwierlein / Graf, Production, S. 16; Härter, Security, S. 202, 207, 213; Scheller, Kontingenzkulturen, S. 14; Frohman, Zukunft, S. 291; Kaufmann, Sicherheit, S. 88; Kaufmann / Wichum, Risk, S. 58; von Contzen / Huff / Itzen, Risikogesellschaften, S. 21, 24; Conze, Geschichte, S. 109–114, 143; Hinrichsen / Johler / Kott, Katastrophen, S. 79, 81. 22 Uwe Walter, Kontingenz und Geschichtswissenschaft – aktuelle und künftige Felder der Forschung, in: Becker / Scheller / Schneider (Hg.), Ungewissheit, S. 100.

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genzmanagements“ zu einem aussichtsreichen Feld der historischen Forschung.23

Die Herausbildung von „Sicherheit“ Schon im römischen Kaiserreich wurden libertas und securitas unter der Herrschaft des Kaisers Augustus zu zentralen, komplementären Begriffen der Herrschaftslegitimation. Demgegenüber fassten Republikaner „Freiheit“ und „Sicherheit“ als Gegensatz auf. Seit dem 12. Jahrhundert bemühten sich Obrigkeiten verstärkt, Risiken zu reduzieren, vor allem für Reisende. So erhielten Pilger, Gelehrte und Kaufleute Schutzbriefe. Zunehmend sollten auch Seereisende dem Zugriff von Piraten entzogen werden. Als sich im 12. Jahrhundert die Funktionen von reisenden Kaufleuten und Kapitalgebern in einem neuen Typ der Seehandelsunternehmung (Commenda) differenzierten, bildete sich in den aufsteigenden oberitalienischen Seestädten (besonders Venedig und Genua) die Seeversicherung heraus. Damit konnten die Risiken des Handels im Mittelmeer besonders angesichts der Bedrohung durch Seeräuber kontrolliert werden. Jedoch blieb daneben die Vorstellung vom prägenden Walten Gottes in der Weltordnung bestehen. Erst mit der Herausbildung des institutionalisierten Flächenstaates in der Frühen Neuzeit wurde Risikomanagement zur Aufgabe und zunehmend auch zur Legitimationsgrundlage hoheitlicher Herrschaft, die den Anspruch erhob, eine Zukunft in Sicherheit zu gestalten. Zugleich differenzierten sich im frühneuzeitlichen Territorialstaat schrittweise äußere und innere Sicherheit aus.24

23 Frankenberg, Staatstechnik, S. 35 f.; Bonß, (Un-)Sicherheit, S. 45; Walter, Kontingenz, S. 110. Zitat: Münkler, Untrennbarkeit, S. 176 f. Zur Planung und zum social engineering: Martin Schulze Wessel, Zukunftsvorstellungen und Planungspraktiken in der Sowjetunion und der sozialistischen Tschechoslowakei: zur Einleitung, in: ders. / Christine Brenner (Hg.), Zukunftsvorstellungen und Planungspraktiken im Sozialismus. Die Tschechoslowakei im ostmitteleuropäischen Kontext 1945–1989, München 2010, S. 1–18; Dieter Gosewinkel, Zwischen Diktatur und Demokratie. Wirtschaftliches Planungsdenken in Deutschland und Frankreich: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Mitte der 1970er Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 327– 359; Thomas Etzemüller, Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze, in: ders. (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 11–39. 24 Münkler, Untrennbarkeit, S. 171–179; Thier, Mala futura, S. 854; Henne, „Security turns its eye exclusively to the future“, S. 9 f, 19, 25. Vgl. auch Benjamin Scheller, Die Geburt des Risikos. Kontingenz und kaufmännische Praxis im mediterranen Seehandel des Hoch- und Spätmittelalters, in: Historische Zeitschrift 304 (2017), S. 305–331, bes. S. 314 f., 329 f.

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In der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wurde schließlich die Sicherung von „Ruhe und Ordnung“ zu einem kollektiven Grundbedürfnis. Das Streben nach innerer und wirtschaftlicher Stabilität kennzeichnete die Politik der Großmächte nach dem Sieg über Napoleon. Diesem Ziel schien die monarchische Herrschaft, die in Mitteleuropa mit den Karlsbader Beschlüssen 1819 gesichert werden sollte, lange durchaus gerecht zu werden. Das Sicherheitsverständnis des österreichischen Außenministers und Staatskanzlers Klemens von Metternich (1773–1859) umfasste gleichermaßen Innen- wie Außenpolitik. Im Einzelnen bezogen die sozialen und politischen Eliten „öffentliche Sicherheit“ auf den Schutz des Eigentums und die Bewahrung von Bürgerlichkeit als Wertesystem. Dazu dienten ab 1819 die grenzüberschreitende Kooperation bei der Überwachung von Oppositionellen – vor allem im Deutschen Bund –, der Aufbau der politischen Polizei und Gesetze, die Aufruhr und Subversion kriminalisierten. Zugleich erwies sich im späten 19. Jahrhundert allerdings angesichts der zunehmenden Beteiligung auch der Unterschichten am politischen Prozess der Aufbau des Wohlfahrtsstaates als unabdingbar. Vor diesem Hintergrund reflektierte und steigerte die Zunahme staatlicher Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft die Erwartungen und Ansprüche auf Sicherheit und Stabilität. Umgekehrt wurde die individuelle Risikoverantwortung zusehends vergemeinschaftet. Damit einhergehend, vollzog sich im späten 19. Jahrhundert eine stufenweise Ausweitung und institutionelle Differenzierung staatlicher Sicherheitspolitik. Das Kriegsrecht, das zunächst noch auf Soldaten und zivile Feindstaatenangehörige begrenzt war, wurde zu einem Notstandsregime ausgeweitet, das Repressionsmaßnahmen auch gegen Zivilisten rechtfertigen sollte.25 Außen den Unterschichten, der sich formierenden Arbeiterschaft und ihren Organisationen – Gewerkschaften und Parteien – wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders Anarchisten und terroristische Anschläge zu einer Bedrohung der monarchischen und bürgerlichen Ordnung. So versuchte 1866 ein Student, der aus der Universität Kazan ausgeschlossen worden war, Zar Alexander II. zu erschießen. Nach einer Reihe weiterer gescheiterter Attentate wurde das russische Staatsoberhaupt im März 1881 von einem Angehörigen der sozialrevolutionären Geheimorganisation Narodnaja volja („Volksfreiheit“ 25 Mark Neocleous, Critique of Security, Edinburgh 2008, S. 44–49; Glenda Sluga, Economic Insecurity, „Securities“ and a European Security Culture after the Napoleonic Wars, in: de Graaf / de Haan / Vick (Hg.), Europe, S. 288–305, hier: S. 288, 298, 301; Härter, Security, S. 197–200, 203, 211; Conze, Security Culture, S. 47; Thier, Mala futura, S. 856; Münkler, Untrennbarkeit, S. 181; Conze, Geschichte, S. 145. Hierzu und zum Folgenden auch: Hans Boldt, Art. „Ausnahmezustand, necessitas publica, Belagerungszustand, Kriegszustand, Staatsnotstand, Staatsnotstandsrecht“, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 343–376, hier: S. 356, 359, 362, 364; ders., Ausnahmezustand, S. 414.

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oder „Volkswille“) ermordet, auch weil der Zar sich nach einem unmittelbar vorangegangenen Bombenanschlag, bei dem er unversehrt geblieben war, um die Verletzten kümmerte. Diese Rücksichtnahme, mit der Alexander II. die Gefahr bewusst und ostentativ ignorierte, spiegelt die Prägekraft einer überkommenen heroisch-kriegerischen Sicherheitskultur wider, die auf aristokratischen und militärischen Verhaltensnormen beruhte. Auch der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, der am 7. Mai 1866 ein Attentat auf ihn überlebte, war traditionalen Ehrvorstellungen verhaftet. Ebenso missachteten andere Politiker und monarchische Herrscher ostentativ die Gefahr, denn die Abläufe am Hof bzw. in der Regierung und damit die herrschende politische und gesellschaftliche Ordnung sollten unbedingt aufrechterhalten werden.26 Die zunehmende Gefahr terroristischer Anschläge, die anarchistische Bewegungen seit den späten siebziger Jahren durchführten, erzwang allerdings weitere Schutzmaßnahmen wie eine Zunahme polizeilicher Kooperation und eine Neubewertung des Risikos.27 Mit zwei Anschlägen auf Kaiser Wilhelm I. im Mai und Juni 1878, der Ermordung des russischen Zaren Alexander II. und Angriffen auf weitere Staatsoberhäupter wie die englische Königin Victoria vollzog sich ein Umbruch in der Sicherheitskultur, der sich vor allem aus einem Wandel der Bedrohungslage ergab. Seit den 1870er Jahren waren Attentate durch Einzeltäter zunehmend von Aktionen terroristischer Gruppen abgelöst worden. Mit der Entpersonalisierung ging eine „Technisierung politisch motivierter Gewalt“ einher.28 Die Erfindung des Dynamits durch Alfred Nobel 1866 ermöglichte den gezielten Einsatz von Sprengstoff bei Anschlägen. Damit traten umfassende Schutzmaßnahmen an

26 Carola Dietze / Frithjof Benjamin Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr. Soldatisch-aristokratische Tugendhaftigkeit und das Konzept der Sicherheit im späten 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 368–401, bes. S. 368, 371 f., 374, 381, 384; Carola Dietze, Terrorismus im 19. Jahrhundert: Politische Attentate, rechtliche Reaktionen, Polizeistrategien und öffentlicher Diskurs in Europa und den Vereinigten Staaten 1878–1901, in: Härter / de Graaf (Hg.), Majestätsverbrechen, S. 179–196, hier: S. 189–192; Marcus Mühlnikel, „Fürst, sind Sie unverletzt“? Attentate im Kaiserreich 1871–1914, Paderborn 2014, S. 33– 67. 27 Zu den Anarchisten und staatlichen Gegenmaßnahmen: Richard Bach Jensen, The Battle against Anarchist Terrorism. An International History, 1878–1934, Cambridge 2014, bes. S. 75– 129; ders., The First Global Wave of Terrorism and International Counter-Terrorism, 1905–14, in: Jussi M. Hanhimäki / Bernhard Blumenau (Hg.), An International History of Terrorism. Western and Non-Western Experiences, London 2013, S. 16–33; ders., The International Campaign Against Anarchist Terrorism, 1880–1930s, in: Terrorism and Political Violence 21 (2009), Nr. 1, S. 89–109. 28 Dietze / Schenk, Herrscher, S. 384.

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die Stelle militärischer Ehre und männlicher Standhaftigkeit. Darüber hinaus gewann Sicherheit gegenüber liberalen Konzepten des laissez faire deutlich die Oberhand. So waren Adlige und Konservative, aber auch bürgerliche Gruppen im Deutschen Kaiserreich um die bestehende Ordnung besorgt, deren Legitimität die Attentäter und Terroristen mit ihren Attacken symbolisch in Frage stellten. Die Angst der Eliten schlug sich in dem Bemühen nieder, die Anschläge auf Wilhelm I. und Reichskanzler Otto von Bismarck für eine Versicherheitlichung der Politik zu nutzen. So stockte preußisch-deutsche Regierung das Personal der Polizei um das Zehnfache auf, und Reichskanzler Bismarck ließ eine Geheimpolizei einrichten. Auch in vielen anderen europäischen Staaten wurden die Sicherheitskräfte, die nun Staatsoberhäupter und führende Politiker persönlich schützten, deutlich gestärkt. Außerdem ging die Polizei gegen Oppositionelle vor, die in Deutschland als „innere Reichsfeinde“ bezeichnet wurden. Dazu war die Verantwortung für die beiden Attentate auf den Kaiser trotz klarer Beweise für die Täterschaft von Anarchisten gezielt den Sozialdemokraten zugewiesen worden. Gegen diese richtete sich das am 21. Oktober 1878 verabschiedete „Sozialistengesetz“. Sowohl im deutschen als auch im russischen Kaiserreich verschärften sich zudem die Fremdenfeindlichkeit und der Antisemitismus. Insgesamt wurden in beiden Staaten mit der „konservativen Wende“ bzw. dem Beginn der Regentschaft Zar Alexanders III. der Freihandel und liberale Reformen abgebrochen. Damit verschob sich der politische Diskurs von Freiheit und Fortschritt zu Schutz und Ordnung. Mit dieser Versicherheitlichung schrumpften die zeitlichen und räumlichen Erwartungshorizonte. Nicht nur die Eliten, sondern große Bevölkerungsgruppen verlangten Sicherheit sofort und im unmittelbaren Lebensumfeld.29 Diese Erwartung ging auch im „Zeitalter der Nervosität“ und im Kulturpessimismus des europäischen fin-de-siècle mit einer verschärfen Wahrnehmung von

29 Tobias Bruns, 1878 als sicherheitskulturelle Wende in der deutschen Geschichte, in: Kampmann / Marciniak / Meteling (Hg.), „Security turns its eye exclusively to the future“, S. 233–257, bes. S. 234 f., 237–239, 241, 246–249; Carola Dietze, Von Kornblumen, Heringen und Drohbriefen. Ereignis und Medienereignis am Beispiel der Attentate auf Wilhelm I., in: Friedrich Lenger / Ansgar Nünning (Hg.), Medienereignisse der Moderne, Darmstadt 2008, S. 40–60, hier: S. 45; dies., Terrorismus, S. 182–189; Lukas Keller, Beyond the ‚People’s Community‘: the Anarchist Movement from the fin de siècle to the First World War in Germany, in: Matthew S. Adams / Ruth Kinna (Hg.), Anarchism 1914–18. Internationalism, Anti-Militarism and War, Manchester 2017, S. 95–113, hier: S. 95 f.; Andrew R. Carlson, Anarchismus und individueller Terror im Deutschen Kaiserreich, 1870–1890, in: Wolfgang J. Mommsen / Gerhard Hirschfeld (Hg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 207–236, bes. S. 215, 234; Mühlnikel, „Fürst, sind Sie unverletzt“?, S. 210–245; Conze, Security Culture, S. 51.

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Unsicherheit einher. Das Streben nach Sekurität sicherte dem Staat letztlich zentrale Kompetenzen.30 Unter dem Druck des wachsenden Sicherheitsbedürfnisses beschleunigte sich auch die Integration von Ausnahmefällen wie Belagerungen, Bürgerkriegen und Katastrophen in die jeweiligen Rechtsordnungen. So wurde in der Revolution von 1848/49 in vielen europäischen Staaten – zum Beispiel in Frankreich – der Belagerungszustand verhängt. Er ermächtigte die bedrängten Machthaber, ihre Bindung an das Gesetz aufzuheben und grundlegende Freiheitsund Menschenrechte zu suspendieren. Staatliche Institutionen beanspruchten Ausnahmerechte im Namen „öffentlicher Sicherheit“. Der Belagerungszustand legitimierte vor allem den Militäreinsatz im Innern und die Standgerichtsbarkeit. Als die herrschenden Eliten mit der Restauration in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Notstandsgefahren für überwunden hielten, ging aus dem kriegsrechtlich begründeten „Belagerungszustand“ sukzessive der „Ausnahmezustand“ hervor. Dazu unterschieden die Behörden scharf zwischen eigenen Bürgern und „Fremden“. Ein- und Ausschluss in die Gemeinschaften standen sich zusehends schroff gegenüber. Kriegsrechtliche Bestimmungen des Belagerungszustandes sollten sogar noch die Maßnahmen rechtfertigen, welche die deutsche Reichsleitung verhängte, als 1914 der Erste Weltkrieg begann. Auch in anderen kriegführenden Staaten wurden zu dieser Zeit Notstandsregimes eingerichtet und Ausnahmegesetze erlassen. Sie nutzten die Regierungen oder autokratischen Herrscher zu Beginn der Kämpfe, um Freiheitsrechte einzuschränken.31 In den Jahren von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 schlug sich die Wahrnehmung eines Kampfes um die nationale Existenz in tiefen Einschnitten in die Rechte und das Leben von Feindstaatenangehörigen nieder. Sogar Eingebürgerte wurden verdächtigt, denn Zuschreibungen von Identitäten waren letztlich 30 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998; Uwe Puschner, Krisenbewußtsein und Umbruchserfahrungen im Augenblick der Jahrhundertwende, in: Michel Grunewald / Uwe Puschner (Hg.), Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich, Bern 2010, S. 525–536; Walter Laqueur, Fin-de-siècle. Once More with Feeling, in: Journal of Contemporary History 31 (1996), S. 5–47. 31 Boldt, Art. „Ausnahmezustand, necessitas publica, Belagerungszustand, Kriegszustand, Staatsnotstand, Staatsnotstandsrecht“, S. 356, 359, 362, 364; ders., Ausnahmezustand, S. 414. Vgl. auch Daniela L. Caglioti, Dealing with Enemy Aliens in WWI: Security Versus Civil Liberties and Property Rights, in: Italian Journal of Public Law 3 (2011), No. 2, S. 181–194, hier: S. 181–183; dies., Aliens and Internal Enemies. Internment Practices, Economic Exclusion and Property Rights during the First World War, in: Modern European History 12 (2014), S. 448–459, hier: S. 451; Neocleous, Critique, S. 44–49. Grundsätzlich: Frankenberg, Staatstechnik, S. 35 f.; Bonß, (Un-)Sicherheit, S. 45.

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wichtiger als Staatsangehörigkeiten. Da Minderheiten aufgrund der ethnischen Aufladung des Nationalismus und der Staatsbürgerschaft in den beiden Weltkriegen mit den jeweils gegnerischen Ländern assoziiert wurden, verschärften sich fremdenfeindliche Vorurteile, die sich schon zuvor herausgebildet hatten. Die Ausgrenzung reichte dabei von abwertenden Bemerkungen bis zu physischen Angriffen. In diesem Radikalisierungsprozess wurden vielerorts aus Nachbarn, Bekannten und gelegentlich sogar Freunden „Feinde“. Der Massenmord an den Juden, der auf den Ausschluss der dämonisierten Minderheit aus der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ folgte, ist zumindest teilweise eine besonders extreme Manifestation einer Bedrohungskommunikation, die vermeintliche Gegner verteufelte und damit eine rassische Exklusionspolitik zu begründen suchte. Damit wurden Forderungen nach Sicherheit geradezu pervertiert.32 Mit einem umfassenden Spektrum repressiver Maßnahmen hatten die politischen Eliten schon 1914/15 nicht zuletzt auf gesteigerte Sicherheitsängste reagiert, die als Untersuchungsgegenstand ernst genommen werden müssen. Gerade weil sie konstruiert und oft sogar imaginiert war und gelegentlich sogar als bloßer Vorwand diente, war Angst in den nationalen Emotionsgemeinschaften tief verwurzelt. In beiden Weltkriegen richtete sie sich gegen bestimmte Personen und wurde dadurch besonders wirksam. Angst kristallisierte sich in Kampagnen gegen „innere Feinde“, so vermeintliche Spione, Saboteure, „Asoziale“ oder „volksfremde“ Elemente. Die Wirkungen der Agitation gegen diese „Fremden“ reichten bis zu erheblichen rechtlichen Diskriminierungen. Ansätze eines „Feindstrafrechtes“ finden sich aber bereits im 19. Jahrhundert. In dieser Zeit bezog sich die Suche nach Sicherheit über den Schutz vor Verbrechen und Kriegen hinaus zusehends auch auf Lebensrisiken wie Alter und Krankheit und die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Energie. In diesem Expansions- und Differenzierungsprozess hat „Sicherheit“ als Leitwert mehr versprochen, als politische Maßnahmen gewährleisten konnten. Wenn Sicherheitsforderungen verabsolutiert wurden, gerieten sie in Konflikt mit anderen „Forderungen guter Gesellschaft“, so Freiheit und Humanität.33 32 Gordon W. Allport, The Nature of Prejudice, Cambridge 31955, S. 14 f., 49; Conze, Geschichte, S. 156. 33 Zygmunt Bauman, Freiheit und Sicherheit. Die unvollendete Geschichte einer stürmischen Beziehung, in: Elisabeth Anselm u. a. (Hg.), Die neue Ordnung des Politischen. Die Herausforderungen der Demokratie am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1999, S. 23–34; Sebastian Bischoff, Spy Fever 1914, in: Ute Daniel u. a. (Hg.), 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, Berlin 2019-03-25 (doi:10.15463/ie1418.11355, Zugriff am 15. Mai 2020); Conze, Art. „Sicherheit, Schutz“, S. 831 f., 838–858; Knemeyer, Artikel „Polizei“, S. 889 f. Zitat: Kaufmann, Sicherheit, S. 104.

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Der Stellenwert von Angst als Emotion, die Rolle von Gerüchten, geschlechterpolitische Aufladung und die Unterdrückung „innerer Feinde“ im Ersten Weltkrieg Die sicherheitspolitischen Maßnahmen basierten nicht nur auf der zunehmenden Macht des Interventionsstaates, sondern sie resultierten auch aus Wahrnehmungen von Bedrohung, die Gefühle nachhaltig beeinflusst haben. Der französische Historiker Lucien Febvre (1878–1956), einer der Begründer der einflussreichen Annales-Schule, schlug schon 1956 vor, die grundlegenden menschlichem Gefühle und ihre Ausdrucksformen in der Geschichte zu untersuchen. Dabei sollte das Streben nach Sicherheit besonders berücksichtigt werden.34 Daran anschließend ist betont worden, dass besonders das Kontingenzbewusstsein in der Moderne der Forderung nach Sicherheit seine spezifische „emotionale Appellqualität“ verliehen hat.35 Auch das Konzept des Vertrauens vermag die historische Sicherheitsforschung und die Geschichte der Emotionen zu verbinden. Niklas Luhmann hat Vertrauen als Kategorie definiert, welche die Komplexität moderner Gesellschaften zu reduzieren vermag und ihren Mitgliedern überhaupt noch Handlungsfähigkeit sichert. Vertrauen vermittelt damit individuelle Selbstsicherheit und soziale Stabilität.36 So verleihen Emotionen Menschen letztlich „Gesellschaftsfähigkeit“.37 Die neuere Forschung ist davon ausgegangen, dass Emotionen nicht klar von kognitiven Prozessen abgegrenzt werden können. Damit ist die zuvor scharfe Trennung von Gefühlen und Vernunft überwunden worden. Außerdem werden Emotionen in der inzwischen als kulturelle Konstruktionen und soziale Praxis verstanden und untersucht. Als sprachliche Äußerungen beschreiben Emotionen nicht nur, sondern sie zeitigen auch konkrete Wirkungen. Der Historiker und Ethnologe William Reddy hat deshalb von emotives gesprochen, die in Ge34 Lucien Febvre, Pour l’histoire de sentiment. Le besoin de sécurité, in: Annales 11 (1956), S. 244–247. Vgl. auch ders., La sensibilité et l’histoire. Comment reconstituer la affective d’autrefois, in: Annales 3 (1941), S. 5–20; Birgit Aschmann, Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte, in: dies. (Hg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluß von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005, S. 9–32, hier: S. 26; Bettina Hitzer, Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen, in: H-Soz-Kult, 23.11.2011 (https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1221; Zugriff am 12. November 2018); Conze, Geschichte, S. 42, 75, 160. 35 Kaufmann, Sicherheit, S. 94. 36 Niklas Luhmann, Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968, S. 10, 13. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive: Ute Frevert (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003. Instruktiver Überblick in: Conze, Geschichte, S. 165. 37 Aschmann, Nutzen, S. 16 f.

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fühlsnormen eingebunden sind. Diese „emotionalen Regimes“ unterscheiden sich in ihrer Verbindlichkeit, so in Krieg und Frieden sowie in verschiedenen Herrschaftssystemen wie Demokratien und Diktaturen. Durchweg umfassen Gefühlsäußerungen aber einen „Handlungs- und Selbsterkundungszweck“, der an bestimmte Kulturen gebunden ist.38 Fühlen und Verständigen wirken demnach aufeinander ein, und Sprechakte gehen mit Ritualen und symbolischen Praktiken einher. Kollektive emotionale Standards (emotionology), die in ihrem Verhältnis zu vermeintlich authentischen Gefühlserfahrungen zu untersuchen sind, werden in und zwischen Gruppen ausgehandelt, durchgesetzt und – zumindest vorübergehend – festgelegt. Diese emotional communities (Barbara Rosenwein) bilden durch Kommunikation und Interaktion gemeinsame Gefühlswelten aus, die spezifische Normen und Ausdrucksformen teilen. Umfassende emotionale Gemeinschaften wie Nationen werden von kleineren Gruppen und Kreisen gleichermaßen gestützt und begrenzt, die sich überlappen können. Emotionale Gemeinschaften sind ebenso wie emotives kontextabhängig, und sie weisen spezifische „emotionale Skripte“ (Robert A. Kaster) auf, die ein Handlungsrepertoire für einzelne Gefühle festlegen.39 So strukturiert emotional grundierte Gewalt den Zusammenhalt von Menschen, und sie bringt neue gesellschaftliche Beziehungen hervor.40 Historische Studien zu Emotionen müssen deshalb die Kommunikations- und Mediengeschichte einbeziehen, um diffuse Begriffe wie „Hysterie“ zu vermeiden.41 Im Hinblick auf Sicherheitsbedürfnisse ist vor allem der Stellenwert von Angst hervorzuheben. Sie basiert zwar auf neuronalen Prozessen, die in einem bestimmten Teil des Gehirns, der Amygdala („Mandelkern“), ablaufen. Jedoch 38 Hitzer, Emotionsgeschichte; Aschmann, Nutzen, S. 17. 39 Robert A. Kaster, Emotion, Restraint, and Community in Ancient Rome, Oxford 2005, S. 8. Überblicke in: Plamper, Geschichte, S. 12–15, 42, 80–85, 298 f., 304 f., 313; Nina Verheyen, Geschichte der Gefühle, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.06.2010 (http://docupedia. de/zg/verheyen_gefuehle_v1_de_2010; DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.320.v1, hu, Zugriff am 19. Mai 2018), bes. S. 4–8; Ute Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 183–208, hier: S. 197 f.; Hitzer, Emotionsgeschichte. Vgl. auch Barbara Rosenwein, Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca 2006, S. 2–25; dies., Worrying about Emotions in History, in: American Historical Review 107 (2002), S. 821–845; William Reddy, The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001; Peter N. Stearns / Carol Z. Stearns, Emotionology: Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards, in: American Historical Review 90 (1985), S. 813–836. 40 Sven Oliver Müller, Perspektiven einer Emotionsgeschichte an der Heimatfront im Ersten Weltkrieg, in: Arnd Bauerkämper / Natalia Rostislavleva (Hg.), Russland und Deutschland im Ersten Weltkrieg: Zwischen Sicherheit und Humanität, Moskau 2019, S. 53–59, hier: S. 58 f. 41 Stieglitz, Undercover, S. 158.

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sind Ängste nicht vorgegeben, sondern von Wahrnehmungen abhängig. So kann nur eine Zukunft, die als offen wahrgenommen wird und dabei auch Ängste auslöst, gestaltet und sogar geplant werden. In diesem Prozess können auch erwartete Gefahren abgewehrt werden. Überdies sind Ängste veränderbar und oft individuell unterschiedlich. So ist mit ihnen in Kriegen unterschiedlich umgegangen worden, wie Studien über die Angst von Soldaten und die Einstellungen zu ihr im 20. Jahrhundert gezeigt haben.42 Insgesamt ist diese Emotion deshalb als Gegenstand der Geschichtsschreibung ernst zu nehmen. So hat die historische Forschung die Indienstnahme von Angst für politische Zwecke betont, besonders in den USA. Joanna Bourke hat dieses Gefühl sogar allgemein zu einem Signum des 20. Jahrhunderts erklärt, allerdings nur im Hinblick auf westliche Gesellschaften. Demgegenüber nimmt dieses Buch Befunde von Studien auf, die den Wandel und unterschiedliche Formen von Ängsten hervorgehoben und rekonstruiert haben. Ihre Mobilisierung sollte keineswegs auf bestimmte Instrumentalisierungsstrategien von Eliten oder Medien reduziert werden.43 Vielmehr haben psychologische Studien gezeigt, dass Menschen, die akute Bedrohungen wahrnehmen, verstärkt Ordnung und klare Regeln verlangen. Auch in liberalen Gesellschaften hat Angst vor einschneidenden Ereignissen und Prozessen wie Terrorismus, Kriegen, rapidem Wandel und Überfremdung deshalb wiederholt fremdenfeindliche und autoritäre Einstellungen gestärkt.44 Wie angedeutet, sind Kontexte in Studien zu Formen und Auswirkungen von Angst aber umfassend zu berücksichtigen. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass diese Emotion kulturell und historisch unterschiedlich gerahmt ist, so dass Reaktionen auf sie differiert haben. Ängste werden zudem von spezifischen Zukunftserwartungen geprägt. Dazu ist die Untersuchung des Verhältnisses zwischen ihnen und Sicherheitskulturen besonders fruchtbar. Insgesamt muss die historische Sicherheitsforschung damit die Frage aufnehmen, „wie 42 Susanne Michel / Jan Plamper, Soldatische Angst im Ersten Weltkrieg. Die Karriere eines Gefühls in der Kriegspsychiatrie Deutschlands, Frankreichs und Russlands, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 209–248; Mike Burkhardt, Angst im Spiegel deutscher Feldpostbriefe aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Historische Mitteilungen 17 (2004), S. 195–212; Schulze Wessel, Zukunftsvorstellungen, S. 1. Zur Amygdala: Aschmann, Nutzen, S. 21. 43 Dazu tendieren aber die meisten Beiträge zu: Frank Bösch / Manuel Borutta (Hg.), Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt/M. 2006. 44 Karen Stenner, The Authoritarian Dynamic, Cambridge 2005, bes. S. 1, 32. Dazu auch schon: Pitirim A. Sorokin, Man and Society in Calamity: The Effects of War, Revolution, Famine, and Pestilence upon Human Mind. Behavior, Social Organization, and Cultural Life, New York 1943, S. 44 f. Dazu auch der Hinweis in: Claudia Siebrecht, Formen von Unfreiheit und Extreme der Gewalt. Die Konzentrationslager in Deutsch-Südwestafrika, 1904–1908, in: Greiner / Kramer (Hg.), Welt, S. 87–109, hier: S. 107.

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Angst und Furcht, verstanden als Wahrnehmung von Unsicherheit, Gefahr oder Bedrohung in spezifischen politischen und sozialen Kontexten und Konstellationen“ gewirkt haben.45 In den beiden Weltkriegen beeinflussten Gefühle Gefahrenwahrnehmungen besonders nachhaltig. Angesichts der extremen Bedrohung staatlich-politischer und gesellschaftlicher Ordnungen, des radikalen Nationalismus und des hohen Integrationsdruckes waren die kriegführenden Staaten klar abgegrenzte emotionale Gemeinschaften. In ihnen vermittelten die Propaganda der Regierungen und andere Medien – besonders die Presse – wirkungsmächtige Emotionen. Politische Regimes regulierten Gefühlswelten, so durch Zensur.46 Hoffnungen und Ängste schlugen sich in Siegeseuphorie ebenso nieder wie in Fremdenhass und radikalen Feindbildern. Obwohl sie sich durchaus auch in physischen Reaktionen äußerten, waren für Angst und Furcht Kommunikationsprozesse konstitutiv, die Gefahren vermittelten. Im Allgemeinen kann „Bedrohungskommunikation“ als „Kommunikation einer Bedrohung“ verstanden werden, „die (aus der Sicht des Beobachters) sowohl den Beobachter selbst als auch die Adressaten der Kommunikation betrifft.“ Erst Beobachter erzeugen damit Unsicherheit. Zugleich ist herausgearbeitet worden, dass die emotionalen Ausnahmesituationen extremer Bedrohungen in den beiden Weltkriegen auch die politischen Ordnungen demokratischer Systeme veränderten.47 Eine wichtige Rolle spielten dabei Gerüchte. Allgemein können sie als Form informeller Kommunikation gefasst werden. Dabei ist nicht entscheidend, ob sie wahr oder falsch sind. Vielmehr müssen Gerüchte in einer bestimmten Situation plausibel erscheinen. In Krisen, die durch Ungewissheit und unzureichendes Wissen geprägt sind, vermögen sie kaum oder gar nicht verständliche Ereig45 Conze, Geschichte, S. 164. Vgl. auch Holger Nehring, Angst, Gewalterfahrungen und das Ende des Pazifismus. Die britischen und westdeutschen Proteste gegen Atomwaffen, in: Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Dierk Walter (Hg.), Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009, S. 436–464; Arnd Bauerkämper, The Twisted Road to Democracy as a Quest for Security: Germany in the Twentieth Century, in: German History 32 (2014), S. 431–455; Axel Schildt, „German Angst“. Überlegungen zur Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, in: Daniela Münkel / Jutta Schwarzkopf (Hg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert. Fs. Adelheid von Saldern, Frankfurt/M. 2004, S. 87–97; Hitzer, Emotionsgeschichte. 46 Damit entgeht gerade eine emotionsgeschichtliche Untersuchung der beiden Weltkriege kritischen Einwänden, die gegen Reddys und Rosenweins Konzepte erhoben worden sind. Vgl. Plamper, Geschichte, S. 82, 310. 47 Zitat: Werner Schirmer, Bedrohungskommunikation. Eine gesellschaftstheoretische Studie zu Sicherheit und Unsicherheit, Wiesbaden 2008, S. 89. Vgl. auch Ewald Frie / Mischa Meier, Bedrohte Ordnungen, Gesellschaften unter Stress im Vergleich, in: dies (Hg.), Aufruhr, S. 1–27, hier: S. 4 f., 17 f., 21 f.

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nisse zu erklären. Sie gleichen damit Informationsmängel aus und lösen tatsächliche oder vermeintliche Widersprüche auf. Besonders in extremen Ausnahmesituationen vermitteln Gerüchte angesichts von Orientierungslosigkeit Verhaltenssicherheit. Wenn sie glaubwürdig sind, können sie zählebig sein, aber grundsätzlich auch widerlegt und beseitigt werden. Damit ist jedoch eine Wiederkehr keineswegs ausgeschlossen. Vor allem in krisenhaften Situationen werden Gerüchte von einzelnen Akteuren vielfach erneut verbreitet. Sie entfalten aber unabhängig von ihren Trägern auch eine Eigendynamik und -logik. In jedem Fall gründen sie auf Emotionen, die handlungsleitend werden. Diese Prozesse sollen in diesem Buch anhand des Umgangs mit zivilen Feindstaatenangehörigen veranschaulicht werden.48 Gerüchte basierten in den beiden Weltkriegen besonders auf Angst. Sie wurde in Diskursen vermittelt, die generell vorrangig auf Sprache basieren, eine hinreichend große Gruppe interessieren und deren Mitglieder zum Handeln bewegen. Aus dieser Sicht resultiert Furcht aus der Annahme von Individuen, eine Gefahr einschätzen und einen Feind erkennen zu können. Sie mobilisiert Abwehr, während Angst schon durch die Aussicht auf eine Gefahr ausgelöst wird, die präventiv verhindert werden soll. Panik entsteht, obwohl keine Bedrohung vorliegt. Sie kann insofern als fehlgeleitete Angst verstanden werden. Alle diese Emotionen werden aber nicht nur vermittelt, sondern vielfach auch von einzelnen Akteuren bewusst und gezielt geschaffen, die beispielsweise Angst in Furcht oder Panik verwandelt. „Angstunternehmer“ nutzen und verstärken Diskurse über Furcht, um Kontrolle über untergeordnete Gruppen zu gewinnen und ihre Herrschaft zu legitimieren. Diese „politics of fear“ demonstriert, dass Angst und Furcht als Wahrnehmungsformen von Bedrohungen grundsätzlich von Machtbeziehungen beeinflusst oder geprägt werden.49 Als intensive Emotionen lösen Angst, Furcht und Panik Sicherheitsbedürfnisse aus. Diese Gefühle können auch von Regierungen gesteigert werden, wie 48 Manfred Bruhn, Gerüchte als Gegenstand der theoretischen und empirischen Forschung, in: ders. / Werner Wunderlich (Hg.), Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform, Bern 2004, S. 11–39; Klaus Mertens, Zur Theorie des Gerüchts, in: Publizistik 54 (2009), S. 15–42. 49 Zit. nach (in dieser Reihenfolge): Bernd Greiner, Angstunternehmer. Zur Karriere eines amerikanischen Rollenmodells, in: Aus Politik und Zeitschichte, Nr. 32–33, 2013, S. 27–33, bes. S. 29; Margrit Pernau, Review Essay: What Object is Fear?, in: History and Theory 54 (2015), S. 86–95, hier: S. 91. Vgl. auch Joanna Bourke, Fear. A Cultural History, London 2005, bes. S. 11–19, 73–76, 357–391; dies., Fear and Anxiety: Writing about Emotion in Modern History, in: History Workshop Journal 55 (2003), S. 111–133; Richard J. McNally, Fear, Anxiety and Their Disorders, in: Jan Plamper / Benjamin Lazier (Hg.), Fear Across the Disciplines, Pittsburgh 2012, S. 118–131, bes. S. 17, 21, 24; Plamper, Geschichte, S. 84; Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, S. 196; Aschmann, Nutzen, S. 13.

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schon Thomas Hobbes (1588–1679) beobachtete. So hat Angst nach Alexis de Tocqueville (1805–1859) die Moderne seit der Französischen Revolution gekennzeichnet. Dabei haben staatliche Institutionen Gefahren definiert und Bedrohungen übertrieben, die in der Sprache der Sicherheit gefasst werden. Auch in der Gegenwart können sich staatliche Akteure damit auf einen breiten Konsens stützen, während konkrete Maßnahmen zur Gefahrenabwehr vielfach umstritten sind. Jedoch reagieren politische und administrative Eliten nicht auf alle, sondern nur auf einzelne Gefahren. Ihre Sicherheitspolitik ist selektiv und orientiert sich zudem an Interessen, Zielen und Überzeugungen gesellschaftlicher Akteure, die wiederum über ungleiche Mittel zur Durchsetzung ihrer Anliegen verfügen. Alles in allem werden Angst und Furcht jeweils konstruiert. Dazu ist der Bezug auf „Sicherheit“ zur Ausübung staatlicher Macht und zur Repression individueller Rechte besonders geeignet, da dieses schillernde Konzept eine universalistische und scheinbar neutrale Rhetorik mit Maßnahmen verbindet, die sich gegen bestimmte Personen und Gruppen richtet. Auch dies legt nahe, zwischen Bedrohungen und dem Reden über diese zu unterscheiden. Zugleich führen Diskurse über Angst und Furcht oft zu einem „Teufelskreis von Sicherheitsbedürfnis und Machtanhäufung“. Damit müssen Bedrohungswahrnehmungen als mächtige Triebkräfte der Versicherheitlichung gelten. Sie stärken den Zusammenhalt von Gemeinschaften und begründen Erwartungen uneingeschränkter Loyalität.50 Dieser Prozess wurde im Ersten Weltkrieg deutlich, der zu einem Umbruch der Emotions- und Sicherheitsregimes führte. Die Vorstellungen darüber, welche Bilder und Gefühle in der Öffentlichkeit gezeigt und wie Menschen sich verhalten sollten, veränderten sich. In Deutschland war beispielsweise Angst in der bürgerlich geprägten Vorkriegsgesellschaft unerwünscht und z. T. sogar verpönt gewesen. Stattdessen war Härte propagiert worden, um die „nationale Ehre“ in dem unablässig propagierten Kampf der Staaten zu verteidigen. Jedoch hatte das Wettrüsten in den Jahren vor 1914 sogar unter den Eliten Angst ausgelöst, die wiederum ihre Agitation für eine Stärkung des Militärs intensivierten. Im Ersten Weltkrieg verbreiteten die Regierungen in Deutschland, aber auch in den anderen kriegführenden Ländern Angst vor dem dämonisierten inneren und äußeren Feind. Diese intensive Emotion begründete schließlich nicht nur die Forderung, den Krieg durchzuhalten und eine Niederlage unbedingt zu ver-

50 Zitat: Wilfried Loth, Angst und Vertrauensbildung, in: Dülffer / Loth (Hg.), Dimensionen, S. 29–46, hier: S. 33. Die Ausführungen folgen hier der schlüssigen Darstellung in: Corey Robin, The Language of Fear: Security and Modern Politics, in: Lazier / Plamper (Hg.), Fear, S. 118–131. Vgl. auch Corey Robin, Fear. The History of a Political Idea, New York 2004, S. 33 f., 37–39, 43–45, 71–77, 84 f.; Conze, Geschichte, S. 151, 153 f.

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meiden, sondern auch ein rigoroses Vorgehen gegen Kriegsgefangene und Zivilisten, die den jeweils gegnerischen Staaten angehörten oder mit ihnen assoziiert wurden. Die Angst, die in der Kriegspropaganda verbreitet wurde, schlug um in Hass auf den „Feind“, der umfassend und weit über die jeweiligen Gegner hinaus definiert und verstanden wurde. Vor allem stigmatisierte die Kriegspropaganda in vielen Staaten erstmals systematisch Feindstaatenangehörige als (potentielle) Spione, Saboteure und Verräter.51 Dabei wurden durchweg Deutungsmuster verhandelt. Die christliche Tradition des Verrates (mit ihrer Konzentration auf die Figur des Judas) und die römische Rechtslehre hatten die Semantik des „Verrats“ seit der Antike entgrenzt, und im 19. Jahrhundert war der „Landesverrat“ als rechtliche und politisch-moralische Kategorie durch den Nationalismus aufgeladen worden. In den beiden Weltkriegen stand damit ein breites Spektrum an Tatbeständen zur Verfügung, die von den Regierungen auf die Bewahrung der „öffentlichen Sicherheit“ bezogen wurden. Als kollektive Bedrohung verstanden, begründete „Verrat“ in den kriegführenden Staaten Einschluss und Ausschluss. In Szenarien höchster Gefahr wurden „Verräter“ als „innere Feinde“ identifiziert und stigmatisiert, oft auch gezielt von politischen Eliten und staatlichen Behörden, die damit eigene Interessen – so die Legimitation ihrer Herrschaft – verbanden. Zugleich gewann die Suche nach subversiven Kräften gewann eine Eigendynamik, die keineswegs ausschließlich „von oben“ gesteuert wurde, sondern auch von gesellschaftlichen Gruppen ausging. Dabei wurden „Verräter“ oft moralisch diskreditiert. Die Repression der Feindstaatenangehörigen im Allgemeinen und ihre Internierung im Besonderen waren damit tief in die Emotionsgeschichte der beiden Weltkriege eingebettet.52 Damit verbunden war eine geschlechterpolitische Grundierung von Sicherheitsvorstellungen. So verurteilte die britische Kriegspropaganda die deutsche Kriegführung nicht nur als barbarischen Angriff auf Zivilisten im Allgemeinen, sondern auch auf Frauen im Besonderen. Dabei wurden emotional gefärbte Metaphern wie Vergewaltigung und Schändung gezielt verwendet, um besonders den Überfall auf Belgien, die Exekution von Zivilisten, die Luftangriffe auf britische Städte und die Versenkung von Passagierschiffen zu verurteilen. Damit gelang es, abstrakte völkerrechtliche Kategorien auf das Alltagsleben der Briten 51 Anne Schmidt, Mit Angst durchhalten? Über das Für und Wider der Gräuelpropaganda, in: Der gefühlte Krieg. Emotionen im Ersten Weltkrieg, hg. vom Museum Europäischer Kulturen (Staatliche Museen zu Berlin), Berlin 2014, S. 27–42, bes. S. 29, 31, 33 f., 40; Uta Hinz, Art. „Internierung“, in: Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003, S. 582–584, hier: S. 582 f.; Jonathan Glover, Humanity. A Moral History of the Twentieth Century, London 2001, S. 190–198; Dülffer, Kriege, S. 6. 52 Krischer, Judas, S. 11 f., 20, 22, 27, 40.

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zu beziehen und so zu konkretisieren. Nach der Kriegspropaganda waren Frauen, Kinder und ihr Heim unbedingt zu schützen. Letztlich konnten mit diesem Verfahren auch Verletzungen des geltenden Völkerrechtes wie die Seeblockade Deutschlands durch die Royal Navy als militärische Notwendigkeit gerechtfertigt werden. Gerade das Ziel, Frauen zu schützen, entzog sich weitgehend der Überprüfung und Kritik. Dies galt für die Rechtfertigung von Sicherheitspolitik in allen kriegführenden Ländern.53

Sicherheit, Gouvernementalität und Sozialkonstruktion im Verhältnis zu Freiheit und Humanität: Grundzüge einer Debatte Die Forschung zur Sicherheit hat sich seit dem späten 18. Jahrhundert im Wesentlichen an der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung orientiert. Dabei ist die historische Sicherheitsforschung lange auf die staatlichen Institutionen fixiert geblieben, weil – wie dargestellt – deren Macht mit der Territorialisierung politischer Herrschaft seit der Frühen Neuzeit erheblich gewachsen war. Erst im 20. Jahrhundert traten die Gesellschaft und die Individuen als Bezugsgrößen hinzu. Damit hatte sich das Problemfeld von militärischer zu ökonomischer, ökologischer und humanitärer Sicherheit erweitert. In räumlicher Hinsicht ist Sicherheit zunehmend nicht mehr national, sondern grenzüberschreitend und in jüngster Zeit sogar global verstanden worden. Nicht zuletzt hat sich das Verständnis der zu begegnenden Gefahren von einem diffusen Bedrohungsgefühl zu einer Wahrnehmung von Risiken verschoben, zu deren Eindämmung über reaktive Maßnahmen hinaus präventive bzw. präkautive Handlungsstrategien und Politikkonzepte vorgeschlagen worden sind.54 Nach wie vor fehlen aber Studien, die Sicherheitskulturen vergleichend untersuchen, grenzüberschreitende Verflechtungen nachzeichnen und ihre emotionale Fundierung herausarbeiten.55 Zudem haben Kriege in der einschlägigen For-

53 Nicoletta Gullace, Sexual Violence and Family Honor. British Propaganda and International Law during the First World War, in: American Historical Review 102 (1997), S. 714–747, bes. S. 714–716, 724 f., 733–738. 54 Christopher Daase, National, Societal, and Human Security: On the Transformation of Political Language, in: Historical Social Research 35 (2010), H. 4, S. 22–37; ders., Wandel der Sicherheitskultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50 / 13. Dezember 2010, S. 12, 14; ders. / Stefan Engert, Global Security Governance: Kritische Anmerkungen zur Effektivität und Legitimität neuer Formen der Sicherheitspolitik, in: Gunnar Folke Schuppert / Michael Zürn (Hg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, PVS-Sonderheft 41/2008, S. 475–498; Conze, Geschichte, S. 47–68, 120–122; Anter, Idee, S. 18; Zwierlein / Graf, Production, S. 7. 55 Bauerkämper, Einleitung, S. 11, 25; Conze, Geschichte, S. 76 f., 176 f.

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schung zur Geschichte der Sicherheit überraschend wenig Aufmerksamkeit gefunden, auch im Hinblick auf den engen Zusammenhang von innerer und äußerer Sekurität.56 Dieses Buch soll dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Bereits im 19. Jahrhundert nahmen Kritiker das Verhältnis von Sekurität und Menschenrechten als Gegensatz wahr. Vor allem staatliche Eingriffe im Ausnahmezustand gefährdeten die Freiheiten, deren Schutz die politischen Eliten z. T. bereits offen beanspruchten. Neben die Sicherheit durch den Staat trat aus der Perspektive der Liberalen, aber zunehmend auch breiter Gesellschaftsgruppen die Sicherheit vor dem Staat. Während diese Akteure die Gewährleistung grundlegender individueller Rechte als Voraussetzung der Sicherheit gefasst haben, ist das Verhältnis zwischen den beiden Leitkonzepten von anderen umgekehrt verstanden und bestimmt worden. Zudem hat in der Auseinandersetzung über die Balance zwischen den Leitkategorien der Streit über das jeweils hinzunehmende Risiko einen zentralen Stellenwert gewonnen. „Gefahr“, „Krise“ und „Risiko“ avancierten in der bürgerlichen Gesellschaftsordnung deshalb zu Schlüsselbegriffen.57 Dabei wurde besonders in Krisenlagen und Ausnahmezuständen der Unterschied zwischen Gefahr und Risiko eingeebnet. Damit verknüpft, verbanden Regierungen Wohlfahrtsfürsorge mit einer z. T. umfassenden Kontrolle der Bevölkerung und der Migration. Auch wenn man Michel Foucaults Interpretation, dass der moderne Staat unter dem Deckmantel der Sicherheit Gewalt produziere, nicht teilt, lenkt sein Konzept der „Gouvernementalität“ die Aufmerksamkeit auf einflussreiche Dispositive und Erwartungen in der „Sicherheitsgesellschaft“ sowie die Machtverhältnisse, die mit Prozessen der Versicherheitlichung verbunden waren. Ebenso treten damit die Ziele und Interessen einzelner Akteure und Gruppen hervor, die Bedrohungen beschworen und – daraus abgeleitet – Sicherheit gefordert haben. Besonders relevant ist die Untersuchung dieser Triebkräfte und Herrschaftsbeziehungen für Studien über die Verhängung von Ausnahmezuständen.58

56 Dazu beispielsweise nur Andeutungen in: Conze, Geschichte, S. 38, 53, 159. 57 Landwehr, Zukunft, S. 49. Vgl. auch Alf Lüdtke / Michael Wildt, Einleitung. Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregime, in: dies. (Hg.), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008, S. 7–38, hier: S. 15–20; Achim Saupe, Von „Ruhe und Ordnung“ zur „inneren Sicherheit“. Eine Historisierung gesellschaftlicher Dispositive, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 7 (2010), H. 2, S. 2 (Zugriff am 8. Dezember 2010); Thomas Lindenberger, Ruhe und Ordnung, in: Etienne François / Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, S. 469–484; Zwierlein / Graf, Production, S. 9, 12. 58 Grundlegend: Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt/M. 2004, S. 87–133, bes. S. 96, 101 f., 116; Frankenberg, Staatstech-

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Der Erste Weltkrieg markiert im Hinblick auf die Sicherheitskulturen und -politik einen Epochenbruch. Nachdem schon zur Jahrhundertwende das Krisenbewusstsein gewachsen war, erschütterten die blutigen Kämpfe von 1914 bis 1918 grundsätzlich die bürgerliche Zukunftsgewissheit.59 In der Zwischenkriegszeit sollte schließlich ein umfassendes social engineering in Demokratien und Diktaturen innere und soziale Sicherheit gewährleisten, um den oft als „Degeneration“ stigmatisierten gesellschaftlichen Zerfall aufzuhalten. Auf eine umfassende Eingliederung, Homogenisierung und Egalisierung der einzelnen Menschen in Gemeinschaften zielend, umfasste Sozialkonstruktion nunmehr vielfältige Formen und Prozesse staatlicher Regelung, Regulierung und Planung auf der Grundlage von Expertenwissen. Damit gingen z. T. weitreichende Gestaltungsutopien einher. Alles in allem war social engineering „ein Versuch, die Folgen der Moderne zu bewältigen, der spezifische Versuch, die sozialen Beziehungen zu restabilisieren, um die vermeintliche Desintegration der Gesellschaft abzuwenden.“60 In diesem Prozess avancierte Sekurität zu einem wichtigen Ziel staatlicher Politik, die seit dem 19. Jahrhundert auch auf die Kontrolle von Immigration und Ausländern durch Gesetze zur Einwanderung und Staatsbürgerschaft gezielt hatte. Ausgehend von diesen Bemühungen, wurden Feindstaatenangehörige nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges zusehends verdrängt, interniert, deportiert und enteignet. Die Revolution der Bolschewiki in Russland veranlasste die politischen Eliten in den westlichen Staaten schließlich, zu einer noch autoritäreren Sicherheitspolitik überzugehen. Sie betrieben vor allem einen erheblichen Ausbau der politischen Polizei, die auch die Effektivität ihrer Überwachung steigern konnte. Da die Bolschewiki die Beschlüsse der „Zimmerwalder Konferenz“, die 1917 einen Verhandlungsfrieden gefordert hatte, nachdrücklich unterstützten, waren sie aus der Sicht der Regierungen in den kriegführenden Staaten gefährliche Pazifisten. Die Gründung der Kommunistischen Internationale (Komintern) 1919 steigerte in den westlichen Ländern die Furcht vor einer weltweiten Revolution, zumal die einzelnen kommunistischen Parteien schon auf dem II. Weltkongress der Komintern (Juli und August 1920) an Eigenständigkeit einbüßten und im Verlauf der 1920er Jahre zentraler Kontrolle unternik, S. 37–38, 260; Bonß, (Un-)Sicherheit, S. 49–52; Boldt, Ausnahmezustand, S. 415; Conze, Geschichte, S. 20, 84 f., 101–105; Eisch-Angus, Angst, S. 21, 29, 182 59 Bonß, (Un-)Sicherheit, S. 43. 60 Zitat: Thomas Etzemüller, Auf den Spuren einer gesellschaftspolitisch problematischen Formation: social engineering 1920–1960, in: Martin Sabrow (Hg.), ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2008, Potsdam 2009, S. 39–47, hier: S. 40. Dazu im Einzelnen auch die Beiträge zu: Etzemüller (Hg.), Ordnung. Übersicht in: Conze, Geschichte, S. 120, 138 f.

66  2 Konzeptionelle Grundlage

stellt wurden. Vor diesem Hintergrund rückte die Bewahrung der „nationalen Sicherheit“, auf die wiederholt schon im Ersten Weltkrieg Bezug genommen worden war, im darauffolgenden Jahrzehnt zu einem zentralen Ziel des Regierungshandelns auf. Zugleich intensivierten sich Gefahrenwahrnehmungen gegenüber neuen „inneren Feinden“. Angesichts der extremen Unsicherheit vollzog sich ein Radikalisierungsprozess, in dem sich fremdenfeindliche Ressentiments mit umfassenden Verschwörungstheorien verbanden.61 Erhöhte Sicherheitsbedürfnisse stärkten auch Konzepte der Gesellschaftskonstruktion und das darauf bezogene Handeln nichtstaatlicher Akteure. Die Kompetenzen der dafür zuständigen exekutiven Institutionen wurden im frühen 20. Jahrhundert in nahezu allen europäischen Staaten erweitert und gestärkt. Bei den gesellschaftlichen Eingriffen nutzen die jeweils zuständigen politischen und administrativen Akteure Expertenwissen, das seit der Jahrhundertwende im Zuge der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ geschaffen worden war. Den Sozialexperten oblag dabei vorrangig, Risiken zu identifizieren und die gesellschaftliche Entwicklung zu steuern, auch durch (Selbst-)Konditionierung der Menschen. Im Zuge dieser erweiterten Gesellschaftspolitik verstärkten sich im frühen 20. Jahrhundert Sicherheitsbedürfnisse erheblich. Damit wurde die „Harmonisierung von erforderlichem Eingriff und notwendiger Freiheitsbehauptung“ zu einer fundamentalen Herausforderung staatlicher Politik.62 Deutlich vor dem Beginn der neueren Debatte sind damit die Gefahren und Risiken der Unterwerfung gesellschaftlicher Prozesse und des Alltagslebens unter die Rationalitätskriterien einer staatlichen Sicherheitspolitik hervorgetreten.

61 Panikos Panayi, Immigration, Ethnicity and Racism in Britain, 1815–1945, Manchester 1994, S. 6, 103, 113, 125; Robert Gerwarth / John Horne, Bolshevism as Fantasy: Fear of Revolution and Counter-Revolutionary Violence, 1917–1923, in: dies. (Hg.), War in Peace. Paramilitary Violence in Europe after the Great War, Oxford 2012, S. 40–51, hier: S. 43; Alan Kramer, From Great War to Fascist Warfare, in: Miguel Alonso / Alan Kramer / Javier Rodrigo, Introduction, in: dies. (Hg.), Fascist Warfare, 1922–1945. Aggression, Occupation, Annihilation, Cham 2019, S. 25–50, hier: S. 25; Jan Kusber, Furcht vor dem Bolschewismus. Russland und der Westen nach der Russischen Revolution, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 34–36 / 2017, 21. August 2017, S. 33–38, hier: S. 33, 37; Luff, Operations, S. 729 (Anm. 3), 734. Dazu auch: Andrew Preston, Monsters Everywhere: A Genealogy of National Security, in: Diplomatic History 48 (2014), S. 477–500. 62 Zitat: Boldt, Ausnahmezustand, S. 428. Allgemein: Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für die Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193, hier: S. 166–185. Vgl. auch Lutz Raphael (Hg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln 2012; Moritz Föllmer, Der „kranke Volkskörper“. Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 41–67.

2.1 Sicherheit 

67

Dabei haben warnende Stimmen drei Probleme hervorgehoben. So ist erstens die Kritik, dass staatliche Sicherheitspolitik Grundrechte zusehends nicht mehr dem Individuum, sondern der Gesellschaft zugeschrieben hat, im 20. Jahrhundert wiederholt gegen vermeintlich oder tatsächlich ausufernde Sicherungsansprüche staatlicher Institutionen gerichtet worden.63 Dies gilt zweitens auch für den Einwand, dass Eingriffe zugunsten von Sicherheitsbedürfnissen nicht dem Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel entsprechen. Ebenso sind drittens sicherheitspolitische Kompetenzen wiederholt in wenigen staatlichen Behörden konzentriert worden. Diese Zentralisierung, mit der eine institutionelle Differenzierung zurückgenommen worden ist, hat nicht nur unter Experten erhebliche Bedenken, sondern auch in der Bevölkerung z. T. heftigen Protest ausgelöst. Andererseits haben Politiker, Journalisten, zivilgesellschaftliche Aktivisten und Wissenschaftler argumentiert, dass nur eine effektive staatliche Sicherheitspolitik den Schutz von Menschenrechten gewährleistete.64 In den letzten Jahren hat sich diese Diskussion vor allem auf die Responsibility to Protect (Schutzverantwortung) bezogen, die 2005 auf Empfehlung der 2001 eingesetzten International Commission on Intervention and State Sovereignty von den Delegierten der UN-Weltkonferenz beschlossen wurde. Die Entschließung sieht Einschränkungen der staatlichen Souveränität vor, allerdings nur, wenn Menschenrechte einzig durch Zwangsmaßnahmen der Staatengemeinschaft geschützt werden können. Auch ist das 1998 verabschiedete Statut des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag bislang von drei Großmächten – Russland, China und den USA – nicht unterzeichnet worden. Eine Politik humanitärer Intervention, die „als gewaltsame Aktion ohne vorherige Einladung oder Zustimmung des Ziellandes mit dem Ziel des Schutzes grundlegender Menschenrechte“ durchgeführt wird, entspricht zwar der UN-Resolution Nr. 688 vom 5. April 1991 über die Einrichtung von Flugverbotszonen zum Schutz der Kurden im Nordirak. Sie ist aber auf den Widerspruch der „realistischen“ Schule in der Außenpolitik getroffen, die Eingriffe in die Ordnungen einzelner Länder ablehnt. Die Anhänger dieser Richtung vertreten weiterhin die Auffassung, 63 Zur terminologischen und konzeptionellen Differenzierung zwischen „Grundrechten“ und „Menschenrechten“ vgl. Arnd Pollmann, Menschenrechte, Grundrechte, Bürgerrechte, in: ders. / Georg Lohmann (Hg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2012, S. 129–136, bes. S. 129 f. 64 Dazu grundsätzlich: Oliver Lepsius, Sicherheit und Freiheit – ein zunehmend asymmetrisches Verhältnis in: Gunnar Folke Schuppert u. a. (Hg.), Der Rechtsstaat unter Bewährungsdruck, Baden-Baden 2010, S. 23–54; ders., Die Terrorismusgesetzgebung und das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in Deutschland, in: Beate Rosenzweig / Ulrich Eith (Hg.), Islamistischer Terrorismus. Hintergründe und Gegenstrategien, Schwalbach 2006, S. 119–149, bes. S. 134–136, 140.

68  2 Konzeptionelle Grundlage

dass Sicherheit im Wesentlichen von den nationalstaatlichen Regierungen gewährleistet werden kann und sollte. Ein transnationales Verständnis von Sekurität lehnen sie demgegenüber ab.65 Insgesamt hat sich die nationalstaatliche Souveränität damit in der völkerrechtlichen Entwicklung und Diskussion bis zur Gegenwart weitgehend behauptet, auch weil besonders der Einmarsch amerikanischer Truppen in den Irak ohne Mandat der Vereinten Nationen 2003 den humanitären Interventionismus nachhaltig beschädigt hat. Außerdem haben sich das Recht zum Krieg und das Recht im Krieg gegenläufig entwickelt. Obwohl der Stellenwert des humanitären Völkerrechtes seit dem frühen 20. Jahrhundert gewachsen ist, sind Kriege besonders von Staaten, die erhebliche Verpflichtungen hinsichtlich des ius in bello übernommen haben, kaum noch offiziell erklärt worden.66 Der hohe Stellenwert staatlicher Sicherheitspolitik ist auch in der Debatte und Forschung über failed states hervorgetreten. In Ländern wie Mali und dem Sudan, aber zuvor schon in Nigeria und Kambodscha hat die Erosion des staatlichen Gewaltmonopols wiederholt Bürgerkriege ausgelöst – eine Fragmentierung, die Thomas Hobbes angesichts blutiger Religionskriege im späten 17. Jahrhundert zur Forderung nach einer absolutistischen Staatsmacht geführt hatte. Zwar konnte dessen Gewaltmonopol auch in Rechtsstaaten gerade mit dem Hinweis auf die staatliche Schutzfunktion gerechtfertigt werden. Jedoch haben Verfassungen 65 Zitat: Matthew Jamison, Humanitäre Interventionen im Spiegel der britischen Politikdebatte – nationales Eigeninteresse oder international Verantwortung, in: Jörg Echternkamp / HansHubertus Mack (Hg.), Geschichte ohne Grenzen?, Europäische Dimensionen der Militärgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute, Berlin 2017, S. 317–324; Cristina Gabriela Badescu, Humanitarian Intervention and the Responsibility to Protect. Security and Human Rights, London 2011; Jean Quataert, Advocating Dignity: Human Rights Mobilizations in Global Politics, Philadelphia 2009; Peter Lieb, Völkerrecht und Verbrechen in europäischen Kriegen des 20. Jahrhunderts, in: Echternkamp / Mack (Hg.), Geschichte, S. 317–324, hier: S. 317. Vgl. auch Daniel Stahl / Annette Weinke, Intervening in the Name of Human Rights. On the History of an Argument, in: Frei / Stahl / Weinke (Hg.), Rights, S. 9–23, hier: S. 22; Stefan Weidemann, Das Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit als politikwissenschaftliches Forschungsfeld, in: Hans-Helmuth Gander / Gisela Riescher (Hg.), Sicherheit und offene Gesellschaft. Herausforderungen, Methoden und Praxis einer gesellschaftlichen Sicherheitsforschung, Baden-Baden 2014, S. 43–75; Gisela Riescher, Demokratische Freiheit und die Sicherheit des Leviathan, in: dies. (Hg.), Freiheit und Sicherheit statt Terror und Angst. Perspektiven einer demokratischen Sicherheit, Baden-Baden 2010, S. 11–24; Jan Eckel, Humanitarian Intervention as Global Governance. Western Governments and the Suffering of „Others“ before and after 1990, in: Frei / Stahl / Weinke (Hg.), Rights, S. 64–85, hier: S. 82 f.; Dülffer, Kriege, S. 9; Conze, Geschichte, S. 167. 66 Dazu als quantitativer Überblick aus politikwissenschaftlicher Perspektive: Tanisha M. Fazal, (Kein) Recht im Krieg? Nicht intendierte Folgen der Regelung bewaffneter Konflikte, Hamburg 2019, S. 142, 162.

2.1 Sicherheit



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auch Bürger vor Übergriffen staatlicher Institutionen geschützt. Die Einhegung der Macht von Regierungen und ihrer Sicherheitsapparate ist eine erhebliche politische Herausforderung geblieben, zumal öffentliche Einrichtungen im 20. Jahrhundert auch die Versorgung mit knappen und umkämpften Rechtsgütern wie Wohnraum und Gesundheit übernommen haben. Das Verhältnis zwischen Sicherheitsansprüchen und -konzepten einerseits sowie Freiheits- und Grundrechten andererseits bleibt angesichts dieser Dilemmata in der rechts- und politikwissenschaftlichen Forschung umstritten.67 Jedoch ist „Sicherheit“ in den letzten Jahren zu einem zentralen Paradigma politischer und gesellschaftlicher Diskurse, Praktiken und Maßnahmen geworden. Diese haben sich auf ein wachsendes Spektrum von Lebensbereichen bezogen. Der semantische Gehalt von „Sicherheit“ hat dabei ebenso variiert wie das darauf bezogene Handeln. Im 20. Jahrhundert vollzogen sich die tendenzielle Ausweitung der politischen Regelungen und die damit verbundenen Eingriffe in Menschenrechte grundsätzlich zwar sowohl in Diktaturen als auch in Demokratien; allerdings hat sich im Allgemeinen nur in demokratischen Systemen mit pluralistischen Gesellschaften und freier Öffentlichkeit eine offene Auseinandersetzung über die Balance zwischen staatlichen bzw. gesellschaftlichen Sicherheitsanforderungen einerseits und Freiheits- und Menschenrechten andererseits vollzogen. Dabei haben zivilgesellschaftliche Aktivisten vor einer ausufernden staatlichen Sicherheitspolitik gewarnt, vor allem hinsichtlich der Kompetenzen von Behörden zur gesellschaftlichen Kontrolle und ihrem Einfluss auf die Gesetzgebung gegen den Terrorismus. Jedoch ist Sicherheit besonders von staatlichen Akteuren als Menschenrecht definiert und für ihre Politik in Anspruch genommen worden. Der deutsche Verfassungsrechtler Josef Isensee hat 1982 sogar ein „Grundrecht auf Sicherheit“ gefordert. Mit den gesteigerten Sicherheitserwartungen ist allerdings zugleich die Unsicherheit gewachsen. Die Regierungen, die damit in eine Anspruchsfalle geraten sind, haben zudem Einfluss an grenzüberschreitend agierende wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteure wie mächtige Internetunternehmen verloren, die z. T. ihrerseits Bürgerund Menschenrechte bedrohen.68 67 Gert-Joachim Glaeßner, Sicherheit und Freiheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 52, Nr. 10–11 / 2002, S. 3–13, hier: S. 4, 7 f., 11 f.; Cristina Gabriela Badescu, Humanitarian Intervention and the Responsibility to Protect. Security and Human Rights, London 2011; Quataert, Dignity; Lieb, Völkerrecht, S. 89–98, hier: S. 97 f.; Eckel, Intervention, S. 84 Überblick in: Weidemann, Verhältnis, S. 43–75; Riescher, Freiheit; Dülffer, Kriege, S. 9. 68 Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin 1983. Vgl. auch Manuel Fröhlich / Jan Lemanski, Human Security: The Evolution of a Concept and its Doctrinal as well as Institutional Manifestations, in: Christoph Schuck / Mark Ahrenhövel (Hg.), Security in a Global Environment. Challenging the Human

70  2 Konzeptionelle Grundlage

2.2 Humanität und Menschenrechte Begriffe Die Akteure, die sich von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 in den kriegführenden Ländern, aber auch in internationalen Organisationen und neutralen Staaten für eine humane Behandlung ziviler und militärischer Feindstaatenangehöriger einsetzten, bezogen sich damit über nationalstaatliche Grenzen hinweg auf politische Ideale wie Zivilität, staatsbürgerliche Freiheiten und Demokratie, vielfach aber auch auf „Humanität“. So bezeichnete der US-Botschafter in London, Walter Hines Page (1855–1918), im Dezember 1914 den Vorschlag seines Rechtsberaters, in den kriegführenden Staaten regelmäßige Inspektionen durchzuführen, als einen „historic act of humanity“.69 Auch darüber hinaus wurden im frühen 20. Jahrhundert die Begriffe „Humanität“ bzw. „humanity“ in verschiedenen Sprachen verwendet, so von Völkerrechtlern und in der diplomatischen Korrespondenz. Damit sollte ein Umgang mit Feindstaatenangehörigen bezeichnet werden, der zivilgesellschaftlichen Mindeststandards entsprach.70 Allgemein bezeichnet der Terminus „Menschheit“ einerseits die „Natur“ des Menschen (als Naturwesen und seinem selbstbestimmten Zweck), andererseits aber auch die Gesamtheit aller Menschen. „Humanitas“ wurde in der römischen Republik als aristokratisches Ethos auf die bestehende Rechts- und Sozialordnung bezogen. Seit dem 3. und 4. Jahrhundert rückte dabei unter dem Einfluss des biblisch-theologischen Menschenbildes die Unvollkommenheit des Menschen als Geschöpf Gottes in den Mittelpunkt. Im 16. Jahrhundert entstand aus „humanitas“ das deutsche Wort „humanitet“ mit sozialethischer Bedeutung. Der theologische Begriff des Mittelalters trat in den darauffolgenden beiden Jahrhunderten zurück, als sich die neuzeitliche Subjektivität herausbildete. Die Aufklärer beanspruchten erstmals Freiheitsrechte gegenüber dem absolutis-

Security Approach, Baden-Baden 2011, S. 21–49; Christopher Daase, Die Historisierung der Sicherheit. Anmerkungen zur historischen Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 387–405; Glaeßner, Sicherheit, S. 10–13; Henne, „Security turns its eye exclusively to the future“, S. 15, 23; Conze, Geschichte, S. 155 f. 69 Zitat: Speed, Prisoners, S. 24. 70 Bruno Cabanes, The Great War and the Origins of Humanitarianism 1918–1924, Cambridge 2014, S. 57. Zur Verwendung von „humanity“ vgl. z. B. United States Department of State, Papers Relating to the Foreign Relations of the United States (FRUS), 1915, Supplement, The World War. U. S. Government Printing Office, Washington 1928, S. 395 („rules of […] humanity“), 436–438, 463 („principles of humanity“), 437 („rights of humanity“), 1013 („servant of humanity“), 1021 („general interest of humanity“). Vgl. auch Caglioti, Aliens, S. 456.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

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tischen Staat. Um 1840 vollzog sich ein einschneidender Bruch mit der theologischen und philosophischen Tradition. Der Mensch wurde nunmehr auf sich selbst gestelltes Wesen verstanden. Zugleich verbreitete sich „Humanismus“ als Bezeichnung menschlichen Verhaltens und bald auch als pädagogisches Leitziel. Mit dem europäischen Imperialismus ging zwar die Vorstellung von der Einheit des Menschengeschlechtes über nationalstaatliche Grenzen hinaus einher. Andererseits hierarchisierten die Kolonisatoren die Völker. Dem Bezug auf humanitäre Normen blieb der Hinweis auf „Menschenrechte“ im Ersten Weltkrieg noch untergeordnet. Der letztere Begriff wurde nur von wenigen Akteuren verwendet, so von dem Rechtswissenschaftler Louis Renault (1843–1918), der im Herbst 1914 in der Académie des Sciences Morales et Politiques über das Verhältnis zwischen Krieg und Menschenrechten im 20. Jahrhundert sprach.71 Humanität und Menschenrechte sind aber unterschiedlich interpretiert und implementiert worden, und Aktivisten haben sie widersprüchlich auf vorangegangene, ähnliche Vorstellungen bezogen. Seit dem 19. Jahrhundert ist der universalistische Anspruch dabei – in unterschiedlichem Ausmaß – auf kulturrelativistische Einwände getroffen. Dabei hat der Verweis auf besondere kulturelle Traditionen einen besonders hohen Stellenwert eingenommen. Er verdeckt aber oft auch machtpolitische Ziele und Motive der jeweiligen Eliten und Regierungen. Eine hier vorgenommene Historisierung der Menschenrechte vermag die skizzierten Zusammenhänge, Konstellationen und Kontexte freizulegen, zumal schon die Vorstellung der Menschenwürde tief in der Geschichte verwurzelt ist. Zudem hat die neuere Forschung betont, dass die Leitvorstellung allgemeiner Menschenrechte seit dem späten 18. Jahrhundert eng auf Bemühungen zur Einhegung bewaffneter Konflikte bezogen worden ist. So diente Humanität in den beiden Weltkriegen als allgemeiner Bezugsrahmen, hinter dem sich aber unterschiedliche Vorstellungen der beteiligen Akteure – so Opfer, Juristen und karitative Organisationen – verbargen.72

71 Cabanes, Great War, S. 57; Bödeker, Artikel „Menschheit, Humanität, Humanismus“, S. 1064–1067, 1072, 1075, 1079, 1084, 1089, 1112, 1121, 1121. 72 Arnd Pollmann, Der menschenrechtliche Universalismus und seine relativistischen Gegner, in: ders. / Lohmann (Hg.), Menschenrechte, S. 331–338; Stéphane Audoin-Rouzeau / Annette Becker, 14–18. Understanding the Great War, New York 2002, S. 54; Christopher McCrudden, Human Rights Histories, in: Oxford Journal of Legal Studies 2014, S. 1-35, hier: S. 3, 14; Dülffer, Kriege, S. 4; Joas, Sakralität.

72  2 Konzeptionelle Grundlage

Entstehung und Aufstieg des Humanitarismus Die Herausbildung eines transnationalen Menschenrechtsdiskurses ist aus einem langen Prozess hervorgegangen, der sich aber keineswegs linear vollzogen hat. Die Diskurse über die Gewährung gleicher menschlicher Rechte und die Beseitigung menschlichen Leids sind jedoch analytisch voneinander zu unterscheiden. Im Gegensatz zur Menschenrechtssprache begründet der Humanitarismus keine Rechtsansprüche. Dessen Entwicklung war aber eng mit Überlegungen zu Menschenrechten verbunden. Bereits im moralischen Universalismus, der sich in der „Achsenzeit“ (800 bis 200 v. Chr.) herausbildete, war das Konzept der Menschenwürde verwurzelt. Allerdings konnte sich das emanzipatorische Potential, das in der Sakralisierung der Person begründet war, lange nicht entfalten, da es u. a. durch kulturelle Überlegenheitsansprüche der Europäer bzw. der westlichen Welt überformt und relativiert wurde.73 Auch ist „das Moralische“ zu historisieren und besonders im Hinblick auf Aushandlungsprozesse und Konflikte zwischen spezifischen Akteuren über zivilgesellschaftliche Normen wie „Würde“ und „Anerkennung“ zu untersuchen. Damit können nicht nur die Handlungen erfasst und bestimmt werden, die jeweils von einzelnen Gruppen oder Menschen als „moralisch“ bewertet worden sind, sondern es tritt auch die emotionale Grundierung moralischer Forderungen hervor.74 Außer der Entwicklung zentraler Normen sind aber auch politische und gesellschaftliche Prozesse zu betrachten, die besonders das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten betroffen haben. Mit der Trennung von Göttlichem und Irdischen wurde im Mittelalter erstmals Herrschaftskritik möglich. Nachdem die Magna Charta 1215 den englischen Adligen politische Freiheiten gewährt und damit die Macht des Königs eingeschränkt hatte, musste Karl II. am 27. Mai 1679 den Habeas Corpus Amendment Act unterzeichnen. Nach diesem Gesetz waren Inhaftierte innerhalb von drei Tagen einem Richter vorzuführen, und sie durften nicht außer Landes gebracht werden. Verstöße konnten mit hohen Geldstrafen geahndet werden. Diese Beschränkungen der Macht von Herrschern basierten auf dem Konzept der Menschenwürde und der naturrechtlichen Begründung von Regierungen, denen John Locke (1632–1704) den Schutz 73 Die Darstellung folgt hier: Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich? München 2015, bes. S. 11–29; ders., Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, bes. S. 23–39. Vgl. auch Fabian Klose, „In the Cause of Humanity“. Eine Geschichte der humanitären Intervention im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2019, S. 78; Philipp Kandler, Literaturbericht. Neue Trends in der „neuen Menschenrechtsgeschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft 45 (2019), S. 297–319, hier: S. 300 f. 74 Habbo Knoch / Benjamin Möckel, Moral History. Überlegungen zu einer Geschichte des Moralischen im „langen“ 20. Jahrhundert, in: Zeithistorische Forschungen 14 (2017), S. 93–111.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

73

der Naturrechte, des Lebens und der Freiheit auferlegte. Aber erst die Aufklärung, der Kampf gegen die Sklaverei und der Protest gegen die Folter im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert führten eine breitere Mobilisierung zugunsten der Menschenwürde herbei.75 Sie basierte auf neuen Narrativen, die – so in Berichten von Medizinern über Autopsien und Untersuchungskommissionen zu den Arbeitsverhältnissen in Bergwerken – den leidenden Körper zum Bezugspunkt zeitgenössischer Besorgnisse erhoben. Diese Texte erregten in einzelnen Gruppen der Leserschaft, die in der Aufklärung für rationale Ursachen konkreter Missstände sensibilisiert worden war, ein Mitgefühl, das z. T. Handeln zugunsten der Opfer auslöste. In diesem Kontext entstand im späten 18. Jahrhundert in England der Begriff „humanitarianism“, der allerdings erst rund ein Jahrhundert später definiert wurde. Der britische Reformer Henry S. Salt (1851–1939) erklärte 1891, als er die Humanitarian League gründete: „… by humanitarianism, I mean nothing more and nothing less than the study and practice of humane principles – of compassion, love, gentleness, and universal benevolence“. Diese idealisierende Definition verdeckte, dass das Selbstverständnis der Humanitaristen im 19. und frühen 20. Jahrhundert eng an Vorstellungen abendländischer Entwicklung und europäischer Zivilisation gebunden blieb.76 Der humanitäre Impuls hat auch über diese Grenze hinaus Abwehr ausgelöst, besonders wenn das Leiden anderer als abstrakt und weit entfernt wahrgenommen worden ist. In der Aufklärung betonten die tragenden Akteure der „humanitarian revolution“ deshalb Empathie, die Fürsorge, Philanthropie und Solidarität begründen sollte. Zudem hat humanitäres Engagement die Personen, denen jeweils Hilfe gewährt worden ist, lange als passive Opfer verstanden und gefasst, nicht aber als aktiv Handelnde. Zahlreiche Studien zu humanitärer Fürsorge weisen deshalb eine verengte Perspektive und verkürzende Interpretationen auf, indem sie sich auf die Personen konzentrieren, die Unterstützung empfangen. Demgegenüber haben sie Interessen der Hilfsorganisationen und Konflikte zwischen ihnen ausgeblendet. Zudem hat sich Humanität als variables, dehnbares und vieldeutiges Konzept erwiesen, das verschiedene Akteure jeweils für ihre Ziele eingesetzt haben, so als kollektive Appellationsinstanz. Es

75 Geoffrey Hindley, A Brief History of the Magna Carta. The Story of the Origins of Liberty, London 2008; Peter Stamatov, The Origins of Global Humanitarianism. Religion, Empires, and Advocacy, Cambridge 2013, S. 175. Umfassend: Jenny S. Martinez, The Slave Trade and the Origins of International Human Rights Law, Oxford 2012. Vgl. auch Philip Alston, Does the Past Matter? On the Origins of Human Rights, in: Harvard Law Review 126 (2013), S. 2043–2081. 76 Henry S. Salt, Humanitarianism: Its General Principles and Progress, London 1891, S. 3, Zitat: Klose, „In the Cause of Humanity“, S. 70 (Anm. 117). Vgl. auch Kelly, Activity, S. 9.

74  2 Konzeptionelle Grundlage

hat durchweg politische Ziele, moralische Ansprüche und rechtliche Normen miteinander verschränkt.77

Menschen- und Bürgerrechte und das Engagement früher religiös-humanitärer Organisationen Mit dem Aufstieg des Humanitarismus ging die Kodifizierung von Bürger- und Menschenrechten einher. Die Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776 und die 1789 von den französischen Revolutionären verabschiedete Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen waren für die weitere Entwicklung wichtige Marksteine und Bezugsgrößen. Zugleich wurde „humanity“ zu einem Begriff des politischen Diskurses, wie ein Urteil des Königlichen Gerichtshofes (Court of King’s Bench) 1803 zeigte. Es verpflichtete die britischen Behörden, allen Bedürftigen – auch Ausländern – als „law of humanity“ Leistungen der Armenfürsorge zur Verfügung zu stellen.78 Allerdings kann nicht von einer ungebrochenen Ausbreitung von Humanität und Menschenrechten seit dem späten 18. Jahrhundert gesprochen werden, wie die – inzwischen allerdings sterile – Debatte über Zäsuren in deren Entwicklung gezeigt hat. „Menschenrechte“ waren in den Erklärungen des 18. Jahrhunderts konkret auf die bürgerliche Gesellschaft bezogen und damit keineswegs universell. Auch in den darauffolgenden Jahrzehnten gründeten das Engagement für Menschenrechte und die Forderung nach „Humanität“ allenfalls partiell auf universellen Werten. Im Allgemeinen blieb es auf Forderungen für einzelne Gruppen und Kampagnen wie den Kampf gegen den Sklavenhandel begrenzt. Darüber hinaus verlangten Abolitionisten – so der englische Jurist Henry Wheaton (1785–1848) – in den 1840er Jahren die

77 Thomas W. Laqueur, Bodies, Details, and the Humanitarian Narrative, in: Lynn Hunt (Hg.), The New Cultural History, Berkeley 1989, S. 176–204, bes. S. 176–179, 193, 195, 202–204; Fabian Klose / Mirjam Thulin, Introduction: European Concepts and Practices of Humanity in Historical Perspective, in: dies. (Hg.), Humanity. A History of European Concepts in Practice from the Sixteenth Century to the Present, Göttingen 2016, S. 9–25, hier: S. 11, 13, 15 (Zitat), 24; Paul Betts, Universalism and its Discontents. Humanity as a Twentieth-Century Concept, in: ebd., S. 53, 62; Johannes Paulmann, Humanity – Humanitarian Reason – Imperial Humanitarianism. European Concepts in Practice, in: ebd., S. 290, 293, 299, 304; Vaughan Robinson, The Nature of the Crisis and the Academic Response, in: ders. (Hg.), The International Refugee Crisis. British and Canadian Responses, London 1993, S. 3–13, hier: S. 8 f.; Tony Kushner, Remembering Refugees – Then and Now, Manchester 2006, S. 45; Panayi, Immigration, S. 2. 78 Report from the Select Committee on Poor Removal; Together with the Proceedings of the Committee, Minutes of Evidence, Appendix, and Index (Parliamentary Papers, 1854, XVII), S. 471 f., Zitat: Fahrmeir, Passports, S. 112 f.

2.2 Humanität und Menschenrechte



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Befreiung aller Sklaven. Die Gewalt gegenüber diesen Opfern stigmatisierten sie bereits als „crimes against humanity“.79 Auch das Konzept der humanitären Intervention entstand schon im 19. Jahrhundert. Eingriffe zur Beseitigung der kritisierten Missstände wurden allerdings nicht universalistisch verstanden, wie der Hinweis auf die „Zivilisation“ zeigt. Bereits seit dem 16. Jahrhundert waren Rechte von Völkern an das Christentum gebunden und daraus das Recht (und die Pflicht) zur Mission abgeleitet worden. Davon noch beeinflusst, bezeichnete das neue Konzept der „Zivilisation“ im 19. Jahrhundert spezifische Forderungen, die an Staaten gerichtet wurden (wie die Sicherung von Grundrechten). Daraus ergaben sich Herrschaftsansprüche und der Geltungsbereich des Völkerrechtes, dessen normative Kraft auf der Vorstellung vom Fortschritt der Menschheit basierte. Vor allem galten zivilisatorische Standards, die besonders auf dem Konzept souveräner Staatlichkeit beruhten, für die Anerkennung von Staaten als unabdingbar. Die globale Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Regierungen vollzog sich damit „im Medium des europäischen Völkerrechts“. In diesem Rahmen sollte der Hinweis auf „crimes against humanity“ den politischen und juristischen Kampf gegen die Sklaverei – so mit der Einrichtung binationaler Gerichtshöfe von 1817 bis 1871 – moralisch legitimieren. Ein umfassendes rechtliches Konzept hatte sich damit aber noch nicht herausgebildet.80 Außerdem entwickelte sich mit dem Aufstieg des modernen Nationalismus und Imperialismus eine Spannung zwischen moralischem Universalismus und nationalen Eigenheiten. „Herrenlose Souveränität“ war dem völkerrechtlichen Schutz entzogen. Dies ermöglichte Kolonialmächten, in den von ihnen beherrschten Territorien Eigentum – vor allem von Nicht-Christen – zu beschlagnahmen. Außerdem griffen sie in die inneren Angelegenheiten abhängiger Staaten ein. Mit der Doktrin „herrenloser Souveränität“ rechtfertigten die europäischen Großmächte, die ihrerseits Interventionen ausländischer Regierungen ablehnten, sogar die Forderung nach Gleichstellung von Christen und Musli79 Kandler, Literaturbericht, S. 298; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 40–50, 58–61; Bödeker, Artikel „Menschheit, Humanität, Humanismus“, S. 1106; Klose, „In the Cause of Humanity“, S. 70–82; ders., Protecting Universal Rights, S. 170 f. Zur Kampagne der Abolitionisten im Namen der Humanität: Fabian Klose, „A War of Justice and Humanity“: Abolition and Establishing Humanity as an International Norm, in: ders. / Thulin (Hg.), Humanity, S. 169–186. 80 Zitat: Marcus M. Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2018, S. 44. Vgl. auch Jörg Fisch, Internationalizing Civilization by Dissolving International Society. The Status of Non-European Territories in Nineteenth-Century International Law, in: Martin Geyer / Johannes Paulmann (Hg.), The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, Oxford 2001, S. 235-257, hier: S. 246–248, 256.

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men im Osmanischen Reich. Die Souveränität dieses Imperiums war von den europäischen Imperien schon während des Freiheitskampfes der Griechen massiv verletzt worden. Als osmanische Truppen im April 1876 aufständische Bulgaren massakrierten, benutzte das Russische Zarenreich dies als Rechtfertigung dafür, der Hohen Pforte den Krieg zu erklären. Auch andere europäische Großmächte legitimierten den russischen Angriff als humanitäre Intervention, um die Rechte von Christen und den zivilisatorischen Fortschritt zu sichern.81 Pazifistische Vereine und Verbände mussten ihre Unterstützung, die sie als grenzüberschreitende Aufgabe verstanden, seit dem 19. Jahrhundert z. T. auf die Anforderungen der jeweiligen nationalen Regierungen ausrichten. Dies gilt auch für Hilfsorganisationen wie die Mitte des 17. Jahrhunderts entstandene Religious Society of Friends. 1666 war der Anwalt William Penn (1644–1718) dieser „Gesellschaft der Freunde“ beigetreten, deren Angehörige von Gegnern „Quäker“ (von quake: „erheben“) genannt wurden. Das Engagement der Glaubensbrüder war vorrangig religiös motiviert. Die Quäker proklamierten die Rückkehr zu einem idealisierten Urchristentum, in dem alle Menschen gleichgestellt sein sollten. Penn, George Fox (1624–1691) und ihre Anhänger engagierten sich in Nordamerika besonders für die Würde und Rechte der Indianer. Demgegenüber wurden die Afrikaner, deren Zahl mit dem transatlantischen Sklavenhandel zunahm, zunächst wenig beachtet. Über die entstehenden USA hinaus bildete die Society of Friends in Großbritannien und in anderen westlichen Ländern Gemeinschaften. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kämpften die Quäker auch gegen die Sklaverei. In Pennsylvania, wo William Penn 1682 eine Siedlung gegründet hatte, bemühte sich die „Gesellschaft der Freunde“, leitende britische Kolonialbeamte für ihre Ziele zu gewinnen. Der Lobbyismus erstreckte sich auch auf das Handelskomitee (Board of Trade; später Handelsministerium) in London. Im späten 18. Jahrhundert wurde die britische Hauptstadt zu einem Zentrum der grenzüberschreitenden humanitären Bewegung, wie auch die Bildung der British and Foreign Antislavery Society 1839 zeigte. Diese Organisation hob auf menschliche Würde ab und verwies insofern auf die späteren Aktivitä-

81 Vgl. Dieter Gosewinkel, Introduction. Histoire et fonctions de la propriété, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 61 (2014), Nr. 1, S. 7–25, hier: S. 14, 17; Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 478, 482–491, 494, 497; ders., Civilization, S. 248, 252; Mark Swatek-Evenstein, A History of Humanitarian Intervention, Cambridge 2020, S. 118–120, 126, 153; Marco Duranti, European Integration, Human Rights and Romantic Internationalism, in: Nicholas Doumanis (Hg.), The Oxford Handbook of European History, 1914–1945, Oxford 2016, S. 440–458, hier: S. 449; Klose, „In the Cause of Humanity“, S. 43, 46, 442; Schulz, Cultures, S. 27–29.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

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ten des IKRK seit den 1860er Jahren. Insgesamt war ein Netzwerk entstanden, das im 19. Jahrhundert zur Entstehung einer transnationalen Zivilgesellschaft beitrug. In den beiden Weltkriegen sollte die Gewalt gegen Zivilisten schließlich Bemühungen von Vertretern humanitärer Organisationen, Politikern und Völkerrechtlern vorantreiben, die Auswirkungen bewaffneter Konflikte zu begrenzen.82

Die Herausbildung des humanitären (Kriegs-)Völkerrechts, Abkommen und Organisationen im 19. Jahrhundert Wichtige Impulse zur Bändigung von Kriegen gingen auch von der Entfaltung des Völkerrechts aus, das hier deshalb in die Darstellung einbezogen werden muss. Schon in der Römischen Republik band vor allem Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) in seinem Werk De re publica (geschrieben 52 v. Chr.) den gerechten Krieg (bellum iustum) an spezifische materielle Voraussetzungen und Formalien, die eingehalten werden mussten (so die Forderung nach Rückgabe von Eigentum und eine Kriegserklärung). Der Kirchenvater Augustin (354–430 n. Chr.) griff dieses Konzept auf; er ließ jedoch allenfalls einen bellum iustum zur Herstellung des irdischen Friedens zu, den aber erst der himmlische Friede vollende. Daran anschließend, entwickelte der Philosoph und Rechtsgelehrte Hugo Grotius (1583–1645) die Grundlagen eines „Rechtes im Krieg“ (ius in bello). Er legte den Staatenbeziehungen das Naturrecht zu Grunde. Diese Auffassung richtete sich gegen das Konzept des positiven Rechts und gründete auch auf religiösen und humanistischen Überzeugungen. Grotius lehnte die von seinem Zeitgenossen Thomas Hobbes vertretene Souveränitätsdoktrin ab, die den Herrschern rechtliche Immunität verlieh. Demgegenüber hielt er Interventionen bei schweren Verletzungen des Naturrechtes für gerechtfertigt. Damit ging die Forderung einher, Kriege durch Regeln zu bändigen. So sprach sich Grotius erstmals für einen Austausch von Gefangenen aus, die außerdem rücksichtsvoll behandelt werden sollten. Darüber hinaus verlangte er, in Kriegen Leben und Ei-

82 Daniel Roger Maul, American Quakers, the Emergence of International Humanitarianism, and the Foundation of the American Friends Service Committee, 1890–1920, in: Johannes Paulmann (Hg.), Dilemmas of Humanitarian Aid in the Twentieth Century, Oxford 2016, S. 63–87, hier: S. 65, 86; Holger Nehring, Europäische Friedensbewegungen seit dem 19. Jahrhundert, in: Echternkamp / Mack (Hg.), Geschichte ohne Grenzen?, S. 99–110, hier: S. 99–101; Forsythe, Humanitarians, S. 14; Stamatov, Origins, S. 104 f., 114, 121–123, 175–182; Proctor, Civilians, S. 185. Grundlegend: William Penn, Früchte der Einsamkeit. Reflexionen und Maximen über die Kunst der Lebensführung, hg. von Jürgen Overhoff, Stuttgart 2018.

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gentum zu schonen, auf Geiselnahmen zu verzichten und kein Lösegeld zu fordern. Damit begründete Grotius das humanitäre Kriegsvölkerrecht.83 Darauf baute der Rechtsgelehrte Emeric de Vattel (1714–1767) auf, der sich 1758 in seinem Werk Le droit des gens ebenso gegen eine Überführung gegnerischer Offiziere und Soldaten in die Sklaverei wandte. Auch war Angehörigen von Kriegsgegnern nach Vattel eine Frist einzuräumen, in der sie das jeweilige Land verlassen durften. Diejenigen, die dies nicht wollten oder konnten, durften keineswegs unbegrenzt festgehalten werden; vielmehr mussten sie spätestens nach dem Ende von bewaffneten Konflikten freigelassen werden. Generell sollten Zivilisten in Kriegen geschont und nach den Grundsätzen von Recht und Menschlichkeit behandelt werden. Ähnlich wie Samuel Johnson (1709–1784) in seinem Dictionary of the English Language (1755) betrachtete Vattel dieses rücksichtsvolle Verhalten als Verpflichtung aller Menschen und Völker (offices d’humanité), die damit nach seiner Auffassung in einem wechselseitigen Verpflichtungsverhältnis miteinander verbunden waren.84 Damit hatte die Aufklärung dem humanitären Völkerrecht kräftige Impulse verliehen. Es sollte letztlich eine rationale Regierung von Territorialstaaten ermöglichen und die Verhältnisse in ihnen ebenso verbessern wie die Beziehungen zwischen ihnen. So trennte Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) erstmals klar zwischen individueller Feindschaft und militärischen Konflikten zwischen Staaten. Wie er 1762 unterstrich, wurden Personen zwar als Verteidiger ihres Landes Gegner, nicht aber einfach als Angehörige von Staaten. Menschen, die nicht (mehr) für eine Militärmacht kämpfen, waren deshalb zu schützen. Diese Auffassung, mit der Rousseau Kombattanten von Nichtkombattanten abhob, schlug sich 1785 in dem Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen Preußen und den Vereinigten Staaten von Amerika nieder, in dem Besuchsrechte von Gesandten beider Staaten bei den Gefangenen im jeweils gegnerischen Land festgelegt wurden. Deshalb sollten Soldaten, die sich ergeben hatten, nicht mehr in entlegenen Gebieten eingekerkert werden. Ein Dekret der französischen Nationalversammlung legte 1792 außerdem fest, dass Gefangene geschont, ge83 Überblick in: Laurent Ditmann, Grotius, Hugo (Huigh de Groot) (1583–1645), in: Jonathan F. Vance (Hg.), Encyclopedia of Prisoners of War and Internment, Santa Barbara 2000, S. 120 f.; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 62–65; Klose, „In the Cause of Humanity“, S. 56. Zur Entwicklung in der Antike und im Mittelalter vgl. Ernst Baltrusch, Bünde und Reichsbildung in der Antike, München 2008, S. 35 f., 127–129; Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 10–13, 39. 84 Klose / Thulin, Introduction, S. 14 f.; Paulmann, Humanity, S. 297 f.; Patrick M. O’Neil, Vattel, Emmerich de (1714–1767), in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 302; Tony Dawes, International Law, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 145–147.

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schützt und auf Bewährung freigelassen werden mussten, wenn sie versprachen, sich aus Kämpfen herauszuhalten. Im darauffolgenden Jahr kündigte der Nationalkonvent darüber hinaus sogar erstmals einen individuellen Gefangenenaustausch Mann für Mann an. Dies hielt Napoleon jedoch nicht davon ab, 1799 in Jaffa rund 3.500 arabische Gefangene zu exekutieren. Damit waren die Grenzen völkerrechtlicher Normen früh deutlich geworden.85 Der Nationalismus, die Einführung der Wehrpflicht, die damit einhergehende Aufstellung von Bürgerheeren und umfangreicher Reserveeinheiten radikalisierten und entgrenzten seit dem frühen 19. Jahrhundert die Kriegführung. Militärische Kategorien und Denkfiguren beeinflussten das gesellschaftliche Leben und auch den Alltag von Zivilisten, die zu potentielle Soldaten geworden waren. Als militärische Ressourcen verstanden, mutierten auch sie im totalen Krieg zu „Feinden“, wenn sie in gegnerischer Hand waren. Zugleich band das Konzept der „Nation in Waffen“ die Staatsbürgerschaft an den Kriegsdienst. Von Zivilisten an der „Heimatfront“ wurde nun unbedingte Loyalität gegenüber der eigenen Nation gefordert und erwartet. Juristen gestanden kriegführenden Staaten daraufhin das Recht zu, wehrfähige Männer an der Rückkehr in ihre Heimat zu hindern. So ließ Napoleon von 1803 bis 1814 in Frankreich rund 10.000 Briten internieren, oft – wie bis ins 19. Jahrhundert üblich – in Gefängnissen und auf Schiffen. Die britische Regierung griff von 1803 bis 1814 ihrerseits 1.557 französische Zivilisten auf, die meisten von ihnen auf hoher See. Die neue Praxis der Kriegführung nationalstaatlicher Regierungen traf auf eine traditionale Diplomatie, die den veränderten Anforderungen nicht mehr gewach-

85 Stephen C. Neff, Prisoners of War in International Law. The Nineteenth Century, in: Scheipers (Hg.), Prisoners, S. 59–73, hier: S. 64; Jonathan F. Vance, Decree Concerning Prisoners of War (1792), in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 73 f.; Rainer Pöppinghege, Im Lager unbesiegt. Deutsche, englische und französische Kriegsgefangen-Zeitungen im Ersten Weltkrieg, Essen 2006, S. 43 f.; William B. Cohen, Epilogue: The European Comparison, in: Lawrence J. Friedman / Mark D. McGarvie (Hg.), Philanthropy, and Civility in American History, Cambridge 2003, S. 385–412, hier: S. 396, 398; Matthew Stibbe, Civilian Internment and Civilian Internees in Europe, 1914–20, in: Immigrants and Minorities 26 (2008), Nr. 1–2, S. 49–81, hier: S. 55; Jörg Fisch, Völkerrecht, in: Dülffer / Loth (Hg.), Dimensionen, S. 151–168, hier: S. 155; Uta Hinz, Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921, Essen 2006, S. 44 f.; Oliver Diggelmann, Völkerrecht und Erster Weltkrieg, in: Andreas Thier / Lea Schwab (Hg.), 1914, Zürich 2018, S. 105–132, hier: S. 123; Martti Koskenniemi, A History of International Law Histories, in: Bardo Fassbender / Anne Peters (Hg.), The Oxford Handbook of the History of International Law, Oxford 2012, S. 943–971, hier: S. 950. Vgl. auch Jean Spiropoulus, Ausweisung und Internierung feindlicher Staatsangehöriger, Leipzig 1922, S. 11 f., 95 f.; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 63. Zu Rousseau: Amanda Alexander, The Genesis of the Civilian, in: Leiden Journal of International Law 20 (2007), S. 359–376, hier: S. 361 (hier allerdings mit falscher Jahresangabe).

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sen war. Dieses grundsätzliche Problem verlieh den Anhängern einer Transformation des Völkerrechts von einem Rahmen regionaler Konventionen zu einem formalen System abstrakter Regeln kräftig Auftrieb und Unterstützung. Damit sollten der rapide Wandel der Kriegführung und die zunehmenden grenzüberschreitenden Verflechtungen berücksichtigt werden.86 Damit einhergehend, dominierte zusehends ein positivistisches Rechtsverständnis, dessen Vertreter naturrechtliche Normen ablehnten und stattdessen anstrebten, dem Völkerrecht eine wissenschaftliche Basis zu verleihen. Dabei beriefen sie sich entweder auf die Praxis der staatlichen Jurisdiktion, einen gemeinsamen Willen auf der Basis von Vereinbarungen oder das Prinzip der Souveränität. Als Vorbild galt das Zusammenleben in der bürgerlichen Gesellschaft auf der Grundlage der Aufklärung. Die Rechtspositivisten begrenzten das Völkerrecht auf die Aufgabe, Konflikte zwischen Staaten zu lösen. Dazu war Krieg zwar grundsätzlich erlaubt, aber nur als letztes Mittel. Demgegenüber vertraten Juristen, die am Naturrecht festhielten, ein „Weltbürgerrecht“, so Johann Caspar Bluntschli (1808–1881). Auf dieser Grundlage befürwortete er ebenso wie Gustave Rolin-Jaequemyns (1835–1902) und Gustave Moynier (1826–1910) ein Recht zur Intervention in souveräne, „zivilisierte“ Staaten, um Massaker zu unterbinden. Bluntschli und sein in Brüssel lehrender Kollege Aegidius Arntz (1812–1884) bekannten sich auch bereits zum Schutz der „Menschenrechte“ („droits de l’humanité“). Allerdings blieb die Verwendung dieser Begriffe im 19. Jahrhundert noch vage, zumal sie nicht rechtlich kodifiziert waren.87

86 Angaben nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 8. Dazu grundsätzlich: Payk, Frieden durch Recht?, S. 76, 656; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2011). Vgl. auch Arthur Page, War and Enemy Aliens. The Law Affecting Their Personal and Trading Rights and Herein of Contraband of War and the Capture of Prizes at Sea, London 21915, S. 18 f.; Alon Rachamimov, POWs and the Great War. Captivity on the Eastern Front, Oxford 2002, S. 70; Christoph Dieckmann / Babette Quinkert, „Kriegsnotwendigkeiten“ und die Eskalation der deutschen Massengewalt im totalen Krieg, in: dies. (Hg.), Kriegführung und Hunger 1939–1945. Zum Verhältnis von militärischen, wirtschaftlichen und politischen Interessen, Göttingen 2015, S. 9–32, hier: S. 14 f.; Spiropoulus, Ausweisung, S. 16–18; Stibbe, Civilian Internment and Civilian Internees, S. 51; Lieb, Völkerrecht, S. 89 f.; Diggelmann, Völkerrecht, S. 123; Echternkamp / Mack, Militärgeschichte, S. 14; Nehring, Friedensbewegungen, S. 102. 87 Johann Caspar Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der civilisierten Staten als Rechtsbuch dargestellt, Nördlingen 1872, S. 20, 265, 269; Gustave Rolin-Jaequemyns, Note sur la Théorie du Droit d’Intervention: À propos d’une lettre de M. le professeur Arntz, in: Revue de Droit International et de Législation Comparée 8 (1876), S. 675, beide Zitate: Klose, Emergence, S. 18. Vgl. auch Daniel Marc Segesser, Humanitarian Intervention and the Issue of State Sovereignty in the Discourse of Legal Experts Between the 1830s and the First World War, in: Klose (Hg.), Emergence, S. 61 f., 71; Payk, Frieden durch Recht?, S. 30 f.; 656.

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Andere Rechtsgelehrte wie Lorenz von Stein (1815–1890) setzten auf Solidarität in der internationalen Gemeinschaft oder forderten, die Handlungsmacht der einzelnen Menschen zu stärken. Vor allem diese liberalen Rechtswissenschaftler, die sich für individuelle Autonomie einsetzten, wandten sich gegen die Fixierung auf den Staat. Zugleich lehnten sie die historische Schule des Rechts ab, die von Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) begründet wurde. Diese betonte unterschiedliche, in allen Nationen spezifische Kontexte und befürwortete damit ein pluralistisches Verständnis. Auch wiesen sie Savignys strikte Trennung von privatem und öffentlichem Recht zurück. Demgegenüber bestanden besonders der italienische Rechtswissenschaftler Pascale Fiore (1837–1914) und der russisch-estnische Diplomat und Jurist Fedor Fedorovich Martens (1845–1909), der „Humanität“ als Quelle von Recht definierte, auf universellen, unveräußerlichen und von Regierungen unabhängigen Menschenrechten.88 Obgleich sie den Einfluss der vorherrschenden positivistischen Rechtsauffassung nicht brechen konnten, verliehen diese liberalen Juristen dem Kriegsvölkerrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wichtige Impulse. Es basierte auf der Norm begrenzter Kriege. Sie beruhte ihrerseits auf der Doktrin staatlicher Souveränität und einer eurozentrischen Vorstellung zivilisatorischer Standards.89 Vor diesem Hintergrund verlangten Rechtsanwälte und -wissenschaftler wie Johann Caspar Bluntschli, Tobias Asser (1838–1913), John Westlake (1828–1913) und Édouard René Lefebvre de Laboulaye (1811–1883) auch im Anschluss an Robert von Mohl (1799–1875), Opfer von Kriegen völkerrechtlich zu schützen und die Rechte neutraler Staaten zu respektieren. Sie trieben damit die Entwicklung des Kriegsvölkerrechts voran, welches sich grundsätzlich in das ungeschriebene Gewohnheitsrecht und das schriftlich kodifizierte Vertragsrecht gliedert. So forderte Bluntschli, Kriegsgefangene menschlich zu behandeln und sie zu ernähren. Sie sollten ausschließlich zu Arbeiten herangezogen werden, die nicht militärischen Zwecken dienten. Damit bezog sich Bluntschli, der die Schweiz als Vorbild eines internationalen humanitären Engagements betrachtete, auf die Grundsätze des 1864 in Genf gegründeten Roten Kreuzes. Alles in allem zielten diese Vorschläge nach den erschreckenden Erfahrungen 88 Dazu im Detail: Stephen C. Neff, Justice among Nations. A History of International Law, Cambridge/Mass. 2014, S. 217–297, bes. S. 273 f.; Annette Weinke, Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016, S. 33. Zur Diskussion über die Ansprüche Einzelner gegenüber dem Staat und der damit verbundenen Idee von Grundrechten: Christoph Menke, Privatrecht, Klagerecht, Grundrecht. Zur Einheit der modernen Rechtsidee, in: Marten Breuer u. a. (Hg.), Der Staat im Recht. Fs. Eckart Klein, Berlin 2013, S. 439–452. 89 Gumz, International Law, S. 622–624.

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des Krim-Krieges (1853–1856) und des Amerikanischen Bürgerkrieges (1861– 1865) darauf ab, militärische Gewalt humanitär einzuhegen. Truppen, die von Staaten rekrutiert, befehligt und kontrolliert wurden, sollten die Zivilbevölkerung schonen. Damit unterschieden die Völkerrechtler zwischen Kombattanten und Zivilisten – freilich in einer Zeit, als die Militärtechnik diese Differenzierung zunehmend beseitigte. Diese Spannung sollte im 20. Jahrhundert trotz aller Bemühungen von Juristen und Vertretern humanitärer Organisationen fortbestehen. Immerhin schlossen sich die Rechtswissenschaftler allmählich über Grenzen hinweg zu einer eigenständigen Expertengruppe zusammen.90 Zudem bemühten sich karitative Gruppen und Pazifisten, die seit 1889 ebenfalls verstärkt international kooperierten, um eine Demokratisierung der Außenpolitik und die Gründung von Institutionen zur Schlichtung von Konflikten zwischen Staaten. Dafür trat beispielsweise die 1892 gegründete „Deutsche Friedensgesellschaft“ ein. Vor allem nach den Einigungskriegen in Deutschland und Italien sollten die Beziehungen zwischen den Nationalstaaten fortlaufend geregelt werden, allerdings ausschließlich in Europa und in der westlichen Welt. Besonders Gustave Moyniers Unterstützung der imperialen Durchdringung des Kongogebietes verweist auf eine „fatale Verbindung von Rechtsinternationalismus und europäischem Kolonialismus“ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Diese Verschränkung sollte bis zur Dekolonisation anhalten, die den im Völkerrecht verankerten zivilisatorischen Anspruch der europäischen Mächte grundsätzlich in Frage stellte.91 Auch bildeten sich nach der Jahrhundertwende Spannungen zwischen radikalen („integralen“) Pazifisten und Vertretern einer gemäßigten („organisatorischen“) Richtung heraus, die Verteidigungskriege rechtfertigten und eine grundsätzliche Verweigerung des Kriegsdienstes ablehnten.92

90 James Crossland, Britain and the International Red Cross, 1939–1945, Basingstoke 2014, S. 25. Hierzu und zum Folgenden auch: Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations: the Rise and Fall of International Law, 1870–1960, Cambridge 2002, S. 11–97; Miloš Vec, From the Congress of Vienna to the Paris Peace Treaties of 1919, in: Fassbender / Peters (Hg.), Oxford Handbook, S. 654–678, hier: S. 655, 660, 663, 665. 91 Klose, „In the Cause of Humanity“, S. 45; Swatek-Evenstein, History, S. 130, 141. Vgl. auch Daniel Laqua, Reconciliation and the Post-War Order. The Place of the Deutsche Liga für Menschenrechte in Interwar Pacifism, in: ders. (Hg.), Internationalism Reconfigured. Transnational Ideas and Movements Between the World Wars, London 2011, S. 209–237, hier: S. 209, 211. 92 Klose, „In the Cause of Humanity“, S. 442. Zur grenzüberschreitenden Kooperation der Pazifisten: Jost Dülffer, Prevention or Regulation of War? The Hague Peace Conference as a Limited Tool for Reforming the International System before 1914, in: Lothar Kettenacker / TorstenRiotte (Hg.), The Legacies of Two World Wars. European Societies in the Twentieth Century, New York 2011, S. 15–28, hier: S. 17; Dieter Langewiesche, Das Jahrhundert Europas. Eine Annä-

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Die schrittweise, aber letztlich begrenzte und widersprüchliche Erweiterung des Völkerrechts (engl. International Law) zielte im 19. Jahrhundert auf den Wandel der Staatenbeziehungen von der Koexistenz zur Kooperation. Darüber hinaus sollte die Außenpolitik der nationalen Regierungen offengelegt und kontrolliert werden. Dazu wurden gesellschaftliche Organisationen gegründet, die unabhängig von Regierungen waren. Die Entwicklung des Kriegsvölkerrechtes, das u. a. den Umgang mit Angehörigen gegnerischer Staaten regelte, beschleunigte sich ab den 1860er Jahren auch deshalb, weil Debatten unter Experten zunehmend grenzüberschreitend eine öffentliche Wirkung erzielten, die sich in Konferenzen und Abkommen niederschlug. Sie spiegelten den zunehmenden internationalen Austausch wider.93 So korrespondierte Francis Lieber (1800– 1872), der 1926 aus Deutschland nach Großbritannien geflohen und im darauffolgenden Jahr in die USA gekommen war, bis zu seinem Tod 1872 eng mit Bluntschli. Als Professor der Geschichte und politischen Wissenschaft (political economy) setzte sich Lieber für die Humanisierung des Rechtes in und zwischen den Staaten ein. Dieses Ziel teilte Bluntschli vollauf. Beide Gelehrte vertraten humanitäre Grundsätze. Die Regierungen der einzelnen Länder hatten demzufolge die Rechte ihrer Bürger zu respektieren und zu schützen. Um dies zu erreichen, sah Lieber unter eng definierten Voraussetzungen sogar ein Interventionsrecht vor. Zudem bestanden er und Bluntschli – im Anschluss an Vattel – auf der Unterscheidung zwischen Staaten und Privatpersonen, die in Kriegen ebenso geschützt werden sollten wie ihr Eigentum. Diese Forderungen zielten letztlich auf ein humanitäres Völkerrecht, das von allen Regierungen in Krieg und Frieden anerkannt werden sollte.94 Erschütternde Nachrichten über die Auswirkungen des wachsenden militärischen Zerstörungspotentials verliehen den Bemühungen um die Zähmung der Kriegsgewalt im 19. Jahrhundert eine wachsende Resonanz. So schreckten die Berichte der britischen Krankenschwester Florence Nightingale über das Leiden im Krimkrieg (1853–1856) die westliche Öffentlichkeit auf. Noch nachhaltiger beeinflusste die Gewalt – auch gegenüber Zivilisten – im Amerikanischen Bürgerkrieg die Entstehung eines humanitären Kriegsvölkerrechtes. Dabei gingen besonders vom „Lieber-Code“, den US-Präsident Abraham Lincoln (1809–1865) im April 1863 erließ, wichtige Impulse aus. Diese General Order No. 100 verherung in globalhistorischer Perspektive, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 29–48, hier: S. 32; Röben, Bluntschli, S. 77, 139. 93 Zum Ausmaß, den Formen und Grenzen des Internationalismus der Überblick in: Johannes Paulmann, Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850–1914, München 2019, S. 400–408. 94 Betsy Röben, Johann Caspar Bluntschli, Francis Lieber und das moderne Völkerrecht, Baden-Baden 2003, S. 67, 79, 137, 153–158, 161 f., 164 f., 169 f., 198, 202, 235–238.

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pflichtete die amerikanischen Nord- und Südstaaten, die im Bürgerkrieg gegeneinander kämpften, verwundete Kriegsgefangene zu behandeln. Zudem sollte medizinisches Personal – Ärzte und Schwestern – nach dem von Lieber entwickelten Regeln in Kriegen geschont werden. Überdies waren unnötige Zerstörungen zu vermeiden. Auch sah der „Code“ vor, Soldaten, die in Kriegen Grausamkeiten wie Vergewaltigungen, Raub und Brandstiftungen begingen, hart zu bestrafen. Allerdings durfte ihnen nicht der Status von Kriegsgefangenen entzogen werden, wenn sie sich ergeben hatten. Insgesamt bezog sich das Regelwerk auf den Amerikanischen Bürgerkrieg, nicht auf einen militärischen Konflikt zwischen souveränen Staaten. Zudem lagen der Verordnung, die deutlich zwischen Soldaten und Zivilisten unterschied, nicht humanitäre Motive zu Grunde, sondern sie reagierte vorrangig auf den Einsatz von Massenheeren in Kriegen, die Lieber grundsätzlich für notwendig hielt. Sein Konzept der „militärischen Notwendigkeit“, das Kriegsgewalt einhegen sollte, blieb letztlich ambivalent, denn es konnte in militärischen Konflikten auch genutzt werden, um humanitäre Grundsätze einzuschränken.95 Jedoch hatte der „Lieber-Code“ zumindest den Grundsatz verankert, Zivilisten vor exzessiver Kriegsgewalt zu schützen. Dieses Prinzip bekräftigte die 1864 verabschiedete Genfer Konvention, die aus einer Expertenkonferenz hervorging und unter dem Eindruck der Schlacht von Solferino (1859) entstanden war. Hier hatte der Schweizer Geschäftsmann Henri Dunant (1828–1910), der schon zuvor freiwillig für die Young Men’s Christian Association (YMCA) gearbeitet hatte, das Leid Tausender sterbender und verwundeter Soldaten beobachtet. Daraufhin regte er die Gründung einer Organisation an, die für diese Kriegsopfer sorgen sollte. Städtische Honoratioren aus dem calvinistischen Bürgertum in Genf gründeten schließlich 1863 das Rote Kreuz. Die protestantische Erweckungsbewegung war damit das Fundament der neuen Organisation, die als eigenständiges Rechtssubjekt gebildet worden war. Aus dem Gründerkreis des „Internationalen Komitees der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege“ ragte neben Dunant Gustave Moynier (1826–1910) heraus, der von 1864 bis 1910 als Präsident der Organisation amtierte. Diese versammelte aber nationale Gesellschaften, die sich in einzelnen Ländern sukzessive konstituierten. Damit war schon in der Bildung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (das erst seit 1875 so bezeichnet worden ist) eine Spannung zwischen der engen Bindung an die staatliche Souveränität und dem universalistischen moralischen Anspruch angelegt, rechtliche Standards zum Schutz von Soldaten grenzüberschreitend 95 Ausführlich: von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 55, 65–71. Vgl. auch Neff, Prisoners of War, S. 61, 64; Swatek-Evenstein, History, S. 118; Röben, Bluntschli, S. 198–207; Neff, Justice, S. 323; Dawes, International Law, S. 146; Crossland, Britain, S. 17.

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durchzusetzen und den Kriegsopfern unter ihnen konkret zu helfen. Zudem prägte auch der Schweizer Nationalismus das Engagement des Komitees bis weit in das 20. Jahrhundert. Dennoch ging aus der Gründung des Roten Kreuzes letztlich ein neues soziokulturelles Feld humanitärer Fürsorge hervor, das auf den Grundsätzen der Humanität und Neutralität basierte. Der Beschluss der Internationalen Rotkreuzkonferenz in Washington 1912, das IKRK mit der Organisation und Verteilung von Hilfsgütern für Kriegsgefangene zu beauftragen, dokumentiert dieses Anliegen. Auch sollte dauerhaft ein Netzwerk von Hilfsorganisationen verankert werden.96 Mit der Gründung des IKRK war die Verabschiedung der Genfer Konvention, die 1864 Delegierte aus zwölf Staaten unterzeichneten, unmittelbar verknüpft. Sie verlieh verwundeten Soldaten (unabhängig von ihrer Nationalität) einen neutralen Status. Darüber hinaus wurden Angriffe auf Ärzte, Schwestern und Krankenhäuser, die mit einem roten Kreuz zu kennzeichnen waren, strikt untersagt. Einschränkungen der Freiheit von Soldaten, die in die Hand von gegnerischen Staaten gefallen waren, erlaubte die Konvention lediglich bei akuten Sicherheitsgefahren. Kranke und verwundete Kriegsgefangene sollten in ihre Heimat zurückgeschickt werden, sobald ihre Gesundheit wiederhergestellt war. Nicht zuletzt traten die Fachleute in Genf für eine enge Zusammenarbeit der nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes ein, die ihr Vorgehen im Rahmen internationaler Konferenzen untereinander abstimmen sollten. Diese Forderung blieb jedoch zunächst ohne Nachhall, zumal der preußisch-französische Krieg 1870/71 kurz war und die Kriegsgefangenen schnell wieder freigelassen wurden. Mit dem IKRK konkurrierend, begrenzte zudem der erstmalige Einsatz von Schutzmächten, die sich für Angehörige gegnerischer Länder einsetzten – so 1870/71 die Regierung Großbritanniens für Franzosen in preußischem Gewahrsam – die Kriegsgewalt. Allerdings hatten sowohl Frankreich als auch Preußen zuvor zahlreiche feindliche Ausländer aus ihrem Territorium ausgewiesen. Dem Genfer Komitee stellte sich deshalb die Aufgabe, Kriegsteilnehmer über den begrenzten Kreis der verwundeten Soldaten hinaus zu schützen.97 96 Shai M. Dromi, Soldiers of the Cross: Calvinism, Humanitarianism, and the Genesis of Social Fields, in: Sociological Theory 34 (2016), Nr. 3, S. 196–219, bes. S. 196–198, 202, 207, 213 f.; Astrid Hüdepohl, Organisationen der Wohlfahrtspflege. Eine ökonomische Analyse ausgewählter nationaler und internationaler Institutionen, Berlin 1996, S. 153; Susan Barton, Internment in Switzerland during the First World War, London 2019, S. 14 f.; Vance, International Committee of the Red Cross, S. 143; Forsythe, Humanitarians, S. 14–19; Crossland, Britain, S. 15–17; Payk, Frieden durch Recht?, S. 37. 97 Vgl. von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 74–76, 96 f., 102; dies., „Crimes against Humanity“ (2011). Daneben: Jonathan F. Vance, Geneva Conventions of 1864 and 1906, in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 109 f.; ders., Protecting Power, in: ders. (Hg.), Encyclo-

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Nach der Gründung des Roten Kreuzes bildeten sich auch internationale Organisationen, die sich für die Rechte von Kriegsgefangenen einsetzten.98 So verlangte die 1872 in Paris konstituierte Société internationale pour l’améloriation du sort des prisonniers de guerre, die Bestimmungen der Genfer Konvention über die Verwundeten auch auf gefangene Soldaten anzuwenden. Allerdings scheiterte die Kampagne des Verbandes in den 1870er Jahren letztlich ebenso wie das Engagement des Roten Kreuzes für den Schutz der Bevölkerung in besetzten Gebieten. Nach dem Vorschlag des IKRK sollten Zivilisten, die verwundete Soldaten aufnahmen, in okkupierten Territorien von Requisitionen ausgenommen werden. Auch blieb die allgemeine Erklärung einer Konferenz, die 1868 in St. Petersburg stattfand und eine Kriegführung gegen Zivilisten untersagte, letztlich unverbindlich.99 Dennoch hatten sich an der Jahrhundertwende zumindest Grundlagen eines humanitären Völkerrechts herausgebildet, das universalistische Normen des Zusammenlebens begründete. Dafür war besonders die Etablierung des Institut de Droit international in Gent im September 1873 wichtig, das auf Initiative Rolin-Jaequemyns und unter Beteiligung Bluntschlis aus einem Treffen namhafter Juristen hervorging. In demselben Jahr wurde in Brüssel die International Law Association gebildet. Als Plattformen rechtswissenschaftlicher Diskussionen bündelten diese Institutionen den grenzüberschreitenden Austausch unter pedia, S. 227–229, hier: S. 227; Forsythe, Humanitarians, S. 24; Spiropoulus, Ausweisung, S. 17; Dieter Langewiesche / Nikolaus Buschmann, „Dem Vertilgungskriege Grenzen setzen“: Kriegstypen des 19. Jahrhunderts und der deutsch-französische Krieg 1870/71. Gehegter Krieg – Volks- und Nationalkrieg – Revolutionskrieg – Dschihad, in: Dietrich Beyrau / Michael Hochgeschwender / Dieter Langewiesche (Hg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 479–502; Langewiesche, Jahrhundert, S. 41. Hierzu und zum Folgenden auch: Uta Hinz, Humanität im Krieg? Internationales Rotes Kreuz und Kriegsgefangenenhilfe im Ersten Weltkrieg, in: Jochen Oltmer (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn 2006, S. 216–236, S. 218 f.; Jochen Oltmer, Einführung. Funktionen und Erfahrungen von Kriegsgefangenschaft im Europa des Ersten Weltkriegs, in: ders. (Hg.), Kriegsgefangene, S. 11–23, hier: S. 17; Alan Kramer, Kriegsrecht und Kriegsverbrechen, in: Hirschfeld / Krumeich / Renz (Hg.), Enzyklopädie, S. 281–292, hier: S. 284 f.; Martin F. Auger, Prisoners of the Home Front. German POWs and Enemy Aliens in Southern Quebec, 1940–46, Vancouver 2005, S. 5; Irène Herrmann / Daniel Palmieri, International Committee of the Red Cross, in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, hg. von Ute Daniel u. a., Berlin 2015-07-17. DOI: doi:10.15463/ie1418.10687 (Zugriff am 2. August 2018); Johannes Paulmann, Conjunctures in the History of International Humanitarian Aid during the Twentieth Century, in: Humanity 4 (2013), S. 215–238, hier: S. 224; Pöppinghege, Lager, S. 44 f.; Schulz, Dilemmas, S. 41, 55; Becker, Paradoxien, S. 28. 98 Der Begriff „international organization“ wurde offenbar 1868 von dem britischen Rechtsund Staatsphilosophen James Lorimer (1818–1890) geprägt. Vgl. Neff, Justice, S. 289. 99 Crossland, Britain, S. 26; Neff, Justice, S. 320.

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Juristen. Indem sie international gültige Regeln zum Schutz aller Menschen konzipierten und eine Schiedsgerichtsbarkeit vorbereiteten, mit der Konflikte zwischen Staaten gelöst werden konnten, trugen beide Einrichtungen maßgeblich zur Entwicklung des Völkerrechts bei. So wurden schließlich auf einer Konferenz, welche die russische Regierung im Juli und August 1874 in Brüssel ausrichtete, Grundsätze zur Besatzungspolitik, Regeln zur Behandlung von Kriegsgefangenen und – gegen den Widerstand Deutschlands – eine weite Definition von Kombattanten festgelegt.100 Obwohl es bei einer Deklaration blieb, die nicht ratifiziert wurde, beeinflussten die Beschlüsse der Brüsseler Konferenz die weitere Kodifizierung des Kriegsvölkerrechts. So gelang es, in die 1880 verabschiedete Ordnung zum Landkrieg, das Oxford Manual, eine Bestimmung aufzunehmen, nach der Verstöße gegen Regeln zur Kriegführung (vor allem gegen die Genfer Konvention von 1864) geahndet werden sollten. Das Reglement, das nach der Empörung über Massaker von Milizen an Zivilisten im Krieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich (1877/78) verfasst wurde, enthielt auch Bestimmungen zur Internierung in neutralen Staaten und ein Verbot von Repressalien, allerdings mit Ausnahmen. So erwähnte das Regelwerk zur Landkriegsführung zugleich die Kategorie der „Kriegsnotwendigkeit“. Mit ihr konnten Verstöße gegen das geltende Völkerrecht gerechtfertigt werden.101

100 Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009, S. 23; dies., Netzwerke der Zivilgesellschaft im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Historische Mitteilungen 17 (2004), S. 48– 61, hier: S. 49 f.; Cecilia Lynch, Peace Movements, Civil Society, and the Development of International Law, in: Fassbender / Peters (Hg.), Oxford Handbook, S. 198–221, hier: S. 206, 209, 212 f.; Jörg Echternkamp, Krieg, in: Dülffer / Loth (Hg.), Dimensionen, S. 9–28, hier: S. 21; Dzovinar Kévonian, L’enquête, la prevue: les „atrocités“ balkaniques de 1912–1913 à l’epreuve du droit de la guerre, in: Le Mouvement Social 222 (2008), S. 13–40, hier: S. 21; Patrick M. O’Neil, Brussels Declaration, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 34; Koskenniemi, History, S. 944, 954; Crossland, Britain, S. 26 f.; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 95–111; Röben, Bluntschli, S. 67 f. 101 Vgl. Daniel Marc Segesser, On the Road to Total Retribution? The International Debate on the Punishment of War Crimes, in: Roger Chickering / Stig Förster / Bernd Greiner (Hg.), A World at Total War. Global Conflict and the Politics of Destruction 1937–1945, Cambridge 2005, S. 355–374, hier: S. 356; von Lingen, „Crimes against Humanity“, S. 81–95; Payk, Frieden durch Recht?, S. 30 f.; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 190; Fisch, Völkerrecht, S. 161; Röben, Bluntschli, S. 198; Schulz, Dilemmas, S. 54; Segesser, Lager, S. 3 f., 43; Speed, Prisoners, S. 143.

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Das humanitäre Völkerrecht und Bemühungen zur Bändigung von Kriegsgewalt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Alles in allem veränderten die Institutionalisierung und Professionalisierung des Völkerrechtsdiskurses im späten 19. Jahrhundert die Konfliktregelungsverfahren zwischen Staaten. An diesem Prozess waren außer den Juristen, die sich auch in ihren jeweiligen Nationen zu Verbänden wie der 1906 gegründeten American Society of International Law zusammenschlossen, Militärexperten beteiligt. An die Stelle von Gebräuchen und bilateralen Abkommen traten formalisierte rechtliche Festlegungen, welche die Staatenbeziehungen regelten. Multilaterale Konferenzen, auf denen sich die Vertreter mehrerer Regierungen unter Beteiligung von Experten um einen Ausgleich ihrer jeweiligen Interessen bemühten, spiegelten diesen Wandel wider. Damit stand der nationalistischen und imperialistischen Außenpolitik eine wachsende „Verregelung der zwischenstaatlichen Beziehungen“ gegenüber. Dieser Trend schlug sich in der Entwicklung des humanitären Völkerrechts nieder.102 Trotz der Macht der souveränen nationalstaatlichen Regierungen und des hohen Stellenwertes utilitaristischer und pragmatischer Erwägungen beeinflussten schon im späten 19. Jahrhundert auch humanitäre Ideale zunehmend die internationale Politik. Dazu trug nicht zuletzt das Völkerstrafrecht bei, zu dem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals Überlegungen entwickelt worden waren. Anders als das Völkerrecht regelte es zunächst nicht Rechtsbeziehungen zwischen Staaten, sondern Verstöße Einzelner gegen Grundregeln menschlichen Zusammenlebens innerhalb von Gesellschaften. Unter dem Einfluss der 1864 verabschiedeten Genfer Konvention, die erstmals Grundsätze zum Umgang mit verwundeten und erkrankten Soldaten festgelegt hatte, gründete Rolin-Jaequemyns 1868 die Revue de droit international et de législation comparée, die den Appell an das menschliche Gewissen mit wissenschaftlichen Stellungnahmen zur Reform des Strafrechts und zur Sozialgesetzgebung zu kombinieren suchte. Aufgrund gravierender Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht im preußisch-französischen Krieg schlug Gustave Moynier als Präsident des IKRK schon 1872 sogar die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes vor. Er sollte Verletzungen der Genfer Konvention von 1864 ahnden. Moyniers Forderung unterstützte aber zunächst lediglich die nationale Rotkreuzgesellschaft Spaniens, so dass der Gerichtshof erst 1899 eingerichtet wurde und 102 Zitat: Weinke, Gewalt, S. 38. Vgl. auch Martin David Dubin, The Carnegie Endowment for International Peace and the Advocacy of a League of Nations, 1914–1918, in: Proceedings of the American Philosophical Society 123 (1979), S. 344–368, hier: S. 345; Payk, Frieden durch Recht?, S. 47 f.

2.2 Humanität und Menschenrechte



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zudem nur begrenzte Kompetenzen erhielt. Diese und ähnliche frühe Überlegungen zum Völkerstrafrecht nahmen Immanuel Kants (1724–1804) Konzept des „Weltbürgerrechts“ auf. Ein universelles, aber besonders auf Europa bezogenes Bewusstsein, das gleichermaßen ethisch und rationalistisch fundiert war, sollte das Prinzip territorialer Souveränität einschränken, das seit dem Westfälischen Frieden das Verhältnis zwischen Staaten bestimmt hatte. Pascale Fiore verankerte in diesem Konzept auch individuelle Freiheits- und Menschenrechte, die er gegen die dynastische Legitimation stellte.103 Jedoch scheiterte Moyniers Vorschlag am Widerstand der Regierungen und der meisten Juristen. Der IKRK-Präsident bemühte sich daraufhin um eine Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen durch Fortschritte beim ius in bello, das mit der ersten Haager Konferenz 1899 erneut in den Mittelpunkt der politischen und juristischen Diskussion rückte. Ab 1894 belebte der Protest gegen die Degradierung des französisch-jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus (1859–1935) auch das internationale Engagement für Menschenrechte, wie die Gründung der Ligue pour la Défense des Droits de l’homme (gemeinhin Ligue des Droits de l’homme genannt) 1898 zeigt. Der Verband verlieh im späten 19. Jahrhundert außerdem der Friedensbewegung neue Impulse. Viele Pazifisten wandten sich grundsätzlich gegen Kriege und lehnten damit das Konzept des Roten Kreuzes, das auf Eindämmung militärischer Gewalt zielt, kategorisch ab. Umgekehrt überlagerte die Debatte über Verfahren einer friedlichen Konfliktregelung – und damit die Verhinderung von Kriegen – allerdings Bemühungen, Gewalt in bereits begonnenen Auseinandersetzungen einzudämmen. So diskutierten Rechtswissenschaftler wie Georg Jellinek (1851–1911) und Heinrich Triepel (1868–1946) über Quellen des internationalen Rechts. Dabei bemühten sie sich, im grenzüberschreiten Austausch zwischen den juristischen Experten grundlegende Kategorien wie „Staat“, „Vertrag“ und „Krieg“ schärfer zu fassen. So beharrte Jellinek auf dem Recht als Grundlage staatlicher Herrschaft, die erst auf dieser Basis Wirtschaft und Gesellschaft regulieren sollte.104 103 Hierzu und zum Folgenden: Eckart Conze, Völkerstrafrecht und Völkerstrafrechtspolitik, in: Dülffer / Loth (Hg.), Dimensionen, S. 192; Daniel Marc Segesser, „Unlawful Warfare is Uncivilised“. The International Debate on the Punishment of War Crimes 1872–1918, in: European Review of History 14 (2007) 2, S. 215–234, hier: S. 216 f.; Laqua, Reconciliation, S. 213; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 90–95, 141 f., 408; ders., On the Road to Total Retribution? S. 355; Diggelmann, Völkerrecht, S. 110, 112; Crossland, Britain, S. 16–19; Dromi, Soldiers, S. 207. 104 Dazu im Einzelnen: Harald Kleinschmidt, Geschichte des Völkerrechts in Krieg und Frieden, Darmstadt 2013, S. 388–393; Charles S. Maier, Leviathan 2.0. Die Erfindung moderner Staatlichkeit, in: Emily S. Rosenberg (Hg.), 1870–1945. Weltmärkte und Weltkriege, München 2012, S. 33–286, hier: S. 163–166. Vgl. auch Daniel Marc Segesser, Kriegsverbrechen auf dem Balkan und in Anatolien in der internationalen juristischen Debatte während der Balkankriege

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Obwohl die Macht der Nationalstaaten und das Souveränitätsprinzip Moyniers Konzept eines internationalen Strafgerichtshofes zur Ahndung von Kriegsverbrechen bis zum Zweiten Weltkrieg blockierten, verstärkten sich im frühen 20. Jahrhundert Bemühungen, Konflikte friedlich beizulegen und humanitären Grundsätzen im Verhältnis der Staaten zueinander Geltung zu verleihen. In diesem Prozess nahmen die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 einen herausragenden Stellenwert ein. Die erste Zusammenkunft führte auf Initiative des russischen Zarenreiches am 18. Mai 1899 hundert Delegierte in Den Haag zusammen. An der zweiten Konferenz, die auf Anregung der USA, Italiens und Luxemburgs einberufen wurde, nahmen ab 15. Juni 1907 bereits 256 Vertreter aus 44 Staaten teil. Die Einladungen zu beiden Veranstaltungen beriefen sich auf den Grundsatz der Humanität. Jedoch trafen unterschiedliche Rechtstraditionen aufeinander, und auch das Rollenverständnis der Regierungsvertreter differierte. Während die Repräsentanten Deutschlands juristische Vorbehalte in den Dienst ihrer (nationalen) Politik nahmen, suchten die USA Rechtsnormen durchzusetzen. Demgegenüber war die französische Regierung lediglich an einer „rechtstechnischen Begleitung“ und Großbritannien an einer „betont unpolitischen Rechtsberatung“ interessiert.105 Die Regierungen der Großmächte – so des Vereinigten Königreiches – bemühten sich aber um die Zähmung der Kriegsgewalt, um sich in der entstehenden internationalen Öffentlichkeit als „zivilisierte“ Staaten präsentieren zu können. Auch schätzten sie die praktischen Vorteile, die ihnen humanitäre Organisationen wie das IKRK mit ihrer Fürsorge für gefangene und verwundete Soldaten boten. Jedoch banden die Regierungen die jeweiligen nationalen Rotkreuzgesellschaften eng an das Militär. So zwang in Großbritannien König Edward VII. 1905 das 1899 gebildete Central British Red Cross Committee und die National Aid Society zum Zusammenschluss zur British Red Cross Society (BRC), die in das britische Militär integriert wurde. Der neue Verband organisierte für die reguläre Armee und die territorialen Streitkräfte (Territorial Forces) freiwillige Hilfsorganisationen (Voluntary Aid Detachments), die Verwundete von Feldambulanzen in die Krankenhäuser transportieren. Damit wurde das Rote Kreuz zumindest indirekt in die britische Kriegführung eingespannt. In der humanitären Kriegsopferhilfe vollzog sich so zugleich eine Internationalisierung und Na-

und des Ersten Weltkriegs, in: Jürgen Angelow (Hg.), Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung, Berlin 2011, S. 193–209, hier: S. 193. 105 Payk, Frieden durch Recht?, S. 58.

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tionalisierung – eine Spannung, die Aktivisten in den beiden Weltkriegen mit oft unlösbaren Dilemmata konfrontieren sollte 106 Insgesamt sollte in Den Haag die Freiheit, Kriege nach „militärischen Notwendigkeiten“ zu führen, keineswegs eingeschränkt werden. Auch deshalb gelang es den Delegierten nicht, dem eingerichteten Schlichtungsgericht so starke Kompetenzen zu verleihen, dass es Kriege wirksam begrenzen oder sogar verhindern konnte. Die drei Haager Konventionen (Landkriegsordnung, Pazifikkonvention und Marinekonvention) wirkten aber durchaus innovativ, indem sie das Recht im Krieg fortentwickelten. Vor allem mit der völkerrechtlichen Verbindlichkeit und der Selbstverpflichtung der Unterzeichnerstaaten wurden neue Wege eingeschlagen. Die Landkriegsordnung begrenzte die „Tötungsgewalt im Krieg“ und bahnte letztlich der Einrichtung eines ständigen Schiedsgerichtshofes den Weg.107 Darüber hinaus förderten die beiden Haager Konferenzen die Herausbildung einer internationalen Öffentlichkeit, in der zivilgesellschaftliche Gruppen und Verbände anerkannt waren. Erstmals wirkten internationale Nichtregierungsorganisationen auch auf die Verhandlungen ein. Damit ging ein grenzüberschreitender Wissenstransfer zwischen humanitären Organisationen und Rechtsexperten einher, ohne dass dies aber direkt eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen verursachte. Der Austausch zwischen Nichtregierungsorganisationen hatte vielmehr – wie dargelegt – bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten eingesetzt.108 Auch bündelte die 1899 verabschiedete „Martens-Klausel“ mit ihren drei einflussreichen Bezugnahmen auf das „law of civilised nations“, die „laws of humanity“ und das „public conscience“ Argumentationsstränge, die seit dem 19. Jahrhundert unter dem leitenden Konzept der „humanity“ auf eine Zähmung von Kriegsgewalt gezielt hatten. Die von dem russischen Rechtswissenschaftler Fedor (Friedrich) Fromhold Martens (1845–1909) formulierte Klausel wurde den Haager Konventionen – mit geringen Veränderungen – als Präambel vorangestellt. Damit sollte eine gewohnheitsrechtliche Regelung, die auf der Konferenz von Brüssel 1874 in einer Erklärung bekräftigt worden war, in das Vertragsrecht überführt werden.109 106 Crossland, Britain, S. 23, 29 f. Zur Territorial Force und zum Volunteer Training Corps während des Ersten Weltkrieges: John Morton Osborne, Defining Their Own Patriotism: British Volunteer Training Corps in the First World War, in: Journal of Contemporary History 23 (1988), S. 59–75. 107 Zitat: Nehring, Friedensbewegungen, S. 102. Vgl. auch Neff, Justice, S. 330 f., Weinke, Gewalt, S. 40; Crossland, Britain, S. 19 f., 27 f. 108 Payk, Frieden durch Recht?, S. 28, 48, 58, 518; Herren, Netzwerke, S. 52. 109 Vgl. von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 12, 14, 99–107; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 127; Gumz, International Law, S. 630 f.; Neff, Justice,

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Im Einzelnen legte die Haager Landkriegsordnung besonders Grundsätze zur Behandlung von Kriegsgefangenen fest, definierte erstmals den Status von Kombattanten und regelte den Umgang von Soldaten mit der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten. Sie erlegte den Signatarstaaten allgemein auf, auch nicht verwundete Kriegsgefangene menschlich zu behandeln und grundsätzlich auf Repressalien zu verzichten. Dazu definierte sie erstmals Grundsätze zum völkerrechtlichen Status, zur Beschäftigung, Unterbringung und Versorgung dieser Gruppe. Zudem verpflichteten sich die unterzeichnenden Staaten, den Kriegsgefangenen genug Nahrungsmittel und Kleidung zur Verfügung zu stellen. Sie sollten ebenso gut versorgt und untergebracht werden wie die eigenen Soldaten der jeweiligen Gewahrsamsmacht (Artikel 7). Damit waren Minimalstandards festgelegt worden, die sich in den einzelnen Ländern allerdings traditionell unterschieden. Schutzmächte hatten den Umgang mit den Gefangenen zu überwachen. Die Gefangenenfürsorge in Kriegen wurde damit Gegenstand der internationalen Politik und wiederholt auch zum Zankapfel der Diplomatie. Obwohl verbindliche Regeln zur Konfliktlösung nicht erreicht wurden, gewannen humanitäre Grundsätze und Motive letztlich eine politische Qualität. Nicht zuletzt hatten zivilgesellschaftliche Organisationen erstmals einen erheblichen Einfluss auf eine internationale Konferenz gewonnen, die sich zwar auf den Schutz von Soldaten konzentrierte, aber auch die Auswirkungen von Kriegsgewalt auf Zivilisten eindämmen sollte.110 Die Haager Konvention von 1907 erlaubte grundsätzlich die Internierung von Gefangenen in Städten, Festungen, Lagern oder anderen Orten, allerdies ausschließlich während Kampfhandlungen und als unabdingbar notwendige Sicherheitsmaßnahme (Artikel 5). Zwar war eine Unterbringung von Zivilisten und Kriegsgefangenen nicht ausdrücklich vorgeschrieben.111 Jedoch durften Offiziere keinesfalls zur Arbeit gezwungen und auch Soldaten ausschließlich nur in Betrieben und Räumen eingesetzt werden, die mit der Kriegführung des S. 323–330. Dazu auch: Kerstin von Lingen, Fulfilling the Martens Clause. Debating „Crimes Against Humanity“, 1899–1945, in: Klose / Thulin (Hg.), Humanity, S. 187–208, hier: S. 192 f.; Lynch, Peace Movements, S. 213; Fisch, Völkerrecht, S. 162; Dülffer, Prevention or Regulation of War?, S. 20; Hinz, Gefangen, S. 54; Herren, Internationale Organisationen, S. 35 f.; Conze, Völkerstrafrecht, S. 198. 110 Kenneth Steuer, Pursuit of an „Unparalleled Opportunity“. The American YMCA and Prisoner-of-War Diplomacy among the Central Power Nations during World War I, 1914–1923, New York 2009, S. 1; Rumen Cholakov, Prisoners of War in Bulgaria during the First World War, Diss. University Cambridge 2012 (Ms.), S. 6; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 116 f.; Diggelmann, Völkerrecht, S. 111; Hinz, Gefangen, S. 56 f., 59. Zu den Haager Friedenskonferenzen ausführlich: Jost Dülffer, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 in der internationalen Politik, Berlin 1981. 111 Rachamimov, POWs, S. 72; Cholakov, Prisoners of War, S. 7.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

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Gewahrsamsstaates nicht in Verbindung standen. Damit sollte die körperliche und psychische Unversehrtheit von Kriegsgefangenen gesichert werden. Grundsätzlich musste Arbeit entlohnt und begrenzt werden. Darüber hinaus waren Gewahrsamsstaaten verpflichtet, humanitären Organisationen Zugang zu Kriegsgefangenen zu gewähren, Unterstützungsleistungen zuzulassen und Registrierungsstellen einzurichten, damit Angehörigen Informationen übermittelt werden konnten (Artikel 14 und 15). Nach Friedensschlüssen mussten Gefangene unverzüglich in ihre Heimat zurückgeführt werden (Artikel 20).112 Insgesamt waren damit wichtige Schutzbestimmungen völkerrechtlich festgelegt worden. Gefangene waren nicht mehr ausschließlich Objekte der militärischen Strategie, sondern sie mussten nach der Norm der Menschenwürde behandelt werden. Zugleich verfestigten die Vorgaben zum Umgang mit Gefangenen die überkommene soziale Ungleichheit, besonders mit der Vorzugsbehandlung von Offizieren.113 Auch Privateigentum in Kampfzonen war nach den Haager Abkommen von 1899 und 1907 – ebenso wie schon nach der Genfer Konvention von 1864 – geschützt. Besatzungsmächte konnten Besitz beschlagnahmen und Arbeitskräfte rekrutieren, durften diese Ressourcen aber nicht gegen das Land einsetzen, dem die Besitzer angehörten. Nicht zuletzt untersagte Artikel 23 den Regierungen kriegführender Staaten, die Rechte von Feindstaatenangehörigen zu beseitigen, zu suspendieren oder auch nur für nicht justiziabel zu erklären. Zivilisten aus einem Feindstaat durften nicht zu Arbeiten gezwungen werden, die sich gegen ihr Heimatland richteten. Die Artikel 42 bis 56 verboten Übergriffe gegen die Bevölkerung in Kriegs- und Besatzungszonen. Im Besonderen wurden Plünderungen ausdrücklich untersagt (Artikel 47), und die Artikel 49 und 52 begrenzten Kontributionen und Requisitionen auf unmittelbare Bedürfnisse von Okkupationsarmeen und -verwaltungen. Darüber hinaus sollten Zwangsabgaben die Ressourcen des unterworfenen Landes nicht überbeanspruchen. Besat112 André Durand, From Sarajevo to Hiroshima. History of the International Committee of the Red Cross, Genf 1984, S. 83, 444 f., 466 f.; Caroline Moorehead, Dunant’s Dream. War, Switzerland and the History of the Red Cross, London 1998, S. 182, 187; Patrick M. O’Neil, Hague Conventions of 1899 and 1907, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 125 f.; Richard D. Wiggers, Forcible Repatriation, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 100–102; Alexander Watson, „Unheard-of-Brutality“: Russian Atrocities against Civilians in East Prussia, 1914–1915, in: Journal of Modern History 86 (2014), S. 780–825, hier: S. 789, 794; Overmans, „Hunnen“, S. 337; Neff, Prisoners of War, S. 68; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 189; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 135–138; Becker / Krumeich, Krieg, S. 188; Lieb, Völkerrecht, S. 90, 92; Jones, Prisoners of War, S. 270 f.; Pöppinghege, Lager, S. 49; Best, Humanity, S. 220, 227; Khan, Das Rote Kreuz, S. 50; Segesser, Lager, S. 45. 113 Georg Wurzer, Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2005, S. 412; Rachamimov, POWs, S. 73; Neff, Prisoners of War, S. 70.

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zungsmächte durften keine Kollektivstrafen gegen die Zivilbevölkerung verhängen. Zugleich erlegte die Haager Konvention von 1907 ihnen allerdings auf, die öffentliche Ordnung und Sicherheit in den von ihnen kontrollierten Gebieten aufrecht zu erhalten – eine dehnbare Anforderung, die auch in Anspruch genommen werden konnte, um Übergriffe gegen Zivilisten zu begründen.114 Als hilfreicher zur Einhegung der Kriegsgewalt erwiesen sich die gewohnheitsrechtlichen Normen in der „Martens-Klausel“, die im Rahmen der Friedenskonferenz 1899 von dem gleichnamigen Juristen formuliert und der Konvention vorangestellt wurde. Diese Präambel verpflichtete die kriegführenden Parteien auch in Fällen, die nicht von der Landkriegsordnung erfasst wurden, auf die Regeln der Humanität und ihr Gewissen. In der Fassung von 1907 berief sich die Klausel außer auf die „usages established among civilized peoples“ und die „dictates of the public conscience“ explizit auf die „laws of humanity“. Damit sollten Mindeststandards des Schutzes im Landkrieg festgelegt werden.115 Alles in allem waren zu Beginn des Ersten Weltkrieges verwundete und kranke Soldaten ebenso geschützt wie Seeleute, Sanitätspersonal und Hospitalschiffe. Das geltende Völkerrecht untersagte darüber hinaus Übergriffe gegen Angehörige neutraler Staaten, Kriegsgefangene und die Bevölkerung in besetzten Gebieten. Allerdings ließ gerade der nur allgemeine Rekurs auf die „Humanität“ in der „Martens-Klausel“ den Großmächten weitgehende Handlungsfreiheit.116 Vor allem jedoch blieben zivile Feindstaatenangehörige und Minderheiten in souveränen kriegführenden Staaten weitgehend ungeschützt. Um Kriege zu begrenzen, betonte auch das Besatzungsrecht die Staatssouveränität und zivilisatorische Standards, die freilich nur für militärische Konflikte zwischen europäischen Ländern (und damit nicht für deren Kolonien) gelten sollten. Irregulä114 Text der Haager Landkriegsordnung vom 18. Oktober 1907 in: 100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert (http://www.1000dokumente.de/index.html? c=dokument_de&dokument=0201_haa&object=translation&st=&l=de, Zugriff am 18. April 2018). Vgl. auch Stefan Oeter, Die Entwicklung des Kriegsgefangenenrechts. Die Sichtweise eines Völkerrechtlers, in: Overmans (Hg.), Hand, S. 41–59, hier: S. 50; Bogdan Trifunović, Prisoners of War and Internees (South East Europe), in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, hg. v. Ute Daniel u. a., Berlin 2014-10-08 (doi:10.15463/ ie1418.10132; Zugriff am 22. August 2018); Stibbe, Civilian Internment, S. 79. 115 Laws of War: Laws and Customs of War on Land (Hague IV), October 1907 (http://avalon. law.yale/edu/20th_century/hague04.asp#iart1, zit. nach: Jones, Great War, S. 86 f. Vgl. Arthur Eiffinger, The 1899 Hague Peace Conference: The Parliament of Man, the Federation of the World, Den Haag 1999, S. 313. 116 Payk, Frieden durch Recht?, S. 60 f.; Durand, Sarajevo, S. 33 f. Allerdings war in den Haager Konventionen noch nicht von „Zivilisten“ die Rede, sondern von „Bürgern“ – ein Begriff, der bis zum Ersten Weltkrieg als Bezeichnung für Nichtkombattanten auch im Völkerrecht geläufig war. Vgl. Alexander, Genesis, S. 359, 376.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

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re Kombattanten, die nach der Besetzung als Zivilisten weiterkämpften, durften sogar exekutiert werden. Auch schützten die Haager Konventionen im Wesentlichen lediglich Soldaten und – mit Einschränkungen – Zivilisten in umkämpften und okkupierten Gebieten. Hier durften sie nicht zum militärischen Einsatz gegen ihr Land und zu einer Loyalitätsverpflichtung gegenüber der Besatzungsmacht gezwungen werden. Hingegen fanden sich keine expliziten Bestimmungen, die sich auf andere Gruppen von Zivilisten bezogen. Vor allem innerhalb von Staaten, die gegeneinander Krieg führten, blieben Feindstaatenangehörige in den beiden Weltkriegen völkerrechtlich ungeschützt. Sie wurden in der Haager Landkriegsordnung nicht erwähnt, die auch keine Bestimmungen zur Internierung, zu Geiselnahmen und Repressalien gegen diese Gruppe enthielt. Ebenso unbestimmt blieb im Völkerrecht der Status von Zivilinternierten. Davon abgesehen, war die Anwendbarkeit der Haager Landkriegsordnung umstritten. Verstöße gegen völkerrechtliche Bestimmungen und „militärische Notwendigkeiten“ wurden nicht präzise definiert. Sie sollten in beiden Weltkriegen im „Chaosraum“ des Schlachtfeldes, aber auch im Umgang mit zivilen Feindstaatengehörigen letztlich ein rücksichtsloses Vorgehen rechtfertigen, das wiederholt gegen völkerrechtliche Schutzregelungen verstieß.117 Vor allem die Vertreter des Deutschen Kaiserreiches bestanden in Den Haag auf dem Grundsatz nationalstaatlicher Souveränität. So nahmen der konservative Völkerrechtler Philipp Zorn (1850–1928) und der Vertreter des Auswärtigen Amtes, Johannes Kriege (1857–1937), 1907 die Schwierigkeit, klar zwischen rechtlichen und politischen Streitfällen zu unterscheiden, zum Anlass, das Konzept einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit generell abzulehnen. Auch blieben die Zuständigkeit für Gerichtsverfahren gegen Täter und Strafmaße unklar. Da Serbien, Montenegro und das Osmanische Reich bis 1914 zwar die Haager Konvention von 1899, nicht aber die verbesserte Fassung von 1907 unterzeichnet hatten, war darüber hinaus die Geltung der Normen im Ersten Weltkrieg zersplittert. Einige Völkerrechtler haben sogar grundsätzlich bezweifelt, dass es sich um einen Krieg handelte.118 117 Zitat: Oswald Überegger, Kampfdynamiken als Gewaltspiralen. Zur Bedeutung raum-, zeit- und situationsspezifischer Faktoren der Gewalteskalation im Ersten Weltkrieg, in: Zeitgeschichte 45 (2018), S. 79–101, hier: S. 90. Vgl. auch Moorehead, Dream, S. 175; Alexander, Genesis, S. 362; Gumz, International Law, S. 632; Crossland, Britain, S. 27. 118 Annie Deperchin, The Laws of War, in: Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, Bd. 1: Global War, Cambridge 2014, S. 615–638, S. 625; Hannes Leidinger, „Der Einzug des Galgens und des Mordes“. Die parlamentarischen Stellungnahmen polnischer und ruthenischer Reichsratsabgeordneter zu den Massenhinrichtungen in Galizien 1914/15, in: Zeitgeschichte 34 (2006), S. 235–260, hier: S. 239; Heather Jones, The Great War: How 1914–18 Changed the Relationship between War and Civilians, in: RUSI Journal 159 (2014), Nr. 4,

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Auch die Genfer Konvention von 1906 hatte die Signatarstaaten zwar verpflichtet, Strafbestimmungen zur Ahndung von Verstößen in ihre nationalen Rechtsordnungen aufzunehmen. Damit waren Verletzungen des Völkerrechts im Rahmen des jeweiligen Militärstrafrechtes zu ahnden, so der Missbrauch des Emblems des Roten Kreuzes und die Misshandlung verwundeter oder kranker gegnerischer Soldaten, für die auch Regeln zur Internierung in neutralen Staaten festgelegt wurden. Medizinisches Personal und Militärgeistliche, die in die Hand kriegführender Staaten gefallen waren, mussten in ihre Heimat entlassen werden. Jedoch enthielt die Genfer Konvention von 1906 keine präzisen inhaltlichen Vorgaben zur Bestrafung. Letztlich blieb das Kriegsvölkerrecht (oder das humanitäre Völkerrecht) im Hinblick auf das Recht im Krieg und das Recht zum Krieg (ius in bello bzw. ius ad bellum) damit fragmentarisch und lückenhaft. Weder das „Haager Recht“, das die Kriegführung betraf, noch das „Genfer Recht“ (das humanitäre Verpflichtungen, so zum Schutz von Kriegsopfern, festlegte) enthielt verbindliche Festlegungen, mit denen Kriegsgewalt nachhaltig eingedämmt und Verletzungen völkerrechtlicher Regelungen bestraft werden konnten. Das Recht zum Krieg blieb ohnehin in allen Ländern grundsätzlich unumstritten. Zwar stellten einzelne Rechtswissenschaftler – so der Dozent an der Universität Caen, Antoine Rougier (1877–1927), 1910 – den Grundsatz der Staatssouveränität in Frage, um den grundlegenden Menschenrechten auf Leben, Freiheit und Rechtmäßigkeit Geltung zu verschaffen. Sie konnten ihre Forderung nach humanitärer Intervention aber nicht durchsetzen.119 Darüber hinaus passten die Regierungen der einzelnen Staaten die nationalen Reglements nur teilweise den Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung an. So widersetzten sich die Regierungen Deutschlands, Russlands und Österreich-Ungarns einer weiten Auslegung der Regelungen zum Kombattantenstatus und zu den Merkmalen legitimer Kämpfer. Nach ihrer Auffassung musste ein Gebiet zudem schon unmittelbar nach der Eroberung als besetzt gelten. Mit dieser restriktiven Interpretation sollte verhindert werden, dass Milizen

S. 84–91, hier: S. 86 (DOI: 10.1080/03071847.2014.946698; Zugriff am 29. August 2018); Payk, Frieden durch Recht?, S. 56–76; Trifunović, Prisoners of War. Vgl. auch Pöppinghege, Lager, S. 55; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 189; Lieb, Völkerrecht, S. 92; Becker, Captive Civilians, S. 260 f., 272, 280 f.; Diggelmann, Völkerrecht, S. 117 f.; Howard, Total War, S. 376. 119 Daniel Marc Segesser, Katastrophe der Wissenschaft?! Gewalteskalation, Kriegsgräuel und Kriegsverbrechen als Instrumente der internationalen (Nicht-)Kooperation in der Rechtswissenschaft 1914–1919, in: Zeitgeschichte 45 (2018), S. 57–78, hier: S. 64; ders., Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 408; ders., On the Road to Total Retribution?, S. 357; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 56, 80; Klose, „In the Cause of Humanity“, S. 421 f.; Swatek-Evenstein, History, S. 143 f., 148; Neff, Justice, S. 296 f.; Vance, Geneva Conventions, S. 110. Allgemein zum ius in bello: Dülffer, Kriege, S. 5.

2.2 Humanität und Menschenrechte



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oder sogar Zivilisten als Freischärler Soldaten bekämpften. Im Kampf gegen Partisanen beschworen die Regierungen dieser Staaten unter dem Druck der Militärs deshalb im Ersten Weltkrieg schließlich unablässig „Kriegsnotwendigkeiten“, so bei der Besetzung Belgiens und Serbiens 1914/15. Noch schärfer wurde der Konflikt in den Jahren von 1939 bis 1945 im Kampf der „Achsenmächte“ gegen die Alliierten.120 Der „Kriegspositivismus“ kennzeichnete grundsätzlich zwar die Politik aller kriegführenden Staaten; er war jedoch in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Hier befürchtete die Generalität einen „Volkskrieg“, der von Partisanen ausging. Diese Kampfführung, die der Generalstab mit dem französischen Republikanismus und der westlichen Demokratie assoziierte, widersprach dem offiziellen Leitbild eines staatlich kontrollierten Krieges, in dem der militärische und zivile Bereich scharf voneinander getrennt waren. Rücksichtnahme auf Zivilisten war aus dieser Sicht unnötig oder sogar schädlich.121 Dazu hatte der Große Generalstab im Kaiserreich schon 1902 eine Schrift über den „Kriegsbrauch im Landkriege“ herausgegeben, in der betont wurde: „Humanitäre Ansprüche, d. h. Schonung von Menschen und Gütern können nur insoweit in Frage kommen, als es die Natur und der Zweck des Krieges gestatten.“ Entgegen den Bestimmungen der Haager Konvention reduzierte das Heft des Generalstabes die Einhegung der Kriegsgewalt damit auf eine freiwillige Selbstbeschränkung. Rücksichtsloses Vorgehen gegen Soldaten und Freischärler wurde sogar als „Humanität“ definiert. Es sollten lediglich Grenzen gelten, die „Brauch und Herkommen, Menschenfreundlichkeit und berechnender Egoismus errichtet haben, für deren Beachtung aber ein äußerer Zwang nicht vorhanden, sondern nur ‚die Furcht vor Repressalien‘ ausschlaggebend ist.“ Diese Einschränkung richtete sich gegen „humanitäre[n] Anschauungen, die nicht selten in Sentimentalität und weichlicher Gefühlsschwärmerei ausarteten …“. Mit dem Prinzip „Not kennt kein Gebot“ ignorierte der Jurist Emanuel von Ullmann (1841–1913) 1908 sogar alle völkerrechtlichen Einschränkungen militärischer Gewalt. Insgesamt wurde damit das Konzept der „militärischen Notwendigkeit“ nicht genutzt, um Kriegsgewalt zu begrenzen (wie noch von Lieber beabsichtigt), sondern um humanitäre Grundsätze und völkerrechtliche Regelungen einzuschränken. Aus dieser Sicht gefährdeten „Fremde“ die staatliche Integrität und nationale Sicherheit. Rücksichtnahme auf Soldaten und Zivilisten im Krieg wur-

120 Daniel Marc Segesser, Kriegsverbrechen? Die österreichisch-ungarischen Operationen des August 1914 in Serbien in Wahrnehmung und Vergleich, in: Wolfram Dornik (Hg.), Frontwechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich, Wien 2014, S. 213–233, hier: S. 216 f.; Horne / Kramer, War, S. 164, 167; Weinke, Gewalt, S. 55. 121 Horne / Kramer, War S. 167.

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de damit eng gefasst. Dagegen protestierten besonders die französische und britische Regierung.122 Zudem sahen die Vertreter der Staaten, die an den Haager Konferenzen teilnahmen, nicht voraus, dass künftige Kriege die Zivilbevölkerung umfassend einbeziehen würden. Die Regelungen konzentrierten sich deshalb auf die Kriegsgefangenen. Ein Vorschlag der japanischen Delegierten, die Bestimmungen zur Behandlung dieser Gruppe auf zivile Staatsangehörige gegnerischer Nationen auszuweiten, wurde auf der zweiten Haager Konferenz 1907 abgelehnt. Im Rückblick ging der griechische Völkerrechtler Jean Spiropoulus (Ioannis Georgiou Spyropoulos 1896–1972) davon aus, dass für die Zurückweisung der Forderung Japans eine Interpretation des Artikels 5 des Abkommens über die Regeln von Landkriegen maßgeblich war, nach der nur Soldaten interniert werden sollten. Demgegenüber wirkte das von dem deutschen Juristen Lassa Oppenheim (1858–1919) ebenfalls 1906 geprägte Konzept der „Kriegsverbrechen“ bahnbrechend. Damit bezeichnete er „such hostile or other acts of soldiers or other individuals as may be punished by the enemy on capture of the offenders.“123 Generell ging aus den Debatten über „Humanität“ im 19. Jahrhundert eine Richtschnur hervor, die kriegführende Mächte einem erheblichen Erwartungsund Rechtfertigungsdruck aussetzte. Dieser war durch die internationale Vernetzung von Aktivisten und Experten entstanden, die sich zu Verbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammengeschlossen und auch die Professionalisierung des Völkerrechtes vorangetrieben hatten. Dazu trugen im frühen 20. Jahrhundert der zunehmende grenzüberschreitende Austausch – so im Rahmen von Konferenzen – und die Mitarbeit an der der Vorbereitung von Abkommen kräftig bei. „Netz“ und „Informationen“ beschrieben um 1900 grenzüberschreitende Aktivitäten, die offizielle Beziehungen zwischen Staatsführun122 Kriegsbrauch im Landkriege. Kriegsgeschichtliche Einzelschriften, H. 31, hg. vom Großen Generalstabe, Kriegsgeschichtliche Abteilung I, Berlin 1902, S. 2 f., Zitat: Manfred Messerschmidt, Völkerrecht und „Kriegsnotwendigkeit“ in der deutschen militärischen Tradition seit den Einigungskriegen, in: German Studies Review (1983), S. 237–269, hier: S. 240. Vgl. auch Jonathan Hyslop, The Invention of the Concentration Camp: Cuba, Southern Africa and the Philippines, 1896–1907, in: South African Historical Journal 63 (2011), Nr. 2, S. 251–276, hier: S. 257; Gullace, Violence, S. 740 f.; Hinz, Gefangen, S. 59–63; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 72 f.; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 139 f.; Stibbe, Civilian Internment and Civilian Internees, S. 55; Caglioti, Aliens, S. 449. Das Sprichwort „Not kennt kein Gebot“ hatte im Deutschen Kaiserreich schon das 1878 erlassene „Sozialistengesetz“ begründen sollen. Vgl. Conze, Geschichte, S. 92 f 123 Lassa Oppenheim, War and Neutrality, London 1906, Zitat: Segesser, On the Road to Total Retribution? S. 357. Vgl. auch Weinke, Gewalt, S. 42; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 46–48.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

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gen ergänzten und beeinflussten. Angesichts des zunehmenden Lobbyismus konnte Regierungen das Völkerrecht in den beiden Weltkriegen nicht mehr einfach ignorieren. Im Kampf um die öffentliche Meinung rechtfertigten sie vielmehr eigene Überschreitungen als „Kriegsnotwendigkeit“, und sie beschuldigten gegnerische Staaten, Bestimmungen internationaler Abkommen und Konventionen verletzt zu haben. Damit wurde das Völkerrecht zum Spielball der Kriegspropaganda, die in Deutschland vorrangig auf den Primat staatlicher Politik und in den westlichen Ländern stärker auf individuelle Rechte abhob.124 Insgesamt verschwammen die Grenzen zwischen der Diplomatie und den zivilgesellschaftlichen Aktivisten, die sich grenzüberschreitend informierten und austauschten. In diesem Prozess wurden auch neue philanthropische Organisationen wie das Carnegie Endowment for International Peace gegründet. Die Stiftung unterstützte ab 1910 die Initiativen zur internationalen Verständigung, förderte die Weiterentwicklung des Völkerrechts und untersuchte Kriegsverbrechen. So entfachte der Bericht, den das Carnegie Endowment 1914 zu den beiden Balkankriegen (1912/13) vorlegte, eine öffentliche Diskussion über die Deportation, Folter und Ermordung wehrloser Zivilisten, darunter auch Frauen und Kinder. Außer der Verurteilung dieser Kriegsverbrechen und der Kritik an Übergriffen gegen Verletzte und das Rote Kreuz war besonders die Empfehlung weiterführend, dauerhaft eine internationale Kommission zu bilden, die über Verstöße gegen völkerrechtliche Bestimmungen in Kriegen berichten und damit eine Bestrafung der Täter ermöglichen sollte. Unabhängig und ohne Auftrag der Großmächte hatte das Carnegie Endowment mit seiner Untersuchungskommission, der u. a. der russische Liberale Pawel Miljukow (1859–1943) angehörte, eine kritische Öffentlichkeit weiter sensibilisiert. Zugleich waren der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen Friedensaktivisten, Juristen und einzelnen Politikern vorangetrieben worden. Damit verlieh der Bericht der Fortentwicklung des Völkerrechts Impulse, wenngleich vor allem mittel- und langfristig. Die Resonanz auf die Befunde und Empfehlungen, die erst im Mai 1914 veröffentlicht wurden und auch den Topos der „balkanischen Gräuel“ festigten, nahm nämlich rasch ab. Besonders die Forderung, die Geheimdiplomatie zugunsten einer transparenten Außenpolitik aufzugeben, traf bei den Regierungen der Großmächte auf entschiedenen Widerstand. Noch weniger wurde nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges die humanitäre Politik des IKRK unterstützt, das die

124 Norman Ingram, The War Guilt Problem and the Ligue des Droits de l’Homme, 1914–1944, Oxford 2019, S. 31. Hierzu und zum Folgenden auch: von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 122–126, 139; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 142; ders., „Unlawful Warfare is Uncivilised“, S. 219 f.; Neff, Justice, S. 300–319; Herren, Netzwerke, S. 49 f.

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Massaker während der Balkankriege ohnehin nur zurückhaltend kritisiert hatte. Damit sollte der Status als neutrale Organisation gesichert und Spielraum für weitere Unterstützungsleistungen erhalten werden.125

Der Niedergang des humanitären Völkerrechts im Ersten Weltkrieg Dennoch hatte der Stellenwert humanitärer Organisationen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zugenommen. Dies wurde auch bei der Planung der dritten Friedenskonferenz deutlich, die 1915 in Den Haag stattfinden sollte, aber nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs abgesagt werden musste. Schon im April 1912 hatte das Institut de Droit International verlangt, eine Delegation von neun Juristen zu dem Kongress zu entsenden. Auch in den USA waren Völkerrechtler und zivilgesellschaftliche Vereinigungen für die Konferenz eingetreten, an deren Vorbereitung sich mit der 1889 gegründeten „Interparlamentarischen Union“ und der International Law Association zwei einflussreiche internationale Organisationen beteiligten. Sie führten Rechtswissenschaftler mit Politikern und Journalisten zusammen. Nachdem der Beginn der Kämpfe im August 1914 der dritten Haager Friedenskonferenz die Grundlage entzogen hatte, ergriff mit der Women’s International League für Peace and Freedom (WILPF) erneut eine international agierende Organisation von Friedensaktivisten die Initiative. Dabei nahm ihr amerikanischer Verband, die Women’s Peace Party, die führende Rolle ein. Trotz des Krieges trafen sich vom 28. April bis 1. Mai 1915 über 1.000 Frauen aus zwölf Nationen unter dem Vorsitz der amerikanischen Soziologin und Pazifistin Jane Addams (1860–1935) in Den Haag. Obgleich nicht alle Aktivistinnen aus Großbritannien der Forderung nach einem Friedensschluss zustimmten und sich die Repräsentantinnen Frankreichs sogar weigerten, an der Weltfriedenskonferenz der Frauen teilzunehmen, gelang es, unter dem Motto „peace and equality“ insgesamt zwanzig Resolutionen zu verabschieden. Sie riefen u. a. zur Abschaffung des Krieges und zur Einrichtung ständiger Schiedsgerichte auf. Auch mit der Einsetzung eines „Internationalen Ausschuss für dauernden Frieden“ appellierten die Teilnehmerinnen im Ersten Weltkrieg an eine weltweite Öffentlichkeit. Nicht zuletzt dokumentiert der Einsatz der Frauen für weibliche Kriegsopfer das humanitäre Engagement der WILPF, die im Mai 125 Laurent Barcelo, La Mission Canegie dans les Balkans (Août – Septembre 1913), in: Guerres mondiales et conflicts contemporaines, Nr. 184 (1996), S. 3–13, hier: S. 6, 11; Nadine Akhund, The Two Carnegie Reports: From the Balkan Expeditions of 1913 to the Albanian Trip of 1921, in: Balkanologie 14 (2012), Nr. 1/2, S. 1–17, hier: S. 2, 5, 11; Swatek-Evenstein, History, S. 152; Segesser, On the Road to Total Retribution?, S. 358; ders, Kriegsverbrechen, S. 196 f.; Kévonian, L’enquête, S. 23–34, 40; Herren, Netzwerke, S. 53–55.

2.2 Humanität und Menschenrechte



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1919 mit einer Resolution gegen Zwangsverschleppungen und Deportationen die überlieferte Doktrin der Staatssouveränität herausforderte.126 Letztlich konnten aber alle Initiativen und Bemühungen, die auf eine „Zivilisierung“ des Krieges gerichtet waren, die extreme Gewalt, denen sich außer Soldaten auch Zivilisten ausgesetzt sahen, in den Jahren von 1914 bis 1918 nicht verhindern. Da das Souveränitätsprinzip unangetastet blieb, war die Implementierung der bereits geltenden völkerrechtlichen Normen weiterhin den Regierungen der kriegführenden Nationalstaaten überlassen. Wie dargelegt, lehnten vor allem die militärischen Eliten Deutschlands mit dem Hinweis auf strategische Zwänge, „Notstand“ und dem Argument, dass die neuen Bedingungen der Kriegführung eine Anwendung der völkerrechtlichen Grundsätze der Haager Landkriegsordnung verhinderten (Grundsatz des rebus sic stantibus), schon vor 1914 im Allgemeinen Bindungen ab, die angeblich in Kriegen den Sieg der eigenen Seite verhinderten. Nach dem Beginn der Kämpfe rechtfertigten deutsche Völkerrechtler – darunter Lassa Oppenheim – die Internierung wehrfähiger Männer der gegnerischen Nationen als Selbstverteidigung oder Repressalie. Darüber hinaus begründete Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921) die Verletzung der Neutralität Belgiens, indem er Ullmanns Rechtfertigung schrankenloser Kriegführung aufnahm und die Besetzung zu einer Notmaßnahme erklärte, mit der Deutschland angeblich nur einem Überfall Frankreichs zuvorgekommen war. Gegenüber dem britischen Botschafter Edward Goschen (1847–1924) bezeichnete der Reichskanzler den Londoner Vertrag, der 1839 die Neutralität Belgiens garantiert hatte, sogar als „Fetzen Papier“ („scrap of paper“). Die Auffassung Bethmann Hollwegs unterstützte der Herausgeber der „Zeitschrift für Völkerrecht“, Josef Kohler (1849–1919). Der Jurist Ernst Müller-Meiningen (1866–1944), der die Freiheitliche Volkspartei im Reichstag vertrat, wandte sich in einer Schrift für die englischsprachige Leserschaft sogar offen gegen eine vermeintlich obsessive Fixierung auf Humanität, die einen militärischen Sieg Deutschlands verhindere.127 Darüber hinaus verstießen deutsche Militärs in Belgien mit Gewaltmaßnahmen gegen Zivilisten, die verdächtigt wurden, Soldaten beschossen zu haben, auch gegen die völkerrechtlichen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und das Verbot von gezielten Zwangsmaßnahmen. Der Bericht einer Kommission, die der belgische Justizminister Henri Carton de Wiart (1869–1951) eingesetzt hatte, beschuldigte die Deutschen schon am 23. August 1914, in der Umgebung von 126 Kévonian, L’enquête, S. 22; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 119–122, 127–135; Stibbe, Civilian Internment, S. 202. 127 Segesser, Katastrophe der Wissenschaft?!, S. 59–61; Gullace, Violence, S. 720, 740 f.; Payk, Frieden durch Recht?, S. 79–90; Stibbe, Civilian Internment, S. 131–133.

102  2 Konzeptionelle Grundlage

Aerschot (Provinz Flämisch-Brabant) Zivilisten erschossen, Häuser abgebrannt und geplündert zu haben. Französische und britische Juristen bestätigten im darauffolgenden Jahr die Übergriffe, die der Völkerrechtler Louis Renault 1915 als „Verbrechen“ und der Jurist Hugh H. Bellot (1860–1928) im darauffolgenden Jahr sogar erstmals als „Kriegsverbrechen“ bezeichnete. Demgegenüber hatten 93 deutsche Wissenschaftler im Herbst 1914 in ihrem „Aufruf an die Kulturwelt“ die Vorwürfe als alliierte Gräuelpropaganda bezeichnet und zurückgewiesen. Auch in weiteren völkerrechtlichen Kontroversen vertraten Juristen jeweils die Positionen ihrer Regierungen. Dazu gehörte außer dem Einsatz von Giftgas, der britischen Seeblockade, dem Übergang zum uneingeschränkten U-Bootkrieg (den die Entente-Mächte mit Piraterie gleichsetzten) und der Versenkung der Lusitania die Hinrichtung des britischen Kapitäns Charles Fryatt (1872–1916), der im März 1915 ein deutsches U-Boot gerammt hatte. Als Edith Cavell (1865– 1915), eine Krankenschwester, die nach der Besetzung Belgiens durch deutsche Truppen vielen alliierten Soldaten die Flucht in die Niederlande ermöglicht hatte, am 12. Oktober 1915 hingerichtet wurde, erregte dies in den Ländern der Entente heftigen Protest, der sich gleichfalls gegen die deutschen Luftangriffe auf zivile Ziele in London richtete.128 In diesem Kontext gewann die Behandlung von Kriegsgefangenen und Internierten an Brisanz. Die meisten französischen Völkerrechtler forderten, gegnerische Soldaten auch für Delikte zu verurteilen, die sie vor ihrer Gefangennahme begangen hatten. Demgegenüber setzte sich in Deutschland 1915 die Forderung des Berliner Rechtsprofessors Adolf Arndt (1904–1974) durch, auf Verfahren gegen „feindliche Ausländer“ nach dem Reichs- oder Militärstrafgesetzbuch zu verzichten. Damit sollten Prozesse gegen deutsche Staatsbürger in gegnerischen Staaten als Repressalie verhindert werden. Alles in allem erhoben Experten auf beiden Seiten den Krieg zu einem Kampf gegensätzlicher völkerrechtlicher Konzeptionen. Dabei behaupteten sie im Einklang mit ihren Regierungen, den Krieg für Humanität und Frieden zu führen. Zugleich zerfielen im

128 Stéphane Audoin-Rouzeau, 1914–1918. La Violence de Guerre, Paris 2014, S. 56; Neville Wylie, The 1929 Prisoner of War Convention and the Building of the Inter-War Prisoner of War Regime, in: Scheipers (Hg.), Prisoners, S. 91–108, hier: S. 97 f.; Segesser, Katastrophe der Wissenschaft?!, S. 58, 70 f., 76 f., 69 f.; ders., Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 170– 176, 182–188; Vec, Congress of Vienna, S. 670, 673, 675; Neff, Justice, S. 339; Duranti, European Integration, S. 442 f. Zu Cavell: Katie Pickles, Cavell, Edith Louisa (Version 1.1), in: Ute Daniel u. a. (Hg.), 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, Berlin 2017-0124 (doi:10.15463/ie1418.10214/1.1; Zugriff am 13. Mai 2020); Kara Brown, Cavell, Edith, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 42. Zu Fryatt: Tanya Demjanenko, Fryatt, Charles Algeron (1872– 1916), in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 104 f. Zusammenfassend: von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 136–138.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

103

Ersten Weltkrieg der internationale Austausch und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaftlern. Viele von ihnen nutzten das Recht offen, um die Politik ihrer Regierungen zu legitimieren und „Feinde“ zu diffamieren. Damit trugen sie letztlich zur Eskalation der Gewalt bei. Sogar die International Law Association lehnte Repressalien nicht grundsätzlich ab. Letztlich blieb die Spannung zwischen humanitären Grundsätzen und politischer Opportunität ungelöst.129 Insgesamt vollzog sich in den Jahren von 1914 bis 1918 eine „Nationalisierung des internationalen Rechts“, das damit selber Gegenstand des Konflikts wurde. Dieser Prozess erstreckte sich auch auf die Internierung, die formal nicht gegen das Völkerrecht verstieß.130 Während die Souveränitätsdoktrin in den einzelnen Ländern vor allem die staatliche Sicherheitspolitik enorm stärkte, waren die Konzipierung, die Politik und die rechtlichen Grundlagen der humanitären Hilfe bis zum Ersten Weltkrieg schwach. Die Aktivitäten der nationalen Hilfsverbände blieben letztlich an die Ziele der nationalen Regierungen gebunden, von deren Zustimmung auch die Aktivitäten der internationalen humanitären Organisationen abhingen. Allerdings unterschied sich das Ausmaß staatlicher Kontrolle in den einzelnen Ländern. Zudem war die Haager Konvention von 1907 zumindest ein „moralisches Regulativ“ für die Kriegshandlungen, auf deren Rechtmäßigkeit besonders die alliierten Mächte achteten, um die internationale Meinung zu ihren Gunsten beeinflussen zu können.131 Da die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands Kolonialtruppen einsetzten und auch weitere Gruppen und Völker außerhalb Europas für einzelne Mächte kämpften, verschob sich überdies die Abgrenzung einer „zivilisierten“ von einer „barbarischen“ Welt, zu der die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Russlands auch das Osmanische Reich zählten. So bezeichneten sie in einem Kommuniqué am 28. Mai 1915 das Massaker an den Armeniern als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ („crimes against humanity and civilization“), für das die Verantwortlichen nach dem Krieg bestraft werden sollten. Das von Oppenheim geprägte Konzept griffen schon während 129 Zum Rekurs auf „Humanität“ beispielhaft für Kanada: Lubomyr Y. Luciuk, In Fear of the Barbed Wire Fence. Canada’s First National Internment Operations and the Ukrainian Canadians, 1914–1920, Kingston 2001, S. 38. Vgl. auch Maximilian Koessler, Enemy Alien Internment: With Special Reference to Britain and France, in: Political Science Quarterly 57 (1942), Nr. 1, S. 98–127, hier: S. 98; Page, War, S. 12 f.; Spiropoulus, Ausweisung, S. 15 f.; Payk, Frieden durch Recht?, S. 90–97, 123–128. 130 Payk, Frieden durch Recht?, S. 118; Stibbe, Civilian Internment, S. 132. 131 Zitat: Svenja Goltermann, Der Markt der Leiden, das Menschenrecht auf Entschädigung und die Kategorie des Opfers. Ein Problemaufriss, in: Historische Anthropologie 68 (2015), S. 70–92, hier: S. 79.

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des Ersten Weltkrieges auch andere Völkerrechtler wie Bellot auf, um damit eine brutale Kriegführung gegen zivile oder militärische Angehörige feindlicher Staaten zu bezeichnen. Dabei konzentrierte sich die Aufmerksamkeit aber auf Verstöße gegen völkerrechtliche Bestimmungen im Westen Europas, während Kriegsverbrechen, die auf dem Balkan, in Osteuropa, an der Front in den Alpen und auf den außereuropäischen Kriegsschauplätzen begangen wurden, oft ausgeblendet blieben. Diese Räume galten in den dominanten westlichen Staaten weithin als „unzivilisiert“.132

Humanitätsrekurse auf der Versailler Friedenskonferenz und Strafverfahren 1919–1923 Obwohl das Souveränitätsprinzip angesichts der Massengewalt gegen Zivilisten kritisiert wurde, blieb nach dem Ende der Kämpfe auf der Versailler Friedenskonferenz 1919 umstritten, ob Verstöße gegen die Genfer und Haager Konventionen als Verbrechen gelten sollten. Ebenso wenig absehbar war die Bestrafung von Soldaten für brutale Übergriffe. Zu den Delikten, deren Ahndung verlangt wurde, gehörte nicht nur völkerrechtswidrige Gewalt, sondern auch die Zwangsarbeit von Zivilisten. Jedoch lehnten die USA – vertreten durch Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) und Außenminister Robert Lansing (einen Rechtsanwalt, 1864–1928) – eine internationale Strafgerichtsbarkeit ab. Damit entzogen sie dem Vorschlag, die „laws of humanity“ (nach der „Martens-Klausel“) als Grundlage für Prozesse gegen die Führung des Deutschen und des Osmanischen Reiches zu nutzen, den Boden. Ebenso entschieden wandte sich besonders die amerikanische Delegation in den Versailler Verhandlungen gegen eine rückwirkende Anwendung völkerrechtlicher Bestimmungen. Dies wurde auch von vielen (nicht nur nationalistischen) Politikern in Deutschland zurückgewiesen, die in ihrer Erbitterung über den „Kriegsschuldparagraphen“ und der daraus abgeleiteten Pflicht zu Reparationsleistungen (Artikel 231 des Versailler Vertrages) zu einem pauschalen „Völkerrechtsnegationismus“ Zuflucht nahmen. Damit übersahen sie, dass das internationale Recht zwar von den Siegermächten politisch instrumentalisiert wurde, aber durchaus durch Vorstellungen von Legalität geprägt worden war, die sich in einem längerfristigen Prozess seit 132 Michelle Tusan, „Crimes against Humanity“: Human Rights, the British Empire and the Origins of the Response to the Armenian Genocide, in: American Historical Review 119 (2014), S. 47–77; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 138–147; Payk, Frieden durch Recht?, S. 98, 100; Segesser, On the Road to Total Retribution? S. 359; ders., Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 200–203, 207; ders., „Unlawful Warfare is Uncivilised“, S. 215, 222–224; Neff, Justice, S. 350.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

105

dem 19. Jahrhundert herausgebildet hatten und nicht völlig frei interpretierbar waren. Der Protest der Verlierernationen richtete sich außerdem gegen die Forderung der siegreichen Alliierten, Personen auszuliefern, die beschuldigt wurden, Kriegsverbrechen begangen zu haben (nach den Artikeln 228 und 229). Darunter war auch der ins niederländische Exil geflohene Kaiser Wilhelm II. (1859–1941).133 Alles in allem wurde das internationale Strafrecht in Versailles kaum weiterentwickelt. Die Bezugnahme auf humanity war in den Verhandlungen nicht vorrangig auf strafrechtliche Ahndung gerichtet. Vielmehr sollte eine politische Konfliktlösung erreicht werden. So blieben Zivilisten in Kriegen auch in den folgenden Jahren völkerrechtlich kaum geschützt. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges überließen die Aburteilung von Kriegsverbrechern letztlich den Regierungen der Staaten, denen sie angehörten. So klagte das Leipziger Reichsgericht 1921/22 in zwölf Prozessen insgesamt 17 Verdächtigte an; davon wurden zehn zu einer Haft von sechs Monaten und fünf Jahren verurteilt und sieben freigesprochen. Bis 1927 mussten Ermittlungsverfahren gegen 1.600 Beschuldigte eingestellt werden, da die Beweise unzureichend waren. Überdies hatten die Richter mit ihrer weiten Auslegung von „Kriegsnotwendigkeit“ und „Kriegsbrauch“ eine Praxis fortgeschrieben, die sich um 1900 herausgebildet hatte, aber dem inzwischen vorherrschenden Verständnis des Völkerrechts widersprach. Die politische Opposition gegen die Kriegsverbrecherprozesse, die besonders unter deutschen Nationalisten und Konservativen verhasst waren, obsiegte damit über die – deutlich kleinere – Gruppe der Befürworter einer Aufarbeitung der eigenen Kriegsgewalt. Zwei vom Leipziger Gericht verurteile UBoot-Matrosen konnten sogar mit Hilfe der paramilitärischen „Organisation Consul“ aus dem Gefängnis fliehen. Ebenso scheiterten Initiativen, Wilhelm II. für den Ersten Weltkrieg zur Verantwortung zu ziehen, da die Niederlande eine Auslieferung des abgedankten Kaisers verweigerten. Immerhin war mit den

133 Gerd Hankel, Kriegsverbrechen und die Möglichkeiten ihrer Ahndung in Vergangenheit und Gegenwart, in: Thoß / Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg, S. 669–685, hier: S. 672, 677; Jürgen Matthäus, The Lessons of Leipzig. Punishing German War Criminals after the First World War, in: Patricia Heberer / Jürgen Matthäus (Hg.), Atrocities on Trial. Historical Perspectives on the Politics of Prosecuting War Crimes, Washington 2008, S. 3–23, hier: S. 5 f.; Weinke, Gewalt, S. 321. Vgl. auch Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983, bes. S. 254–259; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 147–165; dies., Martens Clause, S. 165; Payk, Frieden durch Recht?, S. 497 f., 503, 520–543, 577–592, 657; Segesser, Katastrophe der Wissenschaft?!, S. 74 f.; ders., On the Road to Total Retribution?, S. 359 f.

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Leipziger Prozessen erstmals der Grundsatz verankert worden, Kriegsverbrechen justiziell zu verfolgen.134 Demgegenüber sprachen in Konstantinopel außerordentliche Militärgerichtshöfe in 35 Prozessen gegen Angeklagte des Osmanischen Reiches z. T. hohe Strafen aus. 16 Angehörige der Polizei und der Armee erhielten die Todesstrafe. Nach der Stabilisierung der Türkei 1923 ließ Mustafa Kemal (1881–1938) die Prozesse jedoch abbrechen, und die Massaker an den Armeniern wurden im Vertrag von Lausanne (vom 24. Juli 1923) überhaupt nicht mehr erwähnt. Damit unterblieb im Osmanischen Reich bzw. in der Türkei eine strafrechtliche Ahndung von extremer Kriegsgewalt gegen Zivilisten, zumal viele Verantwortliche geflohen waren. So wurde der ehemalige Innenminister Talât Pascha (1874– 1921) am 15. März 1921 in Berlin (wo er Zuflucht gesucht hatte) von einem Angehörigen eines armenischen Geheimkommandos ermordet.135 In Österreich setzte die Nationalversammlung am 19. Dezember 1918 eine „Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen“ ein. Das Gremium sollte Vorwürfe zu Verstößen von Österreichern und Ungarn gegen völkerrechtliche Regeln im Ersten Weltkrieg prüfen. Die entmachteten adligen Eliten, die bürgerlichen Oberschichten und besonders ehemalige Offiziere lehnten aber eine vorurteilslose Untersuchung eigener Kriegsgewalt entschieden ab. Zudem vernachlässigte die „Pflichtverletzungskommission“ Übergriffe gegen Zivilisten. Nicht zuletzt erwiesen sich die Begriffe „Kriegsgräuel“ und (seltener verwendet) „Kriegsverbrechen“ als zu unpräzise, so dass sie als rechtliche Kategorien nicht taugten. Mit Unterstützung der „Feldgerichtskommission“, die das Staatsamt 134 Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003; Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2018, S. 385–403; Ewald Frie, 100 Jahre 1918/19. Offene Zukünfte, in: Zeithistorische Forschungen 15 (2018), S. 98–114, hier: S. 99; Hannes Leidinger, „Kriegsgräuel“ im Rückblick. Österreichische Diskussionen im internationalen Kontext während der Zwischenkriegszeit, in: Zeitgeschichte 45 (2018), S. 13–34, hier: S. 20; Alan R. Kramer, Prisoners in the First World War, in: Scheipers (Hg.), Prisoners, S. 75–89, hier: S. 85. Angaben nach: von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 167, 172. Geringfügig andere Werte in: Segesser, On the Road to Total Retribution?, S. 360; Hankel, Kriegsverbrechen, S. 673, 675. Vgl. auch Daniel Marc Segesser, The Punishment of War Crimes Committed against Prisoners of War, Deportees and Refugees during and after the First World War, in: Stibbe (Hg.), Captivity, S. 134–156, hier: S. 142, 150; Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018, S. 817, 1266 f.; Lingen, Martens Clause, S. 196 f.; ders., Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 231; Matthäus, Lessons, S. 15–17. 135 Daniel March Segesser, Dissolve or Punish? The International Debate Amongst Jurists and Publicists on the Consequences of the Armenian Genocide for the Ottoman Empire, 1915–23, in: Journal of Genocide Research 10 (2008), Nr. 1, S. 95–110; Payk, Frieden durch Recht?, S. 509– 518; Conze, Illusion, S. 403–407; Stibbe, Civilian Internment, S. 202; Leonhard, Frieden, S. 815.

2.2 Humanität und Menschenrechte



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für Heerwesen am 2. Dezember 1918 etabliert hatte, untersuchte die „Pflichtverletzungskommission“ zwar 484 Fälle. Davon wurden aber nicht weniger als 325 eingestellt, und schon 1922 löste die Bundesregierung, in der die österreichischen Sozialdemokraten nicht mehr vertreten waren, das Gremium auf.136 Alles in allem scheiterte die Durchsetzung von Verfahren wegen „crimes against humanity“ – und überhaupt die Durchsetzung des Konzeptes – nach dem Ersten Weltkrieg vorrangig am Souveränitätsprinzip, auf dem die Verliererstaaten, aber auch die USA energisch beharrten. Damit verbunden, wurde kein internationaler Gerichtshof gegründet, so dass Sanktionsmöglichkeiten fehlten. Die Mehrheit der Politiker und Juristen, die an den Pariser Friedensverhandlungen mitwirkten, lehnten Initiativen ab, die darauf zielten, die Leitvorstellung der „Humanität“ über den politisch-moralischen Bereich hinaus als völkerrechtliche Kategorie zu definieren und zu verwenden. Insgesamt legte das Streben nach Sicherheit auch in siegreichen Staaten wie Frankreich ein Beharren auf der nationalstaatlichen Souveränität nahe. Demgegenüber kamen Überlegungen zur kollektiven Sicherheit, die besonders Wilson vertrat, kaum zum Tragen. Gerade wegen der hohen Erwartungen an die neue Friedensordnung verbreitete sich bald Enttäuschung über „Versailles“. Es wurde deutlich, dass der Gegensatz zwischen Sicherheitskonzeptionen und -verständnissen fortbestand, die auf nationaler Souveränität bzw. auf kollektiver Vereinbarung basierten. Offenkundig konnte das internationale Völkerrecht allein den Frieden nicht nachhaltig sichern, der nach den Hoffnungen der humanitären Aktivisten aus dem totalen Krieg hervorgehen sollte. Vielmehr stabilisierte die Versailler Konferenz nochmals „die alte Welt imperialer Diplomatie …“.137 Besonders in den Staaten, die 1918 besiegt worden waren, gerieten pazifistische Organisationen, die universalistische humanitäre Grundsätze und das Konzept kollektiver Sicherheit vertraten, in die Defensive. So forderte die „Deutsche Liga für Menschenrechte“ (DLM), die 1922 aus dem „Bund Neues Vaterland“ (BNV) hervorging, zwar nachdrücklich die Verteidigung der Menschenrechte und eine neue Außenpolitik, die von den Staatsbürgern und nicht mehr von den Eliten ausgehen und getragen werden sollte. Sie konnte sich aber nicht gegen den mächtigen Revisionismus durchsetzen, der in der Weimarer Republik auf eine Beseitigung des Versailler Vertrages drängte. Die DLM rechtfertigte ihren Pazifismus deshalb mit patriotischer Pflicht. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen in Europa hatten nicht nur den Nationalismus noch verstärkt, sondern 136 Leidinger, „Kriegsgräuel“, S. 23 (Angaben), 24, 32. 137 Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, S. 69. Vgl. auch Payk, Frieden durch Recht?, S. 666; Leonhard, Peace, S. 34, 37, 45 f.; Conze, Illusion, S. 238–248, 496.

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auch die Spaltung der Friedensbewegung vertieft. Die Gegensätze wurden besonders in der Auseinandersetzung zwischen dem BNV und der Union of Democratic Control (UDC) über die Verantwortung für den Kriegsbeginn deutlich. Während der BNV die im Artikel 231 festgelegte Auffassung von der maßgeblichen Schuld des deutschen Kaiserreiches verteidigte, hob die UDC die allgemeinen Spannungen im internationalen Mächtesystem als strukturelle Ursache hervor.138

Kriegsgewalt im humanitären Völkerrecht nach 1918 Das Ausmaß der Gewalt im Ersten Weltkrieg hatte Initiativen von Juristen wie Quincy Wright (1890–1970) beflügelt, militärische Aggressionen zu ächten. Zwar wurde der 1923 vorgelegte Haager Entwurf zu den Regeln des Luftkriegs nicht angenommen, so dass eine Aufnahme in das Völkerrecht unterblieb. Jedoch verfestigte er die Kategorie der „Zivilisten“. Die Bemühungen um den Schutz dieser Gruppe vor gewaltsamen Übergriffen sollten 1928 im Kellogg-Briand-Pakt aufgenommen werden, der den Krieg ächtete und die unterzeichnenden Staaten verpflichtete, Konflikte friedlich beizulegen. Auch erweiterte sich nach 1918 der Kreis der Akteure, die an den Diskussionen über die Bestrafung von Kriegsverbrechen beteiligt waren, nochmals erheblich. Außer den Regierungen kleinerer europäischer Länder wie Belgien drängten vor allem viele lateinamerikanische und asiatische Staaten, die an den Pariser Vorortkonferenzen erstmals mit eigenen Delegationen mitgewirkt hatten, auf eine Erweiterung völkerrechtlicher Bestimmungen, die auch den Umgang mit Zivilisten in Kriegen betrafen. Vertreter Armeniens, Griechenlands und Serbiens lenkten die Aufmerksamkeit auf Verbrechen, die an Angehörigen ihrer Volksgruppen begangen worden waren. Als Magnet hatten die Pariser Verhandlungen auch auf zivilgesellschaftliche Organisationen gewirkt, die sie als Bühne nutzten, um für ihre jeweiligen Anliegen zu werben und Öffentlichkeit herzustellen. Jedoch ging aus den Pariser Vorortverträgen keine gemeinsame Sicherheitskultur hervor.139 Der Völkerbund verlieh der Entwicklung des humanitären Völkerrechts zwar weitere Impulse; allerdings war seine Wirkung letztlich gering. So blieben humanitäre Interventionen weitgehend auf das 1921 eingerichtete Hochkommis-

138 Laqua, Reconciliation, S. 219 f., 226 f. 139 Anna-Katharina Wöbse, „To cultivate the international mind“: Der Völkerbund und die Förderung der globalen Zivilgesellschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), S. 852–863, hier: S. 861; Conze, Illusion, S. 214–222; Schulz, Cultures, S. 29. Zum Haager Entwurf von 1923: Alexander; Genesis, S. 359, 374 f.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

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sariat für Flüchtlinge und einzelne Mandate für militärische Operationen beschränkt. Der Ständige Internationale Gerichtshof konnte ab 1922 ebenso wenig wie ein neu etablierter Schiedsgerichtshof (beide in Den Haag) verbindliche Regeln zur Eindämmung von Kriegsgewalt festlegen oder Konflikte wirksam schlichten. Auch einzelne Personen und internationale Organisationen durften keine Anklagen einreichen. Immerhin wurden hinsichtlich der Sicherheitspolitik, der Schlichtung und Rüstungsbeschränkungen klare Ziele formuliert, wie das 1924 verabschiedete Genfer Protokoll zeigt, das u. a. amerikanische Völkerrechtler wie James Wilford Garner und David Hunter Miller (1875–1961) nachdrücklich begrüßten. Auch wuchs ein Bewusstsein für Rechtsnormen, die international gelten sollten. Darüber hinaus wirkte das 1920 eröffnete Sekretariat mit seiner Abteilung „International Bureaux“ als wichtiges Forum, in dem Experten ihre Erkenntnisse und Auffassungen austauschten. Besonders die Beteiligung nationaler und internationaler Nichtregierungsorganisationen und die politischen und völkerrechtlichen Diskussionen an den Beratungen des Völkerbundes verliehen den Bemühungen um eine Einhegung der Kriegsgewalt gegen Zivilisten durchaus Auftrieb.140 Damit wurden der Völkerbund und seine Einrichtungen – so die 1919 gegründete Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) – zu einem „Gravitationsfeld für zivilgesellschaftliche Organisationen“ und „Expertenpool der Juristen“. Dies zeigte auch die Diskussion über die Ahndung von Kriegsverbrechen und einen internationalen Strafgerichtshof im Rahmen der 1924 gegründeten Association Internationale de Droit Pénal (International Association of Penal Law). Ebenso brachten amerikanische Stiftungen in den 1920er Jahren im Rahmen des Völkerbundes Experten zusammen, die Vorschläge zur Weiterentwicklung einer neuen internationalen Sicherheitsordnung unterbreiteten. In ihr sollten Konflikte friedlich ausgetragen werden. Zu diesen Beratungen trug nicht zuletzt die 1889 gebildete „Interparlamentarische Union für internationale Schiedsgerichtsbarkeit“ bei. Allerdings befürchteten die Nichtregierungsorganisationen eine Zentralisierung der Kompetenzen im Völkerbundsekretariat. Zudem standen einer intensiven grenzüberschreitenden Zusammenarbeit weiterhin die Interessen der Regierungen in den Mitgliedstaaten 140 Diese befriedende Wirkung hatte schon Immanuel Kant schon im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert von einem Bund der Völker erhofft. Vgl. Langewiesche, Jahrhundert, S. 44. Zu den Wirkungen des Friedensvertrages: Katharina Rietzler, Experts for Peace. Structures and Motivations of Philanthropic Internationalism in the Interwar Years, in: Laqua (Hg.), Internationalism, S. 45–65, bes. S. 48, 52–54; Wöbse, „To cultivate the international mind“, S. 852– 854, 862 f.; Leonhard, Frieden, S. 818. Zu einseitig auf die Probleme des Völkerbundes abhebend die Darstellung in: Kleinschmidt, Geschichte, S. 424–426. Vgl. auch Schulz, Cultures, S. 33.

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und die nationale Prägung der gesellschaftlichen Organisationen selber entgegen.141 1929 präzisierte eine weitere Genfer Konvention Regeln zum Umgang mit Kriegsgefangenen. Ihnen wurde u. a. das Recht auf Einwände und Petitionen gegen ihre Behandlung eingeräumt (Art. 42). Darüber hinaus durfte sie ihre jeweiligen Schutzmächte über bevorstehende Rechtsverfahren gegen sie informieren (Art. 60). Außerdem erhielten sie das Recht, sich zu verteidigen und dafür einen Rechtsbestand und Übersetzer hinzuziehen (Art. 61 und 62). Prozesse waren in Anwesenheit eines Vertreters der Schutzmacht durchzuführen, wenn diesem Verfahren nicht das übergeordnete Ziel der Staatssicherheit entgegenstand (Art. 62). Kriegsgefangene wurden rechtlich den Soldaten der Gewahrsamsmacht gleichgestellt (Art. 63), und sie durften Einspruch gegen Urteile einlegen (Art. 64). Schuldsprüche in Strafverfahren waren der jeweiligen Schutzmacht unverzüglich zu übermitteln (Art. 65). Bei Todesurteilen mussten die tragenden Gesichtspunkte für die Strafzumessung detailliert erläutert werden (Art. 66). Darüber hinaus verbriefte das Genfer Abkommen Rechte der Schutzmächte, vor allem zur Inspektion von Gefangenenlagern. Nicht zuletzt durften „gemischte Kommissionen“ von drei Ärzten, die vom Gewahrsamsstaat und dem IKRK ernannt werden sollten, über die Entlassung kranker und schwer verletzter Gefangener entscheiden. Anders als die Haager Konventionen bezog sich das Abkommen nicht vorrangig auf die Mittel, sondern auf die Opfer des Krieges.142 Die Genfer Konvention von 1929 erweiterte deshalb zwar das humanitäre Völkerrecht und wurde ein wichtiger Bezugsrahmen der Diskussion über den Umgang mit Kriegsgefangenen.143 Die Konvention sollte aber Kriege nicht verhindern, weshalb Pazifisten wie der britische Diplomat und Politiker Robert Ce-

141 Wöbse, „To cultivate the international mind“, S. 858, 862; Conze, Illusion, S. 249 f. Zitate nach (in dieser Reihenfolge): Herren, Internationale Organisationen, S. 54; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 183. Vgl. auch Herren, Netzwerke, S. 60 f.; Neff, Justice, S. 353–357; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 234–261; ders., On the Road to Total Retribution?, S. 361 f.; Little, Explosion, S. 3–8. 142 Text in Rechtsinformationssystem des Bundes, Österreich (https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000191; Zugriff am 22. September 2018). Vgl. auch Jonathan F. Vance, Mixed Medical Commissions, S. 190 f., hier: S. 190; Vance, Geneva Convention of 1929, in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 197; ders., Protecting Power, S. 228. Das Abkommen sollte im Zweiten Weltkrieg von den Regierungen der kriegführenden Mächte umfassend verbreitet und publiziert werden. Vgl. z. B. Extracts from International Convention relative to the Treatment of Prisoners of War, Geneva, July 27, 1929, in: NA, HO 215/462. 143 So die Argumentation in Wylie, Convention, S. 91.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

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cil (1864–1958) eine Mitwirkung an den Beratungen abgelehnt hatten.144 Auch der völkerrechtliche Schutz ziviler Kriegsopfer blieb lückenhaft. Obwohl das Internationale Komitee vom Roten Kreuz schon 1921 verlangt hatte, auch Zivilisten in den kriegführenden Staaten gegen Gewalt abzuschirmen, scheiterte dieser Neuansatz in den zwanziger Jahren, da Politiker und Militärs vorrangig auf einen verbesserten völkerrechtlichen Status von Kombattanten fixiert waren. Zudem hatten mächtige Länder wie Frankreich, Belgien und die Vereinigten Staaten 1921 nicht an der Konferenz des Roten Kreuzes teilgenommen, und Deutschland blieb von allen internationalen humanitären Aktivitäten zunächst ausgeschlossen. Nicht zuletzt vertraute die Staatengemeinschaft lange auf die Verhandlungen im Rahmen des Völkerbundes und die Bestimmungen der Pariser Vorortverträge zum Minderheitenschutz. Diese blieben aber letztlich weitgehend wirkungslos, weil die Friedensordnung die Nationalstaaten weiter gestärkt hatte. Damit war das Konzept der „nationalen Selbstbestimmung“ vieldeutig, oft widersprüchlich und durchweg umstritten geblieben. Letztlich wurde es den Anforderungen an eine europäische Sicherheitsordnung nicht gerecht. So enthielt die Genfer Konvention von 1929 keine Bestimmungen zum Umgang mit Minderheiten. Auch Überlegungen zur Einrichtung einer internationalen Gerichtsbarkeit gegen Kriegsverbrecher nach dem weitgehenden Scheitern der Prozesse in den frühen zwanziger Jahren versandeten zunächst folgenlos. Letztlich blieb die Behandlung von Zivilisten eine innere Angelegenheit der nationalstaatlichen Regierungen. Wirksamer waren in den Pariser Vorortverträgen die Bestimmungen zur Rückführung der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, deren Repatriierung beispielsweise im Artikel 214 des Versailler Friedensvertrages festgelegt wurde. Die Regelungen waren insgesamt aber widersprüchlich, da die Abkommen einerseits Sicherheit vor einer neuen Aggression der „Mittelmächte“ – besonders Deutschlands – bieten, andererseits aber auch Grundsätzen einer universelleren Humanität gerecht werden sollten. Die Repatriierung internierter Angehöriger der Verliererstaaten verzögerte sich deshalb, teilweise sogar bis 1921/22.145 144 Zu Cecil, der im November 1918 Leiter der Völkerbundsabteilung im Foreign Office wurde: Conze, Illusion, S. 223 f. 145 Jörg Später, Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902–1945, Göttingen 2003, S. 56; Gerald Steinacher, Humanitarians at War. The Red Cross in the Shadow of the Holocaust, Oxford 2017, S. 37 f.; Wylie, Convention, S. 94; Segesser, Lager, S. 47; Oeter, Entwicklung, S. 51–53; Best, Humanity, S. 232 f.; Kramer, Combatants, S. 197; Goltermann, Markt, S. 80. Zum Minderheitenschutz und seinen Aporien nach 1918: Jost Dülffer, Humanitarian Intervention as Legitimation of Violence – the German Case 1937–1939, in: Klose (Hg.), Emergence, S. 208–228, hier: S. 209; Volker Prott, Tying Up the Loose Ends of National Self-Determination: British, French, and American Experts in Peace Planning, 1917–1919, in: Historical

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In den 1920er und 1930er Jahren blieben auch die Fortschritte bei der Eindämmung exzessiver Kriegsgewalt begrenzt. Zwar forderten Völkerrechtler einen verstärkten Schutz der Menschenrechte. Einzelne schlossen zu diesem Zweck sogar militärische Interventionen nicht aus. Jedoch fehlten dem Völkerbund Kompetenzen, mit denen Sanktionen gegen Regierungen durchgesetzt werden konnten. Trotz des Bekenntnisses zur kollektiven Verantwortung der Staatengemeinschaft und der Aufnahme von Minderheitenrechten in die Pariser Friedensverträge wurde das Souveränitätsprinzip kaum eingeschränkt. Auch galten nationale Streit- und Polizeikräfte für die Sicherheit der Staaten nach wie vor als unentbehrlich. Angesichts dieser Vorbehalte blieb der völkerrechtliche Schutz von Zivilisten unzureichend. Eine Erklärung des Institut de Droit International zu Menschenrechten, die der frühere Diplomat und neue humanitäre Aktivist André Mandelstam (1869–1949) 1929 unter dem Eindruck der Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich verfasst hatte, enthielt zwar Verpflichtungen zugunsten der unbeteiligten Bevölkerung in Kriegen. Die Regierungen nahmen die Deklaration aber kaum zur Kenntnis.146 Im Besonderen fehlte weiterhin eine uneingeschränkte Verpflichtung zum Schutz von Zivilisten in Kriegen. Die beiden 1929 verabschiedeten Genfer Konventionen zur Behandlung von Kriegsgefangenen und Verwundeten bezogen zwar erstmals alle diese Opfer ein. Jedoch blendeten sie die Mittel der Kriegführung, auf die sich die Haager Ordnung konzentriert hatte, weitgehend aus. Auch verbesserten die Konventionen ausschließlich den völkerrechtlichen Status von Soldaten gegenüber den oft sicherheitspolitisch begründeten Verfügungsansprüchen der Regierungen kriegführender Staaten. Darüber hinaus traten dem Abkommen über den Umgang mit gefangenen Soldaten und Offizieren mit der Sowjetunion und Japan zwei Großmächte nicht bei, so dass auch deshalb der Aktionsradius und die Durchsetzungskraft der internationalen humanitären Vereinigungen begrenzt blieben. Da vor allem die rechtliche Durchsetzung von Schutzregelungen weiterhin ungelöst war, trafen sich Delegierte von 42 Staaten 1930 in Den Haag zu einer weiteren Konferenz, die der Völkerbund veranstaltete. Hier scheiterten Bemühungen, Regierungen für Verletzungen Journal 57 (2014), S. 727–750; Frie, 100 Jahre, S. 104; Eric D. Weitz, From the Vienna to the Paris System: International Politics and the Entangled Histories of Human Rights, Forced Deportations, and Civilizing Missions, in: American Historical Review 113 (2008), S. 1313–1343, bes. S. 1313 f., 1341. 146 Zara Steiner, The Lights That Failed. European International History, 1919–1933, New York 2005, S. 352, 362, 373; Helmut Philipp Aust, From Diplomat to Academic Activist: André Mandelstam and the History of Human Rights, in: European Journal of International Law 25 (2015), S. 1105–1121; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 301 f.; Swatek-Evenstein, History, S. 171; Klose, Protecting Universal Rights, S. 171–173.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

113

grundlegender Rechte von Ausländern zur Verantwortung zu ziehen, besonders eklatant. Bis 1939, als der zweite globale militärische Konflikt begann und die Grenzen zwischen den Kampfschauplätzen und der Heimat noch weiter auflöste, blieb die „Frage der Gewalt gegen Zivilisten […] rechtlich unscharf.“ Rechtspositivisten wie Karl Strupp (1886–1940), der bis zu seiner Vertreibung 1933 an der Universität in Frankfurt am Main lehrte, erhoben deshalb das Reziprozitätsprinzip und damit die Furcht vor Vergeltung zur Grundlage des Völkerrechts.147 Ebenso wenig konnte in den 1920er und 1930er Jahren eine bindende Übereinkunft zum Schutz von Zivilisten erzielt werden. Eine Konferenz des IKRK forderte 1925 zwar, Internierte im Hinblick auf ihre Behandlung mit Kriegsgefangenen gleichzustellen. Zudem sollten Gewahrsamsmächte dem Roten Kreuz im Kriegsfall unverzüglich Namenslisten übermitteln, so dass Angehörige benachrichtigt werden konnten. Weitergehende Initiativen scheiterten aber 1934 auf einer Konferenz des IKRK in Tokio, als die japanische Regierung nach dem Angriff auf die Mandschurei drei Jahre zuvor ihr zuvor erhebliches Engagement für das humanitäre Kriegsvölkerrecht eingestellt hatte. So blieb es in Tokio bei einem Entwurf zum Schutz von Zivilisten in kriegführenden Staaten. Auch eine weitere Konferenz, die 1938 in London stattfand, war in dieser Hinsicht erfolglos. Letztlich konnte das Genfer Rotkreuz-Komitee seine Kompetenzen trotz der extremen Gewalt, die in den Jahren von 1914 bis 1918 liberal-humanitäre Fortschrittsannahmen erschüttert hatte, in den 1920er und 1930er Jahren kaum erweitern. Nach wie vor widersetzten sich nationale Regierungen Vorschlägen, die ihre politische und militärische Entscheidungsfreiheit wirksam einschränkten.148 Eine weitere Tagung, die 1940 in Genf stattfinden sollte, musste abgesagt werden, und eine Konvention, die das IKRK zusammen mit der International Association of International Lawyers vorbereitet hatte, versandete. Auch der Völkerbund stand den Aggressionen Japans, Italiens und Deutschlands in den 1930er Jahren weitgehend hilflos gegenüber. Benito Mussolini (1883–1945)

147 Zitat: von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 188. Vgl. auch Iris Heidebrink, Prisoners of War, in: Peter Post (Hg.), The Encyclopedia of Indonesia in the Pacific War, Leiden 2010, S. 174–178, S. 177; Jonathan F. Vance, Geneva Convention of 1929, in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 107 f., hier: S. 108; Vance, International Committee of the Red Cross, S. 145; Dawes, International Law, 146; Neff, Justice, S. 361–365; Durand, Sarajevo, S. 413, 443; Wylie, Convention, S. 102; Moorehead, Dream, S. 377; Overmans, „Hunnen“, S. 360. 148 Olive Checkland, Humanitarianism and the Emperor’s Japan, 1877–1977, Houndmills 1994, S. 85, 90; Frederick Dickinson, War and National Reinvention. Japan in the Great War, 1914–1919, Cambridge 1999, S. 252–255; Thomas Brückner, Hilfe schenken. Die Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz 1919–1939, Zürich 2017, S. 80–84; Crossland, Britain, S. 33– 36, 106; Durant, Sarajevo, S. 445.

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nahm sogar ausdrücklich den Schutz der Menschenrechte in Anspruch, um im Oktober 1935 seinen Angriff auf Abessinien zu verteidigen. Ähnlich stellte das nationalsozialistische Regime die Rechte der deutschen Minderheiten in den Dienst ihrer Expansionspolitik, die es 1938/39 mit dem Prinzip der Selbstbestimmung rechtfertigte und als humanitäre Intervention ausgab. Darüber hinaus stellten die Machthaber des „Dritten Reiches“ das Völkerrecht, das sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, grundsätzlich in Frage. Sie lehnten die Doktrinen von der Staatssouveränität und begrenzter Kriege kategorisch ab. Stattdessen gingen sie von der sozialdarwinistischen Vorstellung eines Rassenkrieges zwischen den Völkern um ihr Überleben aus. Intellektuelle Anhänger wie der Staatsrechtler Carl Schmitt (1888–1985) betonten den uneingeschränkten Kampf um Raum als Grundprinzip der internationalen Ordnung, während sie die Rolle von Staaten, Souveränität und Völkerrecht in Abrede stellten.149 Dagegen scheiterten in den 1930er Jahren Initiativen nichtstaatlicher Organisationen und Akteure, die auf eine Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts drängten und auf einem erweiterten Schutz von Zivilisten bestanden. Allerdings schützte ein Abkommen über die Stellung der Flüchtlinge aus Deutschland vom 10. Februar 1938 diese Gruppe zumindest vor einer pauschalen Verhaftung und Internierung, wie schon zeitgenössische Rechtswissenschaftler erkannten. Zwar erwiesen sich auch diese Verpflichtung der Regierungen im Zweiten Weltkrieg gegenüber Sicherheitsängsten letztlich als wirkungslos. Immerhin hatten die völkerrechtlichen Abkommen aber normative Erwartungen zur Behandlung von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten verankert, denen sich Krieg führende Mächte nicht mehr offen entziehen konnten, ohne ihre Legitimität und Reputation im internationalen Staatensystem einzubüßen.150

149 Dülffer, Intervention, bes. S. 211–213, 215, 227 f.; Klose, Protecting Universal Rights, S. 174; Gumz, International Law, S. 634–636. 150 Branden Little, State, Civil Society and Relief Organizations for War, in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, hg. von Ute Daniel u. a., issued by Freie Universität Berlin, Berlin 2014-10-08 (DOI: 10.15463/ie1418.10490; Zugriff am 15. Oktober 2019). Hierzu und zum Folgenden auch: E. J. Cohn, Legal Aspects of Internment, in: Modern Law Review 4 (1941), Nr. 3, S. 200–209, hier: S. 203 f.; Koessler, Internment, S. 99 f., 111 f. Vgl. auch John Joel Culley, Enemy Alien Control in the United States during World War II: A Survey, in: Saunders / Daniels (Hg.), Alien Justice, S. 138–151, hier: S. 138, 140. Politikwissenschaftliche Arbeiten haben für die neuere Menschenrechtsdiskussion den Stellenwert und die Wirkung internationalen Drucks auf um ihre Legitimität besorgte Regierungen belegt. Vgl. Thomas Risse / Kathryn Sikkink, The Socialization of International Human Rights Norms into Domestic Practices: Introduction, in: ders. (Hg.), The Power of Human Rights. International Norms and Domestic Change, Cambridge 1999, 1–38, hier: S. 8, 10, 37 f.

2.2 Humanität und Menschenrechte



115

So beschuldigten sich die Regierungen Polens und Deutschlands nach dem Beginn des Angriffs des „Dritten Reiches“ gegenseitig, den Kellogg-Briand-Pakt gebrochen zu haben. Damit erkannten sie die normative Geltung des Vertrages zumindest indirekt an. Noch hemmender wirkte erneut die Furcht vor Repressalien, die den Regierungen nahelegte, das Kriegsvölkerrecht zu beachten. Dieses utilitaristische Motiv aufnehmend, schlug das IKRK den Regierungen der kriegführenden Staaten bereits im September 1939 vor, den Entwurf zu übernehmen, den es auf seiner fünften internationalen Konferenz 1934 in Tokio vorlegt hatte. In einer Denkschrift vom 21. Oktober 1939 wiederholte das Rote Kreuz seine Forderung, die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 auch auf internierte Zivilisten anzuwenden. Zudem sollten zivile Feindstaatenangehörige beschleunigt ausgebürgert werden. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt (1882–1945) rief die Regierungen Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs im September 1939 sogar auf, grundsätzlich von einer Internierung von Zivilisten abzusehen und sie auszubürgern oder auf Bewährung freizulassen. Zwar hatte sich bis zu den 1930er Jahren unter Rechtswissenschaftlern und vielen Politikern ein Konsens darüber herausgebildet, auch Zivilisten gegnerischer Staaten menschenwürdig zu behandeln. Aber nur einzelne Staaten wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland verpflichteten sich im Herbst 1939 ausdrücklich, Feindstaatenangehörige, die sich in ihrer Obhut befanden, ebenso zu schützen wie Kriegsgefangene. Dennoch wurden von 1940 bis 1942, als in den westlichen Demokratien die „nationale Sicherheit“ bedroht war (oder schien), auch in diesen Ländern enemy aliens pauschal und ungeprüft als (potentielle) „innere Feinde“ interniert. Damit sollte die Sicherheit im Krieg erhöht, Angst in der Bevölkerung verringert und so die Legitimität der Regierungen gestärkt werden.151 Der Zweite Weltkrieg erschreckte besonders wegen der extremen Gewalt der NS-Funktionäre, deutscher SS-Angehöriger und Soldaten in den besetzten Gebieten, vor allem in Osteuropa. Adolf Hitler (1889–1945) bezeichnete sogar noch im Mai 1944 eine humanitäre Rücksichtnahme auf Juden als „höchste Grausamkeit gegen das eigene Volk.“152 Bis 1941 war in den alliierten Staaten aber kaum über die Kriegsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands diskutiert worden. Vielmehr hatten deutsche Völkerrechtler wie Carl Schmitt und Axel von Freytagh-Loringhoven (1878–1942), die Übergriffe gegen „Volksdeutsche“ (vor allem in Polen) beklagten, Aktionen von Freischärlern als illegal verurteilten und damit den nationalsozialistischen Angriffskrieg zumindest indirekt rechtfertigten, zunächst die Diskurshoheit gewonnen. Demgegenüber verliehen 151 Segesser, On the Road to Total Retribution?, S. 362 f.; Durant, Sarajevo, S. 445–447. 152 Zitat: Peter Longerich, Hitler. Biographie, München 2017, S. 950.

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2 Konzeptionelle Grundlage

die frühen Berichte über die Kriegsverbrechen, die NS-Funktionäre, aber auch Angehörige der staatlichen Verwaltung schon 1939/40 begingen, der politischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten erst ab 1941 kräftige Impulse. Besonders die sich verdichtenden Nachrichten über den Völkermord an den Juden verstärkten in London Bemühungen von Politikern und Völkerrechtlern (von denen viele aus ihren Heimatländern vertrieben worden waren), frühere Initiativen zur Einhegung der Kriegsgewalt aufzunehmen und weiterzuentwickeln.153 Dabei blieb die Definition von „Kriegsverbrechen“ aber lange umstritten. Experten, die – wie George Finch (1884–1957), der Vorsitzende der American Society for International Law – eine Bestrafung der Verursacher des Krieges ablehnten, standen andere Juristen gegenüber, die forderten, die NS-Führung kollektiv für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Ebenso kontrovers wurde über das Rückwirkungsverbot diskutiert, das lediglich eine Ahndung von Taten erlaubte, die bestraft werden konnten, als sie begangen wurden (Grundsatz des nullum crimen, nulla poena sine lege). Nicht zuletzt war die Form der Jurisdiktion umstritten. So verlangte der nach Großbritannien emigrierte deutsche Rechtswissenschaftler Ernst Joseph Cohn (1904–1976) bereits 1940, Prozesse in den Heimatstaaten der Opfer durchzuführen. Demgegenüber traten andere Fachleute für die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes ein. Dieser Vorschlag setzte sich Anfang 1945 in den Regierungen der alliierten Mächte durch, nachdem der sowjetische Diktator Josef Stalin (1878–1953) und der britische Premierminister Winston Churchill (1874–1965) ihren Vorschlag zurückgezogen hatten, die führenden Nationalsozialisten ohne Rechtsverfahren zu exekutieren.154 Unstrittig war in den alliierten Staaten, dass der Zweite Weltkrieg eine neue Qualität der Gewalt gegen Zivilisten hervorgebracht hatte. Zwar waren von 1939 bis 1945 – mit Ausnahme der USA – weniger zivile Feindstaatenangehörige interniert worden als im Ersten Weltkrieg. Jedoch wurde die Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands als tiefer „Zivilisationsbruch“ wahrgenommen. Unter dem Eindruck der systematischen Ermordung von Juden und anderen Minderheiten als Folge der NS-Rassendoktrin intensivierte sich die seit dem 19. Jahrhundert geführte Diskussion über eine humanitäre Einhegung von Kriegsgewalt erneut erheblich. Nachdem das Konzept, ganze Gruppen zu schüt-

153 Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 303–393; ders., On the Road to Total Retribution?, S. 363–370. 154 Arnd Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012, S. 113–115.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

117

zen, gescheitert war, gewann die Forderung, individuelle Menschenrechte zu gewährleisten, zusehends Einfluss auf die internationale Politik.155 Dazu wurden nach 1945 wichtige völkerrechtliche Grundlagen gelegt. Schon während des Zweiten Weltkrieges hatten die alliierten Mächte – so in einer am 18. Dezember 1942 veröffentlichten Erklärung – den Völkermord an den Juden verurteilt, ohne sich allerdings zu einer strafrechtlichen Verfolgung zu verpflichten. Die Deklaration sollte vorrangig den Widerstand im besetzten Europa gegen die deutschen Okkupanten stärken und die Exilregierungen beruhigen, die aus dem besetzten Europa nach London geflohen waren. Die United War Crimes Commission, die im Oktober 1943 eingerichtet wurde, drängte aber auf Ermittlungen, auch wegen NS-Verbrechen, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg an deutschen Staatsangehörigen begangen worden waren. Damit bereitete sie der Verfolgung staatlich gebilligter oder sogar angeordneter Kriminalität den Boden.156 Nach dem Londoner Statut vom 8. August 1945 konnten nicht nur „Verbrechen gegen den Frieden“ (crimes against peace) und „Kriegsverbrechen“ (war crimes), sondern auch „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (crimes against humanity) geahndet werden. Damit war von Politikern und Juristen, die an der Vorbereitung der Grundsätze mitgewirkt hatten, das Konzept aufgenommen worden, das bereits 1915 von den Entente-Mächten in ihrer Deklaration gegen den Völkermord an den Armeniern verwendet worden war. Darüber hinaus setzten sich besonders Mandelstam und der österreichisch-britische Rechtswissenschaftler Hersch Lauterpacht (1897–1960) für humanitäre Interventionen als letztes Mittel ein, um im Rahmen der am 26. Juni 1945 unterzeichneten Charta der UNO gravierende Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden.157 Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (1945/46) und in den zwölf Nachfolgeprozessen (bis 1949) wurden die angeklagten deutschen Kriegsverbrecher wegen der erwähnten Delikte zum Tode verurteilt. In den Verfahren ver155 Weitz, Vienna, S. 1314, 1330, 1332, 1340 f.; Kempner, Enemy Alien Problem, S. 444, 456; Caglioti, Aliens, S. 454 f.; dies., Dealing with Enemy Aliens, S. 194; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 31. Zum Kontext: Dan Diner u. a. (Hg.), Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz, Frankfurt/M. 1988. 156 Thomas Buergenthal, International Law and the Holocaust, in: Michael J. Bazyler / Roger P. Alford (Hg.), Holocaust Restitution. Perspectives on the Litigation and Its Legacy, New York 2006, S. 17–29; von Lingen, „Crimes Against Humanity“ (2011); Segesser, On the Road to Total Retribution?, S. 370–373; Kochavi, Role, S. 59–80. 157 Neff, Justice, S. 397–401; Klose, „In the Cause of Humanity“, S. 430 f.; ders., Protecting Universal Rights, S. 183; Swatek-Evenstein, History, S. 180. Zu Lauterpacht: Martti Koskenniemi, A Closet Positivist. Lauterpacht Between Law and Diplomacy, in: James Loeffler / Moria Paz (Hg.), The Law of Strangers. Jewish Lawyers and International Law in the Twentieth Century, Cambridge 2019, S. 43–48.

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band sich das juristische Ziel, Verbrechen zu ahnden, für die das NS-Regime und seine Träger verantwortlich waren, mit historisch-politischer Aufarbeitung. Die Ermordung der Juden begründete rechtlich zudem erstmals den Tatbestand des „Genozids“. Damit war eine neue Phase in der Entwicklung des Völkerstrafrechtes erreicht. Das Londoner Statut und die Verfahren gegen Kriegsverbrecher regten die Gründung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag 1945 an.158 Im Dezember 1946 bestätigte die Generalversammlung der UNO die Rechtsgrundsätze, auf denen die Urteile im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess basiert hatten. Wichtige Grundlagen des völkerrechtlichen Schutzes von Zivilisten in Kriegen enthielt auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Obgleich der Beitrag des Holocaust zur Vorbereitung und Durchsetzung der Deklaration in der Forschung umstritten geblieben ist, verlieh die Erfahrung präzedenzloser Gewalt gegen Nichtkombattanten den Befürwortern universeller Menschenrechte kräftig Unterstützung.159 Nicht zufällig legte die vierte Genfer Konvention 1949 deshalb im Einzelnen und erstmals Grundsätze zur Behandlung von Zivilisten fest, die sich in Kriegen in der Hand von Gegnern befinden. Das Abkommen räumte Feindstaatenangehörigen das Recht ein, ihre Gastländer zu Beginn von Konflikten zu verlassen, und verbot ausdrücklich Geiselnahmen, Folter, Zwangsarbeit, Kollektivstrafen, Vergeltungsmaßnahmen und andere Repressalien. Überdies untersagte die Konvention Deportationen, die ungerechtfertigte Zerstörung von Eigentum und die Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu Nationen, Konfessionen und Rassen oder politischen Überzeugungen. Nach den Artikeln 41 und 78 war eine Internierung von Zivilisten erlaubt, wenn die Sicherheit des betreffenden Staates gefährdet war, die Menschenwürde der Festgehaltenen bewahrt wurden und der Umgang mit ihnen weitestgehend den Regeln folgte, die für Kriegsgefange158 Vgl. von Lingen, „Crimes Against Humanity“ (2011); dies., Martens Clause, S. 188, 206; Segesser, On the Road to Total Retribution?, S. 372 f. 159 Im Einzelnen unterschiedliche Interpretationen in: Johannes Morsink, The Universal Declaration of Human Rights. Origins, Drafting and Intent, Philadelphia 1999, bes. S. 36–91; ders., The Dawn of Human Rights. The Universal Declaration and the Conscience of Humanity, in: Rainer Huhle (Hg.), Human Rights and History. A Challenge for Education, Berlin 2010, S. 25– 36; Dan Plesch, America, Hitler and the UN. How the Allies won the World War II and forged a Peace, London 2011, S. 101–118, 185–197; Marco Duranti, The Holocaust, the Legacy of 1789 and the Birth of International Human Rights Law: Revisiting the Foundation Myth, in: Journal of Genocide Research 14 (2012), Nr. 2, S. 159–186; Daniel Levy, Cosmopolitization of Victimhood. Holocaust Memories and the Human Rights Regime, in: Annette Weinke / Norbert Frei (Hg.), Toward a New Moral World Order? Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945, Göttingen 2013, S. 210–218; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 26; Bazyler, Holocaust, S. 45–57; Hankel, Kriegsverbrechen, S. 682.

2.2 Humanität und Menschenrechte



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ne galten. Damit hatte die Genfer Konvention, in der sich die „Semantik des humanitären Völkerrechts“ deutlich niedergeschlug, trotz der weiterhin bestehenden Unklarheiten die rechtliche Einengung des Schutzes auf die Kombattanten und Zivilisten in Kampfgebieten überwunden. Die Zivilinternierten wurden völkerrechtlich mit den Kriegsgefangenen gleichgestellt.160 Auch darüber hinaus legte das Abkommen den Umgang mit Nichtkombattanten in Kriegen erstmals umfassend fest. Während die Urteile in den Prozessen gegen deutsche Verantwortliche für Geiselnahmen (besonders in Griechenland, Norwegen und Jugoslawien) 1947/48 das Recht auf Widerstand gegen Besatzungsmächte noch eng begrenzt hatten, lösten sich die 1949 verabschiedeten Genfer Konventionen in dieser Hinsicht von der Haager Landkriegsordnung. Die Bestimmungen lockerten die Verbindung zwischen der Doktrin des begrenzten Krieges und dem Besatzungsrecht. Gegen den Widerstand der Regierungen Großbritanniens und der USA setzten europäische Staaten, die unter der Okkupation des nationalsozialistischen Deutschlands gelitten hatten, nunmehr ein umfassendes Recht auf bewaffneten Kampf von Zivilisten gegen eine Besatzungsmacht durch. Der Widerstand gegen die nationalsozialistischen Okkupanten in Ländern wie Italien, Frankreich, Norwegen und Griechenland hatte diesen Wandel maßgeblich beeinflusst.161 Ambivalente Rekurse auf die jüngste Vergangenheit kennzeichneten auch die Genfer Flüchtlingskonvention, die am 28. Juli 1951 verabschiedet wurde. Sie verpflichtete die unterzeichnenden Regierungen auf den individuellen Schutz Entwurzelter. Flüchtlinge dürfen seitdem nicht mehr in Staaten zurückgeführt oder ausgewiesen werden, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Zusatzprotokolle zur vierten Genfer Konvention dehnten 1977 und 2005 den Schutz u. a. auf Opfer von Bürgerkriegen aus. Sie enthielten auch Bestimmungen zu Kriegen, die nicht zwischen Staaten geführt wurden. Wie der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen und Minderheiten in den beiden Weltkriegen zeigt, verlief die Entwicklung des humanitären

160 Zitat: Theodor Meron, The Humanization of International Law, Leiden 2006, S. 26. Vgl. auch William I. Hitchcock, Human Rights and the Laws of War. The Geneva Convention of 1949, in: Akira Iriye u. a. (Hg.), The Human Rights Revolution, New York 2012, S. 93–112; Joan Beaumont, Protecting Prisoners of War, 1939–95, in: Bob Moore / Kent Fedorowich (Hg.), Prisoners of War and their Captors in World War II, Washington 1996, S. 277–297, hier: S. 284; Jonathan F. Vance, Geneva Convention of 1929, in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 108 f.; Victoria C. Belco, Reprisals, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 250–252, hier: S. 252; Stibbe, Civilian Internment, S. 298; Auger, Prisoners, S. 17; Dawes, International Law, S. 147; Neff, Justice, S. 402 f.; Hankel, Kriegsverbrechen, S. 682; Alexander, Genesis, S. 375; Moorehead, Dream, S. 717. 161 Gumz, International Law, S. 641, 650, 652–658.

120  2 Konzeptionelle Grundlage

Völkerrechts aber keineswegs geradlinig, sondern sie war von tiefen Einbrüchen geprägt. Dies gilt auch für Interventionen zum Schutz fundamentaler Menschenrechte. Das Recht zu Eingriffen wurde auch während des Kalten Krieges diskutiert, vor allem im Hinblick auf die Vereinten Nationen.162

Bilanz und Ausblick: humanitäres Völkerrecht und Engagement im Zeitalter der Weltkriege Insgesamt wurde die Masseninternierung von Zivilisten im Ersten Weltkrieg ein gefährlicher Präzedenzfall. Die NS-Machthaber luden die Doktrin nationaler Souveränität im „Dritten Reich“ schließlich mit ihrer Volkstumsideologie, dem Antisemitismus und Rassismus auf, indem sie die Slawen Osteuropas als minderwertig erklärten und sie zur Verfügungsmasse ihrer radikalen Volkstums-, Vernichtungs- und Expansionspolitik degradierten. Zugleich wurden humanitäre Konventionen und zivilisatorische Standards in den Jahren von 1939 bis 1945 gegenüber dem Ersten Weltkrieg noch weiter zurückgedrängt.163 Deutlich abgemildert vertraten in den beiden Weltkriegen auch die Regierungen anderer kriegführender Staaten den Primat nationaler Sicherheit. Auf dieser Grundlage unterwarfen sie zivile Feindstaatenangehörige einem rigorosen Reglement, das von der Isolierung über die Arbeitspflicht und Internierung bis zur Deportation in Lager reichte. Die Maßnahmen richteten sich zwar vorrangig gegen Angehörige gegnerischer Nationen, aber auch gegen politische Gegner und Minderheiten, die als „innere Feinde“ galten. Sie wurden mit den Kriegsgegnern assoziiert und oft sogar einfach identifiziert. Über die staatsrechtliche Perspektive hinaus muss der Umgang mit diesen Gruppen deshalb in die Darstellung einbezogen werden. Allerdings ist dabei zu beachten, das demokratische Regierungen keinen Genozid verübten.164 162 Überblick in: Segesser, Lager, S. 47–50; Koskenniemi, History, S. 945; Dülffer, Kriege, S. 7; Schulz, Dilemmas, S. 59; Dawes, International Law, S. 147; Echternkamp, Krieg, S. 22; Lieb, Völkerrecht, S. 92, 94; Fisch, Völkerrecht, S. 163–166. Vgl. auch Klose, „In the Cause of Humanity“, S. 436 f. 163 Isabel Hull, A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law during the Great War, Ithaca 2014, S. 324–328; Jones, Great War, S. 87 f.; Diggelmann, Völkerrecht, S. 107. 164 Angaben nach: Charmian Brinson / William Kaczynski, Fleeing from the Führer. Exil und Internierung in Briefen, Darmstadt 2017, S. 192; John Ormerod Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1: Friends and Relief, York 1975, S. 317. Zum Konzept des „Genozids“, das der Jurist Raphael Lemkin 1943/44 prägte, der Überblick in: Hans-Lukas Kieser / Donald Bloxham, Genocide, in: Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, Bd. 1: Global War, Cambridge 2014, S. 585–614, hier: S. 586–591. Vgl. auch Mühlhahn, Concentration Camp, S. 549; Stibbe, Civilian Internment, S. 296.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

121

Im Ersten Weltkrieg hegte vor allem die Furcht vor Repressalien die Gewalt gegen Angehörige gegnerischer Staaten ein. Sie bildete einen wichtigen Anreiz zur Befolgung des Völkerrechts, dessen Weiterentwicklung angesichts des enormen destruktiven militärischen Potentials, einer hypertrophen Sicherheitspolitik und der damit einhergehenden Repression „innerer Feinde“ dringend erforderlich schien. Tatsächlich konnten damit weitere militärische Auseinandersetzungen zwischen Staaten zwar nicht verhindert, aber doch gezähmt werden. Allerdings entschieden über Konfliktfälle jeweils ausschließlich die Regierungen der kriegführenden Länder. Demgegenüber fehlte eine überparteiliche Schlichtungsinstanz. Damit konnten repressive Maßnahmen gegenüber Feindstaatenangehörigen – gefangenen Soldaten und Zivilisten – nahezu beliebig als Vergeltung gerechtfertigt werden. Die „Neigung zum Repressalienargument“ höhlte letztlich das Völkerrecht aus. Auslegungen vertrags- und gewohnheitsrechtlicher Regelungen wie die Haager Landkriegsordnung bzw. die „Martens’sche Klausel“ unterwarfen die Regierungen der kriegführenden Staaten letztlich ihrem utilitaristischen Kalkül.165 Nach 1918 beeinflusste der Rekurs auf Menschenrechte zunehmend die Mobilisierung zugunsten von Kriegsopfern. So wurde 1922 die International Federation for Human Rights Leagues gegründet. Der Humanitarismus avancierte zu einer wichtigen Legitimationsfigur und Bezugsgröße, ohne dass er die Doktrin vom Primat territorial- bzw. nationalstaatlicher Souveränität der Regierungen in der völkerrechtlichen Diskussion nachhaltig einschränkte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen die Anforderungen an die Herstellung und Gewährleistung von Menschenrechten nochmals erheblich. Dazu trug nicht nur der Völkermord an den Juden und die präzedenzlose militärische Gewalt bei, sondern auch schon die Erfahrung der Kämpfe und Opfer in den Jahren von 1914 bis 1918. Die Ohnmacht angesichts der Übergriffe gegen Zivilisten belebte humanitäres Engagement. Die Hilfsleistungen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und anderer humanitärer Organisationen, die bereits vor 1914 Kriegsopfer unterstützt hatten, bezogen im Ersten Weltkrieg zivile Feindstaatenangehörige ein. Sie wurden in bilateralen Vereinbarungen zwischen kriegführenden Staaten – so den Abkommen Deutschlands mit Großbritannien im Juli 1918 und mit den USA im November – zusehends Soldaten gleichgestellt. Nach dem Waffenstillstand entstand 1919 schließlich auf Initiative des Amerikanischen Roten Kreuzes die Internationale Föderation der Rotkreuzgesellschaften als supranationale

165 Diggelmann, Völkerrecht, S. 115, 118.

122  2 Konzeptionelle Grundlage

Organisation. Sie sollte die grenzüberschreitenden Bemühungen zur Kriegsopferhilfe noch effektiver koordinieren.166 Alles in allem waren die humanitären Werte, die völkerrechtliche Konzeptionen und Überlegungen jeweils enthielten, in den beiden Weltkriegen durchweg an die Interessen der Regierungen gebunden, die bestrebt waren, ihre Handlungsfreiheit im Hinblick auf die Kriegführung zu wahren. In dieser Hinsicht beeinflussten vor allem Vorstellungen über militärische Handlungslogiken und Sachzwänge die Politik zur Herstellung von innerer und äußerer Sicherheit. Bemühungen zur Reglementierung von Kriegsgewalt weisen deshalb nicht nur eine idealistische, sondern auch eine pragmatische Dimension auf. So mussten alle kriegführenden Regierungen nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit auf ihre eigenen Staatsangehörigen Rücksicht nehmen, die sich in der Hand der gegnerischen Mächte befanden. Vor allem sollten Repressalien vermieden werden. Zudem musste die öffentliche Meinung in anderen Ländern, besonders den neutralen Staaten, gewonnen werden. Auch dieser Aspekt hat Kriegsgewalt begrenzt. Nicht zuletzt wirkten Inspektionen – vor allem der Kriegsgefangenenund Internierungslager – durch die Schutzmächte und Hilfsorganisationen in den beiden Weltkriegen mildernd, denn die Regierungen der kriegführenden Mächte scheuten das Stigma der inhumanen Behandlung wehrloser Feindstaatenangehöriger.167 Im 20. Jahrhundert erweiterte sich auch der sachliche Geltungsbereich der Menschenrechte. Während soziale Sicherheit in der Erklärung der Menschenund Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung vom 26. August 1789 noch nicht erwähnt worden war, wurde sie in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO aufgenommen. Allerdings vollzog sich dieser Prozess keineswegs geradlinig. So lösten die Allgemeine Erklärung der UN-Vollversammlung und die vom Europarat ausgearbeitete Europäische Menschenrechtskonvention, die im November 1950 unterzeichnet wurde, zunächst keinen umfassenden humanitären Aktivismus aus. Erst nach dem Abbruch der Modernisierungseuphorie, mit dem Beginn der Debatte über den Holocaust und angesichts der Entspannungspolitik bildete sich seit den 1970er Jahren ein grenzüberschreitender Menschenrechtsdiskurs heraus – einem Jahrzehnt, in dem auch der Terrorismus zu einer Herausforderung in der internationalen Politik wurde. Obgleich der Stellenwert der 1970er Jahre in der Entwicklung der Menschenrechte umstritten geblieben ist, setzten sich universalistische Bezüge, die sich nicht auf einzelne Gruppen beschränkten, erst seit diesem Jahrzehnt 166 Schulz, Dilemmas, S. 61; Speed, Prisoners, S. 153; Echternkamp / Mack, Militärgeschichte, S. 16. 167 Hinz, Gefangen, S. 45 f., 65, 70, 136 f.

2.2 Humanität und Menschenrechte 

123

durch. Nunmehr protestierten zunehmend auch Nichtregierungsorganisationen u. a. gegen die Repressionspolitik in südamerikanischen Militärregimes, und die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE, 1975) mobilisierte Dissidenz und Opposition in den kommunistischen Diktaturen. Nicht zuletzt wies die US-Regierung unter Präsident Jimmy Carter der Beachtung der Menschenrechte erstmals einen hohen Stellenwert in der amerikanischen Außenpolitik zu.168 Dieses neue Engagement war aber in den 1960er Jahren vorbereitet worden, als sich die neugegründete Organisation Amnesty International (AI) für die Freilassung politischer Gefangener einsetzte, der Bürgerkrieg in Nigeria weltweit humanitäre Hilfe auslöste und im Kontext der Entkolonialisierung wichtige Abkommen wie die Übereinkunft zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1965) beschlossen worden waren. Darüber hinaus haben neuere Studien – so zu den Reaktionen der sozialliberalen Bundesregierung auf die Menschenrechtsverletzungen in Kambodscha, Chile und Argentinien von 1973 bis 1979 – belegt, dass die Menschenrechtspolitik westlicher Regierungen in den 1970er Jahren selektiv blieb. Erst zwei Jahrzehnte später begann sie, die internationale Politik zu beeinflussen. Nun begründete das politische Bekenntnis zu Menschenrechten erstmals einen bewaffneten humanitären Interventionismus, der seit dem 19. Jahrhundert lange lediglich mit dem Schutz von Minderheiten 168 Barbara Keys, Reclaiming American Virtue. The Human Rights Revolution of the 1970s, London 2014; Friedbert Pflüger, Die Menschenrechtspolitik der USA. Amerikanische Außenpolitik zwischen Idealismus und Realismus 1972–1982, München 1983; Jan Eckel, Schwierige Erneuerung. Die Menschenrechtspolitik Jimmy Carters und der Wandel der Außenpolitik in den 1970ern, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), Nr. 1/2, S. 5–24. Zu den Auswirkungen des KSZE-Abkommens unterschiedliche Deutungen in: Sarah B. Snyder, Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network, Cambridge 2011; Ned Richardson-Little, Between Dictatorship and Dissent: Ideology, Legitimacy, and Human Rights in East Germany, 1945–1990, in: Bulletin of the German Historical Institute 56 (2015), S. 69–82. Allgemein zum Beginn des Menschenrechtsuniversalismus in den siebziger Jahren: Jan Eckel, Humanitarisierung der internationalen Beziehungen? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 603–635; ders., Utopie der Moral, Kalkül der Macht. Menschenrechte in der globalen Politik seit 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 437–484; Samuel Moyn, Die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Einleitung: Die 1970er Jahre als Umbruchphase in der Menschenrechtsgeschichte, in: Jan Eckel / Samuel Moyn (Hg.), Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 7–21; Quataert, Dignity, bes. S. 69–108. Andere Autoren haben demgegenüber universalistische Menschenrechtsdebatten entweder bereits im späten 18. Jahrhundert oder in den Jahren unmittelbar nach dem Holocaust erkannt. Überblick über die Diskussion in: Kenneth Cmiel, The Recent History of Human Rights, in: American Historical Journal 101 (2004), S. 117–135; Samuel Moyn, Die neue Historiographie der Menschenrechte, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 545–572; Hoffmann, Einführung.

124  2 Konzeptionelle Grundlage

und der Herstellung von Frieden gerechtfertigt worden war. Im Gegensatz zu den 1970er Jahren, als erstmals nach einer ethischen Grundlage von Außenpolitik in einem zunehmend komplexeren, globalen System internationaler Beziehungen gesucht wurde, begann zwanzig Jahre später ein militärischer humanitärer Interventionismus. Er sollte mit Hilfe universeller Rechtsgrundsätze eine bessere Welt durchsetzen und mündete in das Bekenntnis der UN-Mitgliedsstaaten zur „Schutzverantwortung“. Der Hinwendung zu diesem Konzept waren der Völkermord in Ruanda und die Kriege im zerfallenden Jugoslawien vorangegangen.169 Insgesamt weist die Entwicklung der Menschenrechte zwar Wendepunkte und Phasen beschleunigten Wandels, aber keinen entscheidenden Durchbruch auf. Obgleich Humanitarismus und Menschenrechte gemeinsame ideengeschichtliche Ursprünge und inhaltliche Überschneidungen aufweisen, kann nicht von einem kontinuierlichen Prozess der Herausbildung und damit einer langen Genealogie ausgegangen werden. Vielmehr sind unterschiedliche Chronologien zu identifizieren. Auch war der Menschenrechtsaktivismus nur in spezifischen Konstellationen möglich, und er blieb zerbrechlich. Zudem sind Menschenrechte umstritten geblieben, und Akteure haben sie im Allgemeinen für eigene Interessen genutzt. Dem Wandel, den Aneignungsformen und Deutungen werden historische Studien gerecht, die auch den unterschiedlichen Verständnissen, Diskursen und Sprachen der Menschenrechte Beachtung schenken. So ist auf den engen, aber widersprüchlichen Bezug zum Konzept der „Selbstbestimmung“ hingewiesen worden, die Wladimir Iljitsch Lenin (1870– 1924) und Woodrow Wilson im frühen 20. Jahrhundert propagierten. Allerdings hatte der führende Politiker der Bolschewiki und Vorsitzende des Rates der Volkskommissare auf ein Sezessionsrecht, der amerikanische Präsident demge169 Philipp Rock, Macht, Märkte und Moral. Zur Rolle der Menschenrechte in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland in den sechziger und siebziger Jahren, Frankfurt/M. 2010; Andrew I. Port, Courting China, Condemning China: East and West Cold war Diplomacy in the Shadow of the Cambodian Genocide, in: German History 33 (2015), S. 588–608, hier: S. 589, 595, 607 f.; Tim Szatkowski, Von Sihanouk bis Pol Pot. Die Beziehungen der Bundesrepublik zu Kambodscha (1967–1979), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 1–34, hier: S. 31–33. Zu den 1960er Jahren: Steven L. B. Jensen, The Making of International Human Rights. The 1960s, Decolonization, and the Reconstruction of Global Values, Cambridge 2016; Burke, Decolonization: Stahl / Weinke, Intervening, S. 11,13. Zu AI: Stephen Hopgood, Keepers of the Flame. Understanding Amnesty International, Ithaca 2006; Tom Buchanan, „The Truth Will Set You Free“: The Making of Amnesty International, in: Journal of Contemporary History 37 (2002), S. 575–597. Zum Krieg in Biafra: Lasse Heerten, A wie Auschwitz, B wie Biafra. Der Bürgerkrieg in Nigeria (1967–1970) und die Universalisierung des Holocaust, in: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), Online-Ausgabe (http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2011/id% 3D4516, Zugriff am 7. Januar 2015); Eckel, Intervention, S. 61, 66 f., 82.

2.2 Humanität und Menschenrechte



125

genüber lediglich allgemein auf Selbstregierung abgehoben. Da Minderheiten in diesen konkurrierenden Internationalismen nicht wirksam geschützt wurden, wandten sich deren Anhänger nach dem Zweiten Weltkrieg den individuellen Menschenrechten zu.170 Im Anschluss an diese Überlegungen bezeichnet „Menschenrechte“ in dieser Studie deshalb ein historisch variables semantisches Feld, das im Ersten Weltkrieg vorrangig mit dem Leitbild der „Humanität“ besetzt worden ist. Der „Humanitarismus“ ist im Allgemeinen durch grenzüberschreitende Hilfe, den Rekurs auf eine transzendentale Berufung und die wachsende Organisation von Aktivitäten gekennzeichnet, die dem Schutz der Menschen und der Verbesserung ihres Lebens dienen sollen. Damit unterscheidet sich humanitäres Engagement, das oft von einschneidenden Ereignissen wie Kriegen und Krisen ausgelöst worden ist, von früheren Formen der barmherzigen Hilfe. Während Menschenrechte auf rechtlichen Kategorien basieren, nimmt der Humanitarismus Diskurse über Bedürfnisse von Menschen auf. Dabei sind Respekt und Sympathie grundsätzlich wichtige Ressourcen, die Distanzierungsstrategien gegenüber „Feinden“, deren Anonymisierung, Entwürdigung und Verteufelung in den beiden Weltkriegen aber überlagerten.171 Demgegenüber waren humanitäre Hilfe unter Berufung auf einen „Notstand“, der Rekurs auf Menschenrechte und die Konstruktion von Solidarität wichtige Mittel, um anonymes Leiden in oft entfernten Räumen zu konkretisieren und damit Spender und Empfänger von Unterstützungsleistungen aufeinander zu beziehen und zusammenzuführen. Humanitäre Nichtregierungsorganisationen arbeiteten vor allem in den Jahren von 1939 bis 1945 in einem gemeinsamen Raum, in dem sie aber zugleich miteinander konkurrierten. Dabei waren die Interpretationen, Aneignungsformen und die praktische Umsetzung humanitärer Impulse unterschiedlich oder sogar gegensätzlich. Ebenso muss das Verhältnis zwischen kurzfristiger, gelegentlich sogar spontaner Nothilfe und den langfristigen Zielen humanitärer Verbände beachtet werden. Wie in diesem

170 Brier, Quest, S. 155, 157 f., 172 f.; Payk, Frieden durch Recht?, S. 104; Klose, „In the Cause of Humanity“, S. 78. Vgl. auch Jörg Fisch, Adolf Hitler und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 93–118, hier: S. 96–103. Zur multiplen Chronologie in der Geschichte der Menschenrechte seit 1945: Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen 2014. Zum ambivalenten Verhältnis von Menschenrechten und „Selbstbestimmung“: Eric D. Weitz, Self-Determination. How a German Enlightenment Idea Became the Slogan of National Liberation and a Human Right, in: American Historical Review 120 (2015), S. 462–496; ders., From Vienna; Langewiesche, Jahrhundert, S. 46 f.; Leonhard, Frieden, S. 936 f., 1261. 171 Allgemein: Michael Barnett, Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca 2011, S. 5, 10, 16, 19–21, 26–28; Glover, Humanity, S. 22, 37, 113.

126  2 Konzeptionelle Grundlage

Buch gezeigt wird, waren die Praktiken der Hilfe für bedrängte oder bereits internierte Feindstaatenangehörige in den beiden Weltkriegen ebenso bedeutend wie die leitenden Konzepte. Ideen und Maßnahmen wirkten jeweils aufeinander ein.172 Generell sind drei Formen des Humanitarismus und Stadien seiner Entwicklung zu unterscheiden: ein imperialer Typ, den von etwa 1800 bis 1945 der Drang zur „Zivilisierung“ der Menschheit antrieb (1), der Neo-Humanitarismus, der von 1945 bis 1989 auf nationalstaatlicher Souveränität gründete (2) und der bis zur Gegenwart reichende liberale Humanitarismus, den Menschenrechte speisten (3). Humanitäre Hilfe ist ebenso wenig wie philanthropisches Engagement ausschließlich altruistisch motiviert geblieben, sondern von den Bedürfnissen und Zielen der empfangenden und der gebenden Personen bestimmt worden, deren Wünsche sich oft als unvereinbar erwiesen haben. Beachtenswert sind auch die Spannungen zwischen den verschiedenen Varianten des Humanitarismus, der ihm zu Grunde liegenden universalen und zugleich partikularen Ethik und eine Verpflichtung auf Emanzipation, die zugleich Herrschaft gerechtfertigt hat. Der Anspruch humanitärer Aktivisten und Organisationen, den Menschen zu erziehen und Solidarität zu fördern, ist damit oft konterkariert worden.173

2.3 Zivilgesellschaft In der soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschung ist „Zivilgesellschaft“ überwiegend als Bereich gesellschaftlicher Selbstorganisation definiert worden, der nicht von staatlichen Institutionen kontrolliert und reguliert wird. Diese Sphäre ist durch grundsätzlich freie Interaktion gekennzeichnet, die auf der Anerkennung von Pluralität und Toleranz, Berechenbarkeit, gegenseitigem Vertrauen, Kooperationsbereitschaft und spezifischen Formen friedlicher Konfliktregelung basiert. In dieser Perspektive bezeichnet „Zivilgesellschaft“ vor allem ein „Modell sozialer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ordnung […]. Eine offene Gesellschaft, Pluralismus, Menschen- und Bürgerrechte, der Rechts- und Verfassungsstaat, Öffentlichkeit, Demokratie, Kritik, innere Vielfalt und Lernfähigkeit gehören dazu, allzu viel soziale Ungleichheit und Entsolidari-

172 Diese Ausführungen beruhen auf dem Plädoyer für Studien zum Humanitarismus als Praxis in: Monika Krause, The Good Project. Humanitarian Relief NGOs and the Fragmentation of Reason, Chicago 2014, bes. S. 2, 4–6, 13, 20, 37, 147 f., 161–164, 171 f., 175; Kelly, Activity, S. 3 f. 173 Barnett, Empire, S. 6 f., 21, 29 f.

2.3 Zivilgesellschaft 

127

sierung sind mit diesem Modell nicht vereinbar.“174 In dieser additiven bereichsund handlungslogischen Begriffsbestimmung fallen die deskriptiv-analytische Ebene und eine normativ-utopische Dimension zusammen – eine Überlagerung, die sich in der Spannung zwischen dem universalen Geltungsanspruch einerseits und der realen Exklusivität von Zivilgesellschaftlichkeit andererseits widerspiegelt.175 Nach dem räumlichen Verständnis wird Zivilgesellschaft erstens als eine soziale Sphäre definiert, die „zwischen“ dem Staat, der Wirtschaft und dem privaten Bereich (Familie) angesiedelt ist. In ihr bestimmen freiwillig gegründete Assoziationen, die öffentlich und nicht profitorientiert agieren, das soziale und politische Handeln. Dieser intermediäre Bereich wird deutlich von der Sphäre des Staates unterschieden. Begründet im aufklärerischen Diskurs des späten 18. Jahrhunderts, bezeichnet „Zivilgesellschaft“ zweitens aber auch eine Form sozialen Handelns, die u. a. durch den Verzicht auf Gewalt, die Bereitschaft zur Anerkennung des Anderen und die Orientierung an der res publica gekennzeichnet ist.176 Auch dieses Verständnis basiert – explizit oder implizit – auf normativen Grundannahmen. Es setzt eine „Kultur der Zivilität“ voraus, „einschließlich der Hochschätzung für Toleranz, Selbständigkeit und Leistung sowie die Bereitschaft zum individuellen und kollektiven Engagement über rein

174 Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Projekt: Moderne europäische Geschichtsforschung in vergleichender Absicht, in: Christoph Dipper / Lutz Klinkhammer / Alexander Nützenadel (Hg.), Europäische Sozialgeschichte. Fs. Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 475– 484, S. 481. 175 „Zivilgesellschaftlichkeit“ soll hier verstanden warden als „a particular way of dealing with difference and distinction, where the identity of civil society’s actors lies along a sliding scale of inclusion and exclusion“. Vgl. Sven Reichardt, Civil Society. A Concept for Historical Research, in: Annette Zimmer / Eckhard Priller (Hg.), Future of Civil Society. Making Central European Nonprofit-Organizations Work, Wiesbaden 2004, S. 35–55, S. 49. Dazu auch: Jürgen Kocka, Civil Society and Dictatorship in Modern German History. The Menahem Stern Jerusalem Lectures, Hanover 2010, S. 19–22. 176 Frank Adloff, Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt/M. 2005, S. 17–91; Georg Kneer, Zivilgesellschaft, in: ders. (Hg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997, S. 228–251. Vgl. auch Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft in historischer Perspektive, in: Ralph Jessen / Sven Reichardt / Ansgar Klein (Hg.), Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 29–42, hier: S. 32–34; Helmut K. Anheier / Anja Appel, Art. „Zivilgesellschaft“, in: Dieter Fuchs / Edeltraud Roller (Hg.), Lexikon Politik. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2007, S. 340–344.

128  2 Konzeptionelle Grundlage

private Ziele hinaus.“177 Jedoch sind diese Grundlagen der Zivilgesellschaft gefährdet und voraussetzungsvoll. Sie müssen deshalb in historische Studien untersucht werden, besonders im Hinblick auf ihre Entwicklung und Grenzen.178 Die Geschichtsschreibung hat sich deshalb intensiv der Zivilgesellschaft gewidmet, besonders in den letzten zwei Jahrzehnten. Dabei sind über Organisationsformen wie den Vereinen vor allem die Träger, deren Ziele und Motive, Handlungsspielräume sowie Ressourcen und Barrieren zivilgesellschaftlichen Engagements seit dem 19. Jahrhundert rekonstruiert und analysiert worden. So konnte in detaillierten Studien gezeigt werden, dass sich seit dem Einsatz für das Verbot des Sklavenhandels und der Sklaverei die grenzüberschreitende Kooperation der einzelnen Gruppen und Organisationen verstärkt hat. Auch der Kampf um die Rechte von Arbeitern und Frauen hat die Bildung und Zusammenarbeit internationaler Nichtregierungsorganisationen gefördert. Dazu trugen ebenso die Entstehung des Humanitarismus und die Gründung von Stiftungen bei, deren Arbeit der US-Stahlindustrielle Andrew Carnegie (1835–1919) im frühen 20. Jahrhundert systematisierte und auf eine vorausschauende Problemlösung ausrichtete. Allerdings hat die Historiographie die Auswirkungen von Brüchen unterschätzt, die diesen Expansionsprozess besonders in den beiden Weltkriegen zurückwarfen. Zudem ist die ambivalente Rolle internationaler humanitärer Organisationen unterbelichtet geblieben. Ihr Engagement war noch im Prozess der Durchsetzung von Menschenrechten keineswegs universalistisch und altruistisch motiviert, sondern zweckgebunden. Mit dieser utilitaristischen Ausrichtung ging die Anpassung an machtpolitische Konstellationen einher, wie die Untersuchung des Engagements zivilgesellschaftlicher Verbände in den beiden Weltkriegen belegt. Darüber hinaus zeigen die Aktvitäten der 1878 in England gegründeten Heilsarmee, dass einige zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen sogar humanitäres Engagement mit Sozialdisziplinierung im Innern (vor allem der Unterschichten) – und einer imperialistischen Zivilisierungsmission nach Außen verbanden. Diese Ambivalenz gegenüber der Regie-

177 Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft. Zum Konzept und seiner sozialgeschichtlichen Verwendung, in: ders. u. a. (Hg.), Neues über Zivilgesellschaft aus historisch-sozialwissenschaftlichem Blickwinkel, Berlin 2001, S. 4–21, S. 10. 178 Arnd Bauerkämper / Dieter Gosewinkel / Sven Reichardt, Paradox oder Perversion? Zum historischen Verhältnis von Zivilgesellschaft und Gewalt, in: Mittelweg 36, 15. Jg., H. 1, 2006, S. 22–32, hier: S. 25.

2.3 Zivilgesellschaft 

129

rungspolitik kennzeichnet auch die Rolle zivilgesellschaftlicher Verbände in den beiden Weltkriegen.179

179 Harald Fischer-Tiné, Global Civil Society and the Forces of Empire: The Salvation Army, British Imperialism, and the „Prehistory“ of NGOs (ca 1880–1920), in: Sebastian Conrad / Dominic Sachsenmeier (Hg.), Competing Visions of World Order: Global Moments and Movements, 1880s-1930s, Basingstoke 2007, S. 29–67, bes. S. 31, 36, 42, 51–53. Knapper Überblick in: Pierre-Yves Saunier, Artikel „International non-governmental organizations (INGOs)“, in: ders. / Akira Iriye (Hg.), The Pelgrave Dictionary of Transnational History, Houndmills 2009, S. 573–580; Arnd Bauerkämper, Civil Society V: 19th Century, in: Helmut K. Anheier / Stefan Toepler / Regina A. List (Hg.), International Encyclopedia of Civil Society, New York 2010 (2. Aufl. 2020), S. 358–361. Vgl. im Einzelnen Arnd Bauerkämper / Christoph Gumb, Towards a Transnational Civil Society: Actors and Concepts in Europe from the Late Eighteenth to the Twentieth Century (WZB Discussion Paper Nr. SP IV 2010–401), Berlin 2010, S. 1, 22, 26–29; Arnd Bauerkämper, Von der bürgerlichen Gesellschaft zur Zivilgesellschaft. Überlegungen zu den Trägern und zur Handlungspraxis sozialen Engagements am Beispiel Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert in globalhistorischer Perspektive (Center for Area Studies, Working Paper 1/2010, Freie Universität Berlin), Berlin 2010; ders., Einleitung: Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure und ihr Handeln in historisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive, in: ders. (Hg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt/M. 2003, S. 7–30.

3 Mobilisierung und Überwachung im Zeichen der Sicherheit in den beiden Weltkriegen: die Internierung von Feindstaatenangehörigen und ihre Kontexte Erinnerungskulturen Die beiden Weltkriege haben die Erinnerungskulturen in vielen Staaten nachhaltig geprägt. So hat das kollektive Gedächtnis des Ersten Weltkrieges in Europa nicht nur die Erfahrungen und Bedürfnisse, Erwartungen und Hoffnungen der Zeit nach dem Friedensschluss imprägniert, sondern als Rückprojektion auch vorangegangene Umwälzungen. In Polen war der Nexus von nationalem Opfermythos und heroischem Widerstand bereits in den Erinnerungen an die Teilungen angelegt, die Preußen, das zaristische Russland und die Habsburgermonarchie im späten 18. Jahrhundert erzwungen hatten. Zudem hatte die Glorifizierung des Kampfes der Soldaten gegenüber den Zivilisten wie Flüchtlingen und Internierten in den Kriegsgesellschaften schon die unmittelbaren Reaktionen auf die Kämpfe von 1914 bis 1918 gekennzeichnet. Darüber hinaus sind die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in den beteiligten Staaten von nachfolgenden Ereignissen und Prozessen überschattet und perforiert worden, besonders von den Erfahrungen der faschistischen Diktaturen und des zweiten globalen Konfliktes von 1939 bis 1945, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. So gilt der Erste Weltkrieg in Frankreich und Belgien nach wie vor als Grande Guerre. Auch in Großbritannien ist der Erste Weltkrieg – als Great War bezeichnet – noch in der gegenwärtigen Erinnerungskultur deutlich fester verankert als in Deutschland, wo der Zweite Weltkrieg das kulturelle Gedächtnis geprägt hat. In den Dominions trug die Beteiligung am Krieg auf der Seite der britischen Regierung wiederum zur Festigung nationaler Identitäten bei, so in Australien und Neuseeland durch den Anzac-Mythos. Allerdings prägte der Erste Weltkrieg auch in Deutschland über die Historiographie hinaus noch im Kalten Krieg das Geschichtsbewusstsein, Identitäten und Erwartungen, sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR.1 1 Matthew Stibbe, Flüchtige Allianzen. Der Erste Weltkrieg als Erwartungshorizont und Explanandum, in: Franka Maubach / Christian Morina (Hg.), Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland, Göttingen 2016, S. 33–85, hier: S. 81; Thomas Thiemeyer, Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die beiden Weltkriege im Museum. Paderborn 2010, 93 f., 316, 320–322; ders., Zwischen Helden, Tätern und Opfern. Welchen Sinn deutsche, französische und englische Museen heute in den beiden Weltkriegen sehttps://doi.org/10.1515/9783110529951-003

3 Mobilisierung und Überwachung im Zeichen der Sicherheit



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Zumindest in Westeuropa hat der Zweite Weltkrieg das Gedächtnis und Gedenken des ersten globalen Konfliktes perforiert. In Belgien und Frankreich trugen Erinnerungen der Massaker deutscher Truppen an der Zivilbevölkerung im Herbst 1914 rund 26 Jahre später zur Massenflucht vor den schnell vorrückenden deutschen Truppen bei. Zudem rechtfertigten Kollaborateure in beiden Staaten ihre Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern, indem sie den Ersten Weltkrieg als sinnlos interpretierten. Umgekehrt ist die erfolgreiche Verteidigung gegen den deutschen Angriff im Ersten Weltkrieg eng auf die Résistance gegen die deutschen Besatzer von 1940 bis 1944 bezogen worden. Im Lichte der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges sind die Kämpfe der Jahre von 1914 bis 1918 für unterschiedliche, oft sogar konträre Ziele in Anspruch genommen worden. Insgesamt kann von einem wechselseitigen Bezug differenter Erinnerungsschichten auf die beiden Weltkriege ausgegangen werden.2

Dimensionen Dem Ersten Weltkrieg fielen weltweit rund zwanzig Millionen Menschen zum Opfer, darunter neun Millionen Soldaten und sechs Millionen Zivilisten. Allein in Großbritannien und seinem Empire belief sich die Zahl der Toten und Vermissten auf mehr als 900.000 Männer, davon allein 723.000 aus dem Vereinigten Königreich. In Italien starben infolge der Kämpfe 1,78 Prozent der Bevölkerung, in Frankreich 3,35, in Deutschland 3,0, im Vereinigten Königreich 1,72 und in Russland 1,08 Prozent. 8,5 Millionen Soldaten gerieten in Gefangenschaft. Der Zweite Weltkrieg forderte insgesamt sogar fünfzig Millionen Opfer. Davon fielen 8,7 Millionen Soldaten der Roten Armee und bis Ende 1944 rund 2,7 Millionen Angehörige der Wehrmacht. Die Zahl der zivilen Opfer belief sich allein auf dem Territorium der Sowjetunion auf 14 bis 18 Millionen und in Polen hen, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 462–491, hier: S. 477, 488 f., 491; Martin Bayer, Der Erste Weltkrieg in der internationalen Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 / 2014, S. 47–53, hier: S. 48 f.; Pierre Purseigle, The Reception of Belgian Refugees in Europe: A Litmus Test of Wartime Social Mobilisation, in: John Crawford / Ian McGibbon (Hg.), New Zealand’s Great War. New Zealand, the Allies and the First World War, Auckland 2007, S. 69–84, hier: S. 80; Murphy, Captivity, S. 211 f. 2 Jay Winter, Remembering War. The Great War Between Memory and History in the Twentieth Century. New Haven 2006, S. 26, 42; Arnd Bauerkämper, Gedächtnisschichten. Der Erste und Zweite Weltkrieg in den Erinnerungskulturen, in: Monika Fenn / Christiane Kuller (Hg.), Auf dem Wege zur transnationalen Erinnerungskultur? Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Jubiläumsjahr 2014, Schwalbach/Ts. 2016, S. 37–65; Laurence van Ypersele, Mourning and Memory, 1919–1945, in: John Horne (Hg.), A Companion to World War I, Oxford 2012, S. 576–590.

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auf 4,5 bis fünf Millionen Menschen. Die Zahl der Kriegsgefangenen erreichte im Ersten Weltkrieg neun Millionen. Von ihnen befanden sich noch im Januar 1919 allein im britischen Empire 507.215, davon 343.512 Deutsche und 119.159 Türken. Im Zweiten Weltkrieg gerieten rund 35 Millionen Soldaten in Gefangenschaft.3 Auch die hohe Zahl der Toten, Verletzten und Gefangenen verweist auf den globalen Charakter der beiden Kriege. Damit ging eine tendenziell totale Kriegführung einher, die sich vor allem aus der ideologischen, quasi-religiösen Aufladung im „war for righteousness“ ergab.4 Diese Entwicklung erreichte zwar in den Jahren von 1939 bis 1945 einen neuen Höhepunkt, hatte sich aber schon mit der Flucht großer Bevölkerungsgruppen von mehr als einer Million Belgiern im Herbst 1914 angedeutet. Insgesamt flohen im Ersten Weltkrieg vier Millionen Belgier und Franzosen. In Frankreich belief sich die Zahl der Zwangsmigranten auf rund drei Millionen, darunter 1,8 Million Belgier und Serben sowie allein eine Million Franzosen, die innerhalb ihres Heimatlandes entwurzelt worden waren. Großbritannien nahm die Mehrheit der Belgier auf. An der Ostfront mussten ab 1915 im deutschen Besatzungsgebiet vier Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Alles in allem wurden in Russland sechs und im Osmanischen Reich fünf Millionen Bewohner vertrieben. Außerdem starben in allen beteiligten Ländern bereits im Ersten Weltkrieg Millionen Zivilisten, allein in Deutschland rund 300.000, vor allem an Unterernährung und Krankheiten infolge Mangels.5 Darüber hinaus hatten Hunger und mangelnde Hygiene zahlreiche Menschen so geschwächt, dass sie

3 Mark Jones, Political Violence in Italy and Germany after the First World War, in: Chris Millington / Kevin Passmore (Hg.), Political Violence and Democracy in Western Europe, 1918– 1940, Basingstoke 2015, S. 14–31, hier: S. 25; Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016, S. 136 f.; Geoffrey R. Searle, A New England?, Peace and War 1886–1918, Oxford 2004, S. 742; Heather Jones, A Missing Paradigm? Military Captivity and the Prisoner of War, 1914–18, in: Immigrants and Minorities 26 (2008), Nr. 1–2, S. 19–48, hier: S. 20; Manz / Panayi, Enemies, S. 35, 40; Berghahn, Der Erste Weltkrieg, S. 8; Horne, Introduction, S. 13. Übersicht zu den absoluten Zahlen der Todesopfer in: Raphael, Gewalt, S. 44, 250 f. 4 Herbert Butterfield, Christianity, Diplomacy and War, London 1953, S. 4. Vgl. auch James McMillan, War, in: Donald Bloxham / Robert Gerwarth (Hg.), Political Violence in TwentiethCentury Europe, Cambridge 2011, S. 40–86, hier: S. 40; Frie, 100 Jahre, S. 100. 5 Ursula Büttner, Weimar – die überforderte Republik 1918–1933 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 18), Stuttgart 2010, S. 171–767, hier: S. 256; Little, State; Berghahn, Der Erste Weltkrieg, S. 75 f., 88; Purseigle, Reception, S. 70, 75 f. Der Ausdruck „totaler Krieg“ (guerre totale) wurde in der Endphase des Ersten Weltkrieges in Frankreich geprägt. Vgl. Roger Chickering / Stig Förster, Are We There Yet? World War II and the Theory of Total War, in: dies. / Greiner (Hg.), World, S. 1–16, hier: S. 9; Heather Jones, The Great War: How 1914–18 Changed the Relationship between War and Civilians, in: RUSI Journal 159 (2014), Nr. 4, S. 84–91, hier: S. 86 (DOI: 10.1080/03071847.2014.946698; Zugriff am 28. August 2018).

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am Kriegsende der Spanischen Grippe zum Opfer fielen, die weltweit rund 25 Millionen Tote forderte.6 An den beiden Weltkriegen waren nicht nur das russische Zarenreich mit seinen Provinzen in Asien bzw. die Sowjetunion beteiligt, sondern auch die Kolonialreiche Großbritanniens und Frankreichs. Die imperiale Herrschaft ermöglichte den Regierungen der beiden Staaten, im Kampf gegen die „Mittelmächte“ bzw. „Achsenmächte“ erhebliche Ressourcen zu mobilisieren. Dazu gehörten Nahrungsmittel und Rohstoffe, aber auch Seewege. Im Ersten Weltkrieg konnte der Kreuzerkrieg des Deutschen Kaiserreiches die Schiffstransporte Frankreichs und Großbritanniens allenfalls erschweren. Auch die Blockade Deutschlands war von der kaiserlichen Marine nicht zu durchzubrechen. Seitens der alliierten Mächte band die Kriegsfinanzierung auf der Grundlage des Goldstandards diese Staaten an das Vereinigte Königreich, dessen Regierung über das Bankhaus J. P. Morgan Anleihen an amerikanische Investoren verkaufte. Bereits im November 1916, als der amerikanische Federal Reserve Board vor einer zu starken Spekulation auf einen Sieg der Entente warnte, wurden zwei Fünftel der täglichen Ausgaben Großbritanniens für den Krieg aus den Vereinigten Staaten transferiert. Schon bevor die USA im April 1917 ihre Neutralität aufgaben, hatte der Erste Weltkrieg auch wegen der Rohstoffe und Soldaten, welche die Kolonien bzw. Dominions Frankreich und dem Vereinigten Königreich zur Verfügung stellten, globale Dimensionen angenommen. Die Militärhilfe verlieh in den beiden Imperien Forderungen nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit kräftig Auftrieb.7

Der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen: Ausmaß und Verflechtungen Im Allgemeinen bildete sich im Ersten Weltkrieg mit „Zivilisten“ eine neue Kategorie heraus. Die damit bezeichnete Gruppe wurde zunehmend deutlich von Militärs abgehoben und galt zugleich grundsätzlich als legitimes Ziel der Kriegführung.8 Im Besonderen gehörten zu den Opfern der beiden Weltkriege auch zivile Feindstaatenausländer, die in der anglo-amerikanischen Welt als enemy aliens 6 Laura Spinney, 1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte, München 2018; Frie, 100 Jahre, S. 100. 7 Angabe nach: Hew Strachan, The First World War as a Global War, in: First World War Studies 1 (2010), Nr. 1, S. 3–14, hier: S. 7. Vgl. auch Oliver Janz, Einführung. Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive. In: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 147–159, hier: S. 147 f.; Raphael, Gewalt, S. 48 f. 8 Amanda Alexander, The Genesis of the Civilian, in: Leiden Journal of International Law 20 (2007), S. 359–376, hier: S. 359 f., 366–373, 376.

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bezeichnet wurden. Der Londoner Rechtsanwalt Arthur Page (1876–1958), der sich vor allem mit dem Handelsrecht in Kriegen befasste, definierte einen alien enemy 1915 als „alien whose Sovereign or State is at war with His Majesty the King“. Umfassender gefasst, handelt es sich um „zivile Männer, Frauen und Kinder, die Staatsangehörige der jeweils gegnerischen Staaten waren und sich bei Kriegsausbruch als Touristen, Geschäftsleute, Seeleute oder langfristig Ansässige“ in den einzelnen kriegführenden Ländern aufhielten. Jedoch erwies sich die rechtliche Kategorie des Feindstaatenangehörigen als fluide, denn Waffenstillstände und Friedensschlüsse entzogen ihr die Grundlage. Darüber hinaus war der Umgang mit den zivilen Feindstaatenangehörigen in den beiden Weltkriegen eingebettet in die Unterdrückung aller Personen, die als Gegner der jeweiligen Nation galten und vermeintlich die eigenen Kriegsanstrengungen untergruben. Die umfassendere Vorstellung eines „inneren Feindes“ war zwar bereits mit der Herausbildung eines neuen Staatsbürgerschaftsverständnisses nach der Französischen Revolution entstanden; aber erst der Erste Weltkrieg verlieh dem Konzept eine grenzüberschreitende Wirkungskraft. Damit entstand ein breites Spektrum von Gewalt und Repressionsmaßnahmen, darunter die Internierung.9 Vielerorts wurden Zivilisten, die gegnerischen Staaten angehörten, nach dem Beginn der beiden Weltkriege verhaftet und festgesetzt, oft aber nur schrittweise. Zunächst sollten wehrdienstfähige Männer (mobilisables), die sich im eigenen Land aufhielten, dem Zugriff des Feindes entzogen werden.10 Die repressive Politik erfasste bald aber auch Zivilisten, die nicht als Soldaten einge9 Stibbe, Civilian Internment, S. 307 f.; Keil / Stibbe, Laboratorium, S. 535-540. Zit. nach (in dieser Reihenfolge): Page, War, S. 1; Reinecke, Grenzen, S. 199. Die Bezeichnung enemy alien hatte der 1905 erlassene Aliens Act, der auf eine Kontrolle der Einwanderung zielte, im Vereinigten Königreich als Kategorie in das britische Recht eingeführt. Sie war schon unter Zeitgenossen umstritten, denn sie gründete auf einer Zuschreibung, die weder die Länge der Aufenthaltsdauer noch das Ausmaß der Loyalität berücksichtigte. Überhaupt sah der Sammelbegriff von individuellen Unterschieden ab. Deshalb wandte sich der Herausgeber der Tageszeitung Daily News, Alfred George Gardiner, gegen die stigmatisierende Konnotation von enemy aliens. Vgl. Müller, Recht, S. 391. Zum Begriff auch: Klaus Neumann, In the Interest of National Security. Civilian Internment in Australia during World War II, Canberra 2006, S. 16; Panikos Panayi, Minorities, in: Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, Bd. 3: Civil Society, Cambridge 2014, S. 216–241, hier: S. 222. Zur Ambivalenz der Konzeptes des alien: Tony Kushner, Local Heroes: Belgian Refugees in Britain During the First World War, in: Immigrants and Minorities 18 (1999), Nr. 1, S. 1–28, hier: S. 12; Murphy, Captivity, S. 180. 10 Dazu Page, War, S. 2: „An object of waging war being to crush the power of the enemy State by crippling its resources, persons are deemed to be clothed with enemy character not because they possess a particular nationality, but because by the relationship in which they have voluntarily placed themselves towards an enemy State, its resources tend to be increased and its power strengthened.“

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setzt werden konnten (non-mobilisables), so Frauen, Kinder und Männer unter 15 und über 55 Jahren. Diesen Gruppen wurden in den kriegführenden Staaten vielfach Illoyalität, Verrat, Spionage und Subversion unterstellt. Verdächtigungen und Vorwürfe richteten sich besonders gegen ausländische Frauen, die eigene Staatsangehörige geheiratet hatten. Weibliche Verführungskraft galt weithin – auch unter den (männlichen) Politikern – als eine Ursache von Spionage und Subversion. Damit wurde das Motiv der femme fatale fortgeschrieben, das schon die Diskussion im 19. Jahrhundert beeinflusst hatte. Auch Minderheiten wie Juden und Personen, die erst in den letzten Jahren oder Monaten vor dem Ersten Weltkrieg eingebürgert worden waren, erschienen verdächtig. Ebenso galten Minderheiten, die – oft in Grenzregionen – nach Autonomie bzw. nationaler Unabhängigkeit strebten, als illoyal. Die Regierungen wiesen diese Gruppen in Lager ein, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Auch das Vorgehen differierte in den einzelnen Ländern. Oft brachten die Behörden aber gefangene Zivilisten und Soldaten zusammen unter, da dieses Verfahren kostengünstig und in der Haager Konvention von 1907 nicht untersagt worden war.11 Schon bis Ende 1914 wurden allein in Großbritannien 20.000 Deutsche und Österreicher wie auch 2.000 Deutsche in Frankreich als Zivilisten interniert. Die deutsche Reichsleitung hielt mit Kriegsbeginn 6.000 Franzosen und 2.000 Belgier fest. In Österreich wurden 800 verhaftete französische, britische und belgische Staatsbürger gezählt.12 Insgesamt erfasste die Internierung zwischen 1914 und 1920 allein in Europa rund 400.000 Zivilisten direkt. Rechnet man Familienangehörige – verheiratete Frauen und Kinder – hinzu, waren insgesamt 800.000 Menschen betroffen. Weitere 50.000 bis 100.000 Personen wurden in außereuropäischen Räumen interniert, besonders im britischen Empire, in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Kanada, Australien und Ostasien. Die Regierung Kanadas internierte allein 5.000 Österreicher, Ungarn und Ukrainer. In den USA verhafteten die Behörden rund 10.000 enemy aliens, von denen aber nur 2.300 (nahezu ausschließlich Deutsche) in Lager eingewiesen wurden. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat die Zahl der Zivilisten, die im Ersten Weltkrieg in verschiedenen Formen festgehalten wurden, sogar mit zwei Millionen veranschlagt. Die Internierung bezog nicht nur Männer ein, sondern auch Frauen und Kinder, deren Männer bzw. Väter zuvor oft selber verhaftet worden waren. In Deutschland wurden während des Ersten Weltkrieges offiziell 11 Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 185–187; McMillan, War, S. 58 f.; Cholakov, Prisoners of War, S. 9, 11. Zum Motiv der femme fatale im 19. und frühen 20. Jahrhundert: Sluga, Economic Insecurity, S. 290–292; Juliette Pattinson, The Twilight War. Gender and Espionage, Britain, 1900–1950, in: Simona Sharoni u. a. (Hg.), Handbook on Gender and War, Cheltenham 2016, S. 66–85, hier: S. 66. 12 Moorehead, Dream, S. 185.

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rund 112.000 Zivilinternierte festgehalten, von denen die meisten aus den eroberten Gebieten West- und Osteuropas verschleppt worden waren. Im Verlauf des Ersten Weltkrieges brachten die Behörden allein 100.000 Belgier und Franzosen in das Deutsche Kaiserreich. Die britischen Sicherheitsbehörden internierten 1914/15 rund 32.000 enemy aliens, Frankreich 60.000 (Deutsche und Bürger Österreich-Ungarns). In Rumänien waren bis 1916 etwa 5.000 deutsche Zivilisten und Bürger Österreich-Ungarns sowie 1.000 Bulgaren in Gewahrsam genommen worden. Die Schätzungen für Bulgarien variieren zwischen 67.582 und 111.592. Hier erfasste die Internierung u. a. Serben und Kroaten. Im russischen Zarenreich wurden Anfang 1917 rund 300.000 Angehörige der „Mittelmächte“ und Russlanddeutsche (Staatsangehörige des Zarenreiches) festgehalten. Davon waren 50.000 interniert und 250.000 deportiert worden. In Großbritannien belief sich die Zahl der deutschen Zivilinternierten in demselben Jahr auf 36.000, von denen am Kriegsende 24.255 verblieben waren. 1917 waren auch 11.000 Staatsangehörige-Österreich-Ungarns in britischen Lagern, und in Deutschland befanden sich im November 1918 rund 3.500 Briten, in ÖsterreichUngarn insgesamt noch 200 Feindstaatenausländer.13 Im Ersten Weltkrieg unterhielt besonders die britische Regierung weltweit ein Netz von Camps, dessen Zentrum das Lager Knockaloe auf der Insel Man war. Oft wurden Zivilinternierte mehrfach verschifft, auch zwischen dem Vereinigten Königreich und Übersee. So mussten viele Deutsche den Krieg in Lagern in Afrika und Indien verbringen. Dabei beanspruchte das Außenministerium (Foreign Office) in der Internierungspolitik nicht nur in Großbritannien gegenüber dem Kriegs- und Kolonialministerium sowie der Admiralität die Vorherrschaft, sondern auch im gesamten Kolonialreich. Das Foreign Office drängte im Empire auf eine zentrale Koordination, um die Kontrolle über die Behandlung der Internierten zu behalten und damit Repressalien der deutschen Reichsleitung gegen britische Kriegsgefangene zu vermeiden. Das Außenministerium traf dabei vor allem 13 Angaben nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 1, 35 f., 81; ders., Internment, S. 53, 73; ders., British Civilian Internees in Germany. The Ruhleben Camp, 1914–18, Manchester 2008, S. 184; ders., The Internment of Civilians by Belligerent States during the First World War and the Response of the International Committee of the Red Cross, in: Journal of Contemporary History 41 (2006), S. 5–19, hier: S. 7 f.; Stefan Manz / Panikos Panayi / Matthew Stibbe, Internment during the First World War. A Mass Global Phenomenon, in: dies. (Hg.), Internment, S. 4 f.; Kay Saunders, The stranger in our gates: Internment Policies in the United Kingdom and Australia during the Two World Wars, 1914–39, in: Immigrants and Minorities 22 (2013), Nr. 1, S. 22–43, hier: S. 27; Alan Kramer, Combatants and Noncombatants: Atrocities, Massacres, and War Crimes, in: Horne (Hg.), Companion, S. 188–201; Hinz, Art. „Internierung“, S. 582; Pitzer, Night, S. 95 f., 115; Piskorski, Die Verjagten, S. 53 f.; Cholakov, Prisoners of War, S. 13. Überblick in: Stibbe, Enemy Aliens and Internment; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 185 f.; Caglioti, Subjects, S. 505 f.; Manz, „Enemy Aliens“, S. 118; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 127 f.

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bei den zunehmend selbstbewussten Regierungen der Dominions auf Widerstand. Daneben internierte Frankreich in globalem Ausmaß, vor allem Deutsche nach der Eroberung der afrikanischen Kolonien des Kaiserreiches. Die französische Regierung reagierte nicht nur auf Repressalien der Reichsleitung in Deutschland, sondern auch auf die Internierungspolitik Großbritanniens, die sie gelegentlich als zu nachgiebig ablehnte. Gefangene wurden zwischen den Entente-Mächten aber auch transferiert. Noch bedrückender waren die Bedingungen bei den Schiffstransporten im Zweiten Weltkrieg, besonders in Ostasien, wo das japanische Militärregime gefangene Zivilisten oft über große Entfernungen verschob. Abgrenzung und Verflechtung kennzeichneten die globale Dimension der Internierung aber schon im Ersten Weltkrieg, in dem eine „new landscape of captivity“ entstand.14 Noch im Februar 1919 befanden sich rund 300 deutsche Zivilgefangene in Ägypten, 1.200 in Indien, 2.300 in Südafrika und 2.100 in Kanada. 236 wurden in Neuseeland gezählt, 1.323 auf Malta, 11 in Gibraltar und insgesamt 194 auf den Inseln Barbados, Bermuda und Trinidad.15 Insgesamt löste sich das System der Internierungslager auch in den ehemaligen „Mittelmächten“ in den 1920er Jahren auf. Bestehende und neue Camps wurden in Deutschland als Sammel-, Arbeits- und Heimkehrerlager eingerichtet.16 Die wechselseitigen Bezüge zeigten die Repressalien, aber auch Vereinbarungen über den Austausch von Kriegsgefangenen und über Erleichterungen für sie. Alles in allem wurden von 1914 bis 1918 zwischen den kriegführenden Staaten insgesamt vierzig Abkommen abgeschlossen, nahezu ausschließlich bilateral. 1915 einigten sich Frankreich und Deutschland auf die Heimführung von schwer erkrankten und verwundeten Soldaten über die Schweiz. Bei diesen Vereinbarungen auf Gegenseitigkeit waren die „Mittelmächte“ gegenüber den Staaten der Entente im Allgemeinen wegen des ungleichen Zahlenverhältnisses der Gefangenen benachteiligt. Aufgrund dieser Reziprozität, die erst nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 langsam entfiel, kann die Geschichte der Internierung und der davon Betroffenen nur in transnationaler Perspektive geschrieben werden. Dieser Untersuchungsansatz ermöglicht auch eine Analyse des Interaktionsverhältnisses zwischen den jeweiligen Heimatländern, den Gewahrsamsstaaten und den Schutzmächten.17 14 Jones, A Missing Paradigm?, S. 25. Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 260; Beaumont, Prisoners of War, S. 281; Murphy, Captivity, S. 1–3, 6, 8 f., 13, 24, 26, 30–32, 36, 39–60, 63–66, 177; Manz, „Enemy Aliens“, S. 118, 130, 134; ders. / Panayi / Stibbe, Internment, S. 4 f.; Pitzer, Night, S. 103. 15 Stibbe, Civilian Internment, S. 46. 16 Ebd., S. 254–259. 17 Stibbe, Introduction, S. 11; ders., Civilian Internment, S. 145; Durand, Sarajewo, S. 43, 45; Barton, Internment, S. 6 f.; Pöppinghege, Lager, S. 49; Wippich, Internierung, S. 19; Jones, A

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Überblick und Konzepte: die Repression ziviler Feindstaatenangehöriger im Kontext von Notstandsregimes und „totalen“ Kriegskulturen Wie die Geschichtsschreibung herausgearbeitet hat, bezog die Kriegführung die Gesellschaften in beiden Weltkriegen umfassend ein. Schon in den Jahren von 1914 bis 1918 wurde eine Entwicklung zum totalen Krieg deutlich, die in der exzessiven Gewalt zwei Jahrzehnte später gipfelte. In der Historiographie ist diese „Totalisierung“ vor allem hinsichtlich der weitgespannten Ziele der beteiligten Mächte und der Formen der Kriegführung festgestellt worden. Front und Heimat waren enger aufeinander bezogen als im 19. Jahrhundert nach den Revolutionären und Napoleonischen Kriegen, mit denen das Zeitalter der Wehrpflicht und der Massenheere in den Jahren von 1792 bis 1815 begonnen hatte. Zugleich war die Nationalisierung in den Gesellschaften der beteiligten Staaten und Territorien vorangetrieben worden. Damit ging eine Ideologisierung von Kriegen einher. Im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) und im militärischen Konflikt zwischen Frankreich und Preußen 1870/71 wurden Zivilisten umfassend in die Kampfhandlungen einbezogen. Zwar trennten Soldaten und Nicht-Kombattanten auch im Ersten Weltkrieg noch unterschiedliche Erfahrungswelten. Außerdem wurde der Beitrag der beiden Gruppen zur Kriegführung unterschiedlich bewertet, denn nur Frontkämpfer galten als Helden. Unverständnis kennzeichnete deshalb oft Begegnungen zwischen den beiden Gruppen. Diese waren aber zugleich aufeinander bezogen, denn die Trennung von Kombattanten und Zivilbevölkerung verschwamm zusehends. Das Konzept des „totalen Krieges“ wird dieser Einsicht gerecht, ohne aber auf die Ursachen und Antriebskräfte der Entgrenzung von Gewalt abzuheben.18 Die faschistischen Regimes erhoben den Krieg von 1939 bis 1945 schließlich zu einem Instrument der inneren Erneuerung und zu einer angeblich notwendigen Auseinandersetzung im Überlebenskampf. Sie richteten ihren Kampf gezielt gegen Zivilisten und gingen gegen Partisanen besonders rücksichtlos vor. Allerdings kann wegen der deutlichen Unterschiede zwischen den Staaten, deren Regierungen am 27. September 1940 den Dreimächtepakt unterzeichneten Missing Paradigm?, S. 26. Zum Ende des Reziprozitätsprinzips ab 1918: Reinhard Nachtigal, Die Anzahl der Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 67 (2008), S. 345–384, hier: S. 373. 18 Benjamin Ziemann, „Vergesellschaftung von Gewalt“ als Thema der Kriegsgeschichte seit 1914. Perspektiven und Desiderate eines Konzeptes, in: Thoß / Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg, S. 735–758, hier: S. 740 f.; McMillan, War, S. 45 f.; Ronald Grigor Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“. A History of the Armenian Genocide, Princeton 2015, S. 208 f.; Hannes Leidinger / Verena Moritz, Der Erste Weltkrieg, Köln 2011, S. 49; Horne, Introduction, S. 15; Gestrich, Konzentrationslager, S. 53; Raphael, Gewalt, S. 55.

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(Deutschland, Italien und Japan), und dem Mangel an Abstimmung über die militärischen Operationen nicht von einer einheitlichen „faschistischen Kriegführung“ gesprochen werden.19 Die extreme Gewalt in den beiden Weltkriegen war die Schattenseite des materiellen Fortschritts, der im 20. Jahrhundert in den Industriegesellschaften erreicht wurde, wenngleich keineswegs linear und überall.20 Angesichts der akuten Bedrohung durch neue Waffen gewannen die Regierungen und die ihnen untergeordneten staatlichen Instanzen gegenüber den Parlamenten deutlich an Macht. Der Politikwissenschaftler und Historiker Clinton Rossiter (1917– 1970) hat deshalb außer Rebellionen und wirtschaftlichen Notlagen Kriege als fundamentale Krisen moderner Demokratien identifiziert. Nach seiner Interpretation deformierten vor allem die beiden totalen Weltkriege parlamentarische Regierungen so weit, dass sich „konstitutionelle Diktaturen“ herausbildeten. Mit diesem Begriff hat Rossiter ein Notstandsregime bezeichnet, das die Legislative schwächte und die Exekutive stärkte. Damit wurde (vorübergehend) Herrschaft auf der Grundlage des Stand- und Ausnahmerechts möglich. Dieser Prozess hatte nach Rossiter mit der imperial presidency Abraham Lincolns begonnen, der im Amerikanischen Bürgerkrieg seine Kompetenzen erheblich ausdehnte und dies mit seiner Auffassung begründete, dass erst staatliche Macht Freiheit ermögliche. Der Trend wurde fortgesetzt mit Notstandsgesetzen in der Dritten Französischen Republik, in Großbritannien von 1914 bis 1945, in den Vereinigten Staaten von Amerika in den Jahren nach der Wahl Franklin D. Roosevelts zum Präsidenten und in der Weimarer Republik. Rossiter hat versichert, dass mit diesen Ausnahmeregimes die demokratische Ordnung gesichert werden sollte: „…this strong government, which in some instances might become an outright dictatorship, can have no other purposes than the preservation of the independence of the state, the maintenance of the existing constitutional order, and the defense of the political and social liberties of the people.“21

19 Demgegenüber werden die Ähnlichkeiten betont in: Alonso / Kramer / Rodrigo (Hg.), Fascist Warfare, S. 1–23, hier: S. 1–3, 12 f., 17; Amadeo Osti Guerrazzi, Cultures of Total Annihilation? The German, Italian, and Japanese Armies During the Second World War, in: Alonso / Kramer / Rodrigo (Hg.), Fascist Warfare, S. 119–142, hier: S. 120 f., 124, 135. 20 Beaumont, Prisoners of War, S. 277. 21 Clinton Rossiter, Constitutional Dictatorship. Crisis Government in the Modern Democracies, Princeton 1948, S. 7. Vgl. auch Bernd Greiner, Konstitutionelle Diktatur. Clinton Rossiter über Krisenmanagement und Notstandspolitik in modernen Demokratien, in: Mittelweg 36, Jg. 22 (2013), Nr. 1, S. 24–40; Saunders, War, S. 10 f.; Neocleous, Critique, S. 57. Zu Lincolns imperial presidency: Jörg Nagler, Abraham Lincoln. Amerikas großer Präsident – Eine Biographie, München 2011, S. 367, 426.

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Jedoch ist von dem amerikanischen Politikwissenschaftler auch eindringlich vor den Gefahren gewarnt worden, die von „konstitutionellen Diktaturen“ ausgehen. Er hat die Verhängung von Ausnahmezuständen deshalb ausdrücklich an klar definierte Bedingungen gebunden. Solche Regimes sollten nur gerechtfertigt sein, um Staaten und Verfassungsordnungen zu bewahren, und von Personen errichtet werden, die anschließend nicht selber regieren. Zudem forderte Rossiter, schon bei der Etablierung einer „konstitutionellen Diktatur“ eine Regelung zu ihrer Beendigung festzulegen, die Ausübung von Herrschaft auch in Ausnahmezuständen an die jeweilige Konstitution zu binden und alle Gruppen zu beteiligen, welche die Verfassung verteidigen. Nur damit könne die Regierung legitim bleiben. Weiterhin sollten Notstandsregierungen ausschließlich der Beilegung von Krisen dienen. Im Gegensatz zu totalitären Diktaturen – vor allem dem NS-Regime – müsse eine „constitutional dictatorship“ letztlich „temporary and self-destructive“ sein.22 Die in den beiden Weltkriegen durchgesetzten Gesetze und andere Restriktionen unterstreichen Rossiters Warnung, denn sie schädigten die Zivilgesellschaften in den einzelnen Gesellschaften. Die Handlungsspielräume unabhängiger sozialer Akteure schrumpften bereits, als Regierungen in allen beteiligten Staaten außerordentliche Vollmachten übertragen wurden, die sie zur Kontrolle der Bevölkerung und zur Nutzung aller Ressourcen nutzten. Darüber hinaus wurden die Herrschenden ermächtigt, Opposition gegen den Krieg zu unterdrücken und Maßnahmen zur Kontrolle der Feindstaatenangehörigen zu ergreifen. Dazu dienten u. a. die Bestimmungen zum Belagerungs- bzw. Ausnahmezustand, der im Zuge des Ersten und Zweiten Weltkrieges zusehends entgrenzt wurde. Im Zeichen der „nationalen Sicherheit“ beschnitten die Behörden in allen kriegführenden Staaten Freiheiten und Menschenrechte ebenso wie zivilgesellschaftliche Räume. Diese Restriktionen schlugen sich besonders im Umgang mit Feindstaatenangehörigen nieder. Diese Gruppe war heterogen. Sie umfasste Geschäftsleute, Missionare und Touristen, denen die Ausreise bei Kriegsbeginn nicht mehr gelungen war, ebenso wie Seeleute und ausländische Staatsangehörige, die schon lange in den jeweiligen Ländern lebten. Im Verlauf der beiden Weltkriege wurden aber auch andere „innere Feinde“ unterdrückt. Dazu gehörten Eingebürgerte ebenso wie Minderheiten, die angeblich die Sicherheit gefährdeten. Sogar mittlere und untere Verwaltungsbeamte unterschieden zwischen diesen Gruppen oft nicht. Die Feind- und Sekuritätskonstruktionen erwie-

22 Rossiter, Constitutional Dictatorship, S. 8 (Zitat), 297–306.

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sen sich damit als überaus dehnbar. Sie wurden für unterschiedliche Zwecke genutzt, mit Mythen verbunden und emotional aufgeladen.23 Die Behörden, die für die Kontrolle der Bevölkerung zuständig waren, unterwarfen zunächst Feindstaatenangehörige einer rigorosen Überwachung. So mussten sich Frauen und Kinder regelmäßig bei der Polizei melden, und sie durften sich in vielen Staaten nur begrenzt bewegen. Darüber hinaus enteigneten und verschleppten Regierungen viele Feindstaatenangehörige. Männer im (unterschiedlich definierten) wehrfähigen Alter wurden in der Regel festgenommen und in Lager verbracht. Damit nahmen die zuständigen Behörden alle diese Zivilisten kollektiv für die Kriegführung ihrer Herkunftsländer in die Verantwortung. Sogar die Ausweisung von Frauen und Kindern rechtfertigten die Regierungen der kriegführenden Staaten mit Sicherheitsargumenten. Diese repressiven Maßnahmen waren völkerrechtlich zwar nicht erlaubt, aber in den Abkommen bis zum Zweiten Weltkrieg auch nicht explizit ausgeschlossen worden. Aus diesem Regelungsdefizit war mit der Internierung von Zivilisten schon in den Jahren von 1914 bis 1918 eine fragwürdige „innovation of this war“ hervorgegangen, wie der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Gustave Ador (1845–1928), 1917 feststellte. Wegen des Leids der Zivilinternierten verlangte er, sie als besondere Opfergruppe anzuerkennen. Ador, den sein Onkel Gustave Moynier 1870 überzeugt hatte, dem IKRK beizutreten, war wegen seines jahrzehntelangen humanitären Engagements ein besonders überzeugender Fürsprecher ziviler Kriegsopfer.24

23 Jonathan F. Vance, Civilian Internees – World War I, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 49– 51, hier: S. 49 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 19, 156 f. 24 Zitat: Annette Becker, Captive Civilians, in: Winter (Hg.), Cambridge History, Bd. 3, S. 257– 281, hier: S. 260. Vgl. auch Annette Becker, Oubliés de la Grande Guerre. Humanitaire et culture de guerre 1914–1918. Population occupées, déportés civils, prisonniers de guerre, Paris 1998, bes. S. 27–88; Trude Maurer, Weder Kombattanten noch Kommilitonen. „Feindliche Ausländer“ in einer deutschen Universitätsstadt während des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 8 (2005), S. 185–210, hier: S. 191; Christoph Jahr, Keine Feriengäste. „Feindstaatenausländer“ im südlichen Bayern während des Ersten Weltkrieges, in: Hermann J. W. Kuprian / Oswald Überegger (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung, Innsbruck 2006, S. 231–245, 238; Martin H. Geyer, Grenzüberschreitungen: Vom Belagerungszustand zum Ausnahmezustand, in: Niels Werber / Stefan Kaufmann / Lars Koch (Hg.), Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2014, S. 341–384; Jones, A Missing Paradigm?, S. 41, 43; Stibbe, Civilian Internment, S. 218; Caglioti, Property Rights, S. 3; Segesser, Lager, S. 46; Speed, Prisoners, S. 141; Panayi, Societies, S. 8; Best, Humanity, S. 231; Boldt, Ausnahmezustand, S. 12. Zu Ador: Irène Herrmann, Ador, Gustave, in: Ute Daniel u. a. (Hg.), 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, Berlin 2015-07-09 (doi:10.15463/ie1418.10683; Zugriff am 13. Mai 2020).

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Die Internierung von Zivilisten im Ersten Weltkrieg sollte ein Präzedenzfall für den zweiten, noch verlustreicheren globalen Konflikt werden. Mit dem engen Wechselbezug zwischen Front und Heimat konnten in den beiden totalen Kriegen auch „innere“ und „äußere“ Feinde nicht mehr klar voneinander abgegrenzt werden. In einer Konstellation, in der die Existenz von Nationen gefährdet war (oder schien), gewann die Sicherheit der eigenen Nation eminente Bedeutung. Die Furcht vor einer entscheidenden militärischen Niederlage stärkte Regierungen und staatliche Behörden, die umfassend in wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse eingriffen, um den Sieg zu erringen. Über die umfassende Rekrutierung von Männern für den Wehrdienst hinaus weitete sich in den Kriegsgesellschaften die Beteiligung erheblich aus, und es vollzog sich eine umfassende Politisierung. Dazu gehörten die Bewegungen und Kommunikationsverbindungen zwischen Heimat und Front ebenso wie Bemühungen, Unruhen im eigenen Land einzudämmen. Zugleich trieb der Hass auf die Kriegsgegner die soziale und politische Mobilisierung weiter voran. Besonders nachdem sich 1915 die Hoffnung auf einen schnellen Sieg als illusionär erwiesen hatte, prägte Gewalt nicht nur die Kampfhandlungen an der Front, sondern auch das gesellschaftliche Leben in der Heimat.25 Mit der nationalen Integration und der Militarisierung der zivilen Sphäre ging die Ausgrenzung „innerer Feinde“ einher. Im Ausnahme- bzw. Notstand der totalen Weltkriege wurde die extreme äußere Bedrohung auf imaginierte Gegner projiziert, welche die Propaganda dämonisierte. Eine innergesellschaftliche „Feindmarkierung“ war damit integraler Bestandteil entgrenzter Gewalt.26 Demgegenüber blieben völkerrechtliche Regelungen, die militärische oder zivile Angehörige von Feindstaaten schützten, in der Politik der Regierungen letztlich untergeordnet. Gleichwohl konnten die Machthaber grundlegende und festgelegte humanitäre Anforderungen nicht offen zurückweisen, denn im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatten sich – wie dargestellt – zivilgesellschaftliche Organisationen herausgebildet, die forderten, Kriegsgewalt zumindest einzuhegen.

25 Sven Oliver Müller, Recht und Rasse. Die Ethnisierung von Staatsangehörigkeit und Nationalvorvorstellungen in Großbritannien im Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 379–403, hier: S. 381 f.; Matthew Stibbe, Germany, 1914–1933: Politics, Society, and Culture, Harlow 2010, S. 46, 50; Roger Chickering, Total War: The Use and Abuse of a Concept, in: Manfred Boemeke / Roger Chickering / Stig Förster, Anticipating Total War: The German and American Experiences, 1871–1914, Cambridge 1999, S. 13–28, hier: S. 14; Bruno Thoß, Die Zeit der Weltkriege. Epochen als Erfahrungseinheit, in: ders. / Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg, S. 7–30, hier: S. 28; Ziemann, „Vergesellschaftung der Gewalt“, S. 749; Winter, Cover, S. 190–194; Searle, A New England?, S. 749; Jones, Great War, S. 85, 89. 26 Ziemann, „Vergesellschaftung der Gewalt“, S. 751. Vgl. auch Leidinger / Moritz, Der Erste Weltkrieg, S. 86.

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Auch die öffentliche Meinung wurde grenzüberschreitend zu einer wichtigen Kraft, sodass ein Bekenntnis zu humanitärer Kriegführung wichtig war, um neutrale Staaten zu gewinnen und Repressalien gegen eigene Staatsbürger zu vermeiden. Besonders Inspektionen von Lagern durch Schutzmächte und humanitäre Organisationen vermochten deshalb Repressionen durchaus zu beseitigen oder zumindest zu mildern.27 Die Bemühungen, Gewalt gegen gegnerische Soldaten und Zivilisten zu bändigen, trafen aber auf erhebliche Hindernisse, besonders das Prinzip nationalstaatlicher Souveränität und die technologische Entwicklung. Die Konstruktion nationaler Gemeinschaften als politische Ordnungen sollte die Herrschaft der Regierungen legitimieren, die an den Weltkriegen beteiligt waren. Überdies wurden in den Jahren von 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945 fortlaufend neue Waffen genutzt, die hohe Verluste verursachten, besonders bei Frontalangriffen. Schon im Ersten Weltkrieg anonymisierte vor allem der Einsatz von Artillerie, Maschinengewehren und Giftgas das Töten, und die Zahl der Opfer stieg sprunghaft. Zwei Jahrzehnte später traten Luftangriffe und am Ende der Einsatz von zwei Atombomben hinzu. Nicht zuletzt zeigte der Massenmord an den Juden eine neue, nicht geahnte Qualität der Gewalt, obwohl dem Holocaust im Ersten Weltkrieg der Genozid an den Armeniern vorausgegangen war. Insgesamt wurden die Grenzen zwischen dem zivilen und militärischen Sektor im Zweiten Weltkrieg aber noch poröser, nicht zuletzt wegen systematischer ethnischer „Säuberungen“, besonders in den vom „Dritten Reich“ besetzten Gebieten Ost- und Südosteuropas. Auch das Ausmaß der Mobilisierung und der Kontrolle von Menschen und Gütern war gegenüber den Jahren von 1914 bis 1918 gewachsen. 1944/45 gipfelte die Gewalt in einem Terrorregime, das die Nationalsozialisten mit dem Schutz der „Volksgemeinschaft“ und dem Ziel rechtfertigten, einen erneuten „Dolchstoß“ der „inneren Feinde“ zu verhindern.28 In beiden Weltkriegen verteufelte eine militante Propaganda in allen beteiligten Staaten jeweils gegnerische Nationen und ihre Angehörigen. Dabei wurde 27 Vgl. von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2011); Winter, Cover, S. 206, 209; Segesser, Kriegsverbrechen?, S. 227, Wilkinson, Prisoners of War, S. 53 f.; Jones, A Missing Paradigm?, S. 34 f. 28 Larry Frohman, Population Registration, Social Planning, and the Discourse on Privacy Protection in West Germany, in: Journal of Modern History 87 (2015), S. 316–356, hier: S. 325 f.; Rachamimov, ‚Zivilhistoriographie‘, S. 39; Murphy, Captivity, S. 34; Manz, „Enemy Aliens“, S. 119 f.; Reinecke, Grenzen, S. 250 f., 382. Zum Verhältnis zwischen dem Holocaust und dem Genozid an den Armeniern: Winter, Cover, S. 189, 191, 212. Vgl. auch Jean-Jacques Becker / Bernd Krumeich, Der große Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914–1918, Essen 2010, S. 194; Kay Saunders, War on the Homefront. State Intervention in Queensland 1938–1948, St. Lucia 1993, S. 3 f.; Raphael, Gewalt, S. 255–260; Chickering, Total War, S. 16, 27; ders., Der Erste Weltkrieg, S. 49; Echternkamp, Krieg, S. 12.

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der eigene Kampf religiös, zivilisatorisch oder rassistisch überhöht und als eine universelle Mission zur Rettung der Menschheit gerechtfertigt. So beriefen sich französische und britische Intellektuelle ab Herbst 1914 auf das Ziel, mit dem Krieg gegen Deutschland die menschliche Zivilisation zu retten. In Deutschland, wo vor allem die protestantische Kirche den Kampf nachdrücklich unterstützte, verherrlichten viele Wissenschaftler – so 93 von ihnen in ihrem „Aufruf an die Kulturwelt“ im Oktober 1914 – den deutschen „Geist“, die „Kultur“, das „Volkskaisertum“ und die „Ideen von 1914“. Im Zweiten Weltkrieg dämonisierte die NS-Propaganda den „jüdischen Bolschewismus“. Damit radikalisierte sie eine Verschwörungsvorstellung, die bereits in den Jahren von 1917 bis 1921 geprägt worden war. Tief verwurzelte rassistische Vorurteile gegen Asiaten traten nach dem Angriff Japans auf Pearl Harbor allerdings auch in alliierten Staaten wie den USA und Australien hervor, ohne dass sie hier in einen Genozid mündeten.29 Im Rahmen der „kulturellen Mobilmachung“ teilte die Kriegspropaganda die Welt klar in zwei Gruppen: Freunde und Gegner. Gewalt gegen die verteufelten „Feinde“ wurde sakralisiert und die eigene Kriegführung überhöht. Dazu gehörte auch, dass gegnerischen Staaten wehrfähige Männer entzogen werden sollten. Dieses Ziel löste zunächst die Internierung aus, auch wenn der Prozess zusehends eine Eigendynamik gewann und bald die systematische Verfolgung von Minderheiten umfasste, die als „innere Feinde“ vermeintlich die Sicherheit gefährdeten. Die Unterdrückung ziviler Feindstaatenangehöriger war damit integraler Bestandteil der „Totalisierung“ in den beiden Weltkriegen. Besonders die Internierung oder sogar Ermordung dieser unschuldigen Zivilisten zeigte die Dynamik der Gewalt. Die Internierten waren im Rahmen einer Politik, die Vergeltung an „feindlichen Ausländern“ suchte, in vielen kriegführenden Ländern hilflose Geiseln. Sie wurden zu Opfern einer ausufernden Sicherheitspolitik.30 Angesichts der politisch-ideologischen Polarisierung bemühten sich die Regierungen, alle verfügbaren Ressourcen zu mobilisieren und zu nutzen, auch diejenigen ihrer überseeischen Kolonien. Über die Wirtschaft und die Rekrutierung von Soldaten hinaus sollte auch die Zivilbevölkerung – darunter Frauen – für die Kriegführung eingesetzt werden. Dabei waren Zwang und Überzeugung 29 Hew Strachan, The First World War, Bd. 1: To Arms, New York 2001, S. 1117, 1122–1136; Raphael, Gewalt, S. 61. Vgl. auch Steffen Bruendel, Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg, München 2014, S. 74–91, 169–184; ders., Kriegsgreuel, S. 300. 30 Anja Huber, Fremdsein im Krieg. Die Schweiz als Ausgangs- und Zielort von Migration, 1914–1918, Zürich 2018, S. 179; Pitzer, Night, S. 102; Horne / Kramer, War, S. 162, 168; Jones, Great War, S. 88; Weinke, Gewalt, S. 45; Winter, Cover, S. 200, 206, 209. Vgl. auch McMillan, War, S. 40, 42, 49–53; Alexander, Genesis, S. 370. Zum Zweiten Weltkrieg aus zeitgenössischer Sicht: Cohn, Aspects, S. 201.

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eng miteinander verschränkt. Allerdings blieb die Einbeziehung von Zivilisten besonders im Ersten Weltkrieg noch begrenzt, und sie hatte andererseits auch schon mit den umfassenden Kampfhandlungen der Frühen Neuzeit begonnen, wie der Blick auf die Verwüstungen zeigt, die im Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648 weite Gebiete Mitteleuropas verheerten. Überdies erschwert der suggestive Begriff des „totalen Krieges“ Nuancierungen und Differenzierungen, denn sogar in den beiden Weltkriegen traf die Mobilisierung auf Grenzen. So entfiel in den Kämpfen von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 humanitäre Rücksichtnahme keineswegs vollständig, wie in diesem Buch dargestellt wird. Deshalb ist vorgeschlagen worden, das Konzept als Idealtypus (nach Max Weber) zu benutzen.31 So können für die beiden Weltkriege Annäherungen an „zwei Spielformen industrialisierter Kriegführung mit der Tendenz zu ihrer Totalisierung“ identifiziert werden. Damit werden die Einwände gegen das Paradigma vom „totalen Krieg“ berücksichtigt und aufgenommen.32

Mobilisierung, Propaganda und ethnische Homogenisierung im Rahmen der Sicherheitspolitik im Ausnahmezustand Als „industrieller Volkskrieg“ bezog bereits der Erste Weltkrieg nahezu gleichermaßen Soldaten und Zivilisten ein, und er erschütterte in allen kriegführenden Ländern die gesellschaftlichen Ordnungen. Der Erosion des staatlichen Gewaltmonopols, vor allem durch Aufstände und Unruhen nach der Doppelrevolution in Russland, ging in den kriegführenden Ländern aber eine Stärkung staatlicher Institutionen voraus. Zwangsarbeit, die Wehrpflicht, die Rationierung von Nahrungsmitteln und eine umfassende Kontrolle der Bürger sollten die jeweiligen Staaten befähigen, die Kämpfe durchzuhalten. Dazu verkündeten die regierenden politischen Eliten in den einzelnen Ländern einen nationalen Konsens, so in Deutschland den „Burgfrieden“. Forderungen nach nationaler Einheit gingen mit radikalen Abwertungen der Gegner einher, denen grundlegende Rechte und oft sogar die Zugehörigkeit zur Menschheit abgesprochen wurde. Ein- und Ausschluss ergänzten sich damit. Dabei wurden „innere Feinde“ imaginiert und konstruiert, die vielfach als unzuverlässige „trojanische Pferde“ der jeweiligen Feindstaaten und als Sicherheitsgefahren galten. Sie wurden deshalb im Allge-

31 Chickering, Total War, S. 16, 19–23, 28. Vgl. auch Michael Howard, Total War. Some Concluding Reflections, in: Chickering / Förster / Greiner (Hg.), World, S. 375–383, hier: S. 381. Zum Idealtypus die Definition in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 41974, S. 191. 32 Thoß, Zeit, S. 11.

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meinen unterdrückt, vertrieben, deportiert oder sogar ermordet. Besonders nach militärischen Niederlagen nahm der Druck der staatlichen Sicherheitsbehörden auch auf Minderheiten zu, wie die Verfolgung der Juden und Deutschen in Russland exemplarisch zeigt. Mit dem Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich eskalierte im Frühjahr und Sommer 1915 schließlich ein hypertrophes Sicherheitsdenken, das eng mit einer gezielten Bevölkerungspolitik zugunsten ethnisch homogener Nationalstaaten verknüpft war.33 Durch die Eingriffe in wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen steigerten Regierungen ihre „infrastrukturelle Macht“, die der Soziologe Michael Mann als Fähigkeit des Staates bestimmt hat, die Zivilgesellschaft zu durchdringen und in seinem Territorium politische Entscheidungen durchzusetzen. Sie schlug sich in den kriegführenden Nationen in einer enormen Ausweitung staatlicher Kompetenzen und einer Vielzahl bürokratischer Regelungen nieder, die sich auf ein breites Spektrum von Aktivitäten und unterschiedliche Lebensbereiche bezogen.34 Dabei gingen die Macht und der Einfluss der Parlamente tendenziell zugunsten exekutiver Verwaltungsstäbe und der Militärführungen zurück. In nahezu allen kriegführenden Staaten bildete sich ein „System der ‚legislativen Delegationen‘“ heraus.35 Im Verlauf der beiden Weltkriege war auch die Kriegswirtschaft umfassend und detailliert zu organisieren, um die Waffenproduktion und die Versorgung von Soldaten und Zivilisten zu sichern. Zugleich mussten angesichts der hohen Verluste immer mehr Männer für den Wehrdienst rekrutiert werden. Sogar in 33 Michael R. Marrus, The Unwanted. European Refugees in the Twentieth Century, New York 1985, S. 51; Matthew James Frank, Making Minorities History. Population Transfer in TwentiethCentury Europe, Oxford 2017, S. 29 f.; Mark Levene, „The Enemy Within“?, Armenians, Jews, the Military Crises of 1915 and the Genocidal Origins of the „Minorities Question“, in: Ewence / Grady (Hg.), Minorities, S. 143–173, hier: 146–148, 155; Roger Chickering, Der Erste Weltkrieg als industrieller Volkskrieg, in: Echternkamp / Mack (Hg.), Geschichte ohne Grenzen?, S. 49– 55, hier: S. 49; Benjamin Ziemann, Germany after the First World War – A Violent Society? Results and Implications of Recent Research on Weimar Germany, in: Journal of Modern European History 1 (2003), Nr. 1, S. 80–95, hier: S. 87; Robert Gerwarth / John Horne, Paramilitarism in Europe after the Great War. An Introduction, in: dies. (Hg.), War in Peace, S. 1–18, hier: S. 2; Leidinger / Moritz, Der Erste Weltkrieg, S. 86; Manz / Panayi, Enemies, S. 32 f. 34 Michael Mann, The autonomous power of the state: its origins, mechanisms and results, in: Archives Européennes de Sociologie 25 (1984), S. 185–213, bes. S. 189; ders., The Sources of Social Power. The Rise of Classes and Nation-States, 1760–1914, Bd. 2, Cambridge 1993. Vgl. zur langfristigen Ausweitung staatlicher Kontrolle auch: J. C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1999. 35 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914–1919, Stuttgart 1978, S. 63. Vgl. auch Steffen Kailitz, Nach dem „Großen Krieg“ – vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939, in: Totalitarismus und Demokratie 12 (2015), S. 21–45, hier: S. 3, 36.

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Großbritannien führte das Kabinett 1916 die Wehrpflicht ein. Zur Fortsetzung des totalen Krieges schien den Regierungen eine vollständige Erfassung der Bevölkerung notwendig. So mussten sich nach dem 1915 erlassenen National Registration Act alle im Vereinigten Königreich lebenden Männer und Frauen verzeichnen lassen.36 Darüber hinaus unterlag die Wirtschaft staatlicher Lenkung oder Koordination. So wurde in Deutschland im Mai und November 1915 ein Kriegsernährungsamt bzw. Kriegsamt gegründet, nachdem im Preußischen Kriegsministerium schon im August 1914 eine Kriegsrohstoffabteilung gebildet worden war. 1917 etablierte die Reichsregierung schließlich Kriegswirtschaftsämter, um die Produktion weiter zu steigern. In Russland wurden im Mai 1915 Kriegsindustriekomitees eingerichtet, zunächst in Moskau. In Großbritannien griff das in demselben Monat gebildete Ministry of Munitions zwar nicht direkt in die Produktion ein, aber es koordinierte die Erzeugung in den Unternehmen. In Frankreich übernahm diese Kontrollfunktion der Sozialist Albert Thomas (1878–1932), der 1916 zum Rüstungsminister ernannt wurde. Nach dem Übergang zum Abnutzungskrieg und hohen Verlusten wurde 1917/18 schließlich eine „zweite Mobilisierung“ unumgänglich, um die letzten Reserven zu nutzen. Dieser Prozess festigte die korporativen Strukturen, die eine enge Kooperation zwischen den Regierungen, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden gewährleisten sollten. So wurden in Großbritannien Joint Industrial Councils gegründet, die der liberale Parlamentsabgeordnete John H. Whitley (1869–1930) leitete. In Neuseeland etablierte die Regierung im Februar 1917 den National Efficiency Board, dessen Arbeit besonders Verteidigungsminister James Allen (1855–1942) förderte. Auch damit wurde nicht nur die staatliche Intervention, sondern auch die Macht von Unternehmern und Gewerkschaften gestärkt.37

36 Dazu exemplarisch: Rosemary Eliot, An Early Experiment in National Identity Cards: The Battle over Registration in the First World War, in: Twentieth Century British History 17 (2006), Nr. 2, S. 145–176; Ralph Quincy Adams / Philip P. Poirier, The Conscription Controversy in Great Britain, 1900–1918, London 1987. 37 John E. Martin, Blueprint for the Future? ‚National Efficiency‘ and the First World War, in: Crawfort / McGibbon (Hg.), Great War, S. 516–533, hier: S. 517, 520, 531–533; Leidinger / Moritz, Der Erste Weltkrieg, S. 57; Manz / Panayi, Enemies, S. 32. Zu Großbritannien: Chris Wrigley, The Ministry of Munitions: An Innovative Department, in: Kathleen Burk (Hg.), War and the State, London 1982, S. 32–56; Bernd-Jürgen Wendt, Whitleyism – Versuch einer Institutionalisierung des Sozialkonfliktes in England am Ausgang des Ersten Weltkrieges, in: Dirk Stegmann / Bernd-Jürgen Wendt / Peter-Christian Witt (Hg.), Industrielle Gesellschaft und politisches System. Fs. Fritz Fischer, Bonn 1978, S. 337–353. Zu Russland: Manfred Hildermeier, Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München 2013, S. 1061; David Stevenson, 1914–1918. Der Erste Weltkrieg, London 2014, S. 348.

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Überdies unterbanden die Regierungen der kriegführenden Staaten die Mobilität der Arbeitskräfte, so im Vereinigten Königreich mit dem Munitions of War Act vom Juli 1915 und in Deutschland mit dem „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“, das im Dezember 1916 in Kraft trat. Damit wurde eine umfassende Arbeits- und Dienstpflicht eingeführt, im Deutschen Kaiserreich allerdings nicht für Frauen. Darüber hinaus sollte die Erzeugung von Munition im Rahmen des „Hindenburg-Programms“, das im Sommer 1916 beschlossen wurde, bis Frühjahr 1917 verdreifacht werden. Auch die Truppenstärke war deutlich zu erhöhen. In Neuseeland führte der Finance Act, den die Regierung im April 1918 erließ, einen „nationalen Dienst“ ein. In diesem Rahmen wurden über die Kontrolle der Beschäftigung, Produktion und Dienstleistungen hinaus Löhne und Gehälter reguliert. Mit den Eingriffen in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung ging eine enorm wachsende Staatsverschuldung einher, die beispielsweise in Großbritannien von 650 Millionen auf über 7,8 Milliarden Pfund wuchs. Nur ein Viertel der Kriegskosten konnten mit Steuereinnahmen bestritten werden.38 1915 verstärkten die kriegführenden Staaten auch ihre Propaganda, die auf die Mobilisierung der Heimat zielte. Dazu wurden einerseits die Bemühungen um nationale Geschlossenheit und Integration intensiviert. So sollten Sammlungen die Solidarität mit der kämpfenden Truppe demonstrieren. Andererseits schürte die Kriegspropaganda den Hass auf gegnerische Staaten und ihre Angehörigen. Die Suche nach „inneren Feinden“ spiegelte aber nicht nur die weit gespannte Sicherheits- und Mobilisierungspolitik wider, sondern auch die wachsenden gesellschaftlichen Spannungen in den meisten kriegführenden Staaten. Sie verschärften sich mit dem Überhang zu einer strikten Bewirtschaftungspolitik. Außer der zunehmenden sozialen Ungleichheit schienen die überlieferte Geschlechterordnung und das Verhältnis zwischen den Generationen bedroht. So stellten verwundete, versehrte und gefangene bzw. internierte Männer tradierte Vorstellungen von Maskulinität in Frage. Umgekehrt übernahmen Frauen und Kinder die Rollen von Männern. Im Krieg wuchsen nicht zuletzt die materiellen Belastungen, deren strukturelle Ursachen die meisten Deutschen nicht verstanden. Daher verstärkte sich die Suche nach „Feinden“, die zur Projektionsfläche von Not und Sicherheitsangst wurden. Der Mobilisierung ent-

38 James Cronin, The Politics of State Expansion. War, State and Society in Twentieth-Century Britain, London 1991, S. 76. Zu Deutschland: Roger Chickering, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2002, S. 133–154, 159; ders., Der Erste Weltkrieg, S. 52 f.; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 22017, S. 144 f. Zu Neuseeland: Martin, Blueprint for the Future?, S. 528.

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sprach deshalb eine polizeiliche und militärische Kontrolle, mit der die Heimatfront vor Subversion geschützt werden sollte.39 Gewalt gegenüber Zivilisten war zwar schon vor 1914 als Mittel der Nationalisierung hervorgetreten, so nach der Erhebung der Polen 1863 im russischen Zarenreich. Hier hatte die Regierung die Militärplanung seit den 1870er Jahren überdies auf die Sicherheit des Staates ausgerichtet, wie auch die Einführung der Wehrpflicht 1874 zeigte. Mit der Russifizierung ging nicht nur ein schleichender Legitimitätsverlust der autokratischen Herrschaft des Zaren und ein Zerfall des multiethnischen Selbstverständnisses einher, sondern auch eine radikale Ausgrenzung von Minoritäten. Eine ähnliche Politik ethnischer Homogenisierung vollzog sich im Osmanischen Reich, wo ein Aufstand der christlichen Bulgaren 1877 zum Abbruch der liberalen Politik im Zeichen der 1839 begonnenen Tanzimat-Reformen führte und den türkischen Nationalismus stärkte. Zugleich wandten sich die osmanischen Eliten gegen die Westmächte, die für den Schutz von Minderheiten im Reich eingetreten waren, oft aber auch, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.40 Im Ersten Weltkrieg griffen die Propaganda der Regierungen gegen „Feinde“ und die (Selbst-)Mobilisierung großer Bevölkerungsgruppen im Zeichen der „Wachsamkeit“ schließlich nahtlos ineinander. Dies schlug sich in der massenhaften Einberufung zum Wehrdienst für die Nation ebenso nieder wie in militanten Aktivitäten bürgerwehrähnlicher Verbände – so Einwohnertrupps – gegen Feindstaatenangehörige und Minderheiten. Die politischen Eliten ließen gewalttätige Übergriffe dieser (tatsächlich oder vorgeblich) um den „Schutz der Heimat“ besorgten Bürgerinnen und Bürger lange zu. Sie schritten erst ein, wenn ihnen die Kontrolle über diese Vigilanz zu entgleiten drohte. Staatliche Unterdrückung „von oben“ und Selbstermächtigung „von unten“ waren – auch unter dem Einfluss der oft radikalen Kampagne vieler Presseorgane – eng miteinander verzahnt. Alles in allem hatte sich schon vor 1914 ein extremer Nationalismus mit Vorstellungen ethnischer Homogenität, Fremdenfeindlichkeit, Sicherheitsängsten und Feindkonstruktionen verbunden. Nicht nur die Regierungen, sondern auch große Bevölkerungsgruppen assoziierten ethnische Zugehörigkeit zum Nationalstaat mit politischer Loyalität. Damit war die Grundlage für eine Repressionspolitik gegenüber Angehörigen von Feindstaaten, Min39 Volker Ullrich, Deutsches Kaiserreich, Frankfurt/M. 2006, S. 51; Chickering, Der Erste Weltkrieg, S. 51; Stibbe, Experiences, S. 18; Manz / Panayi, Enemies, S. 19–21. Exemplarisch: Brock Millman, Managing Domestic Dissent in First World War Britain, London 2000, S. 304; Steffen Bruendel, Vor-Bilder des Durchhaltens. Die deutsche Kriegsanleihe-Werbung 1917/18, in: Arnd Bauerkämper / Elise Julien (Hg.), (Hg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010, S. 81–108. 40 Levene, „The Enemy Within“?, S. 155 f. Übersicht in: Paulmann, Vorherrschaft, S. 346–353.

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derheiten und Kriegsgegnern gelegt. Notstandsgesetze, die zu Beginn des Krieges in den einzelnen Staaten erlassen wurden, ermächtigten die staatlichen Behörden schließlich, gegen die verfemten Gruppen vorzugehen. Allerdings war die Mobilisierung keineswegs vollständig, nicht nur in den Reichen des russischen Zaren und des Sultans der Osmanen, wo Bewohner und materielle Ressourcen in entlegenen Räumen von den Behörden kaum lückenlos erfasst werden konnten. Vielmehr entzogen sich auch in Mittel- und Westeuropa Angehörige von Minderheiten dem Kriegsdienst, so 1914 allein im Elsass und in Lothringen 3.000 Einwohner, die nach Frankreich flohen. Außerdem kämpften von 16.000 Elsässern und Lothringern, die im Ausland Einberufungsbescheide erhielten, letztlich nur 4.000 für Deutschland. Aber auch in den anderen kriegführenden Staaten blieb eine totale Mobilisierung eine Illusion.41 In der Kriegspropaganda richteten sich die Angriffe besonders gegen Personen, die nicht Staatsbürger waren. Sie wiesen in den beiden Weltkriegen tatsächlich komplexe Loyalitäten auf. Im Allgemeinen verhielten sie sich zwar loyal gegenüber dem Land, in dem sie lebten. Jedoch fühlten sich viele Eingebürgerte und Nachkommen von Fremden, die in anderen Staaten geboren waren, zumindest noch teilweise an ihre Herkunftsländer gebunden. Loyalitäten waren damit komplex, multipel und nicht nur an Nationen gebunden, sondern auch an andere Zugehörigkeiten, und sie waren transnational ausgerichtet. Allein deshalb wurden Gruppen, deren Angehörige nicht Staatsbürger waren, oft zu „Feinden“ gestempelt. Die kriegführenden Regierungen entzogen ihnen grundlegende Rechte. Sie wurden diskriminiert, ausgewiesen, deportiert, interniert und enteignet. Die Erfahrungen der zivilen Feindstaatenangehörigen müssen damit trotz der prägenden Kraft des Nationalismus auch deshalb in einem grenzüberschreitenden Rahmen untersucht werden.42 41 Angabe nach: Alan Kramer, Wackes at War: Alsace Lorraine and the Failure of German National Mobilization, in: John Horne (Hg.), State, Society and Mobilization in Europe during the First World War, Cambridge 1997, S. 105–121, hier: S. 110 f. Vgl. auch Stéphane AudoinRouzeau / Annette Becker, 14–18, retrouver la guerre, Paris 2000, S. 64; Panayi, Minorities, S. 220, 222; Bischoff, Spy Fever; Manz / Panayi / Stibbe, Internment, S. 5; Manz / Panayi, Enemies, S. 32 f.; Stibbe, Introduction, S. 11 f.; Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 798, 824; Echternkamp, Krieg, S. 18 f.; Kershaw, Höllensturz, S. 75. Zitat nach: Matthias Quent, Selbstjustiz im Namen des Volkes: Vigilantischer Terrorismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 24–25 / 2016, 13. Juni 2016, S. 20–26, hier: S. 25. Zu Russland: Joshua A. Sanborn, Drafting the Russian Nation. Military Conscription, Total War and Mass Politics, 1905–1925, Illinois 2003, S. 107, 165, 181, 203–205. Allgemein zur selektiven Unterdrückung und Gewalt durch Regierungen: Heinz-Gerhard Haupt, Gewalt und Politik im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2012, S. 98. 42 Zur Komplexität der Loyalitäten in den beiden Weltkriegen: Wendy Webster, Enemies, Allies and Transnational Histories: German, Irish and Italians in Second World War Britain, in:

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Diese Prozesse des Ein- und Ausschlusses, die schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eingesetzt hatten, waren eingebettet in eine tiefgreifende Verschiebung im Verhältnis zwischen Individuen und dem Staat im Allgemeinen und eine Neufassung von Staatsbürgerschaft im Besonderen. Nach dem Nationsverständnis, das sich im 19. Jahrhundert durchsetzte, sollte ein homogenes Volk einen nationalen Territorialstaat bewohnen, in dem die Regierung jeweils souverän herrschte. Jedoch gewann darüber hinaus ein Konzept Anhänger, das die Volkszugehörigkeit nicht mehr vorrangig territorial definierte, sondern an die Abstammung band, die nunmehr als Ausweis der politischen Loyalität und emotionalen Identifikation mit der jeweiligen Nation galt. So ersetzten im späten 19. Jahrhundert mehrere Regierungen europäischer Staaten das ius soli durch das ius sanguinis. Daneben bildeten die Kultur (vor allem die Sprache), das Bekenntnis zu Religionen wie auch (verstärkt seit der Oktoberrevolution in Russland) die Zugehörigkeit zu Klassen prägende Scheidelinien. Damit einhergehend, wurden „Fremde“ zusehends ethnisch sozial oder politisch definiert. Diese Alteritätskonstruktionen schlugen sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in vielen Staaten u. a. in der Einschränkung der Immigration nieder. Sie spiegelte ihrerseits die Tendenz zur Ethnisierung des Staatsbürgerrechts wider.43 Insgesamt definierten die Regierungen die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Nationalstaaten in der Konfrontation der beiden Weltkriege noch schärfer als zuvor. Dabei entsprach verstärkten Bemühungen zur Integration die Mobilisierung gegen „Feinde“. Personen, denen die Staatsangehörigkeit fehlte, wurden verdrängt und zwangsweise ausgebürgert. Demgegenüber stellten die Regierungen der kriegführenden Staaten – mit Ausnahme Deutschlands – Einbürgerungen weitgehend ein. So ging die Zahl der angenommenen Anträge in Frankreich schon von 1913 bis 1914 von 3.447 auf 2.117 zurück, bevor die Naturalisation vollständig ausgesetzt wurde. Nur noch Ausländer, die sich zum Wehrdienst meldeten, konnten in einzelnen Fällen die Staatsbürgerschaft erhalten. In beiden Weltkriegen verschärften die Regierungen diese Abgrenzungspolitik fortlaufend. Jedoch entsprachen ethnische Zugehörigkeiten nicht durchweg der Staatsangehörigkeit. Deshalb wurden Minderheiten in den Staatsvölkern vielTwentieth Century British History 25 (2014), S. 63–86, hier: S. 81 f. Allgemein zu den transnationalen Interaktionen im Ersten Weltkrieg: Ute Frevert, Europeanizing German History, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington 36 (2005), S. 9–31, hier: S. 13–15. 43 Daniela Caglioti, Subjects, Citizens and Aliens in a Time of Upheaval: Naturalizing and Denaturalizing in Europe during the First World War, in: Journal of Modern History 89 (2017), S. 495–530, hier: S. 495–498, 509 f., 512 (Angabe), 518 f., 529 f.; Gammerl, Staatsbürger, S. 220; Akçam, Young Turks, S. 258; Kushner, Remembering, S. 35. Überblick in: Paulmann, Vorherrschaft, S. 338–346.

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fach diskriminiert. Da die Politik zur Ein- bzw. Ausbürgerung in den Wehrgemeinschaften besonders von der (angenommen) nationalen Loyalität bestimmt wurde, folgte sie den jeweiligen Sicherheitswahrnehmungen. Diese beeinflussten auch die Vergabe sozialer Leistungen, von denen „Fremde“ ausgeschlossen waren.44 Vor 1914 hatte in den Ländern der Entente besonders die Neuregelung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts Argwohn erweckt. Ein Gesetz vom 22. Juli 1913 erschwerte nicht nur die Einbürgerung von Ausländern, sondern hob auch die geltende Regelung des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1870 auf, in dem festgelegt worden war, dass Deutsche ihre Staatsbürgerschaft nach einem zehnjährigen Aufenthalt im Ausland verloren. Demgegenüber durften sie ihre Zugehörigkeit zum Deutschen Reich ab 1. Januar 1914 unbegrenzt behalten und sogar auf ihre Kinder und Enkelkinder übertragen. Allerdings mussten sie dazu ihren Wehrdienst in Deutschland absolvieren. Ausländer, die Deutsche heirateten, verloren demgegenüber die Staatsangehörigkeit ihres Heimatlandes. Diese Neuregelung folgte weiterhin dem Prinzip der individuellen Willensentscheidung und traf deshalb bei radikalen Imperialisten und Nationalisten im Kaiserreich auf Widerstand. Diese hatten gefordert, anstelle der Loyalität gegenüber dem Staat auf ethnische Zugehörigkeit abzuheben. Das Gesetz vom 22. Juli 1913 entsprach aber durchaus der „Weltpolitik“ der deutschen Reichsleitung, die anstrebte, Deutsche in den Kolonien an ihr Heimatland zu binden. Zudem sollten Wehrdienstverweigerer leichter ausgebürgert werden können. Das Staatsbürgerschaftsrecht nach dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis) löste vor allem in Ländern, in denen starke deutsche Minderheiten lebten (so im Russischen Zarenreich, Frankreich und den USA) erhebliche Besorgnis und Ängste vor einer „fünften Kolonne“ im Kriegsfall aus. In diesen Ländern galt die ethnische Zugehörigkeit zur deutschen Nation nunmehr pauschal als Sicherheitsrisiko. Nach dem Kriegsbeginn rechtfertigte das neue Staatsbürgerschaftsgesetz des Kaiserreiches in diesen Ländern deshalb das Vorgehen gegen (eingebürgerte) Deutsche. Umgekehrt stärkte es in Deutschland die Politik des „Burgfriedens“, und es verlieh der Illusion einer vorgeblich geschlossenen „Volksgemeinschaft“ erheblich Auftrieb.45 44 Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 98–102, 106, 133 f.; Caglioti, Subjects, S. 512. 45 Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, S. 310, 314, 319 f., 323 f.; Eli Nathans, The Politics of Citizenship. Ethnicity, Utility and Nationalism, Oxford 2004, S. 178; David Blackbourn, Germans Abroad and Auslandsdeutsche. Places, Networks and Experiences from the Sixteenth to the Twentieth Century, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015), S. 321–346, hier: S. 339, 343; Reinecke, Grenzen, S. 236 f. Z. T. andere Interpretation in: Rogers Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, Cambridge/Mass. 1992,

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Im Zweiten Weltkrieg drängte die Zugehörigkeit zum deutschen „Volkstum“ den Stellenwert der Staatsbürgerschaft noch weiter zurück. Mit der Ernennung Heinrich Himmlers zum „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ am 7. Oktober 1939 intensivierte sich die Siedlungspolitik im eroberten Polen. Damit ging die Sicherung neuen „Lebensraums“ einher, wie die von 1940 bis 1942 erstellten Entwürfe zum „Generalplan Ost“ zeigten. In den eroberten Räumen Osteuropas wurden „Arier“ in „Volkslisten“ aufgenommen und damit als deutsche Staatsangehörige anerkannt. Demgegenüber galten „Fremdvölkische“ offiziell zwar als „Schutzangehörige“; sie konnten aber diskriminiert, verfolgt und ermordet werden, da die NS-Behörden das Staatsangehörigkeitsrecht ausgehebelt hatten. Dieses war „zum politisch verfügbaren Instrument der rassischen Volkstumspolitik“ geworden.46 Wie schon ein Runderlass des Reichsministeriums des Innern vom 29. März 1939 angeordnet hatte, waren „Volksfremde“ als (potentielle) „Feinde“ grundsätzlich aus der Gemeinschaft der „Deutschen“ ausgeschlossen. Auf dieser Grundlage beraubten die nationalsozialistischen Machthaber die Juden im November 1941 ihrer deutschen Staatangehörigkeit, bevor sie 1943 vollends pauschal für staatenlos erklärt wurden. Damit verloren sie auch endgültig ihre Eigentumsrechte, die schon seit der Mitte der 1930er Jahre schrittweise eingeschränkt worden waren.47 Der Rassen- und Vernichtungskrieg des „Dritten Reiches“ in den Jahren von 1939 bis 1945 hob sich zwar qualitativ vom Ersten Weltkrieg ab. Daneben blieben im nationalsozialistischen Deutschland aber Reste des „Normenstaates“ erhalten, besonders im Umgang mit Zivilisten aus den westlichen Staaten. Auch war die Entwicklung von 1914/18 bis 1939/45 weder zwangsläufig noch linear.48 Nicht zuletzt kann der Zweite Weltkrieg nicht einfach als „radikalisierte FortsetS. 116–118, 136; Evgenij Sergeev, Die Wahrnehmung Deutschlands und der Deutschen in Russland 1914–1918, in: Horst Möller / Aleksandr Čubar’jan (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Deutschland und Russland im europäischen Kontext, Berlin 2017, S. 97–108, hier: S. 100; Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003; Annemarie H. Sammartino, The Impossible Border. Germany and the East, 1914–1922, Ithaca 2010, S. 22 f.; Wippich, Internierung, S. 39; Caglioti, Subjects, S. 516, 523; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 30. 46 Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 272. 47 Gosewinkel, Introduction, S. 23; ders., Schutz und Freiheit?, S. 273–276. Vgl. im Einzelnen Diemut Majer, „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard 1993; Isabel Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassepolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003. 48 Carole Fink, The Peace Settlement, 1919–39, in: Horne (Hg.), Companion, S. 543–557, hier: S. 453; Frie, 100 Jahre, S. 105; Stibbe, Civilian Internment, S. 18 gf.

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zung“ der militärischen Auseinandersetzung interpretiert werden, die im Sommer 1914 begonnen hatte. Vielmehr vollzog sich in den Jahren von 1939 bis 1945 eine qualitativ neuartige Entgrenzung und „Extensivierung“ der Kriegführung, wie der Umgang mit Zivilisten demonstriert.49 Jedoch hatte der Erste Weltkrieg die Repressionspolitik nachhaltig radikalisiert. Trotz der erheblichen Unterschiede wiesen die beiden globalen Konflikte durchaus Ähnlichkeiten auf. Mit dem Beginn der Kampfhandlungen bildeten sich sowohl 1914 als auch 1939 in allen beteiligten Ländern weitgespannte Kriegskulturen heraus, die über die Regierungen und Eliten hinaus breite Bevölkerungsgruppen umfassten. Seit dem 19. Jahrhundert war die Macht des Staates zwar erheblich gewachsen; staatliche Herrschaft bedurfte aber sogar in autokratischen Systemen der Legitimität durch Zustimmung. Dazu konnten politische und gesellschaftliche Gruppen auch in den beiden „totalen“ Kriegen in der Regel nicht nur einfach gezwungen werden. Dies war vor allem in Ländern mit einer starken parlamentarischen Tradition und einem hohen Ausmaß zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation ausgeschlossen. Insgesamt verschränkten sich in den beiden Weltkriegen deshalb staatliche und gesellschaftliche Mobilisierungsprozesse eng miteinander. Die Kriegskulturen verknüpften Zwang und Überzeugung in einem Mischungsverhältnis, das in den beteiligten Ländern differierte und auch zeitlich variierte. Dabei wurde jeweils die Verteidigung der eigenen politischen und gesellschaftlichen Ordnung beschworen. Der Kampf um die Hegemonie war ideologisch aufgeladen.50

49 Thoß, Zeit, S. 19. Vgl. auch McMillan, War, S. 68. 50 Dagegen hat Raymond Aron den Ersten Weltkrieg als bewaffneten Konflikt über die Hegemonie und den Zweiten Weltkrieg als Kampf um die Hegemonie interpretiert. Vgl. Raymond Aron, War and Industrial Society, Oxford 1958. Zur Diskussion: John Horne, Introduction: Mobilization for ‚Total War‘ in: ders. (Hg.), State, S. 1–17, hier: S. 1–3, 6 f., 16 f.; Alan Kramer, Dynamic of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War, Oxford 2007, S. 328, 331; Geoffrey Best, Humanity in Warfare. The Modern History of the International Law of Armed Conflicts, London 1980, S. 221–223; Michael Howard, Total War in the Twentieth Century: Participation and Consensus in the Second World War, in: Brian Bond / Ian Roy (Hg.), War and Society. A Yearbook of Military History, London 1975, S. 216–226. Allgemein: Echternkamp, 1914–1945, S. 269. Daneben: Wolfgang Hartwig, Einleitung, in ders. (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 11–17, hier: S. 16; Konrad H. Jarausch, Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century, Princeton 2015, S. 74 f.; Hans Boldt, Der Ausnahmezustand in historischer Perspektive, in: Der Staat 6 (1967), S. 409–432, hier: S. 430; Christoph Jahr / Jens Thiel, Prolegomena zu einer Geschichte der Lager. Eine Einführung, in: dies. (Hg.), Lager vor Auschwitz. Gewalt und Integration im 20. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 7–19, hier: S. 10; Proctor, Civilians, S. 110; Caglioti, Aliens, S. 451.

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Kriegskulturen prägten nicht nur die Kampfmoral an der Front, sondern auch das Alltagsleben der Bevölkerung in der Heimat. Sie zielten einerseits auf nationale Einheit. In dieser Hinsicht war von der Verschmelzung der Volkssouveränität, die in der Französischen Revolution begründet worden war, mit einem radikalen, integralen Nationalismus, der am Leitbild ethnischer Homogenität orientiert war, seit dem 19. Jahrhundert eine gewalttätige Dynamik ausgegangen. Der nationalen Integration und militärischen Mobilisierung – vor allem durch die Wehrpflicht – entsprach im „Volkskrieg“ die scharfe Abgrenzung von „Feinden“, die in der Kriegspropaganda vielfach dämonisiert wurden. Da die Trennung von äußeren und inneren Gegnern in den beiden „totalen“ Weltkriegen aber verschwamm, zielte die Kriegsmobilisierung in den einzelnen Staaten über die Soldaten hinaus auf Zivilisten, deren Durchhaltewille gestärkt werden sollte. Feindbilder wurden medial vermittelt, nicht nur national, sondern auch in lokalen Gemeinschaften. Dazu dienten die regierungsamtliche Propaganda und die Presse, denn „the communization of warfare necessitated the mobilisation of the civilian mind.“51 Die Mobilisierung von Emotionen war integraler Bestandteil dieses Prozesses. Vor allem Zeitungen und Zeitschriften mit hoher Auflage beeinflussten die Sicherheitskulturen, indem sie in einer zunehmend massenmedialen Öffentlichkeit, in der die Lesefähigkeit vor 1914 deutlich zugenommen hatte, Angst steigerten. Sie verbreiteten Vorstellungen und Wahrnehmungen von Gefahren und prägten damit die Sicherheitskulturen. Der Aufstieg der Daily Mail und des Daily Mirror zu auflagenstarken Zeitungen in Großbritannien nach ihrer Gründung durch Alfred Harmsworth (Lord Northcliffe, 1865–1922) 1896 bzw. 1903 zeigte exemplarisch den Trend zur kommerziellen Massenpresse, in der Zugehörigkeit zu Nationen und der Ausschluss aus ihnen verhandelt wurde. Angesichts der extremen Sicherheitsängste der Bevölkerungsmehrheit, die im Ersten Weltkrieg eine besonders enge emotionale Gemeinschaft bildete, steigerte die Boulevardpresse ihre Auflage ab 1914 tendenziell noch weiter. Zeitungen und Zeitschriften waren deshalb für die Mobilisierung in allen kriegführenden Staaten – mit Einschränkungen im Russischen und Osmanischen Reich – wichtiger als die regie-

51 Harold Lasswell, Propaganda Technique in World War I, Cambridge/Mass. 1971 (11927), S. 10. Vgl. auch Catriona M. M. Macdonald, May 1915: Race, Riot and Representation of War, in: dies. / Elaine W. McFarland (Hg.), Scotland and the Great War, East Lothian 1999, S. 145– 171, hier: S. 150, 163, 165 f. Zum historischen Hintergrund: Christopher Blackburn, French Revolution, Wars of the (1792–1799), in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 103 f.

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rungsoffizielle Propaganda, die allerdings viele sensationelle Presseberichte aufgriff und verstärkte.52 Darüber hinaus sollten den gegnerischen Staaten Ressourcen entzogen werden. Dazu gehörten Güter und Soldaten, aber auch wehrpflichtige Zivilisten, die zum Wehrdienst eingezogen werden konnten. Die Widerstandskraft der feindlichen Mächte sollte gezielt geschwächt werden. Die Regierungen bemühten sich deshalb, Anhänger in den gegnerischen Staaten zu mobilisieren. Zugleich war die eigene Bevölkerung jeweils vor (vermeintlich) subversiven Kräften zu schützen. Aus dieser Sicht musste der „innere Feind“ ausgeschaltet werden, damit die Fronten standhielten und die Sicherheit der jeweiligen Nation gewahrt blieb. In dieser Denkfigur war bereits die Furcht vor einem „Dolchstoß“ angelegt, auch wenn sich die Intensität und Formen des Mythos in den kriegführenden Staaten voneinander unterschieden. Vor allem in Ländern, in denen Militärs oder Diktatoren unumschränkt herrschten, schlug sich die Legende vom Verrat in umfassenden Verschwörungsvorstellungen nieder. Aber auch in den westlichen Staaten, in denen parlamentarische Regierungssysteme dominierten, richteten sich fremdenfeindliche Ressentiments, Spionagehysterie und der Verdacht der Illoyalität gegen Zivilisten, die den „Zentralmächten“ angehörten. Zur Zielscheibe der Kriegspropanda wurden jeweils besonders die in Deutschland geborenen Ausländer, deren Zahl sich 1914 in den USA auf rund 2,5 Millionen, in Belgien auf 57.000, in Großbritannien auf 56.000 und in Australien auf 33.000 belief. Auch im Zweiten Weltkrieg wurde die gemeinsame Abwehr des Fremden und von Ausländern (vor allem Feindstaatenangehörigen) konstitutiv für die „Heimatfront“.53 Da innere und äußere Sicherheit aber in allen kriegführenden Ländern aus der Perspektive der regierenden Eliten wechselseitig aufeinander bezogen wa-

52 Für Großbritannien: John McEwen, The National Press during the First World War: Ownership and Circulation, in: Journal of Contemporary History 17 (1982), S. 459–486, hier: S. 460 f., 464, 477 f., 481–483. 53 Huber, Fremdsein, S. 269. Angaben nach: Mark Ellis / Panikos Panayi, German Minorities in World War I: A Comparative Study of Britain and the USA, in: Ethnic and Racial Studies 17 (1994), Nr, 2, S. 238–259, hier: S. 239. Vgl. auch Alexander Prusin, A „Zone of Violence“: The Anti-Jewish Pogroms in Eastern Galicia in 1914–1915 and 1941, in: Bartov / Weitz (Hg.), Shatterzone, S. 362–377, hier: S. 363; John Horne, L’Etranger, la guerre et l’image de „l’autre“, 1914– 1918, in: Jean-Pierre Jessenne (Hg.), L’Image de l’autre dans l’Europe du Nord-Ouest à travers l’histoire, Villeneuve d’Ascq 1996, S. 133–144; ders., Horne, Introduction, S. 9 f., 16 f.; ders., Introduction. Wartime Imprisonment in the Twentieth Century, S. 15; Gerwarth / Horne, Paramilitarism, S. 13, 17; Huber, Fremdsein, S. 228 f.; Howard, Total War, S. 376, 379; Chickering / Förster, Are We There Yet?, S. 2, 4, 10 f.

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ren, galten außer den Angehörigen gegnerischer Staaten auch „innere Feinde“ – Pazifisten, Sozialisten, Wehrdienstverweigerer und Deserteure – pauschal als subversiv. Ebenso zweifelhaft erschien die Loyalität ethnischer Minderheiten gegenüber den Nationen, in denen sie lebten. Oft wurde ihnen als vermeintliche Helfershelfer der „Feinde“ sogar direkt Spionage und Verschwörung unterstellt. Getragen und getrieben von nationalistischen und fremdenfeindlichen Verbänden, die Angst vor einer Niederlange durch Unterwanderung verbreiteten, stigmatisierten Regierungen in vielen kriegführenden Staaten große Bevölkerungsgruppen als Sicherheitsrisiken, die rigoros einzudämmen waren. Zur Durchsetzung der weitreichenden Repressionspolitik nutzten die Machteliten nahezu alle Mittel, so die Mobilisierung und Militarisierung von Ethnizität. Dabei verstießen sie wiederholt auch gegen das Kriegsvölkerrecht, und sie gingen z. T. rigoros gegen Zivilisten vor. So schrieb der liberale britische Journalist John Hobson (1858–1940) 1917: The temper of war is arbitrary and absolute in its demands not only upon its fighting units but upon the civil populations, which it regards as mere instruments of military power. Modern warfare, in which nations contend with all their resources, industrial and financial as well as military, has gone far towards erasing the differences once recognized between combatants and non-combatants.54

Eine nahezu totale Mobilisierung vollzog sich im Ersten Weltkrieg, nachdem 1915 die Hoffnung auf einen schnellen Sieg geschwunden war. Zwei Jahre später erforderten die zunehmende Kriegsmüdigkeit und die zunehmenden innenpolitischen und gesellschaftlichen Konflikte aus der Sicht der Regierungen schließlich alle Mittel, um im Überlebenskampf den Sieg zu erringen. Allerdings wies die „Remobilisierung“, mit der die Regierungen vor allem in Frankreich, Großbritannien und Deutschland auf die militärische und politische „Erschöpfungskrise“ 1917 reagierten, in den einzelnen Ländern deutliche Unterschiede auf. Im Deutschen Kaiserreich griffen die staatlichen Behörden verstärkt zu Zwangsmaßnahmen, um der „mentalen Demobilisierung“ – vor allem unter den ethnischen Minderheiten (so Elsässern und Lothringern) – zu begegnen. Dagegen setzen sie in Großbritannien und Frankreich vorrangig auf Überzeugung, so dass die Kriegspropaganda intensiviert wurde. Zugleich weiteten besonders die Regierungen Deutschlands und Großbritanniens die Überwachung pazifisti-

54 John A. Hobson, Democracy after the War, London 1917, S. 33–35, Zitat: Panayi, Societies, S. 18. Vgl. auch Annette Becker, Paradoxien in der Situation der Kriegsgefangenen 1914–1918, in: Oltmer (Hg.), Kriegsgefangene, S. 24–31, hier: S. 29; Audoin-Rouzeau / Becker, 14–18. Understanding the Great War, S. 59, 74, 89.

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scher und sozialistischer Gruppen aus, um die Forderungen nach einem Verhandlungsfrieden einzudämmen.55 Insgesamt gewannen militärische Handlungskriterien in den beiden Weltkriegen absolute Priorität. Viele Soldaten und Zivilisten ordneten sich in den beteiligten Ländern diesen Zwängen bereitwillig und überzeugt unter, zumal in der Propaganda unablässig Ängste geweckt und gesteigert wurden. In der Kriegskultur, die national gerahmt war und maßgeblich zum Durchhalten der Kämpfe von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 beitrug, waren deshalb Zwang und Zustimmung eng miteinander verknüpft. Allerdings variierte das Mischungsverhältnis. Tendenziell herrschte Druck „von oben“ in Ost- und Ostmitteleuropa vor, wo die politische Mitwirkung und gesellschaftliche Teilhabe noch relativ schwach war. Demgegenüber nahm die nationalistische Mobilisierung „von unten“ in West- und Mitteleuropa und (ab 1917 bzw. seit 1941) in den USA einen bedeutenderen Stellenwert ein.56 Aber auch zivilgesellschaftliche Experten, humanitäre Helfer und Missionare, die sich für Kriegsgefangene und zivile Angehörige von Feindstaaten einsetzten, konnten dem Dilemma nicht entgehen, mit ihrem Engagement zugleich zur Kriegführung ihrer jeweiligen Länder beizutragen. Damit schrieben sie ungewollt Gewalt fort, und sie verlängerten indirekt die Kämpfe. Dieser grundlegende Konflikt prägte von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 die Aktivitäten karitativer Organisationen, die sich nicht von vornherein dem Ziel verschrieben hatten, ausschließlich oder vorrangig einzelne Staaten zu unterstützen. Übergriffe gegen Zivilisten blieben damit Bestandteil der Kriegskulturen.57 Traditionale Eliten verschrieben sich ungehemmt dem Ziel, die staatliche Exekutive im Allgemeinen und deren Sicherheitspolitik im Besonderen zu stärken. Dazu schürten sie gezielt Ängste in der Bevölkerung. Auch setzten sie Hinweise auf „Kriegsnotwendigkeiten“ bewusst ein, um ihre Ziele durchzusetzen. Damit war eine „realpolitische Wende in der internationalen Politik“ verbunden, die auf die Abwehr von Forderungen nach Mitsprache von Parlamenten und gesell55 John Horne, Remobilizing for ‚Total War‘: France and Britain, 1917–1918, in: Horne (Hg.), State, S. 196 f.; ders., Introduction, S. 12–15. Zitate nach (in dieser Reihenfolge): Leonhard, Büchse, S. 797, 862; Kramer: Wackes, S. 18 („mental demobilization“). 56 Arnd Bauerkämper / Elise Julien, Einleitung: Durchhalten! Kriegskulturen und Handlungspraktiken im Ersten Weltkrieg, in: dies. (Hg.), Durchhalten!, S. 7–28; Stevenson, 1914–1918, S. 319; Chickering, Der Erste Weltkrieg, S. 53; Echternkamp / Mack, Militärgeschichte, S. 14. 57 Hierzu und zum Folgenden: Isabel Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005, S. 87, 159–181, 226, 233. 237, 242, 262, 271, 276–278, 285–290; Ian Kershaw, War and Political Violence in Twentieth-Century Europe, in: Contemporary European History 14 (2005), Nr. 1, S. 197–123, hier: S. 110 f., 117–119, 122; McMillan, War, S. 41. Zu dem Dilemma, mit dem Missionare und Experten humanitärer Organisationen konfrontiert waren, vgl. Proctor, Civilians, S. 177, 189, 192–194, 200–202.

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schaftlichen Gruppen in der Politik zielte. Vor allem außenpolitische Entscheidungen sollten der öffentlichen Diskussion entzogen werden.58 Konkret konnten beispielsweise Forderungen von Behörden, die eigene Ausstattung zu verbessern oder Macht zu gewinnen, ebenso gerechtfertigt werden wie das Streben, lästige Konkurrenz zu beseitigen, unliebsame Nachbarn auszusiedeln oder sogar zu ermorden. Die Kehrseite des Anspruches gegenüber der jeweils eigenen Bevölkerung, ihre Ziele und ihr Verhalten uneingeschränkt auf das Überleben der Nation im Krieg auszurichten, waren deshalb Feindbilder und Verschwörungsvorstellungen. Das Zusammenwirken staatlicher Sicherheitspolitik und populistischer Mobilisierung im Ausnahmezustand der Weltkriege schlug sich im nationalen Zusammenschluss, aber auch im Ausschluss von „inneren Feinden“ und Spionagehysterie nieder. Dabei war eigennützigen Übergriffen – so gegen fremdes Eigentum – von den Regierungen der Boden bereitet worden, indem sie den „Feinden“ grundlegende Bürgerrechte entzogen und auch darüber hinaus ihre Freiheit eingeschränkt hatten.59 Zwar war dieses Vorgehen nicht völlig präzedenzlos, denn auch in vorangegangenen Kriegen hatten Regierungen schon „innere Feinde“ im Allgemeinen und zivile Feindstaatenangehörige im Besonderen mit der Absicht kontrolliert oder unterdrückt, die Sicherheit ihrer Staaten zu gewährleisten. Daneben waren diese Gruppen wiederholt auch ausgewiesen worden. Alternativ hatten ihnen aber einzelne Regierungen – so diejenige Japans in den Kriegen gegen China (1894/95) und Russland (1904/5) – einen kaum eingeschränkten Aufenthalt eingeräumt.60 Diese Zugeständnisse blieben in den beiden Weltkriegen überaus selten. Vielmehr setzten die Machteliten der kriegführenden Staaten nahezu ausnahmslos eine repressive Politik durch. Dabei war die Spannbreite des Vorgehens der Polizei und anderer Sicherheitsorgane allerdings erheblich. Das Spektrum reichte von der Diskriminierung (so Sprachverbote) über Kontrollen (u. a. Meldepflichten), Einschränkungen der persönlichen Freiheit (vor allem der Mobilität), Bürgerrechten und wirtschaftlicher Aktivitäten (einschließlich Enteignungen), über Deportationen, Internierung und Ausbürgerung bis zu Massenmorden. So eskalierte die Unterdrückung von Minderheiten, die als „innere Feinde“ galten, 1915 im Osmanischen Reich zu einem Genozid an den Armeniern und christlichen Assyrern. Der Völkermord spiegelte das totale Ausmaß der Kriegführung wider, trug aber auch selber erheblich zu deren Radikalisierung bei. Er beruhte auf bürokratischer Koordination und Planung. Erheblich 58 Paulmann, Vorherrschaft, S. 373. 59 Wlodzimierz Borodziej / Maciej Górny, Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912–1923, Bd. 1: Imperien 1912–1918, Darmstadt 2018, S. 183, 237; Caglioti, Subjects, S. 499. 60 Spiropoulus, Ausweisung, S. 24–29.

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verbreiteter waren in den beiden Weltkriegen aber Internierungen, die mit dem Notstand begründet wurde. Sie können zwar keineswegs ausschließlich auf das Streben nach Sicherheit zurückgeführt werden; allerdings bildeten Bedrohungsängste eine mächtige Triebkraft der Politik gegenüber Feindstaatenangehörigen, Minderheiten und Dissidenten. Zur Überwachung und Unterdrückung dieser Gruppen nutzten die Regierungen verschiedene Instrumente – von Notstandsgesetzen über Militärtribunale (conseils de guerre in Frankreich) bis zu „Schutzhaft“ (in Deutschland).61 Darüber hinaus diente die Sicherheit der kämpfenden Nation als Vorwand für staatliche Maßnahmen, die sich in drei Kategorien gliedern lassen: erstens Einschränkungen der persönlichen Freiheit und der Mobilität (kulminierend in Internierung, Deportation und Vertreibung) und zweitens Eingriffe in persönliche Freiheiten (so das Recht, sich zu versammeln, sich öffentlich zu äußern und gegen Urteile Einspruch zu erheben). Davon sind drittens Verletzungen der Eigentumsrechte (durch Beschlagnahme, Sequestrierung und Enteignung) zu unterscheiden. Diese fremdenfeindliche Repressionspolitik war in den Klassengesellschaften verwurzelt, welche die innere Ordnung der kriegführenden Staaten kennzeichnete. So lenkten die politischen Eliten mit der Kampagne gegen „innere Feinde“ von eigenen Fehlern ab. Unternehmer und Händler nutzten und verschärften die Agitation, um unliebsame Konkurrenten zu verdrängen, Protest gegen das Horten von Waren einzudämmen und Hungerunruhen wegen der zunehmenden Versorgungsmängel zu verhindern. Zugleich strebten Regierungen und staatliche Behörden an, ihren Zugriff auf die jeweilige Bevölkerung auszuweiten, so durch Gesetze, die eine verschärfte Kontrolle ermöglichten.62 Jedoch waren die herrschenden Eliten nicht nur in autokratischen Regimes wie dem Deutschen Kaiserreich und dem Russischen Zarenreich, sondern vor allem in Demokratien auf eine aktive, massive und nachhaltige Unterstützung breiter Bevölkerungsgruppen angewiesen. In diesen Staaten initiierten oder be61 Michael Mann, The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing, Cambridge 2005, S. 12, 24; Panikos Panayi, The Destruction of the German Communities in Britain during the First World War, in: ders. (Hg.), Germans in Britain since 1500, London 1996, S. 113–130, hier: S. 130; Ellis / Panayi, German Minorities, S. 238; Panayi, Minorities, S. 220, 238; Manz / Panayi / Stibbe, Internment, S. 1 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 103, 307 f.; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 134; Winter, Cover, S. 191, 208, 212 f.; Caglioti, Aliens, S. 456; dies., Dealing with Enemy Aliens, S. 184–186; Huber, Fremdsein, S. 180, 200 f. 62 Dazu immer noch wichtig: Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918, Göttingen 1973. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Mann, Dark Side, S. 21–23; Daniela L. Caglioti, Property Rights and Economic Nationalism, in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, hg. von Ute Daniel u. a., issued by Freie Universität Berlin, Berlin 2014-10-08, S. 3 (DOI: 10.15463/ie1418.1036, Zugriff am 8. Mai 2020); dies., Aliens, S. 459.

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günstigten die Machthaber deshalb ebenso populistische, fremdenfeindliche Kampagnen. Dabei nutzten sie zivilgesellschaftliche Vereinigungen und neue Medien, so Frontzeitungen und das Kino. Die Erfahrung extremer Unsicherheit führte zu Spionagefurcht und Verschwörungsängsten, die sich in z. T. extremer Gewalt gegen „Fremde“ entluden. Sie richtete sich pauschal gegen nationale und ethnische Minderheiten, aber auch gegen alle Feindstaatenangehörigen, die sich jeweils in den kriegführenden Ländern aufhielten. Vielfach wurden sogar Eingebürgerte stigmatisiert, unterdrückt und verfolgt. Diese fremdenfeindliche (Selbst-)Mobilisierung ist damit integraler Bestandteil einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation im Ersten Weltkrieg, die mit der Herausbildung von Kriegskulturen einherging. Sie umfassten schon in den Jahren von 1914 bis 1918 Mythen, die den Kampf und Tod für die jeweils eigene Nation verherrlichten.63 Da die Opfer von Zivilisten im Allgemeinen deutlich geringer bewertet wurden als die Verluste der Soldaten, bemühten sich Bevölkerungsgruppen, die nicht direkt an den Kämpfen teilnahmen, sich in den Krieg einzuschreiben. Dazu diente u. a. die Hilfe für Flüchtlinge. Aber auch der Kampf gegen „innere Feinde“ vermittelte die Illusion, an den jeweiligen nationalen Kriegsanstrengungen teilzuhaben. Mit der Agitation gegen zivile Feindstaatenangehörige und Minderheiten wurde der Krieg an der „Heimatfront“ fassbar, und das Vorgehen gegen „Saboteure“ und „Spione“ vermittelte Legitimation, Selbstbewusstsein und Macht, vor allem angesichts drohender oder bereits eingetretener Kriegsniederlagen.64 Zwar kann keine eindeutige Kontinuität von den Gewalterfahrungen des Ersten Weltkrieges über die faschistischen Diktaturen und die kommunistische Terrorherrschaft (vor allem in ihrer stalinistischen Variante) bis zum Zweiten Weltkrieg konstruiert werden, in dem schließlich mindestens vierzig Millionen Soldaten und Zivilisten starben. Im Hinblick auf die Sicherheitspolitik muss vor allem beachtet werden, dass besonders in den westlichen Demokratien – Frank63 „… it is indeed not war or ‚militarization‘ that organizes society, but society that organizes itself through and for war“ (Michal Geyer, The Militarization of Europe, 1914–1945, in: John Gillis [Hg.], The Militarization of the Western World, New Brunswick 1989, S. 79 f. Vgl. auch John Horne, The Soldier’s War: Coercion or Consent?, in: Jay Winter (Hg.), The Legacy of the Great War. Ninety Years on, Columbia 2009, S. 91–122; Annette Becker, Faith, Ideologies, and the „Cultures of War“, in: Horne (Hg.), Companion, S. 234–247; Harald Wippich, Internierung und Abschiebung von Japanern im Deutschen Reich im Jahr 1914, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 55 (2007), S. 18–40, hier: S. 18; Stibbe, Introduction, S. 11; Raphael, Gewalt, S. 61– 63. 64 Stefan Manz, Migranten und Internierte. Deutsche in Glasgow, 1864–1918, Stuttgart 2003, S. 231; Purseigle, Reception, S. 80, 83.

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reich, Großbritannien, Belgien, in den Niederlanden und den USA – seit den 1920er Jahren Flüchtlinge aus dem faschistischen Italien und dem „Dritten Reich“ (einschließlich Österreichs und des Sudetenlandes) lebten, die nur nominell Feindstaatenangehörige waren, aber die Regimes in ihren Heimatländern ablehnten. Umgekehrt wiesen die Machthaber des „Dritten Reiches“ und Italiens eine Schutzpflicht für die von ihnen Vertriebenen zurück, denen z. T. sogar ihre Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Diese Zivilisten hoben sich damit schon in rechtlicher Hinsicht von den Feindstaatenangehörigen ab, die sich im Ersten Weltkrieg in gegnerischen Ländern aufgehalten hatten.65 Aber bereits der erste globale Konflikt radikalisierte in allen beteiligten Mächten nachhaltig die politische Kultur. Gewalt gegenüber konstruierten und stigmatisierten Gegnern prägte nicht nur Monarchien, sondern zeitigten auch in Demokratien eine nachhaltige Wirkung. „Mobilisierung“, „Notwendigkeit“ und „Loyalität“ avancierten zu Leitbegriffen einer weitgespannten, oft hypertrophen Sicherheitspolitik. Die kriegführenden Regierungen brachen überlieferte Tabus und ließen überlieferte Rücksichtnahmen fallen. In diesem Rahmen wurden zivile Feindstaatenangehörige unterdrückt und interniert. In den „Mittelmächten“, die durch die britische Seeblockade wirtschaftlich eingeschnürt wurden, setzten die Regierungen die Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften durch, so in Deutschland mit dem „Hilfsdienstgesetz“, das im Dezember 1916 eine allgemeine Arbeitspflicht für Männer im Alter von 17 bis 60 Jahren anordnete. Auch Ausländer wurden erfasst und zwangsrekrutiert, so in den von Deutschland besetzten Gebieten Belgiens und Nordfrankreichs, aber ebenso in Rumänien. Demgegenüber griff von den Entente-Mächten nur Russland im besetzten Galizien zu diesen Maßnahmen. Aber auch auf neutrale Staaten hatte der Erste Weltkrieg erhebliche Auswirkungen. Diese Länder mussten eine erhebliche Zuwanderung von Flüchtlingen bewältigen und die Unterbrechung oder zumindest Störung des Handels ausgleichen. Zudem übernahmen ihre Regierungen vielfach Aufgaben als Schutzmächte der kriegführenden Länder.66 65 Robert Kempner, The Enemy Alien Problem in the Present War, in: American Journal of International Law 34 (1940), S. 443–458, hier: S. 444; Cohn, Aspects, S. 206 f.; Koessler, Internment, S. 100. Vgl. auch Pitzer, Night, S. 224. 66 Vgl. Jens Thiel, Between Recruitment and Forced Labour: The Radicalization of German Labour Policy in Occupied Belgium and Northern France, in: First World War Studies (2013), S. 39–50, hier: S. 39–41; Hannes Leidinger / Verena Moritz, Flüchtlingslager in Osteuropa im Ersten Weltkrieg, Erschließung, Positionisierung und Skizzierung einer halb erkundeten Themenlandschaft, in: Jahr / Thiel (Hg.), Lager, S. 177–196, hier: S. 194; Kevin Passmore, Introduction: Political Violence and Democracy in Western Europe, 1918–1940, in: Millington / Passmore (Hg.), Political Violence, S. 1–13, hier: S. 1, 8; Kramer, Great War, S. 25, 43; Leonhard, Peace, S. 38, 41; Strachan, First World War, S. 1114; Kershaw, War, S. 110–115, 117 f., 122. Vgl. auch Panayi, Societies, S. 12–14, 19 f., 23; Jarausch, Out of Ashes, S. 91.

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Darüber hinaus wurden im Ersten Weltkrieg Feindstaatenangehörige, aber auch als unzuverlässig geltende Minderheiten vertrieben und verschleppt. Diese Zwangsmigration, die in der historischen Forschung lange unbeachtet geblieben ist, initiierten und forcierten staatliche Institutionen.67 Alles in allem vollzog sich vor allem ab 1916 eine „Totalisierung der Kriegführung“. Die destruktive Dynamik verwies auf den Zweiten Weltkrieg, in dem Gewalt jedoch ein nicht gekanntes Ausmaß erreichte. So wies der Holocaust zwar durchaus Kontinuitäten zum Umgang mit Zivilisten während des Ersten Weltkrieges auf, als gleichfalls „innere Feinde“ in Lagern inhaftiert, zwangsweise deportiert oder sogar erschossen wurden. Dennoch war die rassistisch motivierte systematische Vernichtung von Minderheiten – besonders der Juden – und „Volksschädlingen“ im „Dritten Reich“ und im besetzten Europa hinsichtlich ihres Ausmaßes und der Methoden präzedenzlos. Die Angst vor Verrat und Spionage erwies sich aber ebenso als Folgelast des Ersten Weltkrieges wie die Unterdrückung von zivilen Feindstaatenausländern und Angehörigen von Minderheiten. Die von den Nationalsozialisten errichteten Konzentrationslager hoben sich auch von den Straf- und Arbeitslagern des GULag ab, welche die Machthaber des „Dritten Reiches“ zudem keineswegs unmittelbar als Vorbild wahr- und aufnahmen.68 Darüber hinaus hatte die Auflösung der multiethnischen Imperien des russischen Zaren, der Habsburger und der Osmanen ethnische Gemengelagen einerseits und den Homogenisierungsdruck andererseits nicht aufgelöst. Vielmehr waren aus der Niederlage der „Mittelmächte“ besonders in Ostmittel- und Südosteuropa neue Nationalstaaten hervorgegangen, in denen z. T. starke Minderheiten auf Mitsprache, Autonomie oder sogar Unabhängigkeit drängten. Die politischen Eliten der Titularnationen suchten diese Bestrebungen, die sie als Gefahr für die Sicherheit der Staaten wahrnahmen, zu unterdrücken, denn die Sezession von den aufgelösten multiethnischen Reichen sollte durch die innere Nationalstaatsbildung vollendet werden. Daraus resultierten Gegensätze, Span67 Vgl. Leidinger / Moritz, Flüchtlingslager, S. 181. Dazu auch Piskorski, Die Verjagten, S. 35– 67; Oltmer, Globale Migration, S. 79–82. Zur Rolle des Staates: Saskia Sassen, Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Masseneinwanderung zur Festung Europa, Frankfurt/M. 2000, S. 100. 68 Dazu Einzelheiten in: Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2018, S. 14–17. Vgl. auch Geoffrey Smith, The Japanese Canadians and World War II, in: Saunders / Daniels (Hg.), Alien Justice, S. 93–113, hier: S. 93; Raphael, Gewalt, S. 43; Kramer, Great War, S. 39, 43. Zitat: Jens Thiel, Kriegswirtschaftliche Interventionen: die Etablierung von Zwangsarbeiterregimen im Ersten Weltkrieg, in: Jochen Oltmer (Hg.), Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 385–416, hier: S. 393; Jens Thiel / Christian Westerhoff, Deutsche Zwangsarbeiterlager im Ersten Weltkrieg. Entstehung – Funktion – Lagerregimes, in: Jahr / Thiel (Hg.), Lager, S. 117– 139, hier: S. 123. Allgemein: Echternkamp, Krieg, S. 12 f.; Jones, Great War, S. 85; Leonhard, Frieden, S. 612, 622, 1268.

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nungen und Konflikte, die nach dem Abschluss der Pariser Vorortverträge (1919/20) mittelfristig von den revisionistischen Mächten ausgenutzt wurden, um eine Expansionspolitik im Namen der Sammlung des Volkes zu rechtfertigen. Dazu beriefen sich die jeweiligen Regierungen und Eliten oft auch explizit auf Wilsons Konzept des „Selbstbestimmungsrechtes der Völker“.69 Der Erste Weltkrieg hatte den Kult der Gewalt verstärkt, der schon im späten 19. Jahrhundert nicht nur national, sondern auch rassistisch aufgeladen worden war. Damit verbunden waren westlich-europäische Formen und Modelle des Regierens.70 So hatte das Ziel, ethnisch homogene Nationalstaaten zu schaffen, bereits in den 1890er Jahren Vorschläge für umfassende Bevölkerungstransfers hervorgebracht, besonders im Osmanischen Reich. Vor diesem Hintergrund gingen die Konstruktion und Repression „innerer Feinde“ in den Jahren von 1914 bis 1918 mit einer fundamentalen Radikalisierung der Politik und extremen Polarisierung einher. Das Freund-Feind-Denken hatte die Sehnsucht nach Sicherheit gesteigert. Nicht nur die Kämpfe an der Front, sondern auch die Repression stigmatisierter Minderheiten mündeten in entgrenzte Gewalt, die sich zugleich gegen (vermeintliche) innere und äußere Feinde richtete. Sie erfasste viele (aber keineswegs alle) Soldaten, die sich nach 1918 besonders in Deutschland, Österreich und Ungarn paramilitärischen Verbänden wie den Freikorps anschlossen. Hier bilden sich grenzüberschreitend Gewalträume heraus, da die Gruppen miteinander vernetzt waren. Die Eskalation war auch den Folgelasten der Demobilisierung geschuldet, die in vielen Ländern zu Anpassungsschwierigkeiten und Enttäuschung geführt hatten.71

69 Langewiesche, S. 341, 343 f. 70 Stibbe, Civilian Internment, S. 291. 71 Jochen Böhler, Enduring Violence: The Postwar Struggles in East-Central Europe, 1917–21, in: Journal of Contemporary History 50 (2015), S. 58–77, hier: S. 58–60, 73; Frank, Minorities, S. 409. Die Rolle ehemaliger Soldaten wird besonders betont in: Robert Gerwarth / John Horne, The Great War and Paramilitarism in Europe, 1917–23, in: Contemporary European History 19 (2010), S. 267–273, hier: S. 270; Peter Gatrell, War after the War: Conflicts, 1919–23, in: Horne (Hg.), Companion, S. 558–575; John Horne, War and Conflict in Contemporary European History, 1914–2004, in: Konrad H. Jarausch / Thomas Lindenberger (Hg.) Conflicted Memories. Europeanizing Contemporary Histories, New York 2007, S. 81–95; Robert Gerwarth, The Central European Counter-Revolution: Paramilitary Violence in Germany, Austria and Hungary after the Great War, in: Past and Present 200 (2008), S. 175–209; ders., Fighting the Red Beast: Counter-Revolutionary Violence in the Defeated States of Central Europe, in: ders. / John Horne (Hg.), War in Peace. Paramilitary Violence in Europe after the Great War, Oxford 2012, S. 52– 71; ders. / Stephan Malinowski, Europeanization through Violence? War Experiences and the Making of Modern Europe, in: Martin Conway / Kiran Klaus Patel (Hg.), Europeanization in the Twentieth Century. Historical Approaches, Houndmills 2010, S. 189–209; Stibbe, Civilian Internment, S. 239 f.; Kershaw, War, S. 113; Frie, 100 Jahre, S. 102 f.

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Gerade aber die fremdenfeindliche Mobilisierung der Zivilisten belastete in den kriegführenden Staaten nachhaltig die politische Kultur. Die Repression, Deportation oder sogar Ermordung „innerer Feinde“ verlängerte vor allem in Mittel- und Osteuropa nicht nur den Ersten Weltkrieg bis zu den frühen 1920er Jahren, sondern sie beseitigten auch mittelfristig humanitäre Hemmschwellen. Blutige Konflikte, denen Zehntausende Menschen zum Opfer fielen, brachten auch Zivilisten gegeneinander auf, so in den oft gewalttätigen Streiks. Vor diesem Hintergrund wurden noch im Zweiten Weltkrieg viele „Feinde“ nicht nur auf Anordnung der Regierungen, sondern auch auf Druck großer Bevölkerungsgruppen deportiert, verdrängt, interniert oder sogar ermordet.72 Bürgerkriege und andere Unruhen erschütterten 1917/18 und nach dem Ersten Weltkrieg mehrere Länder. Besonders eklatant war der Verlust der Kontrolle – auch über die Zivilinternierten – im revolutionären Russland. Hier bemühte sich die Provisorische Regierung ab Februar 1917 um ein multilaterales Abkommen zur Entlassung gefangener Zivilisten, die von den Bolschewiki schließlich bedingungslos freigegeben wurden. Demgegenüber wurden nun verstärkt eigene Bürger als „Klassenfeinde“ festgenommen, inhaftiert und vielfach sogar ermordet. In Bürgerkriegen knüpften auch Akteure in Staaten wie Irland, Italien, Deutschland, Österreich und Ungarn an die Internierungspraxis der Kriegsjahre an. Allein in Finnland verhafteten die Behörden 80.000 (vermeintliche) Angehörige der Roten Graden, von denen 12.000 starben.73 In den Auseinandersetzungen verband sich extreme Gewalt mit einem Veteranenkult, einem radikalen Nationalismus und militanten Antibolschewismus, der mit antisemitischen Verschwörungstheorien verknüpft war. Paramilitärische Verbände mobilisierten und verstärkten Angst. Dieses Syndrom von ideologischen Antriebskräften, Emotionen und Handlungspraktiken bildete den Wurzelgrund des Faschismus, der in Benito Mussolinis Kampfbünden (fasci di combattimento) in Oberitalien 1919 erstmals offen hervortrat. Obgleich die faschistische Partei (Partito Nazionale Fascista) nach ihrer Gründung 1921 politisch zunächst wenig erfolgreich war, traf die Verfolgung von Marxisten, Sozia-

72 Vgl. Bernd Weisbrod, Gewalt in der Politik. Zur politischen Kultur in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), S. 391–404; ders., Sozialgeschichte und Gewalterfahrung im 20. Jahrhundert, in: Paul Nolte u. a. (Hg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, S. 112–123; Rainer Godel, Anti-Bourgeois Novels with Bourgeois Readers: „Justifying“ Violence in German Volunteer Corps Novels, in: German Studies Review 34 (2011), S. 325–344. Zur paramilitärischen Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg schon früh: Arno J. Mayer, Post-War Nationalisms 1918–1919, in: Past and Present 34 (1966), S. 114–126; Khan, Das Rote Kreuz, S. 70 f.; Leonhard, Frieden, S. 612 73 Leonhard, Frieden, S. 611; Stibbe, Civilian Internment, S. 244–246.

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listen, Kommunisten und Liberalen schon vor der Machtübertragung auf Mussolini im Oktober 1922 grenzüberschreitend auf Resonanz. Der Faschismus ist ohne den Ersten Weltkrieg nicht denkbar, schon wegen des brutalen Umgangs mit wehrlosen Gruppen, die zu „inneren Feinden“ erklärt worden waren. Damit verbunden, verlängerten die Regierungen vieler Staaten die Notstandsgesetze bis zu den frühen 1920er Jahren.74 Allerdings darf die Kontinuität des Vorgehens gegen Zivilisten nicht überzeichnet werden. So verstanden sich vor allem in Deutschland junge Männer, die von 1914 bis 1918 nicht gekämpft hatten, als Vertreter der Kriegsgeneration. Die extreme politische Gewalt, die hier in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren die Weimarer Republik erschütterte, erwuchs nicht vorrangig aus dem Ersten Weltkrieg, sondern besonders aus den Unruhen paramilitärischer Gruppen, die den Waffenstillstand, den Versailler Vertrag und den Systemwechsel von der Monarchie zur parlamentarischen Republik ablehnten. Zudem sind nationale Unterschiede in Rechnung zu stellen. So wurden die Übergriffe der Freikorps in der Weimarer Republik von 1918 bis 1922 von der Regierung und der Reichswehr unterstützt. Demgegenüber gingen sie in Italien von einer Minderheit radikaler Aktivisten – besonders von den Elitestoßtruppen des Ersten Weltkrieges, den Arditi – aus. Insgesamt kann das Ende des Ersten Weltkrieges wegen der hier dargelegten Nachwirkungen als Zäsur im Umgang mit „inneren Feinden“ und zivilen Feindstaatenangehörigen gelten.75

Die Unterdrückung „innerer Feinde“ In beiden Weltkriegen erweiterten staatliche Behörden auch ihre Überwachung von Minderheiten, welche die verstärkte nationale Homogenisierungspolitik zu blockieren schienen. Sie verdächtigten Regierungen und breite Bevölkerungsgruppen ebenso der Illoyalität wie Dissidenten, welche die Politik „ihrer“ Regierung kritisierten oder offen ablehnten. Diesen Gruppen wurde als „fünfte Kolonne“ der Feinde Spionage und Sabotage unterstellt – eine Verschwörungsvorstel74 Ángel Alcalde, Towards Transnational Fascism: German Perceptions of Mussolini’s Fascists and the Early NSDAP, in: Politics, Religion and Ideology 2018, S. 1–20, hier: S. 5 f. (https:// www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/21567689.2018.1449109?journalCode=ftmp21; Zugriff am 23. März 2018); Leonhard, Frieden, S. 615; Stibbe, Civilian Internment, S. 16; Raphael, Gewalt, S. 39 f., 190–192. 75 Martin Clark, Italian Squadrismo and Contemporary Vigilantism, in: European History Quarterly 18 (1988), S. 33–49; Jorge Dagnino, The Myth of the New Man in Italian Fascist Ideology, in: Fascism 5 (2016), S. 130–148, hier: S. 131; Jones, Political Violence, S. 16 f., 21 f., 24; Ziemann, Germany, S. 85 f., 91 f.; Frie, 100 Jahre, S. 99.

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lung, die sich vor allem in Großbritannien, aber auch in den anderen europäischen Großmächten schon in den Jahren vor 1914 herausgebildet hatte. Angesichts der hypertrophen Sicherheitsängste verschwamm vielfach der rechtliche und politische Unterschied zwischen Flüchtlingen, Deportierten und Internierten. Letztlich destabilisierte die Eingruppierung der Bevölkerung nach nationalen Kriterien und (angenommener) Loyalität in beiden Weltkriegen die staatlichen Ordnungen, besonders in den multiethnischen Reichen.76 Der totale Krieg steigerte von 1914 bis 1918 den Stellenwert der jeweiligen „Heimatfront“ noch, an der sich schon in den ersten Wochen eine nicht kontrollierbare Furcht vor „inneren“ Feinden herausbildete.77 Die Ängste, die in vielen kriegführenden Staaten bereits vor 1914 verbreitet worden waren, wurden von politischen und gesellschaftlichen Akteuren bewusst mobilisiert, verstärkt und ausgenutzt, um die Repressionspolitik zu rechtfertigen. Im Ersten Weltkrieg vollzog sich eine Militarisierung, die sich in weitreichen Maßnahmen gegen zivile Feindstaatenangehörige niederschlug – von der Registrierung über die Enteignung bis zur Internierung. So war die Einweisung dieser Gruppe in Lager zwar keinesfalls präzedenzlos, wohl aber ihre Dauer und die Zahl der davon betroffenen Personen.78 Zivilgesellschaftliche und humanitäre Gruppen stellten sich nicht entschieden gegen die rigorose Überwachung oder sogar Inhaftierung potentieller „Verräter“. Diese Maßnahmen gegen Angehörige der jeweiligen Kriegsgegner wurden deshalb in allen beteiligten Staaten mit Hinweisen auf die nationale Sicherheit und die Notwendigkeit begründet, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Neben unspezifischen Gerüchten waren dafür konkrete Besorgnisse maßgeblich, so die Angst der Militärbefehlshaber vor dem Verrat von Geheimnissen. Zudem standen die staatlichen Behörden unter dem Druck fremden-

76 Panikos Panayi, Prisoners of Britain. German Civilian and Combatant Internees during the First World War, Manchester 2012, S. 41; ders., Germans in Britain during the First World War, in: Historical Research 63 (1991), S. 63–76, S. 64, 74; Julie Thorpe, Displacing Empire: Refugee Welfare, National Activism and State Legitimacy in Austria-Hungary in the First World War, in: Panikos Panayi / Pippa Virdee (Hg.), Refugees and the End of Empire, Basingstoke 2011, S. 102– 126, hier: S. 102, 104 f. Vergleichend: Leonhard, Büchse, S. 347–353, 364–386. 77 Demgegenüber ist Florian Altenhöner davon ausgegangen, dass der „innere“ den „äußeren Feind“ erst im Verlauf des Ersten Weltkrieges ablöste. Vgl. Florian Altenhöner, Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918, München 2008, S. 277. Beide Feindbilder waren aber von Beginn an wechselseitig aufeinander bezogen. 78 Claude Farcy, Les camps de concentration français de la Première Guerre Mondiale (1914– 1920), Paris 1995, S. 363; Audoin-Rouzeau / Becker 14–18. Understanding the Great War, S. 51– 53. Vgl. auch Garner, International Law, Bd. 1, S. 61, 75, 80, 83, 101.

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feindlicher Bevölkerungsgruppen, deren z. T. hysterische Ängste vor Sabotage und Spionage sie im Allgemeinen selber geweckt oder verstärkt hatten.79 So erlegten die Regierungen in allen kriegführenden Staaten zivilen Feindstaatenangehörigen nicht nur eine verschärfte Kontrolle auf, sondern sie deportierten und internierten diese enemy aliens auch. Wie angedeutet, galten ebenso nationale und ethnische Minderheiten als „innere Feinde“, besonders in den multiethnischen Imperien Österreich-Ungarns, des Osmanischen Reiches und des russischen Zarenreiches. Hier barg schon vor 1914 die heterogene Zusammensetzung der Bevölkerungen ein Potential für gewalttätige Konflikte, die vielerorts aber erst im Ersten Weltkrieg ausbrachen. Dabei richteten sich Zwangsmaßnahmen auch gegen eigene Bürger, besonders Bewohner von Grenzräumen. Diese waren im Gegensatz zu den Feindstaatenangehörigen im Allgemeinen aber rechtlich geschützt. Auch das Hinterland geriet unter die Kontrolle der Militärs. Ebenso steigerte der Erste Weltkrieg die Gewalt gegen Minoritäten. Deportationen und Geiselnahmen, die Sicherheit vor Sabotage zu versprechen schienen, waren besonders in Osteuropa weit verbreitet. Sogar aktive Soldaten, die jeweils anderen Völkern angehörten (so Russlanddeutsche, Juden und Tschechen, die für das Zarenreich kämpften) wurden des Verrats beschuldigt. Insgesamt löste sich besonders hier die Grenze zwischen der zivilen und militärischen Sphäre im Ersten Weltkrieg zusehends auf.80 Nicht zuletzt richtete sich die Sicherheits- und Repressionspolitik gegen gesellschaftliche Randgruppen wie Prostituierte. Ebenso wie Feindstaatenangehörige, Minderheiten, Sozialisten und Pazifisten galten sie im Ersten Weltkrieg als Sicherheitsrisiko. Dabei wurden soziale Vorurteile fortgeschrieben, die sich beispielsweise in Frankreich gegen „Nomaden“ (nomades) und „unnütze Esser“ (bouches inutiles) richteten. In Deutschland galten „Arbeitsscheue“ und unter den Vagabunden besonders die „Zigeuner“ zumindest als potentielle „innere Feinde“. Außer der Internierung griffen die – oft vorangegangene – Deportation und die zwangsweise Aussiedlung dieser Gruppen aus frontnahen Gebieten und als gefährdet eingestuften Zonen oft tief in das Alltagsleben der Betroffenen ein, von denen die staatlichen Behörden viele schon unmittelbar nach Kriegsbeginn aus ihren Wohnorten verwiesen. In Österreich-Ungarn und Frankreich wurden von 1914 bis 1918 jeweils bis zu zwei Millionen Zivilisten verschleppt. 79 Best, Humanity, S. 231 f. Zur Sicherheit und öffentlichen Ordnung als Leitvorstellungen vgl. Garner, International Law, Bd. 2, S. 169 f., 180–182. 80 Maciej Górny, Der Feind im Osten. Gewalt, Propaganda und Kultur an der Ost- und Südostfront im Ersten Weltkrieg, in: Echternkamp / Mack (Hg.), Geschichte ohne Grenzen, S. 175– 184, bes. S. 175, 177 f.; Leidinger / Moritz, Der Erste Weltkrieg, S. 59; Manz / Panayi, Enemies, S. 32; Stibbe, Civilian Internment and Civilian Internees, S. 51 f.; ders., Civilian Internment, S. 135; Böhler, Violence, S. 62–64.

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Auch die wirtschaftliche Tätigkeit „innerer Feinde“ schränkten die Behörden z. T. erheblich ein. Andere Maßnahmen gegen ausländische und einheimische Wanderarbeiter und Arme spiegelten die soziale Differenzierung und Diskriminierung gesellschaftlicher Klassen an der „Heimatfront“ wider, so in ÖsterreichUngarn, wo zwischen Bemittelten und Unbemittelten unterschieden wurde. In den USA waren in beiden Weltkriegen vor allem arme Einwanderer besonders von Verhaftung und Internierung betroffen.81 Im Gegensatz zu Feindstaatenangehörigen wurden Deportierte aus Kriegszonen und Flüchtlinge und Evakuierte von ihren eigenen Regierungen festgesetzt. Die Gruppe schloss aber auch Soldaten und Zivilisten ein, die Zuflucht in neutralen Staaten wie den Niederlanden und der Schweiz gefunden hatten. Damit wollten diese Länder ihre Neutralität sichern, ihr humanitäres Engagement abschirmen und ihre politische Legitimität als Vermittler bewahren. Flüchtlinge wurden deshalb interniert. In den Lagern variierten die Lebensbedingungen oft erheblich. Besonders eklatant waren Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen und ethnischen Gruppen. So konnten begüterte Internierte in vielen Lagern zusätzliche Lebensmittel erwerben und sogar Bedienstete halten. Darüber hinaus sind geschlechts- und altersspezifische Differenzen in Rechnung zu stellen, denn auch Frauen und Kinder, die gegnerischen Staaten angehörten, wurden z. T. interniert. Fremdenfeindliche Vorurteile richteten sich besonders gegen Frauen von Lagerinsassen. Vor allem weibliches Verhalten, das von gesellschaftlichen Konventionen abwich (so „unerwünschte“ sexuelle Beziehungen) wurde in vielen Staaten hart bestraft.82 Dabei waren auch Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Staaten wichtig, die den Umgang der Kriegsgegner mit ihren Staatsangehörigen genau beobachteten und bei Klagen oft zu Repressalien griffen. Staatliche Maßnahmen trafen aber auch innenpolitische Gegner des Krieges wie die pazifistische UDC, die im August 1914 in Großbritannien u. a. von dem bekannten Labour-Politiker (und späteren Premierminister) Ramsay MacDonald (1866–1937), dem Publizisten Norman Angell (1872–1967) sowie den liberalen Politikern Edmund Dene Morel (1873–1924), Charles Trevelyan (1870–1958) und Arthur Ponsonby (1871–1946) gegründet worden war. Aus der Perspektive der britischen Regierung gefährdete die in demselben Monat etablierte Fellowship of Reconciliation ebenfalls die „nationale Sicherheit“.83 81 Best, Humanity, S. 227; Keil / Stibbe, Laboratorium, S. 544, 550-552; Stibbe, Civilian Internment, S. 154–161. Angaben nach: Thorpe, Empire, S. 102. 82 Stibbe, Civilian Internment, S. 155 f.; Manz / Panayi, Enemies, S. 15–18. 83 Panikos Panayi, Germans as Minorities during the First World War: Global Comparative Perspectives, in: ders. (Hg.), Germans as Minorities during the First World War. A Global Comparative Perspective, Burlington 2014, S. 3–26, hier: S. 17. Zur UDC: Marvin Schwarz, The Union

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In Deutschland unterbanden die Behörden von Februar 1916 bis November 1918 die Aktivitäten des „Bundes Neues Vaterland“, der im Herbst 1914 gegründet worden war und daraufhin den „Aufruf an die Europäer“ veröffentlicht hatte. In dem Appell, mit dem die Unterzeichnenden – darunter Albert Einstein (1879–1955) und Georg Friedrich Nicolai (1874–1964) – auf den nationalistischen „Aufruf an die Kulturwelt“ reagierten, betonte der Verband die grenzüberschreitenden Bindungen der Menschen, besonders in Europa. Dieses Bekenntnis begründete auch die Teilnahme an der Weltfriedenskonferenz der Frauen in Den Haag 1915. Mit dem Verbot und der Unterdrückung der Organisation zerriss die deutsche Reichsleitung die Verbindungen des Bundes mit Kriegsgegnern im europäischen Ausland, so der Fabian Society und der UDC. Auch der Kontakt zu dem französischen Schriftsteller und Pazifisten Romain Rolland (1866–1944) wurde unterbrochen. Mitglieder wie Hans Paasche (1881– 1920), der als junger Marinesoldat 1905 zur Unterdrückung eines Aufstandes in Deutsch-Ostafrika eingesetzt worden war, sahen sich im Ersten Weltkrieg Anklagen wegen Verrats ausgesetzt. Der Historiker Ludwig Quidde (1858–1941), der sich 1894 der zwei Jahre zuvor gegründeten Deutschen Friedensgesellschaft angeschlossen hatte, musste wegen der politischen Verfolgung wiederholt in die Schweiz und in die Niederlande ausweichen. Durch Verhaftungen, Verhöre und Zensur wurden die „Deutsche Friedensgesellschaft“ und der „Bund Neues Vaterland“, zu dessen Gründern der Pazifist Otto Lehmann-Russbüldt (1873– 1964) zählte, in Deutschland „praktisch erdrosselt“, bevor die Organisation im Februar 1916 ihre Tätigkeit wegen des Verdachts „landesverräterischer Beziehungen“ einstellen musste. Demgegenüber konnte das „Deutsche Hilfswerk für die Kriegs- und Zivilgefangenen“, das Deutsche in der Hand der Kriegsgegner unterstützte, seine Arbeit ungehindert fortsetzen. Ebenso gelang es einzelnen weiblichen Lobbyorganisationen wie dem „Deutschen Verband für Frauenstimmrecht“, dem drohenden Verbot zu entgehen, indem sie karitativ für deutsche Kriegsopfer arbeiteten.84 of Democratic Control in British Politics during the First World War, Oxford 1971; Art. „Union of Democratic Control“, in: John Ramsden (Hg.), The Oxford Companion to Twentieth-Century British Politics, Oxford 2002, S. 662; Martin Ceadel, Angell, Ralph Norman, in: Ute Daniel u. a. (Hg.), 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, Berlin 201512-17 (doi:10.15463/ie1418.10788; Zugriff am 13. Mai 2020); Searle, A New England?, S. 764. 84 Laqua, Reconciliation, S. 209 f., 212; David Welch, Germany, Propaganda and Total War: 1914–1918. The Sins of Omission, New Brunswick 2000, S. 137. Zitate (in dieser Reihenfolge): Otto Lehmann-Russbüldt, Der Kampf der Deutschen Liga für Menschenrechte für den Weltfrieden 1914–1927, Berlin 1927, S. 58; Schudnagis, Kriegs- und Belagerungszustand, S. 160. Zu Paasche: Mary Fulbrook, Lange Schatten der Erinnerungen: Gewalterfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges im historischen Bewusstsein der Generation im 20. Jahrhundert, in: Echternkamp / Mack (Hg.), Geschichte ohne Grenzen?, Berlin 2017, S. 205–213, hier: S. 208.

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Im Gegensatz zu den nationalen gesellschaftlichen Verbänden trafen die transnational orientierten Pazifisten, die sich vor 1914 zu Weltfriedenskongressen getroffen hatten, mit ihren Forderungen nach der Einrichtung einer Schiedsgerichtsbarkeit, dem Abbau von Feindbildern, der Erweiterung des Völkerrechts und einer transparenten Außenpolitik im Ersten Weltkrieg kaum auf Resonanz. 1917 kam es in Deutschland sogar nochmals zu einer politischen Polarisierung, als die neugegründete Deutsche Vaterlandspartei ein rigoroses Vorgehen gegen Kriegsgefangene und zivile Feindstaatenangehörige forderte. Demgegenüber trat der im Dezember 1917 gebildete „Volksbund für Freiheit und Vaterland“ für eine Verständigung mit den Kriegsgegnern und innenpolitische Reformen ein. Die Wirkung des Verbandes auf die öffentliche Meinung blieb aber ebenso gering wie der Einfluss der „Spartakusgruppe“ um Karl Liebknecht (1871–1919) und Rosa Luxemburg (1871–1919) in der SPD.85 Die Regierungen begründeten die Restriktionen jeweils mit dem Schutz ihrer Bevölkerungen. Die politischen Eliten und besonders die führenden Militärs betrachteten die pazifistischen Organisationen als Gefahr für die „öffentliche Sicherheit“. Sie konnten allerdings nicht verhindern, dass deutsche und englische Kriegsgegner, die sich auf grundlegende Freiheits- und Menschenrechte beriefen, mit ähnlichen Verbänden in neutralen Staaten wie dem Nederlandsche Anti-Oorlog-Raad in den Niederlanden kooperierten. Dort, in Schweden und in der Schweiz versammelten sich zudem Kriegsgegner, um über Konzepte zukünftiger internationaler Zusammenarbeit zu beraten, so im November 1917 in Bern. Diese Akteure und ihre Organisationen bezogen Humanität jeweils vorrangig auf Frieden. Der Pazifismus war im Ersten Weltkrieg damit ein wichtiger Kontext früher menschenrechtlicher Diskurse.86 Der Ausnahmezustand, den viele Regierungen zu Beginn der beiden Weltkriege erklärt hatten, ermöglichte den Behörden, Menschenrechte von Feindstaatenangehörigen und Kriegsgegnern einzuschränken. Die mehr als acht Millionen Kriegsgefangenen, die im Ersten Weltkrieg in die Hand von gegnerischen Regierungen gerieten, überwiegend in Lagern festgehalten und z. T. zu Arbeit gezwungen wurden, mussten nach den Bestimmungen der Haager Landkriegs-

85 Vgl. Katherine Storr, Excluded from the Record. Women, Refugees and Relief 1914–1929, Oxford 2010, S. 21; auch Ormerod Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 180; Stibbe, Germany, S. 50; Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt/ M. 22014, S. 236; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 55 (Fußnote 81); Proctor, Civilians, S. 183. 86 Ludwig Quidde, Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914–1918. Aus dem Nachlaß Ludwig Quiddes, hg. von Karl Holl, Boppard 1979, bes. S. 68, 118 f., 148, 163.

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ordnung von 1907 grundsätzlich human behandelt werden.87 Dagegen blieben zivile Feindstaatenangehörige, die bei Kriegsausbruch im Ausland ihren Urlaub verbrachten, dort dauerhaft lebten und sogar eingebürgert waren, ohne völkerrechtlichen Schutz. Auch der Umgang mit Flüchtlingen war ungeregelt. So setzten mehrere Regierungen kurzfristig Gesetze durch, die zunächst oft eine vorübergehende Polizei- und Schutzhaft legalisierten. Anschließend wurden sie im Allgemeinen interniert. Zudem entzogen die Regierungen diesen zivilen Angehörigen der jeweiligen Feindstaaten (enemy aliens) vielfach ihr Eigentum. Sie nutzten und förderten dabei die nationalistische und fremdenfeindliche Agitation, die radikale Feindbilder verbreitete. Die Behörden spannten in den einzelnen Staaten die Bevölkerung ein, die an der Identifizierung, Überwachung und Festnahme von Dissidenten und Feindstaatenangehörigen mitwirkte. Alles in allem verbanden sich populistische Mobilisierung und zunehmende Staatsintervention mit einer Einschränkung des Verfügungsrechtes „innerer Feinde“ über ihr Eigentum und Eingriffe in ihre Freiheit. Damit beseitigten die Regierungen vieler kriegführender Staaten Grundlagen des Wirtschaftsliberalismus und individuelle Rechte, die in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, der amerikanischen Bill of Rights von 1791 und in den Verfassungen kontinentaleuropäischer Staaten im 19. Jahrhundert verbrieft worden waren.88 Ebenso schränkten die staatlichen Behörden den Spielraum zur Artikulation von Dissens erheblich ein, nicht nur in den (konstitutionellen) Monarchien, sondern sogar in Republiken wie Frankreich, wo Bürgerrechte und Freiheit zu den Postulaten der Revolution von 1789 gehört hatten. Damit sollte die unablässig propagierte nationale Geschlossenheit gesichert werden. Gefahren durch Spione und Saboteure wurden beschworen, um die jeweiligen Gesellschaften für den Krieg zu mobilisieren. Indem sie an der Identifizierung, Überwachung und Festnahme von Dissidenten und Feindstaatenangehörigen mitwirkten, nahmen auch Zivilisten eine wichtige Rolle bei der Kriegführung ein. Nicht zuletzt boten die Internierung und Enteignung von enemy aliens Gelegenheit, deren Besitz zu rauben. Unter dem Vorwand, die „nationale Sicherheit“ gewährleisten zu müssen, verhängten Regierungen restriktive Maßnahmen, um ausländische Einflüsse in den Volkswirtschaften (z. B. durch Beteiligungen an Unternehmen) zu beseitigen und das Eigentum von Feindstaatenangehörigen 87 Angabe nach: Oxana Nagornaja, Das deutsche Zwangsarbeitssystem des Ersten Weltkrieges als Lernprozess. Das Beispiel der russischen Kriegsgefangenen, in: Kerstin von Lingen / Klaus Gestwa (Hg.), Zwangsarbeit als Kriegsressource in Europa und Asien, Paderborn 2014, S. 143– 154, hier: S. 143. 88 John McDermott, Trading With the Enemy: British Business and the Law During the First World War, in: Canadian Journal of History 32 (1997), S. 201–219, hier: S. 203; Gosewinkel, Introduction, S. 10 f. Zur völkerrechtlichen Lage: Segesser, Lager, S. 46 f.

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zu beschlagnahmen oder sogar einfach einzuziehen. Über den Schutz der jeweiligen Bevölkerung hinaus rechtfertigten die herrschenden Eliten die restriktiven Maßnahmen mit dem Hinweis auf ähnliche Verfahren in Feindstaaten.89 Dabei war das Deutsche Kaiserreich allerdings zumindest gegenüber den westlichen Kriegsgegnern im Nachteil, denn insgesamt hielten sich hier im August 1914 maximal 15.000 Feindstaatenangehörige auf. Demgegenüber hatte das International Labour Office 1910 rund 317.070 als Deutsche geborene Einwohner in Großbritannien, Frankreich und Russland gezählt. In den Vereinigten Staaten waren sogar zweieinhalb Millionen Deutsche registriert. In Südafrika lebten 12.799, in Kanada 39.577, in Neuseeland 4.015 und in Asien 4.153 Deutsche. Umgekehrt wohnten insgesamt nur 184.307 Franzosen, Briten und Staatsangehörige des russischen Zarenreiches in Deutschland. Auch 1914 hielten sich deutlich mehr Deutsche in Großbritannien und Frankreich auf als umgekehrt Franzosen und Briten in Deutschland. Während im Vereinigten Königreich rund 70.000 Deutsche lebten, belief sich die Zahl der in Deutschland wohnenden britischen Bürger auf lediglich etwa 10.000. Auch gegenüber Frankreich bestand ein deutliches Ungleichgewicht, denn im Deutschen Kaiserreich hielten sich bei Kriegsbeginn lediglich 10.000 Franzosen auf. Dagegen waren in Frankreich 60.000 Deutsche gemeldet.90 Diese Asymmetrien erschwerten nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges Übereinkommen zur Freilassung von Gefangenen im Allgemeinen, und sie benachteiligten die deutsche Regierung im Besonderen. Die Regierung des Vereinigten Königreiches wies deshalb in Verhandlungen, die in der Schweiz stattfanden, die Forderung der Reichsleitung zurück, dieselbe Zahl gefangener Soldaten auszutauschen. Sie schlug vielmehr vor, für jeden Deutschen vier Briten freizulassen. Diese Quotenregelung war wiederum aus der Sicht der Regierung des Kaiserreiches inakzeptabel. Bilaterale Abkommen zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich und Großbritannien über den Austausch von Frauen, Kindern und Männern unter 17 und über 55 Jahre erfassten deshalb nur einen relativ kleinen Kreis von – gesundheitlich allerdings besonders gefährdeten – Personen.91 89 Friedrich Balke, Politische Paranoia, Zäsur des Stillstands und die Soziologie der ‚totalen Mobilmachung‘, in: Werber / Kaufmann / Koch (Hg.), Erste Weltkrieg, S. 143–163, hier: S. 143 f., 153; Caglioti, Property Rights, S. 2. 90 Hierzu und zum Folgenden: Stibbe, Civilian Internment and Civilian Internees, S. 53, 59; Caglioti, Aliens, S. 448; Christoph Jahr / Jens Thiel, Adding Colour to the Silhouettes: The Internment of Foreign Civilians in Germany during the First World War, in: Manz / Panayi / Stibbe (Hg.), Internment, S. 41–60, hier: S. 41 f. Von 60.000 deutschen Staatsangehörigen in Großbritannien wird ausgegangen in: Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 120. 91 National Archives (NA), FO 383/473 (Schreiben vom 15. Mai 1918).

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Überdies wurden einige Verträge erst in den letzten Monaten des Ersten Weltkrieges geschlossen. So unterzeichneten die Regierungen Deutschlands und der Vereinigten Staaten ein Abkommen zur humanen Behandlung von Zivilisten in Bern nach schwierigen Verhandlungen, die am 23. September 1918 begonnen hatten, am 11. November, dem Tag des Waffenstillstandes. Es konnte deshalb von der US-Regierung nicht mehr ratifiziert werden. Früher und umfassender waren Vereinbarungen zwischen dem Deutschen Kaiserreich, Japan, Serbien und Italien über die freie Ausreise aller Zivilisten.92

Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger in Lagern Das Vorgehen gegen „innere Feinde“ in den beiden Weltkriegen ist in diesem breiten und längerfristigen Kontext zu betrachten. Angesichts der akuten äußeren Bedrohungen wuchsen in den kriegführenden Ländern Spannungen und Konflikte. Sie richteten sich vor allem gegen zivile Ausländer, die jeweils gegnerischen Staaten angehörten und zunächst im Allgemeinen nicht in Lager eingewiesen worden waren. Sie wurden verdächtigt und als Sündenböcke für militärische Misserfolge missbraucht. So drängten in Großbritannien und in den USA Polizeibehörden, Militärs und Vertreter der Geheimdienste auf eine schnelle und umfassende Internierung. Einzelne Fälle von Spionage schienen den Verdacht zu bestätigen, dass Verräter die Staaten unterwandert hatten. Im Zweiten Weltkrieg kam hinzu, dass sich das NS-Regime seit 1933 bemüht hatte, die Bindungen von „Reichsdeutschen“ an ihr Heimatland – und damit auch an den Nationalsozialismus – zu stärken. Dafür nutzten die neuen Machthaber den „Volksbund für das Deutschtum im Ausland“, der 1880/81 als „Allgemeiner Deutscher Schulverein“ gegründet und 1908 in „Verein für das Deutschtum im Ausland“ (VDA) umbenannt worden war. Auch das 1917 gebildete „Deutsche Auslands-Institut“ (DAI) wurde in Dienst genommen. Darüber hinaus erregten außerhalb des Deutschen Reiches genuin nationalsozialistische Organisationen wie die 1931 eingerichtete „Auslandsabteilung“ der NSDAP, aus der die „Auslandsorganisation“ der Partei hervorging, die „Volksdeutsche Mittelstelle“ und die Gestapo (deren Einfluss über Deutschland hinausreichte) erhebliches Misstrauen. Diese Organisationen suchten in ausländischen Staaten – so Großbritannien – Bürger deutscher Herkunft zu beeinflussen und bedrängten besonders geflohene Gegner der Nationalsozialisten, wurden aber auch selber verdächtigt, systematisch Spione und Saboteure für das „Dritte Reich“ zu

92 Koessler, Internment, S. 99; Murphy, Captivity, S. 63, 183; Steuer, Pursuit, S. 284.

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rekrutieren. Als der Zweite Weltkrieg begann, überschätzten die Regierungen in den von Deutschland überfallenen Ländern jedoch im Allgemeinen die Sicherheitsgefahren. Letztlich wurden jeweils nur wenige Verräter verhaftet und verurteilt. Noch geringer war die Zahl der überführten Spione in den Jahren von 1914 bis 1918.93 Dennoch setzten Regierungen in beiden Weltkriegen umfassende Internierungen durch. Während 1914/15 zunächst nur Feindstaatenangehörige im wehrfähigen Alter verhaftet wurden, weiteten die Behörden die Kontrolle und Unterdrückung von Minderheiten zusehends aus. Dabei dominierte die Einweisung in Lager, die sich in einigen Staaten auch auf ihre imperialen Räume erstreckte, so dass sich z. T. umfassende Netzwerke und Transfersysteme herausbildeten. „Konzentrationslager“ waren im Allgemeinen fest abgrenzte, rechtlose Bereiche, in denen das Standrecht herrschte. Den Begriff leiteten zwei britische Unterhausabgeordneten, John Ellis (1841–1910) und Charles P. Scott (1846–1932), 1901 aus dem spanischen reconcentrado ab. Um 1900 verbreiteten Medien Nachrichten über die Camps, die von den Großmächten im Kampf gegen „unzivilisierte“ Aufständische in Kolonien errichtet und verwendet wurden.94 Der Begriff „Konzentrationslager“ wurde bis zum Zweiten Weltkrieg vielfach oft wahllos und gelegentlich sogar als Selbstbezeichnung gebraucht, auch in den westlichen Ländern und in der Schweiz.95 In den beiden Weltkriegen unterschied sogar das Rote Kreuz nicht zwischen „Internierungslagern“ und „Konzentrationslagern“, die erst nach 1945 im Schatten von „Auschwitz“ eine neue, bis heute geltende Bedeutung gewannen. Dieser semantische Wandel deutet darauf hin, dass die Entwicklung von den kolonialen Konzentrationslagern zum Holocaust nicht geradlinig verlief, sondern von Brüchen geprägt war. Zugleich sind Reaktionen und Lernprozesse vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg unübersehbar. So kennzeichneten Lager von 1914 bis 1918 neue Techniken zur Kontrol-

93 Louis de Jong, The German Fifth Column in the Second World War, London 1956, S. 255– 265, 274–297; James J. Barnes / Patience P. Barnes, Nazis in Pre-War London 1930–1939: The Fate and Role of German Party Members and British Sympathizers, Brighton 2005, S. 29, 59, 230, 232, 247. Grundsätzlich auch: Colin Holmes, A Tolerant Country? Immigrants, Refugees and Minorities in Britain, London 1991, S. 87, 101. 94 So die Argumentation in: Hyslop, Invention, S. 257, 264, 271, 273 f. ; Mühlhahn, Concentration Camp, S. 543 f., 555. 95 Hier ließ das Eidgenössische Militärdepartement noch 1940 nahe der Stadt Büren an der Aare ein „Concentrationslager“ errichten (Jürg Stadelmann / Selina Krause, „Concentrationslager“ Büren an der Aare 1940–1946. Das größte Flüchtlingslager der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Baden 1999, S. 7). Zur Prägung des Begriffs concentration camp: Mühlhahn, Concentration Camp, S. 546. Der Begriff findet sich beispielsweise auch im Vermerk vom 4. Januar 1915 in: NA, FO 383/106. Vgl. ebenso Spiropoulus, Ausweisung, S. 20.

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le der Insassen wie Wachtürme und Stacheldrahtzäune. Auch wurden erstmals systematisch Maschinengewehre und Wachhunde eingesetzt.96 Jedoch müssen auch Kontinuitäten zur Vorkriegszeit beachtet werden. Weiterhin wurden Lager so konstruiert, dass möglichst alle Kriegsgefangenen und Internierten von den Bewachern gesehen werden konnten. Zudem engte die Unterbringung in getrennten Abteilungen Kontakte zwischen den Insassen ein, die mittels Karteikarten im Lager schnell gefunden werden sollten. Dabei war vor allem die Internierung der Buren in Südafrika ein Präzedenzfall geworden, auf den sich noch die Nationalsozialisten beriefen, allerdings im Rahmen ihrer vordergründigen Propaganda, die auf Schuldabwehr zielte und deshalb die Verantwortung auf Großbritannien abwälzte.97 Für die umfassenden Lagersysteme, die in den beiden Weltkriegen zur Internierung ziviler Feindstaatenangehörigen und anderer „Feinde“ genutzt wurden, waren zunächst die Erfahrungen prägend, die Regierungen im 19. Jahrhundert in Industriestaaten gewonnen hatten. Schon zuvor waren Randgruppen von den Sicherheitsbehörden in Gefängnissen, Arbeitshäusern, Fabriken und Hospitälern konzentriert worden. In Ländern wie Großbritannien und in den deutschen Territorien grenzten Behörden im 17. und 18. Jahrhundert Migranten und Fremde aus. Sie wurde als Kranke stigmatisiert, einer strikten Quarantäne unterworfen und dazu u. a. auf Schiffen isoliert. Als „innere Feinde“ galten auch Bettler und Vagabunden, die seit dem 18. Jahrhundert in Arbeitshäusern zu nützlicher Tätigkeit gezwungen und erzogen wurden. Im späten 18. Jahrhundert begann zudem die Unterbringung von Kriegsgefangenen in Lagern. Alle diese frühen Camps dienten vorrangig der Erziehung, Isolierung, Disziplinierung, Sozialkontrolle und Gesundheitsüberwachung von Kranken, gesellschaftlich „Unerwünschten“ und Migranten. Darüber hinaus wurden Lager der Armeen Laboratorien der Disziplinierung in einem Raum, der gezielt zu diesem Zweck ausgestaltet wurde. Insgesamt war das System, das sich im 20. Jahrhundert herausbildete, damit nicht völlig neu, sondern vielmehr eine „Kombination von Traditionen im Sinne einer kumulativen Radikalisierung …“. Dabei erwies sich besonders die vorangegangene militärische Nutzung für die Camps des Ersten Weltkrieges als prägend – vom Stacheldrahtzaun bis zum Einsatz bewaffneter Wachen.98

96 Forth, Barbed-Wire Imperialism, S. 213–216, 219, 225–227; Wilkinson, Prisoners of War, S. 64; Kramer, Prisoners, S. 86. 97 Hierzu und zum Folgenden: Forth, Barbed-Wire Imperialism, S. 17, 22–24, 40, 37 f., 42, 113, 120, 125; Wilkinson, Prisoners of War, S. 64–72. 98 Gestrich, Konzentrationslager, S. 60; Stibbe, Civilian Internment, S. 12, 153–155; Manz / Panayi, Enemies, S. 37; Fahrmeier, Passports, S. 108; Mytum, Tale, S. 36 f., 39.

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Die Erfahrungen, die in den einzelnen Ländern beim Management der verschiedenen Lager gewonnen worden waren, wurden im späten 19. Jahrhundert in der Verwaltung von Kolonien aufgenommen. Hier entwickelten die europäischen Großmächte – besonders Großbritannien und Deutschland – die präventive Konzentration von Gruppen, die kollektiv als Sicherheitsrisiko wahrgenommen wurden, zu einer militärischen Strategie weiter. Obwohl Kritiker die undifferenzierte Internierung mit Sklaverei gleichsetzten, bestimmten letztlich besorgte Hinweise auf „militärische Notwendigkeiten“ die Politik. Die Übertragung von Praktiken der Beherrschung von Menschenkonzentrationen von den „Mutterländen“ auf die Kolonien schlug sich in personellen Kontinuitäten nieder. So arbeiteten im britischen Empire in Indien und in Südafrika (das 1910 Dominion wurde) ehemalige Fabrikinspektoren in der Lagerverwaltung. Diese Experten waren damit eine Schlüsselgruppe im Wissenstransfer. Umgekehrt wirkten die Erfahrungen, die in den Kolonien gewonnen worden waren, auf den Umgang mit Minderheiten und randständigen Gruppen in den europäischen Großmächten zurück.99 Schon im Krieg gegen Rebellen auf der Insel Kuba von 1868 bis 1878 hatten spanische Militärs Zivilisten in Dörfern konzentriert, die sie kontrollierten. Die Betroffenen nannten die Spanier reconcentrados. Bedrängt von Freischärlern unter General Maximo Gomez (1836–1905), vertrieb der spanische Militärgouverneur Valeriano Weyler y Nicolau (1838–1930) 1896/97 auf der Insel 300.000 bis 400.000 Einwohner (über ein Viertel der Bevölkerung) und hielt sie gezielt fest, um diese Zivilisten von Guerillatruppen zu trennen. Damit sollte die Erhebung der eingesessenen Bevölkerung niedergeschlagen werden. Zwar zielte die Politik der reconcentratiòn noch nicht auf einen Massenmord. Vielmehr sollten den Aufständischen wertvolle Kämpfer und Unterstützung entzogen werden. Vertreter von Schutzmächten, die von den gegnerischen Gruppen bestimmt worden waren, inspizierten erstmals Lager, um hier die Unterbringung und Versorgung zu überprüfen. Dennoch starb bis zur Abberufung Weylers und der Auflösung der Lager 1897 rund ein Drittel der betroffenen Kubaner an mangelnder Ernährung, schlechten hygienischen Bedingungen und unzureichender medizinischer Versorgung.100 Ein ähnliches Ziel verfolgte im Burenkrieg (1899–1902) der britische Militärbefehlshaber Horatio Kitchener (1850–1916), der in Südafrika eine Strategie der 99 Vgl. Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, bes. S. 316–324. 100 Jonathan F. Vance, Concentration Camps, in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 63; ders., Protecting Power, S. 227; Mühlhahn, Concentration Camp, S. 545; Swatek-Evenstein, History, S. 133; Manz / Panayi, Enemies, S. 28. Ausführlich: John Lawrence Tone, War and Genocide in Cuba 1895–1898, Chapel Hill 2006.

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„verbrannten Erde“ verfolgte, und am 19. November 1900 anordnete, die Städte in der Provinz Transvaal zu „entvölkern“. Daraufhin wurden in Südafrika 150.000 bis 250.000 Männer, Frauen und Kinder in Konzentrationslager gezwungen. Schon bis Oktober 1901, als die Lager 111.619 weiße und 43.780 schwarze Insassen aufgenommen hatten, erreichte die Mortalitätsquote 34 Prozent. Insgesamt starben bis zum Kriegsende, als die Lager rasch aufgelöst wurden, rund 45.000 (ein Fünftel) der Internierten – davon 25.000 Buren und 14.000 bis 20.000 Afrikaner – wegen der schlechten Ernährung und als Folge von Krankheiten und Epidemien. Kitcheners offener Verstoß gegen die Haager Konvention (1899) hatte aber einen Konflikt mit dem britischen Prokonsul Alfred Milner (1854–1925) ausgelöst, der das rigorose Vorgehen gegen die Buren ablehnte. Darüber hinaus war die Reputation der britischen Regierung in der sich herausbildenden globalen Öffentlichkeit, in der sich – wie erläutert – zunehmend ein Bewusstsein für humanitäre Grenzen der Kriegführung herausbildete, zumindest vorübergehend schwer beschädigt. So berichtete Emily Hobhouse (1860–1926), die im South African Conciliation Committee mit dem liberalen Abgeordneten Leonard Courtney (1832–1918) zusammenarbeitete, besonders über das Leiden burischer Frauen und Kinder in den concentration camps. Hier schränkten die Inkompetenz von Kommandeuren und der Mangel an Gütern die Versorgung dieser Kriegsopfer erheblich ein. Dadurch wurde auch die Verbreitung von Krankheiten begünstigt. Angesichts der offenkundigen Vernachlässigung der Insassen forderte Hobhouse vehement, Hilfsorganisationen den Zugang zu den Lagern zu gestatten. Nach offiziellen Angaben Südafrikas starben in den Konzentrationslagern rund 28.000 Menschen. Auch die britische Frauenrechtlerin Millicent Fawcett (1847–1929) kritisierte die Zustände in den Lagern scharf. Darüber hinaus protestierte der französische Rechtswissenschaftler Alexandre Mérignhac (1857–1927) heftig gegen die Kollektivstrafen, die gegen die Buren verhängt worden waren. Demgegenüber beurteilten britische Journalisten Kitcheners Kriegführung unterschiedlich. In rechtfertigender Absicht verwiesen einige von ihnen ausdrücklich auf die Methoden, die General Weyler auf Kuba angewendet hatte.101 101 Stefan Manz / Tilman Dedering, ‚Enemy Aliens‘ in Wartime. Civilian Internment in South Africa during World War I, in: South African Historical Journal 68 (2016), S. 536–556, hier: S. 539 f.; Stephen M. Miller, Boer War (1899–1902), in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 27–30; Martin John Farrar, The Illusory Threat. Enemy Aliens in Britain during the Great War, Diss., King’s College, London 2016, S. 76; Stibbe, Civilian Internment, S. 10; Manz / Panayi, Internment, S. 26 f.; dies., Enemies, S. 29–31; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 129–132; Mühlhahn, Concentration Camp, S. 546; Vance, Concentration Camps, S. 63 f. Angaben nach: Birgit Susanne Seibold, Emily Hobhouse und der Burenkrieg. Die Konzentrationslager in Südafrika von 1899–1902, Stuttgart 2012, S. 183 f.; Hyslop, Invention, S. 258 f.

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Nach dem Burenkrieg verbreitete sich die Praxis der Internierung in Camps so schnell und umfassend, dass das 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Lager“ bezeichnet worden ist.102 Dabei wurde die Festsetzung von Zivilisten zu einem Mittel der Kriegführung, zunächst vor allem in Kolonien. So nahmen deutsche Politiker, Kolonialbeamte und Militärs das Konzept des „Konzentrationslagers“ auf, als es ihnen in ihrer Kolonie in Südwestafrika im August 1904 nicht gelang, die Herero und Nama entscheidend zu schlagen. Am 11. Dezember billigte Reichskanzler Bernhard von Bülow (1849–1929) den Plan des deutschen Befehlshabers, General Lothar von Trotha (1848–1920), die Bevölkerung in einem Konzentrationslager auf der Haifischinsel festzuhalten. Damit entschied er sich gegen Vorschläge von Reichstagsabgeordneten der liberalen Parteien und des Zentrums, die sich für die Einrichtung von Reservaten ausgesprochen hatten. In dem Camp litten die 17.000 Insassen, die bis März 1907 eingewiesen worden waren, unter mangelhafter Ernährung und fehlender Hygiene. Insgesamt starben zwischen Oktober 1904 und März 1907 7.682 Gefangene. Mit rund 45 Prozent war die Todesquote in Südwestafrika deutlich höher als in den britischen Camps, die während des Burenkrieges in Südafrika errichtet worden waren. Zudem dienten die Lager in der deutschen Kolonie außer der „Erziehung zur Arbeit“ auch der Vernichtung. Das Land und Vieh der Herero und Nama erhielten deutsche Siedler, die damit vom Kolonialkrieg profitierten. Alles in allem vollzog sich der Genozid an den alteingesessenen Volksgruppen in einem Kontext, der von extremer Gewalt geprägt war. Damit verwies er bereits auf die totalen Weltkriege im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts.103 Die US-Armee richtete unter Brigadegeneral J. Franklin Bell (1856–1919) im Guerillakrieg auf den Philippinen (1899–1902) ab Dezember 1901 „Konzentrationszonen“ ein, nachdem die Vereinigten Staaten die Inseln 1898 von Spanien übernommen hatten. In den Provinzen Batangas und Laguna wurden 300.000 102 Dan Stone, Concentration Camps. A Short History, Oxford 2017, S. 133. Zur Diskussion auch: Zygmunt Bauman, A Century of Camps?, in: Peter Beilharz (Hg.), The Bauman Reader, Oxford 2001, S. 266–280. 103 Angaben nach: Jürgen Zimmerer, Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid, in. ders. / Joachim Zeller (Hg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, Berlin 2003, S. 45–63, hier: S. 58; Bauman, A Century of Camps?, S. 261. Vgl. auch Jürgen Zimmerer, Kriegsgefangene in Deutsch-Südwestafrika, 1904–1907, in: Overmans (Hg.), Hand, S. 277– 294; Sibylle Scheipers, The Use of Camps in Colonial Warfare, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 43 (2015), S. 678–698; Martin Eberhardt, Zwischen Nationalsozialismus und Apartheid. Die deutsche Bevölkerungsgruppe Südwestafrikas, 1915–1965, Berlin 2007, S. 39; Caspar Erichsen, Zwangsarbeit im Konzentrationslager auf der Haifischinsel, in: Zimmerer / Zeller (Hg.), Völkermord, S. 80–85; Manz / Panayi, Enemies, S. 26 f.; Siebrecht, Formen, S. 87, 89, 91 f., 94, 97 f., 103; Stone, Concentration Camps, S. 11; Mühlhahn, Concentration Camp, S. 546; Swatek-Evenstein, History, S. 163.

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Zivilisten verschleppt. Damit sollte der Widerstand von Aufständischen, die unter Führung von Emilio Aguinaldo (1869–1964) einen Guerillakrieg gegen die amerikanische Armee führten, endgültig gebrochen werden. In den Camps, die nach der Jahrhundertwende auf den Inseln Mindanao und Marinduque eingerichtet wurden, starben bis 1913 10.000 bis 11.000 Insassen an Krankheiten und Unterernährung. Vor allem eine Cholera-Epidemie forderte Tausende Opfer. Auch mit der umfassenden Zerstörung von Häusern, Feldern und anderen Lebensgrundlagen im Südwesten der Insel Luzon verstieß der kommandierende General auf den Philippinen, Arthur MacArthur (1845–1912), gegen das Kriegsvölkerrecht. Der Schriftsteller Mark Twain (1835–1910) protestierte gegen die radikale Repressionspolitik der USA auf den Philippinen. Er verglich die Deportation und Internierung von Zivilisten, die überwiegend nicht zu den Rebellen gehörten, mit der Unterdrückung des Boxer-Aufstandes in China (1900) und dem Vorgehen der britischen Truppen unter Kitchener gegen die Buren. Die Unterdrückungspolitik ähnelte zudem dem Vorgehen der spanischen Truppen auf Kuba, das zuvor von der Regierung der Vereinigten Staaten kritisiert worden war.104 Insgesamt hatte sich das Vorgehen gegen Zivilisten in den Kolonien damit schon vor 1914 zusehends radikalisiert, indem sie in Lager verschleppt und dort festgehalten wurden. Die Internierung im Ersten Weltkrieg nahm diese restriktiven Praktiken auf, ohne dass der Status der festgenommenen Zivilisten im Kriegsvölkerrecht definiert worden war.105 Keinesfalls zufällig griffen die jeweils zuständigen Behörden und sogar das Rote Kreuz dabei auf den Begriff „Konzentrationslager“ zurück, so in Österreich-Ungarn. Auf dieser Grundlage bildeten sich von 1914 bis 1918 ganze Lagersysteme heraus, die in Europa acht bis neun Millionen Menschen erfassten. Die Masseninternierung von Kriegsgefangenen und Zivilisten (darunter Seeleuten) im Ersten Weltkrieg ist deshalb zu Recht als wichtiger Einschnitt in der Radikalisierung der Lagerhaft interpretiert worden. Sie war Bestandteil eines staatlichen Sicherheitsregimes, das der eigenen Bevöl-

104 Aidan Forth / Jonas Kreienbaum, A Shared Malady: Concentration Camps in the British, Spanish and German Empires, in: Journal of Modern European History 14 (2016), S. 245–267, hier: S. 245, 251; Hyslop, Invention, S. 260; Mühlhahn, Concentration Camp, S. 545; Vance, Concentration Camps, S. 63; Swatek-Evenstein, History, S. 136; Manz / Panayi, Enemies, S. 28 f. 105 Peter Holquist, Violent Russia, Deadly Marxism? Russia in the Epoch of Violence, 1905–21, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 4 (2003), S. 627–652, hier: S. 635; Stone, Concentration Camps, S. 22; Manz / Panayi / Stibbe, Internment, S. 3; Murphy, Captivity, S. 2; Mühlhahn, Concentration Camp, S. 547. Zum ungeklärten völkerrechtlichen Status von Zivilinternierten auch: William B. Glidden, Internment Camps in America, 1917–1920, in: Military Affairs 37 (1973), S. 137–141; Audoin-Rouzeau / Becker 14–18. Understanding the Great War, S. 71.

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kerung angesichts der akuten Bedrohung als wirksames Risikomanagement vermittelt wurde. Damit sollte vorrangig die Legitimität und Stabilität der Regierungen erhöht werden. Die öffentliche Präsentation der Lager – so bei Inspektionen durch Vertreter humanitärer Organisationen – diente deshalb der Kriegspropaganda.106 Auch im Zweiten Weltkrieg bildeten Camps komplexe Räume, in denen sich die Unterbringung der Insassen aber oft erheblich unterschied. Besonders soziale und ethnische Differenzen trennten verschiedene Gruppen von Internierten und Kriegsgefangenen, die zugleich von der Außenwelt abgeschlossen waren. Im Raum des Ausschlusses lebten die Lagerinsassen (nach Giorgio Agamben) in einem Ausnahmezustand. Um so wichtiger war den mental Entwurzelten die Verbindung zu ihrer Heimat, so über Briefe und verschiedene Aktivitäten in den Camps.107 In beiden Weltkriegen wurden die Lager räumlich so gestaltet, dass die Insassen leicht kontrolliert und verwaltet werden konnten. Kriegsgefangene und Zivilinternierte lebten in der Regel (aber nicht überall) zumindest in getrennten Lagerbereichen. Disziplinierung war integraler Bestandteil des Alltagslebens. So wurde Privatheit beseitigt, auch in den Schlafsälen. In vielen Camps gestalteten die Insassen den Raum aber durchaus eigenwillig. So fügten sie vielerorts mit Zustimmung der Kommandeure in große Räume Abtrennungen ein, um dem engen Zusammenleben zu entgehen und damit auch Konflikte zu vermeiden. Internierte waren deshalb ebenso wenig wie Kriegsgefangene ausschließlich hilflose Opfer, obwohl sie nicht nur unter den schlechten materiellen Bedingungen, sondern auch unter der Enge, dem Mangel an Beschäftigung, der Disziplin und Überwachung litten. Zudem waren vor allem überbelegte Baracken oft schon nach wenigen Monaten beschädigt oder verschlissen. Andere Camps, die zeitgenössisch als „Luxuslager“ bezeichnet wurden, boten den Insassen, die hier der Oberschicht angehörten, erheblich mehr Komfort. Insgesamt waren die Übergänge zwischen den Camps für Kriegsgefangene, Internierte, Flüchtlinge und Verurteilte in vielen kriegführenden Staaten fließend.108

106 Senarclens de Grancy, Housing Spaces, S. 461 f., 477–481; Jones, Discipline and Punish?, S. 99; McMillan, War, S. 47 f.; Pitzer, Night, S. 102; Murphy, Captivity, S. 36; Forth / Kreienbaum, Malady, 257. 107 Giorgio Agamben, Means without End: Notes on Politics, Bd. 20: Theory out of Bounds, Minneapolis 2000, S. 37–45. Vgl. auch Annette Becker, Art, Material Life and Disaster. Civilian and Military Prisoners of War, in: Nicholas J. Saunders (Hg.), Matters of Conflict: Material Culture, Memory and the First World War, London 2004, S. 26–34, hier: S. 26, 28–31; Jones, A Missing Paradigm?, S. 37. 108 Senarclens de Grancy, Housing Spaces, S. 457 f., 459, 465 (Fußnote 36), 466–471, 473–475, 477, 481 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 13–15.

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Obwohl unter den Internierten auch Afrikaner waren, die oft besonders schlecht behandelt wurden, setzten die Regierungen in den beiden Weltkriegen vorrangig Europäer fest, und zwar oft jahrelang. Während sie zunächst die Rückkehr von Kriegsgefangenen und wehrfähigen Zivilisten in ihre jeweiligen Heimatstaaten verhindern sollte, wurde die Lagerhaft im Verlauf des Krieges fortschreitend zum Instrument einer umfassenden staatlichen Überwachungsund Disziplinierungspolitik. Dabei nahmen die Behörden gelegentlich sogar Angehörige von Feindstaatenangehörigen als Geiseln, um von vornherein einen Rechtsbruch feindlicher Länder zu verhindern. Die Haft diente aber auch der Rache. Als Repressalie sollte sie Übergriffe gegen eigene Bürger vergelten. Sie richtete sich damit gegen alle Feindstaatenangehörigen, die stellvertretend für ihre jeweiligen Nationen bestraft werden sollten. Allerdings unterschieden sich die Lebensbedingungen in Lagern auch in geographisch-politischer Hinsicht. In beiden Weltkriegen litten internierte Zivilisten besonders in Osteuropa. In den Jahren von 1941 bis 1945 setzten darüber hinaus die japanischen Militärs Lagerinsassen in den eroberten Gebieten Südost- und Ostasiens oft extremer Gewalt aus, die willkürlich gebraucht wurde. Wie dargelegt, bildeten die Internierung und Ermordung von Zivilisten in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern einen Sonderfall. Demgegenüber waren die Lebensbedingungen der Internierten in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten von Amerika im Allgemeinen deutlich besser.109 Vielfach reichte der Vorwurf der Spionage oder Sabotage aus, um Zivilisten in Lager einzuweisen. Dabei nahm die Dauer der Internierung im Kriegsverlauf erheblich zu. Ebenso vollzog sich eine Eskalation von Repressalien, die oft Erfahrungsberichte entlassener Gefangener oder Presseartikel auslösten. Damit wurden Lager insgesamt zu „totalen Institutionen“ (Erving Goffman) und zu allgemeinen Leitbildern der Quarantäne, mit der „innere Feinde“ kontrolliert werden sollten. Der Haft gingen zudem vielerorts Deportationen voraus, die ebenfalls schon vor 1914 in den Kolonien erprobt worden waren, um vermeintliche Bedrohungen und Sicherheitsrisiken zu beseitigen. Auf dieser Grundlage entzogen die Behörden Zivilisten, die als gefährlich galten, in allen kriegführenden Staaten zentrale Menschenrechte. Dabei setzten sie sich über rechtsstaatliche und völkerrechtliche Grundsätze hinweg, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß und in differenten Formen. Damit verbunden, vollzog sich eine „Versicherheitlichung“ (securitization) politischer und gesellschaftlicher Diskurse, mit

109 Lieb, Völkerrecht, S. 92; Beaumont, Prisoners of War, S. 278. Zu afrikanischen und afroamerikanischen Gefangenen vgl. David Killingray, Africans and African Americans in Enemy Hands, in: Moore / Fedorowich (Hg.), Prisoners, S. 181–203, hier: S. 182

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denen Maßnahmen zur Herstellung und Stabilisierung staatlicher Herrschaft und Ordnung untrennbar verbunden waren.110

Völkerrechtlicher Schutz von Zivilisten, Pazifismus und humanitäres Engagement Wie betont, vollzog sich in und zwischen den beiden Weltkriegen keineswegs eine lineare Radikalisierung von Kriegskulturen. Vielmehr muss zwischen einzelnen Regionen und Phasen unterschieden werden. Auch sind Übergriffe gegenüber Zivilisten von Gewalt gegenüber Kriegsgefangenen zu differenzieren. Die Lebensbedingungen dieser Gruppen unterschieden sich zwischen und in den einzelnen kriegführenden Staaten. An einigen Orten bildete sich ein besonderer Umgang mit Feindstaatenangehörigen heraus, der auch von den jeweiligen Bedingungen und den handelnden Akteuren beeinflusst wurde. So waren die umzäunten Lager ein spezifischer Raum an der Heimatfront. Hier trafen gefangene ausländische Staatsangehörige auf die einheimische Bevölkerung, auch wenn diese oft nur durch die Bewacher repräsentiert wurde. Im Gegensatz zu den Zivilinternierten waren die insgesamt acht bis neun Millionen Soldaten, die von 1914 bis 1918 gefangen genommen wurden, weiterhin in eine militärische Ordnung und Hierarchie integriert.111 Jedoch brachten die Erfahrungen brutaler Kriegführung sowohl von 1914 bis 1918 als auch von 1939 bis 1945 wiederholt Initiativen zu deren Bändigung hervor. So kam die Kodifizierung des humanitären Völkerrechts nach 1918 und 1945 voran. Auch in einzelnen Staaten hatte die extreme Kriegsgewalt Entsetzen hervorgerufen, so in Deutschland. Hier blieben die beiden wichtigsten Organisationen der ehemaligen Soldaten und Zivilinternierten, die „Reichsvereinigung 110 Hierzu und zum Folgenden: Matthew Stibbe, A Community at War: British Civilian Internees at the Ruhleben Camp in Germany, 1914–1918, in: Jenny MacLeod / Pierre Purseigle (Hg.), Uncovered Fields. Perspectives in First World War Studies, Leiden 2004, S. 79–94, hier: S. 80; Hull, Destruction, S. 73, 79, 85, 257; Jones, Discipline and Punish?, S. 100–102, 108; Leidinger / Moritz, Flüchtlingslager, S. 182, 184, 188, 190; Jahr / Thiel, Prolegomena, S. 11–15; Neocleous, Critique, S. 40–42; Farcy, Camps, S. 363; Audoin-Rouzeau / Becker, 14–18. Understanding the Great War, S. 61, 86. Zu Kriegsgefangenenlagern: Heather Jones, Eine technologische Revolution? Der Erste Weltkrieg und die Radikalisierung des Kriegsgefangenenlagers, in: Greiner / Kramer (Hg.), Welt, S. 110–133; dies., Kriegsgefangenenlager: Der moderne Staat und die Radikalisierung der Gesellschaft im Ersten Weltkrieg, in: Mittelweg 36, Jg. 20 (2013), H. 5, S. 59–75. 111 Heather Jones, Prisoners of War, in: Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, Bd. 2: The State, Cambridge 2014, S. 266–290, hier: S. 266, 268, 270, 272 f.; Proctor, Civilians, S. 177, 192, 200–202; Audoin-Rouzeau / Becker, 14–18, S. 82. Vgl. exemplarisch Stibbe, British Civilian Internees. Angabe nach: Nachtigal, Anzahl, S. 348.

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ehemaliger Kriegsgefangener“ und der „Volksbund zum Schutze der Kriegsund Zivilgefangenen“, bis zu den frühen 1930er Jahren weitgehend unpolitisch, und sie propagierten keineswegs einen neuen Krieg. Darüber hinaus zielten Utopien, die von Pazifisten, Sozialisten und Liberalen entwickelt, vertreten und verbreitet wurden, auf Frieden und Völkerfreundschaft. Angesichts der blutigen Auseinandersetzungen traten diese Akteure für Humanität und zivilgesellschaftliche Verständigung in und zwischen den kriegführenden Staaten ein. Damit stellten die Aktivisten zugleich überkommene Konzepte und Denkfiguren wie das Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität in Frage, und sie setzten sich für die Opfer des Krieges ein. Insofern war die Kriegsmobilisierung dialektisch mit verstärkten Bemühungen verbunden, die extreme Gewalt einzuhegen und künftig Kriege zu verhindern. Dazu bot der liberale Humanitarismus, der sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, eine gute Grundlage. Als Leitkategorie hatte sich „Humanität“ im politischen Diskurs seit der Deklaration von St. Petersburg (1868) verankert. Auf dieser Basis rief die am 4. September 1900 in Kraft getretene erste Haager Konvention alle Staaten zu friedlicher Konfliktlösung auf.112 Ebenso dämmten völkerrechtliche Regelungen Gewalt gegen Zivilisten ein, wenngleich sie sich in beiden Weltkriegen weitgehend auf den Schutz von Kriegsgefangenen konzentrierten. Aber auch Zivilisten waren zumindest gewohnheitsrechtlich in den Schutz vor Übergriffen und anderer Gewalt eingeschlossen. Zudem inspizierten das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und Vertreter der jeweiligen neutralen Schutzmächte gleichermaßen Lager für Kriegsgefangene und Zivilinternierte, die ohnehin oft zusammen untergebracht waren. So prüften Repräsentanten der Regierung Spaniens den Umgang mit französischen Soldaten in Deutschland. Darüber hinaus setzen sich internationale Nichtregierungsorganisationen für eine menschenwürdige Behandlung gefangener Soldaten und Zivilisten ein. Nicht zuletzt schlossen die Regierungen gegnerischer Staaten bilaterale Abkommen zum wechselseitigen Austausch gefangener Soldaten und Zivilinternierter. Dabei erwiesen sich Bemühungen der beiden Gruppen, sich in die Kriegsanstrengungen des eigenen Landes einzuschreiben, um Anerkennung zu gewinnen, letztlich als kontraproduktiv. Dazu dramatisierten und heroisierten sie auch bei Inspektionen ihren Zwangsaufent112 Jay Winter, Dreams of Peace and Freedom. Utopian Movements in the Twentieth Century, New Haven 2006, S. 3–9, 13, 25, 37, 205; Cabanes, Great War, S. 300–303; Stibbe, Germany, S. 86 f.; Jones, A Missing Paradigm?, S. 36; Kramer, Prisoners, S. 76. Zum Stellenwert politischer Gewalt in Deutschland in der Zwischenkriegszeit der Überblick in: Dirk Schumann, Nachkriegsgesellschaft. Erbschaften des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 18–20, 30. April 2018, S. 33–38.

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halt in den Lagern. So stellten Zeitungen, die von den Gefangenen produziert wurden, diese Opfer als Kämpfer dar.113 Die ungeahnte Kriegsgewalt verstärkte auch humanitäres Engagement, das sich darüber hinaus veränderte. Allgemein umfasste es die Hungerhilfe, die Fürsorge für Kinder, Gefangene und Verwundete sowie die Ansiedlung von Deportierten und Vertriebenen. Zwar hatten Organisationen wie das Rote Kreuz schon seit der Jahrhundertwende ihre Bemühungen um militärische und zivile Kriegsopfer verstärkt, so im Burenkrieg und in der blutigen militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und Japan 1904/1905. Der Erste Weltkrieg festigte aber Ansprüche von Kriegsopfern auf Fürsorge, wenngleich er nicht einfach als Gründungsmoment der modernen menschenrechtlichen Diskurse gelten kann. Der Krieg löste immerhin eine Professionalisierung und Zentralisierung des humanitären Aktivismus aus. Zu diesem Prozess trug die Betreuung der Zivilinternierten maßgeblich bei. Gegenüber einer Politik, die den Primat der „nationalen Sicherheit“ proklamierte, erwiesen sich völkerrechtliche Grundsätze einer menschlichen Behandlung von Feindstaatenangehörigen und die humanitären Organisationen, welche diese Normen vertraten, jedoch letztlich als zu schwach. Vor allem nationale Verbände waren im Allgemeinen zu Konzessionen gegenüber dem Kriegschauvinismus in ihren jeweiligen Ländern gezwungen, um hier überhaupt Wirkung erzielen zu können. Zivilgesellschaftliche Vereinigungen ließen sich oft von ihren Regierungen für deren Kriegführung einspannen. Zugleich zwang das enorme Ausmaß der Not und die hohe Zahl der Opfer die humanitären Hilfsorganisationen im Ersten Weltkrieg, neue Formen des Managements einzuführen, die Rekrutierung von Freiwilligen auszuweiten und die Sammlung von Spenden wirksamer zu organisieren. Nach 1918 zeigten Organisationen wie die amerikanische Near East Relief, die American Relief Administration (ARA) und der 1920 gebildete Save the Children Fund, dass sich in den vorangegangenen Jahren unter dem Druck des totalen Krieges nachhaltige Ansätze einer „humanitarian governmentality“ herausgebildet hatten. Die Fürsorge für zivile Kriegsopfer ging aber nach 1924 zurück. Insgesamt bildete der Erste Weltkrieg damit zwar eine Zäsur in der Entwicklung der humanitären Hilfe; der Einschnitt ist aber in längerfristige Entwicklungen einzubetten und nicht zu überschätzen.114 113 Jennifer Kewley Draskau, Relocating the „Heimat“. Great War Internment Literature from the Isle of Man, in: German Studies Review 32 (2009), Nr. 1, S. 82–106, hier: S. 87, 96 f.; Isabella von Treskow, Französische Kriegsgefangenenzeitungen im Ersten Weltkrieg: Internationale Erfahrung, Interkulturalität und europäisches Selbstverständnis, in: Comparativ 28 (2018), S. 29– 47, hier: S. 33; Stibbe, Civilian Internment, S. 13; Jones, A Missing Paradigm?, S. 35. 114 Zitat: Peter Gatrell u. a., Discussion: Humanitarianism, in: Ute Daniel u. a. (Hg.), 1914– 1918-online. International Encyclopedia of the First World War, Berlin 2017-11-09

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Im Einzelnen blieb das IKRK, dessen Einfluss auf die nationalen Verbände gering war, zwar dem Konzept des grenzüberschreitenden humanitären Engagements verpflichtet. Jedoch wurde der universalistische Humanitarismus der Organisation durch den Nationalismus überlagert. Diese Problematik, die bereits die Gründung des Roten Kreuzes gekennzeichnet hatte, zeigte sich beispielhaft in Preußen-Deutschland, wo seit den späten 1860er Jahren Tausende lokale und regionale Rotkreuzverbände gegründet worden waren. Aber auch in anderen Staaten wie Frankreich folgten die nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes der nationalistischen Regierungspolitik. Im Ersten Weltkrieg eignete sich die japanische Sektion der Organisation offensiv den humanitären Anspruch des IKRK an, um den Status des Staates als „zivilisiertes“ Land gegenüber den europäischen Großmächten und den USA zu erhöhen. Sogar in neutralen Staaten wie den Niederlanden mussten sich im frühen 20. Jahrhundert nationale Sektionen des Roten Kreuzes dem Sanitätsdienst des Landes anschließen. Damit trugen sie letztlich zumindest indirekt zur Vorbereitung von Kriegen bei, deren Folgen sie lediglich zu mildern trachteten. Letztlich konnte das Internationale Komitee humanitäre Anliegen kaum gegen den Primat militärischer Gesichtspunkte und der Fixierung auf die „nationale Sicherheit“ behaupten, zumal es den Nationalismus sogar selber in Dienst nahm. Der Erste Weltkrieg verstärkte den Trend zu einer engen Bindung der Sektionen des Roten Kreuzes an die Regierungen und das Militär der einzelnen Staaten.115 Zwar hatten Verträge, die seit dem späten 18. Jahrhundert abgeschlossen worden waren, Angehörigen verfeindeter Staaten nach der Erklärung des Kriegszustandes Zeit zum Verlassen von Ländern gelassen (zunächst oft ein halbes Jahr). Auch bestand unter Völkerrechtlern weitgehend Konsens, dass Zivilisten im Kriegsfall ausschließlich festgenommen werden durften, um die Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit zu erhalten. Im Gegensatz zu den Soldaten unter den Kriegsgefangenen durften sie auch nicht zur Arbeit gezwungen werden. Insgesamt waren Zivilisten nach der herrschenden völkerrechtlichen Theo-

(doi:10.15463/ie1418.11168; Zugriff am 13. Mai 2020), hier die Beiträge von Peter Gatrell und Branden Little. Dagegen die Argumentation in: Cabanes, Great War. 115 Dieter Riesenberger, Für Humanität in Krieg und Frieden. Das Internationale Rote Kreuz 1863–1977, Göttingen 1992, S. 61; John F. Hutchinson, Champions of Charity. War and the Rise of the Red Cross, Boulder 1996, S. 203–219, 224, 256; Heather Jones, International or Transnational? Humanitarian Action during the First World War, in: European Review of History 16 (2007), S. 697–713, 698, 701, 706; Leo van Bergen, Duty Leads to Right, Right Leads to Duty. Dutch Red Cross, Nursing and War 1870–1918, in: Wolfgang U. Eckert / Philipp Osten (Hg.), Schlachtschrecken – Konventionen. Das Rote Kreuz und die Erfindung der Menschlichkeit im Kriege, Freiburg 2011, S. 67–88, bes. S. 67 f., 86 f.; Barnett, Empire, S. 81; Mikita, Alchemy, S. 118–122, 126; Schulz, Dilemmas, S. 45; Stibbe, Introduction, S. 12 f.

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rie und Praxis im Kriegsfall möglichst unberührt zu lassen. Macht über diese Gruppe sollte nicht missbraucht werden. Nicht zuletzt räumten die Eliten in den Demokratien (darunter auch viele Rechtswissenschaftler) in beiden Weltkriegen ein, dass ihr Anspruch, für Freiheit zu kämpfen, nur glaubwürdig war, wenn sie gegen Feindstaatenangehörige nicht mit Mitteln vorgingen, die rechtsstaatlichen Grundsätzen eklatant widersprachen.116 Darüber hinaus trafen das restriktive Management innerer Sicherheit und der national security state, der mit der fortschreitenden Mobilisierung entstand, im Ersten Weltkrieg nahezu überall auf den Protest von Dissidenten und Pazifisten. Sie traten für die Bürger- und Freiheitsrechte der Zivilinternierten und Kriegsgefangenen ein. Obgleich sich diese Gruppen nicht durchsetzen konnten, erreichten sie zumindest in einigen Staaten eine Milderung der restriktiven Sicherheitspraktiken und mittelfristig eine Verbesserung des völkerrechtlichen Schutzes von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Dazu trugen vor allem ab 1916 auch Abkommen zwischen den kriegführenden Mächten und Initiativen neutraler Staaten bei. So setzten die amerikanischen Botschafter in Berlin, London, Paris, Wien und Petrograd 1915 zunächst gegenüber ihrem Außenministerium in Washington und anschließend in Verhandlungen mit den jeweiligen kriegführenden Staaten durch, dass dort Lager regelmäßig inspiziert werden durften. Ebenso bestanden die Kriegsgefangenen und Internierten selber vielfach auf Formen zivilgesellschaftlichen Umgangs, ohne sich damit allerdings durchsetzen zu können. Letztlich war die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger in den beiden Weltkriegen aber nicht illegal, und sie blieb in den einzelnen Nationalstaaten weitgehend dem übergeordneten Zielen untergeordnet, die nationale Sicherheit zu gewährleisten und den militärischen Sieg zu erringen.117 Nach dem Ersten Weltkrieg erreichten Bemühungen zur Einhegung von Kriegsgewalt 1929 zwar die Verabschiedung einer weiteren Genfer Konvention. 116 Jones, Prisoners of War, S. 266; Becker, Oubliés, S. 230. Aus zeitgenössischer Perspektive: James W. Garner, Treatment of Enemy Aliens, in: American Journal of International Law 12 (1918), Nr. 1, S. 27–55, hier: S. 27: „Writers on international law are now in substantial agreement that a belligerent ought not to detain enemy subjects, confiscate their property, or subject them to any disabilities, further than such as the protection of the national security and defense may require.“ Vgl. auch James W. Garner, International Law and the World War, Bd. 1, London 1920, S. 14, 58, 69, 127; ders., International Law and the World War, Bd. 2, London 1920, S. 462; Ernest Satow, The Treatment of Enemy Aliens, in: Transactions of the Grotius Society: Problems of War, Bd. 2: Papers Read before the Society in the Year 1916, Cambridge 1916, S. 1–10; Koessler, Internment, S. 126 f.; Cohn, Aspects, S. 202. 117 Peter Holquist, „Information is the Alpha and Omega of Our Work“. Bolshevik Surveillance in Its Pan-European Context, in: Journal of Modern History 69 (1997), S. 415–450, 417– 419, 443, 445 (Zitat: 443); Speed, Prisoners, S. 20–26.

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Zivilisten, die sich als Feindstaatenangehörige in anderen Ländern aufhielten, waren aber weiterhin nicht durch völkerrechtliche Konventionen oder Verträge geschützt. Jedoch gewannen pazifistische und humanitäre Gruppen nach 1918 angesichts der Kriegsopfer, welche die Kämpfe im Ersten Weltkrieg gefordert hatten, neue Anhänger, vor allem in Großbritannien und Frankreich. In ihren Kampagnen erklärten besonders die sozialistischen und kommunistischen Kriegsgegner die „Kapitalisten“ zu „Kriegsgewinnlern“ und „inneren Feinden“. Zudem verliehen die Kommissionen und affiliierten Organisationen des Völkerbundes – wie die ILO und die Gesundheitsorganisation (Health Organisation) – humanitären Anliegen eine so erhebliche Publizität, dass der politische Druck auf Regierungen zunahm. Jedoch konnte der Völkerbund letztlich keine neuen Normen in den internationalen Beziehungen durchsetzen. So wurden Rechte ethnischer Minderheiten weiterhin kaum beachtet. Auch der Schutz von Flüchtlingen blieb unzureichend, nicht zuletzt weil die Hochkommissare des Völkerbundes, James McDonald (1933–35) und Neill Malcolm (1936–38) im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Fridtjof Nansen (1920–30), nicht mehr direkt von der Staatenorganisation unterstützt wurden. Kolonien und Mandatsgebiete in der außereuropäischen Welt blieben weiterhin den Interessen der Großmächte unterworfen. Schon vor der Machtübertragung an Adolf Hitlers Nationalsozialisten in Deutschland am 30. Januar 1933 waren die hoffnungsvollen Initiativen der 1920er Jahre zur Erweiterung des völkerrechtlichen Schutzes vor Kriegsgewalt, zur Abrüstung und zu multilateralen Vereinbarungen abgebrochen. Der italienische Angriff auf Abessinien im Oktober 1935 und der Spanische Bürgerkrieg (1936–1939), der die politisch-ideologischen Konflikte und die politische Polarisierung der 1930er Jahre widerspiegelte und verstärkte, zeigten schließlich vollends den Macht- und Legitimitätsverlust der neuen Staatenordnung, auf die der Völkerbund gezielt hatte.118 Im Folgenden wird der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen in Staaten dargelegt, die maßgeblich am Ersten Weltkrieg beteiligt waren: Großbritannien, Frankreich, Russland, Italien, die Vereinigten Staaten und das Osmanische Reich. Als neutrale Staaten nahmen vor allem die Schweiz und die Niederlande ebenfalls zivile Angehörige anderer Staaten auf. Dabei konzentriert sich die Darstellung auf die zeitgenössischen Diskussionen über das Verhältnis zwischen den Forderungen, die individuellen Freiheiten zu sichern und eine humanitäre Behandlung zu gewährleisten, und dem postulierten Gebot, die Sicherheit der Nationen im totalen Krieg zu schützen. Darüber hinaus werden konkrete Maßnahmen (so Gesetze) und ihre Wirkungen behandelt. 118 Zara Steiner, The Triumph of the Dark. European International History 1933–1939, New York 2011, S. 166–179, 1043, 1047–1049.

4 Sicherheit und „innere Feinde“: Propaganda, Mobilisierung und Politik im Ersten Weltkrieg 4.1 Großbritannien Voraussetzungen: Niedergangs- und Spionageängste, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Die Maßnahmen, denen zivile Feindstaatenangehörige im Vereinigten Königreich im Ersten Weltkrieg unterworfen wurden, können ohne die vorangegangene Zunahme der Fremdenfeindlichkeit im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht verstanden werden. Ebenso bedeutend waren Sicherheitsängste, die schon 1793 den Regulators of Aliens Act herbeigeführt hatten. Dieses Gesetz sollte das Eindringen französischer Revolutionäre in Großbritannien verhindern. Auch im 19. Jahrhundert steigerten revolutionäre Unruhen – so die Proteste der Chartisten von 1838 bis 1848 – und Anschläge von Anarchisten wiederholt Sorgen um die Sicherheit des Vereinigten Königreiches. Als äußerer Gegner wurde Frankreich in den 1890er Jahren von Deutschland abgelöst, mit dem Großbritannien nicht nur in Europa, sondern auch in den Kolonien konkurrierte.1 Die Zahl der Deutschen im Vereinigten Königreich nahm von 1861 bis 1871 von 28.644 auf 32.823 zu. Sie stellten hier damit 0,1 Prozent der Bevölkerung. Bis 1891 wuchs die deutsche Minderheit auf 50.599 und bis 1911 auf 53.324 Menschen. Als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, lebten in Großbritannien rund 57.000 Deutsche. Zusammen mit ihren Angehörigen und Eingebürgerten umfasste die deutsche Minderheit rund 100.000 Personen. Dagegen war die Zahl der Staatsbürger Österreich-Ungarns deutlich geringer.2 Zum schnellen Wachstum der deutschen Einwanderung hatten Erleichterungen bei der Einbür1 Tony Kushner / David Cesarani, Alien Internment in Britain During the Twentieth Century: An Introduction, in: dies. (Hg.), The Internment of Aliens in Twentieth-Century Britain, London 1993, S. 1–22, hier: S. 13; Pistol, Internment, S. 9. 2 Angaben nach: Colin Holmes, Immigrants and Refugees in Britain, in: Werner E. Mosse u. a. (Hg.), Second Chance. Two Centuries of German-speaking Jews in the United Kingdom, Tübingen 1991, S. 11–30, hier: S. 13; Panikos Panayi, The Lancashire Anti-German Riots of May 1915, in: Manchester Region History 2 (1988/89), Nr. 2, S. 3–11, hier: S. 3; ders., Fremdenfeindlichkeit in Großbritannien: Ihr Aufstieg und Wandel ca. 1890–1920, in: Karen Schönwälder / Imke Sturm-Martin (Hg.), Die britische Gesellschaft zwischen Offenheit und Abgrenzung: Einwanderung und Integration vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 72–90, hier: S. 73; ders., Prisoners of War and Internees (Great Britain), in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, hg. v. Ute Daniel u. a. (Hg.), Berlin 2014-10-08. DOI: doi:10.15463/ ie1418.10296 (Zugriff am 22. August 2018); Panikos Panayi / Stefan Manz, The Rise and Fall of https://doi.org/10.1515/9783110529951-004

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gerung beigetragen. Der 1870 erlassene Naturalisation Act ermöglichte Ausländern, Grundeigentum zu erwerben. Überdies stellte das Gesetz Eingebürgerte mit Briten gleich, die offiziell als „natural born“ galten. Die Einbürgerung war allerdings an die Bedingung geknüpft, dass Antragsteller bereits fünf Jahre in Großbritannien gewohnt oder dem Land in diesem Zeitraum gedient hatten und dies fortzusetzen gedachten. Auch nahm der Einbürgerungsprozess oft mehrere Jahre in Anspruch. Britische Frauen, die Ausländer heirateten, verloren ihre Staatsbürgerschaft.3 Mit der verstärkten Integration verschärfte sich aber auch der Ausschluss anderer Gruppen. Seit den 1840er Jahren hatte sich die Abgrenzung von „Fremden“ (aliens) vor allem gegen Iren gerichtet, die mit den Anarchisten identifiziert worden waren. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert prägte schließlich die zunehmend heftige Diskussion über die Einwanderung von Juden die Entwicklung der Einbürgerungspraxis. Forderungen, den Innenminister zu ermächtigen, Naturalisationen zu widerrufen, setzten sich bis 1914 aber noch nicht durch, zumal sich die Zahl der Einbürgerungen bis zur Jahrhundertwende in Grenzen gehalten hatte. Jedoch stigmatisierten vor allem konservative Politiker Juden – etablierte Financiers ebenso wie arme Einwanderer aus Osteuropa – als Feinde. Zugleich schärften der Hochimperialismus und der radikale Nationalismus die angelsächsische Identität. Diese gründete sich auch auf einer deutlichen Abgrenzung von aliens und dem Anspruch einer zivilisatorischen Überlegenheit, sowohl gegenüber den unterworfenen Völkern in Afrika und Asien als auch gegenüber den konkurrierenden europäischen Mächten.4 Britische Wahrnehmungen Deutschlands und der Deutschen im Vereinigten Königreich blieben lange widersprüchlich. Viele Autoren bewunderten einerseits die Kultur und die Landschaften in Deutschland. Auch die gemeinsame angelsächsische Herkunft wurde in der Literatur und Presse hervorgehoben. Andererseits galten Deutsche im Vereinigten Königreich als grobschlächtig. Germans in the British Hospitality Industry, c1880–1920, in: Food and History 33 (2013), S. 93– 119, hier: S. 97. 3 Steve Cohen, Anti-semitism, Immigration Controls and the Welfare State, in: David Taylor (Hg.), Critical Social Policy. Social Policy and Social Relations, London 1996, S. 27–47, hier: S. 36 f.; Zoë Denness, Gender and Germanophobia: The Forgotten Experiences of German Women in Britain, 1914–1919, in: Panayi (Hg.), Germans, S. 87; Gammerl, Staatsbürger, S. 218–227. 4 Zu den Wurzeln: Linda Colley, Britons. Forging the Nation, 1707–1837, New Haven 1992; dies., Britishness and Otherness: An Argument, in: Journal of British Studies 31 (1992), S. 309–329. Vgl. auch Alan Sykes, The Radical Right in Britain. Social Imperialism to the BNP, London 2005, S. 31; David Cesarani, An Alien Concept? The Continuity of Anti-Alienism in British Society before 1940, in: ders. / Tony Kushner (Hg.), Internment, S. 25–52, hier: S. 28 f., 47; Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 73; Manz / Panayi, Enemies, S. 52, 55. Zur Debatte über die Einbürgerungspraxis: Gammerl, Staatsbürger, S. 230.

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Nachdem Preußen 1871 den Krieg gegen Frankreich gewonnen hatte und mit dem Deutschen Reich ein starker Nationalstaat in der Mitte Europas entstanden war, wuchsen die machtpolitische Konkurrenz und die Sorgen über die Verteidigungsfähigkeit der britischen Insel. So verbreiteten Traktate wie The Invasion of England (1860) und die 1871 von George Chesney (1813–1895) erstmals im Blackwood’s Magazine veröffentlichte Kurzgeschichte The Battle of Dorking Invasionsängste. Ein fiktives Bedrohungsszenario verband sich mit dem Ruf nach „nationaler Sicherheit“. Angesichts der Wirtschaftskrise in den 1870er Jahren wurden „Fremde“ in Großbritannien zusehends mit „Degeneration“, Verfall und Niedergang assoziiert. Diese Ängste wuchsen in den beiden folgenden Jahrzehnten, als ausländische Anarchisten und irische Nationalisten (Fenians) mit Anschlägen die Selbstsicherheit der Briten erschütterten. Unsicherheit und Zukunftsangst verdrängten zusehends den liberalen Optimismus, der die Reformfähigkeit und Innovationskraft des Landes als Grundlage britischer Weltmacht betont hatte.5 Angesichts dieser Krisen wuchs der Druck, die Sicherheitskräfte zu professionalisieren, besonders die Polizei. Nachdem eine Untersuchung eine mangelhafte Koordination zwischen den einzelnen Ermittlern aufgedeckt hatte, richtete das Innenministerium 1878 ein gesondertes Criminal Investigation Department ein. Darüber hinaus wurde 1883 mit dem Special Branch eine Sonderpolizei gegründet, die den Staat vor politischen Verbrechen und Subversion schützen sollte. Außer dem Anarchismus verliehen der Konflikt über den Status Irlands (Home Rule) und erste Streiks der sich langsam organisierenden Arbeiterschaft Forderungen nach einem Ausbau des Sicherheitsapparates kräftig Auftrieb. Die Gesetzgebung ließ der Polizei, in der die 1829 von Innenminister Sir Robert Peel (1788–1850) gegründete Metropolitan Police in London (mit Zentrale in London) herausragte, im Umgang mit öffentlichen Protesten einen weiten Interpretationsspielraum, wie die Auseinandersetzungen mit den Chartisten gezeigt hatten.

5 Umfassend: Rupert Allason, The Branch. A History of the Metropolitan Police Special Branch 1883–1983, London 1983, S. 1–15; Ignatius Frederick Clarke, The Battle of Dorking, 1871–1914, in: Victorian Studies 8 (1964/65), S. 309–328; Panikos Panayi, German Immigrants in Britain during the Nineteenth Century, Oxford 1995, S. 203–214, 232 f.; ders., The Enemy in Our Midst: Germans in Britain During the First World War, New York 1991, S. 9–26. Vgl. auch Thomas Boghardt, Spies of the Kaiser. German Covert Operations in Great Britain during the First World War Era, Houndmills 2004, S. 21; Lothar Kettenacker, Großbritannien: Ursachen und Folgen des Ersten Weltkriegs, in: Möller / Čurbar’jan (Hg.), Der Erste Weltkrieg, S. 31–44, hier: S. 34; Hartmut Pogge von Strandmann, The Mood in Britain in 1914, in: Kettenacker / Riotte (Hg.), Legacies, S. 58–76, hier: S. 61; Luff, Operations, S. 735; Cesarani, An Alien Concept?, S. 32 f.; Panayi, Immigration, S. 114.

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Damit wurde das Verhältnis zwischen öffentlicher Sicherheit und dem Recht auf Meinungsäußerung Gegenstand politischer Kontroversen.6 In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, als die zunehmende machtpolitische Rivalität und wirtschaftliche Konkurrenz die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien deutlich verschlechterten, wuchs im Vereinigten Königreich die Germanophobie. So behauptete der Journalist Joseph Banister in seinem 1901 erschienenen Buch England Under the Jews, dass Juden und Deutsche das Vereinigte Königreich beherrschten. Radikal nationalistische und militaristische Gruppen und Agitationsverbände verlangten eine strikte Überwachung oder Ausweisung der im Land lebenden, z. T eingebürgerten Deutschen. Die Forderung nach Migrationskontrolle war aber nicht nur mit der wachsenden Feindschaft gegenüber Deutschland verbunden, sondern auch mit der Furcht vor einem Niedergang der Nation. Angesichts des langsam beginnenden Abstiegs Großbritanniens als globale See- und Industriemacht sah sich zur Jahrhundertwende auch die politische Elite zusehends gegenüber dem Deutschen Kaiserreich und den USA in der Defensive. Die Sicherheitsängste trugen zur Germanophobie bei, die zwar vor allem von rechtsnationalistischen Politikern getragen wurde. Aber auch in der Arbeiterbewegung war die Feindschaft gegen das autokratisch regierte Deutsche Kaiserreich weit verbreitet. Hier trafen die Schriften sozialistischer Intellektueller wir Robert Blatchford (1851– 1943) und Henry Hyndman (1842–1921), die zugleich den britischen Nationalismus verteidigten, auf eine erhebliche Resonanz.7 Vor diesem Hintergrund verbreitete sich Angst vor Spionage, Unterwanderung und einer Invasion. Massenmedien wie die Zeitungen Lord Northcliffes – vor allem die 1896 gegründete, populäre Daily Mail – und die ebenfalls weit verbreiteten illustrierten Magazine heizten die Unsicherheit noch an. Sie vermittelten wirksame Feindbilder und Verschwörungsvorstellungen. Zudem hatten seit den 1890er Jahren im Genre der Kriegsfiktion Serien die bislang vorherrschenden Kurzgeschichten ersetzt und Verleger auch erstmals gezielt nach geeigne-

6 Iain Channing, The Police and the Expansion of Public Order Law in Britain, 1829–2014, Abington 2015, S. 20–26, 54–60; Bernard Porter, The Origins of the Vigilant State. The London Metropolitan Police Special Branch before the First World War, London 1987, S. 7–18, 98–108, 193; Allason, Branch, S. 16–29. Zu den Anarchisten und den staatlichen Gegenmaßnahmen: Richard Bach Jensen, The First Global Wave of Terrorism and International Counter-Terrorism, 1905–14, in: Jussi M. Hanhimäki / Bernhard Blumenau (Hg.), An International History of Terrorism. Western and Non-Western Experiences, London 2013, S. 16–33; ders., The International Campaign Against Anarchist Terrorism, 1880–1930s, in: Terrorism and Political Violence 21 (2009), Nr. 1, S. 89–109. Vgl. auch Cesarani, An Alien Concept?, S. 32 f. 7 Später, Vansittart, S. 48–50; Panayi, Enemy, S. 30 f.; ders., Immigration, S. 118; ders., Immigrants, S. 222, 224.

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ten Autoren gesucht. Northcliffe beeinflusste ebenso wie der Vorsitzende der National Service League (NSL), Lord Roberts (1832–1914), sogar direkt den Schriftsteller William Le Queux (1864–1927), der in der Daily Mail vom 20. März bis 4. Juli 1906 seine Artikelserie The Invasion of 1910 veröffentlichte. Unter dem Druck des mächtigen Verlegers und des einflussreichen Militaristen nahm Le Queux, der noch 1894 Frankreich als mächtigsten Feind Großbritanniens identifiziert hatte, in seinen Text alle größeren Städte an der Ostküste Englands auf, durch die eine deutsche Invasion verlaufen sollte. Mit diesen Eingriffen sollte die Resonanz erhöht und der Kampagne für die Einführung der Wehrpflicht Auftrieb verliehen werden. Wegen der enormen Resonanz wurde die Artikelserie noch 1906 auch als Roman veröffentlicht. Um für das Buch zu werben, marschierten britische Kriegsveteranen mit Pickelhauben und in blauen preußischen Uniformen durch die Londoner Oxford Street. Die Zahl der verkauften Bücher belief sich schließlich auf über eine Million. Der Roman, der eine Vielzahl deutscher Spione – darunter auch Frauen – darstellte, wurde in 27 Sprachen übersetzt. Damit übertraf das Werk die Resonanz, die Erskine Childers (1870– 1922) schon 1903 mit seiner Invasionsgeschichte The Riddle of the Sands, 1903) erzielt hatte. Auch andere Schriftsteller wie Walter Wood (The Enemy in Our Midst, 1906) feierten mit ihren Romanen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg spektakuläre Erfolge. In diesem Prozess der massenmedialen Vermittlung lösten sich die jeweils konstruierten Sicherheitsgefahren von den realen Bedrohungslagen.8 Militärexperten hielten die fiktiven Invasionsszenarien, die von einer Überlegenheit der deutschen Flotte über die Home Fleet ausgingen, für völlig unrealistisch. So urteilte die britische Admiralität lakonisch über Childers’ Roman: „As a novel, it is excellent, as a war plan it is rubbish.“ Publikationen wie das satirische Magazin Punch gaben die Kriegsängste auch öffentlich der Lächerlichkeit preis, und viele zeitgenössische Stimmen forderten eine nüchterne Betrachtung. So betonten sie, dass die Annahme eines kurzen Krieges zwar der Erfahrung rapiden Wandels und dem Fortschrittsglauben im frühen 20. Jahrhundert entsprach, aber unrealistisch sei. Freilich verhinderten diese Kritiker nicht, dass auch Bücher wie When the Eagle Flies Seaward beträchtliches Aufsehen erreichten. In dem Roman plädierten die Autoren Patrick Vaux und Lionel Yexley 1907 für die Einführung der Wehrpflicht, um die britische Armee zu stärken.

8 Reinecke, Grenzen, S. 200 f.; Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 83 f.; Clarke (Hg.), The Great War, S. 2, 18, 259; Pattinson, Twilight War, S. 69; Macdonald, May 1915, S. 159; Demm, Censorship, S. 139–141. Zur Forderung nach der Wehrpflicht: Adams / Poirier, Conscription Controversy, bes. S. 2–15; Searle, A New England?, S. 286; Altenhöner, Kommunikation, S. 196; Andrew, Secret Service, S. 46 f.; Holmes, Immigrants, S. 15; Terwey, Antisemitismus, S. 78–84.

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Das Horrorszenario einer deutschen Invasion Großbritanniens verbreitete auch Guy du Mauniers Theaterstück An Englishman’s Home, das nach der Premiere in London im Januar 1909 geradezu hymnisch gelobt wurde. Schon bevor die Regierung in demselben Jahr zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen beschloss, hatte sich die Vorstellung eines „inneren Feindes“ verfestigt. Sie wirkte innenpolitisch integrierend und sollte im Ersten Weltkrieg den Umgang mit zivilen enemy aliens maßgeblich prägen.9 Über Sicherheitsängste und Bedrohungsvorstellungen hinaus schürten die Invasions- und Spionagegeschichten Fremdenfeindlichkeit und den populären Nationalismus, der mit der Aktivität neuer Massenbewegungen verbunden war. Viele dieser Verbände verlangten die Stärkung der Nation und besonders eine massive Aufrüstung. Nachdem Admiral Alfred von Tirpitz (1849–1930) 1898 in Deutschland das erste Flottengesetz in den Reichstag eingebracht hatte, forderten Verbände wie die Navy League und die 1907 gebildete Imperial Maritime League eine enorme Aufrüstung der britischen Marine, vor allem durch den Bau vieler neuer Schlachtschiffe, der Dreadnoughts. Auch wenn der Marinegeheimdienst und die Admiralität die Furcht vor einer deutschen Invasion für unbegründet hielten, konnten sie sich der Agitation für Sicherheit kaum entziehen. Sie wurde vor allem von einer neuen „radikalen Rechten“ aus nationalistischen Konservativen betrieben, die damit die liberale Regierung unter Premierminister Henry Campbell-Bannerman (1905–1908) bedrängten. Allerdings darf der Einfluss der nationalistischen und militaristischen Sammelbewegungen auch nicht überschätzt werden. Vor dem Ersten Weltkrieg unterstützten höchstens 177 von 670 Unterhausabgeordneten die Forderung der NSL nach der Wehrpflicht, und dem populistischen Militarismus standen z. T. drastische Warnungen vor einem Krieg entgegen, die besonders Pazifisten und Sozialisten verbreiteten.10 9 Zitat: Pogge von Strandmann, Mood, S. 62. Vgl. auch Susanne Terwey, Moderner Antisemitismus in Großbritannien 1899–1919. Über die Funktion von Vorurteilen sowie Einwanderung und nationale Identität, Würzburg 2006, S. 68–84; Richard Thurlow, The Secret State. British Internal Security in the Twentieth Century, Oxford 1994, S. 49; Christopher Andrew, Secret Service. The Making of the British Intelligence Community, London 1985, S. 39 f.; ders., Phantasie und Apparat. Deutschland und die Anfänge des britischen Geheimdienstes, in: Journal für Geschichte, H. 4 / 1986, S. 44–49, hier: S. 46 f.; Clarke (Hg.), Great War, S. 3, 5, 8, 14, 116–118, 152; Boghardt, Spies, S. 21, 23–25, Panayi, Enemy, S. 32–36; ders., Immigrants, S. 239–241; Kettenacker, Großbritannien, S. 34. Zu den Jugendmagazinen: Robert H. MacDonald, Reproducing the Middle-class Boy: From Purity to Patriotism in the Boys’ Magazines, 1892–1914, in: Journal of Contemporary History 24 (1989), S. 519–539. 10 Angabe nach: Searle, A New England?, S. 513. Vgl. auch Frans Coetzee, For Party or Country. Nationalism and the Dilemmas of Popular Conservatism in Edwardian England, New York 1990, S. 9–136. Übersicht zur „National Service League“, die 1914 über rund 270.000 Mitglieder verfügte, im entsprechenden Artikel in: Ramsden (Hg.), Oxford Companion to Twentieth-Cen-

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Dennoch ging der radikale Nationalismus mit einer erheblichen Fremdenfeindlichkeit und einer Niedergangsangst einher, die auch Schriften wie Elliott Mills’ The Decline and Fall of the British Empire (1905) verbreiteten. Die Furcht vor einem Zerfall der Vormachtstellung Großbritanniens hatten vor allem die Niederlagen zu Beginn des Burenkrieges (1899–1902) und die Zuwanderung armer Immigranten aus Osteuropa ausgelöst. In der Agitation gegen die Einwanderer bündelten sich Fremdenfeindlichkeit und antisemitische Abwehrreflexe zunächst in der Sorge über die sozialen Probleme in einzelnen Vierteln Londons und – vor allem nach der Jahrhundertwende – über die Zukunft des Empire. Dabei drängten auch Gewerkschaften und jüdische Wohlfahrtsorganisationen wie der 1859 gegründete Jewish Board of Guardians auf eine Einschränkung der Immigration von überwiegend armen osteuropäischen Juden. Befunde über eine Verschlechterung der physischen Konstitution der Briten, besonders in den Großstädten, nährten diese Ängste. So hatte das Inter-Departmental Committee on Physical Deterioration in ihrem Abschlussbericht 1904 den unbefriedigenden Gesundheitszustand vieler Rekruten aus den städtischen Armutsvierteln hervorgehoben. Aber auch die Daten und Statistiken des 1836 gegründeten General Register Office zum Rückgang der Geburtenquote waren besorgt registriert worden. Die Furcht vor „Degeneration“ trieb in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eine breit angelegte Kampagne zur Steigerung der „nationalen Effizienz“ (national efficiency) voran. Nationalistische Militärreformer wie der liberale Lord Esher (1852–1930) schürten dabei offen Niedergangsangst, um Kriegsbereitschaft zu fördern: „Anxiety, not a sense of security, lies at the root of readiness for war.“ Furcht sollte nicht zur Resignation führen, sondern eine aggressive Sicherheitspolitik begründen. Allerdings blieben im Vereinigten Königreich Vorschläge zur Verbesserung des Erbgutes (Eugenik) über sozialhygienische Konzepte mit Initiativen zur Steigerung der physischen Leistungsfähigkeit (so durch sportliches Training) und Sozialreformen verbunden. An dieser Effizienzkampagne nahmen auch zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Heilsarmee teil. Demgegenüber setzten sich Forderungen nach direkten staatlichen Eingriffen in die demographische Entwicklung kaum durch. Allerdings enthielt der 1913 verabschiedete Mental Deficiency Act weitreichende Regelungen zur Isolierung Geistesschwacher, Krimineller und als unzuverlässig stigmatisierter Personen.11 tury British Politics, S. 465. Zum relativen Niedergang Großbritanniens als Weltmacht: Correlli Barnett, The Collapse of British Power, London 1972; Paul Kennedy, Der Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt/M. 1989, S. 344–354. Vgl. auch Holmes, Immigrants, S. 26; ders., A Tolerant Country? S. 81; Panayi, Immigrants, S. 233 f. 11 Ruddock F. Mackay, Fisher of Kilverstone, Oxford 1971, S. 385, Zitat: Andrew, Secret Service, S. 48. Zur Niedergangsangst und den damit verbundenen Forderungen nach einer grund-

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Ebenso nutzte Kriegsminister Richard Haldane (1856–1928) die Invasionsund Spionagehysterie, um Rekruten für die von ihm 1908 gegründete Territorial Force (der Reservetruppe der britischen Armee) zu gewinnen. 1909, als Guy de Mauriers in London uraufgeführtes Schauspiel An Englishman’s Home einen deutschen Angriff andeutete, ließ Haldane anlässlich der Aufführung im Foyer des Theaters einen Stand aufstellen, um Freiwillige zu rekrutieren. Damit prägte die Armee auch die Gesellschaft – ein Prozess, der mit dem populistischen Militarismus während des Burenkrieges begonnen hatte. Jedoch blieb die Mobilisierung von Freiwilligen begrenzt. So hatten sich 1903 nur 2,7 Prozent der Briten im Alter von 15 bis 49 Jahren der Volunteer Force angeschlossen. Auch lehnte Haldane 1908 die Forderung führender Militärs nach einem gesonderten Gesetz über den zivilen Notstand ab.12 Zugleich führten antisemitische Pogrome im russischen Zarenreich nach der Ermordung Zar Alexanders II. am 13. März 1881 in den darauffolgenden Wochen und Monaten zu einem sprunghaften Anstieg der Zahl ostjüdischer Immigranten. 1901 wurden in England und Wales 82.844 Russen und Polen registriert.13 Insgesamt erreichten bis 1914 rund 120.000 Juden – darunter 100.000, die in den polnischen Provinzen des russischen Zarenreiches gelebt hatten, – die britischen Inseln. Dabei ließen sie sich besonders in östlichen Vierteln London nieder, wo sie mit der überwiegend armen Bevölkerung vor allem um Arbeitsplätze und Wohnraum konkurrierten. Hier konnten sich Kandidaten der legenden Erneuerung: Richard A. Soloway, Demography and Degeneration: Eugenics and the Declining Birthrate in Twentieth-Century Britain, Chapel Hill 1990; David Feldman, The Importance of being English. Jewish Immigration and the Decay of Liberal England, in: ders. / Gareth Stedman Jones (Hg.), Metropolis London. Histories and Representations since 1800, London 1989, S. 56–84, bes. S. 56 f., 60–66, 69–78; Artikel „national degeneration“, in: Ramsdem (Hg.), Oxford Companion to Twentieth-Century British Politics, S. 456; Searle, A New England?, S. 511; Fischer-Tiné, Global Civil Society, S. 35, 38. Vgl. auch Thomas G. Fergusson, British Military Intelligence, 1870–1914. The Development of a Modern Intelligence Organization, London 1984, S. 197 f.; Edward Higgs, Life, Death and Statistics. Civil Registration, Censuses and the Work of the General Register Office, 1836–1952, Hatfield 2004, S. 134–138, 141 f.; Richard Holt, Contrasting Nationalisms: Sport, Militarism and the Unitary State in Britain and France before 1914, in: James A. Mangan (Hg.), Tribal Identities. Nationalism, Europe, Sport, London 1996, S. 39–54, hier: 51; Aribert Reimann, Der große Krieg der Sprachen. Untersuchungen zur historischen Semantik in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Weltkries, Essen 2000, S. 188. 12 Angabe nach: Holt, Nationalisms, S. 44; Charles Townshend, Military Force and Civil Authority in the United Kingdom 1914–1921, in: Journal of British Studies 28 (1989), S. 262–292, hier: S. 262, 267; Boghardt, Spies, S. 26; Reimann, Krieg, S. 53. 13 Colin Holmes, The Promised Land? Immigration into Britain 1870–1980, in: David A. Coleman (Hg.), Demography of Immigrants and Minority Groups in the United Kingdom, London 1982, S. 1–21, hier: S. 7.

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Konservativen Partei in der Parlamentswahl von 1906 insgesamt besser behaupten als im Land insgesamt, offenbar auch weil sie im East End fremdenfeindliche Vorurteile verbreiteten. Zugleich führte der Aliens Act von 1905 eine Professionalisierung der Ausländerpolitik und eine „Ideologie der Kontrolle“ herbei.14 Zwar war ein Gesetzesentwurf, mit dem Lord Salisbury (1830–1903) 1894 die Einwanderung als gefährlich eingestufter Ausländer verhindern wollte, noch am Widerstand in der liberalen Regierung unter dem Earl of Rosebery (1847–1929) gescheitert. Auch zeigte die Agitation der 1886 gegründeten Society for the Suppression of Destitute Aliens nur wenig Wirkung. Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz stellten jedoch das liberale Selbstverständnis Großbritanniens als Asylland in Frage. Im frühen 20. Jahrhundert agitierten die 1901 gegründete British Brothers’ League (BBL) und die Immigration Reform Association in den östlichen Stadtvierteln Londons, wo in demselben Jahr rund achtzig Prozent der in der Stadt registrierten Juden lebten, gegen die überwiegend armen Einwanderer. Sie wurden u. a. beschuldigt, die Löhne für Arbeiter zu drücken und „subversive“ Kräfte zu unterstützen. Eine Kommission empfahl daraufhin, die Immigration einzuschränken. In seinem Abschlussbericht assoziierte dieses Parliamentary Alien Immigration Committee, dem alle Abgeordnete von Wahlkreisen im East End angehörten, 1903 die Immigranten mit Anarchisten, denen sie – den populären Stereotypen folgend – eine Neigung zum Verbrechen und andere negative, mit „Fremden“ assoziierte Charaktereigenschaften zuschrieb. Danach galten Einwanderer pauschal als unmoralische, verlotterte und unordentliche Menschen.15

14 Cohen, Anti-semitism, S. 29 („ideology of control“). 15 Angabe nach: Holmes, The Promised Land?, S. 9 f. Vgl. hierzu und zum Folgenden Colin Holmes, John Bull’s Island. Immigration and British Society, 1871–1971, London 1988, S. 67–74; ders., Anti-Semitism in British Society 1876–1939, London 1979, S. 89–95; Bernard Wasserstein, Britische Regierungen und die deutsche Emigration 1933–1945, in: Gerhard Hirschfeld (Hg.), Exil in Großbritannien. Zur Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland, Stuttgart 1983, S. 44–61, hier: S. 45; Christopher Husbands, East End Racism 1900–1980. Geographical Continuities in Vigilantist and Extreme Right-wing Political Behaviour, in: London Journal 8 (1982), H. 1, S. 3–26, hier: S. 7–12; Louise London, Whitehall and the Jews, 1933–1948. British Immigration Policy, Jewish Refugees and the Holocaust, Cambridge 2000, S. 17; Geoffrey G. Field, Anti-Semitism with the Boots Off, in: Wiener Library Bulletin, Special Issue 1983, S. 25–46, hier: S. 29 f.; Manz, Migranten, S. 232 f.; Kay Saunders, The stranger in our gates: Internment Policies in the United Kingdom and Australia during the Two World Wars, 1914– 39, in: Immigrants and Minorities 22 (2013), Nr. 1, S. 22–43, hier: S. 25; Cesarani, An Alien Concept?, S. 25–33; Sykes, Radical Right, S. 32 f.; Panayi, Immigrants, S. 215 f.; ders., Fremdenfeindlichkeit, S. 81 f.; Holmes, A Tolerant Country?, S. 78; Porter, Origins, S. 108–113. Zur Furcht vor Anarchisten und Einwanderern: Haia Shpayer-Makov, Anarchism in British Public Opinion 1880–1914, in: Victorian Studies 31 (1988), S. 487–516, hier: S. 496, 514 f.

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Diese Vorurteile prägten ebenso die Werke von Schriftstellern wie Hilaire Belloc (1870–1953) und die Agitation, welche die BBL und Unterhausabgeordnete wie William Evans-Gordon (1857–1913) und Howard Vincent (1849–1908) vorantrieben.16 Während frühe fremdenfeindliche Verbände wie die 1886 gegründete Society for the Suppression of the Immigration of Destitute Aliens nur eine geringe politische Wirkung erzielt hatten, identifizierten die Agitatoren der BBL Einwanderer pauschal mit Sozialisten, die sie ebenso als „unenglisch“ stigmatisierten wie die Anarchisten. Obwohl sich die Kampagne vorrangig gegen jüdische Immigranten richtete, wurden auch Deutsche, die nicht Juden waren, diffamiert, besonders in den östlichen Stadtvierteln Londons. Über Konservative hinaus verbanden Arbeiter, Gewerkschaften und Sozialisten Einwanderer oft mit Verbrechen und Krankheiten, welche die Nation nach Auffassung der fremdenfeindlichen Gruppen schwächten. Die Revolution in Russland Anfang 1905 verstärkte darüber hinaus nochmals die Furcht vor einem Umsturz. Vor diesem Hintergrund wurde im August 1905 der Aliens Act verabschiedet, den das konservative Kabinett unter Premierminister Arthur Balfour (1848–1930) in das Parlament eingebracht hatte, aber erst die nachfolgende liberale Regierung in Kraft setzte. Das Gesetz berührte das Asylrecht zwar nicht, erlaubte aber Vertretern der Einwanderungsbehörde, Schiffe zu durchsuchen und unerwünschten Passagieren die Einreise zu verbieten. Dazu wurden besonders mittellose, bedürftige, kranke und straffällig gewordene jüdische Einwanderer gerechnet. Für diese Immigranten, von denen sich die im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert aufgenommenen Hugenotten positiv abzuheben schienen, trat vor allem die zionistische Organisation B’nai B’rith ein. Dagegen widersprach der Board of Deputies of British Jews als alteingesessener, einflussreicher Interessenverband der britischen Juden den Bestimmungen des Aliens Act und der darauf bezogenen Verwaltungspraxis nur halbherzig. Die allgemein zunehmende Ablehnung von Fremden zeigte auch die Ausweisung von deutschen Sinti und Roma von 1904 bis 1906.17 16 Zum Antisemitismus unter Schriftstellern um 1900 ausführlich: Bryan Cheyette, Constructions of the ‚Jew‘ in English Literature and Society. Racial Representations, 1875–1945, Cambridge 1993. 17 Colin Holmes, The German Gypsy Question in Britain, 1904–1906, in: Kenneth Lunn (Hg.), Hosts, Immigrants and Minorities: Historical Responses to Newcomers in British Society, 1870– 1914, Folkestone 1980, S. 134–159; Todd M. Endelman, The Jews in Britain. 1656 to 2000, Berkeley 2002, S. 183–226, 194. Vgl. auch Debra Hayes, From Aliens to Asylum Seekers. A History of Immigration Controls and Welfare in Britain, in: Steve Cohen / Beth Humphries / Ed Mynott (Hg.), From Immigration Controls to Welfare Controls, London 2002, S. 30–46, hier: S. 32, 37; Panikos Panayi, German Business Interests in Britain during the First World War, in: Business History 32 (1990), S. 244–257, hier: S. 245; ders., Enemy, S. 27–29; ders., Fremdenfeindlichkeit, S. 78; ders., Immigration, S. 121; ders., Immigrants, S. 216. Die Neigung, Immigranten, die be-

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Bei der Einwanderungskontrolle gewann das Innenministerium gegenüber dem Handelsministerium (Board of Trade) und dem 1871 geschaffen Local Government Board, das die Lokalverwaltung in England und Wales beaufsichtigte, eine starke Stellung. Das Home Office nahm die Ausländer daraufhin in Statistiken auf, die im Ersten Weltkrieg für den Umgang mit Feindstaatenangehörigen genutzt werden sollten. Zudem wurden die osteuropäischen Flüchtlinge als „unerwünschte“ (undesirable) Ausländer politisch und sozial stigmatisiert. Obwohl von 1906 bis 1913 insgesamt lediglich 7.594 Ausländern auf der Grundlage des Aliens Act die Einreise nach Großbritannien verweigert wurde, schuf das Gesetz einen Präzedenzfall, an den Einwanderungsgegner später anknüpfen konnten.18 Auch wenn die Grenzkontrollbeamten bis 1910 jährlich nur etwa 1.000 Einwanderer zurückwiesen, waren mit dem Aliens Act ethnische Kategorien in die Staatsbürgerschaft eingeführt worden. Diese Kriterien schlossen bestimmte Gruppen von der Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich aus. Die Gesetze zur Altersversorgung (Old Age Pensions Act, 1908) und zur Gesundheits- sowie Arbeitslosenversicherung (National Insurance Act, 1911) verankerten die Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und Ausländern auch im Sozialrecht. Die Kontrolle der Einwanderung wurde so verbunden mit Zugangsbeschränkungen zur staatlichen Wohlfahrtsfürsorge.19 Die Ethnisierung des Staatsbürgerschaftsrechtes vollzog sich in Großbritannien unter dem Einfluss der vorangegangenen Entwicklung in den Siedlerkolonien (Dominions). So war in Kanada bereits im späten 19. Jahrhundert die Aufnahme „europäischer“ Einwanderer mit dem Ausschluss der offiziell unerwünschten „asiatischen“ Immigranten einhergegangen. Auch in Australien hatte sich die White Australia Policy schon seit den 1870er Jahren abgezeichnet, als in Queensland und New South Wales restriktive Gesetzesentwürfe erarbeitet worden waren, die Asiaten diskriminierten. Das britische Kolonialministerium hatte diese Vorlagen – so die australische Coloured Races Restriction Bill, in die 1896 ihrerseits Einflüsse aus Natal (Südafrika) eingegangen waren, – zwar abgelehnt, die rassistische Ausgrenzung besonders von Chinesen, Japanern und Melanesiern aber letztlich nicht verhindert. Mit der Politik des „weißen Australien“ reits in Großbritannien integriert waren, gegen Neuankömmlinge auszuspielten, sollte im Vereinigten Königreich im 20. Jahrhundert anhalten. Vgl. Kushner, Remembering, S. 27 f., 35. 18 Jill Pellew, The Home Office and the Aliens Act, 1905, in: Historical Journal 32 (1989), S. 369–385; Feldman, Importance, S. 57 f., 76. Angaben nach: Holmes, Immigrants, S. 17; Marrus, The Unwanted, S. 36 f.; Pistol, Internment, S. 11. Vgl. auch Kushner, Remembering, S. 27 f. 19 Diese Verknüpfung bestimmte in Großbritannien auch im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts politische Debatten und Gesetze. Vgl. Cohen, Anti-semitism, S. 29, 43, 47; Hayes, S. 30, 34–36, 40, 44.

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sollte auch der ökonomische Einfluss beseitigt werden, über den die Minderheiten teilweise verfügten. 1901 legte der rassistische Immigration Restriction Act schließlich für das gesamte Commonwealth Gruppen fest, denen die Einwanderung untersagt wurde, darunter Asiaten. Wenige Jahre später übernahm die britische Regierung die Logik kollektiver Verbote in dem Gesetz für den Umgang mit ethnischer Heterogenität. Entwicklungen im britischen Weltreich wirkten damit auf das imperiale Zentrum zurück. Hinzu kamen nationalstaatliche Kriterien, die sich seit der Jahrhundertwende vor allem in der zunehmenden rechtlichen Diskriminierung von Deutschen niederschlugen. Die Dominions waren damit keineswegs „Vorreiter der demokratischen Entwicklung“, wenn über das Wahlrecht hinaus auch der Umgang mit Ausländern einbezogen wird. Vielmehr ging die Ausweitung der Teilhabe von Staatsbürgern mit dem Ausschluss von Ausländern und Minderheiten einher.20 Wie gezeigt, wurden in der Debatte über jüdische Immigranten grundsätzliche Probleme der Staatsbürgerschaft, Einwanderung und Einbürgerung (naturalisation) verhandelt. Letztlich bezog sich die fremdenfeindliche Agitation auf nationale Identitäten, die ihrerseits eng mit Prozessen der In- und Exklusion verknüpft waren. Damit begann eine „diskursive Ausbürgerung“, die sich im Ersten Weltkrieg in der Internierung von Feindstaatenangehörigen niederschlagen sollte. Eine wichtige Grundlage dafür war der 1914 verabschiedete British Nationality and Status of Aliens Act, der die Verfahren der Ein- oder Ausbürgerung festlegte. Dabei vertiefte das Gesetz nicht nur die Unterscheidung zwischen alteingesessenen und naturalisierten Briten, sondern es erlaubte dem Innenminister auch, Einbürgerungen zurückzunehmen. Da das Gesetz die Staatsbürgerschaft an die Abstammung der Männer band, wurden Britinnen, die Ausländer geheiratet hatten, Ausländerinnen und damit praktisch entrechtet. Der Erste Weltkrieg beschleunigte schließlich diese Nationalisierung und Ethnisierung des Staatsbürgerrechtes, die um 1900 eingesetzt hatten.21 Nachdem bis zur Bildung der Entente Cordiale 1904 auch Frankreich als Rivale gegolten hatte, konzentrierte sich die Fremdenfeindlichkeit seit 1905 zunehmend auf die 49.133 Deutschen, die 1901 in Großbritannien gezählt worden

20 Zitat: Kailitz, Nach dem „Großen Krieg“, S. 30. Vgl. auch Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 23, 30 f.; Pistol, Internment, S. 10. 21 Zitat: Terwey, Antisemitismus, S. 123. Vgl. auch M. Page Baldwin, Subject to Empire: Married Women and the British Nationality and Status of Aliens Act, in: Journal of British Studies 40 (2001), S. 522–556; Panayi, Enemy, S. 61 f., ders., Immigration, S. 105; Gammerl, Staatsbürger, S. 232, 238–243, 330–333, 336, 339–347, 355; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 121, 123. Zum Kontext: Arnd Bauerkämper, Die „radikale Rechte“. Nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945, Göttingen 1991, S. 58–92.

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waren.22 Der Rüstungswettlauf mit dem Kaiserreich hatte in Großbritannien seit dem späten 19. Jahrhundert nationalistische und militaristische Ressentiments gestärkt. Hinzu war die wirtschaftliche Konkurrenz der deutschen Industrie gekommen, deren Produkte mit der Herkunftsbezeichnung „Made in Germany“ gebrandmarkt werden sollten. Vor diesem Hintergrund wurden Deutsche, die sich während des Burenkrieges nicht dem allgemeinen Jubel über die Entsetzung des belagerten britischen Militärstützpunktes Mafeking (Südafrika) im Mai 1900 anschlossen, erstmals offen angegriffen. Der radikal nationalistische National Review, den James Leopold (Leo) Maxse (1864–1932) herausgab, bezichtigte die in Großbritannien lebenden Deutschen pauschal der Parteinahme für das Deutsche Kaiserreich. Der Kampagne schloss sich die konservative Daily Mail an. 1906 beschuldigte auch der Schriftsteller Walter Woods die Deutschen in seinem Roman The Enemy in Our Midst unterschiedslos der Subversion. Damit wandte er sich gegen den 1905 in Kraft getretenen Aliens Act, den er als unzureichend ablehnte. Am 6. Mai 1907 behauptete die radikal-nationalistische radikal-konservative, 1772 gegründete Tageszeitung Morning Post sogar, dass sich in Großbritannien 90.000 deutsche Reservisten und Spione aufhielten. E. Phillips Oppenheim (1866–1946) in seinem Buch The Secret und William Le Queux in einer Artikelfolge über Spies of the Kaiser warfen den deutschen Einwanderern 1908 direkt Spionage für das Deutsche Reich vor. Während britische Agenten als moralisch integre, gut ausgebildete gentlemen und Ehrenmänner galten, bezeichneten Presseorgane und Schriftsteller deutsche Spione als hinterhältig und verschlagen.23 Zugleich erklärten Abgeordnete wie Mark Lockwood (1847–1928) im Unterhaus, dass deutsche Agenten die Invasion Großbritanniens geradezu generalstabsmäßig vorbereiteten. Nachdem die Leser der Weekly News in einem Wettbewerb aufgefordert worden waren, ihre Beobachtungen zu feindlichen Agenten mitzuteilen, erreichte den eigens eingerichteten „Spy Editor“ der Zeitung eine Flut von Zuschriften, darunter zahlreiche Denunziationen. In London wur22 Holmes, The Promised Land?, S. 7; Panayi, Immigrants, S. 239. 23 Hierzu und zum Folgenden: David French, Spy Fever in Britain 1900–1915, in: Historical Journal 21 (1978), S. 355–370, hier: S. 356–358; Nicholas Hiley, The Failure of British CounterEspionage against Germany, 1907–1914, in: Historical Journal 28 (1985), S. 835–862, hier: S. 844 f.; Andrew Francis, ‚The Meanest Devil of the Pit‘: British Representations of the German Character in Edwardian Juvenile Spy Fiction, 1900–1914, in: Jean Anderson / Carolina Miranda / Barbara Pezzotti (Hg.), The Foreign in International Crime Fiction: Transcultural Representations, London 2012, S. 153–164; David A. T. Stafford, Spies and Gentlemen: The Birth of the British Spy Novel, 1893–1914, in: Victorian Studies 24 (1981), S. 489–509, hier: S. 496–509; ders., Conspiracy and Xenophobia. The Popular Spy Novels of William Le Queux, in: Europa 4 (1981), S. 163–185; Pattinson, Twilight War, S. 68 f.; Panayi, Immigrants, S. 235–242; Pogge von Strandmann, Mood, S. 60.

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den vor allem Friseure und Kellner verdächtigt, die auch Maxse als Saboteure stigmatisierte. Die 1910 begründete Loyal British Waiters Society kritisierte einen aus ihrer Sicht unfairen Wettbewerb durch eingewanderte deutsche Ober, die vor allem in London den allgemeinen Aufschwung der Gastronomie genutzt hatten und hier rund zehn Prozent aller Kellner stellten. Auch in anderen Angestelltenberufen konnte die Furcht vor unerwünschter Konkurrenz gegen die Deutschen gerichtet werden. Diese wurden sogar verdächtigt, Nahrungsmittel vergiftet zu haben.24 Dagegen fanden warnende Stimmen kaum Gehör. So klagte die Times 1908 über die umlaufenden Gerüchte: „Every day brings its fresh accumulation of ‚proofs‘, rarely in the form of personal observation, generally in the shape of remarks made by some unknown person to someone else.“25 Auch radikale Liberale wandten sich gegen die Spionagemanie. Die Wochenzeitschrift Nation warnte im März 1909: „There is in the blood of all of us a primitive instinct of alarm which takes fire at the very mention of a spy.“ Ebenso kritisierte der Daily Chronicle im selben Jahr die Invasionsfurcht, die von nationalistischen Presseorganen und Schriftstellern geschürt wurde.26 Unter dem Eindruck der Angst vor Agenten und Verrätern nahm der Druck zur Professionalisierung des Sicherheitsapparates der Regierung zu, die bereits 1904 im Kriegsministerium ein Directorate of Military Operations eingerichtet hatte. Der Gründer der Pfadfinder, Robert Baden-Powell (1857–1941), empfahl den Briten die Spionage für das Vereinigte Königreich als patriotische Pflicht, während Oberstleutnant James Edmonds (1861–1956) im War Office ein Abwehrbüro, das Military Operations Directorate (M. O.5, seit 1907), einrichtete, das subversive Angriffe deutscher Agenten bekämpfen sollte. Der Leiter des neuen Geheimdienstes gab Meldungen feindlichen Spionen ungeprüft an die Regierung weiter, auch wenn sie lediglich auf Gerüchten und Denunziationen beruhten. In den ersten zwölf Fällen, über die Edmonds berichtete, waren die verdächtigten Personen nicht einmal klar als Deutsche identifizierbar. Auch kolportierte er Meldungen, die er von dem mit ihm befreundeten Le Queux erhalten hatte. Kriegsminister Haldane befürchtete, dass die Unsicherheit über den „inneren Feind“ seinen Plan, bei Kriegsausbruch ein Expeditionskorps nach Frankreich und Belgien zu entsenden, durchkreuzen könnte. Aufgeschreckt auch von seinen Beamten, setzte er deshalb 1909 einen Unterausschuss des 1904 gegründeten Committee of Imperial Defence (CID) ein, der die Spionagefahr durch enemy aliens in Großbritannien untersuchen und klar ein24 Bischoff, Spy Fever; Panayi / Manz, Rise, S. 93, 99, 104 f.; Pattinson, Twilight War, S. 69. 25 The Times, 21. August 1908, S. 9, zit. nach: Porter, Origins, S. 167. 26 The Nation, 27. März 1909, zit. nach: Andrew, Secret Service, S. 43. Vgl. auch Pogge von Strandmann, Mood, S. 60; Pitzer, Night, S. 90; Panayi / Manz, Rise, S. 104.

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schätzen sollte. In seinem Abschlussbericht bestätigte das Gremium 1912 nicht nur Meldungen zu deutschen Agenten. Vielmehr ging es sogar von einem umfangreichen Spionagenetz aus, das nach dem Bericht mit bestehenden Institutionen nicht kontrolliert werden konnte. Vor allem das Kriegsministerium hatte den Unterausschuss von seiner Auffassung überzeugt, dass die Spionage durch Deutsche eine Gefahr für die Sicherheit des Vereinigten Königreiches darstellte. Nach Auffassung des Gremiums konnte die britische Regierung dieser Bedrohung mit den vorhandenen Ressourcen nicht begegnen. Angesichts dieser Warnung strebte das War Office in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nach einer umfassenden Kontrolle der Bevölkerung.27 Außerdem beschloss die von Haldane eingesetzte Kommission, der Regierung zu empfehlen, einen Geheimdienst zu etablieren. Innenminister Winston Churchill ernannte Hauptmann Vernon Kell (1873–1942) 1909 zum Direktor des neuen Secret Service Bureau, der als Inlandsgeheimdienst besonders für Spionageabwehr zuständig wurde. Kells vorangegangener Einsatz während des Boxeraufstandes in China und als Agent des War Office verweist auf den imperialen Kontext, in dem der britische Geheimdienst entstand. Auch der Special Branch richtete seine Aktivität zusehends gegen Feindstaatenangehörige, während die Überwachung von Anarchisten und Iren in den Hintergrund trat. So zeigte sich Kell in seinem ersten Bericht, den er im März 1910 dem Kriegsministerium und der Admiralität übermittelte, überzeugt, dass Spionage durch deutsche Agenten der Vorbereitung einer Invasion diente. Obwohl er diese Auffassung kaum belegen konnte, mussten die einzelnen Polizeistationen in den verschiedenen Distrikten Ausländer seit 1910 registrieren. Zudem oblag ihnen, Informationen über Verdächtige zu gewinnen und diese zu verhaften, da der Geheimdienst dazu nicht berechtigt war. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg schlug das Innenministerium sogar vor, eine Polizeireserve aus 2.800 Rentnern zu bilden und Tausende Bürger, die nicht vorbestraft waren, als Hilfspolizisten einzusetzen. Auch damit sollte die innere Sicherheit im Falle eines bewaffneten Konfliktes gewährleistet werden. Darüber hinaus nahm die Zusammenarbeit zwischen dem Geheimdienst und den Polizeieinheiten des Staatsschutzes bei der Identifizierung und Kontrolle von enemy aliens in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sprunghaft zu, ohne dass dabei Kompetenzkonflikte ausblieben.28 27 Denness, Gender, S. 74; Andrew, Phantasie, S. 44, 47; Hiley, Failure, S. 844–846; French, Spy Fever, S. 358; Pogge von Strandmann, Mood, S. 64; Panayi, Enemy, S. 37 f.; ders., Immigrants, S. 248 f. Zu den Anfängen des Geheimdienstes bis 1909: Fergusson, British Military Intelligence, S. 202–222. 28 Christopher Andrew, The Defence of the Realm. The Authorized History of MI5, London 2010, S. 30–34; ders., Secret Intelligence and British Foreign Policy 1900–1939, in: ders. / Jeremy Noakes (Hg.), Intelligence and International Relations 1900–1945, Exeter 1987, S. 9–28,

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Auch ergab sich eine Blindstelle, die geschlechterspezifischen Rollenzuweisungen geschuldet war: Politiker und Sicherheitsexperten trauten den vermeintlich schwachen Frauen zunächst subversive Aktivitäten nicht zu, obgleich der Geheimdienst selber zunehmend weibliche Arbeitskräfte beschäftigte, allerdings fast ausschließlich in untergeordneten Positionen wie Sekretariatsstellen. Im Widerspruch zu den geschlechterspezifischen Vorurteilen wurden einige Frauen aber auch als Agentinnen rekrutiert, da die radikalen Nationalisten die Bedrohung durch feindliche Spioninnen bald geradezu grotesk überzeichneten. Der extreme Nationalismus, die Furcht vor Sicherheitsrisiken und die Fremdenfeindlichkeit, die Männer prägten, waren in Großbritannien damit vor dem Ersten Weltkrieg geschlechterspezifisch aufgeladen. Politiker, die Führung der Polizei und Vertreter der Geheimdienste warnten vor der sexuellen Verführungskraft von Frauen, die zugleich als verschlagen und manipulierbar galten. Presseartikel nahmen diese Sorgen um Sicherheit, Moral und „Degeneration“ auf und verbreiteten die ohnehin populären geschlechterspezifischen Vorurteile, obwohl bis Ende 1916 lediglich 243 Frauen als Verdächtige interniert worden waren.29 Die Registrierung von vermeintlich gefährlichen enemy aliens ging von dem Beschluss einer weiteren Untersuchungskommission (des Committee of Imperial Defence) aus, die von Churchill geleitet worden war. Der Innenminister wies Kell daraufhin an, eine Kartei aller in Großbritannien lebenden Deutschen und Österreicher anzulegen. Dabei wurde er mit Daten versorgt, die ihm das General Register Office for England and Wales (GRO) zur Verfügung stellte. Das GRO, das schon seit 1836 Angaben zur Bevölkerungsentwicklung (so Zahlen zu Geborenen und Gestorbenen) erhob, stellte den Sicherheitsdiensten u. a. Informationen über enemy aliens und Kriegsflüchtlinge zur Verfügung. Auch das Kriegsmi-

hier: S. 13 f.; ders., Secret Service, S. 58–60; ders., Phantasie, S. 45 f., 48; Pattinson, Twilight War, S. 69 f.; Pogge von Strandmann, Mood, S. 64; Fergusson, British Military Intelligence, S. 222; Boghardt, Spies, S. 28, 36, 144; David Englander, Police and Public Order in Britain 1914–1918, in: Clive Emsley / Barbara Weinberger (Hg.), Policing Western Europe. Politics, Professionalism, and Public Order, 1850–1940, New York 1991, S. 90–138, hier: S. 93; John Curry, The Security Service 1908–1945. The Official History, Trowbridge 1999, S. 66; Stefan Petrow, Policing Morals. The Metropolitan Police and the Home Office, 1870–1914, Oxford 1994; Richard Deacon, British Secret Service, London 1991, S. 154–159; Wolfgang Krieger, Geschichte der Geheimdienste. Von den Pharaoen bis zur NSA, München 32014, S. 159–162; Luff, Operations, S. 735; Hiley, Failure, S. 847, 861; Porter, Origins, S. 170. Vgl. auch die Artikel „Vernon Kell“; „Secret Service Bureau“ und „Security Service“, in: Ramsden (Hg.), Oxford Companion to Twentieth-Century British Politics, S. 350, 594, 594–596. 29 Tammy M. Proctor, Female Intelligence. Women and Espionage in the First World War, New York 2003, S. 30, 33, 42 (Angabe), 51, 147.

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nisterium legte ein Register an, das vor dem Ersten Weltkrieg zwar noch erhebliche Lücken aufwies (vor allem in London). Immerhin wurden hier aber schon bis 1913 Daten zu 28.380 Personen gesammelt und auf Karteikarten notiert. Dazu nutzten die Beamten ab 1911 die Daten der Volkszählung, die in diesem Jahr stattfand. Damit hatte sich ein „Informationsstaat“ (Edward Higgs) herausgebildet, zu dem vor 1914 auch die Gründung einer Sozialversicherung (besonders zum Schutz von Kranken und Alten) beitrug. Die Etablierung und Expansion der Sicherheitsbehörden hatten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zudem die z. T. militanten Proteste der Suffragetten um Emmeline Pankhurst (1858–1928) und ihre beiden Töchter Christabel (1880–1958) und Sylvia (1882– 1960) gefördert, die das Wahlrecht für Frauen forderten. Ebenso war die Unsicherheit angesichts von Massenstreiks (vor allem ab 1910) und der Ansätze zur Bildung einer Allianz zwischen den Gewerkschaften der Berg-, Eisenbahn- und Transportarbeiter gewachsen, denn ein umfassender Ausstand der Arbeiter drohte die Wirtschaft lahmzulegen. Zugleich führten die Forderungen der irischen Nationalisten nach einer Selbstregierung (Home Rule) sogar eine Verfassungskrise herbei. Angesichts der Agitation der irischen Nationalisten und der Weigerung des Oberhauses, Kompetenzen bei der Gesetzgebung aufzugeben, befürchteten zeitgenössische Beobachter wie der Leiter des Criminal Investigation Department von New Scotland Yard, Basil Thomson (1861–1939), 1913/14 sogar einen Bürgerkrieg.30 Der „Vorfall“ von Curragh (Curragh Incident) am 20. März 1914 verlieh diesen Schreckensszenarien noch zusätzlich Nahrung. Dort war der Kommandeur der Garnison, Sir Arthur Paget (1851–1928), vom Kriegsministerium angewiesen worden, seine Truppen auf die Verlegung nach Ulster vorzubereiten, falls es dort zu Unruhen kommen sollte. Er verstand diese Order als Marschbefehl, räumte seinen Offizieren aber den Rücktritt ein. 57 von ihnen gingen auf dieses Angebot ein. Die britische Regierung zog daraufhin den Befehl zurück und setzte die Offiziere wieder ein. Britische Nationalisten und irische Loyalisten interpretierten dieses Zugeständnis als Verrat an der Union des Königreiches. Alles in allem spiegelte der Ausbau des Sicherheits- und Polizeiapparates die zunehmenden Bedrohungsvorstellungen und Ängste vor Verfall, Niedergang und „Degeneration“ wider. So nahm die Zahl der Polizisten im Special Branch allein von 1909 bis 1913 von 38 auf 69 zu. Demgegenüber warnten Liberale vor einem Ein-

30 Panayi, Enemy, S. 38; ders., Immigrants, S. 249; Searle, A New England?, S. 472; French, Spy Fever, S. 359 f.; Allason, Branch, S. 34–36; Thurlow, Secret State, S. 19–36; Pogge von Strandmann, Mood, S. 65; Porter, Origins, S. 164–166; Andrew, The Defence of the Realm, S. 48.

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satz von Truppen gegen politische und gesellschaftliche Proteste und einer sozialen Militarisierung.31 Die größte Gefahr für die innere Sicherheit Großbritanniens ging aus der Sicht der Regierung aber von deutschen Spionen und Subversion aus, vor allem im Kriegsfall. So stellte ein weiterer Unterausschuss des CID, das Home Ports Defence Committee, seit August 1909 Listen gefährdeter Orte zusammen, so dass der örtlichen Polizei schließlich am 30. Juli 1914 detaillierte Pläne zum Schutz militärischer Einrichtungen übermittelt werden konnten.32 Seit 1910 hatte Churchill auch die Internierung ziviler enemy aliens vorbereitet, die der Subversion und Sabotage bezichtigt wurden. Schon die Streikwelle, die Großbritannien 1911 erschütterte, hatte das Home Office nicht zuletzt auf deutschen Einfluss zurückgeführt. Der Unterausschuss des CID einigte sich 1913 auf ein Verbot der Ein- und Auswanderung im Kriegsfall. Eine Masseninternierung von Feindstaatenausländern war zwar noch nicht geplant; die grassierende Furcht vor Sabotage und Spionage führte jedoch zu verstärkten Anstrengungen, Fremde ausnahmslos zu registrieren – zunächst allerdings mit nur begrenztem Erfolg. So erfassten die Behörden nicht alle der 53.324 Deutschen, die 1911 im Vereinigten Königreich lebten. Sie stellten damit 75 Prozent der 67.775 nicht eingebürgerten Ausländer, die nach dem Kriegsbeginn enemy aliens werden sollten. Vor allem wurden keine Migranten in London verzeichnet. Ebenso wenig mussten die Inhaber von Hotels und Pensionen ausländische Gäste registrieren. Jedoch waren im Juli 1913 schon 28.800 Ausländer notiert, davon 11.000 Deutsche und Österreicher. Ende August 1914 sollte sich die Zahl der erfassten Personen schon auf 50.633 belaufen.33 Die angelegten Listen von Verdächtigen zeigen das Kontrollbedürfnis einer Bürokratie, die bestrebt war, ihre Macht zu steigern. Damit konnte sie sich aber bis zum Ersten Weltkrieg nur teilweise durchsetzen. Ökonomische Interessen, die begrenzten Ressourcen des Staates und libertäre Traditionen begrenzten noch den Einfluss der Anhänger einer umfassenden Sicherheitspolitik. So musste im März 1911 ein Gesetzesentwurf zur Registrierung aller Ausländer (Aliens Bill) angesichts erheblicher Vorbehalte im Unterhaus und im Innenministerium zurückgezogen werden. Die Regierung hielt ihre Listen deshalb geheim. Auch 31 Townshend, Force, S. 270, 275 f. 32 French, Spy Fever, S. 364. 33 Farrar, Threat, S. 127–136. Angaben nach: Kevin James, Aliens, Subjects and the State. Surveillance in British Hotels during World War I, in: Immigrants and Minorities 36 (2018), Nr. 3, S. 199–231, hier: S. 206; Holmes, Immigrants, S. 13; Webster, Enemies, S. 65; Reinecke, Grenzen, S. 202, 209; Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 77; Manz / Panayi, Enemies, S. 52. Die Zahl der Deutsch sprechenden Ausländer belief sich 1911 auf 62.522. Vgl. Manz, „Enemy Aliens“, S. 119.

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die Postkontrolle, die Churchill seit Ende 1911 im General Post Office einrichtete, traf auf starke politische Widerstände. So lehnten Unterhausabgeordnete wie Ramsay MacDonald (Labour Party) eine staatliche Überwachung von Bürgern ab. Liberale Politiker wie Edward Pickersgill (1850–1911) und der irisch-nationalistische Parlamentarier Thomas Power O’Connor (1848–1929) artikulierten vor allem das weit verbreitete Misstrauen gegen den neuen Geheimdienst, dessen Tätigkeit sie als „dirty work“ bezeichneten. Auch Forderungen nach einer allgemeinen Meldepflicht wurden bis 1915 abgelehnt. Sogar die Marineführung wandte sich gegen die Fremdenfeindlichkeit und die damit verbundenen Ängste vor Spionage und einer Invasion, zumal die Flottenrivalität zwischen Großbritannien und Deutschland ab 1910 nachließ.34 Dennoch beschloss das Kabinett unter Premierminister Herbert Asquith (1852–1928), den Official Secrets Act von 1889 zu novellieren, um die exekutiven Kompetenzen der Regierung zu stärken und damit die innere Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Das Gesetz, das am 18. August 1911 angesichts der zunehmenden Spannungen in der Zweiten Marokkokrise innerhalb weniger Stunden vom Unterhaus verabschiedet wurde, führte neue Straftatbestände ein. So durften verdächtige Personen verbotene Orte nicht mehr betreten oder sich ihnen nähern. Auch die Weitergabe von Informationen, die Feinden nutzen konnten, wurde strikt untersagt. Ebenso konnten Bürger belangt werden, die Spione beherbergt hatten. Vor allem aber erlaubte der Official Secrets Act den Behörden, pauschal (ohne individuelle Haftbefehle) Personen festzunehmen, die verdächtigt wurden, gegen die – von der Regierung definierte – Sicherheit des Staates gehandelt zu haben. Beschuldigte konnten schon verurteilt werden, wenn ihr Charakter, ihr Verhalten und die Umstände des jeweiligen Falles Spionage nahelegten. Damit mussten Angeklagte ihre Unschuld beweisen, nicht aber umgekehrt die Sicherheitsbehörden die Schuld der Verdächtigten. In der kurzen Debatte des Unterhauses wandte der liberale Parlamentsabgeordnete Sir Alpheus Morton (1840–1923) deshalb zu Recht ein, dass das Gesetz gegen die Magna Charta verstoße. Überdies waren Staatsbedienstete, die der unerlaubten Weitergabe von Informationen bezichtigt wurden, nach der Novelle zu bestra34 Pogge von Strandmann, Mood, S. 65; Porter, Origins, S. 168, 178 f. Hierzu und zum Folgenden: Edward Higgs, The Information State in England. The Central Collection of Information on Citizens since 1500, Basingstoke 2004, bes. S. 109, 136; Keith D. Ewing / Conor Anthony Gearty, The Struggle for Civil Liberties. Political Freedom and the Rule of Law in Britain, 1914–1945, Oxford 2000, S. 37–43; Christiane Reinecke, Im Namen der nationalen Sicherheit: Sicherheitsbedenken und Migrationspolitik in Großbritannien während des frühen 20. Jahrhunderts, in: Traverse 16 (2009), H. 1, S. 57–74, hier: S. 61, 68; dies., Grenzen, S. 209, 211; James, Aliens, S. 204; Curry, Security Service, S. 66 f., 69; Thurlow, Secret State, S. 40 f.; Hiley, Failure, S. 845–862.

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fen. Sie wurden verpflichtet, für die Veröffentlichung von als geheim eingestuften Informationen zuvor die Erlaubnis der Regierung einholen. Insgesamt hatte der Sicherheitsapparat damit umfassende Kompetenzen gewonnen.35 In diesem Kontext konkretisierte das CID im August 1913 auch die geplanten Maßnahmen zur Internierung von enemy aliens. In einem Bericht schlug das Komitee am 3. März 1914 der Regierung vor, Feindstaatenangehörige im Kriegsfall zur Ausreise zu drängen, und diejenigen enemy aliens, die dennoch im Land blieben, einer Registrierungspflicht und Mobilitätseinschränkungen zu unterwerfen. Premierminister Asquith und Innenminister Reginald McKenna (1863–1943) sagten zu, diese Empfehlung aufzunehmen. Damit nahmen sie die Konstruktion einer Gefahr für die nationale Sicherheit auf und die daraus abgeleiteten gravierenden Einschränkungen grundlegender Menschenrechte und der Prinzipien des Rule of Law in Kauf. So wurden umfassend Daten zu potentiellen Spionen und Verrätern erhoben. Aufgrund der erfolgreichen Postüberwachung verfügten die britischen Sicherheitsbehörden bald auch über präzise Informationen zu 22 deutschen Agenten, die zunächst aber geschont wurden. Außerdem verstärkten das Innenministerium, das Kriegsministerium, die Admiralität und die Postämter den Austausch von Informationen und ihre Kooperation. Darüber hinaus wirkte der Secret Service an der Vorbereitung einschneidender Gesetze mit, die sich gegen „innere Feinde“ richteten und im Kriegsfall in Kraft gesetzt werden sollten. Dazu war 1911 auch ein War Book in Angriff genommen worden, das zwischen einer Vorbereitungszeit (precautionary period) und dem Kriegszustand unterschied. Demgegenüber war ein Belagerungszustand nicht vorgesehen. Auch Forderungen der Militärs, nach dem Vorbild des Aliens Act von 1803 bei Ausbruch eines Krieges grundsätzlich alle Feindstaatenangehörigen auszuweisen oder zu inhaftieren, setzten sich nicht durch.36

35 French, Spy Fever, S. 360 f.; Proctor, Intelligence, S. 32. Vgl. auch Porter, Origins, S. 168; Andrew, Secret Service, S. 64; ders., Defence of the Realm, S. 39; Boghardt, Spies, S. 35; Fergusson, British Military Intelligence, S. 223. 36 Nicholas Hiley, Counter-Espionage and Security in Great Britain during the First World War, in: English Historical Review 101 (1986), S. 625–670, hier: S. 637; ders., International Security on Wartime. The Rise and Fall of P. M. S. 2, 1915–1917, in: Intelligence and National Security 1 (1986), S. 395–415, hier: S. 397; Len Barnett, Internment of Enemy Aliens in Great Britain, within the Empire and at Sea during 1914, London 2004, S. 2; Altenhöner, Kommunikation, S. 42. Übersicht im Artikel „Official Secrets Act“ in: Ramsden (Hg.), Oxford Companion to Twentieth-Century British Politics, S. 483. Außerdem Stafford, Spies, S. 494; Thurlow, Secret State, S. 41–43; Curry, Security Service, S. 68, 74.

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Der Beginn des Ersten Weltkrieges, die Notstandsgesetze und der Ausbau des Sicherheitsapparates Als das Deutsche Reich mit dem Angriff auf Belgien am 4. August 1914 die Neutralität des Landes verletzte, gewannen in der britischen Regierung die Befürworter einer Intervention die Oberhand über ihre liberalen Gegner, die bis zuletzt für eine Neutralität des Landes eintraten. Dagegen blieben Appelle von Organisationen wie der Neutrality League und dem Neutrality Committee wirkungslos. Auch die Friedenskampagnen einzelner Aktivisten – so Emily Hobhouse – waren vergeblich. Am 4. August erklärte die britische Regierung dem Deutschen Kaiserreich den Krieg, auch für die britischen Dominions und Kolonien. Daraufhin verließen liberale Kriegsgegner wie Charles Trevelyan, John Morley (1838–1923) und John Burnes (1858–1943) die Regierung. Trevelyan gründete zusammen mit Ramsay MacDonald im September die pazifistische UDC, deren Politik bald auch der Journalist Edmund Dene Morel maßgeblich beeinflusste. Dagegen trat der Quäker Joseph A. Pease (1864–1957), der das Bildungs- und Erziehungsministerium (Board of Education) leitete, nicht zurück. Als deutschfreundlich geltende Minister wie Haldane und der Erste Seelord Louis (Ludwig) Battenberg (1854–1921) verloren ihre Ressorts. Zu ihrer Entmachtung hatten nationalistische Presseorgane wie die Daily Mail und die Times kräftig beigetragen, indem sie die Loyalität dieser Personen gegenüber dem Vereinigten Königreich offen in Frage stellten.37 Das Parlament erließ bald Notstandsgesetze, welche die Sicherheit des Vereinigten Königreiches im Kriegszustand gewährleisten sollten. Zwar lehnte die Regierung die Forderung nach einem zivilen Notstand ab, mit dem führende Generale ihren Truppen Sondervollmachten sichern wollten, vor allem um eine Invasion des Landes abzuwehren. Jedoch stimmte das Unterhaus hastig und nahezu ohne Debatte dem vom Kabinett vorgelegten Defence of the Realm Act (DORA) zu, der am 8. August 1914 in Kraft trat. Als Generalvollmacht ermächtigte das Gesetz die Regierung und die ihr untergeordneten Behörden, die öffentliche Sicherheit und die Verteidigung des Landes zu gewährleisten. Die staatliche Exekutive hatte damit „the power during the continuance of the present war to issue regulations […] for securing the public safety and the defence of the realm.“ Spionage war von Militärgerichten zu verfolgen. Auch Zivilisten konnten 37 David Rubinstein, Quakers and the Great War, 1914–15, in: ders., Essays in Quaker History, York 2016, S. 125–146, hier: S. 128; John V. Crangle / Joseph O. Baylen, Emily Hobhouse’s Peace Mission 1916, in: Journal of Contemporary History 14 (1979), S. 731–743, hier: S. 733; Horst Lademacher, Die Illusion vom Frieden. Die zweite Internationale wider den Krieg, 1889– 1919, Münster 2018, S. 387 f.; Panayi, Enemy, S. 46; Millman, Dissent, S. 13, 38; Stevenson, 1914–1918, S. 326 f.

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von Kriegsgerichten verurteilt werden, in schweren Fällen sogar zum Tod. Zwar waren die Proteste pazifistischer Gruppen gegen die Generalermächtigung für die Regierung (und die Kriegserklärung Großbritanniens generell) erheblich; sie konnten die Politik des Kabinetts aber zunächst kaum beeinflussen. Vielmehr wurden im Namen der Sicherheit wichtige Grundrechte beseitigt.38 Der DORA zielte zunächst vor allem auf den Schutz von militärischen Anlagen, Transport- und Kommunikationsmitteln. Angehörige der gegnerischen Staaten mussten sich bei der Polizei melden, die in den Wachen schon Ende Juli jeweils gesonderte Abteilungen für Kriegsaufgaben eingerichtet hatte. Außerdem durften sie sich außerhalb von fünf Kilometern um ihren Wohnort nur mit Passierschein aufhalten, und sie waren gehalten, „verbotene Zonen“ (prohibited areas) – in der Regel militärisch wichtige Gebiete – zu verlassen. Überdies wurden ihnen Waffen, Sprengkörper, Fahrzeuge, Fotoapparate und Brieftauben entzogen. Im weiteren Verlauf des Krieges erweiterte das Innenministerium die Überwachung der enemy aliens. So setzte der Direktor des General Register Office, General Bernard Mallet (1859–1932), 1915 ein Gesetz zu der von ihm seit Jahren geforderten allgemeinen Meldepflicht durch. Mit dem Hinweis auf die Sicherheit des Landes im totalen Krieg konnte in der Diskussion über diese National Registration Bill der Widerstand liberaler Gegner überwunden werden. Nach der Verabschiedung der Gesetzesvorlage mussten alle Personen im Alter von 15 bis 65 Jahren Angaben über sich und ihre Beschäftigung hinterlassen. Der National Registration Act war aber nicht zuletzt dem bürokratischen Eigeninteresse geschuldet, die Macht der obersten Registrierungsbehörde zu erweitern. Auch der Geheimdienst und die Polizei wurden erheblich gestärkt. So mussten ab Februar 1916 über Feindstaatenangehörige hinaus alle Ausländer regelmäßig bei der Polizei erscheinen. Verstöße waren von Militärgerichten hart zu ahnden.39 Vor allem jedoch konnte der Innenminister Fremde ausweisen und ohne Anhörung deportieren oder internieren. Ergänzende Gesetze vom 28. August und vom 27. November erweiterten diese Kompetenzen der Regierung und der untergeordneten Behörden noch. Diese wurden sogar ermächtigt, „reports likely to cause diaffection or alarm“ zu bestrafen – eine vage Vollmacht, die 38 Zitat: Charles Townshend, Making the Peace. Public Order and Public Security in Modern Britain, Oxford 1993, S. 58, 64. Vgl. auch Adrian Gregory, British ‚War Enthusiasm‘ in 1914: A Reassessment, in: Gail Braybon (Hg.), Evidence, History and the Great War: Historians and the Impact of 1914–18, Oxford 2003, S. 67–85; Ian McGibbon, Germany and New Zealand at War, in: James N. Bade (Hg.), Out of the Shadow of War. The German Connection with New Zealand in the Twentieth Century, Oxford 1998, S. 5–18, hier: S. 5; Pistol, Internment, S. 12; Allason, Branch, S. 40 f.; Searle, A New England?, S. 807; Pogge von Strandmann, Mood, S. 65–73. Zur Übermacht der staatlichen Exekutive nach dem DORA auch: Maier, Leviathan 2.0, S. 204 f. 39 Manz, Migranten, S. 262 f.; Allason, Branch, S. 39; Reinecke, Grenzen, S. 209, 211 f.

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gleichwohl im Parlament nur eine Nachfrage auslöste. Vor allem die Entmachtung des Unterhauses und die außerordentliche Gerichtsbarkeit brachen mit den politischen Traditionen Großbritanniens. Die Defence of the Realm Regulations erfassten alle Aspekte des öffentlichen Lebens, die als sicherheitsrelevant galten. So wurden die Versammlungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung aufgehoben. Weitere Verordnungen, die von der Regierung im Verlauf des Ersten Weltkrieges erlassen wurden, begrenzten die Verfügung über Privateigentum und erlaubten Aufenthaltsbeschränkungen. Die Polizei konnte Zivilisten ohne Begründung anhalten, durchsuchen und verhaften (DORA Regulation 55). Auch war sie berechtigt, Wohnungen zu betreten und zu durchsuchen. Allerdings schränkte der DORA – vor allem die 1916 erlassene Regulation 9A – politische Versammlungen kaum ein.40 Weitere Verordnungen verhängten Strafen für Störungen der Kriegswirtschaft und Versorgung (namentlich Regulation 42) sowie das unerlaubte Sammeln sensibler Informationen und deren Weitergabe. So wurde eine umfassende Zensur eingeführt (Regulation 18). Die DORA Regulation 40 D sah sogar vor, Frauen, die Geschlechtskrankheiten hatten und mit Angehörigen der britischen Streitkräfte sexuelle Beziehungen aufnahmen oder sie dazu anstifteten, mit einer Zuchthausstrafe von bis zu sechs Monaten zu bestrafen. Alle diese Einschränkungen grundlegender Freiheitsrechte waren vorrangig auf die Kombination von Deutschenhass und Spionagefurcht zurückzuführen. Zwar hatten Polizisten des Special Branch acht zuvor identifizierte deutsche Agenten bereits am 4. August festgenommen.41 Da das Secret Service Bureau verdeckt arbeitete und 40 Jon Lawrence, The Transformation of British Public Politics after the First World War, in: Past and Present 190 (2016), S. 185–216, hier: S. 194. Hierzu und zum Folgenden auch: Gerard J. Degroot, Blighty. British Society in the Era of the Great War, Harlow 1996, S. 141; Arthur Marwick, The Deluge. British Society and the First World War, London 1965, S. 31 f., 36 f.; Ewing / Gearty, Struggle, S. 43–62; Townshend, Force, S. 279 f.; ders., Peace, S. 56 f.; Wasserstein, Regierungen, S. 45; Hiley, Failure, S. 858; Holmes, John Bull’s Island, S. 94; Altenhöner, Kommunikation, S. 43, 45. Vgl. auch David Englander, Military Intelligence and the Defence of the Realm: the Surveillance of Soldiers and Civilians in Britain during the First World War, in: Bulletin of the Society for the Study of Labour History 52 (1987), Nr. 1, S. 24–32, hier: S. 24, 31; ders., Police, S. 120; Thurlow, Secret State, S. 48; Farrar, Threat, S. 139 f.; Andrew, Secret Service, S. 70; Panayi, Societies, S. 6. 41 In der Geschichtsschreibung ist lange von 21 verhafteten deutschen Spionen ausgegangen worden. Neuere Untersuchungen haben aber gezeigt, dass lediglich acht Agenten festgenommen worden waren (von denen einer bald freigelassen werden musste). Kell hatte die Zahl bewusst höher angesetzt, um die Regierung zu drängen, Sicherheitsgesetze zu verabschieden, besonders den Aliens Restriction Act vom 5. August 1914. Außerdem sollte der Mythos einer erfolgreichen Operation die Macht des Secret Service Bureau steigern und diese Institution gegenüber Eingriffen der Regierung abschirmen. Vgl. dazu Nicolas Hiley, Entering the Lists. MI5’s Great Spy Round-up of August 1914, in: Intelligence and Security 21 (2006), S. 47–76, bes.

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Verdächtige nicht verhaften durfte, blieb sein Anteil an diesem Erfolg in der britischen Öffentlichkeit aber weitgehend verborgen. Gerade deshalb sammelte Kell weiterhin fieberhaft Informationen über deutsche Spione, die er überall in Großbritannien vermutete. Dabei griff er ebenso wie schon in der Vorkriegszeit auch bedenkenlos Gerüchte auf, die sich – ausgehend von den vor 1914 geschürten Ängsten – zu Kriegsbeginn im Vereinigten Königreich in Windeseile verbreitet hatten.42 Kell verdächtigte besonders Deutsche, die nach dem Überfall auf Belgien entlassen worden waren. So hatten in London viele Kellner schon im August ihre Beschäftigung verloren. Kell drängte das Kabinett, diese oft mittellosen und als erpreßbar geltenden enemy aliens zu internieren. Ende August fasste die Regierung dazu schließlich einen Beschluss. Den Vertretern des Sicherheitsapparates im Kriegsministerium, besonders Edmonds und Kell, war es gelungen, mit Berichten, in denen ungeprüft Vorurteile gegen Deutsche aufgenommen worden waren, die Politik der Regierung zu bestimmen und Widersprüche weitgehend zum Schweigen zu bringen, auch indem sie die Sicherheitsgefahr durch deutsche Spionage und Unterwanderung bewusst übertrieben. Dabei beriefen sie sich durchweg auf Statistiken und Personenangaben, die der Geheimdienst selber gesammelt hatte. Damit war der Fremdenfeindlichkeit eine scheinbar rational-wissenschaftliche Begründung und Legitimität verliehen worden. Während das War Office seine Arbeit vor allem auf den militärischen Schutz Großbritanniens ausrichtete, war das Sicherheitsverständnis der Polizei – vor allem in den einzelnen Gemeinden breiter gefasst. Es schloss auch sozialhygienische Aufgaben und den Kampf gegen Kriminalität ein, darunter die Verdrängung gesellschaftlich unerwünschter Gruppen, die mit zivilen Feindstaatenangehörigen zumindest in Verbindung gebracht wurden.43 Insgesamt steigerten die Verordnungen nach dem Defence of the Realm Act die Macht der Exekutive gegenüber dem Unterhaus erheblich. Mit dem Defence of the Realm Consolidation Act vom 27. November 1914 erhielten das Kriegsministerium und die Admiralität weitere außerordentliche Vollmachten. Das MiliS. 47, 69 f.; ders., Re-entering the Lists. MI5’s Authorized History and the August 1914 Arrests, in: Intelligence and Security 25 (2010), S. 415–452, bes. S. 415, 449–452. 42 Hierzu und zum Folgenden: Panikos Panayi, The Imperial War Museum as a Source of Information for Historians of Immigrant Minorities: The Example of Germans in Britain During the First World War, in: Immigrants and Minorities 6 (1987), S. 348–361, hier: S. 352 f.; Manz, „Enemy Aliens“, S. 120; Farrar, Threat, S. 106; French, Spy Fever, S. 365; Allason, Branch, S. 39; Manz, Migranten, S. 233 f. 43 Peter Cahalan, Belgian Refugee Relief in England during the Great War, New York 1982, S. 392; Hiley, Failure, S. 859 f.; ders., Entering the Lists, S. 69. Zur Entlassung deutscher Kellner: Panayi / Manz, Rise, S. 93 f., 105.

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tär gewann nunmehr mit den neu eingerichteten Authorised Competent Military Authorities (ACMA) eine erhebliche Macht, die sich in tiefgreifenden Eingriffen in die britische Zivilgesellschaft niederschlug. Kriegsgerichte konnten nach dem neuen Gesetz bei Verstößen gegen DORA-Verordnungen Todesstrafen verhängen. Vor allem aber stärkte der Defence of the Realm Consolidation Act die Kompetenzen des Special Branch und des Secret Service Bureau beträchtlich. So durfte die Spionageabwehr, die im August 1914 allerdings nur über sechs Offiziere verfügte, verdächtige Personen aus festgelegten Räumen verweisen. Häuser konnten durchsucht und Privatbesitz (auch Unterlagen) beschlagnahmt werden. Darüber hinaus war der Geheimdienst befugt, die Mobilität von Bewohnern Großbritanniens einzuschränken. Sogar Anklagen wegen Subversion und Verrat wurden den Sicherheitsexperten überlassen. Obgleich das Secret Service Bureau über keine detaillierten Informationen zum Angriff Deutschlands gegen Frankreich und Belgien verfügt hatte, rechtfertigte McKenna die weitgespannte Sicherheitspolitik mit einem „Zustand nationaler Gefahr oder schwerer Notlage“.44 Abgesehen von dem Hinwies auf den Primat der public safety argumentierte die Regierung, dass das Parlament die außerordentlichen Vollmachten selber delegiert habe und deren Ausübung kontrolliere. Obwohl McKenna indirekt zugab, dass „öffentliche Sicherheit“ (public security) letztlich nicht eindeutig definiert werden konnte und er privat zeitweilig durchaus an dem illiberalen Kriegsregime zweifelte, galt bis März 1915 de facto das militärische Standrecht, das nach dem Osteraufstand im darauffolgenden Jahr auch in Irland verhängt wurde. Kritiker wie der Parlamentsabgeordneter Charles Trevelyan bezeichneten das britische Königreich schon in den ersten Monaten des Krieges als „police state“. Auch Rechtswissenschaftler sprachen von einer „unblutigen Revolution“ und „Militärdiktatur“, die dem überlieferten Common Law die Grundlage entzogen habe.45 Im Oberhaus traf vor allem die Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten auf Widerspruch. Hier verteidigten besonders die Lords Parmoor (1852–1941) und Loreburn (1846–1923) Bürger- und Freiheitsrechte gegen die umfassenden DORA-Gesetze, und sie warnten vor einer übereilten Panikreaktion der Regierung in der Sicherheitspolitik. Allerdings zielten diese Einwände auf die Wiederherstellung der zivilen Gerichtsbarkeit für britische Staatsbürger, nicht Ausländer. Der Defence of the Realm (Amendment) Act vom 16. März 1915 räumte 44 Reinecke, Namen, S. 63. Vgl. auch Page, War, S. 23; Andrew, Defence of the Realm, S. 29, 72; ders., Secret Service, S. 77, 174; Proctor, Intelligence, S. 30; Altenhöner, Kommunikation, S. 43, 47. 45 Zitat: Townshend, Peace, S. 56. Zu McKenna: Millman, Dissent, S. 14.

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daher zumindest Briten wieder das Recht auf ein ordentliches Verfahren vor Zivilgerichten ein. Mit diesem Ergänzungsgesetz vollzog sich im Frühjahr 1915 eine begrenzte Entsicherheitlichung, bevor enemy aliens im Mai einer verschärften Internierung unterworfen wurden.46 Auch wenn Großbritannien im Ersten Weltkrieg kein total kontrollierender Sicherheits- oder sogar Militärstaat wurde, setzte der Defence of the Realm Act schon 1914 für die Dauer des Krieges wichtige Grundrechte außer Kraft. Die Aliens Restriction Bill, die am 5. August 1914 innerhalb von wenigen Stunden vom Parlament verabschiedet worden war, ermächtigte den Innenminister zur Überwachung aller Ausländer. Fremden Staatsangehörigen durfte zudem die Einreise verweigert werden. Vor allem ab 1915 wurde die Kontrolle der Häfen zu einem Schwerpunkt der Sicherheitspolitik. So erhöhte sich die Zahl der Beamten, die hier Reisende nach Großbritannien überwachten, von Oktober 1915 bis Juni 1917 von 59 auf 147.47 Wenn sich Ausländer bereits im Vereinigten Königreich befanden, mussten sie weitere Einschränkungen ihrer Freiheit hinnehmen. Dazu konnte die Regierung Verordnungen (Orders in Council) erlassen, denen nach der Royal Prerogative lediglich der König zustimmen musste. Auf dieser Grundlage hatten sich alle in Großbritannien lebenden enemy aliens unverzüglich bei der Polizei registrieren zu lassen. Für Angehörige von Staaten, die mit dem Vereinigten Königreich verbündet waren, galt dies nur für militärisch wichtige Zonen (prohibited areas). Überdies wurde die Bewegungsfreiheit der im Lande lebenden feindlichen Staatsangehörigen auf einen Umkreis von fünf Meilen um ihre Wohnsitze begrenzt. Deutsche, Österreicher und Ungarn durften sich grundsätzlich nicht mehr in den prohibited areas aufhalten, in denen sie nach Ansicht der Behörden ein militärisches Risiko darstellten. Unabhängig von ihrem Wohnort hatten sie ihre Autos abzugeben, und auch deutsche Zeitungen und Verbände wurden unterdrückt. Trotz der Bedenken, die einzelne Abgeordnete wie William Byles (1839–1917) gegen die Machtkonzentration im Home Office erhoben, sicherte vor allem der Hinweis auf akute Sicherheitsgefahren die nahezu einstimmige Verabschiedung der Aliens Restriction Bill.48

46 Hiley, Security, S. 395; Townshend, Peace, S. 58 f.; Altenhöner, Kommunikation, S. 44, 50; Ewing / Gearty, Struggle, S. 45, 49 f., 80; Marwick, Deluge, S. 37. Zitat: G. W. Keeton, Liversidge v. Anderson, in: Modern Law Review 5 (1942), S. 162–173, hier: S. 166. 47 Angaben nach: Reinecke, Namen, S. 208. Zum Regierungsbeschluss vom Oktober 1914: Edward David (Hg.), Inside Asquith’s Cabinet. From the Diaries of Charles Hobhouse, London 1977, S. 196. Zur Kontrolle der Häfen: Farrar, Threat, S. 83 f. 48 Tony Kushner / Katharine Knox, Refugees in an Age of Genocide. Global, National and Local Perspectives during the Twentieth Century, London 1999, S. 44.

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Auf dieser Grundlage entschied die Regierung im Oktober 1914, Ausländer, die ihre Radios für verdeckte Aktionen nutzten, dem Kriegsrecht zu unterwerfen. Diejenigen, die nur versäumten, ihre Geräte anzumelden, mussten sich zivilrechtlichen Verfahren stellen. Nicht zuletzt konnten Polizeibehörden und Geheimdienste verdächtige Feindstaatenangehörige und darüber hinaus „unerwünschte“ Personen verhaften, internieren oder ausweisen. Dagegen lehnte die Regierung eine Masseninternierung von enemy aliens noch ab. Deutsche, ungarische und österreichische Frauen sollten in ihre Heimatländer zurückgeführt werden.49 Die britische Regierung begründete diese restriktiven Maßnahmen und die damit verbundene exekutive Macht mit dem Hinweis auf die nationale bzw. öffentliche Sicherheit im Krieg, versprach aber, nur notwendige Einschränkungen der Freiheit zu verhängen. So wurde die Einbürgerung von Feindstaatenangehörigen trotz des erheblichen Drucks radikaler Nationalisten zunächst nicht ausgesetzt. Außerdem räumte das Innenministerium den enemy aliens ein, Großbritannien bis zum 11. August 1914 ungehindert zu verlassen. Schiffe neutraler Staaten durften deutsche Reservisten sogar bis November in ihre Heimat zurückbringen, bevor die Empörung über die Übergriffe deutscher Soldaten in Belgien eine striktere Politik herbeiführte. Die britische Ausländerkontrolle löste bis 1917 wiederholt Konflikte mit den USA aus, die Festnahmen von Angehörigen der „Mittelmächte“ auf ihren Schiffen als Verstoß gegen die Londoner Seerechtsdeklaration von 1909 betrachteten. Der amerikanische Botschafter in London, Walter Hines Page, protestierte wiederholt gegen diese Übergriffe.50 Allen Feindstaatenangehörigen wurde nach dem Kriegsausbruch die Einreise nach Großbritannien untersagt. Auch beschlagnahmte die Regierung unverzüglich deutsche Schiffe, nachdem Verhandlungen über eine Übereinkunft mit dem Kaiserreich über eine Schonfrist von zehn Tagen gescheitert waren. Zu der Aliens Restriction Order wurden im Verlauf des Krieges 27 Ergänzungen verab49 Hierzu und zum Folgenden: Geoffrey R. Searle, Corruption in British Politics 1895–1930, Oxford 1987, S. 242; Stella Yarrow, The Impact of Hostility on Germans in Britain, 1914–1918, in: Tony Kushner / Tony Lunn (Hg.), The Politics of Marginality. Race, the Radical Right and Minorities in Twentieth-Century Britain, London 1990, S. 97–112, hier: S. 98 f.; Panayi, Enemy, S. 46–53; ders., Business Interests, S. 246; ders., Fremdenfeindlichkeit, S. 76; Macdonald, May 1915, S. 155; Cahalan, Belgian Refugee Relief, S. 358–366; Panayi, Immigration, S. 105 f.; ders., Destruction, S. 116, 118; Farrar, Threat, S. 73, 78; Holmes, Anti-Semitism, S. 121; Ewence, Gap S. 92; Spiropoulus, Ausweisung, S. 73–75, 115–127 (hier Abdruck des Gesetzes); Pistol, Internment, S. 12; French, Spy Fever, S. 366 f.; Andrew, Defence of the Realm, S. 53 f.; London, Whitehall, S. 17; Allason, Branch, S. 38; Searle, A New England?, S. 774. Aus zeitgenössischer Perspektive: Page, War, S. 11, 19–22, 28, 43 f. 50 NA, ADM 116/4466 („Draft Memorandum for the Cabinet by the Secretary of State for Foreign Affairs“); FO 383/29 (Schreiben vom 4. März 1915).

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schiedet, um neuen (wahrgenommenen) Bedrohungslagen gerecht zu werden. So mussten Besitzer von Hotels und Pensionen ab 1915 alle Gäste über 14 Jahre verzeichnen. Im Fremdenverkehrssektor weitete sich die Dokumentation zur Übernachtung im Verlauf des Krieges zu einer umfassenden Registrierungspflicht aus. Auch hatten Ausländer einen Pass mit sich zu führen. Eine weitere Verordnung vom 15. September 1915 erlegte Seeleuten auf, in festgelegten Häfen anzulanden und sich dort jeweils registrieren zu lassen. Nach dem Besuch, zu dem Emily Hobhouse im Juni 1916 in Berlin empfangen worden war, untersagte eine Order in Council vom 7. November 1916 britischen Staatsbürgern, ohne offizielle Genehmigung in gegnerische Staaten einzureisen. Da auch der DORA wiederholt novelliert wurde, wuchs aber die Verwirrung unter den Polizisten, denen die Durchsetzung oblag. Die Verordnungen wurden deshalb von den lokalen Behörden unterschiedlich interpretiert und angewandt.51 Trotz der unmittelbar nach Kriegsbeginn verhafteten Spione begründeten die Notstandsgesetze und ihre Novellen eine Sicherheitskultur, die sich vor allem gegen „Fremde“ (aliens) richtete. Damit wurde nicht nur das Kriegsministerium, sondern auch die Position der Sicherheitsexperten im Special Branch und im Inlandsgeheimdienst gestärkt. Kells Stellvertreter, Eric Holt-Wilson (1875– 1950), hatte sogar direkt an der Vorbereitung der Gesetze mitgewirkt. Auch waren die Polizeistationen schon am 29. Juli vom Secret Service Bureau alarmiert und mit Listen verdächtiger Deutscher versorgt worden. Sicherheitsexperten wie Kell fürchteten aber weiterhin Sabotageakte. Obgleich sich Meldungen über angeblich geheime Lichtsignale nahezu ausschließlich als unbegründet erwiesen – so noch im Januar 1915 –, begründeten die Führungen von Polizei und Geheimdienst die unablässig geforderte Stärkung ihrer jeweiligen Institutionen weiterhin mit der Furcht vor Spionage und Verrat. Dabei konkurrierten sie um Macht und die Zuweisung öffentlicher Mittel. Unbeirrt von Einwänden, weiteten die Behörden, die für die öffentliche Ordnung zuständig waren, ihre Aktivitäten im Ersten Weltkrieg kontinuierlich aus.52 Die Kompetenzen der Ministerien, die für die Sicherheitspolitik zuständig waren, überschnitten sich dabei. Dazu trug auch die Vielzahl der Einrichtungen bei, die mit der Durchführung der Maßnahmen befasst waren. Die wichtigsten Organe der Sicherheitspolitik waren der Special Branch und das Secret Service Bureau, das 1914 in Special Intelligence Bureau umbenannt und als Abteilung M. O.5(g) dem Kriegsministerium zugeordnet wurde. Sie trafen auf eine Regierung unter Führung der Liberalen Partei, die unter Premierminister Asquith (bis 51 „Aliens Restrictions (Seamen) Order, 1915“, in: NA, FO 383/110. Vgl. auch James, Aliens, S. 221; Crangle / Baylen, Peace Mission, S. 740. 52 Allason, Branch, S. 38; Farrar, Threat, S. 94, 154, 219–221; Marwick, Deluge, S. 37 f.

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5. Dezember 1915) zunehmend gespalten war. Dabei verdrängte eine Gruppe von Liberalen um den Munitions- und Kriegsminister David Lloyd George (1863–1945) schrittweise Politiker, die weiterhin auf den Schutz individueller Freiheits- und Grundrechte gegenüber der staatlichen Exekutive drängten. Die Behörden hatten die restriktiven Maßnahmen gegen Feindstaatenangehörige jeweils mit dem Hinweis auf die öffentliche Ordnung und ihre Pflicht gerechtfertigt, die Sicherheit in Großbritannien zu gewährleisten. Angesichts der Furcht vor einer „fünften Kolonne“ von Feindstaatenangehörigen erhielten die Sicherheitsbehörden beträchtliche öffentliche Mittel, mit denen sie ihre Kompetenzen erheblich erweitern und ihre Macht enorm steigern konnten. Damit verbunden, erschlossen sie sich neue Aufgabenfelder. So dehnte sich die Kontrolle über Zivilisten, die den gegnerischen Nationen angehörten oder aus ihnen stammten, hinaus auf andere „innere Feinde“ aus, besonders britische Kriegsgegner.53 Damit ging eine institutionelle Differenzierung einher. So wurde die M. O.5 (seit 1916: MI5) schon im August 1914 in acht Sektionen geteilt, um den vielfältigen Aufgaben bei der Überwachung gerecht zu werden. Als Leiter der Sektion M. O.5 (g) war Kell verantwortlich für Spionageabwehr, Fremde und die Kontrolle des zivilen Verkehrs im Ausland. Am Ende des Ersten Weltkriegs verfügte der MI5 über Informationen zu 53.000 Feindstaatenangehörigen, weiteren 12.000 Frauen, die mit Ausländern verheiratet waren, und 34.500 Briten, die verdächtigt wurden, von Bürgern anderer Staaten abzustammen. Damit verknüpft, konnte Kell den Personalbestand seiner Behörde schon in den ersten vier Kriegsmonaten verdoppeln. 1915 wurden weitere 227 und im darauffolgenden Jahr nochmals 423 Mitarbeiter rekrutiert. Insgesamt schnellte die Zahl der Beschäftigten im Geheimdienst für Spionageabwehr in den Jahren von 1914 bis 1918 von vier Offizieren, drei Detektiven und sieben Büroangestellten auf insgesamt 850 Personen hoch. Der Special Branch wuchs von 114 (November 1914) auf 700 geheimdienstlich arbeitende Polizisten (1918). Der Jahresetat beider Organisationen zusammen erhöhte sich von 25.000 Pfund 1914 auf 200.000 Pfund 1918 enorm.54 Obgleich die Erfassung und Auswertung von Daten zur Bevölkerung (z. T. bereits mit Hilfe von Hollerith-Lochkarten) auch auf die Einführung der Sozialversicherung für Kranke und Alte ab 1908 zurückzuführen war, zielte die Expansion des Sicherheits- und Informationsstaates vorrangig auf die Kontrolle

53 Dazu ausführlich: Farrar, Threat, bes. S. 68, 85 f., 94, 117, 154. Überblick in: Gottfried Niedhart, Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert, München 1987, S. 162 f. 54 Angaben nach: Hiley, Counter-Espionage, S. 637, 642, 646 f.; Andrew, Secret Service, S. 181; ders., Defence of the Realm, S. 55, 84; Holmes, John Bull’s Island, S. 94; Altenhöner, Kommunikation, S. 43. Vgl. auch Pattinson, Twilight War, S. 71.

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der deutschen Minderheit. Zu diesem Zweck weitete Kells Security Service nach dem Kriegsbeginn die Überwachung von Ausländern nochmals erheblich aus. Der Sicherheitsdienst, der schon im August 1914 über eine Kartei zu 16.000 Personen verfügte, richtete eine Registratur ein, in der schließlich 43.000 Männer und 10.000 Frauen verzeichnet waren. Überdies wurden 12.000 britische Ehefrauen von Ausländern aufgenommen. Eine „Graue Liste“ enthielt zudem Angaben zu 34.500 Briten, die mit Feindstaatenangehörigen verwandt oder in Ländern geboren waren, gegen die Großbritannien Krieg führte. 38.000 Dossiers bezogen sich auf Personen, die verdächtigt wurden, für Englands Kriegsgegner zu arbeiten. Insgesamt enthielt die zentrale Registratur des MI5 schon 1917 rund 250.000 Karten und 27.000 Akten zu diversen Verdächtigten. Auch die fast 359.000 Briefe, die im Verlauf des Krieges von dieser Geheimdienststelle verschickt worden waren, dokumentieren das Ausmaß der Sicherheitsbürokratie. Darüber hinaus prüfte der Geheimdienst bis 1917 Angaben zu 86.000 Personen, die Pässe und Reisegenehmigungen beantragt oder sich um eine Anstellung in sicherheitsrelevanten Stellungen bemüht hatten. Am Ende des Krieges waren in der Kartei der Spionageabwehr alles in allem schließlich eine Million Namen erfasst. Eine „schwarze Liste“ von 13.524 besonders verdächtigen Personen umfasste 22 Bände.55 1917/18 verstärkten innenpolitische Unruhen, die vorrangig Angehörigen der Feindstaaten zugeschrieben wurden, die Ausweitung der Polizei- und Geheimdienstapparate. Da Erfolge auf dem Schlachtfeld ausblieben, wuchs auch in der Regierung die Furcht vor Subversion, so dass die Macht der Sicherheitsexperten nochmals zunahm. Schon im Juli und September 1915 hatten Feuer und Explosionen Fabriken zerstört, in denen Granaten produziert worden waren. Nicht nur die Polizeiführung, sondern auch der zuständige Minister Lloyd George führte diese Vorfälle in einer wichtigen Branche der Rüstungswirtschaft auf gezielte Sabotage zurück. Zugleich nahm in den Gewerkschaften der Widerstand gegen den Munitions of War Act zu, der Unternehmern erlaubte, qualifizierte Beschäftigte durch ungelernte Arbeiter zu ersetzen. Um die Unruhen zu ersticken und Störungen der Waffenproduktion zu unterbinden, richtete der Security Service im Februar 1916 im Munitionsministerium eine gesonderte Intelligence Division ein, die Fabrikanten im Hinblick auf die Sicherung der Produktion beriet. Aus ihr ging im Juni eine neue geheime Einrichtung, das P. M. S. 2 (Parliamentary Military Secretary Department, No. 2 Section) hervor. Weit über das Ziel, Sabotage zu verhindern, hinaus infiltrierte sie pazifistische Verbände, Gewerkschaften und die oppositionelle Arbeiterbewegung. So ermittelte der Ge55 Angaben nach: Hiley, Counter-Espionage, S. 646 f.; Andrew, Secret Service, S. 174; ders., Defence of the Realm, S. 59, 84 f.; Farrar, Threat, S. 95 f.; Pattinson, Twilight War, S. 72.

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heimdienst ab Juni 1916 gegen 5.246 Pazifisten. Vor allem sollten Streiks künftig unterdrückt werden. Dazu setzte das P. M. S. 2 sogar Agents Provocateurs ein. Dieses Verfahren wurde erst aufgegeben, nachdem Unterhausabgeordnete wie Ramsay MacDonald die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Praxis gelenkt hatten und auch im Munitionsministerium die Sorge vor einem Skandal gewachsen war.56 Der Furcht der britischen Eliten vor einem Umsturz hatte im Frühjahr 1917 der Beschluss einer Konferenz von Gewerkschaften und Sozialisten, nach dem Vorbild der Revolution in Russland auch in Großbritannien einen Arbeiter- und Soldatenrat zu bilden, kräftig Nahrung verliehen. Auch die Resolution einer Konferenz in Leeds im Juni 1917 beunruhigte die Regierung, besonders die führenden Vertreter des Sicherheitsapparates wie Thomson. Diese Akteure versuchten energisch, die revolutionären Aktivitäten einzudämmen. So erließ das Kriegskabinett 1917 den Military Service Act, der die Zwangsrekrutierung von in Großbritannien lebenden Russen erlaubte.57 Einen Antrag britischer Sozialisten, an einer Friedenskonferenz in Stockholm teilzunehmen, lehnte die Regierung ab. Das skandalöse Vorgehen des P. M. S. 2 und Thomsons ehrgeizige Pläne, einen umfassenden Sicherheitsapparat zu errichten, erzwangen aber letztlich die Auflösung des Parliamentary Military Secretary Department, dessen Kompetenzen daraufhin auf den Special Branch (zuständig für Streiks) und das Munitionsministerium (das die Sabotageabwehr übernahm) aufgeteilt wurden.58 Die Auflösung des P. M. S. 2 im Juni 1917 war aber ebenso auf das Misstrauen gegenüber den Ambitionen Thomsons zurückzuführen, den Special Branch zu einem zentralen nationalen Sicherheitsdienst aufzuwerten. Dieser Plan hatte Kells Argwohn geweckt und Kompetenzkonflikte zwischen dem Security Service und dem Special Branch verschärft, die bereits 1916 entstanden waren. Dazu hatten persönliche Auseinandersetzungen ebenso beigetragen wie Überschneidungen in der Zuteilung der Aufgabenbereiche der beiden Sicherheitsbehörden. Im Januar 1917 schlug Thomson dem Innenministerium mit Unterstützung des

56 Ebd. 57 Im Sommer 1917 schlossen die britische und die neue russische Regierung schließlich eine Militärkonvention, die Russen erlaubte, zwischen dem Wehrdienst für eines der beiden Länder zu wählen. Andernfalls konnten sie ausgewiesen werden. Vgl. Reinecke, Grenzen, S. 220. 58 David Englander / James Osborne, Jack, Tommy, and Henry Dubb: The Armed Forces and the Working Class, in: Historical Journal 21 (1978), S. 593–621; Hiley, Security, S. 396, 401–406, 410 f.; Andrew, Secret Service, S. 195–198; Cahalan, Belgian Refugee Relief, S. 378; Olmsted, Anticommunism, S. 92 f.; Millman, Dissent, S. 208 f., 212–216, 295; Englander, Police, S. 116– 119; Rothstein, Soldiers’ Strikes, S. 9. Beschönigend dagegen die Interpretation in: Stephen Ward, Intelligence Surveillance of British Ex-Servicemen, 1918–1920, in: Historical Journal 16 (1973), S. 179–188, bes. S. 179, 188.

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Direktors des Marinegeheimdienstes, Reginald Hall (1870–1943), sogar einen National Intelligence Service vor, der alle für die Sicherheit relevanten Behörden unter seiner Leitung vereinigen sollte. Obgleich er diese Forderung letztlich nicht durchsetzen konnte, traf sie im konservativen Establishment durchaus auf Resonanz. Angesichts der wachsenden Kriegsmüdigkeit, die sich im Mai 1917 in einer Resolution von 32 Unterhausabgeordneten der Liberalen Partei und der Labour Party für einen Friedensschluss niederschlug, waren auch aus der Sicht der Regierung außerordentliche Maßnahmen notwendig, um die „öffentliche Sicherheit“ zu gewährleisten. So nutzte Thomson nach der Oktoberrevolution in Russland die Furcht vor einem kommunistischen Umsturz, um die Arbeiterbewegung zu unterdrücken. Dazu verbreitete er den Vorwurf, dass britische Pazifisten und Sozialisten von den russischen Bolschewiki Gold erhalten hätten. Auch Kell ließ kommunistische Gruppen überwachen, nachdem seine Spionageabwehr schon 1915 den Communist Club in London durchsucht hatte. Im darauffolgenden Jahr waren 17 Mitglieder dieser Gruppe interniert worden.59 Obgleich die Leitung des Special Branch dem Wandel zu einer politischen Polizei skeptischer gegenüberstand als die mit ihnen rivalisierenden führenden Vertreter des Sicherheitsdienstes, gelang es Thomson, die Kompetenzen und Macht seiner Polizei im Konflikt mit dem Security Service erheblich zu erweitern. Dazu trug ein Streik von Polizisten in London, auf den Premierminister Lloyd George im August 1918 überaus alarmiert reagierte, maßgeblich bei. 1919 wurde Thomson schließlich zum Director of Intelligence ernannt, und ein Kabinettsausschuss beschloss, die finanziellen Mittel für den Special Branch kräftig zu erhöhen, der deutlich Züge einer politischen Polizei annahm. Obwohl eine Angleichung an kontinentale polizeistaatliche Entwicklungen in Großbritannien während des Ersten Weltkrieges unverkennbar war, wurde Kells Budget gekürzt. Damit setzte sich die Argumentation der Befürworter eines zentralen Inlandsgeheimdienstes, dass der Erste Weltkrieg die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung demonstriert habe, letztlich nicht gegen die Bedenken der Gegner durch. Die (z. T. konstruierten) freiheitlichen Traditionen Großbritanniens verhinderten hier eine kontinuierliche und nachhaltige Versicherheitlichung, für die Kell und Thomson aber weiterhin eintraten. Dabei unterstützte sie der einflussreiche Kolonialminister Walter Long (1854–1924), der schon während des Ersten Weltkrieges als Befürworter einer umfassenden Sicherheitspolitik hervorgetreten war. Wie er in einer Unterhausdebatte am 26. November 1914 argumentierte, sollte damit jegliches Risiko beseitigt werden: „… err on the side of too much

59 Andrew, Defence of the Realm, S. 81 f., 95, 97, 106 f. Zur Friedensresolution: Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015, S. 98.

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precaution, but do not err on the side of letting anybody live in any part of the country who is likely in any way to be able to aid our foes.“60 Wie dargelegt, wurde die grundsätzlich kaum zu bestreitende Forderung, im Krieg die Sicherheit der Nation zu gewährleisten, im Konkurrenzkampf der zuständigen Institutionen für partikulare Interessen genutzt. So stellte ein Bericht des MI5 1917 fest: „… many actions of the public, in peace perfectly permissible, must, in time of war, either be categorically prohibited or conditionally controlled by regulation in the public interest.“61 Dazu wurde auch die Postzensur massiv verstärkt, die im April 1915 eine neugegründete Abteilung im War Office, das MO9 (aus dem später das MI9 hervorging), übernahm. Sie erfasste allein 1917 rund 356.000 Briefe, die angeblich für den Feind nützliche Informationen enthielten und deshalb zumindest vorübergehend nicht ausgeliefert werden durften. Die Zahl der Mitarbeiter, die für die Kontrolle der Postsendungen zuständig waren, schnellte von Dezember 1914 bis zum Kriegsende von 170 auf 4.861 hoch.62 Auch der von Hall geleitete Marinegeheimdienst wurde im Ersten Weltkrieg zu einer wichtigen Regierungsinstitution, die nicht nur nach deutschen Spionen suchte, sondern auch „innere Feinde“ wie Sozialisten und Pazifisten überwachte. Alles in allem nahm der Stellenwert von Sicherheit als Politikfeld im Ersten Weltkrieg beträchtlich zu. Allerdings diente sie oft als Vorwand, wie der Hinweis von Behörden und fremdenfeindlichen Aktivisten auf ihre Pflicht zeigt, die zivilen Staatsangehörigen der „Mittelmächte“ zu internieren, um sie Angriffen zu entziehen.63 Insgesamt war auch in Großbritannien schon 1917 das Fundament für eine umfassende „Dolchstoß“-Legende im Fall einer Niederlage gelegt, obwohl die Sicherheitsdienste im Verlauf des Krieges lediglich 65 deutsche Agenten nach

60 Hansard, House of Commons Debates, Bd. 68, 26. November 1914 („Consolidated Fund [No. 1] Bill“), Sp. 1374, https://api.parliament.uk/historic-hansard/lords/1914/nov/26/consolidated-fund-no-1-bill (Zugriff am 6. Juni 2015). Hierzu und zum Folgenden auch: Nigel West (Hg.), The Guy Liddell Diaries, Bd. 1: 1939–1942. MI5’s Director of Counter-Espionage in World War II, London 2005, S. 1; Hiley, Counter-Espionage, S. 656–659; Andrew, Secret Service, S. 199, 229–231; ders., Defence of the Realm, S. 108 f.; Altenhöner, Kommunikation, S. 146– 148; Reimann, Krieg, S. 200. 61 Hiley, Counter-Espionage, S. 649. 62 Andrew, Secret Service, S. 177. 63 Terwey, Antisemitismus, S. 123–154; Hiley, Security, S. 397; Allason, Branch, S. 41; Curry, Security Service, S. 70 f.; Kathryn Olmsted, British and US Anticommunism Between the World Wars, in: Journal of Contemporary History 53 (2018), S. 89–108, hier: S. 89; Degroot, Blightly, S. 159. Angaben nach: Thurlow, Secret State, S. 49; Porter, Origins, S. 179 f.

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dem Aliens Restriction Act verurteilten.64 Angesichts der Angst vor einem Sieg der Kriegsgegner, aber auch im Kampf um Macht und Ressourcen ging der Secret Service keineswegs nur mehr gegen (eingebürgerte) Deutsche und Österreicher, sondern gegen alle Kräfte vor, die den zunehmend belastenden Krieg ablehnten. Streiks und der irische Osteraufstand vom April 1916 hatten die Furcht vor diesen „inneren Feinden“ verstärkt. Auch nach dem Rücktritt des liberalen Premierministers Asquith am 6. Dezember 1916 und der Bildung des Kriegskabinetts unter David Lloyd George zwei Tage später verdächtigten nationalistische Agitatoren sogar die politischen Eliten, mit einer zu nachgiebigen Politik gegenüber Iren, Pazifisten und den deutschen enemy aliens letztlich die Kriegsgegner zu begünstigen. Darüber hinaus richtete sich das Augenmerk auf „Kriegsgewinnler“ unter Unternehmern, die in der Rüstungswirtschaft hohe Gewinne erzielten. Diese Gefahren suchte der Sicherheitsapparat einzudämmen.65

Staatsinterventionismus und gesellschaftliche Selbstermächtigung Der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen war im Vereinigten Königreich im Ersten Weltkrieg durch staatliche Eingriffe „von oben“, aber auch durch gesellschaftliche Mobilisierung „von unten“ gekennzeichnet. Beide Prozesse waren wechselseitig aufeinander bezogen und miteinander verschränkt. Unter dem Druck des totalen Krieges wich der traditionelle Liberalismus, dessen Einfluss schon nach der Jahrhundertwende abgenommen hatte, vollends einem verstärkten Staatsinterventionismus, der die Macht der Regierung enorm stärkte. So bildete Lloyd George im Dezember 1916 ein Kriegskabinett, das neben ihm nur noch vier Minister umfasste. Außer den konservativen Politikern Andrew Bonar Law (1858–1923), Alfred Milner und Lord Curzon (1859–1925) vertrat Arthur Henderson (1863–1935) als Minister ohne Geschäftsbereich die Labour Party. Die Regierung bekräftigte ihre Entschlossenheit, den Krieg trotz aller militärischen Rückschläge bis zum Sieg weiterzuführen. Diesem Kabinett, das als Koordinationszentrale der Regierungspolitik über weitreichende Befugnisse verfügte, waren die verschiedenen Ministerien untergeordnet. In ihnen arbeiteten außer parteilosen Geschäftsleuten und Unternehmern zahlreiche Vertraute Milners, die anstrebten, den Parlamentarismus und die Auseinandersetzung zwischen Parteien zugunsten der von ihnen verherrlichten nationalen Einheit einzuschränken. Insgesamt wurden die exekutiven Kompetenzen der Regierung 64 Angabe nach: Andrew, Defence of the Realm, S. 75; Englander / Osborne, Jack, Tommy, and Henry Dubb, S. 602. 65 Reimann, Krieg, S. 199 f., 203.

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im Rahmen des Kriegskabinetts unter Lloyd George erheblich erweitert, denn für die Politik des Regierungschefs war das technokratische Ziel, die Effizienz der Kriegsanstrengungen zu stärken, geradezu konstitutiv. Der neue Premierminister zentralisierte deshalb die Entscheidungen. So stärkte das Kabinett seine Kontrolle über das Militär und – damit verbunden – die Kriegführung. Während sich eine autoritär herrschende Machtzentrale herausbildete, ging der Einfluss des Parlaments und der Parteien ab 1915 weiter zurück.66 Insgesamt wuchsen die staatlichen Interventionen in Wirtschaft und Gesellschaft, vor allem 1917, als noch mehr Waffen und Geld für den Abnutzungskrieg mobilisiert werden mussten und sich zugleich auch der politische Druck erhöhte, den Nachkriegsaufbau zu planen. Nachdem dazu schon 1916 Komitees eingerichtet worden waren, nahmen im darauffolgenden Jahr die neuen Ministerien für Schifffahrt, Arbeit und Nahrungsmittelversorgung ihre Arbeit auf. Nicht zuletzt um die Arbeiterschaft zu beruhigen und die Reformorientierung in der Labour Party zu stärken, wurde im Juli 1917 zudem ein Ministerium für Wiederaufbau etabliert, das von Christopher Addison (1869–1951), einem liberalen Abgeordneten und engen Vertrauten des Premierministers, geleitet wurde. Dieses Ministry of Reconstruction bereitete nicht nur die Demobilmachung der britischen Truppenverbände nach dem Ersten Weltkrieg vor, sondern entwickelte weitreichende sozialpolitische Konzeptionen. Diese Initiativen sollten 1918 in einem Schulgesetz, das die staatliche Finanzierung des Bildungssystems stärkte, im Housing Act von 1919 und im darauffolgenden Jahr in der Arbeitslosigkeitsversicherung kulminieren. Insgesamt öffnete die Regierung damit einen weit gespannten Erwartungshorizont, den Lloyd George im Wahlkampf Ende 1918 schließlich in dem Versprechen bündelte, ein „fit country fit for heroes to live in“ zu schaffen.67 Die Mobilisierung war aber nicht nur eine Folge der Regierungspolitik und des Staatsinterventionismus, sondern wurde auch von einer radikal populistischen Bewegung getragen. Dabei entfaltete der Kriegsnationalismus eine erhebliche Eigendynamik, die sich z. T. sogar gegen die Ziele der Regierung richtete. Nachdem die Behörden Anfang August 1914 ausdrücklich zu Wachsamkeit aufgerufen und angeordnet hatten, wehrfähige Deutsche festzunehmen, erwiesen 66 Cronin, Politics, S. 76. Zum Hintergrund: Robert J. Scally, The Origins of the Lloyd George Coalition, The Politics of Social Imperialism, 1900–1918, Princeton 1975. 67 Franz-Josef Brüggemeier, Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 124. Vgl. auch Kenneth O. Morgan, The Twentieth Century (1914–2000), in: ders. (Hg.), The Oxford History of Britain, Oxford 2001, S. 582–679, hier: S. 594 f.; Kenneth und Jane Morgan, Portrait of a Progressive: The Political Career of Christopher Viscount Addison, Oxford 1980; Kenneth O. Morgan, Consensus and Disunity. The Lloyd George Coalition Government 1918– 1922, Oxford 1979; Cronin, Politics, S. 67, 90.

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sie sich gegenüber der von ihnen ausgelösten Lawine von Meldungen als völlig überfordert. So erhielt allein die Polizei in London aus der Bevölkerung schon im ersten Kriegsmonat 8.000 und bis Mitte September 1914 fast 9.000 Hinweise auf vermeintliche deutsche Agenten.68 Fast alle dieser Meldungen erwiesen sich in den Untersuchungen als haltlos. Wie McKenna im Kabinett berichtete, war auch sechs Wochen nach Kriegsbeginn kein Fall von Verrat entdeckt worden. Vereinzelt hatten Polizisten lediglich einige Waffen bei Feindstaatenangehörigen gefunden. Obwohl der Innenminister mehrfach öffentlich versicherte, dass die Mehrheit der Deutschen die Sicherheit des Vereinigten Königreiches keineswegs gefährdete, waren Verschwörungsvorstellungen und wilde Gerüchte kaum zu kontrollieren. So schürten radikale Nationalisten die Angst, dass deutsche Saboteure das Wasser vergiftet hätten. Ebenso wie in anderen Staaten weckte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Großbritannien mächtige Emotionen, die sich bereits vor 1914 herausgebildet hatten und von der Regierung nur schwer eingedämmt werden konnten. Oft wurden sie sogar gezielt genutzt, um eine ausufernde Sicherheitspolitik durchzusetzen. So teilte der Polizeichef in London dem Innenministerium mit, dass die 4.500 Deutschen, die in der britischen Hauptstadt als „Reservisten“ verzeichnet worden waren, die öffentliche Sicherheit unterminierten, da sie bald arbeitslos und verarmen würden.69 Die gesellschaftliche Selbstermächtigung schritt im Herbst 1914 voran, als Berichte belgischer Flüchtlinge über die brutale Kriegführung der deutschen Truppen die Fremdenfeindlichkeit erneut steigerten. Clubs, Vereine und Verbände schlossen im Herbst 1914 deutsche und österreichische Mitglieder aus. So entschieden fünfzig Repräsentanten von Golfclubs, die sich im Oktober in London trafen, mit nur einer Gegenstimme, Deutsche und Österreicher zum Austritt zu zwingen. Diese Feindstaatenangehörigen wurden auch aus Handelskammern ausgeschlossen, und sie durften die Börse nicht mehr betreten. Unter dem Druck einer fremdenfeindlichen Pressekampagne entließen die Besitzer von Restaurants und Hotels außerdem deutsches Personal, besonders die pauschal als Spione beschuldigten Kellner. Nationalistische Zeitungen wie die Daily Mail, die 1914 eine Auflage von rund einer Million Exemplaren erzielte, schürten die Angst vor ausländischen Spionen und Saboteuren. Die fremdenfeindliche Agitation trug wenige Wochen nach Kriegsbeginn maßgeblich zu Übergriffen gegen Deutsche und ihr Eigentum bei, besonders in London. Die Ausschlüsse und Gewalt spiegelten die Polarisierung der „Heimatfront“ wider, zu der auch anglikanische Geistliche wie der Bischof von London, Arthur Foley Winnington68 Proctor, Intelligence, S. 38; Stevenson, 1914–1918, S. 328 f. 69 David (Hg.), Inside Asquith’s Cabinet, S. 191, 196; Barnett, Internment, S. 2–6.

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Ingram (1858–1946), mit ihren Predigten gegen die Deutschen kräftig beitrugen.70 Die Versenkung des Passagierdampfers Lusitania verlieh den Anhängern einer restriktiven Sicherheitspolitik im Allgemeinen und einer umfassenden Internierung im Besonderen enormen Auftrieb. Die Torpedierung des Schiffes am 7. Mai 1915 vor der Südküste Irlands durch ein deutsches U-Boot führte im Vereinigten Königreich und in anderen Ländern – besonders in den USA – zu heftigen diplomatischen Protesten. Das Schiff war innerhalb von 18 Minuten untergegangen. Der Angriff hatte 1.198 Menschen das Leben gekostet. Darunter waren 128 US-Bürger. Mit besonderer Empörung reagierten viele Amerikaner und Engländer auf den Tod zahlreicher Frauen und Kinder. So erklärte Lord Derby (1865–1948): „This country calls no longer for men to fight an honourable foe. It calls for men to hunt down and crush once and for all a race of cold-blooded murderers.“71 Der Untergang des Schiffes radikalisierte in Großbritannien auch die Fremdenfeindlichkeit und Kriegspropaganda. Der extrem nationalistische Publizist Horatio Bottomley (1860–1933), der seit 1906 die (1820 gegründete) Wochenzeitschrift John Bull herausgab, propagierte am 15. Mai 1915 sogar offen eine „vendetta against every German in Britain whether ‚naturalised‘ or not.“ Er unterlegte seine Forderung mit einem radikalen Feindbild: „…you cannot naturalise an unnatural beast – a human abortion – a hellish freak. But you can exterminate it.“ Demgegenüber beriefen sich die Liberalen auf „britische Tugenden“ wie „Fairness“, um deren Bewahrung sie den Krieg führten. Der Herausgeber der Daily News, Alfred George Gardiner (1865–1946), distanzierte sich sogar von der Bezeichnung „enemy alien“, die er in seiner Tageszeitung in Anführungszeichen setzen ließ.72 Verstärkt durch die Sensationspresse, verbreiteten sich dennoch Gerüchte über „Verrat“ durch „innere Feinde“, zu denen besonders die in Großbritannien lebenden Deutschen gerechnet wurden. So forderte der Dramatiker Sir Arthur Pinero (1855–1934) in der Times eingebürgerte Deutsche auf, sich zum briti70 Panikos Panayi, Anti-German Riots in London during the First World War, in: German History 7 (1989), S. 184–203, hier: S. 186–189; ders., Immigration, S. 110, 112; ders., Destruction, S. 124; ders, Lancashire Anti-German Riots, S. 4, 7 f.; Müller, Tod, S. 186, 189 f.; Barnett, Internment, S. 7 f. Angabe zur Auflage nach: McEwen, National Press, S. 466. 71 Zitat nach: Panayi, Lancashire Anti-German Riots, S. 7. Geringfügig andere Angaben zur Opferzahl in: Berghahn, Der Erste Weltkrieg, S. 47. Zum Untergang der Lusitania ausführlich, aber ohne Hinweise zu den Folgen für Feindstaatenangehörige: Willi Jasper, Lusitania. Kulturgeschichte einer Katastrophe, Berlin 2015, bes. S. 55–92. 72 Vgl. Page, War, S. 10, 22; Endelman, Jews, S. 184; Pitzer, Night, S. 91; Reinecke, Grenzen, S. 217. Aus zeitgenössischer Sicht: David (Hg.), Inside Asquith’s Cabinet, S. 241.

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schen König Georg V. (1865–1936) zu bekennen. Sogar prominente Personen wie der Mediziner Sir Felix Semon (1849–1921) sahen sich daraufhin gezwungen, öffentlich ihre Unterstützung der britischen Kriegsführung zu erklären. Auch naturalisierte Deutsche wie die Bankiers Ernest Cassel (1852–1921), der 1869 nach England gekommen war, und Bruno Schröder (1867–1940), dessen Vorfahren 1818 in London ein Finanzinstitut für Kaufleute gegründet hatten, wurden der Illoyalität verdächtigt. Darüber hinaus beschuldigten die radikalen Nationalisten den 1862 als Sohn deutsch-jüdischer Eltern in New York geborenen Edgar Speyer (1862–1932), für Deutschland zu arbeiten. Obgleich der Bankier und Mäzen im November 1914 378.000 Pfund für die britische Kriegsanleihe gespendet hatte, wurde Speyer zum Sündenbock für die Kriegspolitik des Premierministers Asquith, mit dem er persönliche Kontakte unterhielt. Radikal nationalistische Konservative skandalisierten diese Beziehungen, als sie Anfang 1915 die Kriegspolitik der britischen Regierung als zu zurückhaltend kritisierten. Im New Witness forderte dessen Herausgeber Cecil Chesterton (1879–1918) im Januar 1915 sogar, Speyer und andere deutsche Juden in ein „Konzentrationslager“ einzuliefern. Auch nachdem er am 20. Mai in der Times seine Loyalität gegenüber Großbritannien bekräftigt hatte, wurde Speyer weiterhin der Verschwörung beschuldigt. In diesem Sinne interpretierten seine Gegner sogar sein Angebot an Asquith, als Berater des Königs zurückzutreten und auch seine anderen öffentlichen Ämter aufzugeben. Vor allem die Anti-Socialist Union, legte dies als Undankbarkeit aus und agitierte weiter gegen den Bankier. Im August 1918 mündete die Kampagne, die letztlich Asquith als Gefahr für die Sicherheit Großbritanniens brandmarken sollte und mit Denunziationen seiner Frau einherging, in einen Antrag des Oberhauses zur Ausbürgerung Speyers.73 In der Agitation verband sich die Feindschaft gegen Deutsche mit Antisemitismus. Nach der Versenkung der Lusitania entlud sich die aufgepeitschte Empörung in gewalttätigen Angriffen auf enemy aliens. In ganz Großbritannien kam es unmittelbar nach der Bekanntgabe des Untergangs am 8. Mai zu Ausschreitungen gegen Deutsche. Die Übergriffe begannen in Liverpool – dem Heimathafen des torpedierten Schiffes – und in Bradford (Yorkshire). Hier zerstörten Demonstranten rund 200 Geschäfte, die (tatsächlich oder vermeintlich) Deutschen gehörten. Die Ansprüche auf Schadenersatz beliefen sich auf 40.000 Pfund. In Lancashire breiteten sich Unruhen rasch auf Manchester und Salford

73 Antony Lentin, Banker, Traitor, Scapegoat, Spy? The Troublesome Case of Sir Edgar Speyer: An Episode of the Great War, London 2013, S. 39 f., 50 (Zitat), 63, 95-148-152, 166; Panayi, Business Interests, S. 244; Caglioti, Subjects, S. 522; Holmes, Anti-Semitism, S. 123; Panayi, Immigration, S. 117; ders., Destruction, S. 122. Zu den substanzlosen Denunziationen z. B. der Brief vom 17. Juli 1916 in: NA, HO 45/10756/267450.

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aus. Dabei wurden über die Liegenschaften von Deutschen hinaus auch Gebäude beschädigt, die anderen nationalen Minderheiten wie Italienern, Russen und Chinesen gehörten. Vergeblich versuchte die Polizei, diese Eigendynamik der Zerstörungen zu unterbinden. Auch die Urteile von Gerichten, die besonders Übergriffe auf das Eigentum von Angehörigen der Entente-Mächte hart bestraften, schreckten zunächst kaum ab. Die Ausschreitungen, an denen unterschiedliche soziale Schichten und offenbar viele Frauen beteiligt waren, hatten die Versenkung der Lusitania zwar ausgelöst; ihr war aber von der vorangegangenen, langjährigen Propaganda gegen die Deutschen der Boden bereitet worden. Die Verarmung im Krieg spielte demgegenüber offenbar eine untergeordnete Rolle, da die Arbeiterschaft ein erhebliches Lohnwachstum erreichte, das die Steigerung der Lebenshaltungskosten im Allgemeinen übertraf.74 In London, wo die Polizei 866 Personen verhaftete, belief sich der Schaden an 2.000 Gebäuden auf insgesamt 200.000 Pfund. Hier wurden 1.100 Fälle von Sachbeschädigungen und 250 verletzte Personen registriert. Besonders im East End richtete sich die Gewalt auch gegen Geschäfte und Häuser von Juden. Insgesamt verwüsteten die Demonstranten und Marodeure, unter denen jüngere, oft wenig qualifizierte Briten überproportional stark vertreten waren, in London am 11. Mai 1915 allein 65 Geschäfte, obgleich 200 Polizisten eingesetzt waren. Bei den Ausschreitungen wurden oft auch persönliche Rechnungen beglichen. Ebenso zerstörten marodierende Gruppen in vielen anderen Großstädten wie Manchester und Sheffield Wohnhäuser und Läden, deren Eigentümer deutsche Namen trugen.75 In Schottland waren Glasgow und Dumfries besonders von den Ausschreitungen betroffen. Auch hier trugen lokale Dynamiken zu den gewalttätigen Übergriffen maßgeblich bei, indem beispielsweise Kriegserfahrungen in besonderer Weise vermittelt wurden. Die schottischen Zeitungen waren aber deutlich weniger nationalistisch und konservativ ausgerichtet als in England. Die Presseorgane verbreiteten zwar auch Sicherheitsängste, aber keine extremen Bedrohungsszenarien. Die Gewalt gegen Geschäfte im Mai 1915 in kleineren Städten wie Greenock, Annan und Dumfries war deshalb vorrangig auf die Entschlossenheit der Täter zurückzuführen, die wirtschaftliche Konkurrenz deutscher Ladenbesitzer auszuschalten. An den Übergriffen beteiligten sich überwiegend junge Männer. Offenbar wirkten sich generationelle Prägungen und Erfahrun-

74 Panayi, Enemy, S. 229–253; ders., Business Interests, S. 249; ders., Lancashire Anti-German Riots, S. 4 f., 7–10; ders., Anti-German Riots in London, S. 189–199; Pitzer, Night, S. 91. 75 Englander, Police, S. 106–111; Manz, Migranten, S. 242–244. Vgl. auch Altenhöner, Kommunikation, S. 197. Als frühe Studie: C. C. Aronsfeld, Jewish Enemy Aliens in London During the First World War, in: Jewish Social Studies 18 (1956), S. 275–283.

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gen aus. Nicht zuletzt waren in Schottland besonders Regionen und Gemeinden betroffen, deren Bewohner in den Kämpfen an der Front viele Angehörige verloren hatten. Die Einheiten der hier rekrutierten Soldaten hatten im Frühjahr 1915 besonders hohe Verluste erlitten.76 Den Ausschreitungen, die sogar kleinere Orte wie Walton-on-Thames und Castleford erfassten, war vielerorts eine fremdenfeindliche Agitation von „Angstunternehmern“ wie den radikalen Nationalisten und eine Pressekampagne gegen die enemy aliens unmittelbar vorangegangen. Dazu hatten auch radikal nationalistische Unterhausabgeordnete mit Hetzreden gegen Feindstaatenangehörige beigetragen. Die Ausschreitungen gründeten damit auf einer aggressiven „Bedrohungskommunikation“, die fremdenfeindlichen Ressentiments kräftig Auftrieb verlieh. Letztlich wurde damit nicht mehr zwischen Angst, Furcht und Risiko unterschieden.77 In den Unruhen, zu denen auch der Protest gegen Versorgungsmängel beitrug, wurden die Deutschen pauschal als Sicherheitsrisiko denunziert, obwohl viele von ihnen öffentlich ihre Loyalität gegenüber dem Vereinigten Königreich erklärt hatten, auch in Leserbriefen an die Times. Radikale Nationalisten verlangten dennoch, die Minderheit unterschiedslos auszuweisen oder sie in einem concentration camp festzusetzen. In einigen Städten – so in Glasgow am 12. Mai – wurden Deutsche in großen Menschenaufläufen unter militärischer Bewachung abgeführt und in Lager gebracht, noch bevor die Regierung die erweiterte Internierung beschlossen hatte. Um Schadenbegrenzung bemüht, stellte das Kabinett die Aktivitäten der Geheimdienste und Polizeikräfte öffentlich heraus, um ihre Politik gegenüber radikal konservativen Politikern und Presseorganen zu rechtfertigen, die unablässig fremdenfeindliche Ressentiments schürten. Zugleich beschuldigten Politiker – darunter auch Premierminister Asquith – die Presse, die Bevölkerung mit ihrer fremdenfeindlichen Sensationsberichterstattung aufgewiegelt zu haben. Obgleich die Behörden der Kontrolle von Gerüchten – und damit der Zensur öffentlicher Kommunikation – einen geringeren Stellenwert zumaßen als im Deutschen Kaiserreich, weitete sich die staatliche

76 Macdonald, May 1915, S. 161. Mit anklagender Absicht: Behandlung der feindlichen Zivilpersonen, bes. S. 50. 77 French, Spy Fever, S. 369 f.; Englander, Police, S. 106; Searle, A New England?, S. 771; Millman, Dissent, S. 37; Endelman, Jews, S. 184; FRUS, 1915, Supplement, S. 385. Angaben nach: Panayi, Immigration, S. 124; ders., Destruction, S. 128; ders., Business Interests, S. 249; ders., Fremdenfeindlichkeit, S. 83; Macdonald, May 1915, S. 145. Zu den hier genutzten analytischen Kategorien: Schirmer, Bedrohungskommunikation, bes. S. 83, 89; Greiner, Angstunternehmer, S. 29.

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Überwachung des gesellschaftlichen Lebens auch im Vereinigten Königreich deutlich aus.78 Verstärkt durch die ersten Angriffe deutscher Truppen mit Giftgas bei Ypern, die Attacken von Zeppelin-Luftschiffen auf britische Städte und die ersten Rückschläge in der Schlacht auf der türkischen Halbinsel Gallipoli, wuchsen im Vereinigten Königreich im Frühjahr 1915 damit Sicherheitsängste, die freilich von radikalen Nationalisten und Konservativen gezielt geschürt wurden, um die liberale Regierung zum Rücktritt zu zwingen. So geriet das Kabinett im April in die Defensive, als Nachrichten über die Misshandlung von Briten, die in Deutschland im Lager Ruhleben (bei Berlin) interniert worden waren, in der Presse erschienen und im Unterhaus diskutiert wurden. Die Informationen verliehen dem Ruf radikaler Konservativer nach einer Unterdrückung der Feindstaatenangehörigen im Namen der Sicherheit kräftig Auftrieb. Einen entscheidenden Durchbruch erzielten sie aber erst nach dem Scheitern einer schnellen Landung auf der Halbinsel Gallipoli und der Versenkung der Lusitania im Frühjahr 1915.79 Auch Nachrichten über sinnlose Zerstörungen in Belgien und Nordfrankreich heizten die Propaganda gegen die „Hunnen“ an. Nahezu alle Zeitungen und Zeitschriften trugen zu der Agitation bei. So prangerte die Evening News ab 13. Mai in einer Serie „The Horrible Hun“ (so der Titel) die Deutschen als Bestien an. Die Zeitung forderte ihre Leserschaft auf, Artikel über enemy aliens auszuschneiden und aufzubewahren. Sie warnte die Regierung sogar offen vor einer rechtspopulistischen Mobilisierung, falls das Kabinett nicht selber gegen die Deutschen vorgehen sollte. Nachdem die Masseninternierung begonnen hatte, jubelte Bottomley: „To concentration camps – we had almost said something stronger – with the lot of them.“80 Demgegenüber protestierten die Regierung

78 Zitat: Müller, Recht, S. 386. Vgl. auch Adrian Gregory, The Last Great War. British Society and the First World War, Cambridge 2008, S. 46; Holmes, Anti-Semitism, S. 124; Yarrow, Impact, S. 104; Altenhöner, Kommunikation, S. 88, 145 f.; Manz, Internment, S. 94; Bird, Control, S. 106, S. 113, S. 124; Panayi, Act, S. 58 f.; Deacon, British Secret Service, S. 167, 173–175; Englander, Police, S. 110. Zu den Verhaftungen in Glasgow: Manz, Migranten, S. 278. 79 Hierzu und zum Folgenden: Arnd Bauerkämper, Zivilgesellschaften im Ersten Weltkrieg. Das Verhältnis von Sicherheit und Menschenrechten am Beispiel des Umgangs mit zivilen Feindstaatenangehörigen, in: Thier / Schwab (Hg.), 1914, Zürich 2018, S. 131–171, hier: S. 141 f.; Panayi, Enemy, S. 76–78; Spiropoulus, Ausweisung, S. 77 f.; Yarrow, Impact, S. 99; French, Spy Fever, S. 370; Manz, „Enemy Aliens“, S. 122; Lentin, Banker, S. 54–60. Als enemy alien galt in Großbritannien offiziell eine Person, „whose sovereign or State is at war with His Majesty the King.“ Vgl. Garner, International Law, Bd. 1, S. 61. 80 John Bull, 22. Mai 1915, zit. nach: Später, Vansittart, S. 43.

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der „Mittelmächte“ – so die deutsche Reichsleitung – am 25. Mai 1915 scharf gegen die pauschale Gefangennahme aller wehrfähigen Männer.81 Alles in allem schrumpften zivilgesellschaftliche Räume 1915 nochmals erheblich zugunsten der Kriegskultur, die maßgeblich auf der Verbreitung radikaler Feindbilder beruhte. Zu der zusehends feindseligen Stimmung gegen Angehörige gegnerischer Staaten trugen staatliche Institutionen wie das schon am 6. August 1914 eingerichtete War Propaganda Bureau unter dem liberalen Journalisten und Politiker Charles Masterman (1873–1927) kräftig bei. Über ein Pressebüro leitete die Regierung fünfzig Herausgebern von Presseorganen vertraulich Informationen zu. 1917 wurde auch das Department of Information (aus dem 1918 das Ministry of Information hervorging) gegründet, das die Zensur koordinierte. Alle diese Einrichtungen drängten Intellektuelle und Schriftsteller wie Thomas Hardy (1840–1928), Herbert George Wells (1866–1946) und Rudyard Kipling (1865–1936), öffentlich für ihr Land Partei zu ergreifen.82 1916 steigerten der Rückgang der Freiwilligenmeldungen für die Armee, die gescheiterte Offensive an der Somme und der Tod des populären Marineministers Lord Kitchener, der am 5. Juni 1916 auf dem von einer Mine versenkten Kreuzer „Hampshire“ starb, die Furcht vor einem Verlust des Krieges. Zudem hatte die Kriegsmarine in der Seeschlacht im Skagerrak erhebliche Verluste erlitten. Angesichts dieser Rückschläge schwoll die Agitation gegen die enemy aliens im Sommer 1916 erneut an. Im Oberhaus verlangten die Lords Meath (1841– 1929) und Beresford (1846–1919) am 29. Juni erneut die Internierung aller Feindstaatenangehörigen und die Rücknahme der Einbürgerung von Personen, die in gegnerischen Staaten geboren waren und unter den radikalen Kriegsbefürwortern als illoyal galten. Diese Forderung erhoben in einer Debatte im Unterhaus auch radikal konservative Abgeordnete wie William Joynson-Hicks (1865–1932) und Richard Cooper (1874–1946), der die Deutschen ebenso wie andere Mitglieder des Unterhauses als „Hunnen“ bezeichnete, verbreitete im House of Commons darüber hinaus Verschwörungsvorstellungen, indem sie Presseberichte über eine „unsichtbare Hand“ aufgriffen. Zudem setzte sich Joynson-Hicks für die Zensur der Post humanitärer Hilfsorganisationen ein, die außerdem Internierungslager grundsätzlich nicht mehr besuchen sollten. Besonders in London kam es vor diesem Hintergrund erneut zu gewalttätigen Übergriffen gegen Deutsche. Dabei forderten Demonstranten vor allem in den Stadtteilen Islington, Acton und Tooting, sogar 81 NA, FO 383/30 (Schreiben vom 25. Mai 1915). 82 Panayi, Destruction, S. 115; Macdonald, May 1915, S. 151, 163; Stevenson, 1914–1918, S. 329 f. Zur britischen Kriegspropaganda umfassend: Cate Haste, Keep the Home Fires Burning. Propaganda in the First World War, London 1977, S. 79–107.

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Frauen und Kinder zu internieren. Hier wurden auch zahlreiche Läden, deren Besitzer bloß deutsche Namen trugen, schwer beschädigt oder zerstört. Während die Lokalzeitungen in ihrer Berichterstattung gelegentlich Sympathie mit den Opfern ausdrückten, heizte die nationale Presse die Stimmung gegen die enemy aliens weiter an.83 Jedoch trat Innenminister Herbert Samuel (1870–1963) weiterhin für einen differenzierten Umgang mit Feindstaatenangehörigen ein. Auch der liberale Abgeordnete George Lambert (1866–1958), Schatzkanzler McKenna und der Parlamentsabgeordnete Philip Snowden (1864–1937), der auf dem linken Flügel der Labour Party dem Krieg kritisch gegenüberstand, verteidigten die Rede- und Versammlungsfreiheit ebenso wie das Recht auf Wehrdienstverweigerung. Noch offensiver argumentierend, setzte Ramsay MacDonald dem Ruf nach „nationaler Sicherheit“ sogar die „nationale Ehre“ Großbritannien entgegen, die eine faire Behandlung auch der enemy aliens erfordere. Ebenso bezeichnete Arthur Ponsonby die pauschale Stigmatisierung aller Feindstaatenangehörige als illoyale Betrüger als „Schande“.84 Als die deutsche Militärführung den Luftkrieg gegen Großbritannien 1917 verstärkte, wuchsen erneut die ohnehin schon weitverbreiteten Sicherheitsängste und Verschwörungsvorstellungen, die sich gegen „innere Feinde“ – Deutsche, Österreicher und Juden, nunmehr aber noch massiver auch gegen britische Sozialisten und Gewerkschaftler – richteten. Am 7. Juli 1917 töteten Zeppelinangriffe auf London hier 57 Bewohner; 193 wurden verletzt. Anschließend wurden nochmals deutsche Zivilisten und ihr Eigentum attackiert, besonders im Norden Londons. Die Polizei intervenierte zwar, konnte sich aber wiederum nicht überall durchsetzen. Zudem traf das entschlossene Vorgehen der Ordnungskräfte und der Gerichte, die oft harte Strafen verhängten, bei den gewalttätigen Demonstranten auf Widerstand.85 In Schottland hatten Luftangriffe bereits seit Anfang April 1917 zu einer fast vollständigen Verdrängung der Deutschen aus dem öffentlichen Leben geführt. Dazu war in Glasgow vor allem von Geschäftsleuten die Anti-Alien Movement gegründet worden, die auch von Politikern wie dem ehemaligen Parlamentsab-

83 Panayi, Anti-German Riots in London, S. 199; ders., Enemy, S. 253 f.; Kewley Draskau, „Heimat“, S. 88. 84 Hansard, House of Lords Debates, Bd. 22, 29. Juni 1916, Sp. 462–480 („Uninterned Enemy Aliens“), http://hansard.millbanksytems.com/lords/1916/jun/29/uninterned-enemy-aliens; Zugriff am 14. Januar 2016); Hansard, House of Commons Debates, Bd. 83, 29. Juni 1916, Sp. 1047– 1175 („Internment of Aliens“), http://hansard.millbanksytems.com/commons/1916/jun/29/internment-of-aliens; Zugriff am 14. Januar 2016). 85 Panayi, Enemy, S. 254–256; ders., Anti-German Riots in London, S. 200 f.

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geordneten James Parker Smith (1854–1929) unterstützt wurde. Dieser forderte im Juni 1916 auf einer Kundgebung, alle Deutschen zu entfernen, um damit die Freiheit und Sicherheit der Briten zu schützen. Nach Auffassung des Lokalpolitikers rechtfertigte dieses Ziel auch eine weitere Einschränkung der Freiheit von enemy aliens.86

Die Agitation von Schriftstellern, Publizisten und nationalistischen Verbänden gegen „innere Feinde“ Die Verschwörungsvorstellungen und die damit verbundenen fremdenfeindlichen Übergriffe leiteten im Ersten Weltkrieg den Hass vieler Briten auf Feindstaatenangehörige und andere Minderheiten ab, welche die Sicherheit des Vereinigten Königreiches vermeintlich gefährdeten. So schrieben Emmeline und Christabel Pankhurst, die vor 1914 für das Wahlrecht von Frauen eingetreten waren, allen Deutschen pauschal eine Neigung zu extremer Gewalt zu. Auch Literaten befeuerten die fremdenfeindliche gesellschaftliche Mobilisierung. So behauptete der Schriftsteller Kirton Varley, dass eine „Camorra“ Großbritannien zersetze, und er verbreitete 1917 in seinem Buch „The Unseen Hand“ beispielhaft die Angst vor einer Konspiration. Er erklärte: „There can be no doubt that the UNSEEN HAND had penetrated the financial world as completely as it had penetrated the political world, and that they had learnt to pull the financial strings as skillfully as the political strings.“87 Auch andere radikal nationalistische und fremdenfeindliche Schriftsteller und Journalisten nutzten bestehende Sicherheitsängste gezielt für ihre fremdenfeindliche Kampagne. Damit verstärkten sie die Ängste, die auch Le Queux in seinem Buch German Spies in England: An Exposure schürte. Nach der Veröffentlichung des Traktats im Februar 1915 wurden in einer Woche rund 40.000 Exemplare verkauft. Wegen der enormen Nachfrage mussten innerhalb von 18 Tagen sechs Auflagen gedruckt werden.88 Der Schriftsteller H. G. Wells bezeichnete 1917 sogar König George V. öffentlich als Ausländer. Das Königshaus benannte sich daraufhin im Juli von „Sachsen-Coburg und Gotha“ in „Windsor“

86 Manz, Migranten, S. 234, 244 f., 249, 289. 87 Kirton Varley, The Unseen Hand, London 1917, S. 75 f. (Blockschrift im Original). Vgl. auch Panayi, ‚The Hidden Hand‘, S. 262–264; Panayi, Enemy, S. 172 f.; Searle, A New England?, S. 772. 88 Altenhöner, Kommunikation, S. 197; Cahalan, Belgian Refugee Relief, S. 397. Zum Buch German Spies in England: Lentin, Banker, S. 49; Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 81.

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um. Battenberg nahm den Namen „Mountbatten“ an. Auch deutsche Juden wechselten ihre Namen, um Angriffen und Gewalt zu entgegen.89 Nach der Oktoberrevolution in Russland verbreiteten sich verstärkt Verschwörungsvorstellungen, die sich vorrangig gegen Deutsche und Juden richteten. Die Behauptung einer weitreichenden Konspiration lud der entstehende Antibolschewismus kräftig auf. Noch im Januar 1918 erregte der Journalist und Parlamentsabgeordnete Noel Pemberton Billing (1881–1948) erhebliches Aufsehen, als er in seiner Wochenzeitung, dem Imperialist, auf ein „Schwarzbuch“ (Black Book) hinwies. In ihm waren angeblich 47.000 Engländer verzeichnet, die für Deutschland spionierten. Nach Pemberton Billing hatten sie Aufführungen von Oscar Wildes (1854–1900) verbotenem Drama „Salome“ besucht, so dass sie erpressbar geworden waren. Er nannte auch einzelne Personen und bezichtigte in einem Verleumdungsverfahren, das die Tänzerin Maud Allan (1873– 1956) gegen ihn beantragt hatte, im Mai 1918 sogar die Ehefrau des früheren Premierministers Asquith und den vorsitzenden Richter der Spionage. Dieser wurde damit für das Kriegskabinett zu einer Belastung. Liberale warnten vor den zerstörerischen Wirkungen dieser Diffamierungskampagne und den Gerüchten über Verrat. Dabei hoben sie hervor, dass Pemberton Billing selber mit der Tochter eines Deutschen verheiratet war. Die Kritiker der grassierenden Fremdenfeindlichkeit und der damit verbundenen ausufernden staatlichen Sicherheitspolitik konnten ihre Einwände zwar in Zeitungen veröffentlichen, da das Recht auf freie Meinungsäußerung in Großbritannien – im Gegensatz zu Frankreich und Deutschland – grundsätzlich nicht angetastet wurde. Dennoch steigerte das Aufsehen erregende Verfahren gegen Pemberton Billing nochmals eine Fremdenfeindlichkeit, in der sexuelle Assoziationen und Vorurteile gegenüber Frauen den Diskurs um die öffentliche Sicherheit moralisch aufluden.90 Militanz prägte auch die Debatte über die Staatsangehörigkeit, Einwanderung und Einbürgerung. Antisemitische und deutschfeindliche Journalisten wie Maxse und Howell Arthur Gwynne (1865–1950) traten für die Internierung bzw. Ausweisung eingebürgerter Deutscher ein, besonders in ihren nationalistischen und fremdenfeindlichen Presseorganen Morning Post bzw. dem National Review. Ebenso propagierten die Zeitschrift John Bull und die Daily Mail, die sich im Gegensatz zum National Review an eine breite Leserschaft richteten, den 89 Matthias Heine, Letzter Schulalltag im Kaiser-Wilhelmsland. Wie der Erste Weltkrieg die deutsche Sprache für immer veränderte, Hamburg 2018, S. 34–36; Endelman, Jews, S. 184. 90 Searle, Corruption, S. 255–268; ders., A New England?, S. 774 f.; Proctor, Intelligence, S. 39– 42; Panayi, ‚The Hidden Hand‘, S. 264–267; ders., Enemy, S. 178–180. Vgl. auch Lentin, Banker, S. 74; Manz, Migranten, S. 241 f.; Allason, Branch, S. 39; Haste, Home Fires, S. 108–125, 130 f.; Müller, Recht, S. 392; Andrew, Secret Service, S. 188–190; Altenhöner, Kommunikation, S. 284– 286.

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Kampf gegen die deutschen „Feinde“.91 Hinzu trat 1911 der Eye-Witness (Ende 1912 umbenannt in New Witness), der den Brüdern Cecil und Gilbert Keith Chesterton (1874–1936) ebenso wie Hilaire Belloc als Sprachrohr ihrer reaktionären, fremdenfeindlichen und antisemitischen Ideologie diente. Aber auch sozialistisch orientierte Schriftsteller wie George Bernhard Shaw (1856–1950) und Herbert G. Wells lehnten Juden ab, wenngleich vorrangig als Repräsentanten des Kapitalismus. Nicht zuletzt trugen populäre Militärromane wie die von William Le Queux und Captain R. W. Campbell verfassten Bücher zu der fremdenfeindlichen Spionagehysterie bei.92 Unter den radikalen Nationalisten wurden Fremdenfeindlichkeit und Antibolschewismus ein geradezu pathologisches Syndrom. Der letzte, zunächst erfolgreiche Vorstoß deutscher Truppen an der Marne vom März bis Juli 1918 verlieh den Sicherheitsängsten, die gezielt ausgenutzt wurden, nochmals Auftrieb. Radikal nationalistische und antisemitische Agitatoren wie die Journalisten Arnold White (1848–1925) und Ellis Powell (Financial Times, 1869–1922) denunzierten ebenso wie der Arzt John Henry Clarke (1853–1931) alle – weit definierten – Kriegsgegner als subversive Kräfte. Den Mythos einer hidden hand verbreiteten auch konservative Parlamentsabgeordnete wie Joynson-Hicks, Cooper und Henry Dalziel (1868–1935). Als verdeckt arbeitende „Feinde“ galten sogar eingebürgerte Deutsche, deren Namen und Anschriften der John Bull im Juli 1918 veröffentlichte. Damit suchte Horatio Bottomley, der mit der Zeitschrift im letzten Kriegsjahr eine Auflage von fast zwei Millionen Exemplaren erzielte, die Sicherheitsängste der Bevölkerung zu mobilisieren und sie gegen alle Fremden aufzuwiegeln.93 Diese Angriffe vermittelten soziale Anerkennung und die Illusion, an der Heimatfront für den Sieg der Nation zu kämpfen. Mit Attacken gegen Minderheiten und Kriegsgegner, vor allem aber Feindstaatenangehörige konnten Briten ihre Kampf- und Opferbereitschaft demonstrieren, auch wenn sie selber nicht an der Front eingesetzt waren oder in der Rüstungswirtschaft für die Kriegsan91 McEwen, National Press, S. 476, 482 f. 92 Vgl. Searle, Corruption, S. 117–119; Townshend, Peace, S. 61; Holmes, Anti-Semitism, S. 125; Manz, Migranten, S. 236–240; Panayi, Destruction, S. 125. 93 Vgl. John Henry Clarke, England Under the Heel of the Jew. A Tale of Two Books, London 1918. Dazu: Panikos Panayi, ‚The Hidden Hand‘: British Myths About German Control of Britain During the First World War, in: Immigrants and Minorities 7 (1988), S. 253–272, hier: S. 261– 265; ders., Enemy, S. 162–175; ders., Immigration, S. 117; ders., Destruction, S. 127; ders., Fremdenfeindlichkeit, S. 85; Searle, Corruption, S. 20, 41, 50, 98, 103, 109, 117–119, 137, 248, 256, 264 f.; ders., A New England?, S. 772; Endelman, Jews, S. 184; Lentin, Banker, S. 78, 151. Zum Luftkrieg und zu den Auswirkungen der Angriffe deutscher Zeppeline: Niklas Napp, Die deutschen Luftstreitkräfte im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2017, S. 243–255; Castle, Fire, S. 56–63, 109–111. Angabe zur Auflage nach: McEwen, National Press, S. 483.

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strengungen ihres Landes arbeiteten. So konnte zumindest der Eindruck vermittelt werden, innere Sicherheit herzustellen. Allerdings war eine Eigendynamik der Angst vor „Feinden“ und die damit verbundene radikale Fremdenfeindlichkeit die Kehrseite dieses Prozesses. Verschwörungsvorstellungen schädigten die liberale politische Kultur Großbritanniens erheblich, zumal die radikalen Nationalisten letztlich die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie forderten. Sie sollte durch einen starken Staat auf der Grundlage korporativer Strukturen ersetzt werden.94 Vorstellungen einer Konspiration von enemy aliens verbreiteten darüber hinaus Organisationen wie die 1915 gegründeten British Empire Union (BEU) und die National Party (NP). Beide Verbände rückten die Deutschen und britische Sozialisten eng zusammen. Sie kombinierten eine populistische fremdenfeindliche Kampagne mit gezieltem politischen Lobbyismus. So vermutete die BEU in Großbritannien Verräter, die enemy aliens schützten und begünstigten. Dieses Coddling the Huns („Die Hunnen begünstigen“) – ein weit verbreitetes Motto der Propaganda – wurde als Ursache der hohen Kriegsverluste angesehen. Auf der Grundlage dieser haltlosen Spekulationen drängte die BEU die Regierung, Parlamentsabgeordnete und Mitglieder des Oberhauses unablässig, alle zivilen Feindstaatenangehörigen zu internieren.95 Die Agitation unterstützten Parlamentsabgeordnete wie Croft, Cooper und Joynson-Hicks. Besonders entschieden wandte sich Croft, der zusammen mit Cooper im August 1917 die NP bildete, gegen einen Kompromissfrieden. Er lehnte Deutschland ebenso kompromisslos ab wie den Sozialismus und Kommunismus. Croft verteidigte entschieden Großbritanniens Herrschaft im Empire.96 Außerdem agitierte die 1908 gegründete Anti-Socialist Union (ASU) gegen die Labour Party, die sie als 94 Brüggemeier, Geschichte, S. 198, 126; Audoin-Rouzeau / Becker 14–18. Understanding the Great War, S. 57 f.; Manz, Migranten, S. 286; Müller, Recht, S. 385, 389 f.; Altenhöner, Kommunikation, S. 280. 95 Dazu das Schreiben vom 28. September 1917 mit beigefügter Petition und das Flugblatt „Coddling the Huns“ in: NA 45/10756/267450. 96 Zu Crofts Nationalismus und Imperialismus im Ersten Weltkrieg: Charmian Brinson / AnnaMüller-Härlin / Julia Winkler, His Majesty’s Loyal Internee: Fred Uhlman in Captivity, London 2009, S. 38 f.; Searle, Corruption, S. 247, 324–327. Vgl. auch Panayi, Enemy, S. 202–207, 212– 214; ders., The British Empire Union in the First World War, in: Kushner / Lunn (Hg.), Politics, S. 113–128; Kenneth D. Brown, The Anti-Socialist Union, 1908–1949, in: ders. (Hg.), Essays in Anti-Labour History. Responses to the Rise of Labour in Britain, London 1974, S. 234–261; William D. Rubinstein, Henry Page Croft and the National Party 1917–22, in: Journal of Contemporary History 9 (1974), S. 129–148; Chris Wrigley, ‚In Excess of Their Patriotism‘: The National Party and Threats of Subversion, in: ders. (Hg.), Welfare, Diplomacy and Politics. Essays in Honour of A. J. P. Taylor, London 1986, S. 93–119, hier: S. 101; Bauerkämper, Die „radikale Rechte“, S. 104–125; Leonhard, Büchse, S. 355; Panayi, Imperial War Museum, S. 357 f.

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„unpatriotisch“ diffamierte und des Defätismus bezichtigte. Damit unterstellte die ASU der Arbeiterpartei Verrat, so in der 1915 veröffentlichten programmatischen Propagandaschrift „Our Enemy at Home“. An der nationalistischen Agitation war auch Baden-Powells Pfadfinderbewegung beteiligt, die 1914 mehr als 150.000 Jungen vereint hatte, konservative Werte wie national Ehre, Pflicht und Selbstkontrolle propagierte und (angebliche) Drückeberger verurteilte.97 Ebenso verliehen radikale Nationalisten und Antisemiten wie der Journalist Arnold White, der die britischen Juden als „fünfte Kolonne“ der Deutschen denunzierten, der fremdenfeindlichen Propaganda der BEU Auftrieb. 1918 verfügte der radikal nationalistische Agitationsverband nach begründeten Schätzungen über 10.000 Mitglieder. Die BEU artikulierte die Bedrohungswahrnehmung der britischen Mittelschichten und richtete sich gegen alle Fremden, Sozialisten, Pazifisten und Kommunisten, die ebenso wie die Deutschen als „innere Feinde“ galten. Die National Party und militante Bürgerwehren (Vigilantes) waren am Ende des Ersten Weltkrieges und in den ersten Jahren nach dem Waffenstillstand sogar im Unterhaus vertreten. Kleinere Verbände, die gegen Feindstaatenangehörige hetzten, waren die League of Londoners, die Britain for the British Movement, der Women’s Imperial Defence Council und die Anti-German League, die nach der Versenkung der Lusitania gegründet wurde, aber nur ein Jahr bestand.98 Die radikale nationalistische und fremdenfeindliche Agitation, in der Demagogen auch antisemitische Verschwörungsvorstellungen aufgriffen, erfasste z. T. auch die britische Arbeiterbewegung. So etablierte der Journalist Victor Fisher, der sich für eine Armee wehrpflichtiger Bürger und eine Stärkung der Kriegsmarine einsetzte, im April 1915 das National Defence Committee, aus dem ein Jahr später die British Workers’ League hervorging. Diese Organisation störte die Kundgebungen der radikalen Sozialisten und Pazifisten. Dabei griff sie Sicherheitsängste auf, die im Ersten Weltkrieg auch populäre Romane von Edgar Wallace (besonders 1925 – The Story of a Fatal Peace, 1915) und F. E. Eddis (That Goldheim! A Spy Story, Exposing a special danger resulting from alien immigration, 1918) verbreiteten.99 Alles in allem trieben die Veröffentlichungen und Aktionen von Journalisten und nationalistischen Organisationen die gesellschaftliche Selbstermächtigung voran, die sich in gewaltsamen Aktionen gegen die enemy aliens nieder97 Angabe nach: Searle, A New England?, S. 511. Vgl. auch Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 82. 98 Panayi, Enemy, S. 207–212; ders., Destruction, S. 126 f.; ders., Immigration, S. 121; ders., Fremdenfeindlichkeit, S. 82. 99 Degroot, Blightly, S. 151 f.; Englander, Police, S. 120 f.; Andrew, Secret Service, S. 192 f.

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schlug. Unter dem Eindruck der Angriffe, die sich auch gegen die britische Regierung richteten, lehnte das Innenministerium Forderungen der nationalistischen Organisationen, alle zivilen Feindstaatenangehörigen (auch Frauen und Kinder) zu internieren, durchweg kategorisch ab. Dabei verwies das Home Office nicht nur auf humanitäre Grundsätze, sondern argumentierte vor allem, dass diese enemy aliens (vor allem Angehörige der multiethnischen Imperien) für Großbritannien gewonnen werden müssten. Sogar in den Sicherheitsbehörden lösten Behauptungen von Verrat und Unterwanderung, welche die Populärliteratur, die Boulevardzeitungen und die Agitationsverbände verbreiteten, Besorgnis aus.100

Die Repressionspolitik der britischen Regierung gegenüber zivilen Feindstaatenausländern und Minderheiten Obwohl das Home Office bei der Internierung und Deportation über einen weiten Interpretationsspielraum verfügte, konnten sich die Minister Reginald McKenna (bis Mai 1915), Sir John Simon (Mai 1915 – Januar 1916), Herbert Samuel (Januar 1916 – Dezember 1916) und Sir John Cave (ab Dezember 1916) der fremdenfeindlichen Agitation nationalistischer Politiker, Journalisten und Schriftsteller kaum entziehen. Auch waren die Kompetenzen im britischen Regierungsapparat unklar. So arbeitete das Kolonialministerium neben dem gesonderten India Office. Interministerielle Kommissionen wie das Prisoners of War Department und das Destitute Aliens Committee konnten die Arbeit der Ministerien nur unzureichend koordinieren, so dass Reibungsverluste unvermeidbar waren. Allerdings verbesserte sich die Abstimmung im Verlauf des Krieges, auch zwischen den Londoner Ministerien und den Behörden im britischen Weltreich.101 Die Regierungen der Dominions agierten formal zwar unabhängig; jedoch blieben sie im Hinblick auf die Kriegführung an das Kabinett in London gebunden. Im Institutionengefüge der britischen Regierung verfügte das Innenministerium gegenüber dem War Office, der Admiralität, dem MI5, dem Handelsministerium und dem Foreign Office nur über geringe Macht. Zwar kritisierte sogar der Special Branch die Verschwörungsvorstellungen, die Schriftsteller wie Le Queux und John Buchan (1875–1940) auch während des Krieges verbreiteten. Dennoch forderte das noch kleine Secret Service Bureau permanent eine schärfere Überwachung der enemy aliens. Zwar konnte der Sicherheitsdienst die Akti100 Dazu der Brief vom 10. Oktober 1917 in: NA, HO 45/10756/267450. 101 Manz / Panayi, Internment, S. 22, 34.

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vitäten des deutschen Auslandsgeheimdienstes in Großbritannien ab 1915 weitgehend unterbinden. Auch klagten britische Gerichte bis Kriegsende insgesamt nur 31 Deutsche wegen Spionage an, von denen zwölf zum Tode verurteilt und exekutiert wurden. Dennoch beugte sich das Innenministerium nahezu durchweg dem Primat der Sicherheitspolitik: „It was better to be safe than sorry, even if the price of safety was ridicule.“102 Die militärische Bedrohung schien die Kontrolle und Unterdrückung von Feindstaatenausländern zu rechtfertigen. Dazu gehörte auch der Beschluss des Kriegskabinetts im Juli 1918, in Regierungsbehörden nur noch Personen zu beschäftigten, die von Briten abstammten oder Staatsangehörige alliierter Staaten waren. Damit gab Lloyd George Forderungen radikal nationalistischer Konservativer nach, die schon seit Kriegsbeginn unablässig vor Spionen in Behörden gewarnt hatten. Zugleich versicherte der Premierminister, dass die britische Regierung zwar keinesfalls anstrebe, den Menschenrechtsverletzungen durch die deutsche Reichsleitung nachzueifern oder diese sogar zu übertreffen; im Krieg falle aber „the benefit of doubt to the country.“103 Tatsächlich waren die deutschen enemy aliens in Großbritannien keineswegs ausschließlich Opfer. Vielmehr provozierten einige von ihnen bewusst die Behörden, indem sie offen ihre Loyalität gegenüber dem Deutschen Reich erklärten. Obwohl die meisten der aus Deutschland stammenden Feindstaatenangehörigen mit schneller Anpassung und eilfertiger Assimilation auf den Kriegsausbruch reagierten, blieben viele in ihren Loyalitäten gespalten. Da diese Personen ihre Bindung an die Heimat keineswegs völlig aufgegeben hatten, waren die Restriktionen, die ihnen auferlegt wurden, nicht völlig unberechtigt. Auch blieben humanitäre Gesichtspunkte in der Politik des Kriegskabinetts und im Umgang der Behörden mit den enemy aliens, zu denen auch Österreicher, Ungarn und Bulgaren zählten, keineswegs völlig unbeachtet. So stimmte Lloyd George im Juli 1918 einem Abkommen mit Deutschland zu, nach dem Kriegsgefangene und internierte Zivilisten ausgetauscht werden sollten.104 Die Politik der britischen Regierung gegenüber den Feindstaatenausländern war letztlich widersprüchlich, zumal die Gruppe der aliens oft nur schwer klar identifiziert werden konnte. Zwar galten für Minderheiten, die aus den multiethnischen Reichen (Russland, Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich) nach Großbritannien eingewandert waren, Sonderregelungen. So konnten Griechen,

102 Zitat: Porter, Origins, S. 173. Angabe nach: Farrar, Threat, S. 116. Vgl. im Detail Panayi, Enemy, S. 83 f.; Manz / Panayi, Internment, S. 22, 35; Pattinson, Twilight War, S. 70 f. 103 Zitat: Müller, Recht, S. 398. Vgl. auch Panayi, Destruction, S. 118 f. 104 Manz, Migranten, S. 252–254, 257–260; Panayi, Enemy, S. 187–196; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 193.

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Armenier oder Syrer nach einer Verordnung vom 7. Januar 1915 von den Bestimmungen der Aliens Restriction Order befreit werden, wenn sie Christen waren und nachweisen konnten, dass sie die Regierung des Osmanischen Reiches ablehnten. Der griechische Konsul und das Exilkomitee der Armenier sollten den britischen Behörden helfen, diese alien friends zu identifizieren. Entsprechende Belege für Syrer wurden von französischen oder griechischen Diplomaten erwartet, deren Regierungen beanspruchten, die syrischen Katholiken bzw. Orthodoxen zu vertreten und zu schützen. Das Foreign Office untersagte überdies pauschale Repressionen gegen Staatsangehörige des Osmanischen Reiches in Ägypten. Türken sollten in britischen Besitzungen wie Hongkong nur interniert und enteignet werden, wenn sie verdächtigt wurden, gegen die Kriegführung des Vereinigten Königreiches gearbeitet zu haben. Dennoch wurden im Januar 1917 allein in Kairo 229 türkische Frauen zusammen mit ihren 207 Kindern festgehalten. Auch jüdische Bewohner Salonikis ließ das britische Außenministerium internieren. Ebenso wurden Muslime, die angeblich in Arabien den Heiligen Krieg propagierten, in den Kolonien festgesetzt, sogar in Indien. Zugleich bemühte sich der Gouverneur hier, vor den Osmanen geflohene Scheichs für Großbritannien zu gewinnen. Ebenso wurden vor allem Personen, für die sich nationalistische Organisationen in London einsetzten, von repressiven Maßnahmen ausgenommen.105 Insgesamt waren im Empire im Juli 1915 aber nur wenige Türken interniert, so in Großbritannien 94 von insgesamt 493, in Kanada 142 von 1.813, in Südafrika fünf von 566 und in Neuseeland einer von 431. Allerdings hatten die Behörden 111 in das Lager Fort Verdala bei Valetta auf der Insel Malta gebracht. Hier wurden im Dezember 1914 1.451 gefangene Zivilisten und Soldaten gezählt, davon 1.027 Deutsche, 303 Österreicher und 121 Türken. Im August 1915 litten auf Malta insgesamt 1.355 zivile Feindstaatenangehörige. Nur einzelne von ihnen ließ das britische Außenministerium frei.106 Außer den enemy aliens zielte die Internierungspolitik der britischen Regierung auf die Disziplinierung und Kontrolle des öffentlichen Raums und die Disziplinierung von Randgruppen. Dazu zählten Arme, aber auch Einwanderer. Jedoch war die Loyalität geflohener oder schon vor 1914 immigrierter Polen, Tschechen, Lothringer und Elsässer kaum eindeutig festzustellen. Für diese Gruppen wurde deshalb bei Feltham (im Westen Londons) ein gesondertes

105 NA, FO 383/88 (Verordnung vom 7. Januar 1915; Schreiben vom 6., 8. und 12. Januar, vom 9., 24. und 28. Februar, 7., 9. und 26. März, 6. Mai und 16. Oktober 1915); HO 45/10756/267450 (Brief vom 10. Oktober 1917). Angaben nach: Moorehead, Dream, S. 197. 106 NA, FO 383/30 (Schreiben vom 29. Juli 1915); FO 383/88 (Minutes); Manz / Panayi, Internment, S. 27; Manz / Panayi, Enemies, S. 115.

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Camp eingerichtet, das in Deutschland als „Verräterlager“ galt. Der allgemeine Argwohn richtete sich sogar gegen Angehörige neutraler Länder, vor allem deutschsprachige Schweizer, von denen viele ausgewiesen und einige sogar festgenommen wurden. Der Gesandte der Eidgenossenschaft in London erreichte nur mühsam die Entlassung von Internierten bzw. die Rückkehr von Schweizern, die aus Großbritannien gedrängt worden waren. Auch die rund 250.000 belgischen Staatsangehörigen, die 1914/15 vor den deutschen Truppen in das Vereinigte Königreich geflohen waren, wurden in Großbritannien zunehmend misstrauisch beobachtet. Als sich 1915/16 herausstellte, dass die Flüchtlinge in absehbarer Zeit nicht in ihr Heimatland zurückkehren würden, wuchsen die Spannungen. Vereinzelt kam es auch zu Ausschreitungen, so in Fulham (im Westen Londons), wo sich verarmte britische Arbeiter von den Neuankömmlingen verdrängt sahen und deshalb im Mai 1916 offen protestierten. Überdies forderten britische Nationalisten – darunter auch Unterhausabgeordnete – zunehmend eine zügige Repatriierung der belgischen Flüchtlinge nach Kriegsende.107 Die 25.000 bis 30.000 wehrfähigen Juden, die aus Russland nach Großbritannien gekommen waren, unterlagen nicht der (1916 eingeführten) Wehrpflicht und wurden deshalb vielerorts als „Drückeberger“ bezeichnet. Damit – so ein weiterer Vorwurf – konnten sie Arbeitsplätze einnehmen, die Engländer mit der Meldung zum Kriegseinsatz verlassen hatten. Nachdem Bemühungen des Direktors für Rekrutierung in Kitcheners Kriegsministerium, Edward Stanley (Earl of Derby), wehrfähige Briten für die Streitkräfte zu werben, im Winter 1915/16 den enormen Bedarf an neuen Soldaten nicht erfüllt hatten, wuchsen vor allem in Zentren jüdischer Einwanderung wie dem Londoner East End die fremdenfeindlichen Ressentiments. 1916 scheiterte aber ein Vorschlag des liberalen Innenministers Herbert Samuel, russische Juden im wehrfähigen Alter zwangsweise in das Zarenreich zu deportieren, am Widerstand der Betroffenen und ihrer Organisationen. Gegen Samuels Forderung wandten sich das Foreign Jews Protection Committee, aber auch der 1760 gegründete Board of Deputies of British Jews, der als etabliertes Vertretungsorgan der britischen Juden eine Kommission für jüdische Einwanderer eingerichtet hatte. Außerdem überschnitten sich die Kompetenzen zwischen Kriegs- und Innenministerium, denen die Ausländerpolitik oblag. Die britische Sicherheitspolitik gegenüber Feindstaatenangehörigen wies deshalb durchaus Lücken auf.108 107 Ewence, Gap, S. 95; Pöppinghege, Lager, S. 65; James, Aliens, 209 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 95 f.; Gatrell, Refugees, S. 83 f. Zum Lager für friendly aliens: Anna Braithwaite Thomas u. a. (Hg.), St. Stephen’s House. Friends’ Emergency Work in England 1914 to 1920, London o. J. [1920], S. 74. Zu den Schweizern: Huber, Fremdsein, S. 229 f., 232, 249. 108 John C. Bird, Control of Enemy Alien Civilians in Great Britain 1914–1918, New York 1986, S. 45, 49, 133; Julia Bush, Behind the Lines. East London Labour 1914–1919, London 1984,

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Internierung und Ausbürgerung 1914/15: Triebkräfte, Verfahren und Folgen Wie dargelegt, war die Internierung seit 1913 vorbereitet worden. Darauf aufbauend, erließ die Regierung bereits kurz nach Kriegsbeginn die Regulation 14B. Nach dieser Verordnung konnten Verdächtige festgenommen und ohne Gerichtsverfahren interniert werden: Where on the recommendation of a competent naval or military authority or of one of the advisory committees hereinbefore mentioned it appears to the Secretary of State [Innenminister] that for securing the public safety or the defence of the realm it is expedient in view of the hostile origin or associations of any person that he shall be subjected to such obligations and restrictions as are hereinbefore mentioned, the Secretary of State may by order require that person […] to be interned.

Das Sicherheitsinteresse sollte einschneidende Beschränkungen grundlegender individueller Rechte begründen. Holt-Wilson rechtfertigte die Internierung auch mit der inhumanen Politik der deutschen Reichsleitung, besonders explizit in einer Anhörung der Unterkommission für „Fremde“ (Aliens) des Committee of Imperial Defence im Juni 1915. Hinter diesen Argumenten waren aber konkrete institutionelle Eigeninteressen und fremdenfeindliche Ressentiments verborgen. Zudem wurden die Behörden ermächtigt, Personen zu deportieren, die mit ihrem Verhalten gegen die öffentliche Sicherheit verstoßen und die Verteidigung des britischen Königreiches gefährdet hatten.109 Wie McKenna am 9. September 1914 dem Unterhaus mitgeteilt hatte, waren insgesamt 50.633 nicht eingebürgerte Deutsche und 16.141 Staatsangehörige Österreich-Ungarns von der Polizei erfasst worden. Anhand dieser Daten betrieben die Sicherheitsbehörden gezielt die Internierung der insgesamt 70.000 enemy aliens, die 1914 in Großbritannien lebten und älter als 14 Jahre waren.110 NachS. 167–175; dies., East London Jews and the First World War, in: London Journal 6 (1980), S. 147–161; David Cesarani, Anti-Alienism in England After the First World War, in: Immigrants and Minorities 6 (1987), Nr. 1, S. 5–29, hier: S. 9–14; ders., An Alien Concept?, S. 36; Jahr, Zivilisten, S. 298; Endelman, Jews, S. 185 f.; Panayi, Germans, S. 66; Holmes, A Tolerant Country?, S. 76, 91; Becker / Krumeich, Krieg, S. 184. Zu den belgischen Flüchtlingen besonders: Holmes, Immigrants, S. 19, 28. Angabe nach: Panikos Panayi, Immigrants, Refugees, the British State and Public Opinion During World War Two, in: Pat Kirkham / David Thoms (Hg.), War Culture: Social Change and Changing Experiences in World War Two Britain, London 1995, S. 201–208, hier: S. 203. 109 Zitat: Porter, Origins, S. 173. Vgl. auch Colin Turpin / Adam Tomkins, British Government and the Constitution, Cambridge 2007, S. 756; Hiley, Counter-Espionage, S. 645, 668 (Angabe); Andrew, Defence of the Realm, S. 80 f.; Boghardt, Spies, S. 146; Ewing / Gearty, Struggle, S. 55, 62; Townshend, Peace, S. 65. 110 Andrew, Secret Service, S. 174; Reinecke, Grenzen, S. 209; Degroot, Blightly, S. 157.

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dem das Kriegsministerium am 7. August angeordnet hatte, alle wehrfähigen Deutschen und Österreicher festzunehmen, verhafteten Polizeidienststellen bis zum 13. August knapp 2.000 und bis Monatsende 4.300 dieser Feindstaatenausländer. Auch einzelne Frauen, die als Sicherheitsgefahr eingestuft worden waren, büßten ihre Freiheit ein. Vergeblich dementierte McKenna Ende August sensationelle Presseberichte und die oft erfundenen Gerüchte über die Aktivitäten angeblich getarnter Spione. Da das Innen- und Kriegsministerium besonders die arbeitslos gewordenen Feindstaatenangehörige als Gefahr für die öffentliche Ordnung betrachtete, wurden vom 28. August bis 16. September weitere 6.700 Deutsche festgenommen. Die Versenkung von drei britischen Kreuzern durch ein deutsches U-Boot und der anschließende Rücktritt des in Großbritannien eingebürgerten Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, Louis Battenberg, im September 1914 verliehen der Forderung, weitere enemy aliens zu verhaften, erneut kräftig Auftrieb. So behauptete der ehemalige Admiral Charles Beresford, dass deutsche Agenten die Sicherheit Großbritanniens gefährdeten. Der Stellvertretende Generalstaatsanwalt (Assistant Director of Public Prosecutions), Guy Stephenson (1865–1930), verwies in seiner Antwort an Beresford zwar auf die schwache Beweislage, und die Regierung lehnte im Herbst 1914 auch Angebote außerparlamentarischer Agitationsverbände wie der Navy League ab, zur Sicherheitspolitik der Regierung durch eine Spionagejagd beizutragen. Die Angst war aber erheblich gewachsen und zugleich so gezielt gesteigert worden, dass die Internierung ausgeweitet wurde. Ende September waren bereits 13.600 Feindstaatenangehörige (davon 10.500 Zivilisten und der Rest Soldaten) verhaftet worden. Am 20. Oktober 1914 entschied die Regierung schließlich, weitere 23.000 wehrfähige Deutsche und Österreicher festzusetzen. Der staatliche Eingriff in Bürgerrechte wurde nicht nur mit dem Hinweis auf die Sicherheit der Nation im totalen Krieg, sondern auch als karitative Maßnahme gerechtfertigt, die enemy aliens und ihre Angehörigen vor Übergriffen und Verarmung schützen sollte. Tatsächlich meldeten sich einige Feindstaatenangehörige, die ihre Arbeit verloren hatten, von Verarmung bedroht waren und isoliert lebten, bei der Polizei, um sich freiwillig abführen zu lassen.111 111 NA, HO 45/10756/267450 (Schreiben vom 9., 14., 24. und 28. Oktober 1914). Angaben nach: Panayi, Prisoners of War. Vgl. auch Catriona Pennell, „The Germans Have Landed!“: Invasion Fears in the South-East of England, August to December 1914, in: Heather Jones / Jennifer O’Brien / Christoph Schmidt-Supprian (Hg.), Untold War. New Perspectives in First World War Studies, Leiden 2008, S. 97–116; Julie V. Gottlieb, Isle of Man, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 152 f., hier: S. 152; Tim Grady, Landscapes of Internment. British Prisoner of War Camps and the Memory of the First World War, in: Journal of British Studies 58 (2019), S. 543–564, hier: S. 546; Panayi / Manz, Rise, S. 106; Farrar, Threat, S. 142 f.; David (Hg.), Inside Asquith’s Cabinet, S. 200; Farcy, Camps, S. 362; Panayi, Enemy, S. 42; Denness, Gender, S. 73,

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Die Internierung so vieler Feindstaatenangehöriger traf auf erhebliche praktische Schwierigkeiten, denn die festgesetzten enemy aliens konnten in Lagern und Gefängnissen nicht untergebracht werden. Auch war die repressive Politik weder mit dem Selbstbild britischer Zivilität noch mit einer realistischen Gefahrenanalyse vereinbar. Die Internierung von Frauen weckte zudem Erinnerungen an den Burenkrieg, als die Einweisung dieser Gruppe in die concentration camps international Proteste gegen die britische Politik ausgelöst hatte.112 Angesichts der Nachrichten zu Übergriffen deutscher Soldaten gegen Zivilisten in Belgien, der militärischen Rückschläge der britischen Streitkräfte bei Ypern und der Angriffe von drei deutschen Kriegsschiffen auf die Küste von East Anglia – angeblich mit Hilfe deutscher Spione – am 3. November 1914 gewannen die Befürworter einer weitgespannten Sicherheitspolitik weiter die Oberhand, auch im Unter- und Oberhaus. Bis zum 12. November setzten die Behörden deshalb 12.381 Feindstaatenausländer fest, darunter 8.612 Deutsche und 3.756 Staatsbürger Österreich-Ungarns. Nach Angaben des Justizministers (Lord Chancellor), Richard Haldane, und McKennas waren zudem allein in London 6.000 Hausdurchsuchungen durchgeführt und 120.000 Delikte behandelt worden, die den Verdacht der Metropolitan Police erregt hatten und als Verrat oder Spionage bewertet worden waren. Aus dem Kreis der Verdächtigen nahm die Polizei 342 Personen fest. Vor allem McKenna verteidigte zwar die Rechte der Feindstaatenangehörigen. So erklärte er am 26. November 1914 im Unterhaus: I […] get communications from friends of these people in this country, begging me to remember that any harsh measures that we may inflict upon enemy aliens here will be retaliated upon our own people in Germany and Austria. I also get very strong representations from neutral countries, and I do not think we ought to leave entirely out of account the impression which our action creates abroad.

Auch bei den slawischen Staatsangehörigen Österreich-Ungarns stellte sich die Frage, „how far we should intern in order to secure military safety.“ Nicht zuletzt forderte er die Anwendung der Haager Konvention auch für Zivilinternierte. Letztlich gab McKenna aber dem Druck nationalistischer Parlamentarier wie Beresford und den Forderungen von Oberhausmitgliedern nach, die überall deutsche Agenten vermuteten und die Angst vor Spionen schürten. Außerdem verwiesen sie auf abschreckende Berichte belgischer und französischer Flüchtlinge über Gräuel deutscher Soldaten und Repressalien gegen britische Zivilis-

79 f., 85; Kushner / Knox, Refugees, S. 46; Ellis / Panayi, German Minorities, S. 248; Pöppinghege, Lager, S. 55; Müller, Recht, S. 384; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 27; French, Spy Fever, S. 368; Reinecke, Grenzen, S. 215 f. Zum Hintergrund: Lentin, Banker, S. 43. 112 Denness, Gender, S. 85; Manz / Panayi, Internment, S. 26 f.

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ten im Kaiserreich. Nach ihrer Auffassung wurden zudem Briten in Deutschland schlechter behandelt als umgekehrt.113 Jedoch reichten die Kapazitäten des Kriegsministeriums, das vorrangig britische Truppen unterbringen musste, für die Unterbringung Tausender Zivilisten nicht aus. Der für die Einquartierung zuständige Generaladjutant, der im Kriegsministerium direkt Kitchener untergeben war, drängte McKenna deshalb, die Internierung einzustellen, zumindest vorübergehend. Außerdem folgte der Innenminister einer Empfehlung des War Office, indem er 1.000 festgenommene Feindstaatenangehörige auf Bewährung entließ. Dennoch wälzte Kitchener die Verantwortung auf den Innenminister ab und beschuldigte ihn, die Verhaftungen verzögert zu haben, wie Postminister Charles Hobhouse (1862–1941) in seinem Tagebuch empört notierte. Insgesamt wurden von November 1914 bis Februar 1915 rund 3.000 Internierte entlassen. Im März 1915 war die Zahl der Lagerinsassen gegenüber September 1914 um insgesamt 6.000 zurückgegangen. 114 Im Dezember 1914 hatten in Großbritannien noch 14.000 Deutsche und Österreicher, die im wehrfähigen Alter waren, in Freiheit gelebt. Viele beschäftigungslose Feindstaatenangehörige gingen nach London, wo sie polizeilicher Aufsicht unterstellt wurden. Auch darüber hinaus trafen sie in der britischen Hauptstadt auf Ablehnung und Ressentiments, zumal sie hier die ohnehin erhebliche Wohnungsnot und Versorgungsprobleme verschärften. In einer Denkschrift warnte McKenna das Kabinett, dass weitere Entlassungen von Internierten den Protest der radikalen Kriegsbefürworter anfachen und in großen Bevölkerungsgruppen Unruhen auslösen würden. Das Innenministerium entließ daraufhin nur noch bereits festgenommene enemy aliens, die seit mehr als dreißig Jahren im Vereinigten Königreich gelebt hatten oder medizinische Gutachten zu schweren Erkrankungen vorlegten. Auch Internierte, deren Söhne in der britischen Armee dienten, konnten freigelassen werden.115 Jedoch lehnte Asquith Ende 1914 die Bildung eines Committee of Public Safety ab, das radikale Nationalisten wie Beresford und Lord Leith of Fyvie im 113 Hansard, House of Lords Debates, Bd. 18, 25. November 1914, Sp. 29–73 („The Spy Peril“), http://hansard.millbanksystems.com/lords/1914/nov/25/the-spy-peril (Zugriff am 6. Juni 2015); Hansard, House of Commons Debates, Bd. 68, 26. November 1914 („Consolidated Fund [No. 1] Bill“), Sp. 1371 f.; 1380 f.; 1390, 1394 f. (Zitate); https://api.parliament.uk/historic-hansard/ lords/1914/nov/26/consolidated-fund-no-1-bill (Zugriff am 6. Juni 2015); NA, HO 45/10756/ 267450 (Parliamentary Debates, 25. November 1914). Zu den Angriffen der deutschen Kreuzer: H. G. Castle, Fire Over England. The German Air Raids of World War I, London 1982, S. 36; Lentin, Banker, S. 47. 114 David (Hg.), Inside Asquith’s Cabinet, S. 206. 115 LSF, FEWVRC/EME/6/1/2 (Vermerk vom 4. Oktober 1915); NA, FO 383/106 (Bericht vom 27. Februar 1915).

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Oberhaus zur Spionagejagd forderten. Dabei verwies Beresford erneut auf eine „danger which amounts to being stabbed in the back – which the spy danger really is“.116 In seiner Kampagne unterstützten ihn Zeitungen wie der Daily Express und einzelne liberale Abgeordnete wie Henry Dalziel, der die liberale Sonntagszeitung Reynolds News besaß und 1917 das 1865 gegründete, angesehene Magazin Pall Mall Gazette erwerben sollte. Bis Februar 1915 brachte das Innenministerium daraufhin fast 20.000 nicht eingebürgerte Deutsche, Österreicher und Ungarn in Lager, für deren Verwaltung aber das Kriegsministerium zuständig war. Anfang Mai waren noch 19.000 zivile Feindstaatenangehörige interniert. Dagegen befanden sich 40.000 enemy aliens in Freiheit. Darunter waren 24.000 Männer und 16.000 Frauen.117 Insgesamt blieb die Internierungspolitik in den ersten Kriegsmonaten zwar widersprüchlich. Jedoch behielten bis Anfang 1915 im Unter- und Oberhaus die Vertreter einer zurückhaltenden Internierungspolitik die Oberhand. Gegen die überwiegend radikal nationalistischen Anhänger einer harten Politik gegenüber ausländischen Staatsangehörigen und sogar eingebürgerten Personen, die in gegnerischen Staaten geboren waren, setzten sich diejenigen Politiker durch, die – wie Haldane – bereit waren, um der Bewahrung individueller Freiheiten und humanitärer Fürsorge willen begrenzte Risiken einzugehen. Der Justizminister wies in einer Debatte des Oberhauses am 25. November 1914 außerdem auf die Gefahr von Repressalien hin. Dazu erläuterte er, dass die deutschen Behörden Briten festgesetzt hatten, nachdem Deutsche in Großbritannien interniert worden waren. Auch die liberalen Unterhausabgeordneten Stanley Buck116 Hansard, House of Commons Debates, Bd. 68, 26. November 1914 („Consolidated Fund [No. 1] Bill“), Sp. 1378, https://api.parliament.uk/historic-hansard/lords/1914/nov/26/consolidated-fund-no-1-bill (Zugriff am 6. Juni 2015). Vgl. auch Panayi, Destruction, S. 115; ders., Imperial War Museum, S. 355; ders., Enemy, S. 75. 117 Angaben nach: NA, FO 383/106 (Bericht vom 27. Februar 1915; „Bericht der Herren Ed. Naville und B. van Berchem vom Internationalem Komitee vom Roten Kreuz in Genf über die Besichtigung von Gefangenenlagern in England“ vom Januar 1915); FO 383/473 (Schreiben vom 7. Juni 1918); Saunders, ‚The Strangers in our Gates‘, S. 27; Altenhöner, Kommunikation, S. 200 f.; French, Spy Fever, S. 368; Englander, Police, S. 111; Panayi, Destruction, S. 120. Vgl. auch David Saunders, Aliens in Britain and the Empire During the First World War, in: Immigrants and Minorities 4 (1985), Nr. 1, S. 5–27, hier: S. 5–7; Stefan Manz, Civilian Internment in Scotland during the First World War, in: Dove (Hg.), Totally un-English?, S. 83–97, hier: S. 85, 91; Panikos Panayi, An Intolerant Act by an Intolerant Society: The Internment of Germans in Britain during the First World War, in: Cesarani / Kushner (Hg.), Internment, S. 43–75, hier: S. 54, 56; ders., Prisoners, S. 47; Manz, Migranten, S. 263 f.; Andrew, Secret Service, S. 180 f.; Barnett, Internment, S. 10; Cesarani, An Alien Concept?, S. 34; Terwey, Antisemitismus, S. 108– 121, 245; Higgs, Information State, S. 140; Thurlow, Secret State, S. 54; Becker, Captive Civilians, S. 262; Neocleous, Critique, S. 51. Zu Beresford: Searle, Corruption, S. 78, 190, 215, 320–325. Zu Dalziel: McEwen, National Press, S. 473, 480 f.

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master (1861–1934) und Josiah Wedgwood (1872–1943) bestanden auf einer humanen Behandlung der Feindstaatenangehörigen. Im Oberhaus kritisierte besonders Viscount Allendale (1860–1923) die Ausländerjagd auf der Grundlage von Gerüchten. Diese Politiker verteidigten Großbritanniens liberales und humanitäres Erbe.118 Dagegen traten viele Konservative im Parlament und im Oberhaus für eine umfassende Internierungspolitik ein, um den von zivilen Feindstaatenangehörigen und Eingebürgerten angeblich ausgehenden Bedrohungen zu begegnen. Diese Kritiker – so Lord Meath im Oberhaus und Joynson-Hicks im Unterhaus – skandalisierten Anfang 1915, dass von Ende November 1914 bis Januar 1915 2.680 internierte enemy aliens entlassen worden waren und 27.000 deutsche, österreichische und ungarische Männer – darunter 3.500 in den prohibited areas – weiterhin in Freiheit lebten. Entschieden lehnten sie Ausnahmeregelungen zum Wohnverbot ab, das gegen enemy aliens in den bedrohten Küstenregionen verhängt worden war. Zudem wandten sie sich gegen die institutionelle Trennung in der Ausländerpolitik, vor allem zwischen dem Innenministerium, dem die Registrierung und die Durchsetzung der Bestimmungen der Aliens Restriction Order oblagen, und dem Kriegsministerium, das für die Internierung der wehrfähigen Feindstaatenangehörigen zuständig war. Demgegenüber sollte eine Bündelung der Kompetenzen die Sicherheit gegenüber Feindstaatenangehörigen erhöhen. Auch wurde verlangt, die Einbürgerung Deutschstämmiger zurückzunehmen. Damit war der Vorwurf verbunden, dass die deutsche Regierung das Vertrauen auf einen wechselseitigen Austausch von Frauen, Kindern und nicht wehrfähigen Männern verletzt hätte. Ein Humanitätsgebot bei der Internierung lehnten die nationalistischen Kritiker der Regierung ab. Vielmehr verwiesen sie auf die angeblich konsequentere Politik gegenüber Feindstaatenangehörigen in Deutschland, Frankreich und Russland. Beresford sprach im März 1915 im Unterhaus sogar von der Gefahr eines „Dolchstoßes“. Demgegenüber verteidigten Innenminister McKenna, aber auch die Abgeordneten Dalziel und Henderson die liberalen Traditionen Großbritanniens im Umgang mit Ausländern, indem sie auf einer Prüfung der einzelnen Personen beharrten, die zur Internierung vorgesehen waren. Zudem wiesen liberale Abgeordnete darauf hin, dass die Spionagegefahr weniger von den Feindstaatenangehörigen aus-

118 Hierzu und zum Folgenden: Hansard, House of Lords Debates, Bd. 18, 25. November 1914, Sp. 29–73 („The Spy Peril“), http://hansard.millbanksystems.com/lords/1914/nov/25/the-spyperil (Zugriff am 6. Juni 2015); House of Commons Debates, Bd. 68, 26. November 1914 („Consolidated Fund [No. 1] Bill“), Sp. 1369 f., https://api.parliament.uk/historic-hansard/lords/1914/ nov/26/consolidated-fund-no-1-bill (Zugriff am 6. Juni 2015). Vgl. auch Panayi, Enemy, S. 278 f.

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ging, sondern von Personen, die unauffällig lebten und äußerlich nicht erkennbar waren.119 Angesichts des zunehmenden Druckes der Nationalisten und radikalen Konservativen, aber auch einiger Liberaler wie Dalziel sah sich der zunächst zögernde Asquith nach der Versenkung der Lusitania am 13. Mai 1915 gezwungen, die Internierung aller männlichen Feindstaatenangehörigen im Alter von 17 bis 55 Jahren anzuordnen. Dies betraf auch eingebürgerte enemy aliens, obwohl sich der Premierminister und der Erste Lord der Admiralität, Winston Churchill, zunächst für die Schonung dieser Gruppe eingesetzt hatten. Daraufhin wies das Innenministerium Polizisten im ganzen Land an, Deutsche, Österreicher und Ungarn im wehrpflichtigen Alter zu verhaften und zu internieren. Asquith begründete diese einschneidende Maßnahme mit dem Hinweis auf die Sicherheit des Landes und dem Gebot, Feindstaatenangehörige vor randalierenden Gruppen zu schützen. Sie sollten „for their own safety, and that of the community“ interniert werden.120 Dies betraf auch Juden, die in gegnerischen Staaten geboren waren. Obgleich ihn Organisationen wie der B’nai B’rith dazu drängten, intervenierte das Board of Deputies nicht beim Innenministerium. Damit sollte die Loyalität der britischen Juden gegenüber dem Vereinigten Königreich gezeigt werden. Deutsche Frauen und Kinder wurden ausgewiesen, wobei Ausnahmen nach dem vom Premierminister betonten Gebot der „Humanität“ (humaníty) gewährt werden sollten. Jedoch repatriierte die Regierung allein im Mai und Juni 1915 rund 10.000 Feindstaatenangehörige, überwiegend Frauen und Kinder von Deutschen. Asquith wandte sich zwar wiederholt gegen eine pauschale Verurteilung aller enemy aliens. Ausländer, die eine Sondererlaubnis beantragten, mussten aber nachweisen, dass von ihnen keine Gefahr für die Sicherheit Großbritanniens ausging. Die im Juli 1915 als Order in Council verabschiedete Regulation 14B legalisierte schließlich sogar die präventive Lagerhaft verdächtiger Personen.121 119 Hansard, House of Lords Debates, Bd. 18, 6. Januar 1915, Sp. 272–286 („Alien Enemies“), http://hansard.millbanksytems.com/lords/1915/jan/06/alien-enemies; Zugriff am 14. Januar 2016; Hansard, House of Lords Debates, Bd. 18, 10. Februar 1915, Sp. 497–505 („Alien Enemies“), http://hansard.millbanksytems.com/lords/1915/feb/10/alien-enemies; Zugriff am 14. Januar 2016; Hansard, House of Commons Debates, Bd. 70, 3. März 1915, Sp. 497–505 („Enemies“), http://hansard.millbanksytems.com/commons/1915/mar/03/aliens-1; Zugriff am 14. Januar 2016. 120 Hansard, House of Commons Debates, Fifth Series, LXXI, 1842, 13. Mai 1915, zit. nach: Panayi / Manz, Rise, S. 106. 121 Hansard, House of Commons Debates, Bd. 71, 11. Mai 1915, Sp. 1606–1616 („Alien Enemies“), http://hansard.millbanksytems.com/commons/1915/may/11/aliens-enemies; Zugriff am 14. Januar 2016; Hansard, House of Commons Debates, Bd. 71, 12. Mai 1915, Sp. 1648– 1649 („Segregation an Internment“), http://hansard.millbanksytems.com/commons/1915/

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Zu der Entscheidung zugunsten der Masseninternierung hatten auch die Befunde einer von dem Juristen und Historiker James Bryce (1838–1922) geleiteten Untersuchungskommission zu den Übergriffen deutscher Soldaten gegen belgische Zivilisten im Herbst 1914 beigetragen. Der Bericht des Gremiums wurde am 12. Mai 1915 veröffentlicht. Mit der Dokumentation, die zugleich Propaganda war, sollte eine „globale Empörungsgemeinschaft“ gebildet werden. Allerdings hatte die Untersuchungskommission die horrenden Berichte über deutsche Massaker nicht geprüft. Damit wurde er von der Regierung für ihre Kriegspropaganda in Dienst genommen.122 Weitere 22.000 Ausländer – Frauen, Kinder und ältere Männer – lebten zwar weitgehend unbehelligt, konnten sich aber nicht frei bewegen. Sie gehörten lange zu den vergessenen Opfern des Krieges. Vor allem die Ehefrauen der Internierten mussten ihre Familien durchbringen und für die Kinder sorgen – eine Aufgabe, die sie kaum ohne Hilfe bewältigen konnten. Auch wurden ihnen Telefone, Autos oder Fahrräder entzogen. Nicht zuletzt zerstörten Plünderer Läden und anderes Eigentum von Deutschen. Dabei wurden nach offiziellen Angaben im Ersten Weltkrieg insgesamt 257 Personen verletzt, davon 107 Polizisten. Vielerorts beschlagnahmten die Behörden das noch intakte Eigentum. Gesellschaftlich isoliert, mussten sich viele der in Freiheit verbliebenen Deutschen, Österreicher und Ungarn schließlich der Zwangsrepatriierung nach Deutschland beugen, der rund 20.000 enemy aliens unterlagen. Schon unmittelbar nach der Versenkung der Lusitania wies die britische Regierung Frauen, Kinder und Männer, die sich nicht im wehrfähigen Alter befanden, verstärkt aus Großbritannien aus.123 Angesichts der wachsenden Fremdenfeindlichkeit entzogen die Behörden auch immer mehr deutschen und österreichische Frauen, Invaliden und Kindern ihre Staatsbürgerschaft. Auch darüber hinaus prägte die überkommene Geschlechterordnung die Unterdrückung von Feindstaatenangehörigen. Sie vermischte sich mit ethnischen und rassistischen Kategorien. Dabei traten Spannungen und Widersprüche auf, wie der Umgang mit britischen Ehefrauen von Deutschen zeigt. Die pauschale Ausweisung weiblicher Feindstaatenangehöriger und die Ablehnung ihrer Einreise in das Vereinigte Königreich trafen 1915 may/12/segregation; Zugriff am 14. Januar 2016; Hansard, House of Commons Debates, Bd. 71, 13. Mai 1915, Sp. 1841–1878 („Statement by Prime Minister“), http://hansard.millbanksytems. com/commons/1915/may/13/statement; Zugriff am 14. Januar 2016. Angabe nach: Denness, Gender, S. 76. 122 Zitat: Weinke, Gewalt, S. 51. Vgl. auch Später, Vansittart, S. 41. 123 Manz, Migranten, S. 264, 285; ders., „Enemy Aliens“, S. 125; Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 77; Kushner / Knox, Refugees, S. 44; Higgs, Information State, S. 144 f.; Yarrow, Impact, S. 101.

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nur bei Liberalen und Pazifisten auf Widerspruch. Ebenso weitgehend unumstritten war die Erwartung, dass Frauen britischer Männer, die in Deutschland interniert waren, in das Vereinigte Königreich zurückkehren sollten. Wenn sie dazu nicht in der Lage waren, erhielten sie von der Regierung über die Berliner Botschaft der USA (ab April 1917 der Niederlande) einen Zuschuss.124 Dagegen waren die staatlichen Zuwendungen, die britischen Frauen deutscher, österreichischer, ungarischer und türkischer Internierter in Großbritannien ab August 1915 gewährt wurden, heftig umstritten, denn sie hatten nach dem geltenden Einbürgerungsgesetz von 1870 ihre Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich verloren. Unterhaltszahlungen an diese Gruppe lehnten die radikalen Kriegsbefürwortern deshalb entschieden ab. So wurden die Zuwendungen an die Ehefrauen internierter enemy aliens ab November 1915 eingestellt, wenn sie imstande waren, selber eine bezahlte Arbeit anzunehmen.125 Auch Hilfsleistungen humanitärer Organisationen für diese unschuldigen Opfer waren für die radikalen Nationalisten und Militaristen inakzeptabel. Demgegenüber konnten bedürftige Angehörige von Internierten Zuwendungen nach dem Armenrecht (Poor Law) in Anspruch nehmen. Indem sie vor allem den Frauen gegen erhebliche Widerstände eine Unterstützung gewährte, dokumentierte die britische Regierung nicht zuletzt die Beharrungskraft traditionaler geschlechterpolitischer Konzepte, obwohl sich diese zugunsten der Betroffenen auswirkten. Insgesamt war die staatliche Hilfe für Feindstaatenangehörige aber mangelhaft, zumal auch das im Innenministerium eingerichtete Destitute Aliens Committee (seit 1916 Civilian Internment Camps Committee) weitgehend unwirksam blieb.126 Die Ablösung des als zu nachgiebig kritisierten McKenna durch Simon am 27. Mai 1915 in der neugebildeten liberal-konservativen Koalitionsregierung unter Asquith besiegelte die Verhärtung der britischen Politik gegenüber den enemy aliens. Allerdings waren neben dem Übergang zur Masseninternierung auch Anzeichen einer Entsicherheitlichung deutlich. So übernahm das Innenministerium im Mai 1915 vom Kriegsministerium die Kontrolle über die Internierungspraxis. Auch wurden zwei Beratungsgremien (Advisory Committees) eingerichtet, die jeweils für England und Wales bzw. Schottland über Anträge auf Entlassung aus den Lagern entschieden. Bis Ende 1915 verschonten sie 7.348 von 15.419 Personen, die eine Ausnahmeregelung beantragt hatten, von der Internierung. Überdies hatte das Home Office der Kommission zur Defence Regulation 14B die Entscheidungskompetenz über „further cases of ordinary internment“ entzogen. Darüber hinaus erreichten bis 1917 14.939 Antragsteller, dass 124 Denness, Gender, S. 71, 77, 81, 87, 89, 91, 97. 125 Ebd., S. 90 126 Proctor, Intelligence, S. 36.

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Anordnungen zu ihrer Repatriierung zurückgenommen wurden. Bemerkenswerterweise begründeten die Komitees und die Behörden Bewilligungen mit dem Gebot der „Humanität“, obgleich vorrangig der Mangel an Unterkünften eine ausnahmslose Internierung verhinderte, wie Beamte des Innenministeriums gegenüber Vertretern humanitärer Hilfsorganisationen schon in den ersten Monaten des Krieges zugegeben hatten.127 Darüber hinaus wurden nicht internierte enemy aliens als Beschäftigte benötigt. Trotz intensiver Werbung für Arbeit von „nationaler Bedeutung“ (national importance) meldeten sich aber nur wenige dieser zivilen Feindstaatenangehörigen. So waren Ende Juni 1918 von 13.664 „feindlichen Ausländern“ lediglich 3.341 gewonnen worden. Von 6.684 in Frage kommenden Personen, welche die zuständigen Vermittlungsstellen befragt hatten, hatten diese 3.100 Personen befragt, aber nur 255 rekrutiert. 16 Interviewte internierten die Behörden erneut, weil sie sich beharrlich weigerten, Arbeiten anzunehmen. Der geringe Erfolg des Programms war aber weniger auf eine Blockade der Betroffenen, sondern vorrangig auf den Widerstand von Gewerkschaften zurückzuführen, die eine zu geringe Qualifikation bzw. niedrige Löhne kritisierten und einen Unterbietungswettbewerb mit der unerwünschten Konkurrenz befürchteten. Außerdem fehlten in der angespannten Kriegswirtschaft Unterkünfte und Nahrungsmittel für weitere Beschäftigte. Darüber hinaus äußerten örtliche Polizeioffiziere erhebliche Sicherheitsbedenken; Forderungen, die in der Rüstungswirtschaft beschäftigten enemy aliens zu bewachen, konnten angesichts des Mangels an Polizisten aber nicht erfüllt werden. Nicht zuletzt waren viele zivile Feindstaatenangehörige alt oder ungeeignet für die Arbeiten, und die Behandlung von Gruppen wie den Polen oder Tschechen, die zwar Bürger Österreich-Ungarns waren, aber als friendly enemies galten, blieb unklar. Damit verhinderten praktische Probleme bis 1916 einen umfassenden Arbeitseinsatz ziviler Feindstaatenangehöriger.128 Mit der Durchsetzung der Wehrpflicht mussten aber eingezogene britische Soldaten durch deutsche Kriegsgefangene ersetzt werden. Daraufhin wurden die Grenzen der Lager durchlässiger, und Kontakte mit britischen Zivilisten nahmen zu. Die verstärkte Arbeit außerhalb der Camps verbesserte auch das Verhältnis der Gefangenen zu den Briten. Dies traf aber deutlich weniger auf die Zivilinternierten zu, die in der Regel in den Lagern blieben. Obwohl im No127 Dazu das Protokoll vom 19. Mai 1915 in: LSF, FEWVRC/EME/6/1/1. Zit. nach dem Brief John Simons an Richter Hankey vom 29. September 1915, in: NA, HO 45/24677. Angaben nach: Panayi, Enemy, S. 81; Manz, Migranten, S. 265; Reinecke, Grenzen, S. 217. Vgl. auch Bohdan S. Kordan, Enemy Aliens. Prisoners of War. Internment in Canada during the Great War, Montreal 2002, S. 81; Thurlow, Secret State, S. 48 f., 58; Yarrow, Impact, S. 100; Müller, Recht, S. 387 f., 391. 128 NA, FO 383/473 (Schreiben vom 5. Juli 1918).

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vember 1917 bereits 29.511 Deutsche interniert worden waren, wurden auch die noch in Freiheit lebenden Zivilisten im Frühjahr 1918 erneut zum Ziel gewalttätiger Angriffe, als Großbritannien und Frankreich angesichts der Offensiven der deutschen Armeen an der Westfront und durch das Ausscheiden Russlands vor einer kriegsentscheidenden Niederlage zu stehen schienen.129 Noch am 8. Juli 1918 forderte Beresford im Oberhaus erneut, allen eingebürgerten Deutschstämmigen nachträglich die britische Staatsangehörigkeit zu entziehen. Gebetsmühlenartig verlangte er zudem die Internierung der 6.000 in Freiheit verbliebenden Deutschen. Im Namen der Sicherheit drängte er die Regierung nunmehr auch, die 6.000 Österreicher und Angehörige des Osmanischen Reiches, die noch nicht verhaftet worden waren, unverzüglich festzunehmen. Dagegen hoben die Lords Parmoor und Buckmaster in ihren Stellungnahmen die humanitäre Pflicht der britischen Regierung hervor, Eingebürgerte und Feindstaatenangehörige, die kein Vergehen oder Verbrechen begangen hatten, zu schützen. Parmoor bezog sich dabei ausdrücklich auf die „nationale Ehre“ des Vereinigten Königreiches. Drei Tage später zeigte Innenminister Cave zwar Verständnis für die akuten Sicherheitsängste; er wies aber auf den Beitrag vieler Eingebürgerter und Feindstaatenangehöriger zu den Kriegsanstrengungen Großbritanniens hin und rechtfertigte Ausnahmen für Alte, Kranke sowie Frauen und Kinder von enemy aliens. Darüber hinaus sollten Personen, die als Angehörige von Minderheiten in den gegnerischen Ländern lebten, nicht pauschal interniert werden. Auch Dalziel appellierte an Fairness, indem er eine undifferenzierte Unterdrückung von Feindstaatenangehörigen als „unbritisch“ verurteilte. Zugleich kritisierte er aber das Staatsangehörigkeitsgesetz, das 1913 in Deutschland erlassen worden war, als Deckmantel für illoyale Aktivitäten. Deutlicher forderte Wedgwood den Innenminister auf, die britischen Traditionen von Gerechtigkeit und Humanität zu beachten. Dieselben Werte verlangte Joynson Hicks aber auch für den Umgang mit britischen Gefangenen in Deutschland. Damit drohte er indirekt Vergeltung für die von ihm behauptete brutale Behandlung von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten im Kaiserreich an. Der konservative Abgeordnete John Rees (1854–1922) bedauerte sogar, dass Großbritannien an die Haager Konvention gebunden war und beklagte die aus seiner Sicht zu große Nachsichtigkeit der Regierung gegenüber den zivilen Feindstaatenangehörigen. Als Verfechter einer uneingeschränkten Sicherheitspolitik trat auch der konservative Abgeordnete Henry Page Croft auf, der von einem Netzwerk deutscher Verräter im Vereinigten Königreich ausging. Alles in allem zeigte sich am Kriegsende, dass die umfassende Internierung die radikalen Nationa-

129 Grady, Landscapes, S. 543, 546, 550, 556 f.; Panayi, Prisoners of War.

252  4 Sicherheit und „innere Feinde“

listen keinesfalls ruhiggestellt, sondern sie letztlich in ihren immer weitreichenderen Forderungen bestätigt hatte.130

Das Leben in den Internierungslagern Bis November 1915 hatten die Behörden schließlich 32.440 zivile Feindstaatenangehörige festgesetzt. Am 14. Dezember wurden in den Internierungslagern insgesamt sogar schon 45.749 Feindstaatenangehörige registriert; davon waren 13.475 Reservisten und 32.274 Zivilisten. Im Januar 1916 wurden insgesamt 32.295 Zivilinternierte gezählt, darunter 26.474 Deutsche, 5.664 Österreicher oder Ungarn und 157 Untertanen des Osmanischen Reiches. 7.286 Feindstaatenangehörige waren von der Internierung ausgenommen. Davon stellten Staatsangehörige Österreich-Ungarns allein 3.974, während 2.962 Deutsche waren.131 Nach der Einlieferung in Durchgangslager hatte die Polizei die Verhafteten im Herbst 1914 zunächst auf Schiffen und in provisorischen Lagern wie diejenigen in Olympia (London), Newbury und Lofthouse Park (nahe Wakefield in West Yorkshire) untergebracht. In dem Camp in Douglas (Insel Man) waren am 24. September 1914 die ersten 200 Gefangenen aufgenommen worden. Erst im darauffolgenden Jahr wurden die Internierten im Allgemeinen von Kriegsgefangenen getrennt, allerdings überwiegend innerhalb der Lager, die außerdem festgesetzte Seeleute aufnahmen. Nur in wenige Camps wies die britische Polizei ausschließlich Zivilisten ein, so in die ehemalige deutsche Landsiedlung Libury Hall (nahe Ware in Hertfordshire), wo sich im Mai 1916 159 Internierte aufhielten. Im darauffolgenden Monat wurden 188 Insassen (davon 178 Deutsche und zehn Italiener) registriert. Es handelte sich dabei überwiegend um ältere Männer, die mit Britinnen verheiratet waren und sich deshalb zu Kriegsbeginn geweigert hatten, nach Deutschland zurückzukehren. Gelegentlich nahmen sogar Camps, die für Soldaten und Offiziere eingerichtet worden waren, einzelne Zivilsten auf. So fand ein Inspekteur der US-Botschaft in London im April 1916 im Lager Handforth (Cheshire) einen Mann vor, der offenbar auf eigenen

130 Hansard, House of Lords Debates, Bd. 30, 8 Juli 1918, Sp. 649–694 („Enemy Aliens“), http://hansard.millbanksytems.com/lords/1918/jul/08/enemy-aliens, Zugriff am 14. Januar 2016); Hansard, House of Commons Debates, Bd. 108, 11. Juli 1918, Sp. 52–605 („Sir G. Cave’s Statement“), http://hansard.millbanksytems.com/commons/1918/jul/11/sir-g-caves-statement, Zugriff am 14. Januar 2016). 131 Farrar, Threat, S. 91; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 27; Manz, Migranten, S. 264; Speed, Prisoners, S. 146; Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 77; ders., Prisoners of War; Pöppinghege, Lager, S. 55; Kushner / Knox, Refugees, S. 45.

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Wunsch dorthin gekommen war, um regelmäßig seine kranke Ehefrau im nahegelegenen Manchester besuchen zu können.132 Der völkerrechtliche Status der Camps, die offiziell als Alien Detention Centres bezeichnet wurden, und ihrer Insassen blieb unklar. Auch eine wissenschaftliche Untersuchung konnte diese Frage nicht klären. Die Behörden vermochten die Insassen nicht eindeutig zuzuordnen, denn sie waren weder Verbrecher noch kriegsgefangene Soldaten, deren Behandlung die Haager Konvention festgelegt hatte. Vielmehr handelte es sich überwiegend um Feindstaatenangehörige, die sich bei Kriegsbeginn oft zufällig in Großbritannien aufgehalten hatten. Immerhin wurde Vertretern von Schutzmächten und Repräsentanten von Hilfsorganisationen wie dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes, der Young Men’s Christian Association und den Quäkern erlaubt, den Internierten zu helfen. Ebenso durften katholische Pfarrer und Geistliche die Lager besuchen und den Insassen beistehen.133 In vielen Camps bestanden gesellschaftliche Unterschiede fort. So waren in Lofthouse Park, wo im November 1915 rund 1.500 Insassen in einem früheren Kulturveranstaltungszentrum lebten, Angehörige der Oberschichten in relativ komfortablen Baracken untergebracht. Internierte, die sich den Aufenthalt in diesem privilegierten Lager leisten konnten, wurden vom britischen Innenministerium sogar gezielt in das Lager gebracht. Hier arbeiteten andere, weniger wohlhabende Insassen gegen Bezahlung für sie. Obgleich die Lebensverhältnisse alles in allem gut waren, hatten rund 400 Männer, die aus Afrika nach Wakefield gebracht worden waren, in dem Camp Malaria verbreitet.134 Im März 1916 befanden sich hier 1.457 Internierte, davon allein 1.334 Deutsche. Sie klagten im Frühjahr 1916 zwar über Langeweile, die verschlammten Wege und das Wasser auf dem Gelände. Auch wurde eine rasche Repatriierung nach Deutschland gefordert. Ansonsten aber fand der Inspekteur der amerikanischen Schutzmacht gute hygienische Verhältnisse vor. Auch die Versorgung der Insassen war ausreichend. Im Juni 1916 hatten sich die Lebensbedingungen im Lager Lofthouse

132 NA, FO 383/163, Bl. 248–252; United States, Embassy / Boylston A. Beal, Reports of Visits of Inspection Made by Officials of the United States Embassy to Various Internment Camps in the United Kingdom, London 1916, S. 10, 32. Vgl. auch Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 95 f.; Manz / Panayi, Enemies, S. 169 f. Zum Lager Douglas: Yvonne M. Cresswell (Hg.), Living with the Wire. Civilian Internment in the Isle of Man during the two World Wars, Douglas 1994, S. 9; Kewley Draskau, „Heimat“, S. 89. 133 Zusammenfassend: Braithwaite Thomas u. a. (Hg.), St. Stephen’s House, S. 66–70; Panayi, Enemy, S. 108; Manz, „Enemy Aliens“, S. 122, 130; Pöppinghege, Lager, S. 94, 107; Rachamimov, ‚Zivilhistoriographie‘, S. 30 f. 134 NA, FO 383/106 (Bericht „Wakefield Camp“); FO 383/143 (Bericht vom 11. Februar 1916); Manz / Panayi, Enemies, S. 173.

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Park nach den Beobachtungen des zuständigen US-Inspekteurs weiter verbessert, abgesehen von der Wasserversorgung und dem unbefestigten Gelände. Das britische Kriegsministerium wies deshalb im August 1916 Beschwerden der deutschen Reichsleitung über eine schlechte Verpflegung zurück. Insgesamt war das Camp im Ersten Weltkrieg fast durchweg mit mindestens 1.500 Insassen belegt; der höchste Wert betrug 2.400. Die deutliche Mehrheit der Internierten waren Deutsche.135 Große Lager für Kriegsgefangene und Zivilinternierte wurden besonders an entlegenen Orten eingerichtet, so in Wales und in Irland, wo im Juni 1916 in Oldcastle (nahe Meath) 578 Zivilisten (davon 468 Deutsche und 110 Österreicher). Im Juli 1917 wurden hier 494 Internierte gezählt, davon 398 Deutsche und 95 Bürger Österreich-Ungarns. Noch geeigneter erschien der britischen Regierung die Insel Man, die direkt der britischen Krone unterstand und weder dem Vereinigten Königreich zugehörte noch eine Kronkolonie war. Außerdem schien die Insel wegen der Lager an der britischen Westküste für die Unterbringung von Gefangenen besonders geeignet. Hier wurden von 1914 bis 1919 rund 25.000 männliche Internierte gezählt. Allein das Camp Knockaloe (nahe Peel), das in vier Lagerkomplexe mit insgesamt 23 Abteilungen aufgeteilt war, nahm bis Ende 1915 insgesamt rund 23.000 Internierte auf. Im April 1916 waren in dem Lager, das eigens zur Aufnahme festgesetzter enemy aliens errichtet worden war, noch 20.563 Zivilisten untergebracht, davon allein 16.936 Deutsche und 3.382 Österreicher. Im November 1917 belief sich die Zahl der Insassen, die aus Deutschland und der Habsburgermonarchie stammten, auf 15.773 bzw. 2.450. Demgegenüber lebten hier lediglich 22 Bulgaren. Die Zusammensetzung der Internierten, welche die britische Regierung aus verschiedenen Gebieten der Welt oder von aufgebrachten Schiffen nach Knockaloe gebracht hatte, war überaus heterogen. Beobachter der US-Schutzmacht registrierten noch Ende 1914 und Anfang 1915 eine gute Versorgung, zumal die Insassen einen Teil der Gewinne erhielten, welche die Kantine erzielte. Jedoch erschienen die Unterkünfte, die sanitären Bedingungen in den Lagerkrankenhäusern und die Versorgung mit Gemüse verbesserungsbedürftig. Überdies mussten sich alle Internierten an die militärische Disziplin gewöhnen, die ihnen die Kommandanten und Wachsoldaten auferlegten. Später verschlechterte sich die Versorgung. Ergänzend wiesen die amerikanischen Inspekteure schon 1916 auf die Folgen des monotonen Lebens im Lager Knockaloe hin, obwohl die verschiedenen Interniertenkomitees (vom Sport über Musik und Theater bis zur Herausgabe von Zeitungen) eine rege Aktivität entfalteten. Jedoch war die Gemeinschaft der Insassen im Lager keineswegs egalitär. Schon auf den Schiffen, auf denen sie – wie in 135 NA, FO 383/163, Bl. 18–21, 202–205, 369.

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Portsmouth – vorübergehend untergebracht worden waren, hatten die Behörden sie in drei Klassen mit unterschiedlicher Ausstattung untergebracht.136 Auch im Camp Douglas, das auf der Insel Man aus der Umwidmung eines Jugendferienlagers hervorgegangen war, wurde für privilegierte Gefangene ein abgetrennter Bereich eingerichtet, in dem sie besser versorgt wurden, mehr Platz hatten und einen Diener beschäftigen durften. Dieses Lager war im November 1914 schon mit 3.500 zivilen Feindstaatenangehörigen (darunter 2.000 Deutschen), im Ersten Weltkrieg aber durchschnittlich mit 2.500 Internierten belegt. 1916 lebten hier sogar rund 2.700 enemy aliens, davon fast 2.000 Deutsche. Im November 1917 wurden in Douglas 2.380 Zivilinternierte festgehalten, davon 1.638 Deutsche, 529 Österreicher und 13 Türken. Insgesamt variierte die Belegung im Ersten Weltkrieg zwischen 2.200 und 2.800 Insassen. In dem Camp hatten die räumliche Enge und das schlechte Essen schon im November 1914 einen Aufstand ausgelöst, bei dem Wachsoldaten fünf Gefangene erschossen und 19 Deutsche verletzten. Die Namen der Getöteten wurden der deutschen Regierung übermittelt.137 Auf dem Festland ragte das Lager Alexandra Palace (im Norden Londons) heraus, wo bis zu 3.000 Zivilinternierte auf engem Raum zusammenleben muss136 NA, FO 383/106 („Note of visit to prisoners’ camps“ vom 2. Februar 1915, S. 5, 8; „Bericht des Beauftragten des Amerikanischen Botschafters in London Chandler Hale über die Besichtigung der Gefangenenlager in Douglas und Peel auf der Insel Man und in Templemore in Irland“ vom November 1914), FO 383/163, Bl. 153–163, 390–399; „Bericht der Herren Ed. Naville und B. van Berchem vom Internationalem Komitee vom Roten Kreuz in Genf über die Besichtigung von Gefangenenlagern in England“ vom Januar 1915); FO 383/277 (Schreiben vom 7. August 1917); United States, Embassy / Boylston A. Beal, Reports, S. 13, 39. Angaben nach: Jennifer Kewley Draskau, Kulturkrieg und Frontgeist from behind the Wire. World War I Newspapers from Douglas Internment Camp, in: Gillian Carr / Harold Mytum (Hg.), Cultural Heritage and Prisoners of War. Creativity behind Barbed Wire, New York 2012, S. 207–226, hier: S. 207; Dina Gusejnova, Gegen Deutsches K. Z. Paradies. Thinking about Englishness on the Isle of Man during the Second World War, in: History of European Ideas 2020 (DOI: 10.1080/ 01916599.2020.1746076; Zugriff am 22. Mai 2020), S. 3; Stibbe, Internment, S. 57, 216. Übersichten in: Manz / Panayi, Enemies, S. 227–249; Gottlieb, Isle of Man, S. 152; Mytum, Tale, S. 33, 37– 40. 137 NA, FO 383/70 (Vermerk vom 22. Juli 1915); FO 383/106 („Bericht des Beauftragten des Amerikanischen Botschafters in London Chandler Hale über die Besichtigung der Gefangenenlager in Douglas und Peel auf der Insel Man und in Templemore in Irland“ vom November 1914). Angaben nach: NA, FO 383/277 (Brief vom 29. November 1917); Cresswell (Hg.), Living with the Wire, S. 11; Manz / Panayi, Enemies, S. 175; Panayi, Prisoners of War. Hinweise in: Gottlieb, Isle of Man, S. 152. Zum Lager Douglas auch Stibbe, Civilian Internment, S. 95; Harold Mytum, Materiality Matters: The Role of Things in Coping Strategies at Cunningham’s Camp, Douglas During World War I, in: ders. / Gillian Carr (Hg.), Prisoners of War. Archaeology, Memory and Heritage of the 19th and 20th Century Mass Internment, New York 2013, S. 169–187, hier: S. 170; ders., Tale, S. 36 f.

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ten. Im Mai 1915 waren hier 1.368 Angehörige der „Mittelmächte“ interniert. Ein Jahr später belief sich die Zahl der festgehaltenen zivilen enemy aliens bereits auf 2.334, davon 1.598 Deutsche, 695 Österreicher, 14 Türken und 27 Angehörige anderer Staaten, gegen die das Vereinigte Königreich Krieg führte. In drei Abteilungen des Gebäudes, in dem vor dem Krieg Unterhaltungs- und Kulturveranstaltungen stattgefunden hatten, konnten jeweils bis zu 1.000 Personen untergebracht werden. Die Lagergemeinschaft war auch hier keineswegs egalitär, denn Angehörige der Oberschichten mussten ihre Kleidung nicht selber waschen und ihnen wurde eine größere Privatsphäre gewährt. Alle Insassen – nahezu ausschließlich Männer – durften das Lager nur ausnahmsweise verlassen, so bei einer schweren Erkrankung enger Angehöriger. Der deutsche Anarchist Rudolf Rocker (1873–1958), der 1895 nach England gekommen und Ende 1914 interniert worden war, hat die Gesamtzahl der in Alexandra Palace Internierten in seinen Erinnerungen mit rund 17.000 beziffert.138 Rocker, dessen Ehefrau Milly 1916 verhaftet und nach Aylesbury (Buckinghamshire) verbracht wurde, ist auch ausführlich auf die Lebensumstände in dem Lager eingegangen. Obgleich die Mahlzeiten offenbar ausreichend waren, litten die Insassen unter der zunächst völlig unzureichenden Versorgung, der Anonymität und der Beschäftigungslosigkeit. Zwar bereiteten die Internierten ihr Essen im Allgemeinen selber zu, und sie waren auch für die Reinigung der Lager zuständig. Darüber hinaus organisierten sie in den Camps diverse Aktivitäten, so in Lofthouse Park, wo im Juni 1916 Zivilisten gefangen gehalten wurden, darunter 1.322 Deutsche, 122 Österreicher und drei Türken. Interniertenkomitees entwickelten u. a. Sport- und Bildungsprogramme, für die sie auch die wachsenden Bibliotheken nutzten. So verfügte das Camp Douglas schon im Mai 1916 über 5.000 bis 6.000 Bücher, die nach dem Bericht eines Inspekteurs der US-Botschaft in London eifrig gelesen wurden. In demselben Monat entfielen im Lager Libury Hall auf nur 188 internierte Zivilisten über 1.000 Bücher. In einzelnen Camps richteten Komitees der Insassen sogar kleine Universitäten mit Vorlesungsverzeichnissen ein. Darüber hinaus wurden Publikationen herausgegeben, die – wie die Knockaloe Lager-Zeitung – vereinzelt sogar außerhalb der Camps verkauft wurden. Obwohl die Mitteilungsblätter der deutschen Internierten im Verlauf des Ersten Weltkrieges nationalistischer wurden und auch die Bindung an die Heimat zusehends herausstrichen, duldeten die Lagerkomman138 NA, FO 383/106 („Report on Alexandra Palace Internment Camp“). Angaben nach: United States, Embassy / Boylston A. Beal, Reports, S. 23; Panayi, Prisoners of War; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 96; Stibbe, Civilian Internment, S. 95; Manz / Panayi, Enemies, S. 112. Zu den sozialen Unterschieden in den Lagern: Nadja Durbach, Comforts, Clubs, and the Casino: Food and the Perpetuation of the British Class System in First World War Civilian Internment Camps, in: Journal of Social History 53 (2019), S. 487–507.

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danten die Veröffentlichung, um die Insassen zu beschäftigen und Unruhen zu verhindern. Mit den Aktivitäten, zu denen auch künstlerische Arbeit gehörte, bemühten sich die Internierten, ihren Zwangsaufenthalt kreativ zu nutzen und ihm Sinn zu verleihen.139 In nahezu allen Lagern wurden Krankenabteilungen oder -häuser und in Dartford sogar ein eigenes Hospital eingerichtet, in dem im Juli 1917 32 Zivilisten versorgt wurden. Der zuständige Inspekteur nahm den Kommandanten gegenüber kritischen Berichten, die im Mai 1917 in Deutschland in der Frankfurter Zeitung erschienen waren, ausdrücklich in Schutz. Dies galt auch für eine psychiatrische Anstalt, in der im Juli 1917 44 deutsche Zivilinternierte behandelt wurden. Einige Camps waren auch ausschließlich der Unterbringung von Zivilisten gewidmet. So ließ die Regierung im Juni 1917 das Kriegsgefangenenlager in Codford (Wiltshire) vollständig räumen, um dort Zivilinternierte unterzubringen. Ebenso wurden Zweiglager gegründet, so im Sommer 1917 ein Camp in Bulford, in das Zivilinternierte aus Knockaloe gebracht wurden, die Familien in Großbritannien hatten und sich zur Arbeit bereit erklärt hatten. Hier waren im Oktober 1917 191 Zivilisten untergebracht.140 Wie bereits erwähnt, entwickelten die Internierten in vielen Lagern ein breites Spektrum von Aktivitäten, die als Strategien zur Bewältigung des erzwungenen Aufenthaltes gelten können. Dazu gehörten u. a. Sportwettkämpfe, Fortbildungskurse und handwerkliche Arbeiten. Vereinzelt wurden sogar kleine Universitäten mit Veranstaltungen angeboten. Auch Theateraufführungen waren populär. Dabei verwischten die männlichen Insassen oft Unterschiede zwischen Geschlechtern, indem sie Frauenrollen spielten. Im Camp Stobs (nahe Hawick im Süden Schottlands), in dem im Oktober 1915 rund 2.400 und im Februar 1916 2.283 zivile Feindstaatenangehörige interniert waren, hatten die Insassen mit Zustimmung des Kommandanten sogar ein eigenes Schiedsgericht eingerichtet, das Streitigkeiten schlichtete. Obwohl sie die drückende Langeweile allenfalls lindern konnte, stärkte die Lagerselbstverwaltung doch das Selbstbewusstsein der Insassen, und sie erleichterte die Anpassung an das neue Leben in den Camps, in denen kleine abgetrennte Privatsphären entstanden. Auch persönliche Gegenstände wie Bücher und Bilder bewahrten Identitäten und Bindungen an die Heimat. Damit wurden auch harte klimatische Bedingungen – so in Stobs 139 Iris Rachamimov, Camp Domesticity. Shifting Gender Boundaries in WWI Internment Camps, in: Carr / Mytum (Hg.), Heritage, S. 291–305, hier: S. 303; Kewley Draskau, „Heimat“, S. 90; Mytum, Tale, S. 41. Angaben nach: United States, Embassy / Boylston A. Beal, Reports, S. 19, 27, 31. Vgl. auch Rudolf Rocker, Alexandra Palace Internment Camp in the First World War 1914–1918 (Ms., British Library, London), S. 1, 4–6, 16, 21 f., 35–37, 41–44, 58. Zu Milly Rocker: Proctor, Intelligence, S. 34. 140 NA, FO 383/277 (Schreiben vom 30. und 31. Juli sowie vom 6. und 9. Oktober 1917).

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die Kälte im Winter – erträglicher. Trotz der vielfältigen Tätigkeiten wuchs im Verlauf des Krieges in den britischen Lagern allgemein der Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, unter den internierten Zivilisten ebenso wie unter den Kriegsgefangenen. Dazu wurde vielfach ein Abkommen zum Austausch von Gefangenen gefordert. Zugleich fürchteten einzelne Internierte offenbar die Rückkehr in eine deutlich veränderte Nachkriegsgesellschaft, so dass sie sogar schon bewilligte Repatriierungen verweigerten.141 Außerhalb der Camps wurden Zivilinternierte im ersten Kriegsjahr nicht beschäftigt, da vor allem britische Nationalisten Sicherheitsgefahren wahrnahmen und Gewerkschaften Lohnkonkurrenz befürchteten. Zudem hatten Diplomaten der Schweiz den deutschen Lagerinsassen mitgeteilt, dass ihre Regierung nur Tätigkeiten innerhalb der Camps billigte. Erst als der Arbeitskräftemangel im Vereinigten Königreich Ende 1915 zunahm, begann mit der Produktion von Postsäcken eine systematische Beschäftigung. Im Februar 1916 gab die Regierung Anweisungen zur Arbeit von Lagerinsassen für staatliche Institutionen und private Unternehmen heraus. Im Herbst dieses Jahres bildete das Kriegskabinett schließlich das Prisoners of War Employment Committee, das allerdings überwiegend Kriegsgefangenen Beschäftigung gegen Entgelt vermittelte. Damit konnten sie ihre Nahrungsmittelrationen erhöhen. Direkte Beziehungen zwischen den Lagerinsassen und Unternehmen oder Kunden, die Produkte abnahmen, wurden grundsätzlich unterbunden.142 Obgleich damit immerhin Beschäftigungsangebote geschaffen worden waren, führten die fehlende Privatsphäre und das Misstrauen zwischen den Gefangenen in den Lagern weiterhin zu Konflikten, zumal auch soziale Unterschiede zwischen den Insassen fortbestanden. Kommandanten, welche jeweils die Ordnung im Lager bestimmten, und Wachleute verschärften gelegentlich die Spannungen, oft durch Schikanen und Gedankenlosigkeit. Nicht zuletzt sorgten Nachrichten über Misshandlungen britischer Gefangener in Deutschland und Presseberichte, in denen den Behörden vorgeworfen wurde, die Internierten zu verwöhnen, in einzelnen Camps für erhebliche Unruhe. So wurden deutschen Internierten vorübergehend Vorträge über deutsche Literatur mit dem Hinweis auf eine ähnliche Einschränkung in Lagern des Kaiserreiches verboten. Nicht zuletzt wegen dieses Druckes, Vergeltung zu üben, zögerten auch mitfühlen141 Iris Rachamimov, Liminality and Transgression. Breaching Social Boundaries in the First World War Internment Camps, in: Anne-Marie Pathé / Fabien Théofilakis (Hg.), Wartime Captivity in the 20th Century. Archives, Stories, Memories, New York 2016, S. 84–94, hier: S. 87; dies., Camp Domesticity, S. 302 f.; Mytum, Materiality, S. 171–186. Zu Stobs: NA, FO 383/106 („Report on Stobs Internment Camp“); United States, Embassy / Boylston A. Beal, Reports, S. 7, 15; Manz / Panayi, Enemies, S. 174. 142 NA, HO 215/334 (Memorandum „Employment of Prisoners of War & Enemy Aliens“).

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dende Wachsoldaten und -offiziere, das Alltagsleben der gefangenen enemy aliens in den Camps zu erleichtern. Alles in allem prägten nicht nur die Behandlung, Versorgung und Beschäftigungsangebote die Verarbeitung des erzwungenen Lageraufenthaltes, sondern auch dessen Dauer und die frühere gesellschaftliche Position der betroffenen Personen. Ebenso müssen der Einfluss der Presse und die Beziehungen zur Außenwelt durch Besuche von Angehörigen und Postsendungen in Rechnung gestellt werden.143 Viele internierte Feindstaatenangehörige litten in oft abgelegenen Lagern, so in Lofthouse Park und in Stobs, wo sowohl Kriegsgefangene als auch Zivilisten untergebracht waren. Im Februar 1916 belief sich die Zahl der Insassen im Camp Stobs auf insgesamt 4.616 und im April auf 4.592. Davon waren 2.269 Zivilinternierte (2.089 Deutsche, 178 Österreicher und zwei Türken). Durchschnittlich erreichte die Belegung im Ersten Weltkrieg hier 4.500 Gefangene. Offenbar deutlich schlechter waren die Lebensbedingungen im Londoner Lager Stratford. Im Rückblick wurden die Probleme in den Camps zwar oft beschönigt. So urteilte ein deutscher Internierter 1931: „… we were treated exactly the same as British prisoners were being treated in Germany.“ Jedoch hielten die britischen Behörden die Bestimmungen der Haager Konvention für die Behandlung von Kriegsgefangenen überwiegend ein, auch um Repressalien gegen eigene Staatsangehörige zu vermeiden, die sich im Gewahrsam der „Mittelmächte“ befanden.144 Dennoch verschlechterte sich die Versorgung der Internierten im Kriegsverlauf. Darüber hinaus waren die psychischen Folgen des Aufenthaltes in den Lagern erheblich. In den männlichen Zwangsgemeinschaften entwickelten sich emotionale Bindungen und sexuelle Beziehungen, die vielfach gesellschaftliche Normen respektierten, diese aber auch immer wieder überwanden und verletzten. Vor allem litten die Internierten unter ihrer Machtlosigkeit, denn als wehrlose Gefangene, die nicht an den Kämpfen teilgenommen hatten, konnten sie den vorherrschenden politischen und gesellschaftlichen Leitbildern des Kriegers und Ernährers nicht gerecht werden. Sie versuchten deshalb, sich in die Kriegsanstrengungen ihres Heimatlandes einzuschreiben, wenn sie sich noch dem Staat, aus dem sie oder ihre Vorfahren stammten, verpflichtet fühlten. So bezeichneten sich die deutschen Internierten oft bewusst als „Kriegsgefange143 Vgl. Reinecke, Grenzen, S. 229 f. 144 Paul Cohen-Portheim, Time Stood Still. My Internment in England 1914–1918, Oxford 1931, S. 43. Allerdings verschwieg Cohen-Portheim keineswegs völlig die schlechten Lebensbedingungen in den Lagern. Vgl. Panayi, Immigration, S. 107, 152 f.; Manz / Panayi, Enemies, S. 171 f. Angaben nach: United States, Embassy / Boylston A. Beal, Reports, S. 15; NA, FO 383/33; Panayi, Destruction, S. 123; ders., Prisoners of War; Manz, „Enemy Aliens“, S. 126. Zum Lager Stobs auch: Pöppinghege, Lager, S. 60.

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ne“. Damit sollte die Last des Lagerlebens dramatisiert werden. Dem Zweck der (Selbst-)Rechtfertigung diente auch der Rekurs vieler Lagerinsassen auf zentrale Topoi der deutschen Kriegspropaganda, besonders „Kulturkrieg“ und „Frontgeist“. Damit dokumentierten sie ihre nationale Loyalität. Zugleich entwickelten jedoch zumindest die Internierten auf Man auch eine Bindung an die Insel und ihre Bewohner.145

Wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen Über die Internierung hinaus wurden zivile Feindstaatenangehörige Opfer ökonomischer Restriktionen. Das erste Gesetz, das am 18. September 1914 erlassen wurde, basierte auf einer Erklärung vom 5. August 1914, die Geschäfte mit Angehörigen gegnerischer Staaten grundsätzlich verbot. Dies betraf kleine Handwerksbetriebe ebenso wie Niederlassungen multinationaler Konzerne unter deutscher Führung. Der am 18. September 1914 in Kraft getretene Trading with the Enemy Act verbot den Handel mit deutschen und österreichisch-ungarischen Unternehmen in „feindlichem Territorium“ (hostile territory). Ein ergänzendes Gesetz vom 27. November 1914 erlaubte der Regierung, Inspektoren zu ernennen, die das Eigentum von Feindstaatenangehörigen kontrollierten. Nach weiteren Ergänzungen durften enemy aliens keine Finanzgeschäfte mehr abwickeln und kein Vermögen ins Ausland transferieren. Allerdings exportierten britische Firmen über neutrale Länder weiterhin Güter in die „Mittelmächte“. Außerdem blieben wirtschaftliche Aktivitäten von Unternehmen, an denen Deutsche beteiligt waren, im Vereinigten Königreich weiterhin erlaubt. Nicht zuletzt konnten Ausnahmegenehmigungen für Exporte beantragt werden. Ende 1914 erreichten eine dafür eingesetzte Kommission täglich mehr als 900 derartige Gesuche.146 1915 verstärkte sich der Druck nationalistischer und militaristischer Politiker, Agitationsverbände und Presseorgane, die einen verschärften Kampf gegen „innere Feinde“ propagierten. Damit gerieten die Anhänger des Wirtschaftsliberalismus in der Regierung – besonders McKenna und Simon – zusehends unter Druck. Nach einer Verordnung vom 11. März sollte die Kriegsmarine vor allem Frachten, die für Deutschland bestimmt waren, ausnahmslos unterbinden. Außer der Seeblockade wurden auch Sanktionen gegen Personen verschärft, die gegen die Handelsbeschränkungen verstoßen hatten. Angeklagte mit deutschen Namen erhielten besonders harte Haft- oder Geldstrafen. Überdies durften Per145 Kewley Draskau, „Heimat“, S. 83, 85, 87, 89, 96 f., 100, 102–104; dies., Kulturkrieg, S. 207 f., 210, 218 f., 222 f.; Rachamimov, Camp Domesticity, 295, 298 f. 146 McDermott, Trading with the Enemy, S. 205.

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sonen, die im Vereinigten Königreich lebten, nach dem 1915 erlassenen Enemy (Extension of Powers) Act keinen Geschäftsverkehr mehr mit Firmen unterhalten, die Verbindungen zu Deutschland aufwiesen. Feindstaatenangehörige verloren zudem Patente; dabei entfiel ein Anspruch auf Entschädigung, auch nach dem Ende des Krieges. Darüber hinaus wurden Gerichte ermächtigt, Treuhändern, die für England, Schottland, Wales und Irland ernannt wurden, Eigentum und Vermögen zu übergeben. Auch das Board of Trade konnte Verwalter einsetzen.147 Mit einem weiteren, besonders einschneidenden Gesetz verschärfte die britische Regierung am 27. Januar 1916 die wirtschaftlichen Restriktionen. Nach dem Trading with the Enemy Amendment Act konnten nunmehr alle Geschäfte von enemy aliens liquidiert werden. Darüber hinaus mussten Unternehmen ab 1916 deutsche Partner angeben. Der Registration of Business Names Act, der Firmen diese Pflicht auferlegte, zielte darauf, Beteiligungen offenzulegen und zu unterbinden. Diese Gesetze waren zwar den Zielen verpflichtet, den wirtschaftlichen Einfluss der enemy aliens im Vereinigten Königreich zu brechen und den gegnerischen „Mittelmächten“ wirtschaftliche Ressourcen zu entziehen. Zugleich sollte aber schon lange unerwünschte Konkurrenz beseitigt und die britische Gesellschaft für den Krieg mobilisiert werden. Dabei war die Übernahme fremden Eigentums ein materieller Anreiz. Damit hatte die Regierung aber den überlieferten Schutz des Privateigentums aufgegeben. Zudem war sie vom Wirtschaftsliberalismus abgerückt, den noch die Kampagne des konservativen Spitzenpolitikers Joseph Chamberlain (1836–1914) für Schutzzölle von 1906 bis 1910 nicht nachhaltig erschüttert hatte.148 Insgesamt beschlagnahmten Gerichte schon bis Ende 1915 fünf Millionen Pfund, während der Board of Trade Feindstaatenangehörigen Eigentum im Wert von 500.000 Pfund entzog. In den ersten Kriegsmonaten sollten geschäftliche Beziehungen zwischen Briten und enemy aliens im Allgemeinen aber lediglich beendet und das Eigentum von Ausländern kontrolliert werden. Demgegenüber ging die Regierung ab 1916 zu einer systematischen Beschlagnahme über. Insgesamt wurden im Ersten Weltkrieg 583 Unternehmen abgewickelt, davon allein 1916 392.149 Auch anschließend nutzten die Behörden gezielt die Gelegenheit, besonders die Deutschen aus der Wirtschaft auszuschließen. So ver147 Hierzu und zum Folgenden: Panayi, Business Interests, S. 247 f., 250 f.; ders., Enemy, S. 135–141; ders., Immigration, S. 106; ders., Destruction, S. 119 f.; ders., Fremdenfeindlichkeit, S. 77; Roxbury, German Property, S. 50; Searle, A New England?, S. 774; Caglioti, Property Rights, S. 5; Manz, Migranten, S. 284; McDermott, Trading With the Enemy, S. 208–212. Zeitgenössisch: Page, War, S. 38. 148 McDermott, Trading with the Enemy, S. 213–216. 149 Ebd., S. 216 f.

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bot die Retail Business (Licensing) Order ab Februar 1918 die Eröffnung von Läden im Einzelhandel ohne Lizenz, und im August untersagte ein weiteres Gesetz Betrieben, die Feindstaatenangehörige kontrollierten, sogar Geschäfte in den ersten fünf Jahren nach dem Kriegsende. Dabei konnten sie auf die Mitwirkung einiger britischer Unternehmer und Geschäftsleute rechnen. So wandte sich der Verband der Klavierbaubetriebe gegen Deutsche, die in Großbritannien in dieser Branche produzierten. Einzelne Firmen wie English Electric Co. gingen sogar direkt aus dem Zwangsverkauf deutscher Konkurrenten hervor. Insgesamt nötigten Gesetze, die nach dem Trading with the Enemy Act erlassen wurden, viele Deutsche, Österreicher und Ungarn letztlich, ihre Betriebe in Großbritannien zu schließen. Im Unterschied zu den Internierungen gründeten die Enteignungen aber auf Gesetzen. Zudem erwies sich der Rekurs auf die Sicherheit des Landes als ambivalent, denn er schützte gelegentlich sogar Unternehmen, die (eingebürgerten) Deutschen gehörten, vor der Abwicklung.150

Die Unterdrückung von britischen Staatsbürgern als „innere Feinde“ Die Februar- und Oktoberrevolution in Russland 1917 lösten in Großbritannien innere Unruhen aus, die nicht mehr ausschließlich auf eine Spionage und Unterwanderung durch Angehörige der gegnerischen Nationen, sondern auch auf „innere Feinde“ unter den Briten zurückgeführt wurden, besonders Sozialisten, Pazifisten und Wehrdienstverweigerer. Sie wurden mit den äußeren Kriegsgegnern assoziiert oder sogar gleichgesetzt. Aber schon ab 1916 war in Großbritannien die Opposition gegen den Krieg zunehmend brutal unterdrückt worden. Damit hatte sich die Arbeit der Sicherheitsbehörden von der Spionageabwehr auf den Kampf gegen Subversion verlagert. Schon früh wurden offene Kriegsgegner verfolgt. So verfolgten der Special Branch und der MI5 einflussreiche Pazifisten wie den Publizisten Norman Angell und den Gründer der am 5. August 1914 gebildeten UDC, Edmund Dene Morel, der bereits ab 1900 mit Photographien die Massaker der belgischen Kolonialmacht im Kongo dokumentiert und eine öffentliche Kampagne dagegen initiiert hatte. Die UDC, die im Krieg unablässig auf einen Verhandlungsfrieden ohne Annexionen drängte, verlangte eine demokratische Kontrolle der Außen- und Rüstungspolitik. Unterstützt von der Independent Labour Party, trat die UDC für eine internationale Zusammenarbeit aller Staaten ein. Der Verband hatte schon bis Ende 1915 mehr als 300.000 Mitglieder gewonnen. Sie waren in 107 Gruppen organisiert. 1918 hatten sich der 150 Ebd., S. 215; Panayi, Business Interests, S. 250–254; ders., Fremdenfeindlichkeit, S. 77; Roxbury, German Property, S. 56, Caglioti, Property Rights, S. 9 f.

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UDC sogar 650.000 Kriegsgegner angeschlossen. Prominente Mitglieder wie Norman Angell traten schon während des Ersten Weltkrieges für die Gründung eines Völkerbundes ein. Auch pazifistische Organisationen, die – wie die Neutrality League – zwischen den Deutschen und ihrer Regierung unterschieden, wurden von der Regierung und Nationalisten denunziert, ohne dass damit die Friedenskampagne abbrach. Im darauffolgenden Jahr übergaben die britischen Pazifisten Premierminister Lloyd George eine Petition, in der 200.000 Unterzeichner für einen Verhandlungsfrieden eintraten. Ein Jahr später hatten sich der UDC schon rund 650.000 Briten angeschlossen. Allerdings war die Organisation keineswegs homogen und geschlossen, denn radikale Pazifisten, die – wie John Morley – Kriege grundsätzlich ablehnten und deshalb den Eintritt Großbritanniens in den Ersten Weltkrieg verurteilt hatten, trafen auf Mitglieder, die zumindest den Kampf gegen Deutschland rechtfertigten. Arthur Henderson, der an der Gründung der UDC beteiligt war, amtierte im Kriegskabinett unter Lloyd George sogar weiterhin als Minister.151 Die Regierung, besonders der seit 1916 amtierende Innenminister George Cave, bemühte sich mit verschiedenen Maßnahmen, den Einfluss des pazifistischen Verbandes in der Öffentlichkeit zurückzudrängen. Die UDC wurde beschuldigt, die britischen Kriegsanstrengungen zu sabotieren. Dieser Vorwurf, den die Friedensaktivisten energisch zurückwiesen, richtete sich auch gegen die Quäker, weil die Society of Friends den Krieg im Allgemeinen und die Wehrpflicht im Besonderen ablehnte. Daneben unterstützten die Nationalisten Verbände wie das nach der russischen Februarrevolution 1917 gebildete National War Aims Committee (NWAC), das institutionell und personell eng mit der Regierung verflochten war. Das Komitee, das allein vom 4. August bis 10. Oktober 1917 in 3.192 Versammlungen die Weiterführung des Krieges propagierte, bezichtigte die britischen Pazifisten, im Sold der Deutschen zu stehen und von ihnen kontrolliert zu werden. Führende Vertreter der UDC wie Morel wurden unter diesem Vorwand verfolgt. Der Sicherheitsdienst überwachte seinen Postverkehr und sein Telefon. Im August 1917 wurde er schließlich zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt, weil er angeblich zu Streiks aufgerufen hatte, um die Waffenproduktion zu unterbinden. Auch verbot das Kriegsministerium 1916 die Verbreitung pazifistischer Propaganda. Alle Aktivitäten der UDC unterlagen fortan strenger behördlicher Kontrolle. Unter dem

151 Angaben nach: Lademacher, Illusion, S. 388; Searle, A New England?, S. 764; Ewing / Gearty, Struggle, S. 63. Andere Angaben in: Degroot, Blightly, S. 144. Vgl. auch Andrew, Defence of the Realm, S. 85 f.; Ceadel, Angell; Nehring, Friedensbewegungen, S. 104; Pogge von Strandmann, Mood, S. 59 f., 69; Später, Vansittart, S. 52. Zu Morels Aktivitäten im Kongo: Barnett, Empire, S. 29.

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Eindruck des Umsturzes durch die Bolschewiki Im November 1917 beschloss eine Kommission des Innenministeriums, der sowohl Kell als auch Thomson angehörten, schließlich, zehn kleinere pazifistische Verbände im Hinblick auf Zahlungen aus Deutschland zu untersuchen, obwohl in einer Expertise des Special Branch keinerlei Anhaltspunkte dafür präsentiert worden waren. Die Polizei beschlagnahmte die Unterlagen dieser Organisationen und ließ deren Zuwendungen prüfen. Auch dieser Übergriff gegen grundlegende Freiheitsrechte blieb ohne greifbares Ergebnis. Er spiegelte aber die Verschwörungsvorstellungen der Regierung – besonders des Innenministers Cave – wider und schwächte die britischen Pazifisten.152 Die Sicherheitsexperten beobachteten auch entschiedene Gegner der Wehrpflicht, die im Januar 1916 für Junggesellen und im Mai für alle militärdienstfähigen Männer (mit Ausnahme Irlands) eingeführt worden war, mit Argusaugen. So durchsuchten Polizeioffiziere des Special Branch am 5. Juni 1916 die Londoner Zentrale der No-Conscription Fellowship, die der Sozialist und Pazifist Clifford Allen (1889–1939) im Dezember 1914 auf Initiative des Quäkers Henry Hodgkin (1877–1933) gegründet hatte. Bei der Polizeiaktion wurden Unterlagen und Propagandamaterial der Organisation beschlagnahmt. Am darauffolgenden Tag richtete sich eine ähnliche Durchsuchung gegen den National Council Against Conscription. Die Kriegsdienstverweigerer, die als „Drückeberger“ denunziert wurden, galten in den Behörden als Sicherheitsrisiko, obwohl im Ersten Weltkrieg nur 1.500 Briten den Wehrdienst kategorisch ablehnten und deshalb inhaftiert wurden. Weitere 7.000 leisteten Ersatzdienst in nicht kämpfenden Einheiten, und 3.000 wurden in Arbeitslager eingewiesen, die das Innenministerium betrieb. Dennoch steigerte die Wehrpflicht den Antisemitismus. So warfen radikal-nationalistische Agitatoren Juden vor, Ausnahmebestimmungen zu nutzen, um damit den Militärdienst zu umgehen. Zugleich jedoch profitierten sie angeblich vom Krieg. Dieser Vorwurf richtete sich auch gegen die 25.000 bis 30.000 russischen Männer, die sich in Großbritannien aufhielten.153 Nachdem der bekannte konservative Politiker Lord Lansdowne (1845–1927) im November 1917 in einem offenen Brief für einen Verständigungsfrieden ein152 Vgl. Millman, Dissent, S. 21–23, 229–251 (Angabe: S. 234); Hiley, Counter-Espionage, S. 650, 654 f., 657; Porter, Origins, S. 169; Andrew, Secret Service, S. 199, 226 f.; ders., Defence of the Realm, S. 102 f.; Searle, A New England?, S. 769; Horne, Remobilizing for ‚Total War‘, S. 197, 199 f.; Degroot, Blightly, S. 152. Zum NWAC: Michael L. Sanders / Philip M. Taylor, Britische Propaganda im Ersten Weltkrieg 1914–1918, Berlin 1990, S. 62–66. 153 Hierzu und zum Folgenden: Andrew, Secret Service, S. 194; ders., Defence of the Realm, S. 94; Englander, Police, S. 113; Searle, A New England?, S. 766 f.; Degroot, Blightly, S. 153; Millman, Dissent, S. 210; Ormerod Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 180.

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getreten war und die neue Regierung der Bolschewiki am 15. Dezember einen Waffenstillstand mit Deutschland geschlossen hatte, verquickten sich Ressentiments gegen Juden mit antikommunistischen Feindbildern. Bertrand Russell (1872–1970), einer der führenden Repräsentanten der No-Conscription Fellowship, wurde 1918 wegen der Veröffentlichung „aufrührerischer“ Texte sogar zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die Repressionsmaßnahmen waren vorrangig auf die überzogene Furcht der Behörden vor einer Behinderung der Kriegsanstrengungen in einer kritischen Phase der Kämpfe zurückzuführen und weniger auf die Stärke der Organisationen selber. Vorherrschend blieben bis zum Kriegsende vielmehr der Patriotismus und die Bereitschaft zum Durchhalten. Allerdings trafen die Bemühungen der Regierung, die Stimmung mit Hilfe des 1914 gegründeten Amtes für Kriegspropaganda (War Propaganda Bureau) im Londoner Wellington House zu lenken, vor allem im Unterhaus auch auf Skepsis. Noch größeres Misstrauen erregte die Bildung eines Informationsministeriums 1917, zumal es direkt Lloyd George unterstellt wurde und es aus Sicht vieler liberaler und Labour-Politiker ein innenpolitisches Machtinstrument des Premierministers gegen das Parlament war. Unumstrittener blieb eine Abteilung für Propaganda in feindlichen Staaten, mit dessen Leitung Lloyd George im Februar 1918 Northcliffe beauftragte.154 Wie dargelegt, hatte die Repression der Sicherheitsapparate schon zuvor auch die Arbeiter erfasst. Sie wurden beschuldigt, die Rüstungsproduktion zu sabotieren. Die zunehmenden Unruhen in Russland und die Furcht vor einem revolutionären Umsturz in Großbritannien verliehen der Kampagne gegen „innere Feinde“ kräftig Auftrieb. So heizte Horatio Bottomley den Chauvinismus an, indem er Streiks pauschal denunzierte und alle Sozialisten des Verrats bezichtigte. Diesen Vorwurf verbreitete auch die Anti-Socialist Union, die aber eine offene Herausforderung des Kriegskabinetts unter Lloyd George – und damit den Bruch mit der Politik des nationalen Konsenses – scheute. 1915/16 war die Regierung aber erstmals während des Krieges über die Streiks alarmiert, die im Raum Glasgow (Schottland) die Produktion kriegswichtiger Güter zeitweise lahmlegten. In der Clydeside protestierten besonders die Independent Labour Party (ILP), die British Socialist Party (BSP) und lokale Organisationen wie das Clyde Workers Committee gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und die Vormacht der Arbeitgeber, die qualifizierte Beschäftigte durch ungelernte er154 Sanders / Taylor, Propaganda, S. 40–44, 66–80, 200 f.; Hirschfeld / Krumeich, Deutschland, S. 102. Zur Debatte über den im Daily Telegraph veröffentlichten Brief Lansdownes, der daraufhin aus der Konservativen Partei ausgeschlossen wurde: Justin Quinn Olmstead, Peace, a Tactical Approach: How Britain and Germany Abused the Promise of Peace during the First World War, in: ders. (Hg.), Reconsidering Peace and Patriotism during the First World War, Basingstoke 2017, S. 117–125; Horne, Remobilizing for ‚Total War‘, S. 203.

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setzten. Die Regierung verbot daraufhin Zeitungen der Streikenden und der Linkssozialisten wie den Worker und Forward. Die Initiatoren der Arbeitsniederlegungen – so John MacLean (1879–1923) und William Gallacher (1881–1965) – wurden verhaftet, verurteilt und inhaftiert. Einzelne Vertreter der Arbeiterbewegung wiesen die Behörden sogar auf der Grundlage der Regulation 14 des DORA aus dem Streikgebiet aus. Bis Ende März 1916 konnte der Ausstand mit diesen restriktiven Maßnahmen erstickt werden, und bis 1918 wurde kein Fall gezielter Sabotage in kriegswichtigen Betrieben bekannt.155 Die ILP, die sich für einen dauerhaften Frieden auf der Grundlage einer grenzüberschreitenden Verbrüderung einsetzte, blieb letztlich schwach. Bis 1917 traf vor allem das Stop-the-War Committee, das der bekannte Labour-Politiker Keir Hardie (1856–1915) mitgründete, nur auf eine geringe Resonanz. Am Kriegsende verfügte die ILP über lediglich 35.000 Mitglieder. Die BSP propagierte auf einer Konferenz, die sie im Juni 1917 mit Unterstützung der ILP durchführte, zwar einen Frieden ohne Annexionen. Diese Forderung blieb in Großbritannien aber politisch letztlich ebenso marginal wie der Ruf nach Arbeiter- und Bauernräten, zumal die BSP 1917 nur 6.435 Mitglieder hatte. Ebenso begrenzt waren die Auswirkungen der Streiks. Die Arbeitszeit, die während des Ersten Weltkriegs verloren wurde, belief sich nur auf ein Viertel des entsprechenden Wertes für die Jahre von 1910 bis 1914. Obgleich sich die Zahl der ausgefallenen Werktage in den letzten beiden Kriegsjahren von rund 2,4 auf fast 5,9 Millionen sprunghaft erhöhte, übertrafen Ausfallzeiten, die Arbeitsniederlegungen von 1918 bis 1921 verursachten, den im Ersten Weltkrieg erreichten Wert um mehr als das Zehnfache.156 Nachdem im Sommer 1917 eine weitere große Offensive britischer Truppen bei Passchendaele unter hohen Verlusten von 275.000 Soldaten gescheitert war, breitete sich vor allem in der Arbeiterschaft Kriegsmüdigkeit aus.157 Hinzu kam die Anziehungskraft der Oktoberrevolution in Russland. Obgleich der Ruf „Follow Russia“ im Vereinigten Königreich nicht unmittelbar Proteste auslöste, nahm die Unruhe in der britischen Arbeiterschaft wegen der zunehmenden sozialen Ungleichheit nunmehr erheblich zu. Vor allem im Bergbau, in der Munitionsproduktion, im Transportsystem und im Maschinenbau wuchsen die Spannungen. Während Unternehmer in der Rüstungsindustrie hohe Gewinne ver155 Andrew Rothstein, The Soldiers’ Strikes of 1919, London 1980, S. 10; Hiley, Counter-Espionage, S. 648–655, 660; Millman, Dissent, S. 11 f., 34; Ewing / Gearty, Struggle, S. 71–80; Sykes, Radical Right, S. 38–42; Degroot, Blightly, S. 160; Andrew, Secret Service, S. 193 f.; Searle, A New England?, S. 820; Porter, Origins, S. 169, 180. 156 Andrew, Secret Service, S. 198; ders., Defence of the Realm, S. 66, 98 f. Angaben nach: Rothstein, Soldiers’ Strikes, S. 8; Degroot, Blightly, S. 151; Searle, A New England?, S. 756, 764. 157 Angabe nach: Stevenson, 1917, S. 201.

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buchten, mussten Arbeiter deutliche Preissteigerungen für lebensnotwendige Güter hinnehmen. Auch war der Zugang zu Lebensmitteln ungleich. Zudem wurden qualifizierte Facharbeiter durch ungelernte Beschäftigte ersetzt. Diese dilution drohte die Macht der Gewerkschaften zu unterhöhlen. Der Protest entlud sich in Streiks, die 1915/16 vor allem das Industriegebiet um Glasgow und das Kohlerevier von Südwales (wo Arbeiter schon 1911 für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungengekämpft hatten) erschütterten. Ausstände führten im Vereinigten Königreich zum Verlust von drei bzw. 2,5 Millionen Arbeitstagen. Die Streiks, die von Gewerkschaftsvertretern in den einzelnen Betrieben organisiert worden waren, richteten sich auch gegen die Kooperation des Trades Union Congress (TUC) mit der Regierung und die Mitwirkung des Spitzenverbandes bei der Organisation der Kriegsanstrengungen. 1917 gingen in Großbritannien nochmals rund eine halbe Million Arbeitstage verloren, bevor die Streikaktivität im darauffolgenden Jahr abnahm.158 Vor diesem Hintergrund 1917/18 rückte die Furcht vor inneren Unruhen in den Mittelpunkt der Sicherheitspolitik. Konservative und Nationalisten führten die Arbeitsniederlegungen und die zunehmenden Proteste auf eine Verschwörung von Deutschen und Sozialisten zurück. Dabei wurde den in England lebenden Angehörigen des Kaiserreiches unterstellt, die weltrevolutionäre Politik der neuen kommunistischen Machthaber zu unterstützen und gezielt einen Umsturz der bestehenden Ordnung zu betreiben, um Großbritannien als Kriegsgegner auszuschalten. Getrieben von ihrer Angst vor einer Kriegsniederlage als mächtige Emotion, konstruierte die britische Kriegsgemeinschaft außer Deutschen, Sozialisten, Kommunisten, Pazifisten und Wehrdienstverweigerern auch andere „Feinde“. So wurde russischen Juden vorgeworfen, sich mit Hilfe prominenter Glaubensbrüder dem Wehrdienst für das Vereinigte Königreich zu entziehen. Die Kategorie des enemy alien erwies sich damit als extrem dehnbar.159 Jedoch konnte die Regierung zumindest den Protest der Arbeiter mit ihrer Zusage, eine gerechtere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu schaffen, teilweise auffangen. Auch die Ankündigung, allen Männern über 21 Jahren und 158 Angaben nach: Bernard Waites, A Class Society at War. England 1914–1918, Leamington Spa 1987, S. 232; Stevenson, 1914–1918, S. 333. Vgl. auch Rudolf Klepsch, British Labour im Ersten Weltkrieg. Die Ausnahmesituation des Krieges von 1914–1918 als Problem und Chance der britischen Arbeiterbewegung, Göttingen 1983, S. 169–186. Überblick in: Brüggemeier, Geschichte, S. 118 f. 159 Angaben nach: Searle, A New England?, S. 751. Vgl. auch Arnd Bauerkämper, Wahrnehmungszäsur ohne Deutungszäsur. Das Jahr 1917 in Großbritannien, in: Elena Korowin / Jurij Lileev (Hg.), Russische Revolutionen 1917. Kulturtransfer im europäischen Raum, Paderborn 2020, S. 63–85, bes. S. 80; Thurlow, Secret State, S. 57, 71; Farrar, Threat, S. 102; Holmes, Anti-Semitism, S. 127–136; Englander, Police, S. 112; Millman, Dissent, S. 287 f.

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Frauen über 30 Jahren das Wahlrecht zu gewähren, war populär. Damit wurden Forderungen von Arbeitern und Labour-Politikern aufgenommen, eine Demokratisierung in Politik und Wirtschaft herbeizuführen und soziale Ungleichheit abzubauen. Mit ihrer Sozialprogrammatik stärkte die Regierung letztlich die Reformorientierung in der britischen Arbeiterbewegung und Labour Party, die nicht vorrangig eine grundlegende sozioökonomische Umwälzung, sondern schrittweise Verbesserungen anstrebten. Damit gelang eine „Bewahrung der nationalen wie auch Labours Einheit und Repräsentation der Gefolgschaftsinteressen.“ Letztlich wurde die Entwicklung der gewerkschaftlichen und politischen Vertretung von Arbeitern zu reformorientierten Organisationen gestärkt, die eine Teilhabe an der Macht anstrebten.160

Humanitäre Traditionen und Restbestände von Zivilgesellschaftlichkeit: Spielräume und ihre Grenzen Der Rekurs auf die grundsätzlich verteidigten „britischen“ Traditionen, den Liberalismus und humanitäre Werte verhinderte letztlich, dass der radikale Nationalismus rassistisch aufgeladen wurde und er die parlamentarische Ordnung nachhaltig bedrohte. Auch der Grundsatz des Rule of Law war im Ersten Weltkrieg nicht vollständig außer Kraft gesetzt. Im Gegensatz zu Deutschland konnten Internierte seit Mai 1915 ein Gesuch an ein Berufungsgericht richten, um die Rechtsgrundlage der Internierung prüfen zu lassen. So legte Arthur Zadig, der in Deutschland geboren und 1905 in Großbritannien einbürgert, aber offenbar ausschließlich wegen seiner Herkunft interniert worden war, 1917 gegen diese Maßnahme Einspruch ein. Da er keines konkreten Vergehens bezichtigt worden war, seien – wie er argumentierte – Grundsätze des Habeas Corpus verletzt worden. Damit verbunden, sprach Zadig der britischen Regierung die Legitimität ab, die Regulation 14B zu erlassen, mit der seine Internierung gerechtfertigt worden war. Jedoch wandte sich von den 13 Richtern, die mit dem Fall befasst waren, nur einer gegen die Entscheidung des Innenministers. Im Oberhaus insistierte besonders Lord Shaw of Dunfermline (1850–1937) auf seiner Auffassung, dass die weitreichenden Bestimmungen der Regulation 14B zugunsten der Rechte der Internierten eingeschränkt werden müssten. Angesichts der zunehmenden Kritik setzte sich letztlich die Auffassung durch, dass eine präventive Internierung illegal war. Zadig wurde daher Ende 1917 schließlich freigelassen.161 160 Zitat: Klepsch, British Labour, S. 293. 161 Hierzu und zum Folgenden: Turpin / Tomkins, Government, S. 757; Ewing / Gearty, Struggle, S. 84–92; Stibbe, Community, S. 82; Keeton, Liversidge v. Anderson, S. 167–169.

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Im Allgemeinen unterstützten Richter aber die restriktive Sicherheitspolitik der Regierung. So lehnte der Oberste Gerichtshof 1917 die Beschwerde eines Internierten gegen das Verfahren, das der zivilen Gerichtsbarkeit entzogen war, mit deutlicher Mehrheit ab (R. v. Halliday). Auch in diesem Prozess erklärte Lord Shaw, dass bei einem nationalen Notstand die individuelle Freiheit geschützt werden müsste, zumal „öffentliche Sicherheit“ als Grundlage der Ausnahmerechte nicht klar gefasst werden könne. In seiner Replik stellte der Rechtswissenschaftler Sir Frederick Pollock (1845–1937) demgegenüber die Geltung bürgerliche Freiheitsrechte in Kriegszeiten grundsätzlich in Frage. In einem anderen Verfahren, das die Internierung betraf (Ronnfeldt v. Phillips), betonte Lord Justice Thomas Scrutton (1856–1934), dass ein Krieg nicht nach den Grundsätzen der Magna Charta geführt werden könne. Auch die Klage dieses Internierten wurde damit abgewiesen.162 Der Primat der Sicherheitspolitik gegenüber den Werten der Liberalität und Humanität zeigte sich nicht zuletzt darin, dass von 16.000 Anträgen auf eine Ausnahme von der Internierung nur 7.150 bewilligt wurden.163 Viele Richter wiesen enge Bindungen an die Regierung auf. So war Rufus Isaacs (Lord Reading, 1860–1935) als Lord Chief Justice der zweithöchste Richter in England und Wales; zugleich diente er der Regierung aber auch in besonderen Missionen, so im September 1915, als er amerikanische Kredite für Großbritanniens Kriegswirtschaft sicherte. Die Gewaltenteilung war während des Ersten Weltkrieges im Vereinigten Königreich z. T. außer Kraft gesetzt, zumal Neuwahlen zum Parlament vertagt wurden und eine Zustimmung des Unterhauses zu den Notverordnungen, die nach dem Defence of the Realm Act erlassen wurden, nicht erforderlich war. Damit konnte letztlich die Regierung die Maßnahmen beschließen, die sie für notwendig erachtete, um die öffentliche Sicherheit und die Verteidigung des britischen Königreichs zu gewährleisten. Jedoch richtete das Kabinett 1914 ein Prisoners of War Information Bureau ein, in dem Kriegsgefangene und Zivilinternierte ebenso registriert wurden wie Gefallene und Verwundete der gegnerischen Länder. Zudem nahmen die Mitarbeiter Informationen über Gefangene auf, die in den Lagern erkrankten der verstarben, und leiteten diese Nachrichten weiter, in der Regel über das Rote Kreuz. Darüber hinaus wurden auch Anfragen zu Zivilisten und Soldaten der Feindstaaten beantwortet, die in britische Hand gefallen waren. Nicht zuletzt

162 Townshend, Peace, S. 65–67. 163 Allerdings wurden von 16.456 Gesuchen, in denen die Antragsteller gegen Verfügungen zur Zwangsausweisung protestierten, immerhin 14.939 bewilligt. Vgl. Panikos Panayi, The Enemy in Our Midst: Germans in Britain During the First World War, New York 1991, S. 81.

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sammelte das neue Amt persönliche Gegenstände, die auf den Schlachtfeldern gefunden worden waren.164 Ebenso wurde in Großbritannien im September 1914 ein Directorate of Prisoners of War eingerichtet, das beim Kriegsministerium ressortierte. Im Foreign Office, das wesentliche Kompetenzen im Bereich der Gefangenenaufsicht und -fürsorge vom Kriegsministerium übernommen hatte, war seit Oktober 1916 das Prisoners of War and Aliens Department zuständig. Diese Abteilung sorgte unter Leitung des stellvertretenden Staatssekretärs Thomas Wodehouse Legh (Lord Newton, 1857–1942) nicht nur für die zivilen und militärischen Feindstaatenangehörigen, die in britischem Gewahrsam waren, sondern auch für die eigenen Staatsbürger, die sich unter der Kontrolle feindlicher Regierungen befanden. Lord Newton bemühte sich um Deeskalation und versuchte, Repressalien in Großbritannien zu vermeiden. Damit zog er den Hass nationalistischer Verbände und Zeitungen auf sich, die verlangten, Deutsche, Österreicher und Ungarn zu internieren, selbst wenn diese eingebürgert worden waren.165 Das Spektrum der Aufgaben, die das Prisoners of War and Aliens Department zu bewältigen hatte, war überaus breit: Es reichte von der Sicherung des Postverkehrs, des Transports von Versorgungsgütern über finanzielle Transfers und Reaktionen auf Repressalien bis zum Austausch und zur Repatriierung von Zivilisten und Soldaten. Auch mussten Anfragen aufgenommen und bearbeitet werden, die überwiegend Verwandte und Bekannte der betroffenen Personen an die Regierung gerichtet hatten. Nicht zuletzt oblag der Abteilung die regelmäßige Kommunikation mit den neutralen Schutzmächten und den nationalen und internationalen humanitären Organisationen, die sich in der Gefangenenfürsorge engagierten.166 Daneben sammelte das geheime Committee on the Treatment by the Enemy of British Prisoners unter Robert Younger (1861–1946) Informationen zur Behandlung britischer Zivilisten in den „Mittelmächten“. Das Gremium befragte besonders Frauen, die in das Vereinigte Königreich zurückgekehrt waren, und kritisierte vor allem die Lebensumstände im Lager Holzminden.167

164 NA, FO 383/106 (gedruckter Brief vom 27. Februar 1915); Ronald F. Roxburgh, The Prisoners of War Information Bureau in London, London 1915, bes. S. 12–19, 25–29, 42; Panayi, Prisoners of War. 165 Panayi, Prisoners of War; Stibbe, Civilian Internment, S. 138, 165 f. 166 Dazu z. B. die Überlieferung in: NA, FO 383/110. 167 Stibbe, Civilian Internment, S. 139.

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Gefangenenaustausch Auf diese Grundlage und auf der Basis des Reziprozitätsprinzips einigte sich die britische Regierung wiederholt mit anderen Staaten auf eine Rückführung eigener Staatsangehöriger, die in die Hand von Feinden gefallen waren. Allerdings wurden Abkommen lediglich bilateral abgeschlossen. So vereinbarten britische und deutsche Unterhändler im Januar 1917 in Den Haag einen Austausch aller Männer von mehr als 45 Jahren, der allerdings erst ein Jahr später in Kraft trat. Angesichts der Verzögerung und der enttäuschten Erwartungen wuchs in Großbritannien 1917 nicht nur unter den Kriegsgefangenen, sondern auch unter den Internierten die Frustration enorm. 168 Bereits im Oktober 1916 hatte die deutsche Reichsleitung ihre Absicht erklärt, 600 bis 700 Insassen des „Engländerlagers“ Ruhleben gegen rund 7.000 deutsche und österreichische Zivilisten auszutauschen, die von der britischen Regierung aus der Internierung entlassen wurden. Damit sollte der britischen Propaganda begegnet werden, die das Leben der Gefangenen in Deutschland in düsteren Farben zeichnete. Der Ankündigung lag auch die Absicht zu Grunde, die nationalistischen Kritiker der Friedensaktivistin Emily Hobhouse zu entwaffnen, die im Juni 1916 das Camp in Ruhleben besucht und damit im Vereinigten Königreich eine heftige Kontroverse ausgelöst hatte. Allerdings galt die Übereinkunft nicht für die deutschen Kolonien, in denen britischen Truppen insgesamt 20.000 Deutsche in die Hände fielen. Die Regierung des Vereinigten Königreiches fürchtete weiterhin Repressalien gegen eigene Staatsbürger, die sich in Belgien befanden, und zog deshalb den Plan zurück, alle Deutschen, die in Ostafrika gefangen genommen worden waren, nach Australien zu deportieren. Auch die Absicht, deutsche Zivilisten, die in Indien, Singapur und Hongkong aufgegriffen oder festgehalten wurden, in Australien zu konzentrieren, gab die britische Regierung schließlich auf. 169

Bilanz Die liberal-humanitäre Tradition wurde in Großbritannien in den Jahren von 1914 bis 1918 zwar keineswegs völlig zerstört. Allerdings schädigte sie die Unterdrückung der zivilen enemy aliens erheblich, wie besonders die Internierung 168 Dazu anschauliche Berichte in: LSF, FEWVRC/EME/6/3/7 (Camp Reports, July – August 1917). Exemplarisch der Antrag der Imperial Merchant Service Guild vom 16. September 1918 und die Listen vom 8. Mai 1916 in: NA, FO 383/427. 169 Crangle / Baylen, Peace Mission, S. 736–739.

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zeigt. Im März 1917 befanden sich in britischen Lagern insgesamt 58.138 Kriegsgefangene und Zivilinternierte. Im Empire (außer Großbritannien) belief sich die Zahl der festgesetzten zivilen Feindstaatenangehörigen im Februar 1918 nach Angaben des Innenministeriums auf 11.707. Im Juni waren im britischen Weltreich allein 32.000 Zivilisten interniert, davon 11.000 in den Kolonien oder Dominions. Alle wehrpflichtigen Männer (im Alter von 17 bis 51 Jahren), die Österreich-Ungarn angehörten, wurden ebenso festgehalten wie männliche Deutsche im Alter von 17 bis 55 Jahren. 5.000 bis 6.000 deutsche und die gleiche Anzahl österreichischer bzw. ungarischer Männer hatte die britische Regierung in Freiheit belassen; davon waren die meisten nicht wehrpflichtig und viele entweder mit Britinnen verheiratet oder als friendly enemies eingestuft, die lediglich in rechtlicher Hinsicht gegnerischen Staaten angehörten. In den Camps befanden sich nur wenige Frauen, die oft der Spionage verdächtigt und nach der Defence Regulation 14B verhaftet worden waren. Als ab 11. November 1918 die Waffen schwiegen, belief sich die Zahl der Lagerinsassen im Vereinigten Königreich noch auf 24.522 – davon allein 15.974 in Knockaloe – und in den Kolonien auf rund 10.000. Bis Mai 1919 ging die Zahl der Internierten auf rund 5.000 zurück. Darunter befanden sich 3.373 Zivilisten und 2.899 Seeleute. Bis Oktober 1919 waren 84 Prozent der Insassen, die am Kriegsende noch in den Lagern gelebt hatten, repatriiert worden. Alles in allem kann von 50.000 gefangenen Zivilisten in Großbritannien und seinem Weltreich ausgegangen werden. 800 Internierte starben, davon die meisten infolge der Spanischen Grippe 1918/19. Die Gesamtzahl der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, die den Krieg in zwölf großen Lagern verbrachten, belief sich auf 115.000. Die Mehrheit der Zivilisten, die hinter Stacheldraht leben mussten, waren weiße, deutsche Männer im wehrfähigen Alter. Sie wurden festgesetzt, weil die britische Regierung sie als Sicherheitsgefahr wahrnahm.170 21.000 zivile Feindstaatenangehörige konnten im November 1918 in Großbritannien noch in Freiheit leben. Es handelte sich vor allem um Frauen und Kinder, die mit den internierten Männern auch ihren Lebensunterhalt verloren hatten. Sie erhielten von den Armenverbänden (Boards of Guardians) eine begrenzte Unterstützung. 28.744 Feindstaatenangehörige hatte die britische Regierung während des Ersten Weltkrieges deportiert, überwiegend nach Kanada 170 Angaben nach: LSF, FEWVRC/EME/6/4/9 („Deutsche Kriegsgefangene in Großbritannien“, Vorwort); NA, FO 383/473 (Memorandum vom 19. April 1918); Matthew Stibbe, A Question of Retaliation? The Internment of British Civilians in Germany in November 1914, in: Immigrants and Minorities 23 (2005), Nr. 1, S. 1–29, hier: S. 19; Manz / Panayi, Internment, S. 20 f., 35; Manz / Panayi, Enemies, S. 179; Grady, Landscapes, S. 544; Ellis / Panayi, German Minorities, S. 249; Murphy, Captivity, S. 64; Manz, „Enemy Aliens“, S. 118; Panayi, Prisoners of War. Vgl. auch Reinecke, Grenzen, S. 215.

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und Australien.171 Darüber hinaus kehrten viele enemy aliens entweder freiwillig oder zwangsweise in ihre Heimat zurück. Schon bis zum 1. Januar 1915 zählten die britischen Behörden allein 6.365 repatriierte Deutsche, davon 4.996 Frauen und Männer unter 14 Jahren. Die Zahl der zurückgeführten Staatsangehörigen Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches belief sich auf 1.955 bzw. 75.172 Von Mai 1915 bis Juni 1916 verließen Großbritannien rund 10.000 enemy aliens, überwiegend Deutsche. Insgesamt repatriierten die Behörden rund 20.000 (von insgesamt 75.000) Frauen und Kinder, die in Großbritannien als Feindstaatenangehörige registriert waren. Bis April 1919 waren allein 19.000 Deutsche ausgebürgert worden. 5.000 hatten beantragt, sie von der Repatriierung auszunehmen; 3.890 von ihnen durften schließlich im Vereinigten Königreich verbleiben.173 Die restriktiven Maßnahmen trafen außer den Deutschen auch Österreicher und Ungarn. Ebenso wurden Angehörige des Osmanischen Reiches interniert und überwacht, allerdings deutlich weniger. Jedoch erregten die Muslime, die in Großbritannien lebten, erheblichen Argwohn, denn die Regierung und viele Briten verdächtigten sie der Illoyalität. Mehrdeutige Äußerungen führender Vertreter der Minderheit, die zwischen dem Bekenntnis zum britischen König und der Sympathie mit der weltweiten islamischen Gemeinschaft (umma) schwankten, nährten die Zweifel. Auch Meutereien muslimischer Soldaten, die für Großbritannien gegen das Osmanische Reich kämpfen sollten, in Singapur im Februar 1915 und ein Jahr später in Mesopotamien zeigten, dass die Loyalität der Kolonialtruppen von Kontexten abhing und an Erwartungen gebunden war, die vor allem auf eine erweiterte Selbstbestimmung zielten.174 Allerdings wurden die Angehörigen der multiethnischen Imperien im Allgemeinen milder und vor allem unterschiedlich behandelt, da oft uneindeutig war, ob die einzelnen Volksgruppen zu den „Feinden“ gehörten. So fasste das Kriegsministerium die Politik gegenüber türkischen Zivilisten im Juni 1915, als in Großbritannien 94 von ihnen interniert waren, folgendermaßen zusammen: „They are dealt with generally on the same lines as other alien enemies, but greater latitude is allowed in deciding on individual cases than in the case of 171 Hierzu und zum Folgenden: Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 77 f.; Ormerod Greenwod, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 216. 172 NA, FO 383/106 (Tabelle „Enemy Aliens who have left the United Kingdom with Permits up to 1st January, 1915“). 173 Hansard, Commons Sitting of 15 April 1919, Serie 5, Bd. 114, Sp. 2747 („Aliens Restriction Bill“), http://hansard.millbanksystems.com/commons/1919/apr/15/aliens-restriction-bill (Zugriff am 28. März 2018). 174 Humayun Ansari, „Tasting the King’s Salt“: Muslims, Contested Loyalties and the First World War, in: Ewence / Grady (Hg.), Minorities, S. 33–61, bes. S. 34, 37, 44 f., 49, 52.

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Germans and Austrians.“175 Internierte, aber „freundliche“ Untertanen des osmanischen Sultans konnten auch freigelassen und Armenier sogar eingebürgert werden. Erhebliche Unsicherheit zeigten die britischen Behörden zudem im Umgang mit Griechen und Makedoniern.176 Generell sollten Bindungen von Feindstaatenangehörigen an Großbritannien verhindert werden. So bemühte sich das Innenministerium, Heiraten zwischen enemy aliens und Britinnen zu unterbinden oder zumindest zu erschweren. Standesbeamte wurden angewiesen, nur Anträge auf Eheschließungen von Frauen zu akzeptieren, die schwanger waren, um so die Geburt von „Bastarden“ zu verhindern.177 Ehen mit Angehörigen von Minderheiten des Russischen und Osmanischen Reiches sowie Österreich-Ungarns, die – wie Polen, Griechen, Armenier und Syrer – als loyal gegenüber dem Vereinigten Königreich galten, wurden in der Regel genehmigt. Dies galt auch für enemy aliens, die aus ihren Heimatländern geflohen waren.178 Insgesamt führten das Verbot von Publikationen in ihrer jeweiligen Landessprache und die erzwungene Auflösung von Vereinen im Ersten Weltkrieg zu einer Schwächung von ethnisch-religiösen Minoritäten und sogar einer weitgehenden Auflösung der Gemeinschaften von enemy aliens. So wohnten in ganz Schottland am 1. August 1918, wo im August 1914 3.170 Feindstaatenangehörige registriert worden waren, nur noch 644 Angehörige von Staaten, gegen die Großbritannien Krieg führte. Schon bis November 1914 waren hier 1.073 Feindstaatenangehörige interniert worden. Mit dem Rückgang der deutschen Gemeinden ging eine Überalterung einher, die erst die verstärkte Zuwanderung in den 1930er Jahren wieder umkehrte. Der Zerfall der deutschen Gemeinden im Ersten Weltkrieg war aber nicht nur auf die restriktive Politik der britischen Regierung gegenüber den zivilen Feindstaatenangehörigen zurückzuführen, sondern auch auf die nachlassende Einwanderung nach Großbritannien schon vor 1914.179 Alles in allem veränderte vor allem die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger nachhaltig die politische Kultur Großbritanniens. Die öffentliche Mei-

175 NA, FO 383/88 (Brief vom 27. Juni 1915). 176 NA, FO 383/88 (Schreiben vom 6. und 8. Januar 1915; Vermerke vom 3. April und 10. Mai 1915). 177 Zitat im Schreiben vom 23. Juni 1915 in: NA, RG 48/201. 178 Vgl. Zeitungsartikel vom 8. Januar 1915 sowie die Briefe vom 8. Januar, 14. und 21. Juni, 7. Juli und 23. Juli, 20. und 23. August 1915 und vom 6. Juli 1916 und 22. Juli 1919 in: NA, RG 48/ 201. 179 Angaben nach: Manz, Migranten, S. 265, 272; ders., „Enemy Aliens“, S. 124; Cesarani, Anti-Alienism, S. 6; ders., An Alien Concept?, S. 35; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 27; Thurlow, Secret State, S. 55; Curry, Security Service, S. 74; Holmes, Immigrants, S. 27; ders., John Bull’s Island, S. 96; Allason, Branch, S. 38.

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nung und die populistische, von Massenmedien mobilisierte Fremdenfeindlichkeit schufen Feindbilder und Vorurteile, die auch von den politischen Eliten weitgehend geteilt wurden. Letztlich sollte der sicherheitspolitische Aktionismus eines „police state under military control“ angesichts der populistischfremdenfeindlichen Agitation vorrangig der britischen Bevölkerung Schutz suggerieren und damit der Regierung Unterstützung und Legitimität verleihen. Die Internierung der Feindstaatenangehörigen spiegelte die gesteigerte Macht der staatlichen Exekutive ebenso wider wie die sprunghaft gewachsene Sicherheitsangst und die Fremdenfeindlichkeit, die im Ersten Weltkrieg insgesamt eine zuvor nicht erreichte Intensität erreichte. Zwar hatten bereits die Agitation gegen die Ostjuden und der daraufhin 1905 verabschiedete Aliens Act Ressentiments gestärkt, die im 19. Jahrhundert auch gegen andere Immigranten wie die Iren gerichtet worden waren. Jedoch verband sich die offene gesellschaftliche Feindseligkeit gegenüber Deutschen und Österreichern nach dem Kriegsbeginn mit einer umfassenden staatlichen Repression, die sich in beispiellosen Gesetzen zur Enteignung, Internierung und Ausbürgerung niederschlug.180 Dabei erwies sich der Ruf nach Sicherheit allerdings als ebenso ambivalent wie die damit einhergehende radikal nationalistische Agitation, die sich gegen Pazifisten und Sozialisten richtete, aber auch die angeblich zu nachsichtige Politik der Regierung verurteilte. Forderungen und Verhaltensweisen, die sich aus der Sicht der konservativen Nationalisten gegen die Kriegführung Großbritanniens richteten, wurden von dieser Gruppe kriminalisiert und pathologisiert. Den Nationalismus nahmen aber auch die Gegner dieser Politik in Anspruch, die auf die Tradition „britischer“ Freiheit und der damit verbundenen Rechte verwiesen. Das Postulat, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten und damit enemy aliens zu isolieren oder auszuweisen, integrierte die Nation deshalb nicht nur, sondern es verschärfte subkutan auch politische und gesellschaftliche Gegensätze, Spannungen und Konflikte.181 Die fieberhafte Suche nach „Feinden“ hatte den Sicherheitsdienst veranlasst, weitgehend ohne Kontrolle Daten zu immer mehr Personen – darunter fast ausschließlich britische Staatsangehörige – zu erfassen und zu verzeichnen. Auf dieser Grundlage wurden schon zwischen Mai 1915 und Juni 1916 rund 10.000 Feindstaatenangehörige ausgebürgert, darunter einige mit ihrer Zustimmung. Von den Internierten kehrten aber nur 6.840 in ihre Heimatländer zu180 Panayi, Destruction, S. 113 f.; Thurlow, Secret State, S. 53. Zum Abkommen vom Januar 1918: Stibbe, Community, S. 91; Müller, Recht, S. 389; Speed, Prisoners, S. 152. 181 Sven Oliver Müller, The Enemy in Our Midst. Nationalismus in Großbritannien im Ersten Weltkrieg, in: Michael Einfalt u. a. (Hg.), Konstrukte nationaler Identität. Deutschland, Frankreich und Großbritannien (19. und 20. Jahrhundert), Würzburg 2002, S. 257–277, bes. S. 259 f., 275–277.

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rück. Darüber hinaus ermächtigte der 1918 verabschiedete neue British Nationality and Status of Aliens Act den Innenminister, als illoyal eingestufte Briten – vor allem Personen deutscher Herkunft – auszubürgern. So entzog Speyer ein Komitee des Innenministeriums noch am 1. Dezember 1921 die britische Staatsbürgerschaft. Die Zahl der in Großbritannien lebenden Deutschen fiel von 1914 bis 1919 von 57.500 auf rund 22.254. Die Einwanderung nach Großbritannien wurde erschwert, und auch Asyl gewährte die Regierung nur noch in einzelnen Fällen, wie der Vorsitzende des 1938 gegründeten Christian Council for Refugees from Germany and Central Europe, John Hope Simpson (1868–1961) 1939 im Rückblick feststellte.182 Letztlich stellten die fremdenfeindliche Agitation und die einschneidenden Maßnahmen, die gegen die enemy aliens verhängt wurden, das britische Selbstverständnis als Hort der politischen Freiheit grundsätzlich in Frage. So kritisierte Snowden die Sicherheitsgesetze zutreffend als „an interference with the customs and liberties of the people unparalleled in the history of the country.“ Vor allem die Internierung der Feindstaatenangehörigen verstieß gegen Grundsätze des Habeas Corpus, mit denen individuelle Rechte in das common law eingeschrieben worden waren. Dieses hatte staatlichen Behörden untersagt, Bürger ohne Anklage und Anhörung vor Gerichten zu inhaftieren und ihnen das Recht auf Widerspruch zu entziehen. Die Internierungspolitik griff nicht nur in die Freiheitsrechte der unmittelbar Betroffenen ein, sondern auch in das persönliche Leben ihrer Angehörigen. Die Befürworter von Einschränkungen der Privatsphäre und individueller Menschenrechte setzten sich gegen die Kritiker mit dem Argument durch, dass der äußere und innere Feind abgewehrt werden müsse, um die Freiheiten Großbritanniens zu bewahren.183 Einige der Internierten waren aber falsch als enemy aliens eingestuft worden, denn den Polizisten und Verwaltungsbeamten war die Nationalität und – damit zusammenhängend – die Loyalität der Lagerinsassen oft nicht klar. Büro182 Cyril Pearle, The Dunera Scandal. Deported by Mistake, London 1983, S. 1. Angaben nach: Panayi, Enemy, S. 82; ders., Destruction, S. 122; ders., Immigrants, S. 202; ders., Business Interests, S. 255; ders., Fremdenfeindlichkeit, S. 78; Stibbe, Civilian Internment, S. 265. Vgl. auch Panikos Panayi, Prisoners of Britain: German Civilian, Military and Naval Internees during the First World War, in: Yearbook of the Centre for German and Australian Exile Studies 7 (2005), S. 29–43, S. 29 f., 38; ders., Prisoners of Britain: German Civilian, Military and Naval Internees during the First World War, in: Dove (Hg.), Totally un-English?, S. 29–43, hier: S. 30, 33; ders., Germans, S. 65, S. 73; Enemy, S. 283–291; ders., Immigration, S. 105 f.; ders., Act, S. 54, 56, 69, 71; ders., Societies, S. 6 f.; Caglioti, Subjects, S. 521 f.; Leonhard, Büchse, S. 354; Müller, Recht, S. 399; Bird, Control, S. 69, 122 f.; Manz, Internment, S. 90, 94; Stibbe, Enemy Aliens and Internment. Zu dem Gesetz: Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 27. 183 Zitat: Eliot, Experiment, S. 151. Vgl. auch Manz, Migranten, S. 265; Reinecke, Grenzen, S. 222; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 23.

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kratische Kriterien erwiesen sich in vielen Fällen als ungeeignet, um Betroffene eindeutig der Gruppe der Feindstaatenangehörigen zuordnen zu können. Dies galt vor allem für Personen, die in multiethnischen Reichen gelebt oder in ihrem Leben nationalstaatliche Grenzen überschritten hatten, wie sich auch bei der Repatriierung zeigte, die unmittelbar nach dem Krieg begann. Dazu musste ein eigens eingesetztes Komitee über Anträge auf Ausnahmen entscheiden. Das Gremium beschloss letztlich, 16 Prozent der Internierten nicht in ihre Heimatländer abzuschieben. Viele von ihnen waren Ausländer, die schon lange im Vereinigten Königreich gelebt hatten und mit britischen Frauen verheiratet waren. Mit der Entscheidung, sie im Land zu belassen, sollte auch vermieden werden, Kindern ihre Väter zu nehmen. Das vermeintlich klare Ordnungsschema von „Freund“ und „Feind“ war für den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen allenfalls bedingt tauglich.184 Alles in allem war der Liberalismus als überlieferte Grundlage der britischen Zivilgesellschaft im Ersten Weltkrieg Nationalismus, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit gewichen. Dazu hatten auch der Zusammenbruch des autokratischen Zarenregimes in Russland im Februar 1917 und die Oktoberrevolution beigetragen. Den sich daraufhin verbreitenden Antikommunismus luden bald antisemitische Verschwörungsvorstellungen auf, die auch die „Balfour-Deklaration“ zugunsten einer „Heimstätte“ für die Juden vom 2. November 1917 nährte. Die Vorstellung einer deutsch-jüdisch-bolschewistischen Konspiration, die u. a. populäre Spionageromane verbreiteten, ging von den „Protokollen der Weisen von Zion“ aus, die der Geheimdienst des russischen Zaren gefälscht hatte. Das Syndrom aus Deutschenhass, Antikommunismus und radikaler Judenfeindschaft traf 1918/19 unter britischen Nationalisten, aber auch in der katholischen Presse auf beträchtliche Resonanz. Die Entscheidung der britischen Regierung, nach dem Ausscheiden Russlands aus dem Ersten Weltkrieg die Rekrutierung osteuropäischer Juden für die britischen Truppen einzustellen, verlieh dem Antisemitismus weiter Auftrieb. Als sich in Großbritannien im Frühjahr 1918 angesichts der zunächst erfolgreichen deutschen Offensiven die Furcht vor einer entscheidenden Niederlage verbreitete, verstärkten sich auch die Vorbehalte gegen Pazifisten und Quäker, denen unterstellt wurde, mittelbar

184 Reinecke, Grenzen, S. 222; Jahr, Zivilisten, S. 299 f., 321; Kramer, Kriegsrecht, S. 286. Vgl. auch Brian K. Feltman, The Stigma of Surrender. German Prisoners, British Captors, and Manhood in the Great War and Beyond, Chapel Hill 2015, S. 81–85; Panikos Panayi, An Embattled Minority: the Jews in Britain During the First World War, in: Kushner / Lunn (Hg.), Politics, S. 61–81; ders., ‚The Hidden Hand‘; ders., Anti-German Riots in London; David Reynolds, The Long Shadow. The Great War and the Twentieth Century, London 2013, S. 56; Manz, Migranten, S. 280, 283; Hutchinson, Champions, S. 237–256.

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oder sogar direkt die Deutschen zu unterstützen. Noch im Mai 1918 verurteilten Gerichte deshalb drei führende Vertreter der Society of Friends wegen der nicht autorisierten Publikation eines Flugblattes zu Freiheits- bzw. Geldstrafen.185 Auch Gruppen der Arbeiterschaft galten offiziell als unzuverlässig und (potentielle) „innere Feinde“. Nachdem schon 1917 Streiks ausgebrochen waren und die Teilnehmer die offiziell proklamierten Ziele des Krieges zunehmend in Frage gestellt hatten, betraute die Regierung die Armee mit der Kontrolle von Sozialisten und Pazifisten, denen eine Revolution unterstellt wurde. Auch Verbände, die sich um die Versorgung entlassener Soldaten und Kriegsversehrter kümmerten, wurden vom Special Branch überwacht. Dazu zählten die 1916 gegründete National Association of Discharged Soldiers and Sailors und die im darauffolgenden Jahr konstituierte National Federation of Discharged and Demobilized Sailors and Soldiers, denen der Kriegsminister Lord Derby im Herbst 1917 die offiziöse Comrades of the Great War gegenüberstellte. In den ACMA sollte das Militär die Stimmung in der Bevölkerung kontrollieren.186 Dazu setzten die Leiter dieser Behörden auch Informanten ein, die unerkannt Versammlungen beobachteten und Gespräche belauschten. Aktivitäten, die als Spionage oder Subversion eingestuft wurden, meldeten die ACMA unverzüglich den Sicherheitsbehörden. Bei der Überwachung nahm der MI5 eine Schlüsselstellung ein, indem der Geheimdienst die „nationale Sicherheit“ definierte. Daneben stellten aber auch viele Bürger den Competent Military Authorities bereitwillig Informationen zur Verfügung. Jedoch handelt es sich vielfach um haltlose Gerüchte und Denunziationen, so dass die Auskünfte aufwendig verifiziert werden mussten. Die Militärbehörden entschieden im Allgemeinen selbstständig über Internierungen, die oft präventiv und lediglich auf der Grundlage eines Verdachts verhängt wurden. Eine Arbeitsniederlegung der Polizisten, die damit im August 1918 gegen sinkende Reallöhne protestierten, stellte dieses Sicherheitsregime in Frage. Die Regierung akzeptierte deshalb innerhalb weniger Stunden die Forderungen der Streikenden, obwohl auch Truppen

185 Shmuel Almog, Antisemitism as a Dynamic Phenomenon: The ‚Jewish Question‘ in England at the End of the First World War, in: Pattern of Prejudice 21 (1987), Nr. 4, S. 3–18; Sharman Kadish, ‚Boche, Bolshie and the Jewish Bogey‘: The Russian Revolution and Press Antisemitism in Britain 1917–21, in: Patterns of Prejudice 22 (1988), Nr. 4, S. 24–39; Field, AntiSemitism, S. 27 f.; Panayi, ‚The Hidden Hand‘, S. 268 f.; Millman, Dissent, S. 256. Zu den populären Spionageromanen: Terwey, Antisemitismus, S. 97–107. Zum katholischen Antisemitismus, -germanismus und -kommunismus: Reimann, Krieg, S. 206 f. 186 Hierzu und zum Folgenden: Englander, Military intelligence, S. 24 f., 27–29; Ward, Intelligence Surveillance, S. 181 f.; Sykes, Radical Right, S. 44; Altenhöner, Kommunikation, S. 282; Holmes, A Tolerant Country? S. 81, 88; Townshed, Peace, S. 96–98; Millman, Dissent, S. 263 f., 296.

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im Land gehalten worden waren, um die befürchteten Erhebungen „innerer Feinde“ niederzuschlagen.

Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg Die Radikalisierung, welche besonders die russische Oktoberrevolution herbeigeführt hatte, brach auch nach dem Kriegsende nicht ab. Vielmehr verstärkten 1919 Konflikte, die sich besonders in Streiks von Arbeitern und Soldatenrebellionen niederschlugen, die Furcht vor einem kommunistischen Umsturz, die Fremdenfeindlichkeit und den Antisemitismus, die bereits die innenpolitischen Spannungen und Konflikte im Ersten Weltkrieg genährt hatten. Agitatoren wie der Anthropologe und Eugeniker George Pitt-Rivers (1890–1966) nahmen den weitverbreiteten Antibolschewismus auf. Zugleich beschworen sie – wie schon während des Krieges – die Einheit der Nation.187 Darüber hinaus verliehen Organisationen wie die Britons der Unsicherheit nach der Russischen Oktoberrevolution Ausdruck. Der Verband wurde im Juli 1919 von Henry Hamilton Beamish (1873–1948), einem radikalen Nationalisten und Antisemiten, gegründet. Er war im Mai 1918 zunächst als Kandidat der Vigilantes in das Unterhaus gewählt worden.188 Die Britons, die schon Anfang 1923 auch Kontakt zu den deutschen Nationalsozialisten aufnahmen, reagierten auf die Unruhen der unmittelbaren Nachkriegszeit, indem sie Schutz vor den britischen Juden versprachen, die u. a. nach Madagaskar ausgewiesen werden sollten. Der Verband gewann zwar keine Massenbasis, verbreitete aber Verschwörungsvorstellungen, vor allem durch die Publikation der „Protokolle der Weisen von Zion“, die 1921 in der Times publiziert und als Fälschung entlarvt wurden. In den 1920er Jahre beteiligten sich auch Schriftsteller wie Nesta Webster (1876–1960), die von 1924 bis 1927 den Britons angehörte, und Presseorgane wie die Morning Post, der Spectator und The Patriot, die der Herzog von Northumberland (1880–1930) ab 1922 herausgab, an der antisemitischen Kampagne. Die Agitation mobilisierte und prägte Unsicherheitswahrnehmungen gegen die als

187 Zu Pitt-Rivers: George Pitt-Rivers, The World Significance of the Russian Revolution, Oxford 1920. Vgl. auch Gisela Lebzelter, Political Anti-Semitism in England 1918–1939, London 1978, S. 17 f.; Müller, Tod, S. 191. 188 Matthias Thorns, Britisches und deutsches Judentum in der Krise (1918–1921), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), S. 1000–1018, hier: S. 1004 f., 1007; Searle, A New England?, S. 775.

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Bedrohung stigmatisierten Juden. Gewalttätige Übergriffe gegen Minderheiten blieben in Großbritannien aber selten.189 Entgegen den Hoffnungen vieler Liberaler und McKennas, die 1914 nur von vorübergehenden Eingriffen in Freiheitsrechte ausgegangen waren, wurden auch die einschneidenden Maßnahmen gegen Fremde – über die Feindstaatenangehörigen hinaus – nach dem Kriegsende verlängert. Schon der im August 1918 erlassene British Nationality and Status of Aliens Act hatte – mit Hinweis auf das deutsche Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 – erstmals in der neueren Geschichte Großbritanniens auf dem Konzept einer ethnischen und kulturellen Abstammungsgemeinschaft basiert. Gebürtige Briten wurden von Zugewanderten unterschieden, und Einbürgerungen konnten zurückgenommen werden. Davon ausgenommen waren nur Männer, die in den britischen Truppen oder in den Streitkräften der verbündeten Mächte dienten. Darüber hinaus wurden Ausnahmen bei der Internierung aufgehoben. Das Gesetz, eine Novelle des 1914 verabschiedeten British Nationality and Status of Aliens Act, prolongierte nicht nur fremdenfeindliche und rassistische Vorurteile, sondern es war auch den Ängsten und der Unsicherheit geschuldet, die sich in der britischen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg verbreitet hatten. Diese Emotionen wichen auch in den zwanziger Jahren nicht, wie der neue British Nationality and Status of Aliens Act zeigt, der im August 1922 in Kraft trat. Noch direkter als das vier Jahre zuvor eingeführte Staatsbürgerschaftsrecht war das Gesetz der Vorstellung einer ge-

189 Geoffrey Alderman, The Jewish Community in British Politics, Oxford 1983, S. 102 f. Zu den Britons und zur Verbreitung der „Protokolle“ nach 1918: Gisela C. Lebzelter, Henry Hamilton Beamish and the Britons: Champions of Anti-Semitism, in: Kenneth Lunn / Richard C. Thurlow (Hg.), British Fascism. Essays on the Radical Right in Inter-War Britain, London 1980, S. 41–56; Barry A. Kosmin, Colonial Careers for Marginal Fascists – A Portrait of Hamilton Beamish, in: Wiener Library Bulletin 27 (1973/74), Nr. 47–48, S. 16–23; Colin Holmes, New Light on the ‚Protocols of Zion‘, in: Patterns of Prejudice 11 (1977), Nr. 6, S. 13–21; ders. The Protocols of the „Britons“, in: Patterns of Prejudice 12 (1978), Nr. 5, S. 13–18; Gisela Lebzelter, The Protocols in England, in: Wiener Library Bulletin 31 (1978), Nr. 47–48, S. 111–117; Richard Thurlow, The Powers of Darkness. Conspiracy Belief and Political Strategy, in: Patterns of Prejudice 12 (1978), Nr. 6, S. 1–12, 23, hier: S. 1–3; ders., The ‚Jew Wise‘: Dimensions of British Political Anti-Semitism, 1918–39, in: Immigrants and Minorities 6 (1987), Nr. 1, S. 44–65, hier: S. 46– 49; Keith M. Wilson, The Protocols of Zion and the Morning Post, 1919–1920, in: Patterns of Prejudice 19 (1985), Nr. 3, S. 5–14; Lebzelter, Anti-Semitism, S. 49–67; Panayi, Immigration, S. 121 f. Zu Webster: Richard M. Gilman, Behind World Revolution. The Strange Career of Nesta H. Webster, Bd. 1, Ann Arbor 1982, S. IX, 1–8, 13–47. Zum Patriot: Markku Ruotsila, The Antisemitism of the Eighth Duke of Northumberland’s the Patriot, 1922–1930, in: Journal of Contemporary History 39 (2004), S. 71–92.

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schlossenen Gemeinschaft verpflichtet, der ausschließlich gebürtige Briten angehörten, auch wenn sie im Ausland lebten.190 Insgesamt verstärkte die repressive Politik gegenüber zivilen Feindstaatenausländern im Ersten Weltkrieg fremdenfeindliche Einstellungen, die schon vor 1914 gewachsen waren und auch nach dem Waffenstillstand von der britischen Regierung aufgenommen wurden. Besonders der neue Aliens Restriction (Amendment) Act, der 1919 auf Empfehlung einer 1916 eingesetzten Regierungskommission verabschiedet wurde und bis 1971 in Kraft blieb, schrieb die fremdenfeindliche Immigrationspolitik fort. In den Beratungen zur Aliens Restriction Bill hatten nationalistische Politiker, aber auch der seit Januar 1919 amtierende liberale Innenminister Edward Shortt (1862–1935) die pauschale Internierung der männlichen enemy aliens im Ersten Weltkrieg noch im Rückblick gerechtfertigt. So betonte Shortt in einer Debatte des Unterhauses am 15. April 1919: „A man in time of war can take no risks. We cannot for our country take any risks. It was impossible to give to any enemy alien the benefit of the doubt.“191 Dennoch lehnten radikal fremdenfeindliche Abgeordnete wie Horatio Bottomley und Noel Pemberton Billing eine Verlängerung der außerordentlichen Vollmachten des Defence-of-the-Realm-Gesetzes für zwei weitere Jahre ab, da sie dem Innenministerium misstrauten und Shortts Einwanderungspolitik grundsätzlich als zu großzügig kritisierten. Stattdessen forderten sie ein dauerhaft geltendes, restriktives Immigrationsgesetz, denn – so Bottomley – „every alien at this moment is prima facie an undesirable alien“.192 Pemberton Billing verlangte darüber hinaus eine Kennzeichnungspflicht für alle Ausländer, die in Großbritannien lebten. In der Diskussion verbreiteten auch extrem konservative Politiker wie Ernest Wild (1869–1934), Richard Cooper und William JoynsonHicks weiterhin das Feindbild vom deutschen Spion, um ihre Agitation für eine rigorose Ausweisung ehemaliger enemy aliens zu befeuern. Der Parlamentarier John Butcher (1853–1935) beschwor am 15. April 1919 im Unterhaus sogar das Schreckbild von „hordes of German aliens dumped into this country, to interfere with our own people, to set up the same system of intrigue in our midst, the same system of interference with British labour, the same system of undermining British business that we had before the War.“ Auch traten in der Debatte 190 Müller, Recht, S. 393–403; Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 76; Degroot, Blightly, S. 158; Millman, Dissent, S. 220; Stibbe, Civilian Internment, S. 96. 191 Hansard, Commons Sitting of 15 April 1919, Serie 5, Bd. 114, Sp. 2749 („Aliens Restriction Bill“), http://hansard.millbanksystems.com/commons/1919/apr/15/aliens-restriction-bill (Zugriff am 28. März 2018). Vgl. Stibbe, Civilian Internment, S. 261. 192 Hansard, Commons Sitting of 15 April 1919, Serie 5, Bd. 114, Sp. 2763 („Aliens Restriction Bill“), http://hansard.millbanksystems.com/commons/1919/apr/15/aliens-restriction-bill (Zugriff am 28. März 2018; kursiv im Original).

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über das Gesetz erneut antisemitische Verschwörungsvorstellungen und rassistische Einstellungen hervor, die sich auch gegen Chinesen richteten.193 Nur einzelne Politiker wie der Labour-Abgeordnete Ben Tillett (1860–1943) appellierten an Menschenwürde, Offenheit und Großzügigkeit, die sie als Vorzüge der liberalen politischen Kultur verstanden. Er trat zwar für den Schutz von Arbeitern vor unfairer Konkurrenz ein, verteidigte aber das Asyl „in the interest of humanity“.194 Der Liberale Josiah Wedgwood beklagte am 15. April 1919 den „spirit of persecution“ in der Debatte über den Gesetzentwurf und bekannte entsetzt: „I have never been so ashamed of this House of Commons as I have been today.“ Vergeblich berief er sich auf die „old British traditions of fair play, justice and liberty“.195 Zusammen mit der Aliens Order von 1920, die während des Krieges verhängte Einschränkungen gegen Ausländer verlängerte und den Innenminister zur Ausweisung von Ausländern ohne Arbeitserlaubnis ermächtigte, dokumentierte der Aliens Restriction (Amendment) Act die Auswirkungen der Fixierung auf „nationale Sicherheit“ und die damit verbundenen willkürlichen Übergriffe gegenüber Ausländern. In den 1920er Jahren mussten alle Personen, die Großbritannien betreten oder verlassen wollten, einen Pass präsentieren, in dem ihre Identität und Nationalität verzeichnet waren. Kein Ausländer durfte das Land ohne Genehmigung des Arbeitsministeriums betreten. Ausgenommen von dieser Regelung waren nur vorübergehende Aufenthalte. Zudem hatten Immigranten nachzuweisen, dass sie selber oder Hilfsorganisationen ihren Unterhalt übernahmen. Damit konnten sich nur noch Personen, die Großbritannien nützlich waren oder unabweisbare persönliche bzw. humanitäre Gründe hatten, dauerhaft im Land niederlassen. Dagegen wurden allein nach dem Aliens Restriction (Amendment) Act mehr als 30.000 Deutsche, Österreicher, Ungarn und Türken ausgewiesen, die immer noch als Kriegsgegner galten. Das Gesetz zeigte damit, wie umfassend die Kämpfe in den Jahren von 1914 bis 1918 das humanitäre Erbe erschüttert hatten.196 193 Hansard, Commons Sitting of 15 April 1919, Serie 5, Bd. 114, Sp. 2772 („Aliens Restriction Bill“), http://hansard.millbanksystems.com/commons/1919/apr/15/aliens-restriction-bill (Zugriff am 28. März 2018). Vgl. auch Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 76. 194 Hansard, Commons Sitting of 15 April 1919, Serie 5, Bd. 114, Sp. 2782 („Aliens Restriction Bill“), http://hansard.millbanksystems.com/commons/1919/apr/15/aliens-restriction-bill (Zugriff am 28. März 2018). 195 Hansard, Commons Sitting of 15 April 1919, Serie 5, Bd. 114, Sp. 2790 f („Aliens Restriction Bill“), http://hansard.millbanksystems.com/commons/1919/apr/15/aliens-restriction-bill (Zugriff am 28. März 2018). 196 Pistol, Internment, S. 13. Vgl. auch John C. Torpey, The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship and the State, Cambridge 2000, S. 116; Yarrow, Impact, S. 109; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 31 f.; Kushner, Remembering, S. 32, 41; London, Whitehall, S. 18;

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Nur gelegentlich wurden in der Nachkriegszeit Bürgerrechte ausdrücklich verteidigt, so im Oberhaus von Lord Montagu, der am 9. Juni 1920 in der Debatte über die Air Navigation Bill forderte, Verurteilten ein Recht auf Einspruch zu gewähren. Dabei distanzierte er sich explizit von den restriktiven Notstandsgesetzen, die zu Beginn des Ersten Weltkrieges erlassen worden waren. Zudem kehrte Lord Parmoor das Sicherheitsargument gegen die Regierung um, indem er darauf hinwies, dass eine weitere Beschlagnahme und Liquidation des Vermögens von Feindstaatenangehörigen den Schutz des Eigentums verletzte, das in der offiziellen Selbstdarstellung Großbritanniens einen hohen Stellenwert einnahm, vor allem in der Abgrenzung zur Sowjetunion: „… this principle of confiscation ought not to have been introduced. I feel it is a mean thing for a country like ours to throw disadvantages of this kind upon poor people, and that, as regards the wider aspect of international credit and the carrying trade of this country, instead of promoting restoration, we are creating difficulties which need not exist.“197

Zudem sah Parmoor den britischen Seehandel gefährdet. Die Kombination grundsätzlicher humanitärer Erwägungen mit pragmatischen Hinweisen auf eigene Interessen kennzeichnete allgemein die Debatte über die Verlängerung der Ausnahmegesetze, die 1914/15 erlassen worden waren. Demgegenüber hoben Gegner Parmoors wie der Lordkanzler Frederick E. Smith (Lord Birkenhead, 1872–1930) zwar auf die „obligations to humanity“ ab, spielten diese aber gegen das Leid der Opfer des deutschen Angriffskrieges aus.198 Das Innenministerium konzentrierte sich in den 1920er Jahren auf die Integration der bereits im Land lebenden Ausländer. Demgegenüber schottete die Regierung das Land gegenüber den Flüchtlingen ab, deren Zahl in Europa in diesem Jahrzehnt höher war als in den 1930er Jahren. Darüber hinaus berechtigte die Aliens Order die Polizei, Ausländer auch ohne Haftbefehl festzunehmen und zu inhaftieren. Nicht zuletzt sollte die Mehrheit der Internierten in ihre Heimatländer repatriiert oder in andere Staaten deportiert werden. Die Zahl der Deutschen ging daraufhin auf 12.358 – weniger ein Viertel des Vorkriegsstandes – zurück. Die Einbürgerung ehemaliger Feindstaatenangehöriger, die der Manz, Migranten, S. 291; Cahalan, Belgian Refugee Relief, S. 385–387; Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 76. 197 Hansard, House of Lords Debates, Bd. 40, 9. Juni 1920, Sp. 559 („Property of Ex-Enemy Subjects“); https://api.parliament.uk/historic-hansard/lords/1920/jun/09/property-of-ex-enemy-subjects#column_554 (Zugriff am 16. Oktober 2018). 198 Hansard, House of Lords Debates, Bd. 40, 9. Juni 1920, Sp. 569 („Property of Ex-Enemy Subjects“); https://api.parliament.uk/historic-hansard/lords/1920/jun/09/property-of-ex-enemy-subjects#column_554 (Zugriff am 16. Oktober 2018).

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British Nationality and Status of Aliens Act noch 1918 untersagt hatte, wurde in Großbritannien erst 1931 wieder erlaubt (mit Ausnahme von Türken). Insgesamt blieb die Immigration in das Land bis zu den frühen 1930er Jahren ebenso begrenzt wie die Einwanderung in andere westlichen Staaten, so Frankreich und die USA.199 Darüber hinaus konnten Proteste nach dem 1920 novellierten Official Secrets Act auch im Frieden unterdrückt werden. Als besonders restriktiv erwies sich schließlich der erste Emergency Powers Act, der im Oktober 1920 vom Parlament nach kurzer Beratung verabschiedet wurde und der Exekutive erlaubte, grundlegende individuelle Rechte zu suspendieren, um (so die offizielle Begründung) Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Polizeichefs konnten Versammlungen und Aufmärsche mit Zustimmung des Innenministers verbieten, wenn sie Unruhen befürchteten (Regulation 22). Diese Gesetze spiegelten die Suche nach „Normalität“, Ordnung und Sicherheit wider, mit denen die Verwerfungen des Ersten Weltkrieges überwunden werden sollten. Sie waren Bestandteile einer Stabilisierungspolitik, die einen Wandel der politischen Auseinandersetzungen in Großbritannien herbeiführte. So galten die – bis 1914 üblichen – Störungen öffentlicher politischer Kundgebungen in den zwanziger Jahren zusehends als unerwünscht. Der Emergency Powers Act und der Official Secrets Act von 1920 richteten sich auch gegen die zunehmenden Streiks, welche die breite Unzufriedenheit über die beginnende wirtschaftliche Depression widerspiegelten. Die Unruhen hatten im Januar 1919 in britischen Metropolen (besonders London), aber auch in Kleinstädten wie Peterborough, Crewe und Keighley eingesetzt. Soldaten, die von Dover und Folkestone nach Frankreich transportiert werden sollten, hatten sich geweigert, Großbritannien noch mehrere Wochen nach Kriegsende erneut zu verlassen. Damit protestierten sie auch gegen die Entsendung britischer Truppen nach Russland, wo sie im Bürgerkrieg den Kampf der „weißen“ Verbände gegen die Bolschewiki unterstützen und damit die Revolution unterdrücken sollten. In einigen Städten, in denen Soldaten im Januar und Februar 1919 den Dienst verweigerten, hatten sich schon während des Ersten Weltkrieges Ausschreitungen gegen hier lebende Deutsche und ihr Eigentum gerichtet. Auch die neuen Unruhen waren z. T. fremdenfeindlich oder sogar rassistisch motiviert, vor allem 1919 die Proteste gegen fremde Seeleute, die in britischen

199 Zur Aufhebung des Einbürgerungsverbotes die Vermerke vom Oktober 1931 in: NA, CO 323/1130/18. Hierzu und zum Folgenden auch: Lawrence, Transformation, S. 185–190, 197 f.; Cesarani, An Alien Concept?, S. 38–40; ders., Anti-Alienism, S. 6; Yarrow, Impact, S. 109; Holmes, Immigrants, S. 15 f., 28; Luff, Operations, S. 742; Wasserstein, Regierungen, S. 46; Channing, Police, S. 66 f.; Townshed, Peace, S. 86.

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Häfen zudem als unerwünschte Konkurrenz galten. Die Demonstrationen waren aber auch auf die Unzufriedenheit der britischen Soldaten über die schleppende Demobilisierung und die unzureichende staatliche Versorgungs- und Reintegrationspolitik zurückzuführen. Um ihre Forderungen durchzusetzen, gründeten rebellierende Soldaten im Januar 1919 vielerorts eigene Gewerkschaften. Trotz des deutlichen „spirit of revolt“ und der ultimativen Forderung, bis zum 11. Mai aus der Armee entlassen zu werden, sprachen die Militärbehörden, die Regierung und Presse offiziell nicht von einer „Meuterei“.200 Die Demobilisierung der Soldaten 1919, als die Mannschaftsstärke der britischen Armee von 3,5 Millionen auf 900.000 Soldaten sank, nahm den Protesten vorübergehend ihre Militanz. Mit dem Ende des Nachkriegsbooms 1921 wuchs allerdings erneut die Arbeitslosigkeit unter den Veteranen. Einige von ihnen griffen zu gewalttätigen Aktionen, um ihre Unzufriedenheit und Enttäuschung zu zeigen. Alarmiert über die Unruhen, ließ die Regierung die ehemaligen Soldaten wieder kontrollieren. Allerdings zeigten die Polizeiberichte, dass die deutlich überwiegende Mehrheit der Veteranen keinen Umsturz anstrebte, sondern auf Reformen innerhalb der Verfassungsordnung abzielte. Damit sollte das „Land fit for heroes to live in“ geschaffen werden, das führende Politiker – vor allem Lloyd George im Wahlkampf 1918 – den britischen Kämpfern des Ersten Weltkrieges versprochen hatten.201 Tatsächlich wirkten die Streiks der Arbeiter aus der Sicht der Sicherheitsapparate aber bedrohlich, zumal an ihnen auch Kriegsveteranen teilnahmen. Ebenso steigerten die Gewalt der paramilitärischen Black and Tans im irischen Bürgerkrieg (1919–1921) und das Massaker, das General Reginald Dyer (1864– 1927) am 3. April 1919 an wehrlosen Demonstranten in der nordindischen Stadt Amritsar beging, die Furcht vor einer Brutalisierung, die der Erste Weltkrieg aus der Sicht vieler liberaler Beobachter ohnehin in der Gesellschaft herbeigeführt hatte. Die Regierung ließ die Arbeiterschaft dennoch auch 1919 intensiv überwachen. Bei der Verhaftung von Kommunisten griff sie gelegentlich sogar auf den 1797 erlassenen Incitement to Mutiny Act zurück. Demgegenüber kritisierten Politiker und Anhänger der aufsteigenden Labour Party vor allem das brutale Vorgehen der Staatsorgane, so der paramilitärischen Defence Force, in der seit 1921 viele ehemalige Soldaten gegen Streiks vorgingen. Auch das Einschreiten der 200 Zitat: Rothstein, Soldiers’ Strikes, S. 68. Vgl. auch Adrian Gregory, Peculiarities of the English? War, Violence and Politics: 1900–1939, in: Journal of Modern European History 1 (2003), S. 44–59; hier: S. 51; Ward, Intelligence Surveillance, S. 183–187; Stibbe, Civilian Internment, S. 266; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 32. 201 Jakub Drábrik, „We’re of their blood and spirit of their spirit“: Ex-servicemen and the British Union of Fascists, in: Alessandro Salvador / Anders G. Kjostvedt (Hg.), New Political Ideas in the Aftermath of the Great War, Basingstoke 2017, S. 151–174, hier: S. 157–160.

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Polizei gegen Demonstranten und Streikende, die Vollmachten der Supply and Transport Organization zur Sicherung der Versorgung in einem Notstand (so bei Streiks) und das Vorgehen der Royal Irish Constabulary in Irland lösten Furcht vor einer Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens aus. Radikale Nationalisten wie Horatio Bottomley forderten demgegenüber weiterhin nicht nur eine Kennzeichnungspflicht für eingebürgerte Ausländer, sondern auch ein noch rücksichtsloseres Vorgehen der staatlichen Ordnungskräfte gegen Labour-Politiker wie Ramsay MacDonald. Die Angst auf beiden Seiten spiegelte in den frühen 1920er Jahren die politische Polarisierung wider.202 Sie wich erst mit der zögernden Stabilisierung ab 1923, als sich erneut der Mythos eines vermeintlich friedlichen britischen Königreichs verbreitete. Es sollte nach den Turbulenzen des Ersten Weltkrieges wiederhergestellt werden. Da ein weiterer Krieg fern schien, empfahl das Committee of Imperial Defence 1923, nur 5.500 Plätze für die Internierung von Feindstaatenangehörigen zur Verfügung zu stellen, die Großbritannien in einem künftigen Konflikt nicht rechtzeitig verlassen konnten oder sollten. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg war geplant, „feindliche Ausländer“ im Fall eines erneuten Krieges weitestgehend auszuweisen.203 Die Agitation gegen den Sozialismus und Bolschewismus gipfelte nochmals 1924 im Wahlkampf, als die Konservative Partei einen angeblich von Gregori Sinowjew (1883–1936), dem Chef der III. Kommunistischen Internationale, an die Communist Party of Great Britain geschickten Brief als Hinweis auf eine geplante Subversion in der Armee des Vereinigten Königreiches interpretierte. Kurz zuvor hatte die erste Labour-Regierung unter Premierminister MacDonald die UdSSR anerkannt. Mitarbeiter des MI5 verzeichneten bis 1925 25.250 Personen auf eine einem Precautionary Index, nachdem schon 1918 eine „schwarzen Liste“ (Defence Black List) 13.500 Namen enthalten hatte. Darüber hinaus waren bis zum Kriegsende vom Geheimdienst 27.000 Akten und 250.000 Karteikarten zu einzelnen Personen angelegt worden. Während des Generalstreiks im Mai 1926

202 Jon Lawrence, Forging a Peaceable Kingdom: War, Violence, and Fear of Brutalization in Post-First World War Britain, in: Journal of Modern History 75 (2003), S. 557–589, bes. S. 557 f., 566, 570, 575, 579, 581, 583; ders., Fascist Violence and the Politics of Public Order in Inter-war Britain: the Olympia Debate Revisited, in: Historical Research 76 (2003), S. 238–267, hier: S. 244; ders., Transformation, S. 197, 210; Townshed, Peace, S. 84–90; Luff, Operations, S. 743; Millman, Dissent, S. 265. 203 Michael Seyfert, Im Niemandsland. Deutsche Exilliteratur in britischer Internierung. Ein unbekanntes Kapitel der Kulturgeschichte des Zweiten Weltkriegs, Berlin 1984, S. 21; ders., „His Majesty’s Most Loyal Internees“: Die Internierung deutscher und österreichischer Flüchtlinge als „enemy aliens“, in: Hirschfeld (Hg.), Exil, S. 155–182, hier: S 156; Kushner / Cesarani, Alien Internment, S. 3; Caglioti, Subjects, S. 520.

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wurden die Daten ebenso wie die Bestimmungen des Emergency Powers Act genutzt, um die Arbeitsniederlegungen zu unterdrücken. Abgeordnete des Unterhauses wie Ernest Thurtle (1884–1954) forderten daher, zumindest die Regulation 22 zu streichen.204 Das Gesetz richtete sich aber auch gegen die Hungermärsche, die von der 1921 gegründeten National Unemployed Workers Movement (NUWM) besonders in den frühen 1920er und 1930er Jahren organisiert wurden. Auch die Proteste der Arbeitslosen führten vor allem die Sicherheitsorgane auf eine gezielte Infiltration kommunistischer Aufrührer aus der Sowjetunion zurück, die das Committee of Imperial Defence schon 1920 als nächsten Hauptfeind Großbritanniens identifiziert hatte.205 Überdies sollte der Emergency Powers Act die Unabhängigkeitsbewegung in Irland ersticken, die bis 1919 vor allem von den Irish Volunteers getragen wurde. Schon nach dem Osteraufstand von 1916, in dem die Rebellen zwei Jahre zuvor erhaltene deutsche Waffen verwendet hatten, war die Anwendung der 1914 erlassenen Regulation 14B gegen die irischen Kämpfer für die Unabhängigkeit vorgesehen worden. Das Innenministerium nutzte die Notstandsverordnung 1917/ 18, um die irischen Aktivisten, die aus der Sicht der Regierung die Sicherheit des Landes bedrohten, zu internieren und zu deportieren. Sie wurden u. a. in den Lagern Frongoch (Wales) und Ballykinlar (Irland) festgehalten. Allein von Mai bis Dezember 1916 durchliefen 1.800 verhaftete Iren, von denen viele Mitglieder der 1905 gegründeten nationalistischen Partei Sinn Féin waren, das Camp in Frongoch, einem kleinen walisischen Dorf. Rund die Hälfte der insgesamt 3.500 verhafteten Iren ließ die britische Regierung nach England bringen. Auf Druck der Militärs in Irland, die einen weiteren Aufstand befürchteten, sicherte die britische Regierung den Internierten ihre Rechte nach dem Habeas Corpus zu. Eine Untersuchungskommission beriet das Kabinett im Hinblick auf den weiteren Umgang mit den Verhafteten, besonders deren frühzeitige Entlassung. Alle irischen Internierten wurden bis Ende Dezember 1916 nach Irland zurückgeführt.206 Nach Meldungen über die Anlandung deutscher Waffen in Irland ermächtigte das Kriegskabinett den Kommandierenden General im Februar 1917 aber 204 Channing, Police, S. 66. Angaben nach: Andrew, Secret Service, S. 241; Proctor, Intelligence, S. 52. Vgl. auch Helmut Altrichter, Kleine Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, München 32007, S. 62 f.; Niedhart, Geschichte, S. 166 f. 205 Vgl. Channing, Police, S. 67–73; London, Whitehall, S. 21. Zur NUWM: Richard Croucher, We Refuse to Starve in Silence. A History of the Nation al Unemployed Workers’ Movement, 1920–46, London 1987. 206 Angaben nach: Jon Parry, ‚The Black Hand‘. 1916 and Irish Republican Prisoners in North Wales, in: Paul O’Leary (Hg.), Irish Migrants in Modern Wales, Liverpool 2004, S. 139–155, hier: S. 141; Stibbe, Civilian Internment, S. 102; Pitzer, Night, S. 139.

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erneut, 31 Verdächtige, die als Anhänger der IRA galten, auf der Grundlage der Regulation 14B unverzüglich zu verhaften und nach England zu deportieren. Nachdem sie dort zunächst nur an bestimmten Orten festgesetzt worden waren, lösten Fluchten schließlich die Internierung aus. Da in den Lagern Kriegsgefangene und Zivilinternierte getrennt werden sollten, wurden sie in Gruppen von maximal fünfzig Personen in Gefängnisse gebracht. Auch eine Internierung auf der Insel Man vermieden die Behörden wegen der Nähe zu Irland bewusst. Die Anordnungen begründeten die Haft jeweils mit dem Ziel, die „öffentliche Sicherheit“ zu bewahren. Dazu hielten der Innenminister und seine Beamten bloße Einschränkungen der Mobilität nach den Fluchten nicht mehr für ausreichend, zumal diese Restriktionen nur schwer zu überwachen waren. Mit zunehmender Kriegsdauer fehlten in Großbritannien Polizisten, die zum Wehrdienst eingezogen worden waren. Der Staatssekretär für Irland und das Oberkommando der Armee (Army Council) verlangten im Sommer 1918 deshalb, alle nach England gebrachten Verhafteten sofort zu internieren. Die Briefe der Gefangenen und andere Kommunikationsverbindungen wurden zensiert, um Nachrichten an die Partei der irischen Nationalisten, Sínn Fein, und auch darüber hinaus unerwünschte Publizität zu vermeiden. Dazu lancierte die Regierung gezielt Meldungen über die Internierung in der gelenkten Presse, und das Home Office erlaubte den Anwälten der Verhafteten Gespräche mit den Internierten, allerdings nur mit Beteiligung eines Vertreters des jeweiligen Gefängnisses.207 Damit konnte die Regierung die Unabhängigkeitsbewegung, die sich ab 1919 vor allem in der neugegründeten Irish Republican Army (IRA) sammelte, allerdings kaum eindämmen. Vielmehr politisierte und radikalisierte die Internierung die betroffenen irischen Nationalisten, und bis 1918 war die von ihnen geschürte Angst vor einer Ausdehnung der Wehrpflicht auf Irland weit über den Kreis der Nationalisten hinaus verbreitet. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eskalierte der Bürgerkrieg auf der Insel. Einflussreiche Militärs wie Nevil Macready (1862–1946) und Hugh Sandham Jeudwine (1862–1942) verlangten deshalb 1920, über ganz Irland das Standrecht zu verhängen. Damit sollte nicht nur die Armee aktiv zur Unterdrückung der irischen Nationalisten eingesetzt, sondern auch die Internierung von Aufständischen legalisiert werden. Diese Forderungen trafen im Kabinett unter Premierminister Lloyd George zwar nicht auf Zustimmung. Jedoch verabschiedete das britische Parlament am 9. August 1920 lediglich den Restoration of Order in Ireland Act. Das Gesetz führte die 207 NA, CO 904/186 (Schreiben vom 18. Februar, 5. und 13. März, 14. und 23. Mai 1917 sowie vom 15. und 26. April, 13. und 23. Mai, 8., 13., 11., 14., 22. und 28. Juni 1918, 19. Juli 1918 sowie 11. Oktober 1918; „Recommendation under Regulation 14B of the Defence of the Realm Regulations“; Notiz vom 29. Mai 1915).

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Kriegsgerichtsbarkeit in Regionen ein, in denen die IRA besonders militant auftrat. Obgleich sogar einzelne Minister Bedenken gegen die weitgehende Übertragung der Verwaltung auf Militärbehörden äußerten, setzten sich die Befürworter, die auf einen Notstand in Irland verwiesen, letztlich durch. Damit war aber keine uneingeschränkt herrschende Militärregierung etabliert.208 Auch die Rekrutierung und der Einsatz der paramilitärischen Black and Tans, welche die Union Irlands mit dem Vereinigten Königreich verteidigten, erwiesen sich letztlich als kontraproduktiv. Nach der Teilung der Insel sollte der 1922 erlassene Civil Authorities (Special Powers) Act (Northern Ireland) weitere Unruhen in Nordirland verhindern. Das Gesetz ermächtigte das nordirische Innenministerium uneingeschränkt, Verordnungen zu erlassen, die es zur Sicherung von Recht und Ordnung für notwendig hielt. Außerdem konnte das Ministerium Untersuchungen verbieten, wenn es dies zur Bewahrung des Friedens und der Ordnung für erforderlich erachtete. Auf dieser Grundlage wurden allein von 1922 bis 1924 728 Personen interniert, darunter fast ausschließlich irische Nationalisten. Die Republikaner, die für eine Wiedervereinigung des ab 1921 geteilten Irland im Rahmen des katholisch geprägten Freistaates eintraten, verteufelten die nordirischen Nationalisten und die Londoner Regierung als „innere Feinde“, die in den zwanziger und dreißiger Jahren ebenfalls unterdrückt wurden. Damit überlagerte die politische Repression schon nach wenigen Jahren die offiziell verkündete Absicht des Special Powers Act, in Nordirland nach dem blutigen Bürgerkrieg Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.209 In ganz Großbritannien galt nach dem Ersten Weltkrieg darüber hinaus die Ausweis- und Meldepflicht, die 1916 für alle Ausländer eingeführt worden war. Allerdings scheiterten Initiativen, ein lückenloses Verzeichnis aller Briten anzulegen, wegen der Sorge vor einem umfassenden Überwachungsstaat. So hob die Regierung den 1915 erlassenen National Registration Act auf. Auch verlor der Sicherheitsapparat die Kompetenz zur Ausweiskontrolle. Generell wurden die Mittel für den Security Service und den Special Branch nach dem Kriegsende erheblich gekürzt. Schon bis 1920 ging die Zahl der Mitarbeiter im Directorate of Military Operation von mehr als 6.000 auf rund 150 zurück. In den frühen 1920er

208 Townshend, Peace, S. 76 f.; ders., Force, S. 288; Parry, ‚The Black Hand‘, S. 147–149. Überblick in: Ewing / Gearty, Struggle, S. 399, 412 f. 209 Laura K. Donohue, Regulating Northern Ireland: The Special Powers Acts, 1922–1972, in: Historical Journal 41 (1998), S. 1089–1120, hier: S. 1090–1092, 1100, 1105, 1113; Huw Bennett, Detention and Interrogation in Northern Ireland, 1969–75, in: Sibylle Scheipers (Hg.), Prisoners in War, Oxford 2011, S. 187–203, hier: S. 188; Francis S. L. Lyons, The war of independence, 1919–1921, in: William Edward Vaughan (Hg.), A New History of Ireland, Bd. 6, Oxford 1996, S. 141–259, hier: S. 249 f.

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Jahren erzwang die anhaltende Sparpolitik, mit der die Regierung auf den Konjunktureinbruch reagierte, weitere Entlassungen.210 Insgesamt blieb die Entsicherheitlichung aber begrenzt. Der Special Branch und der Inlandsgeheimdienst begründeten das weitgehende Festhalten an den Regelungen, die grundlegende Menschenrechte einschränkten oder sogar aufhoben, mit sicherheitspolitischen Argumenten. Sekurität galt dabei geradezu als Voraussetzung der Freiheit.211 In ihrer obsessiven Suche nach „Feinden“ zeigten sich die Sicherheitsorgane besonders an den gesammelten Informationen zu Ausländern interessiert. Hinweise auf die „nationale Sicherheit“ sollten auch die Verzögerungen bei der Freilassung der internierten Zivilisten rechtfertigten, die z. T. bis 1920 in den Lagern festgehalten wurden. Die Überwachung hatte sich nach 1918 aber zunehmend gegen „Sozialisten“ und „subversive“ Kräfte gerichtet, die in den Betrieben den Arbeitsfrieden zu bedrohen schienen. Damit sollten Arbeiter vom „Klassenkampf“ abgehalten und als patriotic labour in die nationale Gemeinschaft integriert werden.212 Zur Kontrolle der Arbeiterschaft und zur Unterdrückung von Streiks trugen nach dem Ersten Weltkrieg unternehmernahe Verbände wie die BEU und die British Workers’ League (BWL) bei, die 1916 von dem Imperialisten und (seit Dezember) Minister ohne Geschäftsbereich im Kriegskabinett des Premierministers Lloyd George, Alfred Milner, gebildet worden war. Der Verband nahm 1918 als National Democratic Party erfolgreich an der Parlamentswahl teil und war anschließend mit zehn Abgeordneten im Unterhaus vertreten. Auch zwei von 25 Kandidaten der NP wurden für das Parlament gewählt. Eng mit der Partei kooperierte die im Dezember 1916 etablierte British Commonwealth Union, die unter der Leitung des Industriellen und konservativen Politikers Patrick Hannon (1874–1963) als Lobbyorganisation für Unternehmer 1918 außerdem die BWL unterstützte.213 210 Angabe nach: Proctor, Intelligence, S. 146, und dem Artikel „Internment“, in: Ramsden (Hg.), Oxford Companion to Twentieth-Century British Politics, S. 333. Vgl. auch Richard Thurlow, Passive and Active Anti-Fascism: The State and National Security, 1923–45, in: Andrzej Olechnowicz / Nigel Copsey (Hg.), Varieties of Anti-Fascism. Britain in the Interwar Period, Basingstoke 2010, S. 162–180, hier: S. 164; Eliot, Experiment, S. 166–169; Higgs, Information State, S. 140; Reinecke, Namen, S. 65; dies., Grenzen, S. 212. 211 Dies demonstriert die Grußkarte, die Kell als Direktor des MI5 zu Neujahr 1920 verschickte. Vgl. Andrew, Secret Service, S. 243. 212 Townshend, Force, S. 292; Olmsted, Anticommunism, S. 91–93. 213 Roy Douglas, The National Democratic Party and the British Workers’ League, in: Historical Journal 15 (1972), S. 533–552; John A. Turner, The British Commonwealth Union and the General Election of 1918, in: English Historical Review 93 (1978), S. 528–559; Ron Bean, Liverpool Shipping Employers and the Anti-Communist Activities of J. M. Jughes, 1920–25, in: Bulletin of the Society for the Study of Labour History, Nr. 32 (1977), S. 22–26; John O. Stubbs, Lord

4.1 Großbritannien



291

Ebenso wie diese Organisation sollten die 1919 gegründeten Middle Class Union und die Economic League, die z. T. die Agitation der 1882 gegründeten Liberty and Property Defence League weiterführte, die Arbeiterschaft von einer Revolution abhalten und den Behörden und Unternehmern Informationen über radikale, vermeintlich subversive Gruppen übermitteln. Die Economic League unterhielt einen grenzüberschreitenden Austausch mit ähnlichen, radikal antikommunistischen Organisationen wie der American Vigilant Intelligence Federation und der Sane Democracy League of Australia, die eine Allianz gegen die Kommunistische Internationale gebildet hatten. Die Economic League und andere „patriotische“ Vereinigungen, die der ehemalige Direktor des Marinegeheimdienstes, Reginald Hall, mit öffentlichen Mitteln unterstützte, zeitweise sogar direkt leitete und zu einem Informationsnetzwerk zusammenschloss, übermittelten dem MI5, der Polizei und Betriebsleitern Angaben über Arbeiter, die zum Streik bereit waren und zu Arbeitsniederlegungen aufriefen. Diese „schwarzen Listen“ von Kommunisten und anderen „subversiven“ Personen und Verbänden wurden in ganz Großbritannien systematisch zusammengestellt und für Entlassungen genutzt.214 Gegen die „rote Gefahr“ agitierten nach dem Ersten Weltkrieg auch die Reconstruction Society, die 1918 aus der ASU hervorgegangen war, die zwei Jahre gebildete Liberty League und die Pfadfinder mit ihren spezifischen Männlichkeitsidealen. Alle Verbände einte ein ausgeprägter Antisozialismus, Fremdenfeindlichkeit und antisemitische Ressentiments. Damit verbunden, agitierten sie gegen die Labour Party, die Liberalen und das parlamentarische System, das sie mit Korruption und „Degeneration“ assoziierten. Insgesamt bedrohten die radikal nationalen Verbände, die einige radikal konservative Politiker wie Robert Sanders (1867–1940) und der Pressezar Lord Northcliffe unterstützten, die Sicherheit und die öffentliche Ordnung in Großbritannien zumindest ebenso nachhaltig wie die Arbeitsniederlegungen und die Proteste von Soldaten 1919. Aber auch staatliche Institutionen verstanden und fassten die „nationale Sicherheit“ breit und überaus dehnbar. Die Maßnahmen, mit denen in der Nachkriegszeit „Ordnung“ und „nationale Einheit“ gewährleistet werden sollten, unterschieden sich allerdings. Sie reichten von einer direkten Repression der irischen Unabhängigkeitsbewegung und revolutionärer Arbeiter bis zu korporativen Zusammenschlüssen bzw. Vorschlägen regionaler Selbstverwaltung.215 Milner and Patriotic Labour, 1914–1918, in: English Historical Review 87 (1972), S. 717–754; Rubinstein, Henry Page Croft, S. 135; Searle, A New England?, S. 775 (Angabe), 822 f. 214 Arthur McIvor, „A Crusade for Capitalism“: The Economic League, 1919–39, in: Journal of Contemporary History 23 (1988), S. 631–655, bes. S. 631, 642, 647–650. 215 Mischa Honeck, The Power of Innocence. Anglo-American Scouting and the Boyification of Empire, in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2016), S. 441–466, hier: S. 477; Andrew Roth-

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Alles in allem war die Konstruktion „innerer Feinde“ und die damit zusammenhängende Internierung integraler Bestandteil eines auch in Großbritannien bis zur Mitte der zwanziger Jahre andauernden Ausnahmezustands, der im Mai 1926 während des Generalstreiks nochmals verschärft wurde. Dabei waren die britischen Sicherheitsdienste vor allem auf die Kommunisten fixiert, die sich 1920 in der neugegründeten Communist Party of Great Britain (CPGB) gesammelt hatten. In dieser Konstellation fühlten sich auch paramilitärische und faschistische Bewegungen wie die National Citizens’ Union ermächtigt, dem extrem konservativen Innenminister William Joynson-Hicks ihre Unterstützung anzubieten. Ebenso stilisierten sich die 1923 gegründeten British Fascisti (BF), die Benito Mussolini bewunderten und sein Regime als Vorbild verherrlichten, zu Rettern Großbritanniens vor dem Bolschewismus. Die BF waren eine kleine Organisation, die Sicherheit versprach, einzelne Bestandteile des italienischen Faschismus übernahm und sie mit dem radikalen britischen Konservativismus verschmolz. Dazu boten sich die Mitglieder als freiwillige Hilfsoffiziere an. Besorgt um das staatliche Gewaltmonopol, lehnte der Innenminister eine Kooperation mit diesen militanten Organisationen zwar ab. Er schloss eine Verwendung von Angehörigen der BF aber nicht aus, falls der Verband seine Statuten änderte. Der strikte Antikommunismus der Organisation traf angesichts der Unruhen in der Mitte der 1920er Jahre offenbar auch unter Militärs, im Geheimdienst und in den Polizeibehörden auf Sympathie. So gehörte Maxwell Knight (1900–1968), ein führender Agent des MI5, den BF an. Er hatte sich der Gruppe von Faschisten nach einer Kundgebung der British Empire Union angeschlossen, deren führende Mitglieder – Industrielle, Landbesitzer und konservative Politiker – er über interne Vorgänge in den BF informieren sollte.216 stein, Soldiers’ Strike; Englander, Police, S. 127; Rubinstein, Henry Page Croft, S. 139–146; Wrigley, ‚In Excess of Their Patriotism‘, S. 103–111. Zu Northcliffe: Searle, Corruption, S. 268–270; Haste, Home Fires, S. 133. Zu korporativen Konzepten exemplarisch: Alfred Milner, Questions of the Hour, London o. J. [1923], S. 11–124, 146–173. Zu den Verbindungen zu Sanders: John Ramsden (Hg.), Real Old Tory Politics. The Political Diaries of Robert Sanders, Lord Bayford, 1910–35, London 1984, S. 6, 30, 86, 89 f., 101, 111, 240. 216 Richard Thurlow, State Management and the British Union of Fascists in the 1930s, in: Mike Cronin (Hg.), The Failure of British Fascism. The Far Right and the Fight for Political Recognition, Basingstoke 1996, S. 29–52, hier: S. 31; John Hope, British Fascism and the State 1917–1927: A Re-examination of the Documentary Evidence, in: Labour History Review 57 (1992), S. 72–83, hier: S. 73 f., 77, 79 f.; Gerald C. Webber, Intolerance and Discretion: Conservatives and British Fascism, 1918–1926, in: Tony Kushner / Kenneth Lunn (Hg.), Traditions on Intolerance. Historical Perspectives on Fascism and Race Discourse in Britain, Manchester 1989, S. 155–172. Zu den British Fascisti: David Baker, The Extreme Right in the 1920s: Fascism in a Cold Climate, or ‚Conservatism with Knobs on‘, in: Cronin (Hg.), Failure, S. 12–28; Kenneth Lunn, The Ideology and Impact of the British Fascists in the 1920s, in: Kushner / Lunn (Hg.),

4.2 Deutsches Kaiserreich 

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Joynson Hicks förderte außer den Sicherheitsängsten vor dem Bolschewismus auch fremdenfeindliche und antisemitische Ressentiments. Außerdem bereiteten sich die Behörden in den zwanziger Jahren gezielt auf neue Notstände vor. So perfektionierte der Registrar General, Sylvanus Vivian (1880–1958), seine Konzepte zur lückenlosen Registrierung aller Briten. Überdies setzte die Regierung die neu gebildete Civil Constabulary Reserve, die aus der Defence Force hervorgegangen war, als paramilitärische Truppe gegen Streikende ein. Andererseits verhinderte die konservative Regierung, die von 1924 bis 1929 unter der gemäßigten Premierminister Stanley Baldwin (1867–1947) regierte, eine politische Radikalisierung und den Aufstieg rechtsextremer außerparlamentarischer Verbände.217

4.2 Deutsches Kaiserreich Ausgangslage und Überblick Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges wurden Deutsche in den gegnerischen Staaten als „feindliche Ausländer“ (enemy aliens) vieler Rechte beraubt, interniert, enteignet oder ausgewiesen. Umgekehrt unterlagen die im Kaiserreich lebenden Angehörigen der Entente-Mächte erheblichen Einschränkungen. Im Kaiserreich hielten sich 1914 zwar nur rund 15.000 Feindstaatenangehörige auf. Hier wurden aber in den folgenden Jahren zweimal so viele Zivilisten interniert

Traditions, S. 140–154; Julie Wheelwright, ‚Colonel‘ Barker: A Case Study in the Contradictions of Fascism, in: Kushner / Lunn (Hg.), Politics, S. 40–48; Paul Stocker, Importing Fascism: reappraising the British fascisti, 1923–1926, in: Contemporary British History 30 (2016), S. 326–348, bes. S. 326, 342 f. Zu Knight: Anthony Masters, The Man Who Was M. The Life of Maxwell Knight, Oxford 1984; Henry Hemming, Maxwell Knight, MI5’s Greatest Spymaster, London 2017, S. 8–60, 115–118; Colin Holmes, Searching for Lord Haw-Haw: The Political Lives of William Joyce, London 2016, S. 49 f. 217 Bill Schwarz, The Language of Constitutionalism: Baldwinite Conservatism, in: ders. / Alan O’Shea (Hg.), Formations of Nation and People, London 1984, S. 1–18. Kritischer: David Cesarani, Joynson-Hicks and the Radical Right in England after the First World War, in: Kushner / Lunn (Hg.), Traditions, S. 118–139; ders., The Anti-Jewish Career of Sir William JoynsonHicks, Cabinet Minister, in: Journal of Contemporary History 24 (1989), S. 461–482; ders., AntiAlienism, S. 18–21. Vgl. auch Ronald Blythe, The Age of Illusion. Glimpses of Britain Between the Wars 1919–1940, Oxford 1986 (London 11963), S. 21–42; Bruce Coleman, The Conservative Party and the Frustration of the Extreme Right, in: Andrew Thorpe (Hg.), The Failure of Political Extremism in Inter-War Britain, Exeter 1989, S. 49–66, hier: S. 56; Higgs, Information State, S. 148 f.; Sykes, Radical Right, S. 45; Cesarani, An Alien Concept?, S. 40 f.; Townshed, Peace, S. 93; Eliot, Experiment, S. 176; Thurlow, Anti-Fascism, S. 166, 177.

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wie in Großbritannien und Frankreich, vor allem wegen des hohen Stellenwertes der (Zwangs-)Rekrutierung von Arbeitskräften in den besetzten Gebieten Belgiens, Nordfrankreichs und des russischen Zarenreiches. Allein beim Rückzug aus Nordfrankreich (zwischen Arras und Soissons) im Februar und März 1917 führten die deutschen Truppen 125.000 arbeitsfähige Bewohner mit, darunter sogar 45 Schweizer. Das „Unternehmen Alberich“, mit dem der Rückzug der deutschen Truppen auf die „Siegfried-Linie“ erleichtert werden sollte, ging aber auch mit der Zwangsevakuierung von Frauen und Kindern einher. So nahm die Zahl der gefangenen „feindlichen Ausländer“ vom 10. Juni 1915 bis zum 10. Oktober 1918 von 48.513 auf 111.879 zu. Davon waren rund 100.000 deportierte Zivilisten aus den besetzten Gebieten West- und Osteuropas. Besonders als 1915/16 Arbeitskräfte aus den okkupierten Regionen in das Deutsche Kaiserreich gebracht wurden, wuchs die Zahl der Internierten sprunghaft, so allein vom 10. Oktober 1915 bis zum 10. Juli 1916 von 76.988 auf 84.447. Insgesamt stellten die Zwangsrekrutierten im Ersten Weltkrieg zwischen 4,8 und 6,2 Prozent aller Kriegsgefangenen, die sich in Deutschland aufhielten. Hier waren 1918 rund drei Millionen ausländische Arbeiter beschäftigt. Sicherheitspolitische und militärische Gesichtspunkte verbanden die Behörden deshalb beim Umgang mit Feindstaatenangehörigen eng mit wirtschaftlichen Zielen. Auch deshalb wurden Staatsbürger der USA, Panamas, Brasiliens, Haitis und Kubas in Deutschland im Ersten Weltkrieg nicht interniert. Alles in allem war die globale Dimension der Internierung im Deutschen Kaiserreich schwächer als in Großbritannien, während Europa wegen der Arbeitskräfterekrutierung stärker erfasst wurde.218

Feindbilder und Kriegspropaganda Im Kaiserreich war in den Jahren vor 1914 die Spionagefurcht ebenso gewachsen wie in den anderen europäischen Staaten, die sich im Ersten Weltkrieg bekämpften. Walther Nicolai (1873–1947), der 1913 zum Chef des militärischen Geheimdienstes III B ernannt wurde, gab rückblickend an, dass die Zahl der wegen Spionageverdachts verhafteten Personen von 1909 bis 1913 von 47 auf 346 hochgeschnellt war. Noch im August 1918 bemerkte er, dass Deutschland einen „Zweifrontenkrieg gegen den äußeren und inneren Feind“ führe.219 Um abwei218 Angaben nach: Doegen, Völker, Bd. 1, S. 28 f. (Tabelle F); Huber, Fremdsein, S. 233; Reinecke, Grenzen, S. 198; Stibbe, Civilian Internment, S. 100, 102. Vgl. auch Gosewinkel, Einbürgern, S. 329; Stibbe, A Question of Retaliation?, S. 21; Jahr / Thiel, Colour, S. 42. 219 Zitat in: Altenhöner, Kommunikation, S. 148. Angaben nach: Alex Marshall, Russian Military Intelligence, 1905–1917: The Untold Story behind Tsarist Russia in the First World War, in: War in History 11 (2004), S. 393–423, hier: S. 403.

4.2 Deutsches Kaiserreich 

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chende Meinungen zu unterdrücken, steuerten die Oberzensurstelle, die im Oktober 1914 beim Stellvertretenden Generalstab eingerichtet wurde, und das Kriegspresseamt die Berichterstattung von Zeitungen und Zeitschriften. Obgleich zentrale Pressekonferenzen und Informationsreferate bei Militär- und Zivilbehörden Richtlinien erteilten, blieben diese uneinheitlich. Eine umfassende Kontrolle und Steuerung der Presse und der Journalisten wurden im Ersten Weltkrieg deshalb nicht erreicht. Auch im Vergleich mit den demokratischen Kriegsgegnern war die deutsche Propaganda nicht extrem radikal, obgleich sie durchweg ein ausgeprägtes Freund-Feind-Denken prägte. So verherrlichte die Agitation das Deutsche Kaiserreich als vermeintlichen Hort der „Kultur“ und der „Humanität“. Dieser Rekurs auf die „deutschen Werte“ blieb weitgehend unwidersprochen, wenn man von einzelnen Kritikern wie Heinrich Mann (1871– 1950) absieht.220 In den gegnerischen Staaten und in vielen neutralen Ländern lösten jedoch vor allem gezielt initiierte und amtlich gelenkte Aktionen wie der „Aufruf an die Kulturwelt“, den das Nachrichtenbüro des Reichsmarineamtes vorbereitete und im Frühherbst 1914 von 93 Intellektuellen unterzeichnen ließ, scharfen Protest aus. In diesem „Aufruf der 93“ wurden nicht nur die Vorwürfe der Kriegsgegner zurückgewiesen, sondern auch der deutsche Militarismus und Nationalismus glorifiziert. In dem „Kampf der Kulturen“, in dem die Kriegspropaganda des Deutschen Reiches die „Ideen von 1914“ gegenüber den „Ideen von 1789“ beschwor und die eigene „Kultur“ von der westlichen „Zivilisation“ abgrenzte, war die deutsche Seite jedoch letztlich klar unterlegen.221

Voraussetzungen: Regelungen zum Belagerungszustand und zur Ausländerkontrolle vor 1914 Die deutsche Reichsleitung hatte die Internierung von Feindstaatenangehörigen in den Jahren vor 1914 kaum konkret vorbereitet. Deshalb griffen die Machthaber des Kaiserreiches auf im 19. Jahrhundert erlassene Ausnahmegesetze zurück. Im Deutschen Bund hatte die bayerische Regierung in der Rheinpfalz 1832 erstmals den Belagerungszustand verhängt, um die pfälzische Freiheitsbewegung zu unterdrücken. Wegen der revolutionären Erhebung in Berlin erklärte

220 Steffen Bruendel, Zwei Strategien intellektueller Einmischung: Heinrich und Thomas Mann im Ersten Weltkrieg, in: Ingrid Glicher-Holtey (Hg.), Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 87–115; Creutz, Pressepolitik, bes. S. 50–52, 292, 296 f. 221 Hirschfeld / Krumeich, Deutschland, S. 67 f., 108 f.; Becker / Krumeich, Krieg, S. 182 f.

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die Obrigkeit im November 1848 in Preußen den Belagerungszustand und General Friedrich von Wrangel (1784–1877) das Kriegsrecht über Berlin. Damit waren mit der Begründung, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, schon früh Freiheiten eingeschränkt, Vereine aufgelöst und alle Zivilisten entwaffnet worden. Am 10. Mai 1849 erließ die preußische Regierung schließlich eine Verordnung über den Belagerungszustand, um die revolutionäre Bewegung im gesamten Staat zu unterdrücken. Damit sollte das monarchische Prinzip gegen das Repräsentativsystem behauptet werden, das ihrerseits in den Rechten der Kammern wurzelte. Auch die 1850 erlassene Verfassung begründete die Aufhebung von Freiheitsrechten mit einer „dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit“.222 Daran anknüpfend, stimmten die beiden Kammern des preußischen Parlaments einer Verordnung zu, die am 4. Juni 1851 als Gesetz erlassen wurde. Den Ausnahmezustand begründete der Staatsrechtler Lorenz von Stein (1815–1890) 1852 auch wissenschaftlich, indem er staatliche Ordnungen an spezifische Voraussetzungen band und die Gefahr von Bürgerkriegen in Industriegesellschaften beschwor. Die Verfassungen des Norddeutschen Bundes (1866) bzw. des Kaiserreiches (1871) ermächtigten den Bundesfeldherrn bzw. den Kaiser auf der Grundlage des Gesetzes vom 4. Juni 1851 explizit, bei einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit den Kriegszustand zu erklären. Nach Artikel 68 der Bismarck’schen Reichsverfassung vom 16. April 1871 konnte der Kaiser bei Störungen der inneren Ordnung und Gefahren für die Sicherheit des Staates im Deutschen Reich den Belagerungszustand verhängen. Nur die Beteiligung Bayerns bedurfte einer separaten Verordnung. Zudem war der Kaiser befugt, als Oberkommandeur der Streitkräfte reichsweit die vollziehende Zivilgewalt den Befehlshabern der einzelnen Militärbezirke zu übertragen und Grundrechte wie Vereins- und Versammlungsfreiheit einzuschränken. Die Entscheidung darüber, ob die öffentliche Sicherheit bedroht war, lag im Ermessen des Monarchen. Damit konnte de facto eine Militärdiktatur etabliert werden, wie Zeitgenossen schon vor 1914 bemerkten.223 222 Christian Schudnagies, Der Kriegs- oder Belagerungszustand im Deutschen Reich während des Ersten Weltkriegs. Eine Studie zur Entwicklung und Handhabung des deutschen Ausnahmezustandes bis 1918, Frankfurt/M. 1994, S. 34 f. Vgl. auch Gosewinkel, Einbürgern, S. 329; Leidinger / Moritz, Der Erste Weltkrieg, S. 57. 223 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart 1960, S. 149, 755; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart 31988, S. 47 f., 60 f., 1043–1048; Jeff Rutherford, The German War in the East: The Radical Variant of Fascist War, in: Alonso / Kramer / Rodrigo (Hg.), Fascist Warfare, S. 221–240, hier: S. 222; Holmes, A Tolerant Country? S. 106. Zu Lorenz von Steins Abhandlung: Lorenz von Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage

4.2 Deutsches Kaiserreich



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Ebenfalls schon lange vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges hatten die staatlichen Behörden im Deutschen Kaiserreich slawische Einwanderer ihrer Sicherheitspolitik unterworfen. Zwar waren zwischen 1886 und 1890 Bestrebungen, alle Polen des Landes zu verweisen, am Widerstand der Gutsbesitzer gescheitert, die diese Saisonarbeiter dringend benötigten. Jedoch zwangen die Behörden sie, im Winter in ihre Heimat zurückzukehren.224 Ab 1907 mussten sich polnische Beschäftigte auch gesondert registrieren lassen. Der Verdacht subversiver Tätigkeit richtete sich aber nicht nur gegen die osteuropäischen „Slawen“, sondern vor allem ab 1910 auch gegen die Engländer, denen weithin Niedertracht, Verrat und kaltschnäuziges Kalkül unterstellt wurde. Franzosen betrachteten deutsche Nationalisten und die seit der Jahrhundertwende an Einfluss gewinnende völkische Bewegung ohnehin als „Erbfeind“. Die Pazifisten, die sich in Organisationen wie dem 1911 gegründeten „Verband für Internationale Verständigung“ sammelten, erzielten demgegenüber nur eine geringe öffentliche Wirkung. Insgesamt war die Politik gegen „Reichsfeinde“ schon vor 1914 eng auf die Einschränkung der Migration und die Ziele bezogen, nationale Einheit und ethnische Homogenität herzustellen. Dazu griffen staatliche Institutionen zunehmend in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung ein, ohne damit allerdings eine lückenlose Kontrolle zu erreichen.225

Ausnahmezustand und Kompetenzen der Behörden Mit der Erklärung des Kriegszustandes am 31. Juli 1914 wurde Artikel 68 der Reichsverfassung – und damit indirekt auch das preußische Gesetz über den Belagerungszustand – in Kraft gesetzt. Angesichts des von Kaiser Wilhelm II. erklärten akuten Notstandes übertrug der Monarch den Kommandeuren von 62 Militärbezirken – darunter den Befehlshabern der Stellvertretenden Generalkommandos in 24 Armeekorpsbezirken – weitreichende exekutive Vollmachten. (1852), ND Berlin 2002. Dazu auch: Dirk Blasius, Einleitung: Carl Schmitt nach 1945 – Umwertungen und Wertschätzung eines politischen Juristen, in: ders., Carl Schmitt und der 30. Januar 1933. Studien zu Carl Schmitt, Frankfurt/M. 2009, S. 9–17, hier: S. 11, 13. 224 Klaus J. Bade, „Preußengänger“ und „Abwehrpolitik“. Ausländerbeschäftigung, Ausländerpolitik und Ausländerkontrolle auf dem Arbeitsmarkt in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 24 (1984), S. 91–162; ders., Politik und Ökonomie der Ausländerbeschäftigung im preußischen Osten. Die Internationalisierung des Arbeitsmarkts im Rahmen der preußischen Abwehrpolitik, in: Hans-Jürgen Puhle / Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 273–299; Reinecke, Grenzen, S. 242. 225 Matthew Stibbe, German Anglophobia and the Great War, 1914–1918, Cambridge 2001, S. 26; Michael E. Nolan, The Inverted Mirror. Mythologizing the Enemy in France and Germany, 1898–1914, New York 2005, S. 87, 95, 102; Reinecke, Grenzen, S. 386 f.

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Nur Bayern war davon ausgenommen. Da die Kommandeure an die Front ausrückten, ernannten sie Stellvertreter, die im Namen der „öffentlichen Sicherheit“ nunmehr die oberste Zivilgewalt ausübten. Dazu erließen sie jeweils Verordnungen oder Verfügungen. In ihren Bezirken waren die stellvertretenden Kommandeure nicht nur für den Umgang mit Kriegsgefangenen, sondern auch für die Kontrolle von Zivilisten zuständig, gegen die sie u. a. „Schutzhaft“ verhängen durften. Diese repressive Maßnahme bezog sich gleichermaßen auf deutsche Kriegsgegner und zivile Feindstaatenangehörige. Das preußische Kriegsministerium sollte die Kriegsgefangenenpolitik koordinieren und in den 21 Armeekorpsbezirken, in denen schließlich Lager eingerichtet wurden, für ein einheitliches Vorgehen sorgen. Das Unterkunfts-Departement im Kriegsministerium war für deutsche Gefangene zuständig, die sich im Gewahrsam gegnerischer Staaten befanden.226 Grundsätzlich waren die stellvertretenden Militärkommandeure ermächtigt, sieben Grundrechte der preußischen Verfassung zu suspendieren: persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, den Anspruch auf einen gesetzlichen Richter und das Verbot von Ausnahmegerichten. Organisationen, die nach Auffassung der Militärs die Sicherheit des Reiches gefährdeten, durften verboten werden. Darüber hinaus oblag den stellvertretenden Kommandeuren die Durchsetzung des wirtschaftlichen Notrechts und der Zensur. Am 31. Juli 1914 wurde ihnen dafür auch die Polizei unterstellt. Ausländer mussten ihren Pass mitführen, und neue Ausweise an Einreisende wurden nicht mehr ausgestellt. Damit sollte Mobilität kontrolliert werden. Darüber hinaus wurde allen Briten eine nächtliche Ausgangssperre und eine Pflicht auferlegt, sich täglich bei Polizeiwachen zu melden. Ebenso verschärften die Behörden für andere Ausländer die Meldepflicht, die schon vor 1914 grundsätzlich auch für Deutsche gegolten hatte. Japaner, die Deutschland nicht über die Schweiz verlassen hatten, nahm die Polizei bei Kriegsbeginn gefangen. Darüber hinaus gestanden die Abgeordneten des Reichstages der Regie-

226 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, München 2003, S. 41; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 786 f.; Wilhelm Deist, Das Militär an der „Heimatfront“ 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945, in: Thoß / Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg, S. 375–389, hier: S. 376; Wurzer, Die Gefangenen, S. 415. Vgl. auch Klaus Otte, Lager Soltau. Die Kriegsgefangenen- und Internierungslager des Ersten Weltkrieges (1914–1921). Geschichte und Geschichten, Soltau 1999, S. 14, 19; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 45 f.; ders., Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 1043, 1049 f., 1052 f.; Wilkinson Prisoners of War, S. 47; Keller, Beyond the ‚People’s Community‘, S. 105; Welch, Germany, S. 137. Exemplarisch die Bekanntmachungen des Oberbefehlshabers in den Marken in: Ulrich Cartarius (Hg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg. Texte und Dokumente 1914–1918, München 1982, S. 16–19.

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rung auf der Grundlage des „Gesetzes über den Belagerungszustand“ am 4. August 1914 im „Kriegs-Ermächtigungsgesetz“ zu, „gesetzesvertretende Verordnungen“ zu erlassen, die ordentliche, vom Parlament verabschiedete Gesetze ersetzten. Damit hatten sie praktisch der Durchsetzung der „militärischen Exekutivsuprematie“ zugestimmt.227 Das Staatsnotrecht ermächtigte den Bundesrat, Maßnahmen gegen wirtschaftliche Schädigungen zu ergreifen, und Militär- und Zivilbehörden wurden beauftragt, die Mobilmachung und Kriegführung zu sichern. Schon in den ersten Kriegstagen beschlagnahmten die Militärbefehlshaber mit dieser Vollmacht Eigentum, das sie für die Kriegführung beanspruchten. Zudem konnten die zentralen Reichsbehörden Geschäfte von Feindstaatenangehörigen unter staatliche Kontrolle stellen. Verordnungen, die am 22. Oktober, 26. November und 22. Dezember 1914 erlassen wurden, unterwarfen britische, französische und russische Unternehmen einer Zwangsverwaltung. Damit hatte die Reichsleitung ihre Politik, die zunächst zurückhaltend geblieben war, erheblich verschärft. Am 31. Juli 1916 ordnete sie schließlich sogar die Liquidierung britischen Eigentums an. Vor allem im Elsass und in Lothringen, aber auch in Hamburg und Preußen, wo sich Investitionen von Briten konzentriert hatten, wurden Betriebe beschlagnahmt oder aufgelöst. Damit sollten Übergriffe auf deutsches Eigentum in den britischen Kolonien vergolten werden, wo erhebliches Vermögen beschlagnahmt worden war.228

Angst vor Unterwanderung und Fremdenfeindlichkeit nach Kriegsbeginn Die Gesetzgebung gegenüber Feindstaatenausländern war begleitet von einer umfassenden Mobilisierung, in der die Geschlossenheit der Nation in einer angeblich homogenen Kampfgemeinschaft propagiert wurde. Der innere Zusammenschluss ging mit der Ausgrenzung ethnischer Minderheiten und „innerer Feinde“ einher. Dazu gehörten u. a. Juden, Polen, Franzosen und Dänen. Die emotional aufgeladene nationalistische Begeisterung und die fremdenfeindli227 Martin Creutz, Die Pressepolitik der kaiserlichen Regierung während des Ersten Weltkriegs. Die Exekutive, die Journalisten und der Teufelskreis der Berichterstattung, Frankfurt/ M. 1996, S. 43, 49; Mathieu Deflem, Policing World Society. Historical Foundations of International Police Cooperation, Oxford 2002, S. 112; Torpey, Invention, S. 112 f.; Wippich, Internierung, S. 19; Reinecke, Grenzen, S. 226 f.; Altenhöner, Kommunikation, S. 39; Caglioti, Subjects, S. 502; Stibbe, Community, S. 81; ders., Anglophobia, S. 24. 228 Vgl. S. 259–261 und Caglioti, Property Rights, S. 5 f., 10. Ergänzend: Friedrich Lenz / Eberhard Schmidt, Die deutschen Vergeltungsmaßnahmen im Wirtschaftskrieg, nebst einer Gesamtbilanz des Wirtschaftskrieges, 1914–1918, Bonn 1924.

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che Politik richteten sich besonders gegen Angehörige von Staaten, gegen die Deutschland Krieg führte.229 Die Kriegserklärung an Frankreich vom 3. August 1914 löste in Deutschland keineswegs nur Begeisterung oder Indifferenz aus, sondern führte auch eine Panik herbei, in der vor allem die Furcht vor Spionen in der nationalen Emotionsgemeinschaft geradezu hysterische Züge annahm. So notierte der Schriftsteller und Publizist Harry Graf Kessler (1868–1937) am 5. August 1914 seinen Eindruck, dass in Berlin die Bevölkerung „vollkommen den Kopf verloren“ hätte.230 Ähnlich kennzeichnete der Schriftsteller Ernst Toller (1893–1939) die Stimmung zu Kriegsbeginn: „… die Luft ist geladen mit unbrüderlichem Mißtrauen.“231 Selbsternannte Bürgerwehren errichteten Straßensperren, an denen sie Fremde kontrollierten und damit das staatliche Machtmonopol einschränkten. Die nationalistischen und rassistischen Ressentiments trafen auch unschuldige Frauen wie die österreichische Schriftstellerin Grete Gulbransson (1882–1934), die im August 1914 in Berlin von einer pfeifenden Menge verfolgt wurde, weil sie mit langen Schritten auf der Straße gelaufen und deshalb für einen verkleideten russischen Spion gehalten worden war. Ermutigt von den Generalkommandos und den ihnen untergeordneten Behörden, jagten in Deutschland im Sommer 1914 überall Milizen „innere Feinde“. Dazu zählten auch renommierte Wissenschaftler wie der Historiker Nikolai Karejew (1850–1931), der sich im Sommer 1914 in Deutschland aufhielt. Als besonders verdächtig galten russische Juden. Die emotionale Kriegsgemeinschaft festigte in Deutschland jedoch vor allem die Furcht vor englischen Spionen. Angestachelt von der Regierungspropaganda und der Presse, attackierten aufgebrachte Deutsche sogar westliche Diplomaten wie den US-Botschafter in Berlin, James Gerard (1867–1951). Die Schutzmächte – so Spanien für die Russen – waren in den ersten Wochen des Krieges mit der Aufgabe, die bedrängten Feindstaatenangehörigen zu schützen, oft überfordert. Einzelne von ihnen wurden aber von Privatpersonen unterstützt. So appellierte der Geschichtswissenschaftler Theodor Schiemann (1847– 1921) erfolgreich an die Reichsleitung, seinem Kollegen Karejew die Ausreise nach Russland zu erlauben.232 229 Sven Oliver Müller, Deutsche Soldaten und ihre Feinde. Nationalismus an Front und Heimatfront im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt/M. 2007, S. 30–35; Grady, Legacy, S. 135. 230 Harry Graf Kessler, Das Tagebuch, Bd. 5: 1914–1916, hg. v. Günter Riederer und Ulrich Ott, Stuttgart 2008, S. 81. 231 Cartarius (Hg.), Deutschland, S. 16. 232 Thomas Flemming / Bernd Ulrich, Heimatfront. Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot – wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten, München 2014, S. 40, 42–48; William C. Fuller, The Foe Within. Fantasies of Treason and the End of Imperial Russia, Ithaca 2006, S. 172; Altenhöner, Kommunikation, S. 194, 205; Deflem, Policing World Society, S. 112;

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Als im Kaiserreich im Herbst 1914 die Hoffnung auf einen schnellen Sieg schwand, wuchs die Fremdenfeindlichkeit, die mit akuten Sicherheitsängsten einherging. Deutsche gingen nicht nur gegen den Gebrauch von Fremdwörtern in der Öffentlichkeit vor, sondern sie verfolgten – wie bereits angedeutet – auch vermeintliche Feindstaatenangehörige. Vielerorts galten Männer mit schwarzen Bärten als Russen und damit zugleich als potentielle Agenten. Obgleich die Furcht vor diesen „Feinden“ politisch besonders aufgeladen war, richtete sich der Verdacht auch gegen Personen mit Regenmänteln nach englischer Mode. Gerade weil die von der Reichsleitung gebetsmühlenartig beschworene „nationale Einheit“ ebenso eine Illusion blieb wie der „Geist von 1914“, vollzog sich eine innenpolitische Polarisierung. Damit ging eine Radikalisierung der Feindbilder einher, die sich vorrangig auf die gegnerischen Staaten bezogen, so den „perfiden Albion“ (Großbritannien), das „despotische“ Russland und das „aggressive“ Frankreich. Zugleich verbreitete sich im Deutschen Kaiserreich Angst vor „Verrätern“ und „Spionen“. „Undeutsche“ Gruppen wurden aus der entstehenden „Volksgemeinschaft“ des Ersten Weltkrieges ausgeschlossen, und viele Deutsche verdächtigten Minderheiten wie die Elsässer und Lothringer der Spionage. Angesichts des erheblichen Misstrauens wurden allein im Elsass und in Lothringen schon in der Mobilisierungsphase im August 1914 rund 400 Menschen verhaftet, darunter Landtagsabgeordnete, die eine Autonomie des deutschen Bundesstaates unterstützten. Alles in allem prägten in Deutschland Verschwörungsvorstellungen und eine ausufernde Semantik des „Verrats“ die Kriegsmobilisierung. Der „innere Feind“ wurde ein „diskursiv verbreitetes Distinktions- und Integrationsmittel.“ Der Befund, dass Spionagefurcht wichtiger war als Spionage selber, verweist darauf, dass Sicherheit auch im Deutschen Kaiserreich konstruiert und emotional grundiert war.233 So entstanden nach dem Kriegsbeginn Gerüchte, dass sich feindliche Spione als Nonnen, Äbte oder Priester verkleiden könnten. Angeblich verbreiteten sie bewusst Krankheiten, und sie wurden beschuldigt, Lebensmittel und Wasser zu vergiften.234 Auch eskalierte die Suche nach „Goldautos“, mit denen das Edelmetall angeblich durch Deutschland von Frankreich nach Russland transportiert wurde, in einigen Gemeinden zu wahllosen Angriffen auf verdächtigte Pitzer, Night, S. 99; Grady, Legacy, S. 60; Kershaw, Höllensturz, S. 101; Gosewinkel, Einbürgern, S. 329. Zum Angriff auf Gerard: Ketchum, Ruhleben, S. 6. 233 Christoph Nübel, Die Mobilisierung der Kriegsgesellschaft. Propaganda und Alltag im Ersten Weltkrieg in Münster, Münster 2008, S. 75; Welch, Germany, S. 58 f.; Stibbe, A Question of Retaliation?, S. 4; Müller, Soldaten, S. 38, 43 f.; Purseigle, Reception, S. 82. Angabe nach: Kramer, Wackes, S. 108. 234 Alexander Watson, Ring of Steel. Germany and Austria-Hungary at War, 1914–1918, London 2014, S. 336; Bischoff, Spy Fever.

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Pkws. Selbstermächtigte Patrouillen setzen dabei z. T. Waffen gegen Fahrer ein. Im Regierungsbezirk Bromberg (Provinz Posen) wurde sogar der Landrat des Kreises Schubin erschossen. In den Straßenblockaden spiegelten sich zwar auch die traditionalen Aversionen gegen den Autoverkehr, der aus der Sicht von Dorfbewohnern das ländliche Leben störte. Die Kontrollen hatten aber ein Gerücht ausgelöst, das wahrscheinlich die Presseabteilung des Großen Generalstabes gezielt lanciert hatte, um mit der Warnung vor Goldtransporten die Kriegsbereitschaft zu erhöhen. Damit hatte sie fremdenfeindliche Angriffe ausgelöst, die Gemeinschaften festigten, nicht zuletzt durch emotionale Bindungen und körperliche Kontakte. Die Mobilisierung wurde vielerorts auch von der Polizei unterstützt, die beauftragt war, Spionage und Sabotage zu verhindern. Dazu überwachte sie besonders Brücken, Verkehrsverbindungen und Fabriken, z. T. in Kooperation mit den selbsternannten Ordnungskräften. Kontrolle „von oben“ und militante Selbstmobilisierung „von unten“ griffen ineinander. Die Zahl der Todesopfer dieser „Spionitis“ belief sich nach Schätzungen auf rund 60. Jedoch entzog sich die emotional aufgeladene Selbstmobilisierung in der Kriegsgesellschaft vielerorts der Kontrolle der Regierung und der lokalen Behörden. So mussten wiederholt Polizei und Feuerwehr eingesetzt werden, um – überwiegend haltlose – Gerüchte über Spionage und geplante Anschläge zu überprüfen. Die Beteiligung an den Übergriffen gegen Fremde, die als Sicherheitsrisiko stigmatisiert wurden, vermittelte deutschen Zivilisten die Illusion, dass auch sie zur Kriegführung ihres Landes beitrugen.235 Dazu gehörte die Durchsetzung einer strikten amtlichen Sprachpolitik, die fremde Einflüsse beseitigen sollte. Schon seit 1885 hatte sich dafür der Allgemeine Deutsche Sprachverein eingesetzt, dessen Mitglieder unterschiedlichen bürgerlichen Schichten angehörten. Umfassende „behördliche Fremdwortverdeutschungen“ erfassten bereits im späten 19. Jahrhundert besonders das Bauund Transportwesen (Eisenbahn).236 Auch in den deutschen Kolonien sollten Umbenennungen die Macht der neuen Herren symbolisch repräsentieren und damit festigen. So verboten die deutschen Behörden in Neuguinea, das offiziell „Kaiser-Wilhelmsland“ hieß, Englisch als erste Fremdsprache. Demgegenüber verdrängte die Kolonialverwaltung die Vielzahl der einheimischen Sprachen bewusst nur begrenzt, da sie eine Einigung der unterworfenen Bewohner und sogar Aufstände fürchtete. Ausgehend von diesen Eingriffen, erreichte die 235 Zitat: Altenhöner, Kommunikation, S. 193. Vgl. auch Uwe Fraunholz, Motorphobia. Antiautomobiler Protest in Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen 2002, S. 167–170; Bischoff, Spy Fever; Reinecke, Grenzen, S. 225; Müller, Perspektiven, S. 54–57; Hirschfeld / Krumeich, Deutschland, S. 60 f. Zum Tod des Landrats der Presseartikel in: Cartarius (Hg.), Deutschland, S. 16. 236 Heine, Schulalltag, S. 59.

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„Fremdworthatz“ im Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt. Dabei wurden beispielsweise „Confiserien“ und Hotels mit ausländischen Namen umbenannt, so das Haus „Westminster“ im Zentrum von Berlin in „Lindenhof“. Eindeutschungen bezogen sich vorrangig auf französische und englische Wörter, aber auch auf die Schreibweise. So wurden aus „Cakes“ „Kekse“. Deutsche Nationalisten hofften sogar, nach einem Sieg ein „Weltdeutsch“ durchsetzen zu können, das aber einfach gehalten werden sollte, weil befürchtet wurde, dass ein differenziertes Vokabular in den Kolonien Propaganda gegen die Herrschenden erleichtern und Rebellionen auslösen könnte.237 Die deutsche Kriegspropaganda richtete sich zunächst vor allem gegen den „Verrat“ Großbritanniens, da die Reichsleitung noch Anfang August 1914 auf eine Neutralität des Inselreiches gehofft hatte. Daneben nährte sie gezielt die Angst vor „Kosakengreueln“, nachdem die russische Armee in demselben Monat Gebiete Ostpreußens erobert und besetzt hatte. Erst als auch völlig Unschuldige angegriffen wurden, die Polizei von einer Flut von Anzeigen überschwemmt wurde und gegen gewalttätige Übergriffe einschreiten musste, unterbanden die Militärbefehlshaber im Herbst 1914 irreguläre Straßensperren und andere willkürliche Aktionen. Schon im August 1914 hatte der Generalstab zwar Wachsamkeit angeordnet, aber – zunächst vergeblich – versucht, eine „planlose Spionenfurcht“ zu verhindern. Auch riefen die Behörden die Polizisten auf, Ruhe zu bewahren. Sogar die Kriegspropaganda wurde zeitweilig zurückgenommen, um unkontrollierbare Ängste einzudämmen, die als Ausdruck einer „weiblichen Hysterie“ galten. Ab Ende 1914 mussten Extrablätter, die zunächst mit sensationellen Nachrichten fremdenfeindliche Übergriffe ausgelöst hatten, im Deutschen Reich amtlich genehmigt werden. Anschließend beruhigte sich die Lage, so dass braungebrannte oder „slawisch“ aussehende Deutsche keine Attacken mehr fürchten mussten. Auch sah das deutsche Militär von Maßnahmen gegen die polnische Bevölkerung in Westpreußen ab, da sie zumindest 1914/15 offenbar nicht pauschal der Illoyalität bezichtigt wurde.238 Damit war die Agitation gegen „Slawen“ aber keineswegs gebrochen. In der fortdauernden Feindlichkeit gegenüber dieser Volksgruppe waren nationale, soziale und rassistische Abgrenzungen wirksam. So galten Russen nicht nur als 237 Christoph Nonn, 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des deutschen Kaiserreichs 1871–1918, München 2020, S. 564. Welch, Germany, S. 59; Heine, Schulalltag, S. 60, 124 f. 238 Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997, S. 52; Peter Lieb, Der deutsche Krieg im Osten von 1914 bis 1919. Ein Vorläufer des Vernichtungskriegs?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), S. 465– 506, hier: S. 471; Becker / Krumeich, Krieg, S. 184; Nübel, Mobilisierung, S. 82; Welch, Germany, S. 59–61.

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„unerwünscht“, sondern als gefährliche Feinde, die oft eng an die gleichfalls verfemten Juden gerückt wurden. Schon vor 1914 hatten vor allem konservative Presseorgane wie die „Kreuz-Zeitung“ das Zarenreich nicht mehr – wie noch unmittelbar nach der Niederlage im Krieg gegen Japan (1904/5) – nur als Großmacht im Niedergang, sondern auch als zunehmende Gefahr für die Sicherheit Deutschlands dargestellt. Dabei war – so von der „Kölnischen Zeitung“ in einem Aufsehen erregenden Artikel am 2. März 1914 – außer der wachsenden Kriegsrhetorik im Zarenreich vor allem auf den Panslawismus und die damit verbundene Expansionspolitik auf dem Balkan verwiesen worden. Liberale Presseorgane, die zunächst auf die innenpolitischen Zwecke der Propagandakampagne in Russland und die Angst der Eliten vor einem Umsturz verwiesen hatten, teilten im Sommer 1914 die weit verbreitete Feindschaft gegen Russen, die auch im sozialdemokratischen Vorwärts als rückständig, „barbarisch“ und „asiatisch“ verdammt wurden. Angesichts der Anfangserfolge der Zarenarmee, die im August 1914 mit insgesamt rund 650.000 Soldaten in Ostpreußen vorrückte, wurden Russen in Deutschland schon in den ersten Kriegswochen verfolgt und unterdrückt. Die Berichte über Gräueltaten von Soldaten – vor allem Kosaken – knüpften nahtlos an die Vorkriegspropaganda an. An der Agitation beteiligten sich außer den Printmedien, die bis 1916 nicht zentral von der Reichsleitung gesteuert wurden, auch einflussreiche Intellektuelle wie der Soziologe Max Weber (1864–1920) und der Historiker Friedrich Meinecke (1862– 1954), die eindringlich vor der „Gefahr aus dem Osten“ warnten.239

Die Politik gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen Im dezentralen System der Bezirkskommandanturen fehlte eine koordinierende Instanz, auch nach der Einrichtung eines Obermilitärbefehlshabers (in Person des preußischen Kriegsministers) Ende 1916.240 Regionale und lokale Unterschiede im Umgang mit „inneren Feinden“ sind deshalb unübersehbar. So scheiterte eine einheitliche Regelung für deutschstämmige Ausländer an den Universitäten am Widerstand Preußens, wo die Behörden nicht nur nach der Staatsangehörigkeit und Abstammung entscheiden wollten (wie vom badischen 239 Troy Paddock, Creating the Russian Peril. Education, the Public Sphere, and National Identity in Imperial Germany, 1890–1914, Rochester 2010, S. 156, 164, 167–179, 186, 192, 198, 201–210, 226; ders., Still Stuck at Sevastopol: The Depiction of Russia During the Russo-Japanese War and the Beginning of the First World War in the German Press, in: German History 16 (1998), S. 358–376, hier: S. 358, 364, 369–371, 375; Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 782, 813; Jahr / Thiel, Colour, S. 44. Angaben nach: Hirschfeld / Krumeich, Deutschland, S. 80. 240 Stevenson, 1914–1918, S. 334.

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Kultusminister gefordert), sondern auch die politische Loyalität zu einem wichtigen Kriterium erhoben. Zwischen einzelnen Universitätsstandorten bildeten sich deshalb beträchtliche Differenzen heraus. So verbreiteten sich in Göttingen im Spätsommer 1914 zwar Spionagefurcht und Fremdenfeindlichkeit. Hier unterstellten Einwohner einem behinderten jüdischen Studenten, dass sein Buckel künstlich sei und eine Bombe tarne. Überdies wurden alle russischen Wissenschaftler und Studierenden in einer Gewerbeschule in Gewahrsam genommen. Jedoch besuchten sie dort verschiedene Kommilitonen und Professoren, die sich auch bemühten, ihnen noch Abschlussprüfungen zu ermöglichen, indem sie Fristen verkürzten. Einzelne Hochschullehrer bürgten sogar für entlassene Russinnen und Russen. Außerdem half der Privatdozent für Physik Max Born (1882–1970) russischen Studierenden bei der Ausreise in die Schweiz. Diese Solidarisierung erregte den Argwohn nationalistischer Göttinger, die Unterstützung für die Feindstaatenangehörigen als „Ausländerei“ kritisierten. Dennoch hielten sich in der Stadt sogar zwei ehemalige Obersten der Zarenarmee auf, die bei Kriegsbeginn in Deutschland überrascht und zunächst im Offiziersgefangenenlager Celle interniert worden waren. Darüber hinaus wurden einzelne Russen noch zum Studium zugelassen. Auch in anderen Städten und Gemeinden erfuhren Feindstaatenangehörige, die nicht festgenommen worden waren und z. T. schon lange in Deutschland lebten, praktische Hilfe, vor allem nachdem die Kriegsbegeisterung Anfang 1915 zurückgegangen war. In engen Gemeinschaften, in denen die Fremden bekannt waren und respektiert wurden, konnte sich offenbar zumindest gelegentlich gegenseitiges Vertrauen gegenüber der nationalistischen Abgrenzung behaupten. Dieser Befund verweist auf Grenzen der „Totalisierung“ des Krieges.241 Demgegenüber war die Politik in anderen Städten, Dörfern und Regionen deutlich restriktiver. An der Universität Berlin wurden alle „feindlichen“ Studierenden, die nicht deutscher Abstammung oder „Bildungsinländer“ waren, konsequent ausgeschlossen. Hier sank der Anteil der Ausländer an allen Immatrikulierten deshalb vom Sommersemester 1914 bis zum Sommer 1918 von 15,2 auf 4,6 Prozent. Auch an der Universität im hessischen Gießen setzte die Verwaltung unter dem Eindruck einer hier weit verbreiteten Angst vor Spionen einen Ministererlass zum Ausschluss von Studierenden aus gegnerischen Ländern offenbar direkt um. Feindstaatenausländer durften hier nicht mehr studieren oder 241 Trude Maurer, „…und wir gehören auch dazu“. Universität und ‚Volksgemeinschaft‘ im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2015, S. 772, 777; dies., „Akademische Bürger“ und „feindliche Ausländer“: Rußländer an deutschen Universitäten im Ersten Weltkrieg, in: Bauerkämper / Rostislavleva (Hg.), Russland, S. 280–288, hier: S. 286 f.; dies., Fremde, Feinde – oder Freunde?, S. 104 f., 107, 112; dies., Kombattanten, S. 191, 204, 208 f. Allgemein: Becker / Krumeich, Krieg, S. 188.

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promoviert werden. Die Universitätsverwaltung gewährte nur wenige Ausnahmen. Noch drastischer waren die Maßnahmen an der Universität Straßburg, wo Ausländer im Sommer 1914 noch 175 Studierende (8,9 Prozent der Immatrikulierten) gestellt hatten. Schon im Winter 1914/15 waren von diesen nur sieben geblieben. Insgesamt ging die Zahl der ausländischen Studierenden an deutschen Hochschulen schon vom Sommer 1914 bis zum darauffolgenden Winter von 4.750 auf 1.438 zurück. Ein Jahr später wurden nur noch 1.302 Studierende aus anderen Ländern registriert. Von 2.669 Angehörigen späterer Feindstaaten studierten im Kaiserreich 1915 nur noch 62 „Russen“, fünf Italiener, zwei Engländer und ein Belgier. Auch an vielen Hochschulen sollte das Vorgehen gegen wehrlose zivile Feindstaatenangehörigen offenbar die nationale Loyalität der Betroffenen und ihr Engagement für die Kriegführung Deutschlands belegen. Mit der Mobilisierung gegen die feindlichen Ausländer reihten sie sich in die vielbeschworene Verteidigungsgemeinschaft ein, die als „Heimatheer“ verherrlicht wurde.242 Die fehlende Koordination und Einheitlichkeit der Politik gegenüber Feindstaatenausländern zeigte sich aber nicht nur im Umgang mit ausländischen Studierenden, sondern auch in den Reaktionen der Behörden auf Rückkehrgesuche. Einzelnen Arbeitern, Urlaubern und Studierenden, die Feindstaaten angehörten, wurde noch Ende Juli und Anfang August die Ausreise erlaubt. Zudem beschloss die Regierung nach einer Beratung am 17. August, in Zukunft andere „unverdächtige“ Ausländer auszuweisen. Nach einem Erlass des Preußischen Innenministeriums vom 2. September 1914 sollte vorrangig Angehörigen von Staaten, deren Regierungen auch Deutschen die Rückkehr gestatteten, die Ausreise erlaubt werden. So durften Russen, die von den Behörden als „harmlos“ eingestuft worden waren, Deutschland mit Unterstützung des „Hilfsvereins der deutschen Juden“ noch nach der Kriegserklärung Deutschlands gegenüber dem Zarenreich (1. September 1914) verlassen. Allerdings protestierten Hunderte nationalistischer Juden beim Generalsekretär des Verbandes, Bernhard Kahn (1876–1955), gegen das Hilfsangebot für die Ostjuden. Auch musste Kahn den Widerstand einzelner Militärs wie des stellvertretenden Kommandeurs des 2. Armeekorps in Stettin, Hermann von Vietinghoff (1851–1933), überwinden, obgleich sich der Stellvertreter des Generalstabschefs in Berlin für den Austausch ausgesprochen hatte. Letztlich konnten aber 17 Züge mit russischen Staatsbürgern aus Berlin abfahren. Hinzu kamen vier weitere Transporte aus Frankfurt (Main).243 242 Angaben nach: Maurer, „…und wir gehören auch dazu“, S. 771, 780, 789. Vgl. auch Maurer, „Akademische Bürger“, S. 284–286. 243 Hierzu und zum Folgenden: Jahr / Thiel, Colour, S. 44 f.; Reinecke, Grenzen, S. 228 f.; Grady, Legacy, S. 60 f., 119; Barnett, Internment, S. 1; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 260.

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Vor allem Russen, die nicht wehrpflichtige Männer im Alter von 17 bis 45 Jahren waren, mussten Deutschland verlassen. Nur verdächtige Personen setzte die Polizei fest. So wurde einer Gruppe russischer Schachspieler, die bei der Rückfahrt aufgefallen waren, die Ausreise verwehrt. Touristen, die ihren Urlaub beispielsweise in beliebten Kurorten verbrachten, schützten mancherorts zunächst Hotelinhaber oder private Gastgeber. Auch der 21-jährige kanadische Student John Davidson Ketchum, der erst am 27. Juni aus Großbritannien nach Berlin zurückgekehrt war, um dort an der Universität sein Musikstudium fortzusetzen, musste sich in den ersten Wochen nach der Kriegserklärung Großbritanniens an das Deutsche Reich lediglich regelmäßig bei der Polizei melden. Erst als er am 28. August seine Aufenthaltsbescheinigung nicht vorwies, wurde er verhaftet, zunächst in die Berliner Stadtvogtei eingewiesen und schließlich im Lager Ruhleben interniert. Auch britische Seeleute wurden schon im August 1914 in deutschen Häfen festgesetzt, überwiegend in Hamburg. Einzelne festgenommene Zivilisten, die Kriegsgegner geworden waren, ließen die Behörden vorübergehend wieder frei, bevor die stellvertretenden Kommandeure der Armeebezirke zum Jahresende ihre endgültige Internierung anordneten. Alles in allem war der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Deutschen Reich in den ersten Kriegswochen unsystematisch und widersprüchlich, da die Kompetenzen unklar blieben. Außerdem rechneten weder die Reichsleitung noch die Militärführung mit einem langen Krieg.244 Die unterschiedliche Behandlung der zivilen Feindstaatenangehörigen ist z. T. auf Befehlshaber zurückzuführen, die ihren Handlungsspielraum nutzten; sie spiegelte aber vor allem die mangelnde Vorbereitung, die widersprüchliche Politik und die unterschiedlichen Auffassungen in den beteiligten deutschen Verwaltungen wider. So forderten das preußische Kriegsministerium und der Große Generalstab, wehrfähige feindliche Ausländer zu inhaftieren, aber alle anderen Angehörigen gegnerischer Nationen abzuschieben, um mit diesen Personen nicht mehr belastet zu werden. Dagegen plädierten die Stellvertretenden Generalkommandos für ein differenzierteres Vorgehen. So trat das VIII. Armeekorps in Koblenz dafür ein, unverdächtige wehrpflichtige Feindstaatenangehö-

Instruktiver Fall in: NA, FO 383/523, Bl. 87. Vgl. auch Dimitrij Olejnikow, Von Ritterlichkeit zu Verachtung. Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf das Verhälnis zu den Deutschen, in: Karl Eimermacher / Astrid Volpert (Hg.), Verführungen der Gewalt. Russen und Deutsche im Ersten und Zweiten Weltkrieg, München 2005, S. 179–204, hier: S. 195; Wippert, Internierung, S. 25. 244 Rainer Pöppinghege, Leben im Lager. Die Kriegsgefangenen-Zeitschrift „L’echo du Camp de Rennbahn“ als sozialgeschichtliche Quelle, in: Westfälische Zeitschrift 149 (1999), S. 195– 207, hier: S. 196. Zu Ketchum: Ketchum, Ruhleben, S. XIV, 4.

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rige zwar in Deutschland festzuhalten, sie aber nicht als Kriegsgefangene einzustufen.245 Insgesamt hatten die Militärführung und die Reichsleitung den Umgang mit Staatsangehörigen gegnerischer Nationen völlig vernachlässigt. Dies galt besonders für die Unterbringung der Festgenommenen. Erst am 7. August 1914 wurde mit dem Unterkunftsdepartement im Preußischen Kriegsministerium eine zentrale koordinierende Planungs- und Koordinationsinstanz festgelegt. Diese Einrichtung gewann nur langsam die Kontrolle über die schnell eintreffenden Kriegsgefangenen und die zivilen Feindstaatenangehörigen, denn letztlich waren die einzelnen Kommandeure ausschließlich gegenüber dem Kaiser verantwortlich. Zudem erschwerte die Selbständigkeit der Lagerkommandanten und – ab 1915 – die Verteilung der Kriegsgefangenen auf verschiedene Arbeitskommandos außerhalb der Lager die Übersicht und eine einheitliche Behandlung. Im Gegensatz zu Soldaten wurden die Zivilinternierten im Allgemeinen aber nicht gezwungen, eine Beschäftigung aufzunehmen. Jedoch unterstanden alle Insassen dem Militär, und sie wurden überwiegend im von Landsturmmännern bewacht. Mit Kriegsbeginn hatte die Reichsleitung die Grenzen Deutschlands gesperrt, so dass ein Rücktransport von Feindstaatenausländern nicht mehr möglich war. Damit sollte eine Konzentration der Verkehrsmittel auf militärische Zwecke erreicht, aber auch die Rückkehr wehrfähiger Männer und der Verlust von Arbeitern, die gegnerischen Nationen angehörten, verhindert werden. Das Innenministerium Mecklenburg-Schwerins ordnete am 3. August 1914 an, ausländische Beschäftigte zu entwaffnen, zu bewachen und zu verhaften, wenn sie sich unerlaubt von der Arbeit entfernten. Darüber hinaus wurden ihnen der Alkoholgenuss und der Besuch von Städten verboten. Am darauffolgenden Tag untersagten die preußischen Behörden von den rund 430.000 osteuropäischen Saisonarbeitern (überwiegend Polen), die zur Ernte nach Deutschland gekommen waren, etwa 300.000 die Rückkehr in ihre Heimat. Sie wurden in Deutschland festgesetzt und vielerorts in Barackenlagern untergebracht. Nachdem die Niederlage der deutschen Truppen an der Marne im September 1914 den Hoffnungen auf einen schnellen Sieg Deutschlands den Boden entzogen hatte, sollten ausländische Beschäftigte, die sich zu Kriegsbeginn im Reich befanden, unbedingt hierbleiben, um den steigenden Arbeitskräftebedarf zu sichern, zunächst vor allem auf dem Lande. Hier waren nach offiziellen Angaben bei Kriegsbeginn 291.538 Polen aus Russland beschäftigt. Da die vorgeschriebene Zulassung durch Zwangslegitimierung aber in vielen Fällen umgangen wurde, 245 Hierzu und zum Folgenden: Hinz, Gefangen, S. 69, 71 f., 136; Pöppinghege, Lager, S. 59; ders., Leben, S. 197; Wilkinson Prisoners of War, S. 47.

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ist die Zahl der polnischen Arbeiter in Deutschland im Sommer 1914 sogar mit rund 500.000 veranschlagt worden. Ein Erlass des preußischen Ministers des Innern und für Landwirtschaft vom 28. September 1914 verbot russisch-polnischen Beschäftigten einen Ortswechsel ohne polizeiliche Genehmigung und wehrpflichtigen Russen im Alter von 17 bis 45 Jahren die Rückkehr in ihre Heimat. Nach einer Entscheidung vom 7. November mussten alle Saisonarbeiter aus Russland und Russisch-Polen neue Arbeitsverträge akzeptieren. Schon im Oktober war das Rückkehrverbot auf sämtliche ausländischen Beschäftigten ausgedehnt worden, die sich im Deutschen Reich befanden. Darunter waren auch belgische Arbeiter, die zunächst zwar nicht in Lager eingewiesen wurden. Dennoch waren damit die Grundlagen eines restriktiven Sonderarbeitsrechts gelegt worden, das nicht zuletzt auf der Furcht vor einem inneren Umsturz infolge von Arbeitskräftemangel oder subversiver Aktivität von Fremdarbeitern beruhte.246 Auch andere Angehörige von Feindstaaten wurden festgehalten. Diejenigen, die in deutschen Einrichtungen beschäftigt waren oder studierten, mussten nach einem preußischen Erlass vom 30. August 1914, den der Reichskanzler auch den anderen Länderregierungen auferlegte, aus Institutionen wie Hochschulen ausgeschlossen werden. Viele von ihnen wurden aber festgehalten. So durften russische Gastwissenschaftler, die im wehrfähigen Alter waren, Universitätsstädte wie Göttingen nicht verlassen. Dagegen erlaubten die Behörden Wehrpflichtigen, die aus Österreich-Ungarn stammten, die Rückkehr, da dazu vor 1914 Vereinbarungen getroffen worden waren. Allerdings gaben Bauern und örtliche Verwaltungen sogar Saisonarbeitskräfte, die in der Doppelmonarchie 246 Angaben nach: Wolfram Pyta, Polnische und belgische Arbeiter in Preußen während des Ersten Weltkrieges, in: Geschichte in Köln 14 (1983), Nr. 1, S. 62–120, hier: S. 67; Janz, 14, S. 128; Avner Offer, The First World War. An Agrarian Interpretation, Oxford 1989, S. 62; Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, S. 33–35, 114 f.; Panayi, Minorities, S. 237; Gustavo Corni / Francesco Frizzera, Die Diskussion um die „Zwangswirtschaft“ während des Ersten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 66 (2018), S. 17–41, hier: S. 20; Grady, Legacy, S. 61; Stibbe, Civilian Internment, S. 154. Vgl. auch Ulrich Herbert, Zwangsarbeit als Lernprozeß. Zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter in der westdeutschen Industrie im Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 24 (1984), S. 285–304, hier: S. 288, 296; Jochen Oltmer, Arbeitszwang und Zwangsarbeit – Kriegsgefangene und ausländische Zivilarbeitskräfte im Ersten Weltkrieg, in: Rolf Spilker / Bernd Ulrich (Hg.), Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg, 1914–1918, Bramsche 1998, S. 97–107, hier: S. 99; Mark Spoerer, Kriegswirtschaft, Arbeitskräftemigration, Kriegsgesellschaft, in: Oltmer (Hg.), Handbuch S. 632–689, hier: S. 648; Gunter Mahlerwein, Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 3: Die Moderne (1880–2010), Köln 2016, S. 195; Hull, Destruction, S. 228; Thiel, Interventionen, S. 403; Thiel / Westerhoff, Zwangsarbeiterlager, S. 121 f.; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 260; Wachsmann, KL, S. 239.

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angeworben worden waren, nur zögernd frei, weil in der Landwirtschaft die Ernte einzubringen war.247 Nach Kriegsbeginn wurden nur noch „feindliche Ausländer“ eingebürgert, die im Inland geboren waren. Einzelverfügungen und Verordnungen schränkten auch die persönliche Freiheit und Freizügigkeit dieser Gruppe ein. So untersagten die Behörden Versammlungen und Vereinigungen. Außerdem griffen die Presseabteilungen der stellvertretenden Generalkommandos mit ihrer Zensur in die Meinungsfreiheit ein. Dazu nutzten sie ein Spionagegesetz, das am 3. Juni 1914 erlassen worden war, um Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwenden. Es sah harte Strafen für (versuchten) Landesverrat vor. Auch unterlagen Feindstaatenangehörige schon zu Kriegsbeginn einer Meldepflicht und Aufenthaltsbeschränkungen. Damit sollten „landesverräterische Beziehungen“, „Sabotage“ und „Subversion“ verhindert werden. Auch Dissidenten und nationale Minderheiten unterstanden der militärischen Strafgerichtsbarkeit, zu deren Ausübung die Kommandeure vierzig außerordentliche Gerichte einrichteten. Diese verurteilten Kriegsgegner und Feindstaatenangehörige auch wegen Äußerungen, die aus der Sicht der Machthaber von „unpatriotischer Gesinnung“ zeugten. Daneben wurden Angehörige von Gruppen, welche die innere Sicherheit im Kriegszustand zu gefährden schienen, vielfach direkt einer „Schutzhaft“ unterworfen, die keiner richterlichen Prüfung bedurfte. Allerdings wurde sie schon Mitte August 1914 gelockert. Gegen missliebige Deutsche ordneten die Behörden oft Festnahmen, polizeiliche Überwachung oder die Zwangsrekrutierung für die Armee an. Die Vollmacht für kriegsrechtliche Verhaftungen und Aufenthaltsbeschränkungen war aber begrenzt, denn Betroffene hatten das Recht, dem Reichsmilitärgericht Beschwerden zu übermitteln. Zudem wurde für rechtlich unbegründete Freiheitseingriffe nachträglich eine Entschädigung gewährt. Unverdächtige Feindstaatenangehörige, die über einen festen Wohnsitz verfügten und in ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis eingebunden waren, konnten unter Polizeiaufsicht gestellt oder – mit Ausnahme der Männer im wehrfähigen Alter – ausreisen. Allerdings setzte dies voraus, dass auch Deutsche gegnerische Staaten verlassen durften.248

247 Trude Maurer, Fremde, Feinde – oder Freunde? Studenten und Gelehrte aus dem Russischen Reich in Göttingen vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, in: Göttinger Jahrbuch 54 (2006), S. 89–112, hier: S. 91, 103; dies., Kombattanten, S. 209; Thiel, Interventionen, S. 402. 248 Maurer, Kombattanten, S. 196; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 1053; ders., Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 57. Zitate nach: Schudnagies, Kriegs- und Belagerungszustand, S. 168.

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Internierung, „Schutzhaft“ und Lager Alles in allem war der Umgang mit den rund 15.000 Feindstaatenangehörigen, die sich in Deutschland aufhielten, inkonsistent, ungeplant und improvisiert. Zunächst wurden überdies nur wenige von ihnen interniert. Außer den Russen, die nicht im wehrfähigen Alter waren, durften auch französische und belgische Frauen, Kinder und Männer unter 17 und über 60 Jahren über die Schweiz ausreisen. US-Botschafter Gerard unterstützte diese Politik, indem er die kriegführenden Staaten aufrief, zivile Feindstaatenangehörige zu schonen. Die deutsche Reichsleitung gab ihre zurückhaltende Politik jedoch auf, nachdem die britische Regierung beschlossen hatte, wehrfähige Deutsche festzusetzen. Diese Maßnahme verlieh in der nationalistisch-konservativen Presse – so in der „Kreuz-Zeitung“ – Forderungen nach Vergeltung Auftrieb. Im Oktober 1914 beschlossen das Reichsamt des Innern, das Preußische Innen- und Kriegsministerium und der Admiralstab der Marine bei einer Besprechung schließlich, der englischen Regierung ein Ultimatum zu übermitteln. In dieser Mitteilung verlangte die deutsche Reichsleitung am 31. Oktober, bis zum 5. November alle in Großbritannien internierten Deutschen freizulassen. Nachdem diese Forderung nicht erfüllt worden war, wurde am 6. November angeordnet, alle männlichen Engländer im Alter von 17 bis 55 Jahren festzusetzen. Diese Gruppe gehörte zu den ersten Internierten, die als „bürgerliche Gefangene“ bezeichnet wurden. Jüngere und ältere Männer blieben jedoch ebenso verschont wie Frauen und Kinder, die zuvor repatriiert worden waren. Auch Geistliche und Ärzte wurden nicht erfasst. Auf diese Ausnahmeregelungen hatte sich die Reichsleitung schon im Oktober mit Großbritannien geeinigt. Allerdings mussten sich die nicht internierten Briten kontinuierlich bei Polizeidienststellen melden und permanent Ausweise mitführen.249 Die Internierung und andere Repressionsmaßnahmen verhängte die deutsche Reichsleitung nicht nur als Repressalie. Vielmehr blieb das Auswärtige Amt skeptisch gegenüber den Bemühungen anderer Behörden – so derjenigen des „Reichskommissars zur Erörterung von Gewalttätigkeiten gegen deutsche Zivilpersonen in Feindesland“, Otto Just (1854–1931) –, die Maßnahmen als gerechtfertigte Vergeltung für Übergriffe gegen Deutsche im Vereinigten König249 Lewis Foreman, In Ruhleben Camp, in: First World War Studies 2 (2011), S. 27–40, hier: S. 28; Jonathan F. Vance, Ruhleben, S. 256–258, hier: S. 257; ders., Civilian Internees – World War I, S. 50; Stibbe, A Question of Retaliation?, S. 11–15; Speed, Prisoners, S. 80, 147 (Angabe), 148; FRUS, 1915, Supplement, S. 997 f.; Stibbe, Community, S. 80; ders., Enemy Aliens and Internment; Reinecke, Grenzen, S. 215; Maurer, Kombattanten, S. 191; Spiropoulus, Ausweisung, S. 85 f.; Barnett, Internment, S. 9 f. Aus der Perspektive eines betroffenen Internierten: Ketchum, Ruhleben, S. XVI f., 7.

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reich zu verteidigen. Auch der Einsatz schwarzer Wachsoldaten gegen deutsche Soldaten und Kriegsgefangene löste Proteste aus. Das Vorgehen gegen zivile Angehörige der Entente-Mächte war auch auf den Druck vieler Militärkommandeure zurückzuführen, die „Sicherheit“ an der Heimatfront forderten. Die Verhaftung und Kontrolle der Briten, die der Generalstab als wichtigsten Gegner betrachtete, wurden deshalb als „militärische Notwendigkeit“ gerechtfertigt. Außerdem sollte das Vorgehen gegen die zivilen Feindstaatenangehörigen die Entschlossenheit der Regierung zeigen, den Krieg auch nach dem Rückschlag an der Marne durchzuhalten und bis zum Sieg zu führen. Nicht zuletzt dienten die Internierten als Geiseln, die mit gegnerischen Staaten gegen Deutsche ausgetauscht werden konnten. So entwickelte sich zwischen den Kriegsgegnern schon früh eine Dynamik von Repressalien, die von den Regierungen ohne Rücksicht auf die betroffenen Zivilisten verhängt wurden.250 Im Dezember 1914 ordnete die deutsche Regierung an, auch Franzosen zu internieren, und sie dehnte die Politik Anfang 1915 auf alle Angehörigen des britischen Empire (Kanadier, Südafrikaner, Neuseeländer und Australier) aus. Die Beschlüsse wurden unter dem Eindruck der Internierung deutscher enemy aliens und weiterer Übergriffe auf Deutsche in Großbritannien und Frankreich getroffen, so dass hier grenzüberschreitende Wechselbezüge wirksam waren. Außer der Vergeltung, mit der die Kriegsgesellschaft stabilisiert werden sollte, wurde das verschärfte Vorgehen gegen zivile Feindstaatenangehörige mit dem Hinweis auf die Sicherheit der Nation begründet. Dabei nahm die tief verwurzelte Angst vor Spionage und Unterwanderung einen wichtigen Stellenwert ein. Darüber hinaus drängten vor allem führende Militärs die Reichsleitung, männliche Feindstaatenangehörige festzunehmen, um den gegnerischen Ländern Soldaten zu entziehen. Dies betraf ab Herbst 1916 auch Portugal und Rumänien.251 Da der schrittweise Übergang zur Internierung aber kaum vorbereitet worden war, mussten die schrittweise verhafteten Zivilisten zunächst provisorisch untergebracht werden, vielerorts in Polizeiwachen, Gefängnissen und auf Schiffen. Dazu dienten ebenso Camps für Kriegsgefangenenlager. Erst Ende 1914 eröffneten die Militärbehörden größere „Zivilgefangenenlager“. Rund 4.000 wehrfähige britische Zivilisten wurden am 6. November festgenommen und in das „Engländerlager“ Ruhleben (bei Berlin) eingewiesen, wie die britische Regierung allerdings erst spät feststellte.252 Hier lebten Anfang 1915 4.273 Männer un250 Stibbe, A Question of Retaliation?, S. 1 f., 16, 22; ders., Civilian Internment, S. 135–138; Ketchum, Ruhleben, S. XVIII. 251 Stibbe, Civilian Internment, S. 99; ders., Enemy Aliens and Internment; ders., A Question of Retaliation?, S. 16; Reinecke, Grenzen, S. 229 f. 252 NA, FO 383/110 (Korrespondenz vom August 1915). Dazu: Stibbe, Civilian Internment, S. 47.

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ter schwierigen, aber insgesamt erträglichen Bedingungen, die sich im Jahresverlauf vorübergehend weiter verbesserten. Sie waren notdürftig in Pferdeställen untergebracht, in denen sie gegen eine – u. a. durch die Überbelegung verursachte – Ungezieferplage kämpften. Juden wurden von den anderen Insassen getrennt, offiziell um ihre Ernährung mit koscheren Lebensmitteln zu erleichtern.253 Aber auch in anderen Camps hielten sich einzelne zivile Staatsangehörige des Vereinigten Königreiches auf, so im August 1916 ein englischer Seemann in Hameln.254 Im Gegensatz zu den meisten anderen Lagern, in denen auch Kriegsgefangene festgehalten wurden, befanden sich in Ruhleben ausschließlich Zivilisten, die vor allem unter Beschäftigungslosigkeit litten und ungeduldig ihre Entlassung erwarteten. Ebenso war die Ernährung zumindest 1916 unzureichend und nicht ausgewogen. Die Internierten nahmen aber die gleichfalls zunehmende Not der deutschen Arbeiter wahr, die im Lager und in der Nähe Reparaturen ausführten.255 Unter dem Druck von Organisationen wie dem im Februar 1917 gebildeten Ruhleben Prisoners’ Release Committee drängte das britische Außenministerium auf die Freilassung von Internierten. Dazu behauptete das Foreign Office, dass die deutschen Behörden in Ruhleben die Zahl der Insassen zu erhöhen suchten, indem sie in das Lager auch Personen einwiesen, die allenfalls lose mit dem Vereinigten Königreich verbunden waren und als Spione eingesetzt werden sollten. Nach dem Kriegsende drängte das Foreign Office deshalb das Konsulat der niederländischen Schutzmacht in Berlin, ihm Karteikarten und Listen zur Verfügung zu stellen, die von der deutschen Lagerverwaltung zu den einzelnen Insassen angelegt worden waren.256 Außerdem kritisierte das britische Außenministerium – besonders Anfang 1918 – die unzureichende Heizung und Beleuchtung des Lagers. Zudem zeigte es sich besorgt über Berichte, die auf die Popularität von Glücksspielen verwiesen. Eine Besserung der Lage durch die vorgeschlagene Zusendung englischer Zeitungen wurde wegen der Kontrolle in Deutschland ebenso für unrealistisch gehalten wie eine Übereinkunft über einen beschleunigten Postverkehr. Die Stärkung der Selbstorganisation im Lager durch die Einrichtung eines neuen Komitees strebte die Abteilung für Kriegsgefangene im Außenministerium zwar 253 NA, FO 383/523, Bl. 88–94. Schreiben vom 30. Juli 1915 in: NA, FO 383/26. Vgl. auch Hilke Langhammer, Das Celler Schloss als Internierungslager für „Feindstaatenausländer“, in: dies. (Hg.), Hinter Stacheldraht, Celle 2018, S. 30–59, hier: S. 32; Grady, Legacy, S. 62. 254 NA, FO 383/158, Bl. 73. 255 Dazu Offer, First World War, S. 55 und den Bericht des US-Inspekteurs A. E. Taylor vom 1. Mai 1916 in: LSF, TEMP MSS 6/3/5. Vgl. auch NA, FO 383/523, Bl. 192 f. 256 NA, FO 383/523, Bl. 128 und „Extract from Major Ducrot’s XIXth Report on Prisoners of War“. Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 166 f.

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an; jedoch sollte dies den Internierten nicht aufgezwungen werden. Im Sommer 1918 mussten die britischen Beamten erkennen, dass die Indiskretion eines entlassenen Lagerinsassen, der im März in der Daily Mail eine Artikelserie über Ruhleben veröffentlicht hatte, die Bemühungen der britischen Regierung zur Unterstützung der verbliebenen Internierten erschwert hatte, denn inzwischen waren Vergünstigungen von den deutschen Behörden zurückgenommen worden. Um die neuen Einschränkungen zu beseitigen, schaltete das Foreign Office wiederum das Konsulat der Niederlande in Berlin ein. Zugleich verschärfte das Prisoners of War Department des Ministeriums seine Kontrolle der Medien, um weitere Sensationsberichte zu verhindern, die Repressalien gegen festgehaltene britische Zivilisten auslösen konnten. Ein Inspekteur des IKRK fand die Insassen des Lagers Ruhleben im Oktober 1918 aber in guter Verfassung vor, und kurz vor Weihnachten waren fast alle Internierten, die nicht in Deutschland bleiben wollten, in ihre Heimat zurückgekehrt. Der britischen Regierung blieb noch, die oft schwierige Wiedereingliederung der Entlassenen, die z. T. vier Jahre im Lager verbracht hatten, zu fördern.257 Für Franzosen stand ein Internierungslager in Holzminden bereit, in das ab 16. Dezember 1914 rund 4.000 Zivilisten eingewiesen wurden. Weibliche Gefangene und Kinder lebten in gesonderten Baracken. Die Insassen forderten ihre Regierung in Paris wiederholt zur Hilfe auf.258 In dem Lager waren im August 1916 auch acht Britinnen, davon fünf Stewardessen, deren Schiff zu Beginn des Krieges aufgebracht worden war.259 Außerdem wurden im weiteren Kriegsverlauf in dem Camp Zivilisten festgehalten, die aus den besetzten Gebieten Frankreichs, Belgiens und Russlands deportiert worden waren. So befanden sich im Frühjahr 1918 rund 400 Frauen, die als Geiseln aus Belgien und Nordfrankreich verschleppt worden waren, in dem Lager, aus dem Gefangenen am 24. Juli 1918 eine spektakuläre Flucht gelang. Die Zahl der Insassen betrug hier am 10. Oktober 4.240. In Sennelager waren im Herbst 1918 weitere 2.462, in Ruhleben 2.318 und in Havelberg 1.820 Internierte, darunter auch Russen, die unter z. T. erbärmlichen Bedingungen lebten, und 300 indische Seemänner. Zu den kleineren Lagern gehörten diejenigen in Traunstein und Frankfurt/Oder mit 623 bzw. 634 Insassen. Im Sommer 1915 lebten 246 Personen, von denen nur 49 als Kriegsgefangene verzeichnet waren, im Schloss Celle. 1916 waren 225 Zivilisten – davon 17 Briten – in dem Camp. Offenbar handelte es sich hierbei um Gefange257 NA, FO 383/424 (Vermerke vom 18. Januar und 29. Mai 1918; Memorandum vom 13. Juni 1918; „Statement re Articles in Daily Mail by E. L. Pyke“; Schreiben vom 4. Juni 1918; Briefe vom 26. September, 6. November, 20. Dezember 1918); FO 383/277 (Memorandum vom August 1917). 258 NA, FO 383/106 (Bericht vom 23. Januar 1915). Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 47, 169 f. 259 NA, FO 383/157, Bl. 440 f., 476–478, 495.

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ne, die den Oberschichten angehörten. Zwei Sonderlager, die zwischen Zossen und Wünsdorf in Brandenburg gebaut worden waren, nahmen muslimische Feindstaatenangehörige auf, die hier von Ethnologen und Anthropologen untersucht wurden. Allein im „Halbmondlager“ Wünsdorf hielten sich bis zu 4.000 Insassen auf. Soweit bekannt, befanden sich hier aber keine Zivilisten, sondern ausschließlich gefangene Soldaten, die aus Russland bzw. den Kolonien der Westmächte stammten. Die Sterblichkeitsraten waren offenbar unterschiedlich. Der Anteil der Internierten, die starben, belief sich im Oktober 1915 bei den Arabern auf 1,2 Prozent und bei den Indern auf 16,8 Prozent. Die Angehörigen der kolonisierten Völker waren einerseits gefürchtet; andererseits lösten sie bei deutschen Beobachtern Neugier aus. Insgesamt wurden in Deutschland am 10. Oktober 1918 noch 20.771 Zivilisten festgehalten, die gegnerischen Nationen angehörten.260 Staatsangehörige des Zarenreiches verbrachten die Generalkommandos überwiegend in die Lager Hameln und Traunstein. Hier prägten kulturelle Vorurteile der deutschen Gewahrsamsmacht ihre Lebenslage. Im Camp Ruhleben waren ab November 1914 100 bis 200 staatenlose russische Juden ebenfalls antisemitischen Stereotypen ausgesetzt. Auch andere zivile Staatsangehörige des Zarenreiches litten in den Camps vielerorts Not und wurden oft schlecht behandelt. Allerdings erhielten internierte und kriegsgefangene Russen auch von ihrer Regierung kaum Hilfe.261 Daneben wurden für „bürgerliche Gefangene“ anderer Nationen vielerorts Kriegsgefangenenlager genutzt, so in Soltau für Belgier. Die Flamen unter ihnen sollten für die deutsche Politik im besetzten Belgien gewonnen werden; die Resonanz blieb aber gering. Auch in Sennelager bei Paderborn litten sowohl gefangene Soldaten als auch Zivilisten, obwohl die bei260 Die Zahl der Zivilinternierten war damit deutlich geringer als diejenige der Kriegsgefangenen, von denen am 10. Oktober 1918 allein Russen 1.194.912 Soldaten und 2.337 Offiziere stellten. Vgl. Doegen, Völker, S. 12–19 (Tabelle E und F). Dazu auch: Speed, Prisoners, S. 151; Steuer, Pursuit, S. 4; Audoin-Rouzeau / Becker, 14–18; Jahr / Thiel, Colour, S. 43; Understanding the Great War, S. 73. Angaben nach: NA, FO 383/157, Bl. 484; Heather Jones, Imperial Captivities. Colonial Prisoners of War in Germany and the Ottoman Empire, 1914–1918, in: Santanu Das (Hg.), Race, Empire and First World War Writing, Cambridge 2011, S. 175–193, hier: S. 177; dies., A Missing Paradigm?, S. 21; Hinz, Art. „Internierung“, S. 583. Zu Ruhleben und Holzminden: Stibbe, Internees; ders., Community, S. 91–94; ders., Enemy Aliens and Internment. Zum Lager im Schloss Celle: Langhammer, Schloss, S. 33. Zum Lager Holzminden: Colin Burgess, Holzminden, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 133; Langhammer, Schloss, S. 32. Zu Havelberg: Stibbe, Civilian Internment, S. 50. Zu den Sonderlagern: Margot Kahleyss, Muslime in Brandenburg – Kriegsgefangene im 1. Weltkrieg. Ansichten und Absichten, Berlin 1998; Grady, Legacy, S. 132. 261 Demgegenüber die Deutung in: Overmans, „Hunnen“, S. 343. Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 54.

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den Gruppen hier – wie auch in anderen Camps – räumlich getrennt waren. Berichte, dass in dem Lager Internierte erkrankt waren, dementierte das Auswärtige Amt im Sommer 1916.262 Im Allgemeinen wurden zunächst Gefangene unterschiedlicher Nationalitäten zusammen untergebracht. 1915 entschied die Reichsleitung aber, die gefangenen Angehörigen der verschiedenen Staaten voneinander zu trennen. Da die Zuständigkeit für die Lager mit den Stellvertretenden Generalkommandos dezentral organisiert war, wurde die Internierung nicht einheitlich gesteuert. Den Lagerkommandanten eröffneten sich damit Handlungsspielräume.263 Den Zivilinternierten wurde zwar eine Selbstorganisation erlaubt, die verschiedene kulturelle Aktivitäten zuließ. Ihr Leben in den Lagern kann aber kaum als „Lernfeld“ gekennzeichnet werden. Obgleich die Insassen keine Arbeiten verrichten mussten, die über die Reinigung der Lager hinausreichten, war vor allem die Hilf- und Beschäftigungslosigkeit demütigend. Überdies blieb auch in den deutschen Internierungslagern die Solidarität zwischen den Insassen ebenso begrenzt wie die Gleichheit. Vielmehr konnten sich wohlhabende Gefangene gegen Geld in andere Lager überführen lassen oder eine zusätzliche Versorgung erhalten. Dem belgischen Historiker Henri Pirenne (1862–1935) erlaubte der preußische Kriegsminister sogar die Unterbringung in einem Hotel in Jena. Insgesamt wurden im Deutschen Reich bis 1918 rund 100.000 Zivilisten interniert, die gegnerischen Staaten angehörten.264 Daneben unterlagen einige Elsässer und Lothringer, deren Loyalität gegenüber Deutschland unklar war, Aufenthaltsbeschränkungen. Diese Restriktion traf auch den Pazifisten und Anarchisten Erich Mühsam (1878–1934).265 Im August 1914 befanden sich auch rund 6.000 Japaner im Deutschen Kaiserreich. Da viele schon wenig später das Land verließen, wurden nur 60 bis 70 in „Schutzhaft“ genommen, nachdem am 20. August das Ultimatum der japanischen Regierung an das Deutsche Reich bekannt gegeben worden war. Im Mai 1917 wurden darüber hinaus rund 100 Besatzungsmitglieder des japanischen Postschiffes „Hitachi Maru“ interniert. Zwar schränkten die Stellvertretenden Generalkommandos zunächst nur die Mobilität der Japaner ein, die sich noch in Deutschland aufhielten. Wegen der Furcht vor Spionage und der gezielt be262 NA, FO 383/157, Bl. 119. Hierzu und zum Folgenden: Maurer, Kombattanten, S. 191; Otte, Lager Soltau, S. 15, 67; Reinecke, Grenzen, S. 231; Pöppinghege, Lager, S. 77; Wippich, Internierung, S. 26 (Anm. 26). 263 Vgl. von Treskow, Kriegsgefangenenzeitungen, S. 33; Langhammer, Schloss, S. 53. 264 Zit. (mit Bezug auf Lager für russische Kriegsgefangene) nach: Nagornaja, Zwangsarbeitssystem, S. 143. 265 Manz / Panayi / Stibbe, Internment, S. 11; Jahr / Thiel, Colour, S. 47; Pöppinghege, Lager, S. 60.

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schworenen „gelben Gefahr“ ordneten sie aber nach der Kriegserklärung Japans an das Deutsche Kaiserreich (23. August) schließlich die Internierung der japanischen Staatsangehörigen an. Sie wurden vielerorts provisorisch in Gefängnissen untergebracht, die allerdings in vielen kleinen Gemeinden nicht zur Verfügung standen. So forderte die Polizei in der Grafschaft Bentheim die Errichtung einen zentralen „Konzentrationslagers“, um damit das Problem zu lösen. In der ostwestfälischen Stadt Detmold klagte ein Japaner, der am 14. Oktober aus der „Schutzhaft“ entlassen und anschließend in seiner Wohnung von der örtlichen Polizei überwacht wurde, über die schlechte Behandlung durch die deutschen Behörden, auch in Japan, wo er schließlich im März 1915 eintraf. Darüber hinaus wurden 860 Zivilisten aus Südasien festgesetzt. Davon stellten Inder die größte Gruppe. Demgegenüber konnte der Status der Koreaner, deren Land 1910 von Japan annektiert worden war, von den lokalen Behörden in den verschiedenen deutschen Staaten kaum geklärt werden. 266 Als Reaktion auf den Beschluss der japanischen Regierung, alle Deutschen in Japan freizulassen, ordnete der Chef des Stellvertretenden Generalstabes der Armee am 23. September an, den unverdächtigen Japanern, die in Deutschland festgesetzt worden waren, die Ausreise zu erlauben. Diese „feindlichen Ausländer“ wurden bis März 1915 in ihre Heimat zurückgeführt. Nur ein Japaner, dessen Aktivitäten aus der Sicht der deutschen Behörden undurchsichtig waren, verblieb in Haft. Auch Serbien hatte Deutschland gegenseitige Rücksichtnahme auf Zivilisten zugesichert. Ebenso wie im Fall der Japaner schlug sich das Reziprozitätsverhältnis deshalb bei den Serben nicht in wechselseitige Repressalien, sondern in einer Deeskalation nieder. Allerdings wurde diesen beiden Gruppen von Feindstaatenangehörigen beschlagnahmtes Eigentum nicht zurückgegeben, und sie erhielten auch nach dem Kriegsende nur in wenigen Fällen Entschädigungen. Alles in allem zeigt der Umgang mit Japanern und Serben erneut, dass die Politik der deutschen Reichsleitung gegenüber den Feindstaatenangehörigen vor allem in den ersten Monaten des Krieges reaktiv war.267 Abgesehen von wenigen Ausnahmen wie den Japanern, verschärfte sich Ende 1914 aber die Internierung der Zivilisten, die gegnerischen Nationen angehörten. Dieser Prozess war nicht vorrangig militärisch, sondern besonders propagandistisch und politisch motiviert. Die Festnahme befriedigte vor allem das Bedürfnis nach Vergeltung, das in der deutschen Öffentlichkeit wuchs, als ein schnelles Kriegsende in weite Ferne rückte. Zudem hatten Nachrichten über die 266 Checkland, Humanitarianism, S. 74 f. Angaben nach: Wippich, Internierung, S. 21, 29, 37; Jahr / Thiel, Colour, S. 45. 1917 übernahm die Schweiz von den USA die Rolle der Schutzmacht, die deutsche Interessen in Japan und umgekehrt wahrte. 267 Jahr / Thiel, Colour, S. 45.

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Internierung deutscher Zivilisten in Großbritannien Forderungen nach Repressalien gegen britische Staatsbürger ausgelöst, wie der Berliner Polizeipräsident Traugott von Jajow (1865–1941) am 2. November dem Oberkommandierenden in den Marken und Gouverneur von Berlin, Gustav von Kessel (1846–1918), mitteilte. Mit der Isolierung der männlichen Feindstaatenangehörigen sollte aber auch der Anspruch und die Fähigkeit der Reichsleitung, der Generalkommandos und der zivilen Behörden demonstriert werden, die Sicherheit der eigenen Bürgerinnen und Bürgerinnen zu gewährleisten. Dementsprechend galten die Internierten nicht zuletzt als Faustpfand für Deutsche, die von den Entente-Mächten festgehalten wurden. Dabei behandelten die Behörden des Kaiserreichs Italiener und Rumänen besonders hart, da sie jeweils als „Verräter“ galten. Zudem erhielten sie ebenso wie russische und serbische Gefangene keine Lebensmittelpakete aus ihrer Heimat, so dass die Sterblichkeit unter den Gefangenen dieser Nationen im Allgemeinen relativ hoch war. Allerdings vollzog sich die Internierung keineswegs lückenlos. Vor allem Frauen und Kinder, aber auch alte kranke und alte Männer, welche die Behörden als Belastung wahrnahmen, durften in ihre Heimat zurückkehren.268 Die Repressionspolitik gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen im Allgemeinen und die Internierung im Besonderen verwischten in Deutschland ebenso wie in Großbritannien die Grenze zwischen „inneren“ und „äußeren“ Feinden. So wurden auch Pazifisten und Sozialisten festgenommen. Vor allem im bayerischen Lager Traunstein lebten „Reichsfeinde“, die beschuldigt wurden, die Kriegsanstrengungen Deutschlands zu sabotieren, neben zivilen Feindstaatenangehörigen, obgleich die Bestimmungen zur „Schutzhaft“ nach dem preußischen Gesetz über den Belagerungszustand in Bayern zunächst nicht übernommen worden waren. Angesichts des heftigen Protestes gegen die militärische „Schutzhaft“ richtete die Reichsleitung 1916 schließlich Instanzen ein, die eine Aufsicht, Prüfung und Beschwerden ermöglichen und damit die Rechte der Betroffenen schützen sollten. So konnten für deutschrussische „Zivilgefangene“ nach einer Einzelfallprüfung die Internierung und polizeiliche Meldevorschriften aufgehoben werden, wenn als zuverlässig geltende Deutsche für diese Gruppe bürgten. Diese Erleichterung bezog sich besonders auf Deutschbalten, die aber von den Behörden im Kaiserreich ohnehin nicht eindeutig eingeordnet werden konnten. Dem Schutz vor „inneren Feinden“ sollte über die Internie268 Nachtigal, Anzahl, S. 356, 359. Hierzu und zum Folgenden: Maurer, Kombattanten, S. 200; Geyer, Grenzüberschreitungen, S. 356; Stibbe, Civilian Internees, bes. S. 24, 32–37; ders., Anglophobia, S. 17; ders., Internees, S. 24, 27–30, 35–37, 40; ders., Community, S. 80; Kramer, Combatants, S. 194; Jahr, Zivilisten, S. 299–301; ders., Feriengäste, S. 239; Kramer, Kriegsrecht, S. 286; Holquist, „Information is the Alpha and Omega of Our Work“, S. 442.

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rung hinaus auch eine umfassende Kontrolle dienen. Besonders das Kriegsministerium forderte seit November 1915 von den Kommandeuren der Militärbezirke regelmäßig Berichte zur Lage im Reich an, vor allem zur Stimmung der Bevölkerung. Zugleich wurde wiederholt vor Übergriffen gegen Zivilinternierte und Kriegsgefangene gewarnt. 269

Das Leben in den Lagern In den Camps litten die Internierten vor allem an bedrückender Langeweile. Die erzwungene Untätigkeit und ihre (psychischen und physischen) Folgen bezeichnete der Schweizer Arzt und Diplomat Adolf Lukas Vischer (1884–1974), der selber Lager besuchte, 1918 erstmals als „Stacheldrahtkrankheit“. Als Symptome galten u. a. Rastlosigkeit, Lethargie und Reizbarkeit, die vor allem auf das monotone Alltagsleben, den Mangel an Privatheit und die unbegrenzte Dauer der Haft zurückgeführt wurden. Auch war die Verbindung zur Heimat schwach, da Post zensiert wurde und nur unregelmäßig eintraf. Die lang andauernde Isolierung führte bei einigen Internierten sogar zu psychischen Zusammenbrüchen, die noch nicht gezielt therapiert werden konnten. Vischer verbreitete seine Befunde weit über Deutschland hinaus und erhöhte damit das Bewusstsein für das Leiden der Zivilinternierten.270 Beschäftigung galt als Mittel gegen die „Stacheldrahtkrankheit“. Die Zivilinternierten nahmen ihr Leben in den Lagern deshalb selber in die Hand, indem sie Kultur-, Bildungs- und Sportveranstaltungen organisierten. Zeitungen, die z. T. auch an Leser außerhalb der Lager verschickt wurden, boten ebenso Beschäftigung, Unterhaltung und Informationen. Viele Lagerkommandanten unterstützten diese Aktivitäten, weil damit Unruhen und Fluchten verhindert wurden. Die Internierten umgingen aber auch Vorschriften oder nutzten sie sogar aktiv, um eigenständiges Handeln zu ermöglichen. Diese Ausweich- und Aneignungsstrategien konnten allerdings ebenso wie die verschiedenen Beschäfti269 Jahr / Thiel, Colour, S. 46–48; Maurer, Kombattanten, S. 200; Geyer, Grenzüberschreitungen, S. 356; Stibbe, Civilian Internees, bes. S. 24, 32–37; ders., Anglophobia, S. 17; ders., Internees, S. 24, S. 27–30, S. 35–37, S. 40; ders., Community, S. 80; Kramer, Combatants, S. 194; Jahr, Zivilisten, S. 299–301; ders., Feriengäste, S. 239; Kramer, Kriegsrecht, S. 286; Holquist, „Information is the Alpha and Omega of Our Work“, S. 442. 270 NA, FO 383/277 (Schreiben vom 29. November 1917). Vgl. auch Avy Ohry / Zahava Solomon, Dr Adolf Lukas Vischer (1884–1974) and ‚barbed wire disease‘, in: Journal of Medical Biography 22 (2014), Nr. 1, S. 16–18, hier: S. 16 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 211–227; Manz / Panayi, Enemies, S. 37; Jonathan F. Vance, Barbed-Wire Disease, in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 20–22.

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gungsinitiativen die Hilflosigkeit, das geringe Selbstwertgefühl und die daraus resultierende Gereiztheit der Zivilinternierten allenfalls verringern. Viele Lagerinsassen zeigten auch nur wenig Neigung, sich auf die neue, ihnen fremde Umgebung einzulassen. Insgesamt war die „Lagergesellschaft“ (prison camp society), die Ketchum 1965 im Rückblick auch unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges als brutales „soziales Experiment“ gekennzeichnet hat, von Spannungen und Konflikten geprägt.271 In Ruhleben wurden im Verlauf des Ersten Weltkrieges mindestens 7.000 britische Staatsangehörige interniert, davon rund 5.500 wehrdienstfähige Männer. Darunter waren außer Personen, die schon lange in Deutschland lebten, aber hier nicht eingebürgert worden waren, Seeleute, Touristen und Siedler aus dem Empire. Aber auch Künstler wie Musiker, die sich im Sommer regelmäßig in Deutschland aufhielten, wurden im August 1914 festgehalten und im Herbst in Ruhleben festgesetzt, wo sie weiterhin komponierten und Konzerte (sogar mit deutscher Musik) organisierten. Die Unterbringung in den Pferdeställen der ehemaligen Trabrennbahn in Spandau (bei Berlin) war zunächst primitiv. Auch litten die internierten Briten unter dem ungewohnten militärischen Reglement und der Beschäftigungslosigkeit.272 Im Lager starben von 1914 bis 1918 zwar weniger als sechzig Briten; die Regierung in London verfolgte die Vorgänge allerdings genau, in der Regel mit Hilfe von Inspektionsberichten, Informationen von Besuchern wie dem anglikanischen Bischof Herbert Bury (1854–1933) und Aussagen freigelassener Gefangener. So wurde im Januar 1918 ein Internierter, der angeblich angeboten hatte, für seine Freilassung den Krieg des Deutschen Reiches gegen sein Heimatland zu unterstützen, dem MI5 gemeldet. Zudem drängte die Admiralität auf eine Gleichstellung gefangener Offiziere der britischen Marine und der Armee – im Gegensatz zur Praxis in Deutschland, wo Besatzungen von Handelsschiffen nicht als Kombattanten anerkannt wurden.273 Erst 1915 verbesserte sich die Lage der Insassen. Die einzelnen Gefangenengruppen wurden unterschiedlich behandelt und auch räumlich getrennt untergebracht. Britische Matrosen und Fischer litten unter besonders harten Repressionen der deutschen Lagerleitung, auch in Sennelager und Holzminden. Dem Kommandanten und den Wachmannschaften des Sennelagers warf die britische 271 Zitat: Ketchum, Ruhleben, S. 3. Vgl. auch Pitzer, Night, S. 95; Manz / Panayi, Enemies, S. 42; Pöppinghege, Leben, S. 200, 204–207; Wilkinson Prisoners of War, S. 68–77, 270 f.; Cresswell (Hg.), Living with the Wire, S. 19; Panayi, Prisoners of War. 272 Dazu der Bericht vom 1. November 1915 (S. 8 f.) in: LSF, FEWVRC/EME/2/1/4. Vgl. auch: Foreman, Ruhleben Camp, S. 28–38; Vance, Ruhleben, S. 257.; Grady, Legacy, S. 62. 273 NA, FO 383/424 (Briefe vom 14. und 25. Januar 1918). Angabe nach: Foreman, Ruhleben Camp, S. 36.

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Regierung sogar vor, internierte Fischer aus Grimsby misshandelt und gefoltert zu haben. Andererseits unterschied sie aber bei Anträgen von Gefangenen, die um eine Repatriierung oder Einbürgerung baten, nach dem Ausmaß der Loyalität gegenüber dem Vereinigten Königreich.274 Auch daraus resultierten zwischen den Camps und innerhalb der Lagergesellschaften Spannungen und Konflikte, die Solidarität erschwerten oder sogar blockierten. Sie entwickelte sich deshalb vorrangig in kleinen Gemeinschaften.275 Die britische Regierung protestierte wiederholt gegen die Behandlung ihrer internierten Staatsbürger. Nur wenigen von ihnen gelang die Flucht. 276

Deportationen von zivilen Feindstaatenangehörigen aus den besetzten Gebieten Außer der Internierung der zivilen Feindstaatenangehörigen, die sich in Deutschland aufhielten, ließ die Reichsleitung aus den besetzten polnischen Gebieten des russischen Zarenreiches sowie aus Frankreich und Belgien gegen die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung als unzuverlässig eingestufte Minderheiten – vor allem Juden – deportieren, besonders aus den Zonen unmittelbar hinter der Front. In den besetzten Gebieten wurden Arbeitskräfte angeworben oder zwangsrekrutiert. Im Gegensatz zu den Polen, die vorrangig in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, mussten die Belgier im Allgemeinen in der Rüstungsindustrie arbeiten, besonders im Ruhrgebiet. Darüber hinaus wurden im Frühjahr 1916 mehr als 25.000 Zivilisten – darunter viele Frauen und Jugendliche – aus den nordfranzösischen Städten Lille, Roubaix und Tourcoing zur Zwangsarbeit in Deutschland abtransportiert. Diese Zentren lagen in der deutschen Etappe, die das deutsche Militär beherrschte. Während die Deportation von Frauen und Kindern in Nordfrankreich vorrangig spontan und mit dem Ziel erfolgte, Unruhe in Kampfzonen zu vermeiden, wurde die Rekrutierung der belgischen Fremd- und Zwangsarbeiter systematisch betrieben. Diese „feindlichen Ausländer“ mussten in Deutschland bleiben. Demgegenüber durften die insgesamt 100.000 niederländischen Arbeitskräfte ebenso wie kleinere Gruppen aus 274 Beispiel in: NA, FO 383/427 (Schreiben vom 2. August 1918). Zu den Foltervorwürfen: NA, FO 383/158, Bl. 119–126. 275 NA, FO 383/158, Bl. 333 f., 467. Bericht eines Betroffenen in: Ketchum, Ruhleben, S. 5–7. Vgl. auch Panayi, Enemy, S. 126; Manz, „Enemy Aliens“, S. 128; ders. / Panayi / Stibbe, Internment, S. 8; Reinecke, Grenzen, S. 233 f.; Pöppinghege, Lager, S. 61, 96–105; Speed, Prisoners, S. 21; Feltman, Stigma, S. 75; Jones, Prisoners of War, S. 286; Audoin-Rouzeau / Becker 14–18. Understanding the Great War, S. 81–83. 276 NA, FO 383/523, Bl. 104, 118, 165.

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anderen neutralen Staaten wie Dänemark, Norwegen, Schweden und aus der Schweiz in ihre Heimat zurückkehren. Auch in Deutschland war ihre Freizügigkeit nicht eingeschränkt.277 Überhaupt beeinflusste der erhebliche und wachsende Arbeitskräftebedarf in Deutschland nachhaltig die Internierungspolitik der Reichsleitung und der Militärkommandos. Mit der schnellen Zunahme der Rekrutierung von immer mehr Soldaten, dem zunehmenden Mangel und der Not, zu der die britische Seeblockade erheblich und nachhaltig beitrug, wurden Kriegsgefangene und Zivilinternierte ab 1915 zu wertvollen Arbeitskräften. Diese „Ökonomisierung“ im Umgang mit Feindstaatenangehörigen spiegelte sich vor allem in der Ausweitung der Zwangsarbeit wider. Dabei wuchs besonders die Zahl der Zivilisten, die aus den besetzten Gebieten nach Deutschland deportiert und hier festgehalten wurden, im Kriegsverlauf erheblich. Am 3. Oktober 1916 ordnete die 3. Oberste Heeresleitung, die im August unter Paul von Hindenburg (1847–1934) und Erich Ludendorff (1865–1937) gebildet worden war, die Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften an. Das besetzte Belgien und die okkupierten Gebiete im Norden Frankreichs waren überwiegend einer zivilen Verwaltung unterstellt. In diesem Generalgouvernement, das bis 1917 Generaloberst Moritz von Bissing (1844–1917) leitete, waren seit Kriegsbeginn durch Zerstörungen und die Einstellung der Produktion etwa 500.000 Belgier arbeitslos geworden.278 Dennoch blieben bis Herbst 1916 Bemühungen des Deutschen Industriebüros in Brüssel, Beschäftigte für Betriebe anzuwerben, weitgehend erfolglos. In dieser Konstellation forderte vor allem das preußische Kriegsministerium, Belgier nicht nur auf freiwilliger Basis zu gewinnen, sondern auch zur Arbeit im Deutsche Reich zu verpflichten. Die deutschen Militärs, die sich im September 1916 schließlich über die Bedenken der Reichsleitung, des Reichsamtes des Innern, des Auswärtigen Amtes und des Generalgouverneurs von Bissing hinwegsetzten, wurden von einflussreichen Unternehmern der Eisen- und Stahlindustrie wie Carl Duisberg (1861–1935), Hugo Stinnes (1870–1924) und Walther Rathenau (1867–1922) unterstützt. Diese Akteure waren sich durchaus bewusst, dass die von ihnen verhängten Zwangsmaßnahmen grundlegende Rechte der betroffenen Belgier und Franzosen verletzten und gegen das Kriegsvölkerrecht verstießen. So äußerten einzelne Unternehmer (allerdings pragmatisch motivierte) Vorbehalte gegen die kasernierte Unterbringung der erfassten Beschäf277 Jens Thiel, Menschenbassin Belgien. Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, Essen 2007; ders., Interventionen, S. 406; ders., Recruitment, S. 43. Darüber hinaus: Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, S. 35 f.; Jahr / Thiel, Colour, S. 48 f.; Herbert, Geschichte, S. 138 f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 121; Becker, Oubliés, S. 57–59; Marrus, The Unwanted, S. 57; Becker / Krumeich, Krieg, S. 186. 278 Zitat nach: Hinz, Gefangen, S. 247, 357, 362. Vgl. auch Reinecke, Grenzen, S. 237 f., 249.

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tigten, die den restriktiven Bestimmungen für „feindliche Ausländer“ unterlagen. Zudem sorgten sie sich um Sabotage. Letztlich befürworteten sie aber die Zwangsarbeit. Dabei beriefen sich die Militärs sogar ausdrücklich auf die Haager Landkriegsordnung, die Staaten verpflichtet hatte, in von ihnen okkupierten Gebieten Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten. Dazu erhoben sie die weit verbreitete Beschäftigungslosigkeit zu einer Sicherheitsgefahr. Mit der erzwungenen Rekrutierung von Arbeitskräften in Belgien sollten aber vor allem die Ziele des „Hindenburg-Programms“ erreicht werden, indem in der Rüstungsindustrie deutsche Beschäftigte für den Wehrdienst freigestellt und zugleich mehr Waffen produziert wurden. „Sicherheit“ diente auch in diesem Kontext als – durchaus mächtiges – Argument, um die Zwangsmaßnahme zu rechtfertigen.279 Letztlich basierte diese Politik der Besatzungsmacht auf einer spezifischen Vorstellung öffentlicher Ordnung und „militärischer Notwendigkeit“, die das preußisch-deutsche Zivil- und Militärstrafrecht prägte. Sie hatte sich 1899 schon auch in einer Allerhöchsten Kabinettsorder niedergeschlagen, in der Militärbefehlshabern eingeräumt worden war, Zivilisten wegen Befehlsverweigerung, Unterstützung feindlicher Staaten und Schädigung deutscher Interessen zu bestrafen. Darüber hinaus verwiesen die Militärbefehlshaber in Belgien auf die 1914 novellierte Kriegs-Etappen-Ordnung, die zwar auf der Erwartung eines kurzen Kampfes gegründet und deshalb weder Anweisungen zum Umgang mit Zivilisten noch Hinweise zum Besatzungsrecht enthalten hatte. Allerdings war in der Ordnung festgelegt worden, dass die Versorgung der Truppen an der Front Vorrang vor der Sorge um die Zivilbevölkerung in den rückwärtigen Gebieten hatte. Auch hatten die Militärbehörden in besetzten Territorien grundsätzlich die Befugnis erhalten, eine Zwangsrekrutierung und Geiselnahme von Zivilisten vorzunehmen. In der Etappe folgten Übergriffe gegen die Bevölkerung aber keineswegs ausschließlich einer geplanten Politik, zumal die Kriegs-Etappen-Ordnung keine klaren Regelungen zum Schutz der Zivilbevölkerung enthielt und sie den örtlichen Befehlshabern dafür einen weiten Handlungsspielraum ließ. Das Vorgehen der einzelnen Kommandeure war deshalb oft situativ bedingt, von ihren Wahrnehmungen beeinflusst und von lokalen Bedingungen geprägt. Vor allem in den „Gewalträumen“ Ostmitteleuropas – so in der besetzten Ukraine – erwies sich die Kontrolle übergeordneter militärischer Instanzen als völlig unzureichend. Offiziere konnten hier weitgehend unwidersprochen auf „militärische Notwendigkeiten“ und Sicherheitsinteressen verweisen. Anders als in den frontnahen Zonen Belgiens und Nordfrankreichs prägten in Osteuropa da279 Thiel, Zwangsarbeit, S. 129 f., 132 f., 137, 140 f.; ders., Recruitment, S. 42 f.; Hull, Destruction, S. 233, 235–237; Grady, Legacy, S. 128 f.; Otte, Lager Soltau, S. 242.

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bei sozialdarwinistische Überlegungsvorstellungen und Zivilisierungskonzepte das Vorgehen gegen „Feinde“ hinter der Front. Dieser Rassismus schlug sich u. a. in der Metaphorik von „asiatischem Ungeziefer“ nieder. Auch darüber hinaus schrieben die deutschen Behörden den Kriegsgegnern von 1914 bis 1918 zunehmend rassische Merkmale zu.280 Vor allem die Deportation von Zivilisten aus Belgien, wo bereits im Herbst 1914 innerhalb von vier Wochen mehr als 5.000 Zivilisten als angebliche Heckenschützen (Franc-tireurs) erschossen worden waren, traf in den alliierten Staaten, aber auch in vielen neutralen Staaten auf Empörung, da sie gegen den Artikel 52 der Haager Landkriegsordnung verstieß. Außerdem hatte die deutsche Armee 13.500 Gebäude zerstört, darunter die bekannte Bibliothek in Löwen. In den Staaten der Entente wurde daraufhin die Propaganda gegen deutsche „Gräuel“ verschärft. Die Regierungen dieser Staaten bezichtigten die Soldaten und Führung des Kaiserreichs, wehrlose Zivilisten gefoltert, verstümmelt, ermordet und vergewaltigt zu haben. Ebenso heftig fiel der Protest gegen diese Übergriffe in den neutralen USA aus.281 Dennoch wurden Belgier und Franzosen aus den eroberten Gebieten nach Deutschland verschleppt. Bis Ende 1914 belief sich die Zahl dieser Kriegsopfer bereits auf 15.000 belgische und 10.000 französische Zivilisten.282 Nachdem die Militärbehörden die Transporte im Oktober 1916 nochmals verstärkt hatten, deportierten sie bis Februar 1917 rund 61.500 Belgier. Davon befanden sich Ende März 1917 noch 11.365, die beschäftigungslos waren, in Lagern – vor allem in denjenigen in Holzminden und Havelberg – oder in Polizeigewahrsam. 17.433 belgische Staatsbürger hatten die Behörden in ihre Heimat zurückgebracht, darunter 13.150 Arbeitsunfähige und Kranke. Insgesamt wurden aus Belgien 130.000 Personen deportiert, darunter auch höhere Beamte, die in dem kleinen Land dringend benötigt wurden. Sogar Angestellte des amerikanischen Hilfswerks fanden sich unerwartet in den oft hektisch errichteten, improvisierten Lagern wieder, die offiziell euphemistisch als „Verteilungsstellen“ bezeichnet 280 Felix Schnell, Ukraine 1918: Besatzer und Besetzte im Gewaltraum, in: Jörg Baberowski / Gabriele Metzler (Hg.), Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt/M. 2012, S. 135–187, bes. S. 135, 153, 166; Rutherford, German War, S. 222, 231; Lieb, Krieg, S. 490; Grady, Legacy, S. 129 f.; Reimann, Krieg, S. 210–222; Hull, Destruction, S. 226 f., 233, 237, 242; Thiel, Zwangsarbeit, S. 130, 141; Jones, Captivities, S. 179. Zur konzeptionellen Grundlage die Beiträge zu: Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2006. 281 Angaben nach: Horne / Kramer, War S. 157. Zur Gewalt deutscher Truppen gegenüber Zivilisten in Belgien und Nordfrankreich, die auf konkrete Befehle, aber auch kulturelle Überlegenheitsvorstellungen und situative Faktoren zurückzuführen ist, ebenso Watson, Ring, S. 126–136; Otte, Lager Soltau, S. 254–256. 282 McMillan, War, S. 60.

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wurden. Von dort aus wurden alle Zivilinternierten in dauerhafte Unterkünfte gebracht, die oft Kriegsgefangenenlagern angegliedert waren, aber räumlich getrennt von ihnen lagen. Hier starben insgesamt 1.300 Belgier, davon allein im Lager Soltau zwischen November 1916 und Juli 1917 359. Die Zwangsverschleppung der belgischen Zivilisten verstieß nicht nur gegen die Haager Konvention und damit gegen das geltende Völkerrecht, sondern sie war auch in wirtschaftlicher Hinsicht keineswegs nützlich. Überdies erhöhte die Deportation den außenpolitischen Druck auf das Deutsche Reich. Demgegenüber erregte die Verschleppung von 5.000 Franzosen weniger öffentliches Aufsehen. Sie wurden im Gegensatz zu den Belgiern, die besonders Lücken in der Schwerindustrie, in Bergwerken und in Bauunternehmen schließen sollten, vorrangig in der Landwirtschaft eingesetzt.283 Die deutschen Behörden waren unsicher über den rechtlichen Status der belgischen Zwangsarbeiter, und sogar das preußische Kriegsministerium vertrat die Ansicht, dass ein Arbeitszwang für Zivilisten – im Gegensatz zu gefangenen Soldaten – gegen das Völkerrecht verstieß. Die verschleppten Belgier wurden deshalb als „Zivilgefangene“ registriert und gedrängt, mit den jeweiligen Betriebsleitern Arbeitsverträge zu unterzeichnen, um dem erzwungenen Einsatz einen legalen Anstrich zu verleihen. Aber nur rund ein Fünftel der Deportierten wechselte in ein „freiwilliges“ Beschäftigungsverhältnis. Insgesamt meldeten sich 17.000 Belgier, ohne dass Zwang ausgeübt worden war, zur Arbeit im Deutschen Reich. Damit wurden sie hier offiziell zu „freien feindlichen Ausländern“. Weitere 60.000 bis 62.000 Belgier und Franzosen wurden von den deutschen Militärbehörden bis 1918 in 25 „Zivil-Arbeiter-Bataillonen“ an der Westfront eingesetzt, überwiegend für Arbeiten, die unmittelbar der Kriegführung diente. Viele Kräfte wurden zwischen Belgien, Frankreich und Deutschland verschoben. Beim Einsatz starben (nach unterschiedlichen Angaben) 1.056 bis 1.298 Belgier und Franzosen. Im deutschen Besatzungsgebiet Ober Ost umfassten fünf „Zivil-Arbeiter-Bataillone“ 1916 rund 10.000 Mann. Die Zwangsarbeit dieser Einheiten hinter der Front unter der Aufsicht der Armeeführungen verstieß besonders eklatant gegen das geltende Kriegs- und Völkerrecht, vor allem die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung.284

283 Angaben nach: Spoerer, Kriegswirtschaft, S. 648; Otte, Lager Soltau, S. 246, 253. Vgl. auch Pyta, Arbeiter, S. 78–81; Reinecke, Grenzen, S. 240–242. 284 Jahr / Thiel, Colour, S. 53 f.; Thiel, Interventionen, S. 408, 411; ders., Recruitment, S. 44; ders. / Westerhoff, Zwangsarbeiterlager, S. 122–129; Hull, Destruction, S. 238, 248–254; AudoinRouzeau / Becker, 14–18. Understanding the Great War, S. 75; Kramer, Prisoners, S. 81; Jones, A Missing Paradigm?, S. 33. Angaben nach: Thiel, Zwangsarbeit, S. 135, 140; McMillan, War, S. 60; Lieb, Krieg, S. 476; Stibbe, Civilian Internment, S. 101, 162 f.

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Außer den Einwänden einzelner Reichstagsabgeordneter der SPD und des Zentrums zwang vor allem der internationale Protest gegen die Deportationen aus Belgien die deutsche Reichsleitung schließlich zu Konzessionen. Die Verschleppung und die Zwangsarbeit wurden im März bzw. Juni 1917 aber auch eingestellt, weil sich der Einsatz der belgischen Arbeiter als ineffektiv galt. In dieser Hinsicht hatte vor allem die uneinheitliche und schwankende Beschäftigungspolitik in Deutschland zu erheblichen Reibungsverlusten geführt. Während das Kriegsministerium und das Reichsamt des Innern um die innere Sicherheit fürchteten und Zugeständnisse an die Fremdarbeiter forderten, verlangten die Unternehmen und Betriebe ebenso wie ihre Interessenorganisationen, das Kriegsernährungsamt und die Generalkommandos ein scharfes Sonderarbeitsrecht, um die Produktion zu steigern. Die Politik blieb damit uneinheitlich und wenig koordiniert. Zudem war die Produktivität der Zwangsverpflichteten deutlich hinter den Erwartungen der Unternehmer und Kriegswirtschaftsverwaltungen zurückgeblieben. Die Einstellung der Deportationen aus Belgien und Nordfrankreich, die mit der „Totalisierung“ der Kriegführung eingesetzt hatten, verwies aber nicht generell auf eine Milderung des deutschen Arbeitsregimes, zumal die „Zivil-Arbeiter-Bataillone“ an der Westfront keineswegs aufgelöst und im Generalgouvernement Warschau weiterhin Polen zwangsrekrutiert wurden. 1917/18 befanden sich auch noch 110.000 Belgier in Deutschland. Nach ihrer Rückkehr in ihr Heimatland wurden sie oft als Verräter gebrandmarkt.285 Der ab 1915 zunehmende Arbeitskräftebedarf bestimmte auch die Entscheidung der Reichsleitung, Italiener nach der Kriegserklärung ihres Landes an das Deutsche Kaiserreich (27. August 1916) nicht zu internieren, sondern sie in den Betrieben, in die sie als Wanderarbeiter gekommen waren, weiterhin zu beschäftigen.286 Insgesamt blieb der Einsatz ausländischer Zivilarbeiter in Deutschland im Ersten Weltkrieg aber deutlich begrenzter als im zweiten globalen Konflikt. Im Sommer 1918, als der Höhepunkt erreicht wurde, waren in Deutschland rund 900.000 Ausländer beschäftigt. Demgegenüber belief sich die Zahl der Zwangsarbeiter, die im „Dritten Reich“ von 1939 bis 1945 eingesetzt wurden, auf etwa 13,5 Millionen.287 Allerdings hatte die deutsche Regierung im Ersten Weltkrieg mit ihrer Politik, Randgruppen unter den eigenen Staatsange285 Angabe nach: Spoerer, Kriegswirtschaft, S. 648. Von 130.000 freiwilligen Arbeitern wird ausgegangen in: Jahr / Thiel, Colour, S. 54. Vgl. auch Herbert, Zwangsarbeit, S. 289–293, 301; Thiel, Zwangsarbeit, S. 139, 141; ders., Recruitment, S. 44 f.; Oltmer, Arbeitszwang, S. 100; Best, Humanity, S. 228–231; Hirschfeld / Krumeich, Deutschland, S. 198; Becker, Oubliés, S. 230; Proctor, Civilians, S. 120 f. 286 Jahr / Thiel, Colour, S. 45; Caglioti, Enemy Aliens, S. 136. 287 Angaben nach: Spoerer, Kriegswirtschaft, S. 643, 648.

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hörigen zur Arbeit zu zwingen, einen Präzedenzfall geschaffen. Nach dem „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“ vom 6. Dezember 1916 wurden deutsche „Arbeitsscheue“, „unnütze Esser“, Vagabunden, „Zigeuner“ und Strafgefangene herangezogen. Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg durften sie zwar nicht außerhalb Deutschlands beschäftigt werden. Der Plan, 1918 in Weilheim (Oberbayern) ein gesondertes Lager für „Zigeuner“, „Arbeitsscheue“ und „Großstadtgesindel“ zu errichten, spiegelte aber eine Radikalisierungstendenz wider, die sich nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und nochmals ab 1939 steigern sollte. Ebenso waren die Unterschiede in der Behandlung der Kriegsgefangenen aus West- bzw. Osteuropa in den beiden Weltkriegen ähnlich. Auch von 1914 bis 1918 gingen die Verwaltungen und Betriebe mit Zivilinternierten aus den besetzten Ostgebieten besonders brutal um. Nachdem deutsche Truppen 1915 den Westen und Südwesten des russischen Zarenreiches besetzt hatten, wurden zunächst 15.000 jüdische Zwangsarbeiter ins Reich deportiert. Dazu hatte die Zivilverwaltung wahllos Razzien durchführen lassen, die alle Bevölkerungsgruppen erfassten, aber Juden besonders hart trafen. Insgesamt kamen in Deutschland während des Ersten Weltkrieges rund 35.000 Angehörige dieser Minderheit zum Einsatz. Daraufhin radikalisierten nicht nur die Antisemiten ihre Agitation, sondern es verbreiteten sich auch diffuse Sicherheitsängste, denn die „Ostjuden“ galten in Deutschland weithin als Bedrohung. Die „Judenzählung“ im deutschen Heer im Herbst 1916 spiegelte den wachsenden Antisemitismus wider, der in den letzten Monaten des Krieges nochmals eskalierte. In diesem Stadium nährte die Furcht vor einem kommunistischen Umsturz Verschwörungsvorstellungen, die weitverbreitete Sicherheitsängste steigerten.288 Im Generalgouvernement Warschau dienten repressive Maßnahmen vorrangig dem Zweck, Polen zur Aufnahme einer Beschäftigung in Deutschland zu drängen oder Arbeitskräfte für Projekte in der Region zu rekrutieren. Hier sollte die Bevölkerung für das Reich gewonnen werden, so dass die Zwangsrekrutierung für Arbeiten in Deutschland begrenzt blieb. In Ober Ost (das heutige Litauen und einige Distrikte Polens, Lettlands und Weißrusslands) zielte die deutsche Besatzungspolitik fast ausschließlich auf die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes und – damit verbunden – den Ausbau der Infrastruktur. Dazu setzte die Militärverwaltung die Bewohner ein, während auf eine Rekrutierung für Arbeiten in Deutschland weitgehend verzichtet wurde. Die deutschen Behörden,

288 Hull, Destruction, S. 245–247; Keil / Stibbe, Laboratorium, S. 543-545; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 128; Herbert, Geschichte, S. 138 f., 154; Grady, Legacy, S. 137–142; Stibbe, Civilian Internment, S. 162 f.; Altenhöner, Kommunikation, S. 281, 282; Thiel, Interventionen, S. 411. Vgl. auch Jack Wertheimer, ‚The Unwanted Element‘: East European Jews in Imperial Germany, in: Leo Baeck Institute Yearbook 26 (1981), S. 23–46.

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welche die Bevölkerung in Ober Ost nur als Arbeitskräftereservoir betrachteten, gebrauchten aber Zwangsmaßnahmen deutlich umfassender als die Zivilverwaltung im Generalgouvernement Warschau. Damit war die Neigung der Militärs zur Anwendung von Gewalt unmittelbar verbunden.289 Die Lebensbedingungen in den Lagern und Kolonnen der „Zivil-ArbeiterBataillonen“ waren extrem hart, wie die Vielzahl der Krankheiten und die hohe Todesrate zeigten. Die Opfer sind auch auf das Scheitern der Bemühungen Herbert Hoovers (1874–1964) und Vernon Kelloggs (1867–1937) zurückzuführen, in Polen ein Hilfskomitee nach dem Vorbild der Commission for Relief in Belgium zu etablieren. In jedem Fall verstieß die Zwangsaushebung von Arbeitskräften im Militärverwaltungsgebiet Ober Ost und im Generalgouvernement Warschau gegen die Haager Landkriegsordnung. Die Deportation und Arbeitspflicht für Zivilisten war ebenso wie der – völkerrechtlich untersagte – Einsatz von Kriegsgefangenen nicht zuletzt auf Sicherheitsängste zurückzuführen. So nahmen die deutschen Armeen bei ihrem Vormarsch 1915 viele „Spione“ fest. Auch rechtfertigten die Militärbehörden die erzwungene Rekrutierung von Arbeitskräften im Osten – ebenso wie in Belgien – mit dem Ziel, die Beschäftigungslosigkeit zu verringern und die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Im Januar 1916 ordnete die Militärverwaltung in Kurland sogar an, die gesamte Bevölkerung in einer Zone von zehn Kilometern hinter der Front und an der Ostseeküste zu deportieren. Besonders im Osten spiegelt die repressive Besatzungspolitik jene „Totalisierungstendenzen“ wider, die letztlich die Zivilbevölkerung radikal einer ausufernden Sicherheitspolitik und den „militärischen Notwendigkeiten“ unterordnete.290 Jedoch wurde der Einsatz der Zwangsarbeiter in Ost- und Westeuropa 1917 im Reichstag von einzelnen Abgeordneten der SPD und der Fortschrittlichen Volkspartei (FVP) kritisiert, und jüdische Organisationen forderten eine Auflösung der Lager. Während die 3. Oberste Heeresleitung die Zwangsrekrutierung von Belgiern 1917 einstellte, wurde die Praxis in Ober Ost und im Generalgouvernement Warschau bis Kriegsende nicht nur fortgesetzt, sondern sogar noch verstärkt. Im Hinblick auf den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen müssen deshalb Phasen unterschieden werden, zumindest im Hinblick auf die Beschäftigungspolitik. 1918 befanden sich schließlich noch zweieinhalb Millionen Zwangsarbeiter im Deutschen Reich.

289 Westerhoff, Zwangsarbeit, bes. S. 179, 223, 310, 333–335, 338, 341, 344; Thiel, Zwangsarbeit, S. 128 f.; ders. / Westerhoff, Zwangsarbeiterlager, S. 130–138. 290 Hierzu und zum Folgenden: Piskorski, Die Verjagten, S. 60. Zitat nach: Flemming / Ulrich, Heimatfront, S. 258. Vgl. auch Westerhoff, Zwangsarbeit, S. 331–333; Proctor, Civilians, S. 191.

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Auch Enteignungen in den besetzten Gebieten verstießen gegen die Haager Konventionen. Die deutschen Behörden verhängten im Generalgouvernement Belgien und in den frontnahen Operations- und Etappengebieten, die der Militärverwaltung unterstanden, zudem Kollektivstrafen gegen Zivilisten, und sie erlegten der Bevölkerung Steuern und Kontributionen auf. Belgier und Franzosen, die des Widerstandes gegen die deutschen Okkupanten beschuldigt wurden, ließ der deutsche Militärbefehlshaber in das Lager Holzminden verbringen, wo sie zusammen mit Kriegsgefangenen und Zivilisten inhaftiert wurden. Diese Maßnahmen begründeten Rechtswissenschaftler wie Josef Kohler (1849–1919) mit einem natürlichen Notrecht des Staates. Damit wurde der völkerrechtliche Grundsatz des pacta sunt servanda durch das Prinzip des rebus sic stantibus ausgehebelt, das die deutsche Reichsleitung für ihre Politik in Anspruch nahm.291

Lagerinspektionen von Diplomaten neutraler Staaten Darüber hinaus erlaubten die Besatzungsbehörden internationalen Organisationen nicht, die Lager zu inspizieren, die in Belgien und Nordfrankreich errichtet worden waren. Aber auch neutrale Staaten, die sich als Schutzmächte von Kriegsgefangenen und Zivilisten für Erleichterungen einsetzten, zeigten zunächst nur eine geringe Neigung zu humanitärem Engagement. So verbot der amerikanische Außenminister William Jennings Bryan (1860–1925) amerikanischen Diplomaten, sich mit Angelegenheiten zu befassen, die den Krieg betrafen. Inspektionen von Kriegsgefangenen- und Internierungslagern wurden ausdrücklich untersagt. Erst Anfragen der kriegführenden Staaten und der Druck des Außenministeriums führten im Dezember 1914 zu einem Kurswechsel in der US-Administration unter Präsident Woodrow Wilson. Ein Berater des State Department, Chandler Anderson (1866–1936), arbeitete daraufhin Grundsätze der Kriegsgefangenenhilfe aus. Auch Internierungslager für zivile Feindstaatenangehörige sollten nun in Kooperation mit anderen neutralen Ländern (besonders Spanien) besucht werden. Im März 1915 wurde ein generelles Abkommen über das Inspektionsverfahren mit Deutschland abgeschlossen, und die Reichsleitung stellte US-Diplomaten die erforderlichen Ausweise aus. Daraufhin konnte Botschafter Gerard im 291 Grundlegend: Josef Kohler, Not kennt kein Gebot. Die Theorie des Notrechtes und die Ereignisse unserer Zeit, Berlin 1915. Vgl. auch Jens Thiel, Zwangsarbeit, S. 129; Boldt, „Ausnahmezustand“, S. 372; Becker, Oubliés, S. 57–59, 233; Best, Humanity, S. 228–231; Langhammer, Schloss, S. 32.

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April erstmals die Lebensbedingungen der internierten Briten im Lager Ruhleben prüfen. Bei einem weiteren Besuch fand er dort im Juli 1916 Insassen vor, die in Hoffnungslosigkeit versunken und mental überaus labil waren. Auch der US-Konsul in Hannover erhielt die Vollmacht für Inspektionen. Daraufhin führten amerikanische Diplomaten, die auch die außenpolitischen Interessen Russlands, Großbritanniens und Japans vertraten, allein 1916 in Deutschland mehr als zweihundert Lagerbesuche durch. Sie gewannen dabei einen Überblick über die Lebensbedingungen in den Camps und in Krankenhäusern. Darüber hinaus bemühten sich die US-Konsuln, den Postverkehr, den Transport der ersehnten Versorgungspakete und die ärztliche Behandlung sicher zu stellen. Dabei mussten sie Anfang 1917 einen Konflikt beilegen, als ein deutscher Augenarzt, der Insassen des „Engländerlagers“ behandelt hatte, nachträglich Gebühren forderte, die Patienten aber Zahlungen ablehnten. Zudem vertrauten die EntenteMächte den US-Inspekteuren keineswegs uneingeschränkt, denn Lagerbesuche mussten in der Regel angekündigt werden. Die britische Regierung vermutete deshalb, dass sich die amerikanischen Diplomaten von den deutschen Militärbehörden irreführen ließen.292 Umgekehrt berichteten US-Diplomaten der deutschen Regierung über die Befunde ihrer Besuche in Frankreich und Großbritannien, wo die Unterbringung, Ernährung und medizinische Betreuung deutscher Zivilinternierter und Kriegsgefangener geprüft wurden. In Berlin setzte sich außer Gerard der amerikanische Generalkonsul Julius G. Lay (1872–1939) 1914/15 für eine regelmäßige Kommunikation zwischen den kriegführenden Mächten und eine systematische Inspektion der Kriegsgefangenen- und Internierungslager ein, um die Bedürfnisse der Insassen zu ermitteln und ihre Not zu lindern. Bis zum Kriegseintritt der USA hielten die amerikanische Regierung und anschließend die Niederlande den Informationsaustausch mit Großbritannien aufrecht. Umgekehrt agierte die Schweiz als Schutzmacht für das Deutsche Reich. Damit trugen Vertreter neutraler Staaten erheblich zur Linderung der Folgen des Lebens hinter dem Stacheldraht der Lager bei. Die Diplomaten kooperierten dabei mit gesellschaftlichen Vereinen und Verbänden wie der Young Men’s Christian Association (YMCA), die eine gesonderte Abteilung, die War Prisoners’ Aid (WPA) einrichtete, um Gefangenen und Internierten zu helfen. Dabei konzentrierte sich die YMCA auf religiöse Aktivitäten, die Freizeitgestaltung und Bildungsangebote. Dazu besichtigten amerikanische Inspektoren regelmäßig die Lager, bevor sie 1917 nach dem Kriegseintritt der USA zurückgezogen werden mussten. Zudem war ihnen in Deutschland 292 NA, FO 383/523, Bl. 58, 69–73; NA, FO 383/151 („Report on the Visits to Prison Camps in Germany …“). Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 213.

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grundsätzlich der Zugang zu Arbeitslagern verwehrt. Aber auch andere philanthropische Organisationen in den Vereinigten Staaten verfügten über die Transportmittel und fachlich qualifiziertes Personal, die für eine Unterstützung und Versorgung der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten unabdingbar waren.293

Widerstände, humanitäre Bedenken und die Grenzen der staatlichen Sicherheitspolitik Wie bereits angedeutet, war die massenhafte Internierung von Feindstaatenangehörigen auch in Deutschland selber durchaus umstritten. Dazu trug die Repression deutscher Kriegsgegner wie Anarchisten und Linkssozialisten bei, die als „innere Feinde“ galten. Sie wurden von der Regierung und den Sicherheitsbehörden der Sabotage und Spionage verdächtigt. So nahm die Polizei 1916 den sozialdemokratischen Abgeordneten Karl Liebknecht fest, weil er am Maifeiertag an einer verbotenen Demonstration teilgenommen und dabei den Krieg öffentlich verdammt hatte. Deshalb wurde er wegen „versuchten Kriegsverrats, erschwertem Ungehorsam im Felde und Widerstandes gegen die Staatsgewalt“ zu einer Zuchthausstrafe von zweieinhalb Jahren mit Aberkennung seiner bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Anschließend verlängerten die Behörden die Haft auf viereinhalb Jahre. Obwohl am 28. Juni 1916 allein in Berlin 55.000 Arbeiter mit einem Streik gegen die Gefängnisstrafe protestierten, wurde Liebknecht erst im Oktober 1918 freigelassen. Sofort organisierte er erneut eine Demonstration gegen den Krieg und für den Sozialismus, die auf dem Potsdamer Platz stattfand.294 Auch darüber hinaus lösten die Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten im Deutschen Reich wiederholt Proteste aus. Statt eines unbedingten Sieges („Siegfriedens“) sollte nach Auffassung der gemäßigten Kriegsgegner nur noch ein Verteidigungskampf geführt werden. In diesem Rahmen verurteilten vor allem sozialdemokratische Politiker das Vorgehen gegen „innere“ Feinde. Sie ver293 Andrea Vandenberg, Gerard, James Watson, III (1867–1951), in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 110; Speed, Prisoners, S. 26; Steuer, Pursuit, S. 2 f.; Stibbe, A Question of Retaliation?, S. 17; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 190 f.; Stibbe, Community, S. 81; Proctor, Civilians, S. 196. Diplomatische Korrespondenz über die Inspektionen in: FRUS, 1915, Supplement, S. 997–1002, 1005–1007, 1015. 294 Zitat: Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 308, Berlin 1916, S. 1842. Angabe nach: Stibbe, Germany, S. 51. Vgl. auch Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017, S. 154; ders. / Horne, Bolshevism, S. 41; Keller, Beyond the ‚People’s Community‘, S. 107; Stevenson, 1914– 1918, S. 341.

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langten wiederholt, den Belagerungszustand aufzuheben, da die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung schon wegen des „Burgfriedens“ nicht gefährdet seien. Zudem bezichtigten Sozialdemokraten, Liberale und Pazifisten die Militärbefehlshaber der Willkür. Dieser Vorwurf war durchaus berechtigt, denn die Kommandeure in den einzelnen Militärbezirken wurden von Kaiser Wilhelm II. nur unzureichend kontrolliert, so dass sie unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Verfügungen und Verordnungen erließen. Im Einzelnen traten die Sozialdemokraten für den Schutz der persönlichen Freiheit und die Wiederherstellung der Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit ein. Auch sollte die Zensur auf den militärischen Bereich begrenzt werden.295 Die Kritiker erreichten zwar nicht die angestrebte Aufhebung des Belagerungszustandes; sie erzielten aber durchaus einzelne Erfolge. Auch der Reichstag konnte die Ausnahmegesetzgebung zumindest vereinzelt entschärfen. Dabei nutzten Parlamentarier die paradoxe Entwicklung, dass im Verlauf des Krieges nicht nur der Einfluss des Militärs zunahm (vor allem nach der Bildung der 3. Obersten Heeresleitung im August 1916), sondern auch die großen Fraktionen im Reichstag eine Schlüsselstellung gewannen. Demgegenüber nahm die Macht der Regierung ab. Außerdem erwiesen sich die Generalkommandos zusehends als ineffektiv. Sie waren anders gegliedert als die zivilen Behörden, so dass Kompetenzkonflikte und Reibungsverluste entstanden. Deshalb wurde nach dem Gesetz über den Kriegszustand vom 4. Dezember 1916 mit dem Amt des Obermilitärbefehlshabers eine Instanz zur Aufsicht über die einzelnen Militärbefehlshaber und für Beschwerden gegen ihre Anordnungen eingerichtet. Die Vielzahl der Militärbefehlshaber – 21 Stellvertretende Kommandierende Generäle sowie 36 Gouverneure und Festungskommandanten – unter Wilhelm II. als einem Obersten Befehlshaber, der kaum noch in die operative Kriegsplanung einbezogen wurde, war kaum zu koordinieren. Damit konnte die Macht der stellvertretenden Generalkommandos und der einzelnen Lagerkommandanten in den einzelnen Bezirken bis Oktober 1918, als ihnen die umfassenden Befugnisse entzogen wurden, nicht wirksam eingeschränkt werden. Die insgesamt 165 Stammlager und vor allem Tausende von breit verstreuten Arbeitslagern und -kommandos, die entgegen den völkerrechtlichen Bestimmungen auch unmittelbar hinter den Kampffronten eingerichtet wurden, entzogen sich deshalb zentraler Kontrolle.296 295 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 49. Hierzu und zum Folgenden auch Schudnagies, Kriegs- und Belagerungszustand, S. 171 f., 177 f., 193, 203, 213, 224; Stevenson, 1914– 1918, S. 341. 296 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 51, 54 f. Zur Machtverteilung im Reich und zu den Generalkommandos: Deist, Militär, S. 377 f.; Herbert, Geschichte, S. 135 f., 145, 152; Pöppinghege, Lager, S. 68–70. Angabe nach: Wilkinson Prisoners of War, S. 44.

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Jedoch gelang es dem Reichstag, die Bestimmungen zur Einschränkung der persönlichen Freiheit im Reichsgesetz „betreffend die Verhaftung und Aufenthaltsbeschränkung auf Grund des Kriegszustandes und des Belagerungszustandes“ („Schutzhaftgesetz“) vom 4. Dezember 1916 zumindest abzumildern. Die Schutzhaft wurde hinsichtlich der dafür notwendigen Voraussetzungen begrenzt, und Betroffene erhielten das Recht zur Beschwerde. Außerdem mussten die Justizbehörden eine Verlängerung der Haft jeweils beantragen und Beschuldigten Verteidiger zuweisen. 1917/18 verlangten auch radikal konservative Politiker, die Zensur abzuschwächen, die verhinderte, dass sie ihre weit gespannten Kriegsziele öffentlich propagieren konnten. 1918 verschärften die Militärbefehlshaber in Deutschland aber erneut die Maßnahmen, die mit dem Kriegszustand gerechtfertigt worden waren. Sie sollten vor allem den zunehmenden Protest von Arbeitern eindämmen, der sich in Streiks entlud. Schon im April 1917 hatten Arbeitsniederlegungen der Metallarbeiter in Berlin, Leipzig und anderen Städten die Reichsleitung alarmiert. Im Januar 1918 begann eine neue, noch umfassendere Streikwelle. Allein in Berlin traten 400.000 Arbeiter in den Ausstand. Die Politik des Belagerungszustandes, mit der die inneren Unruhen eingedämmt werden sollten, blieb aber letztlich lückenhaft und widersprüchlich.297 Im Reichstag, der den Reichsbelagerungszustand zwar nicht aufheben, aber kontrollieren und kritisieren konnte, trafen viele kriegsrechtliche Einzelmaßnahmen auch deshalb auf Widerstand. Die Bedenken wurden schärfer artikuliert, nachdem sich Abgeordnete der Mehrheitssozialdemokratischen Partei (MSPD; ab April 1917), des Zentrums und der Fortschrittlichen Volkspartei im Juli 1917 zum ständigen Interfraktionellen Ausschuss zusammengeschlossen hatten, um ihren Forderungen nach einem Verhandlungsfrieden ohne Annexionen und einer Demokratisierung Nachdruck zu verleihen. In ihren Beiträgen zu den Parlamentsdebatten diskutierten einzelne Parlamentarier sogar wiederholt die „Kollision zwischen dem individualrechtlichen Anspruch auf Schutz der persönlichen Freiheit und der kriegsrechtlichen Notwendigkeit des Schutzes der allgemeinen Sicherheit …“298 Die Kritiker der Unterdrückungspolitik gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen riefen die Regierung eindringlich zu humanitärer Rücksichtnahme auf. So kritisierte der Abgeordnete Gustav Müller (FVP, 1866–1944) am 11. Oktober 1917 im Reichstag: „… der elende Missbrauch, der mit dem Begriff der ‚öffentli297 Keil / Stibbe, Laboratorium, S. 549; Ullrich, Deutsches Kaiserreich, S. 60; Altenhöner, Kommunikation, S. 47. 298 Zitat: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 54. Vgl. auch Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 1054 f. Zum Kontext: Tooze, Sintflut, S. 99.

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chen Sicherheit‘ und des ‚militärischen Interesses‘ getrieben wird, ist allmählich geradezu zu einer gemeinen Gefahr für unsere ganze bürgerliche Freiheit in Deutschland geworden“. Damit wandte er sich auch gegen die im September 1917 gegründete Vaterlandspartei, die Linksliberale als „innere Feinde“ brandmarkten. Da diese Metapher für unterschiedliche politische Positionen in Anspruch genommen wurde, erwies sie sich letztlich als politisch ambivalent.299 Politiker der SPD und Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD; ab April 1917), aber auch des Zentrums und der FVP wandten sich explizit gegen die Internierung von Feindstaatenangehörigen, die ebenfalls im Reichstag diskutiert wurde. So forderten Abgeordnete wie Oskar Cohn (SPD, 1869–1934), Matthias Erzberger (Zentrum, 1875-1921) und Hermann Bruckhoff (FVP, 1874– 1956) die Reichsleitung wiederholt auf, mit den Entente-Mächten jeweils Abkommen zur Entlassung der Zivilinternierten abzuschließen. Cohn brandmarkte sogar offen das „System von seelischer Misshandlung […], das gegenüber vielen englischen Zivilgefangenen gehandhabt wird.“ Er setzte sich besonders für die Insassen des „Engländerlagers“ Ruhleben ein.300 In den Reichstagsdebatten beriefen sich auch verschiedene andere Kritiker wiederholt auf „Gebote“ bzw. „Grundsätze der Menschlichkeit“, „Menschenpflicht“ und „Humanität“.301 Demgegenüber hielten die Reichs- bzw. Heeresleitung und ihnen nahestehende Reichstagabgeordnete am Primat „nationaler Sicherheit“ fest. Wenngleich Einwände vielfach offen artikuliert wurden und sie die politische Elite gelegentlich zu Konzessionen in ihrer Internierungspolitik zwangen, herrschten insgesamt militärische Entscheidungskriterien vor, die Sicherheit im Innern voraussetzten. So wurden Polizisten im November 1916 als „Schwerstarbeiter“ eingestuft, um ihre bevorzugte Versorgung mit den knappen Nahrungsmitteln zu ermöglichen und damit ihre politische Loyalität zu sichern.302 Dem übergeordneten Sicherheitsdenken ordneten sich letztlich auch viele zivilgesellschaftliche Organisationen unter, die anstrebten, Belastungen des 299 Reimann, Krieg, S. 205; Schudnagies, Kriegs- und Belagerungszustand, S. 210. Vgl. auch Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 313, Berlin 1918, S. 5639; Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 311, Berlin 1918, S. 4151; Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 307, Berlin 1916, S. 1519; Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 308, Berlin 1916, S. 1979, 1981, 1983 f., 1988, 1999. 300 Zitat: Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 308, Berlin 1916, S. 1996. Vgl. auch Stibbe, A Question of Retaliation?, S. 18. 301 Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 311, Berlin 1918, S. 4450; Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 308, Berlin 1916, S. 1982, 1984. 302 Watson, Ring, S. 354.

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Krieges für Kriegsverletzte und Zivilisten zu begrenzen. Private Wohltätigkeitsvereine, in denen sich u. a. die evangelische Kirche engagierte, wurden auf diese Weise zu halböffentlichen Institutionen. So schlossen sich Frauenverbände zum „Nationalen Frauendienst“ zusammen, der nicht nur Krankenhäuser etablierte, Suppenküchen einrichtete und für Kinderbetreuung sorgte, sondern auch Material für die deutsche Kriegführung sammelte. Ebenso kümmerten sich Dozenten und Professoren, die sich mit ihren Familien zur Pflege von Verwundeten verpflichteten, nahezu ausschließlich um verletzte deutsche Soldaten, die in die Krankenhäuser eingeliefert worden waren. Letztlich blieben viele gesellschaftliche Assoziationen und Gruppen den Zielen der Reichsleitung verhaftet.303 Unter dem Druck der nationalistischen Agitation ließen sich Vereine und Verbände sogar direkt für die Kriegführung einspannen. So unterstützte das Netzwerk der patriotischen Frauenvereine, die unter der indirekten Aufsicht des militärischen Oberkommandos schon seit 1907 die freiwillige Krankenpflege eingerichtet hatte, unmittelbar das deutsche Militär. Die Assoziationen, die im Ersten Weltkrieg am „Nationalen Frauendienst“ mitwirkten, wurden damit zu „halböffentlichen Unternehmen“. Allein das Deutsche Rote Kreuz verfügte 1914 über 6.300 regionale und lokale Gruppen, in denen mehr als eine Million Mitglieder organisiert waren. Die nationale Organisation blieb aber – den Grundsätzen des IKRK folgend – eng an die Politik der Reichsleitung gebunden. Deshalb konzentrierte sich das Rote Kreuz auf die Krankenversorgung der deutschen Soldaten. Dafür erhielt es u. a. Spenden, die aus dem Kauf von Nägeln für Hindenburg-Statuen resultierten. Auch kirchliche Organisationen wie die Evangelische Missions-Hilfe unterstützten die Reichsleitung, so indem sie Propagandaschriften verteilte. Insgesamt waren im Deutschen Kaiserreich im Ersten Weltkrieg staatliche Aufgaben und zivilgesellschaftliche Aktivitäten eng aufeinander bezogen und miteinander verflochten, wie auch die Arbeit der kommunalen Fürsorgeausschüsse und Suppenküchen zeigte.304

303 Trude Maurer, Integration in die „Volksgemeinschaft“ oder Exklusivität? Die Angehörigen deutscher und russischer Universitäten in der Anfangsphase des Ersten Weltkrieges, in: Cornelia Rauh / Arnd Reitemeier / Dirk Schumann (Hg.), Kriegsbeginn in Norddeutschland. Zur Herausbildung einer „Kriegskultur“ 1914/15 in transnationaler Perspektive, Göttingen 2015, S. 178–198, hier: S. 188; Stibbe, Civilian Internees, S. 23; Chickering, Das Deutsche Reich, S. 144, 156. 304 Zitat: Chickering, Das Deutsche Reich, S. 144. Angaben nach: Khan, Das Rote Kreuz, S. 46. Vgl. auch Quataert, Dignity, S. 456 f., S. 465 f.; Strachan, First World War, S. 1119.

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Wechselbeziehungen: Repressalien und Abkommen zum Austausch Gegenüber den Rekursen auf humanitäre Pflichten und Menschenrechte avant la lettre verwiesen besonders konservative Abgeordnete und Vertreter der Regierung im Parlament unablässig auf die schlechte Behandlung deutscher Zivilinternierter in den Feindstaaten, so 1916 auch mit Bezug auf Portugal nach der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an das Land am 9. März 1916. Außerdem kritisierten die deutschen Nationalisten die Verschleppung von Elsässern und Lothringer, die als deutschfreundlich galten, durch die französische Regierung. Damit rechtfertigten sie zugleich die deutsche Politik gegen die beiden Minderheiten an der Westgrenze, zumal sich der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Georg (Georges) Weill (1882–1970) 1914 freiwillig für den Dienst in der französischen Armee gemeldet hatte. Deutsche Gerichte verurteilten während des Ersten Weltkrieges allein 2.000 bis 3.000 Lothringer wegen Äußerungen und Handlungen, die sie als Angriff auf die deutsche Regierung oder Administration bewertet hatten. Die Verfahren, in denen z. T. eine „präventive“ Internierung der Verurteilten angeordnet wurde, hatten vielerorts Denunziationen deutscher Bewohner ausgelöst. Auch einzelne Franzosen, welche die deutsche Herrschaft im Reichsland Elsass-Lothringen begrüßten, zeigten ihre Nachbarn an. Nach dem Ende des Krieges waren damit viele Rechnungen offen, die dann beglichen wurden.305 Die repressive Politik wurde auch mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass entlassene Internierte anschließend für die Entente-Mächte kämpfen könnten. Diese Befürchtung richtete sich nicht zuletzt gegen die in Deutschland lebenden wehrfähigen Polen russischer Nationalität. Immerhin erklärten sich Reichs- und Heeresleitung allgemein bereit, auf Gewalt und Zwang gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen zu verzichten, vor allem um Repressalien gegen gefangene Deutsche in gegnerischen Staaten zu verhindern. Diese Bereitschaft schloss aber Vergeltungsmaßnahmen keineswegs aus. So wurden nach einem Ultimatum der deutschen Regierung im Juni 1916 rund 15.000 kriegsgefangene Franzosen zu Moorarbeiten gezwungen, nachdem im Frühjahr bekannt geworden war, dass französische Truppen Deutsche – darunter rund 180 Frauen – aus den er-

305 David Allen Harvey, Lost Children or Enemy Aliens? Classifying the Population of Alsace after the First World War, in: Journal of Contemporary History 34 (1999), S. 537–554, hier: S. 538; Laird Boswell, From Liberation to Purge Trials in the „Mythic Provinces“: Recasting French Identities in Alsace and Lorraine, 1918–1920, in: French Historical Studies 23 (2000), S. 129–162, hier: S. 133. Zur Meldung Weills: Reimann, Krieg, S. 203 f.

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oberten Kolonien Togo und Kamerun nach Dahomey (Westafrika, im heutigen Benin) verschleppt hatten.306 1916 forderten im Reich Politiker überdies die Einschränkung der Pressefreiheit, da Zeitungen wie die Hamburger Nachrichten und die Frankfurter Zeitung Berichte über eine grausame Behandlung deutscher Zivilisten durch französische Offiziere in Marokko verbreiteten. Daraufhin wurden 30.000 französische und 2.000 britische Gefangene nach Kurland an die Ostfront geschickt. Erst eine Intervention Spaniens und des IKRK brachte die französische Regierung zum Einlenken. Sie schloss die Lager in Dahomey und Nordafrika, so dass auch die deportierten Franzosen nach Deutschland zurückgebracht wurden. Dagegen mussten die Briten in Kurland verbleiben, da ihre Regierung Verhandlungen mit dem Deutschen Reich über dieses Problem ablehnte. Die Deportation von 25 belgischen Frauen aus dem Generalgouvernement als Vergeltung für den erzwungenen Marsch gefangener deutscher Zivilisten vom ostafrikanischen Tabora über Belgisch-Kongo zur Westküste des Kontinents löste Bemühungen der Reformpädagogin und Pazifistin Elisabeth Rotten (1882–1964) um Vermittlung aus.307 Immerhin waren in Deutschland bis zum 10. Oktober 1916 schon 87.372 Zivilinternierte aus Lagern geflohen bzw. freigelassen oder ausgetauscht worden.308 Die Reichsleitung einigte sich im Kriegsverlauf mit einzelnen Kriegsgegnern – so mit Frankreich 1915/16 –, Besuche von Kriegsgefangenen- und Internierungslagern durch das IKRK zuzulassen und schwere Strafen auszusetzen, die im Allgemeinen vor allem gegen geflohene Zivilinternierte und Kriegsgefangene verhängt wurden. Auch mit anderen gegnerischen Ländern kam die deutsche Regierung überein, Strafen nach Fluchten zeitlich zu begrenzen. Darüber hinaus vermittelte der Vatikan – besonders Papst Benedikt XV. (1854–1922) – jeweils bilaterale Abkommen zur Freilassung von Zivilinternierten zwischen Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Eine Resolution des Reichstages, der am 2. November 1916 den Reichskanzler aufforderte, neutrale Mächte um eine Vermittlung zu bitten und Vereinbarungen zum Austausch von Kriegsgefangenen auf Zivilisten auszudehnen, verstärkte die Bemühungen um eine Freilassung oder Erleichterungen. Überdies konnten sich kranke Feindstaatenangehörige in der Schweiz und in den Niederlanden erholen. Allerdings blieb diese Regelung auf Gefangene aus prominenten Familien sowie Internierte begrenzt, 306 Stibbe, Civilian Internment, S. 149; Moorehead, Dream, S. 197, 199; Doegen, Völker, S. 117, 124, 127 f., 131. Anklagend: Kern, Die Deutschen, S. 120. 307 LSF, FEWVRC/EME/4/2 (Presseartikel vom 1. und 29. Februar 1916); FO 383/143 (Verbalnote vom 21. Februar 1916); Vance, International Committee of the Red Cross, S. 144; Kramer, Prisoners, S. 81; Stibbe, Civilian Internment, S. 149 f. 308 Doegen, Völker, S. 28 f. (Tabelle F).

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die über 55 Jahre alt oder permanent zum Wehrdienst unfähig waren. Daraufhin richteten Verwandte und Bekannte von Betroffenen zahlreiche Anfragen an die kriegführenden Regierungen, um Freilassungen zu erwirken.309 Nachdem sie bereits 1915 mit der deutschen Reichsleitung übereingekommen war, Geistliche und Internierte auszutauschen, die nicht wehrfähig waren, erklärte die britische Regierung im Januar 1916 ihre Bereitschaft, alle gefangenen Zivilisten im Alter von über 45 Jahren nach dem Gegenseitigkeitsprinzip freizulassen. Im Gegensatz zu Seeleuten der beiden Handelsmarinen sollten in dem vorgeschlagenen Abkommen auch Kranke berücksichtigt werden. Das Kriegskabinett des Vereinigten Königreiches plante einen Austausch pro Kopf, der sich nach dem Vorschlag der Britischen Roten Kreuzes auf alle Kriegsgefangenen und Zivilinternierte erstrecken sollte. Ähnliche Abkommen empfahl das British Red Cross and Order of St. John auch mit Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich. Diese Forderung lehnte das britische Kriegskabinett aber ab. Vielmehr sollten vorrangig Internierte, die über 50 Jahre alt waren, in ihre Heimatländer zurückgeführt werden. Auch die Repatriierung von kranken und behinderten Feindstaatenangehörigen im Alter von 45 bis 50 Jahren war geplant. Davon ausgenommen waren in diesen Gruppen enemy aliens, die nach Auffassung der Sicherheitsbehörden (MI5 und der Polizei) die öffentliche Ordnung in Großbritannien gefährdeten. Diese Regelung und die vorgesehenen ärztlichen Untersuchungen lösten Konflikte zwischen den beiden Regierungen aus. Auch die vom Vereinigten Königreich vorgeschlagene Altersgrenze traf bei der deutschen Regierung auf Widerstand. Sie verlangte eine Heimführung aller Zivilinternierten über 45 Jahren, auch aus dem Empire. Da in Großbritannien, in den Dominions und Kolonien zehnmal so viele Deutsche wie Briten in Deutschland interniert waren, widersetzte sich die britische Regierung 1915 dem geforderten pauschalen Austausch gefangener Zivilisten. Zwar zeigte sich der Army Council im Juli bereit, Internierte in Deutsch-Ostafrika einzubeziehen, wo 145 Briten – darunter 18 Missionare, sieben Schwestern, sechs Pfarrer und 42 sonstige Zivilisten – von den deutschen Truppen gefangen genommen worden waren. Jedoch wurden auch Zivilisten, die unter die Abkommen fielen, immer wieder zu Opfern von Konflikten zwischen den Regierungen Deutschlands und Großbritanniens, die jeweils klare Gegenleistungen verlangten und andernfalls den Austausch blockierten.310 309 NA, FO 383/172 (Vermerke vom 6. Januar und 21. Januar sowie vom 10. Februar, 14. Februar, 16. und 21. März 1916; Brief vom 22. Mai und 20. November 1916). Als Beispiel für eine Anfrage das Schreiben vom 24. September 1915 in: NA, FO 383/27. 310 NA, FO 383/167 (Verbalnote vom 8. Mai 1916); FO 383/70 (Vermerke vom 17. und 24. Juni 1915; Schreiben vom 9. Juli 1915); FO 383/172 (Entwürfe des Foreign Office vom Januar 1916; Schreiben vom 21. Januar, 1. Februar 1916, 30. Juli 1916 und 20. November 1916; Notiz vom

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Die Reichsleitung lehnte ihrerseits den Vorschlag ab, eine gleiche Anzahl von Internierten zu entlassen. Initiativen wie der Vorstoß des Leiters der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, Johannes Kriege, im Jahr 1916 blieben deshalb weitgehend wirkungslos. Im Gegensatz zu kranken Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, die von den Regierungen der Gewahrsamsmächte als Last empfunden wurden, erwiesen sich Bemühungen um einen Austausch gesunder Gefangener im Allgemeinen als schwierig. Erst mit einem deutsch-britischen Abkommen vom 2. Juli 1917 und zwei Vereinbarungen, welche die deutsche Reichsleitung im Frühjahr 1918 mit Frankreich abschloss, wurde in dieser Hinsicht ein Durchbruch erzielt. Im letzten Kriegsjahr konnten daraufhin auch Zivilinternierte – so britische Insassen des Lagers Ruhleben – ausgetauscht werden.311

Bilanz Insgesamt war die Internierung von Zivilisten integraler Bestandteil der deutschen Kriegspolitik, die sich vor allem nach der Bildung der 3. Obersten Heeresleitung zusehends radikalisierte. Vor diesem Hintergrund wuchs die Zahl der Internierten von 48.000 im Juni 1915 auf 112.000 im Oktober 1918. Die Mehrheit dieser Gruppe wurde allerdings offiziell nicht als „feindliche Ausländer“ festgehalten, sondern als Deportierte aus den besetzten Gebieten in Belgien, Nordfrankreich und Russland. Aber auch Tschechen, Bulgaren, Griechen, Polen, Elsässer, Lothringer und einzelne Schweizer verbrachten den Krieg in Lagern. Die eidgenössische Gesandtschaft in Berlin erreichte zwar die Freilassung ihrer Bürger. Jedoch verletzten die deutschen Behörden auch in den folgenden Jahren wiederholt die bilateralen Niederlassungsverträge. Überdies wurden Beschwerden der Schweizer Bundesregierung nicht beantwortet. Erst der Waffenstillstand vom 11. November 1918 beendete in Deutschland das Leiden aller Zivilinternierten. Sie wurden nun zügig repatriiert, so dass viele von ihnen schon bis Frühjahr 1919 in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Dagegen befanden sich nach Angaben des Preußischen Kriegsministeriums insgesamt noch im Februar 1919 27.950 deutsche Gefangene außerhalb Europas, davon 5.000 in den USA, 4.000 in Ostafrika, Ägypten und Indien sowie 4.000 in Japan und 6.000 in Australien.312 14. Februar 1916; Memorandum von 14. Februar 1916; Verbalnote vom 28. Juni 1916); FO 383/ 143 (Briefe vom 31. Dezember 1915 und 30. März 1916). 311 Stibbe, Enemy Aliens and Internment; Hinz, Gefangen, S. 359; Vance, Ruhleben, S. 257; Pöppinghege, Lager, S. 49–53, 61, 81. 312 Angaben nach: Speed, Prisoners, S. 151; Stibbe, Civilian Internees, S. 23; ders., Civilian Internment, S. 242; ders., Enemy Aliens and Internment. Vgl. auch Vance, Civilian Internees –

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Der Belagerungszustand hatte die innere und äußere Sicherheit im Deutschen Kaiserreich von 1914 bis 1918 keineswegs erhöht. Er berechtigte zwar Militär- und Zivilbehörden zu Notstandsmaßnahmen. Diese blieben aber oft unkoordiniert. Überdies ermutigte der Belagerungszustand rivalisierende Instanzen zu einer Selbstermächtigung. Sie nährte einen Kampf um politische Souveränität und steigerte die Sicherheitserwartungen, so dass sich bald ein „Eindruck von lähmender Polykratie“ verbreitete.313

Auswirkungen auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft und -politik Am 12. November 1918 hob der Rat der Volksbeauftragten den Kriegszustand, der mit der kaiserlichen Verordnung vom 31. Juli 1914 verhängt worden war, auf. Damit wurden bürgerliche Freiheitsrechte wie die Meinungs-, Vereins- und Versammlungsfreiheit wiederhergestellt, die z. T. schon in einem Erlass des preußischen Kriegsministers und Obermilitärbefehlshabers Heinrich Schëuch (1864–1946) vom 2. November 1918 zugesichert worden waren. Jedoch bestanden das Belagerungsrecht, die im zu Grunde liegenden Verfassungsbestimmungen und die damit verbundenen Gesetze fort. Diese nutzte Gustav Noske (1868– 1946), der im Januar 1919 zum Oberbefehlshaber in Berlin und im Februar auch zum Reichswehrminister ernannt worden war, um – wie er argumentierte – die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schützen. Dazu erließ Noske am 20. Januar 1919 einen Erlass, nach dem Waffen u. a. eingesetzt werden durften, um Objekte oder Personen zu schützen und eine Flucht festgenommener Personen zu verhindern.314 Auch darüber hinaus wirkten die inneren Konflikte und Spannungen des Ersten Weltkrieges in Deutschland bis in die Mitte der zwanziger Jahre nach. Die Bestimmungen des Versailler Vertrages, die Hyperinflation, die revolutionären Aufstände, die konterrevolutionäre Gewalt der Reichswehr und der vorübergehende Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols radikalisierten Verschwörungsvorstellungen. Vor allem Nationalisten führten die Unruhen in den ersten Nachkriegsjahren auf „Verrat“ und „Feinde“ zurück. Damit verliehen sie Krisenwahrnehmungen Auftrieb, die zwar mit z. T. weitgespannten Erneuerungsvisionen verbunden waren, aber letztlich das Sicherheitsbedürfnis enorm

World War I, S. 50; Wilkinson, Prisoners of War, S. 263. Zu den Schweizern: Huber, Fremdsein, S. 229, 232, 245. 313 Geyer, Grenzüberschreitungen, S. 354. 314 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 732–736, 1089–1092; ders., Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 61, 1043. Zum „Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung“: Longerich, Hitler, S. 63.

4.2 Deutsches Kaiserreich 

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erhöhten. Dazu trug vor allem die fortbestehende Militarisierung des öffentlichen Lebens bei, welche die paramilitärischen Freikorps maßgeblich vorantrieben. Diese Gruppen fochten in den osteuropäischen Grenzzonen auch nach dem Waffenstillstand und der Unterzeichnung des Versailler Vertrages (28. Juni 1919) weiter, um den Verlust deutscher Siedlungsgebiete im Baltikum, in Ostpreußen und Oberschlesien zu verhindern. Dabei belief sich die Zahl der Toten allein bei den Kämpfen um Oberschlesien vom 11. November 1918 bis zum 30. Juni 1922 auf 2.824. Obgleich der Mythos des „Frontsoldaten“ und die Überhöhung des „Kriegserlebnisses“ nur von einer Minderheit der deutschen Veteranen geteilt und getragen wurden, schlug die Annexionspolitik, die sich im Osten 1917/18 in der aktiven Rekrutierung russlanddeutscher Siedler niedergeschlagen hatte, nach dem Kriegsende in eine fremdenfeindliche Kampagne um. Sie richtete sich vor allem gegen ostjüdische Immigranten und war auch auf dem Nährboden der Unterdrückung von Feindstaatenangehörigen im Kaiserreich während des Ersten Weltkrieges entstanden.315 Zwar betrachteten Zeitgenossen die Krise der Weimarer Republik in den zwanziger Jahren nicht nur als unausweichlichen Niedergang, sondern auch als Chance zur Reform.316 Angesichts der materiellen Verluste, aber auch des Zerfalls überlieferter Werte und Normen suchten aber vor allem bürgerliche Kreise nach Gewissheiten und Bindungen. In dieser Konstellation gewann Sicherheit als handlungsleitendes Leitbild in den ersten Nachkriegsjahren eine überragende Bedeutung. Dies schlug sich in den von Reichspräsident Friedrich Ebert (1871–1925) erlassenen Notverordnungen und der Schutzhaftpraxis n der frühen 315 Angabe nach: Böhler, Violence, S. 68. Vgl. auch Gunther Mai, „Verteidigungskrieg“ und „Volksgemeinschaft“. Staatliche Selbstbehauptung, nationale Solidarität und soziale Befreiung in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkrieges (1900–1925), in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg, München 1994, S. 583–602, hier: S. 583, 587, 590, 596; Wolfgang J. Mommsen, Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt/M. 2004, S. 151; Daniel Siemens, Das Narrativ der Krise in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Cornel Zwierlein (Hg.), Sicherheit und Krise. Interdisziplinäre Beiträge der Forschungstage 2009 und 2010 des Jungen Kollegs der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Paderborn 2012, S. 63–82, hier: S. 68–71; Keil / Stibbe, Laboratorium, S. 563-566 Müller, Soldaten, S. 43 f., Weisbrod, Gewalt, S. 393, 401–404; Sammartino, Border, S. 204. 316 Zum Nexus von Krisendiagnosen und Erneuerungsvisionen: Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008, S. 93, 359–380; ders., Die „Krise“ im intellektuellen Zukunftsdiskurs der Weimarer Republik, in: Möritz Föllmer / Rüdiger Graf (Hg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/M. 2005, S. 77–106, hier: S. 80, 91 f., 98, 105 f.; ders., Die Krise als epochemachender Begriff im 20. Jahrhundert, in: Frank Bösch / Martin Sabrow (Hg.), Zeit Räume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2016, Göttingen 2016, S. 21–38, hier: S. 25–27.

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Weimarer Republik ebenso nieder wie im Aktionismus der paramilitärischen Verbände. Zugleich begründete das Sicherheitsparadigma umfassende Eingriffe in die Wirtschaft und neue sozialstaatliche Maßnahmen. Nicht zuletzt verschärfte sich die Stigmatisierung „innerer Feinde“, die schon im Ersten Weltkrieg dämonisiert worden waren, in der „Dolchstoßlegende“ noch weiter. Sie war vor allem im bildungsbürgerlichen Milieu weit verbreitet, zumal die Kriegsniederlage völlig unvorbereitet eingetreten und in militärischer Hinsicht nicht unmittelbar evident war. Wie die paramilitärische Aktivität der Freikorps im besiegten Deutschen Reich und im Baltikum zeigte, nutzte vor allem die politische Rechte die Fremdenfeindlichkeit und den Antibolschewismus, um ihre Forderung nach Sicherheit, Ordnung und Staatsautorität zu rechtfertigen.317 Insgesamt war damit in den Jahren von 1914 bis 1916 eine „Mentalität des Ausnahmezustands“ begründet worden, die über das Kriegsende hinauswirkte und in der Weimarer Republik auch auf wirtschaftliche und politische Krisen, soziale Notlagen und Auseinandersetzungen zwischen Tarifparteien reagierte. Ebenso verhängten die Behörden weiterhin Schutzhaft gegen Revolutionäre und auch gesellschaftliche Minderheiten wie „Zigeuner“. Dafür wurden noch bestehende Kriegsgefangenen- und Internierungslager genutzt oder provisorische Gefängnisse eingerichtet.318 Zwar sollte die Kontinuität von der Gewalt und den Völkerrechtsverstößen im Ersten Weltkrieg zu den zwanziger und dreißiger Jahren nicht überzeichnet werden. So führten die Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges keine dauerhafte Brutalisierung der Gesellschaften herbei. Die Auflösung der Weimarer Republik ab 1930 war daher weder alternativlos noch vorherbestimmt. Auch planten die deutschen Militärs in den besetzten Gebieten – so im Baltikum – keinen Genozid. Nicht zuletzt war die Feindschaft noch nicht umfassend rassistisch begründet. Jedoch hatten die extreme Gewalt im Ersten Weltkrieg im Allgemeinen und der Umgang mit Zivilisten der jeweiligen gegnerischen Staaten im Besonderen im Hinblick auf Feindprojektionen und die Ausschaltung politischer Gegner einen neuen Möglichkeitsraum für extreme Gewalt geschaffen. Dabei hatte der Bolschewismus als neues ideologisches Feindbild die Kriegführung 1917/18 noch radikalisiert. Das radikale Vorgehen gegen (tatsächliche und vermeintli317 Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933, Düsseldorf 2003, S. 554–556; Gerwarth, Die Besiegten, S. 133–140, 161; ders. / Horne, Great War, S. 270; Gatrell, War, S. 567. Zur Argumentation: Bauerkämper, Road, S. 441; Geyer, Grenzüberschreitungen, S. 357, 359 f., 362, 365, 368. 318 Zitat: Geyer, Grenzüberschreitungen, S. 341. Vgl. auch Achim Kurz, Demokratische Diktatur? Auslegung und Handhabung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung 1919–1925, Berlin 1992, bes. S. 145–192; Keil / Stibbe, Laboratorium, S. 566 Neocleous, Critique, S. 54 f.; Reynolds, Shadow, S. 60.

4.3 Frankreich



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che) Gegner im Ersten Weltkrieg und der Antikommunismus, der sich in Verschwörungsvorstellungen mit dem Antisemitismus verband, belasteten die junge deutsche Republik, die sich nur langsam festigte, ebenso wie der Versailler Vertrag und die Beharrungskraft antidemokratischer, autoritärer Einstellungen.319 Auch prolongierten das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung und die Verhängung von Schutzhaft die Denkfigur des Ausnahmezustandes, dessen Fortdauer über 1918 hinaus angesichts der Unruhen in den ersten Nachkriegsjahren unabdingbar schien, um die öffentliche Sicherheit und politische Ordnung zu bewahren. Allein von Oktober 1922 bis 1925 erließen die Regierungen der Weimarer Republik 67 Notverordnungen, die z. T. die Vorschriften des Gesetzes über den Kriegszustand vom 4. Dezember 1916 aufnahmen. Als in der Weltwirtschaftskrise Unternehmen und Banken kollabierten, diagnostizierten viele zeitgenössische Beobachter erneut einen Ausnahmezustand, der aus ihrer Sicht drakonische Maßnahmen erzwang. So sollte der Kapitalabfluss ins Ausland mit einer „Reichsfluchtsteuer“, deren Einführung eine Notverordnung des Präsidenten am 8. Dezember 1931 anordnete, eingedämmt werden. Besonders die Kampagne gegen „Spekulanten“ war auch von antisemitischen Ressentiments geprägt. Konservative Staatsrechtler wie Carl Schmitt sprachen sogar von einem „Staatsnotstand“, der sich aus der Übermacht unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessengruppen ergeben habe. Schmitt trat 1931/32 deshalb für eine nachhaltige Stärkung der Exekutive (des Reichspräsidenten, der Verwaltung und Bürokratie) ein, bevor er die „Retter“ des von ihm idealisierten Staates in den Nationalsozialisten erblickte. Mit der „Trinität von Ausnahmezustand, Souveränität und Dezision“ opferte Schmitt letztlich den Rechtsstaat und die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik „auf dem Altar einer nichtbürgerlichen Sekurität“.320

4.3 Frankreich Voraussetzungen: Notstandsgesetzgebung, Nationalismus, Revisionismus und „innere Feinde“ Angesichts des zunächst schnellen Vordringens der deutschen Truppen im Spätsommer 1914 wurden Feindstaatenangehörige in Frankreich von den Be319 Lieb, Krieg, S. 491, 498–500; Leonhard, Büchse, S. 1012; Hirschfeld / Krumeich, Deutschland, S. 299 f. 320 Frankenberg, Staatstechnik, S. 136, 144.

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hörden verstärkt als Sicherheitsrisiko (d. h. potentielle Spione, Verräter, Kriminelle oder zukünftige gegnerische Kombattanten) eingestuft und daher strikt interniert. Diese Politik war hier schon im 19. Jahrhundert praktiziert worden. So hatte Napoleon Bonaparte (1769–1821) nach der Beschlagnahme französischer Schiffe in englischen Häfen 1803 angeordnet, alle wehrfähigen Engländer festzunehmen. Darüber hinaus war vom französischen Kaiser (seit Dezember 1804) im „Berliner Dekret“ vom 21. November 1805 erklärt worden, dass jede einem feindlichen Staat angehörende Person als Gegner betrachtet und deshalb gefangen genommen werde. Im Verlauf der Revolution, die im Februar 1848 begann, wurde am 9. August des darauffolgenden Jahres der Belagerungszustand verhängt, nachdem die Regierung der gemäßigten Liberalen wegen der Radikalisierung der Revolution im Juni 1848 die Aufständischen aus Paris abtransportiert und aus dem Land ausgewiesen hatte. Im Zuge der Gegenrevolution wurde auch ein Gesetz über die Evakuierung „überflüssiger Esser“ (bouches inutiles) wie Frauen und Kinder erlassen, das die Regierung 1887 verschärfte. 1850 hielten sich etwa 100.000 Deutsche in Paris auf.321 Ein wichtiger Wendepunkt im Umgang mit „inneren Feinden“ – vor allem Angehörigen gegnerischer Staaten – wurde schließlich der Krieg gegen Preußen 1870/71. Zwar versuchten viele Deutsche im August 1870, Visa für die Ausreise aus Frankreich zu erhalten. Jedoch konnten nur wenige Genehmigungen ausgestellt werden, so dass die deutsche Minderheit pauschal der Spionage bezichtigt und angegriffen wurde. Vor allem die 18.000 Männer und 15.000 Frauen, die 1870 in Paris lebten, wurden zur Zielscheibe von Angst und Hass. Die französische Presse rief zu Ausschreitungen auf, und auch der Belagerungszustand, der über die Hauptstadt verhängt wurde, verstärkte die Fremdenfeindlichkeit. Während die Regierung zunächst auf die Sicherheit des Landes verwies, um die Deutschen als Geiseln im Land zu halten, begründete der Hinweis auf die Sekurität im August 1870 ein Dekret, nach dem die Deutschen aus Paris auszuweisen waren. Vergeblich protestierte Rolin-Jaecquemyns gegen diese Zwangsmaßnahme, die den französischen Behörden wegen der Wehrpflicht in Preußen notwendig schien.322 Diese Maßnahmen hatte die Regierung mit der Sorge um die Sicherheit und der Notwendigkeit begründet, die Verteidigung des Landes zu garantieren. Dazu reklamierten Rechtswissenschaftler wie Robert Hoerni ein natürliches Notrecht des Staates, der sich aus dieser Sicht zu seinem Schutz auch über Gesetze und völkerrechtliche Abkommen hinwegsetzen konnte. Seit der Niederlage, die Frankreich 1871 erlitten hatte, zielte die Politik gegenüber dem Deutschen Reich 321 Blackbourn, Germans, S. 337. 322 Angaben nach: Caglioti, War, S. 166. Vgl. auch Gestrich, Konzentrationslager, S. 53.

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darüber hinaus auf die Wiederangliederung Lothringens und des Elsass, die in vielen populären Darstellungen als „verlorene Provinzen“ romantisiert wurden. Unabhängig von diesem Ziel rechnete die Regierung nach der Unterstellung Bismarcks, dass Frankreich einen Revanchekrieg plane („Krieg-in-Sicht-Krise“ 1875), mit einer militärischen Auseinandersetzung. In den späten 1980er Jahren stellten die Behörden eine Liste von Personen zusammen, die nach einer Erklärung des Ausnahmezustands verhaftet und an entlegene Orte verbracht werden sollten. Nach der zweiten Marokkokrise (1911) beschleunigte die Regierung schließlich die Vorbereitungen zur Internierung von Feindstaatenangehörigen. Allerdings erwiesen sich Pläne zur Evakuierung und Deportation dieser Gruppe bei Kriegsbeginn als veraltet, da sie die Fähigkeit voraussetzten, Städte nachhaltig und effektiv verteidigen zu können. Zudem konnte die Einweisung von Zivilisten in Lager völkerrechtlich nicht legitimiert werden.323 Seit dem 19. Jahrhundert war „Internierung“ (internement) aber nicht nur gegen feindliche Ausländer gerichtet, sondern auch mit politischer Opposition und gesellschaftlich abweichendem Verhalten assoziiert. Der Verdacht der Illoyalität, die „inneren Feinden“ zugeschrieben wurde, richtete sich damit gegen Minderheiten, Vagabunden und Einwanderer, die nach einem 1912 erlassenen Gesetz persönliche Dokumente mitführen und jederzeit zeigen mussten. Als sich am 31. Juli 1914 der Kriegsbeginn deutlich abzeichnete, erhielten Ausländer und Einwanderer nur noch ausnahmsweise Pässe.324 Die französische Regierung argumentierte, dass sie Männer der Feindstaaten festhalte, um ihre Einberufung als Soldaten in ihrer Heimat zu verhindern. Zudem wurden die Zivilisten pauschal als Spione diffamiert. Darüber hinaus sollten sie als Geiseln festgehalten werden, um die „Mittelmächte“ zu einer humanen Behandlung der französischen Gefangenen zu zwingen. Außerdem konnten sie für Austauschaktionen genutzt werden. Um die Internierung zu rechtfertigen, nahmen die Regierung und die untergeordneten Behörden fremdenfeindliche Vorurteile auf, die sich im 19. Jahrhundert verbreitet hatten. Mit dem Hass auf Deutschland waren auch antisemitische Verschwörungsvorstellungen propagiert worden, wie der Prozess gegen den Hauptmann Alfred Dreyfus 1894 zeigte. Da er aus dem Elsass stammte, galten die Bewohner der Provinz nicht nur als Franzosen, sondern zugleich als potentielle Verräter. Nach der Jahrhundertwende steigerten radikale Nationalisten die Agitation, in der Drey323 Robert Hoerni, De l’état de nécessité en droit public federal Suisse, Genf 1917. Vgl. auch Giuseppi, Internment, S. 86 f.; Boldt, „Ausnahmezustand“, S. 372; Farcy, Camps, S. 5 f., 362 f.; Neocleous, Critique, S. 47. 324 Sylvie Thénault, Wartime Internment of Algerians in the Nineteenth and Twentieth Centuries. For a History of Forms of Captivity in the Long Term, in: Pathé / Théofilakis (Hg.), Captivity, S. 189–198, hier: S. 192 f.; Torpey, Invention, S. 112.

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fus weiterhin den „inneren Feind“ verkörperte. Patriotische Vereine spannten sogar den Sport ein, und die Spionagehysterie wuchs noch weiter. Den in Frankreich lebenden Deutschen und Juden wurde eine umfassende Konspiration unterstellt. Feindliche Verräter strebten angeblich an, die Verteidigungsfähigkeit des Landes zu schwächen. Diese „inneren Feinde“, die auch unter den Lothringern an der Ostgrenze vermutet wurden, galten als Sicherheitsrisiko, das aus der Sicht der französischen Nationalisten zu beseitigen war. Angesichts der weit verbreiteten fremdenfeindlichen Vorurteile gegen Deutschland und die Deutschen (boches) konnten pazifistische Verbände wie die 1905 gebildete Conciliation internationale kaum Einfluss gewinnen. Sogar Spitzenpolitiker wie der radikalsozialistische Premierminister Joseph Caillaux (1863–1944), der sich 1911 um eine Verständigung zwischen Frankreich und dem westlichen Nachbarstaat bemühte, wurden von Nationalisten als „Deutschenfreund“ denunziert. Auch eine interparlamentarische Konferenz von deutschen und französischen Delegierten in Bern blieb im Mai 1913 ohne konkrete Ergebnisse.325

Mobilisierung und fremdenfeindliche Propaganda Nach dem Kriegsbeginn waren die Einheit der Nation (Union sacrée) und das Bekenntnis zum unbedingten Sieg in Frankreich weitestgehend unumstritten. Die Regierungen waren stabiler als vor 1914, als Ministerpräsidenten oft schnell aufeinander gefolgt waren. Auch darüber hinaus herrschte unter den Ministern personelle Kontinuität vor. Das Parlament vertagte sich lediglich bis Februar 1915, und ab 1916 bestand es auf der Kontrolle der militärischen Strategie und des Oberkommandos, das unter Joseph Joffre (1852–1931) in den Schlachten um Verdun und an der Somme politisches Vertrauen verloren hatte. Der Belagerungszustand für Gebiete, die nicht in der Nähe der Front lagen, wurde aufgehoben. Der Nationalversammlung gelang es auch, Einschränkungen hinsichtlich der Presse- und Versammlungsfreiheit zurückzunehmen. Nachdem der Primat der politischen Verantwortung gesichert war, gingen die Konflikte zwischen zivilen und militärischen Eliten erheblich zurück.326

325 Paul Smith, The Kiss of France: The Republic and the Alsatians during the First World War, in: Panayi (Hg), Minorities, S. 27–49, hier: S. 27, 30; Jean-Michel Faure, Forging a French Fighting Spirit: The Nation, Sport, Violence and War, in: Mangan (Hg.), Identities, S. 75–93; Michael Winock, Nationalism, Anti-Semitism, and Fascism in France, Stanford 1998, S. 111 f.; Giuseppi, Internment, S. 86; Nolan, Mirror, S. 72, 79, 99, 103; Holt, Nationalisms, S. 41. Zu Caillaux: Stevenson, 1914–1918, S. 320. 326 Ebd., S. 320 f.

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Zugleich erfasste die Kriegsmobilisierung immer größere Bevölkerungsgruppen, und auch die Propaganda wurde verstärkt, um die Fähigkeit zum Durchhalten zu stärken. Vor allem die 1898 gegründete monarchistisch-nationalistische Action Française und ihr Presseorgan, die gleichnamige Zeitschrift, radikalisierten ihre Kampagne gegen die in Frankreich lebenden Deutschen, die pauschal als „Barbaren“ bezeichnet wurden. Der Argwohn richtete sich besonders gegen Erzieherinnen aus dem östlichen Nachbarland. Angesichts des zunächst schnellen Vorstoßes der deutschen Truppen nach Nordfrankreich kursierten auch viele Gerüchte über deutsche Offiziere, die sich angeblich französische Uniformen angezogen und den Auftrag hatten, im Raum Paris Brücken zu zerstören. Als Paris Anfang September 1914 bedroht war, verbreiteten sich verstärkt Gerüchte über Sabotage und Zersetzung, mit denen die auf den ersten Blick rätselhafte Folge militärischer Niederlagen in den vorangegangenen Wochen erklärt wurde.327 Über die Feindstaatenangehörigen hinaus galten in dieser Kampagne alle „inneren Deutschen“ (les boches de l’intérieur) als gefährlich: eingebürgerte Deutsche, Juden, Elsässer und Lothringer. Auch Franzosen, welche lediglich die deutsche Kultur verehrten, wurden der Subversion bezichtigt. Im März 1917 verdächtigte die Zeitung L’Ardennais de Paris et de la banlieue sogar französische Vertriebene, die aus dem Norden des Landes geflohen waren, der Spionage für Deutschland. Nachdem schon bis Januar 1915 560.000 Flüchtlinge registriert worden waren, erreichte ihre Zahl im September 1918 1,6 Millionen. Weitere 290.000 Angehörige alliierter Nationen waren in Frankreich entwurzelt worden. Die staatliche Flüchtlingshilfe, die das Engagement humanitärer Organisationen ergänzte, und die Teilhabe in kleinen Gemeinschaften in der neuen Heimat verhinderten, dass die Vorurteile und Verdächtigungen zu einer nachhaltigen Entfremdung der Flüchtlinge von der Französischen Republik führten.328 Darüber hinaus denunzierten radikale Nationalisten und Militaristen sozialistische und pazifistische französische Politiker wie den radikalsozialistischen Innenminister Louis Malvy (1875–1949), der sich für einen Kompromissfrieden 327 Erlebnisbericht in: Leopold Kern, Die Zivilgefangenen in Frankreich, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, S. 116–119, hier: S. 117. Hierzu und zum Folgenden auch: Gundula Bavendamm, Spionage und Verrat. Konspirative Kriegserzählungen und französische Innenpolitik, 1914–1917, Essen 2004, bes. S. 53, 87, 101, 334–337, 345 f.; Catherine Slater, Defeatists and Their Enemies. Political Invective in France 1914–1918, Oxford 1981, S. 24–41; Stibbe, Civilian Internment, S. 164 f.; Bischoff, Spy Fever; Altenhöner, Kommunikation, S. 282 f. 328 Alex Dowdall, Citizenship on the Move. Refugee Communities and the State in France, 1914–18, in: Peter Gatrell / Ljubov M. Žvanko (Hg.), Europe on the Move. Refugees in the Era of the Great War, Manchester 2017, S. 215–235, hier: S. 216, 217 (Angaben), 224 f., 230.

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einsetzte, als „innere Feinde“. So verbreitete der Schriftsteller und Journalist Léon Daudet (1867–1942), der u. a. in der Zeitschrift Action française Artikel veröffentlichte, ebenso spekulative wie weitreichende Verschwörungsvorstellungen, die oft lediglich auf Gerüchten basierten. Dabei prägte er neue denunziatorische Wörter wie emboché („verdeutscht“) und wandte den Vorwurf der „Spionitis“ (l’espionite) gegen seine Kritiker. Zudem benutzten er und andere Agitatoren den – im Französischen ungebräuchlichen – Buchstaben „k“, um den vermeintlich bedrohlichen deutschen Einfluss in Frankreich zu stigmatisieren. Diese Demagogen riefen beispielsweise zum Boykott von Unternehmen wie dem Schweizer Maggi-Konzern auf, der die Bouillon Kub produzierte und beschuldigt wurde, vergiftete Milch verarbeitet zu haben. Wegen ihrer deutschen Namen wurden auch elsässische Produkte diffamiert.329 Die nationalistische und militaristische Mobilisierung erfasste sogar Sozialisten wie den Herausgeber der Wochenzeitung La Guerre sociale, Gustave Hervé (1871–1944), der sein Organ 1916 bezeichnenderweise in La Victoire umbenannte. Er hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg um eine Einigung der miteinander rivalisierenden Parteien und Gruppen auf dem linken Spektrum Frankreichs bemüht. Dieses Projekt, das auf einer idealisierenden Deutung der französischen Nation beruhte, war aber gescheitert. Auch desillusioniert durch die Niederlage der Eisenbahnarbeiter in ihrem Streik 1910, forderte Hervé zunehmend einen nationalen Sozialismus unter einem starken politischen Führer, der die Nation einigen sollte. Der Erste Weltkrieg bestärkte ihn in seiner Abwendung vom sozialistischen Internationalismus zugunsten eines Chauvinismus, der sich gegen alle Feindstaatenangehörige richtete. Insgesamt führte das extreme Sicherheits- und Konspirationsdenken in Frankreich von 1914 bis 1918 damit eine innenpolitische Polarisierung herbei, welche die Sozialisten und Radikalsozialisten schwächte und die konservativen Kräfte im Militär und in der Polizei stärkte. Die Fremdenfeindlichkeit strahlte auch auf Großbritannien aus, wo die Sicherheitsdienste – wie dargestellt – über Versuche der Deutschen besorgt waren, Revolutionäre zu stärken, um damit die Kapitulation der Alliierten zu erzwingen.330 329 Hirschfeld / Krumeich, Deutschland, S. 61; Gatrell / Nivet, Refugees, S. 199 f. 330 Jean-Michel Faure, Forging a French Fighting Spirit: The Nation, Sport, Violence and War, in: Mangan (Hg.), Identities, S. 75–93; Winock, Nationalism, S. 249–253; Lademacher, Illusion, S. 376; Andrew, Defence of the Realm, S. 101; Nolan, Mirror, S. 72, 79, 99, 103; Holt, Nationalisms, S. 41. Zum Wandel Hervés, der in den 1920er und 1930er Jahren zu einem Anhänger des italienischen Faschismus und Marschall Philippe Pétains warden sollte: Michael B. Loughlin, Gustave Hervé’s Transition from Socialism to National Socialism: Another Example of French Fascism?, in: Journal of Contemporary History 36 (2001), S. 5–39, hier: S. 5, 11 f., 17 f.; Nolan, Mirror, S. 94 f.

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Die Repression und Internierung von Feindstaatenausländern in Frankreich Unter dem Druck der fremdenfeindlichen Kampagne wurden nach dem deutschen Angriff auf Belgien und Frankreich Restriktionen durchgesetzt, die schon seit 1913 konkret geplant worden waren. So sollten alle Ausländer (unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit) nach dem Beginn eines Krieges innerhalb von 24 Stunden Frankreich verlassen dürfen. Die Abteilung für Allgemeine Sicherheit (Direction de la Sûreté générale) des Innenministeriums wies die Präfekten am 1. August 1914 angesichts des drohenden Krieges an, Feindstaatenangehörige, die sich nicht zur Rückkehr in ihre Heimatländer entschlossen, aus den bedrohten nord- und südöstlichen Grenzregionen (Zone A) zu evakuieren, um hier die Sicherheit zu erhöhen. Am 2. August verhängte Präsident Raymond Poincaré (1860–1934) im ganzen Land den Belagerungszustand. Zwei Tage später verabschiedete die Nationalversammlung, die wenig später bis Januar 1915 suspendiert wurde, ein entsprechendes Gesetz. Alle „feindlichen Ausländer“, die Frankreich nicht bis zum Ende der Mobilmachung verlassen hatten, mussten sich unverzüglich bei den Polizeibehörden melden. Hier hatten sie eine Wohngenehmigung zu beantragen. Allein die Polizeipräfektur in Paris stellte daraufhin 157.822 dieser Bescheinigungen aus; 21.500 von ihnen wurden Deutschen und Bürgern Österreich-Ungarns befristet gewährt. Schon am 15. August zog die Regierung aber alle Genehmigungen zurück. Damit wurden ausländische Staatsangehörige zu Geiseln. Darüber hinaus verschärfte die französische Polizei die Überwachung von Ausländern und die Grenzkontrollen. Bürger der „Mittelmächte“, die der Spionage verdächtigt wurden, waren unverzüglich zu verhaften. Andere ausländische Staatsangehörige durften zunächst zwar noch das Land verlassen; sie konnten aber Züge kaum noch benutzen, da sie für die Mobilisierung benötigt wurden. Insgesamt wurden schon in den ersten Kriegswochen 75.000 Männer, Frauen und Kinder interniert, wenngleich viele von ihnen nur vorübergehend.331 Angesichts des zunächst schnellen Vormarsches deutscher Truppen in Belgien und Nordfrankreich ordnete das Innenministerium schon Ende August 1914 an, weitere Feindstaatenangehörige festzusetzen. Im September wurden sie in Durchgangslagern sortiert, um über eine dauerhafte Unterbringung der erfassten Personen und die Zielorte ihrer Zwangsevakuierung zu entscheiden. Vor allem wehrfähige deutsche und österreichische Männer wurden in Auffanglager (centres de réfuge) gebracht, die im Westen Frankreichs lagen. Die Regie331 Angaben nach: Caglioti, Subjects, S. 501; Giuseppi, Internment, S. 85. Vgl. auch Spiropoulus, Ausweisung, S. 66 f., 110; Farcy, Camps, S. 10 f.; Huber, Fremdsein, S. 229, 239; Bavendamm, Spionage, S. 58, 64, 335; Mühlhahn, Concentration Camp, S. 548 f.

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rung begründete diese restriktive Politik erneut mit dem Hinweis auf Sicherheitserfordernisse im Krieg. Auch sollten nach offizieller Darstellung deutsche Zivilisten vor Übergriffen von Franzosen geschützt werden, die vor allem in Paris zu Gewalt griffen. Allerdings waren Feindstaatenangehörige, deren Brüder oder Männer im Krieg für Frankreich kämpften, von der Repressionspolitik ausgenommen. Im Oktober 1914 unterzeichneten die französische Regierung und die deutsche Reichsleitung auf Vermittlung der Botschafter der beiden Länder schließlich ein Abkommen, das die Rückführung aller Frauen, Verletzten, Jungen unter 17 Jahren und Alten über 60 Jahren vorsah. Türken und Bulgaren erhielten sogar Aufenthaltsgenehmigungen (permis de séjour). Noch Anfang 1917 waren lediglich 42 Bulgaren interniert, die nach Auffassung der Behörden die Sicherheit Frankreich gefährdeten.332 Ende 1914 hatten die Behörden rund 45.000 deutsche Zivilisten und Bürger Österreich-Ungarns festgenommen und in insgesamt 58 Lager eingewiesen. Diese sollten jeweils einzelne Gruppen wie Deutsche, Österreicher, Familien, alleinstehende wie auch privilegierte und für besonders gefährlich gehaltene Feindstaatenangehörige aufnehmen. Daneben hatten die Behörden Polen, Tschechen, Griechen und Armenier festgesetzt. Zu anderen Camps ließ die Regierung Elsässer und Lothringer transportieren, die aus Deutschland zugewandert waren und deshalb als „innere Feinde“ galten. Die Polizei verhaftete sogar Schweizer, die Deutsch sprachen. Obgleich sie nach der Intervention des eidgenössischen Gesandten in Paris bis Mai 1915 entlassen wurden, verbreitete sich in der Schweiz vorübergehend die Forderung nach Repressalien gegen Franzosen. Nicht zuletzt erfasste die Internierungspolitik verdächtige oder sozial unerwünschte Gruppen wie Geistliche bzw. Prostituierte. Im Dezember 1915 waren allein 45.000 Deutsche und Staatsangehörige der Doppelmonarchie interniert worden. Dagegen belief sich die Zahl der festgesetzten Untertanen des Osmanischen Reiches noch am 1. Februar 1917 auf lediglich 324 von insgesamt 8.000, die vor dem Krieg in Frankreich gelebt hatten. Während der Innenminister für gefangene Frauen, Kinder und alte Männer zuständig war, trug das Kriegsministerium die Verantwortung für die wehrfähigen Männer, aber auch gefangene Zivilisten, die auf Schiffen und in den Kolonien gefangen genommen wurden.333 332 Farcy, Camps, S. 189 f.; Giuseppi, Internment, S. 87 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 56; Spiropoulus, Ausweisung, S. 67 f., 112. Aus zeitgenössischer, anklagender Perspektive: Behandlung der feindlichen Zivilpersonen, bes. S. 49. 333 Tara Zahra, The „Minority Problem“ and National Classification in the French and Czechoslovak Borderlands, in: Contemporary European History 17 (2008), S. 137–165, hier: S. 150; Stibbe, Internment, S. 57 f., 82; Hinz, Art. „Internierung“, S. 582 f.; Farcy, Camps, S. 20–27; Speed, Prisoners, S. 141, 144; Litschmann, Y. M. C. A., S. 320. Zu den Schweizern: Huber, Fremdsein, S. 229, 232, 239. Angabe nach: Spiropoulus, Ausweisung, S. 67 (Fussnote 9).

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Insgesamt belief sich die Zahl der Internierten in Frankreich im Ersten Weltkrieg auf rund 60.000, die Ende 1915 in 55 „Konzentrationslagern“ (camps de concentration) festgehalten wurden. Darunter waren 40.000 Feindstaatenangehörige und 20.000 aus verschiedenen Gründen Verdächtigte und „Zersetzer“. Darüber hinaus hatten zwei Lager Personen, die der Spionage bezichtigt worden waren, und fünf weitere zu überwachende Elsässer und Lothringer aufgenommen. Alles in allen waren in Frankreich 74 Camps eingerichtet worden.334 Die Internierungen wurden von der Regierung durchweg mit dem Hinweis auf die militärische und „nationale“ Sicherheit im Krieg gegen Deutschland begründet, vor allem während des Rückzugs an die Marne im Spätsommer und Herbst 1914. Besonders männliche Feindstaatenangehörige, die im wehrfähigen Alter waren, sollten daran gehindert werden, gegen Frankreich zu kämpfen. Demgegenüber hatten die Behörden bis Anfang 1915 nicht wehrfähige Feindstaatenangehörige entlassen und in ihre Heimatländer zurückgeführt. Darüber hinaus sollten Spionage und Sabotage bekämpft werden. Viele Deutsche wurden deshalb ausgewiesen. Dabei interpretierten die zuständigen Institutionen „Sicherheit“ weit, um damit auch Verstöße gegen internationale Abkommen und grundlegende Menschenrechte von Feindstaatenangehörigen zu rechtfertigen. So durften nach einem Gesetz vom 6. März 1915 Staatsangehörige aus gegnerischen Nationen für die Dauer des Krieges nicht mehr eingebürgert werden. Nach einem weiteren Gesetz vom 7. April 1915 wurde zudem naturalisierten Franzosen, die in gegnerischen Ländern geboren waren, ihre Staatsbürgerschaft entzogen. Das Gesetz zur Ausbürgerung blieb zwar hinter der Forderung französischer Nationalisten zurück, allen Franzosen, die in Feindstaaten geboren und nach 1889 eingebürgert worden waren, die Bürgerrechte anzuerkennen. 1917 wurde aber ein weiteres Gesetz erlassen, das den Entzug der französischen Staatsbürgerschaft für Personen erlaubte, die auch einem weiteren Land angehörten oder eine feindliche Macht unterstützten. Sogar 290 Schweizer, die als Anhänger Deutschlands galten, mussten daraufhin das Land verlassen. Insgesamt überprüften die Behörden 25.000 Einbürgerungen. Jedoch wurden von 1915 bis 1923 in Frankreich insgesamt lediglich 549 Personen ausgebürgert, davon 473 wegen Auflehnung gegen den Staat. Schon das 1915 erlassene Gesetz hatte darüber hinaus aber auch viele Franzosen in staatenlose Feinde verwandelt, die interniert und enteignet werden durften.335

334 Stibbe, Civilian Internment, S. 85 f. 335 Farcy, Camps, S. 31 f., 360; Speed, Prisoners, S. 144; Bavendamm, Spionage, S. 73, 94. Angaben nach: Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 121; Caglioti, Subjects, S. 526. Zu den Schweizern: Huber, Fremdsein, S. 237.

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Die Lager Die Camps für die Internierten (détenues) wurden im Allgemeinen bewusst weit entfernt von der Front eingerichtet. Nach dem Angriff der deutschen Truppen hatten die Behörden Feindstaatenangehörige – vor allem Deutsche – in den Süden (vom Département Aveyron bis nach Nizza) und Westen des Landes (so in die Bretagne, Vendée, Charentes und die Normandie) gebracht. Hier requirierten die Behörden vielerorts Stifte und Klöster, die den Kirchen nach der Trennung vom Staat 1905/06 entzogen worden waren. So wurden bis November 1914 allein 452 Feindstaatenangehörige – darunter 107 Frauen – im Kloster Garaison bei Lourdes (Pyrenäen) untergebracht. In dem Lager, das am 7. September 1914 eröffnet worden war, lebten Deutsche, Angehörige der österreichischungarischen Doppelmonarchie, Osmanen, Lothringer und Elsässer wie Albert Schweitzer (1875–1965). Am 31. Juli 1918 belief sich die Zahl der Internierten hier auf 2.130. Die sanitären Einrichtungen waren unzureichend, und viele Insassen des Lagers verfügten nicht über Bargeld. Nur wohlhabende Internierte konnten sich zusätzliche Waren leisten. Auch in Cellule (Auvergne), wo im Spätherbst 1914 165 Frauen, Kinder und ältere Männer ihre Rückführung nach Deutschland (über die Schweiz) vorbereiteten, bestand unter den Internierten soziale Ungleichheit fort. In der Bretagne ließ der Präfekt des Finistère auf der Halbinsel Île Longue ein Lager errichten, das am 5. November 1914 aber lediglich 714 Deutsche und Österreicher aufnahm, obwohl es auf die Unterbringung von 5.000 Insassen ausgerichtet war. Das Camp unterstand zunächst dem Kriegsministerium und ab 1916 dem Innenministerium. Insgesamt wurden hier bis Ende 1919 etwa 2.000 Deutsche, Österreicher und Ungarn festgehalten. Wohlhabende Internierte konnten Waren kaufen. Außerdem erhielten sie Pakete aus ihrer Heimat. Damit war ihre Versorgung gut, während die Mehrheit der Insassen im Verlauf des Krieges zunehmend unter Hunger und Mangel litten. In Frigolet (an der Mündung der Rhone) waren im Mai 1916 rund 250 Deutsche und 120 Bürger Österreich-Ungarns interniert. Obgleich sich in den Lagern die harten Lebensbedingungen nur allmählich verbesserten, ermöglichten die Kommandanten den zehntausenden deutschen und österreichischen Zivilisten Eigeninitiative, aus der ein reges kulturelles Leben und sportliche Aktivitäten hervorgingen. So richteten die Gefangenen Büchereien und Leseräume ein. Allerdings beobachtete die Regierung die Behandlung französischer Zivilinternierter in Deutschland genau, so dass sie als Reaktionen wiederholt Erleichterungen gewährte oder das Lagerregime verschärfte.336 336 Pöppinghege, Lager, S. 60, 113 f.; Farcy, Camps, S. 290–292; Kern, Die Zivilgefangenen, S. 118. Zum Lager Garaison: José Cubero, Le camp de Garaison. Guerre et nationalités 1914–

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Dabei unterschieden sich die Bedingungen in den Regionen und einzelnen Camps. So waren die Freiheiten, aber auch die Unterbringung und Ernährung auf Korsika offenbar deutlich besser als im Süden und Westen des französischen Festlandes, wenngleich Versorgungstransporte des IKRK auch auf die Insel wiederholt stockten, besonders im Winter 1914/15. 337 Auf Korsika gingen die Kommandanten der vier Lager aber überwiegend pragmatisch vor, so im Camp Corbara ab Oktober 1914. Zudem nahmen die Bewohner der Insel die Fremden vielerorts freundlich auf. Auf Korsika lebten insgesamt 2.000 Zivilinternierte in fünf Lagern. Viele von ihnen meldeten sich freiwillig zur Arbeit, um Langeweile zu vermeiden. Auch die Versorgung war gut, und besonders in Corbara entwickelte sich ein reges Lagerleben, zu dem internierte Künstler und Wissenschaftler kräftig beitrugen. Auch waren die Behörden um eine gute gesundheitliche Versorgung der Internierten in dem Camp bemüht, da Repressalien gegen französische Gefangene in Deutschland vermieden werden sollten. Daher kam es in dem Lager weder zu Epidemien noch zu Gewalt und Ausschreitungen. Auf Reziprozitätsbeziehungen zu den gegnerischen „Mittelmächten“ verweist auch die Offenheit gegenüber Inspektionsgruppen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und der freie Zugang für Untersuchungskommissionen der Schweiz und der USA.338

Internierung in den Kolonien Feindstaatenangehörige, die nicht unverzüglich zwangsrepatriiert wurden, behielt die französische Regierung in Obhut, um sie als Geiseln zu verwenden. Dies traf auch auf Deutsche zu, die in den Kolonien des Kaiserreichs in die Hand der französischen Behörden gefallen waren. So hatte Großbritannien dem Alliierten Frankreich allein rund 280 Deutsche übergeben, die nach der frühen Eroberung Togos (mit einer wichtigen Funkstation) im August 1914 aufgegriffen worden waren. Anschließend internierte die französische Regierung diese Feindstaatenangehörigen im Lager Abomey in der Kolonie Dahomey (Benin, Westafrika). 243 Deutsche wurden aus Togo und von der Goldküste nach Groß1919, Morlaàs 2017; Das Internierungslager Garaison (https://blogs.univ-tlse2.fr/garaison/; Zugriff am 1. August 2019). Zum Camp Île Longue: Didier Cadiou, Un camp d’internement sur l’Ile Longue, in: Avel Gornog 5 (1997), S. 4–11; ders., Les derniers mois du camp d’internement de l’Ile Logue, in: Avel Gornog 18 (2010), S. 34–50. Vgl. auch den „Bericht des Beauftragten der Amerikanischen Botschaft in Paris Percival Dodge über die Besichtigung der Gefangenenlager in Cellule, Riom und Roanne“ vom November 1914 in: NA, FO 383/106. 337 NA, FO 383/106 (Bericht vom 23. Februar 1915). 338 Giuseppi, Internment, S. 89–106; Stibbe, Civilian Internment, S. 85.

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britannien gebracht. Besonders die Internierung in Abomey nahmen die gefangenen Deutschen als Degradierung wahr, da sie dort von Einheimischen bewacht und vereinzelt auch malträtiert wurden. Im Lager Sebdou (Algerien) mussten deutsche Internierte die Straßen im Camp und in der Stadt vor den Augen der arabischen Einwohner säubern. In der Kritik der Betroffenen und ihrer Regierung an dieser Behandlung war bereits die spätere Propaganda gegen die „schwarze Schmach“ während der Besetzung des Ruhrgebietes durch französische Truppen (darunter auch Soldaten aus den Kolonien) 1923 angelegt.339 Über Dahomey hinaus richtete Frankreich eine Vielzahl von Lagern im gesamten Kolonialreich ein, von Indochina über Madagaskar nach Tahiti. Allein sechs Camps wurden in Algerien etabliert. Im Gegensatz zu Großbritannien verschiffte die französische Regierung auch gezielt deutsche und österreichische Internierte vom Mutterland in die Kolonien. Die Militäruntersuchungsstelle für Verletzungen des Kriegsrechts im Preußischen Kriegsministerium nahm vor allem zur Behandlung von Kriegsgefangenen im Lager Abomey Ermittlungen auf. Als Repressalie zwang die deutsche Regierung 1915 400 internierte französische Zivilisten zu harter Arbeit in den Wiesen und Sümpfen am Rhein. Darüber hinaus wurden 30.000 kriegsgefangene Franzosen in Lager im besetzten Westen Russlands transportiert. Auch auf Druck des britischen Bündnispartners lenkte Frankreich schließlich ein und brachte Deutsche aus Abomey und Lagern in Nordafrika in das Mutterland zurück. Einige Gefangene überließ die französische Regierung sogar der Schweiz, wo sie daraufhin interniert wurden. Auch gegen die Unterbrechung der Postverbindung deutscher Gefangener in Dahomey in ihre Heimat reagierte die Reichsleitung mit einer Repressalie. Französischen Gefangenen in den Lagern Holzminden, Friedberg und Ohrdruf wurde untersagt, Briefe zu versenden. Aber auch die britische Regierung weigerte sich 1916, deutsche Gefangene französischen Behörden zu übergeben, denn sie kritisierte den Umgang des Bündnispartners mit diesen Opfern des Krieges. Über bilateral verhängte Vergeltungsmaßnahmen hinaus war die Behandlung von Feindstaatenangehörigen damit in ein komplexes Beziehungsgeflecht zwischen den kriegführenden Staaten eingebunden.340

339 Stibbe, Civilian Internment, S. 147. Rassistische Vorurteile waren aber auch vom Einsatz farbiger Soldaten genährt worden, die im Zweiten Weltkrieg an der Westfront für Frankreich und Großbritannien gekämpft hatten. Vgl. Gisela Lebzelter, Die „Schwarze Schmach“. Vorurteile – Propaganda – Mythos, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 37–58; Killingray, Africans, S. 182; Stibbe, Civilian Internment, S. 51 f. 340 Murphy, Captivity, S. 45, 151, 160–168, 179; Pöppinghege, Lager, S. 63; Stibbe, Civilian Internment, S. 44, 85. Zur Internierung in Algerien: Thénault, Internment, S. 192 f.

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Wirtschaftliche Einschränkungen und Meldepflicht Die Unterdrückung ziviler Feindstaatenangehöriger erstreckte sich auch auf ihre ökonomischen Aktivitäten. Schon ein Dekret vom 27. September 1914 untersagte Geschäftsbeziehungen mit Feindstaaten. Das Eigentum von Bürgern dieser Länder wurde ohne gesetzliche Grundlage beschlagnahmt. Kommerzieller Austausch von Franzosen mit Angehörigen von Feindnationen war nach einem Gesetz, welches das Parlament am 4. April 1915 verabschiedete, streng zu bestrafen. Wie Justizminister Aristide Briand (1862–1932) zwei Tage zuvor erläutert hatte, gründete die Politik Frankreichs in der Wirtschaft auf dem Ziel, Eigentum von Feindstaatenangehörigen zu beschlagnahmen, um die ökonomischen Interessen von Franzosen im Ausland zu schützen. Die Eingriffe in fremdes Vermögen wurden in Frankreich von der Regierung und von Gerichten angeordnet. Die Präfekten beschlagnahmten daraufhin schon bis Ende Juli 1915 nicht weniger als 2.961 Unternehmen. Darüber hinaus wurde das Vermögen von 3.744 Personen sequestriert. Besonders die Gerichte konfiszierten vielerorts willkürlich Eigentum, auch auf der Grundlage von Gerüchten und Denunziationen. Dieses Vorgehen führte zu einer andauernden Rechtsunsicherheit.341 Darüber hinaus unterlagen alle Ausländer seit August 1914 der Meldepflicht. Damit konnten die französischen Behörden sie erfassen, überprüfen und festsetzen. In den Regionen ließen die Präfekten vor allem die Gesinnungen, Nationalitäten und Loyalitäten prüfen. Slawen, die als Gegner Deutschlands, des russischen Zarenreiches und Österreich-Ungarns galten (besonders Polen, Tschechen und Slowaken), wurden freigelassen. Ebenso konnten Osmanen in Frankreich auf eine recht großzügige Behandlung hoffen. Zwar drängte das Innenministerium auf eine Internierung auch dieser Gruppe; das Außenministerium setzte sich aber letztlich mit der Ansicht durch, dass Franzosen im Osmanischen Reich geschützt werden müssten und reiche türkische Händler ihre wirtschaftlichen Aktivitäten in Frankreich fortsetzen sollten. Sie mussten sich aber wie alle Ausländer grundsätzlich bei der Polizei registrieren lassen, die nach Prüfung der einzelnen Personen jeweils eine Aufenthaltsgenehmigung (permis de séjour) erteilte. 1917 wurde die Registrierungspflicht nochmals verschärft, und die Behörden führten „rote Heftchen“ (carnets rouges) ein, in die alle verfügbaren Informationen über einzelne Personen eingetragen wurden. Andererseits einigten sich die Regierungen Deutschlands und Frankreichs An341 Angaben nach: Caglioti, Property Rights, S. 10. Vgl. auch Annie Deperchien, Le juge et les biens allemandes en France pendant la première guerre mondiale, in: Stéphane AudoinRouzeau u. a. (Hg.), La politique et la guerre. Pour comprendre le XXe siècle européen. Hommage à Jean-Jacques Becker, Paris 2002, S. 82–93.

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fang 1916 auf eine Vereinbarung, nach der Männer unter 17 und über 60 Jahren ebenso ausgetauscht werden sollten wie alle Frauen. Ein Abkommen zu dieser Regelung wurde aber erst am 26. April 1918 abgeschlossen.342

Die Politik gegenüber anderen „inneren Feinden“: Kriegsgegner, ethnische Minderheiten und unerwünschte gesellschaftliche Gruppen Als sich 1917/18 die Fremdenfeindlichkeit radikalisierte, verbreiteten Nationalisten in Frankreich – ähnlich wie in Großbritannien – umfassende Verschwörungsvorstellungen, die sich gegen alle „inneren Feinde“ richteten. Über Angehörige gegnerischer Staaten hinaus gerieten damit auch französische Pazifisten und Sozialisten unter Sabotage- und Spionageverdacht. Die zunächst unerklärliche Niederlage in der Schlacht an der Aisne (am Chemin des Dames) im April und Mai 1917, die Streiks in der Rüstungsindustrie und die darauffolgende Meuterei ganzer Armeeverbände verlieh im Frühjahr 1917 Sicherheitsängsten enorm Auftrieb. Auch wegen der zunehmenden Engpässe in der Versorgung – besonders mit Lebensmitteln – trafen Angriffe auf „innere Feinde“, die angeblich besonders knappe Güter horteten und mit ihnen spekulierten, unter den leidenden Franzosen auf erhebliche Resonanz. Bereits im Juli 1916 war eine Steuer für Kriegsgewinne eingeführt worden. Darüber hinaus erlaubte es ein im August 1917 erlassenes Gesetz den Behörden, kriegsnotwendige Güter zu requirieren. Unter dem Druck der Militärs und der nationalistischen Opposition gerieten die Radikalsozialisten, die sich der Agitation gegen den „inneren Feind“ bislang hinhaltend widersetzt hatten, vollends in die Defensive. So musste Innenminister Malvy, der auch gegen tiefgreifende staatliche Zwangsmaßnahmen aufgetreten war, am 31. August 1917 zurücktreten. Dagegen verstärkte die Union des Grandes Associations contre la Propagande Ennemie, welche die Mobilisierungsbemühungen verschiedener politischer Verbände und gesellschaftlicher Vereinigungen koordinierte, ihre Kriegspropaganda.343 Als französische Truppen im Frühjahr 1918 angesichts der deutschen Offensiven an der Marne erneut zurückweichen mussten und sich auch wiederum Arbeitsniederlegungen ausbreiteten, nahmen die Angriffe auf „innere Feinde“ erneut zu. Vor allem die Oktoberrevolution in Russland hatte in der Regierung, aber auch im französischen Bürgertum Sicherheitsängste verstärkt, die haltlosen Gerüchten Auftrieb verlieh. So zeigten sich die Staatsorgane überzeugt, 342 Protokoll vom 19. Mai 1915 in: LSF, FEWVRC/EME/6/1/1. Vgl. auch Bavendamm, Spionage, S. 90; Farcy, Camps, S. 35 f.; Spiropoulus, Ausweisung, S. 80 f. (Anm. 20). 343 Bavendamm, Spionage, S. 269–330, 342 f.; Horne, Remobilizing for ‚Total War‘, S. 198 f.

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dass „Verräter“ Gold der russischen Bolschewiki über neutrale Länder (besonders die Schweiz und die Niederlande) nach Frankreich gebracht hätten, um hier revolutionäre Kräfte in der Arbeiterschaft zu finanzieren. Im Gegensatz zu Großbritannien, wo die Revolutionsfurcht die Agitation gegen die Deutschen 1917/18 zusehends überlagerte, blieb der Antibolschewismus in Frankreich eng auf die Germanophobie bezogen. Außer den Deutschen, Österreichern und Ungarn ließ der neue französische Ministerpräsident Georges Clemenceau (1841– 1929) deshalb die französischen Arbeiter und Pazifisten scharf überwachen. In einzelnen Städten – so in Reims 1918 – erschütterten auch Ausschreitungen marodierender französischer Soldaten das Vertrauen der Bevölkerung. Unsicherheit verband sich mit einer politischen und gesellschaftlichen Radikalisierung, die sich gegen vermeintliche Spione und Verräter richtete. Erst im Sommer 1918 wuchs die Zuversicht, und der Waffenstillstand vom 11. November entzog Feindbildern vorübergehend die Grundlage.344 Unter dem Druck des totalen Krieges galten auch ethnische Minderheiten weithin als „innere Feinde“. Ausländern erlegten die Sicherheitsbehörden 1917 eine generelle Ausweispflicht auf. Ähnlich wie in Großbritannien waren die nationalen Loyalitäten einzelner Gruppen von den französischen Behörden aber oft kaum zu erkennen und zu erfassen. So bezogen sich Sonderregelungen auf Polen, Tschechen und Italiener, die jeweils Staatsangehörige Deutschlands oder Österreich-Ungarns waren. Obwohl slawische Minderheiten der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie grundsätzlich von der Internierung ausgenommen waren, trafen sie in der Bevölkerung weithin auf Vorbehalte. Verdächtigungen von Illoyalität richteten sich auch gegen Elsässer und Lothringer, die nach 1871 aus Deutschland gekommen waren. Im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung in den östlichen Grenzprovinzen, die Frankreich für sich beanspruchte, galten diese Einwanderer als Feindstaatenangehörige. Zudem wurden deutsche Beamte, die bei der vorübergehenden Eroberung der Distrikte Thann, Dannemarie und Masevaux durch die französische Armee festgenommen worden waren, nach Frankreich verschleppt und dort als Geiseln festgehalten. Wegen der nationalistischen Vorbehalte gegen Elsässer und Lothringer trafen Anweisungen der Regierung, alteingesessene Bewohner der beiden Grenzprovinzen nicht als Feindstaatenangehörige, sondern als gleichberechtigte Franzosen zu behandeln, bei den lokalen Behörden vielerorts auf Widerstand. Insgesamt

344 Patrick J. Flood, France 1914–18. Public Opinion and the War Effort, Houndmills 1990, S. 118–139; François Cochet, Vom Zweifel am Erfolg zum Ende der Schicksalsprüfung – das Jahr 1918 im französischen Hinterland, in: Jörg Düppler / Gerhard Paul Groß (Hg.), Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, München 2009, S. 285–298, bes. S. 285, 289, 296; Gerwarth / Horne, Bolshevism, S. 43, 47 f.

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blieb die Politik gegenüber Minderheiten, deren nationale Loyalität Zweifel weckte, im Ersten Weltkrieg durchweg widersprüchlich.345 So deportierten die französischen Behörden im Ersten Weltkrieg Tausende Elsässer und Lothringer in die zentralen und westlichen Provinzen des Landes. Sie wurden auch nach Südfrankreich transportiert und dort in Lager eingewiesen. Büros für die Evakuierung (bureaus d’évacuation des étrangers) registrierten und befragten die Insassen. Flüchtlinge, Evakuierte und Geiseln aus dem Elsass und aus Lothringen wurden von einer interministeriellen Kommission überprüft, denen außer Beamten und Soldaten Vertreter der beiden Minderheiten in Frankreich und Emigranten aus dem deutschen Reichsland Elsass-Lothringen angehörten. Im Anschluss an die Untersuchungen vergab das Gremium drei unterschiedliche Typen von Ausweisen für Gruppen, deren Loyalität gegenüber Frankreich als eindeutig, fraglich oder nicht vorhanden galt. Allerdings konnten nach einem Gesetz vom 5. August 1914 Elsässer und Lothringer, die sich freiwillig zur französischen Armee gemeldet hatten, die Staatsbürgerschaft erwerben und damit von der Deportation und Internierung befreit werden. Andere, die ihre Loyalität gegenüber Frankreich erklärten, wurden ab 1915 freigelassen und anschließend nur noch konfiniert. Damit mussten sie sich lediglich regelmäßig bei der Polizei melden.346 Die Regelungen gegenüber den Bewohnern der östlichen Grenzregionen entsprachen dem Anspruch der französischen Regierung auf Lothringen und das Elsass. Die Forderung nach Wiedereingliederung der 1871 an Deutschland verlorenen Gebiete verbreitete vor allem das Bureau spécial d’études d’AlsaceLorraine, das 1917/18 zwei Millionen Broschüren, sechs Millionen Flugblätter und zehn Millionen Postkarten verteilte. Auch 600 Zeitungsartikel richteten sich an die anderen Entente-Mächte, aber ebenso an neutrale Staaten, besonders die Schweiz. Populäre Symbole der (konstruierten) elsässischen und lothringischen Volkskultur sollten die „verlorenen Schwestern“ fest im Bewusstsein der Franzosen verankern. Aus der Sicht der französischen Nationalisten gewährleistete nur die Reintegration Lothringens und des Elsass die Sicherheit ihres Landes und Europas. Auch die Regierung lehnte eine Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit ebenso strikt ab wie Forderungen nach Autonomie. Die Bewohner der „verlorenen Provinzen“ waren im Ersten Weltkrieg mit der Erwartung konfrontiert, sich eindeutig zu Deutschland oder Frankreich

345 Smith, Kiss, S. 28, 34 f.; Torpey, Invention, S. 112; Pitzer, Night, S. 112. 346 Hierzu und zum Folgenden: Jean-Noël Grandhomme, Internment Camps for German Civilians in Finistère, France (1914–1919), in: The Historian 68 (2006), S. 792–810; Smith, Kiss, S. 31 f., 35, 44–47; Boswell, Liberation, S. 134; Kern, Die Zivilgefangenen, S. 118 f.

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zu bekennen. Sie wurden damit einem integralen Nationalismus unterworfen, der Mehrfachidentitäten nicht zuließ.347 Demgegenüber sollten alle Franzosen und Ausländer, deren Loyalität gegenüber Frankreich bezweifelt wurde, unverzüglich und ohne Ausnahme interniert werden. Um die Einstellung der Betroffenen festzustellen, richtete die französische Regierung im November 1914 eine interministerielle Kommission (Commission interministérielle) ein, die Deportierte in vier Gruppen einteilte. Überzeugte Deutsche wurden als Geiseln (otages) unverzüglich interniert. Sie übernahm das Kriegsministerium, um eine völkerrechtskonforme Behandlung französischer Kriegsgefangener und Zivilinternierter in Deutschland zu erzwingen. In eine weitere Kategorie ordnete die Kommission „Verdächtige“ ein. Assimilierte Franzosen wurden nicht in geschlossene, sondern in offene Lager gebracht. Nach dem Abschluss der Prüfung mussten nur 7,3 Prozent der internierten Elsässer und Lothringer in den Camps belassen werden. Aus der Sicht der Behörden gefährdeten sie die „nationale Sicherheit“.348 Als Frankreich im Frühjahr 1916 durch den zunächst erfolgreichen Angriff deutscher Truppen bei Verdun erneut an den Rand einer Niederlage geriet, zugleich Luftangriffe deutscher Zeppelins erhebliche Schäden in Paris verursachten und auch die Durchhaltebereitschaft in der Arbeiterschaft zurückging, führten Militärs und Nationalisten die prekäre Lange des Landes erneut auf die vorgeblich subversive Aktivität des „inneren Feindes“ zurück. Im „totalen Krieg“ (guerre totale) kämpfte der deutsche Gegner aus der Sicht Daudets und der anderen Aktivisten der Action française nicht mehr nur an der Front, sondern auch im Hinterland. Sogar die 1898 im Kampf um die Rechte des Hauptmanns Alfred Dreyfus gegründete Ligue des Droits de l’homme unterstützte den Krieg Frankreichs gegen das verhasste Deutschland, und sie bekannte sich zur Union sacrée. Dabei bekundete die Ligue ihre Unterstützung der Menschenrechtserklärung der französischen Revolutionäre vom 26. August 1789. Allerdings war damit der innenpolitische Konflikt nur vorübergehend überdeckt. So lehnte die Ligue den reaktionären Antirepublikanismus ab, der sich im Ersten Weltkrieg in Frankreich verbreitete. Im Besonderen richtete sich die Kritik gegen die Allianz mit dem russischen Zarenreich, die Zensur und die militaristische Kriegspropaganda. Überdies hegte eine Minderheit der Mitglieder Vorbehalte gegen die Zuweisung der Kriegsschuld ausschließlich an Deutschland. Diese Menschen-

347 Angaben nach: Joseph Schmauch, Au Pays de la Marseillaise. French Propaganda and the Question of Alsace-Lorraine during the First World War in: Maria Fernanda Rollo / Ana Paula Pires / Noémia Malva Novais (Hg.), War and Propaganda in the XXth Century, Lissabon 2013, S. 75–89, hier: S. 81; Farcy, Camps, S. 60. 348 Grandhomme, Internment Camps, S. 794–798.

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rechtsaktivisten riefen zu einem Kompromissfrieden auf der Grundlage nationaler Selbstbestimmung auf. Demgegenüber beharrte die Mehrheit in der Ligue auf ihrer Überzeugung, dass allein ein Sieg über Deutschland Frieden ermögliche.349 Dem absoluten Primat des Sicherheitsdenkens verhaftet, nahmen die Behörden pauschal alle Deutschen in öffentlichen Ämtern fest. Darüber hinaus wurden 8.000 Männer und 3.000 Frauen und Kinder deportiert. Ab April 1917 mussten auch nicht internierte Ausländer, die über 15 Jahre alt waren, besondere Ausweise mitführen, um ihre polizeiliche Kontrolle zu erleichtern. Daraufhin beantragten bis zum 30. Mai allein 140.252 Personen diese Dokumente für den Großraum Paris. Über den Kreis der Ausländer hinaus richtete sich der Verdacht nunmehr erneut besonders gegen französische Pazifisten, Anarchisten und Linkssozialisten. Auf der „Klaviatur eines exzessiven Sicherheitsdenkens“ wurden damit Maßnahmen zur politischen Repression und gesellschaftlichen Disziplinierung durchgesetzt.350 Die Kriminalisierung erfasste auch gesellschaftliche Randgruppen. Die Regierung und die staatliche Administration verdammten dabei Vagabunden und „Asoziale“ als Sicherheitsrisiko, da sie sich oft der Überwachung durch die Behörden entzogen. Die Sicherheitsorgane appellierten deshalb an die Bevölkerung, Unregelmäßigkeiten und auffälliges Verhalten zu melden. Unter dem Druck dieser staatlichen Vorgaben denunzierten viele Franzosen Nachbarn, die sich nicht eindeutig zu Frankreich bekannten. Dabei wurde gesellschaftliche Nonkonformität oft als nationale Illoyalität gebrandmarkt. Viele Feindstaatenangehörige und „Unerwünschte“ (indésirables), die schon bei Kriegsbeginn aus den Kampfzonen verschleppt worden waren, verbrachten damit die Kriegsjahre in Lagern. Diese wurden jeweils von Präfekten und Unterpräfekten verwaltet. In den Camps verfügten die Internierten über einen eng begrenzten Handlungsspielraum. So konnten sie zwar mit Hilfe internationaler Organisationen wie der YMCA ihre Freizeit gestalten. Dennoch waren die Lebensbedingungen oft bedrückend. Deutsche Internierte kritisierten in Lagerzeitungen deshalb wiederholt das französische Verständnis von humanité. Sie richteten Beschwerdebriefe an das IKRK, das daraufhin die Camps inspizierte.351

349 Cabanes, Great War, S. 60; Laqua, Reconciliation, S. 213; Winock, Nationalism, S. 119; Ingram, War Gult Problem, S. 31, 33 f., 38, 45. 350 Zahra, „Minority Problem“, S. 150; Watson, Ring, S. 125. Zitat: Bavendamm, Spionage, S. 101, 111, 148, 156 f., 168, 173. Angabe nach: Caglioti, Subjects, S. 509. 351 Thénault, Internment, S. 189; Watson, Ring, S. 795, 800–806; Speed, Prisoners, S. 45.

4.3 Frankreich



361

Inspektionen und der Austausch von Internierten Für die zivilen Feindstaatenangehörigen setzten sich auch in Frankreich besonders Diplomaten neutraler Staaten ein, die als Schutzmächte agierten. So intervenierte der spanische Konsul in der Bretagne zugunsten einiger Internierter in dem Département. Vor allem aber besuchten amerikanische Inspektoren, die in der US-Botschaft in Paris arbeiteten, bis April 1917 in Frankreich, aber auch in Algerien und Tunesien 331 Kriegsgefangenenlager, Militärhospitäler und 215 andere Einrichtungen, in denen zivile Feindstaatenangehörige interniert waren. Die Befunde ihrer Besichtigungen und Gespräche hielten sie in 629 Berichten fest. Ebenso inspizierten Vertreter des IKRK in Frankreich Lager, in denen sie die Insassen z. T. fotografierten. Die französischen Behörden bestanden aber auf dem Grundsatz der Reziprozität. Schon im Oktober 1914 hatten sich Deutschland und Frankreich auf eine Entlassung von Frauen und Kindern geeinigt, die der jeweils gegnerischen Nation angehörten. 1916 wurden auch kranke und männliche Internierte, die unter 17 Jahre und über 55 Jahre alt waren, in diese Übereinkunft einbezogen. Damit gewannen 20.000 Deutsche ihre Freiheit zurück. Auch wurde der Umfang von Briefen, die Zivilinternierte schreiben durften, ab Oktober 1916 nicht mehr begrenzt, nachdem die deutsche Reichsleitung einer entsprechenden Regelung für Franzosen zugestimmt hatte, die im Kaiserreich festgehalten wurden. Im Januar 1916 hatten sich deutsche und französische Unterhändler darüber hinaus erneut über die Freilassung kranker Gefangener verständigt, die in die Schweiz gebracht wurden. Im Mai 1916 schlossen sie zudem ein Abkommen, nach dem kranke Internierte in der Eidgenossenschaft versorgt werden konnten. Ein Jahr später trafen sich deutsche und französische Bevollmächtigte in Bern, um einen direkten Austausch von Offizieren im Alter von über 48 bzw. 55 Jahren zu vereinbaren. Erstmals einigten sie sich im Mai 1917 auch darauf, Zivilinternierten grundsätzlich dieselben Rechte zu gewähren wie Kriegsgefangenen. Nach einem Vertrag zwischen den beiden Regierungen vom 26. April 1918 konnten Internierte sogar in ihre Heimat zurückgeführt werden.352 Das Abkommen, das am 15. Mai in Kraft trat, löste in der Entente aber eine Verstimmung aus, denn die britische Regierung fühlte sich von Frankreich übergangen, dessen Regierung sich ihrerseits auf eine ähnliche Vereinbarung

352 Guillaume de Syon / Lars Ericson, Neutral Internees, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 201–204, hier: S. 200; Jonathan F. Vance, Exchange, in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 88– 90, hier: S. 89; Kern, Die Zivilgefangenen, S. 119; Giuseppi, Internment, S. 121; Hinz, Art. „Internierung“, S. 582; Stibbe, A Question of Retaliation?, S. 20; Speed, Prisoners, S. 27, 30 (Angaben), S. 33–37.

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zwischen Großbritannien und Deutschland vom Juli 1917 berief. Nach dem deutsch-französischen Abkommen vom April 1918 konnten alle internierten Zivilisten ausgetauscht werden. Allerdings setzte die französische Regierung die Repatriierung deutscher Gefangener wegen Differenzen über die Interpretation einzelner Bestimmungen im Sommer 1918 aus. Erst im Oktober konnte die wechselseitige Heimführung wieder aufgenommen werden.353

Bilanz Insgesamt war die Sicherheitspolitik der französischen Regierung keineswegs einheitlich und systematisch. Vielmehr vertraten die Polizisten und die Befehlshaber der militärischen Sicherheitskräfte unterschiedliche Verständnisse, Konzeptionen und Kriterien nationaler Zugehörigkeit. In diesen Auseinandersetzungen gelang es dem französischen Außenministerium, das über die diplomatischen Folgen einer exzessiven Überwachungs- und Internierungspolitik besorgt war, wiederholt, die Repression von Feindstaatenangehörigen zu mildern und besonders gravierende Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Aber auch die Kommandeure der Internierungslager verfügten in Frankreich – ebenso wie in Deutschland und Großbritannien – über einen erheblichen Entscheidungsspielraum, den sie z. T. nutzten, um den Verhafteten mit begrenzten Zugeständnissen entgegen zu kommen und damit Unruhen und Aufstände in den Camps zu verhindern. So entschärften sie zusammen mit den Präfekten in den Départements die grundsätzlich detailliert festgelegten Bestimmungen zur Postzensur, zum Freigang und zu den Sanktionen, die bei Verstößen gegen die jeweilige Lagerordnung zu verhängen waren. Damit sollte Frankreich – vor allem gegenüber den neutralen Staaten – als Land präsentiert werden, in dem Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einen hohen Stellenwert einnahmen.354 Trotz dieser Einschränkungen des Primats der nationalen Sicherheit bildete sich mit den Internierungslagern, in die auch viele „Unerwünschte“ eingewiesen wurden, aber ein „univers concentrationnaire“ heraus, der auf dem Entzug grundlegender Freiheitsrechte basierte.355 Alles in allem mussten in Frankreich während des Ersten Weltkrieges 40.000 Feindstaatenangehörige in Lagern leben. Anfang 1918 waren noch etwa 12.000 Personen interniert, davon fünf Prozent Frauen und vier Prozent Kin353 NA, FO 383/472 (Vermerke vom 12. und 27. April sowie vom 21. Mai und 13. Oktober 1918; Telegramme vom 10. und 15. Mai sowie vom 16. Oktober 1918). 354 Farcy, Camps, S. 37, 40 f., 203, 206; Grandhomme, Internment Camps, S. 807. 355 Watson, Ring, S. 226.

4.3 Frankreich



363

der.356 Viele andere Bewohner der östlichen Grenzregionen wurden überwacht. Nur diejenigen von ihnen, die sich offen zu Frankreich bekannten, blieben unbehelligt. Zwar hatte sich die französische Regierung mit Deutschland im Berner Vertrag im März 1918 nicht nur auf eine Mindestversorgung mit Lebensmitteln geeinigt, sondern auch auf eine wechselseitige Repatriierung kranker Zivilisten; viele Staatsangehörige der „Mittelmächte“ wurden aber bis zum Abschluss des Versailler Friedensvertrages (Juni 1919) festgehalten, um sie als Faustpfand nutzen zu können. So befanden sich noch im Januar 1919 rund 2.500 deutsche, 7.000 österreichische und 3.000 ungarische Zivilisten in französischer Gefangenschaft. Von den ehemaligen Staatsangehörigen der Doppelmonarchie durften allerdings 2.833 bis Juni in ihre Heimat zurückkehren. Dennoch kennzeichnete die Politik in Frankreich ein umfassendes Verständnis öffentlicher Sicherheit, die nicht nur durch Feindstaatenangehörige, sondern auch durch die eigenen Bürgern gefährdet schien.357

Auswirkungen auf die Entwicklung von Politik und Gesellschaft nach 1918 Im Anschluss an den Waffenstillstand wurden Minderheiten, die als Sympathisanten oder Unterstützer Deutschlands galten, weiterhin verdächtigt, besonders im Elsass und in Lothringen. Außerdem erstickte die französische Regierung das Autonomiestreben eines im November 1918 eingerichteten Nationalrates. Daraufhin übernahm die zentrale Administration in Paris die Verwaltung der beiden Provinzen. Hier galten offiziell nur Bewohner, die von den im Dezember 1918 eingerichteten Untersuchungskommissionen (commissions de triage) freigesprochen wurden, als Franzosen. Die „Säuberung“ (épuration), die sich bis 1920 erstreckte, zielte auf eine scharfe Trennung von „guten“ und „schlechten“ Elsässern und Lothringern. Dazu sollte die Bevölkerung im Hinblick auf ihre nationale Loyalität gegenüber Frankreich überprüft werden. Jedoch waren die Mitglieder der Kommissionen, die in der Regel von Offizieren geleitet wurden, oft nicht mit den rechtlichen Problemen vertraut. Da sie zunächst auch ohne klare Anweisungen und Vorgaben arbeiten mussten, drohte die epuration schon im 356 Angaben nach: Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 185; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 124 f.; Zahra, „Minority Problem“, S. 139; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 92. Erst 1927 erkannte das französische Parlament Elsässern und Lothringern, die zu Unrecht verschleppt worden waren, eine Entschädigung zu. Vgl. Boswell, Liberation, S. 162. 357 James W. Garner, Treatment of Enemy Aliens, in: American Journal of International Law 13 (1919), Nr. 1, S. 22–59, hier: S. 47–50. Angaben nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 268 f. Vgl. auch Kramer, Kriegsrecht, S. 286; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 193; Pöppinghege, Lager, S. 92. Angabe nach: Becker, Captive Civilians, S. 267.

364  4 Sicherheit und „innere Feinde“

Januar 1919 in ein Chaos zu münden. Deshalb wurden im Februar drei Kategorien eingeführt. Während offensichtlich unschuldige Personen (1) unbestraft blieben, sollten Beschuldigte, deren Loyalität fragwürdig war (2) überwacht werden. Verdächtige (3) waren zu internieren oder auszuweisen. Der Rest der Bevölkerung erhielt Karten, die nach der Herkunft der Inhaber unterschieden. Die ethnischen Differenzierungskategorien widersprachen aber dem in Frankreich vorherrschenden republikanischen Verständnis der Staatsangehörigkeit, das ein Gesetz vom 3. Juli 1917 noch gestärkt hatte.358 Zur Eingruppierung griffen die commissions de triage, die grundlegende Rechte der beschuldigten Elsässer und Lothringer verletzten, darüber hinaus oft Gerüchte und haltlose Beschuldigungen auf. So wurden Angehörige der beiden Minderheiten vielerorts als „Deutsche“ (boches) oder „Verräter“ dämonisiert. Die Denunziationen waren nicht nur auf politische Überzeugungen zurückzuführen, sondern vielerorts auch auf materielle Interessen und das Bedürfnis auf Rache für zuvor erlittene Benachteiligungen, Demütigungen oder Strafen. Insgesamt verstärkten sich politische Initiativen „von oben“ und eine gesellschaftliche Mobilisierung „von unten“ wechselseitig.359 Mit der Einsetzung der Kommissionen ging der französische Zentralstaat über den Wandel hinweg, der sich im Elsass und in Lothringen seit der erzwungenen Angliederung an das Deutsche Kaiserreich 1871 vollzogen hatte. Die meisten Bewohner – vor allem des Elsass – hatten im Ersten Weltkrieg loyal in der deutschen Armee gedient. Sie sprachen Deutsch, waren gläubig und tief in der regionalen Kultur verankert. Demgegenüber hatte sich in Frankreich nach dem verlorenen Krieg gegen Preußen die Säkularisierung und Zentralisierung beschleunigt. Zudem war der Nationalismus gewachsen. Darüber hinaus hatte der Belagerungszustand, der erst am 12. Oktober 1919 aufgehoben wurde, in den Regionen Eigenständigkeitsbestrebungen unterdrückt und blockiert. Schon bevor Premierminister Éduard Herriot (1872–1957) 1924 entschied, dass sich alle französischen Gesetze auch auf das Elsass erstrecken sollten, waren hier und in Lothringen Ressentiments gegenüber der Pariser Zentralisierungspolitik entstanden. Damit hatte sich die Frontstellung gegen die deutschen Behörden umgekehrt. Diese waren vor 1918 gleichfalls auf den Widerstand der regionalen Ak358 Nach dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz „wurden in Frankreich geborene Söhne ausländischer Eltern, welche zum Zeitpunkt der Erreichung des 18. Lebensjahres in Frankreich wohnhaft waren, automatisch französische Staatsbürger (und als solche militärpflichtig), wenn sie die französische Staatsangehörigkeit nicht innerhalb von drei Monaten nach Zurücklegung ihres 18. Lebensjahres ausschlugen“ (Huber, Fremdsein, S. 240 f.). 359 Harvey, Lost Children or Enemy Aliens?, S. 541–543, 549; Bavendamm, Spionage, S. 246– 267; Boswell, Liberation, S. 130 f., 134, 145, 148–150, 153, 156, 159, 162; Zahra, „Minority Problem“, S. 138 f., 149; Smith, Kiss, S. 48.

4.3 Frankreich



365

tivisten getroffen, die ihre spezifische Kultur gegen die Eingliederungs- und Territorialisierungsbemühungen des Kaiserreichs verteidigt hatten.360 Auch im Einzelnen warf die Arbeit der commissions de triage erhebliche Probleme auf. So konnten Angehörige der neuen Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Zusammenbruch des russischen Zarenreiches, ÖsterreichUngarns und des Osmanischen Reiches hervorgegangen waren, den festgelegten Kategorien oft nicht eindeutig zugeordnet werden, da besonders die politische Loyalität kaum klar zu beurteilen war. Dies traf beispielweise auf Tschechen und Polen zu. Darüber hinaus waren in den Kommissionen Angehörige bürgerlicher Eliten deutlich überrepräsentiert, die über die russische Oktoberrevolution ebenso besorgt waren wie über die Militanz der Gewerkschaften und der politischen Linken in Frankreich nach dem Kriegsende. Sie nutzen ihre Mitarbeit in den Überprüfungskommissionen oft, um gegen sozialistische oder anarchistische Arbeiter vorzugehen. Auch schienen den Mitgliedern der Untersuchungskommissionen gesellschaftliche Randgruppen wie Vagabunden und Prostituierte besonders verdächtig. Außerdem waren viele Deutsche in Lothringen und Elsass ebenso wenig entbehrlich wie im Rheinland, das nach dem Versailler Vertrag von den Entente-Mächten besetzt wurde. Darüber hinaus hatten sich in den Grenzregionen so enge Verflechtungen zwischen Deutschen und Franzosen entwickelt (so durch Ehen), dass die Bevölkerungsgruppen nur mit z. T. willkürlichen Entscheidungen voneinander getrennt werden konnten.361 Außer Mitarbeitern der deutschen Verwaltung, regionalen Eliten und lokalen Honoratioren, die sich z. T. durch die Verdrängung oder Deportation von Elsässern und Lothringern diskreditiert hatten, gerieten deshalb auch unbescholtene Bürger in die „Säuberungen“. Vielerorts richteten sich Rache, Neid, Raubgier und Sicherheitsängste gegen sie. Angehörige der beiden Minoritäten, deren Eltern und Großeltern nicht ausnahmslos Franzosen waren, wurden ebenso enteignet und ausgesiedelt wie Bürger der besiegten Staaten. Viele flohen aber auch, weil sie in Lothringen und im Elsass keine Lebens- und Arbeitsperspektive mehr erkannten. Insgesamt verließen zwischen 1918 und 1920 rund 150.000 360 Christopher Fischer, Alsace to the Alsatians? Visions and Divisions of Alsatian Regionalism, 1890–1930, in: Bulletin of the German Historical Institute 36 (2005), S. 55–62. „Territorialisierung“ nach: Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807–831; ders., Transformations of Territoriality 1600–2000, in: Gunilla Budde u. a. (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 32–55. 361 Paul Lawrence / Timothy Baycroft / Carolyn Grohmann, „Degrees of Foreignness“ and the Construction of Identity in French Border Regions during the Interwar Period, in: Contemporary European History 10 (2001), S. 51–71, hier: S. 66 f.; Harvey, Lost Children or Enemy Aliens?, S. 544–546, 552.

366  4 Sicherheit und „innere Feinde“

Deutsche (ein Drittel der gesamten Gruppe) das ehemalige Reichsland, besonders Angehörige der regionalen Eliten wie Politiker, Verwaltungsbeamte und qualifizierte Fachkräfte, von denen viele entlassen worden waren. Im Allgemeinen durften sie nur wenig Gepäck und Bargeld mitnehmen. Insgesamt war das Vorgehen der französischen Behörden gegen die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg auch vom kolonialen Rassismus beeinflusst und radikaler als beispielsweise die Minderheitenpolitik in der neugegründeten Tschechoslowakei. Der starke Druck zur Assimilation widersprach den vielerorts tief verwurzelten Mehrfachidentitäten in den Grenzgebieten.362 Deshalb traf besonders die Ausweisung der Elsässer und Lothringer, deren unmittelbare Vorfahren nicht ausschließlich Franzosen waren, auf Einwände zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich für die Bewahrung bürgerlicher Freiheiten und grundlegender Menschenrechte einsetzten. So wandte sich die 1898 gegründete Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen in den frühen 1920er Jahren gegen die erzwungene Ausbürgerung. Sie kritisierte zudem die Verfahren der commissions de triage, weil sie rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprachen. Auch Politiker wie Lucien Minck (Parti Radical) hoben hervor, dass den Mitgliedern der Kommissionen überwiegend die notwendigen rechtlichen Kenntnisse fehlten, Zeugen anonym und ohne Eid aussagen durften und die Angeklagten ohne Rechtsbeistand blieben. Letztlich führte die harte und undifferenzierte Politik der französischen Politik gegenüber den Elsässer und Lothringern in den ersten Nachkriegsjahren in der neu gewonnenen Provinz zu einer nachhaltigen Entfremdung der Bevölkerung gegenüber dem Zentralstaat und seinen Eliten.363 Darüber hinaus hatte die „extreme Sensibilisierung für Sicherheit, Ruhe und Ordnung“ in Frankreich im Ersten Weltkrieg eine „Herrschaft des Verdachts“ begründet, die zivilgesellschaftliche Werte wie Toleranz, Meinungsfreiheit und Pluralismus aushöhlte.364 Dem Nationalismus war z. T. auch das Rote Kreuz erlegen, das ihr Generalsekretär als „Schule des Patriotismus und soziale Kraft“ lobte. Schon am 20. Juni 1914 (d. h. vor dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo) hatte das Französische Rote Kreuz den fünfzigsten Jahrestag seiner Gründung begangen. Während der Feiern, an denen auch Gustave Ador teilgenommen hatte, waren der ausgeprägte Nationalismus und der militante Aktionismus hervorgetreten, die das Rote Kreuz im Ersten Weltkrieg auch in Frankreich befeuerten. Daneben beeinfluss362 Angabe nach: ebd. S. 550 f.; Piskorski, Die Verjagten, S. 77 f. Anderer Wert in: Boswell, Liberation, S. 141. Vgl. auch Zahra, „Minority Problem“, S. 137, 148 f., 154; Smith, Kiss, S. 49. 363 Nolan, Mirror, S. 111. 364 Zitate (in dieser Reihenfolge): Bavendamm, Spionage, S. 335; Leonhard, Büchse, S. 369.

4.4 Russisches Zarenreich



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ten die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Schichten und soziale Vorurteile den Umgang mit „inneren Feinden“.365

4.4 Russisches Zarenreich Deutsche im multiethnischen Imperium vor dem Ersten Weltkrieg In den multiethnischen Imperien belasteten die Deportation und Internierungen von als unzuverlässig geltenden Minderheiten, die Liquidation von Unternehmen und die Beschlagnahme von Landbesitz nicht nur zusätzlich die ohnehin extrem belasteten Beziehungen zu den Feindstaaten, sondern auch das Verhältnis zwischen den Nationalitäten in den jeweiligen Reichen selber. In Russland hatten in einer Volkszählung 1897 nur 44,2 Prozent der Einwohner Russisch als ihre Sprache angegeben; rund 1,8 Millionen (1,4 Prozent der Bevölkerung) sprachen Deutsch. Von ihnen lebten 1,3 Millionen in den fünfzig Gouvernements im europäischen Gebiet Russlands. Wenn die Deutschen in Finnland, den baltischen Provinzen und Russisch-Polens nicht mitgerechnet werden, stellten Wolgadeutsche 33 Prozent und Schwarzmeerdeutsche 31,5 Prozent der Minderheit. 76,6 Prozent der Deutschen gehörten der evangelisch-lutherischen Religion an, und sie wiesen eine überdurchschnittlich hohe Alphabetisierungsrate auf. Darüber hinaus hoben sie sich durch ihre Sprache und Kultur von der Bevölkerungsmehrheit ab, besonders in den großen Städten St. Petersburg, Moskau, Odessa und Kiew. Allerdings lebten 1897 lediglich 23,4 Prozent der Deutschen in urbanen Zentren, und 57 Prozent von ihnen waren in der Agrarwirtschaft beschäftigt. Die deutschen Kolonisten auf dem Lande genossen zudem bis in die 1870er Jahre Privilegien. Ansonsten hatten sich die Russlanddeutschen aber weitgehend in die Aufnahmegesellschaft integriert. So unterstützten ihre Wohltätigkeitsvereine die Politik der russischen Regierung wie auch die Alphabetisierung.366 365 Zitat: Hutchinson, Champions, S. 267 („a school of patriotism and a social force“). 366 Angabe nach: Henning Bauer u. a., Die Nationalitätenfrage im Russischen Reich: Auswertung der Volkszählung von 1897, in: Historical Social Research 16 (1991), Nr. 2, S. 171–181, hier: S. 175; Benjamin Pinkus / Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert, hg. v. Karl-Heinz Ruffmann, Baden-Baden 1987, S. 33 f. Vgl. auch Detlef Brandes, Die Deutschen in Russland und in der Sowjetunion, in: Klaus J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1993, S. 85–134, hier: S. 85; Andreas Kappeler, Die deutsche Minderheit im Rahmen des russischen Vielvölkerreiches, in: Dittmar Dahlmann / Ralph Tuchtenhagen (Hg.), Zwischen Reform und Revolution, Essen 1994, S. 14–28, hier: S. 14, 20; Henning Bauer /

368  4 Sicherheit und „innere Feinde“

Insgesamt stieg der Anteil der „Deutschen“ an der Gesamtbevölkerung vom späten 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg von 0,6 auf 1,4 Prozent. Mehr als 90 Prozent der Gruppe waren jedoch russische Staatsangehörige. Darüber hinaus war die Volksgruppe der (Russland-)Deutschen heterogen. Besonders muss zwischen den ländlichen Kolonisten an der Wolga, im Kaukasus und am Schwarzen Meer einerseits und andererseits denjenigen Deutschen unterschieden werden, die seit dem 16. Jahrhundert überwiegend in russische Städte im Innern Russlands eingewandert waren. Die deutschen Siedler an der Wolga waren überwiegend Bauern. Sie verfügten 1893 über ein Gesamtvermögen von 410 Millionen Rubel, wurden aber nach 1871 den anderen Untertanen des Zaren gleichgestellt. So mussten sie Wehrdienst leisten. Eine Sondergruppe waren die Deutschbalten, die als adlige Grundbesitzer oder Beamte oft eine herausgehobene soziale Stellung einnahmen. Sie beriefen sich auf ihre Herkunft von den Rittern des Deutschen Ordens, die das Gebiet seit dem 13. Jahrhundert besiedelt hatten. Die Deutschbalten waren in Livland und Estland durch die „Kapitularien“ begünstigt, die Zar Peter der Große (1672–1725) nach seiner Eroberung des Gebietes 1710 mit ihnen abgeschlossen hatte. Angehörige der baltischen Ritterschaften verfügten am Zarenhof und in der Staatsverwaltung über einen beträchtlichen Einfluss. Im frühen 19. Jahrhundert bestätigten die russischen Zaren die Vorrechte des deutschbaltischen Adels in Kurland, Livland und Estland, wo Deutsch Amtssprache war und der lutherische Protestantismus seine Dominanz als Kirche bewahren konnte. Allerdings nahm der Bevölkerungsanteil der Deutschen von 1858 bis 1897 lediglich von 6,6 auf 6,9 Prozent zu.367 Im Hinblick auf ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage unterschieden sich in den baltischen Provinzen die Gutsbesitzer von den Bauern, so dass im Alltagsleben sozioökonomische Differenzen bis ins 19. Jahrhundert die ethnischen Zugehörigkeiten überlagerten. Allerdings verstärkten sich seit den 1860er Jahren das Selbstverständnis und das Bewusstsein kultureller Identitäten, als die Reformpolitik Alexanders II. die Bildung von Vereinen und Selbstverwaltungsorganen (Semstwa) ermöglichte, in denen sich die (Russland-)Deutschen treffen konnten. Zudem erfassten die nationalen Einigungsbestrebungen auch diese Gruppe, die sich überdies gegen die Russifizierungspolitik der Regierung Andreas Kappeler / Brigitte Roth (Hg.), Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, Stuttgart 1991, S. 75–82; Guido Hausmann, Der gärende Vielvölkerstaat – Riesenreich im Umbruch, in: Helmut Altrichter u. a. (Hg.), 1917. Revolutionäres Russland, Darmstadt 2016, S. 11–26, hier: S. 19; Sergeev, Wahrnehmung, S. 99. 367 Angaben nach: V. M. Kabuzan, Zahl und Siedlungsgebiete der Deutschen im Russischen Reich (1796–1917), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 32 (1984), S. 866–874, hier: S. 871, 873; Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 42; Gosewinkel, Einbürgern, S. 331. Vgl. auch Borodziej / Górny, Der vergessene Weltkrieg, S. 204.

4.4 Russisches Zarenreich 

369

zusammenschloss. Die Deutschen forderten kulturelle Autonomie, Selbstverwaltung und gemäßigte Agrarreformen. Nach dem „Oktobermanifest“, in dem Zar Nikolaus II. (1868–1918) u. a. Versammlungsfreiheit gewährt hatte, unterstützten die Deutschen die neugebildeten Parteien, besonders die liberalen Konstitutionellen Demokraten („Kadetten“) und den konservativeren Oktoberverband („Oktobristen“). Als Sammlungsbewegung sollte sogar ein Kongress aller deutschen Vereine einberufen werden. Gegen die führende Rolle der Deutschbalten bei diesem Vorhaben wandten sich aber sowohl die liberale deutsche Stadtbevölkerung als auch die Kolonisten. Auch erwiesen sich Eingriffe des 1891 in Berlin gebildeten Alldeutschen Verbandes (ADV), der im Baltikum die Gründung nationaler Verbände und – vor allem nach der Revolution 1904/5 – die Aussiedlung Russlanddeutscher betrieb, als überaus kontraproduktiv. Diese Bemühungen beschleunigten die Bildung einer Diaspora-Identität, die schrittweise bereits seit Gründung des Nationalstaates 1870/71 entstanden war. Auf russischer Seite verstärkte dieser Prozess den Verdacht der Illoyalität, den die Behörden des Zarenreiches im früheren 20. Jahrhundert gegen die Russlanddeutschen hegten.368

Russifizierungspolitik, Panslawismus und Diskriminierung von Minderheiten Andererseits verschärften aber auch die russische Nationalitätenpolitik und der damit verbundene Homogenisierungsdruck in den deutschen Siedlungsgebieten Spannungen, in denen sich nationale und ethnische Gegensätze mit sozialen Konflikten zwischen den Bauern und der Oberschicht der zumeist deutschstämmigen Großgrundbesitzer verbanden. Zudem forderten Russen, den kulturellen Einfluss der „Fremden“ zurückzudrängen, vor allem in den Professionen, wo die Deutschen überrepräsentiert waren. So stellten sie 1869 neun Prozent der Hochschullehrer, 23 bis 39 Prozent aller übrigen Lehrer, 39 Prozent der Ärzte, 27 Prozent des mittleren medizinischen Personals und 33 Prozent der Ingenieure. Wegen des Misstrauens gegenüber der deutschen Intelligenz wurde die deutsche Universität Dorpat 1893 geschlossen und in die russische Hochschule Jurew umgewandelt.369 368 Stefan Manz, Constructing a German Diaspora. The „Greater German Empire“, 1871–1914, London 2014, S. 146, 157, 162, 165; Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 33, 47–49; Sammartino, Border, S. 28 f. Vgl. auch Brändström, Prisoners of War, S. 21; Gosewinkel, Einbürgern, S. 332, 334. 369 Angaben nach: Brandes, Die Deutschen in Russland, S. 88. Vgl. auch John W. Long, From Privileged to Dispossessed. The Volga Germans, 1860–1917, Lincoln 1988, S. 213, 219, 236; Trude Maurer, Folgen des Kulturkontakts: Bewahrung und Wandel deutscher Kultur in den Städ-

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In der Wolgaregion und in Polen hatten sich deutsche Kolonisten – darunter viele Mennoniten – nach einem Aufruf Katharinas II. (1729–1796) besonders in den Jahren von 1778 bis 1796 niedergelassen. Zar Alexander I. (1777–1825) setzte die Ansiedlung ab 1801 fort, bevor sie 1810 bzw. 1819 eingeschränkt und 1833 abgebrochen wurde. An der Unteren Wolga – in den Gouvernements Saratow und Samara – bildeten die Siedler auf dem Lande eine Mittelschicht über armen deutschen, russischen, ukrainischen und mordwinischen Bauern. Die deutschen Siedlungen konzentrierten sich hier auf vier Landkreise und blieben nach außen weitgehend abgeschlossen. Die russischen Behörden und die anderen Minderheiten betrachteten die deutschen Kolonisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Misstrauen, so dass sie im Süden Russlands in den 1870er Jahren ihren Sonderstatus verloren. 1871 entzogen die Behörden den Siedlern die Privilegien, die ihnen seit dem 18. Jahrhundert gewährt worden waren. Sie wurden in die Bauernschaft eingegliedert und mussten ab 1874 Wehrdienst leisten. Daraufhin verließen vor allem deutsche Mennoniten Russland, um in die USA weiter zu wandern. Auch erklärten die zarischen Behörden Russisch zur Amtssprache. Dennoch wuchs der Anteil der Deutschen in der Wolgaregion von den 1860er bis zu den 1890er Jahren von 5,8 auf 6,4 Prozent. 1914 stellte die Minderheit hier sogar 7,6 Prozent der Einwohner. Damit war der Anteil der Deutschen in den baltischen Provinzen, die lange Siedlungszentren gebildet hatten, übertroffen worden. Vor diesem Hintergrund verbreiteten sich in Russland zur Jahrhundertwende Warnungen vor einer „deutschen Gefahr“.370 Alles in allem führten der Panslawismus und die nationalistische Propaganda, die sich auf das Zarenreich oder bereits nur auf Russland bezog, im späten 19. Jahrhundert zu einer zunehmenden Diskriminierung deutschstämmiger Russen. Daneben richtete sich die Fremdenfeindlichkeit, die Sicherheitsängste aufgriff, gegen die Juden. Sie stellten 1897 rund vier Prozent der Bevölkerung. Ebenso wie die Deutschen war die jüdische Bevölkerung in Städten deutlich überrepräsentiert. Das Regime misstraute der Minderheit, sogar unter dem relativ liberalen Zar Alexander II. (1856–1881). Seine Ermordung 1881 löste vielerten des Russischen Reichs, in: dies. / Eva-Maria Auch (Hg.), Leben in zwei Kulturen. Akkulturation und Selbstbehauptung von Nichtrussen im Zarenreich, Wiesbaden 2000, S. 15–36, hier: S. 17–20, 31, 34 f.; Helmut Altrichter, Russland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 2017, S. 412 f., 416, 420. 370 David G. Rempel, The Expropriation of the German Colonists in South Russia during the Great War, in: Journal of Modern History 4 (1932), Nr. 1, S. 49–67, hier: S. 50. Vgl. auch Viktor Krieger, Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft. Historische Schlüsselerfahrungen und kollektives Gedächtnis, Berlin 2013, S. 189; Altrichter, Russland 1917, S. 417; Brandes, Die Deutschen in Russland, S. 115, 119; Kappeler, Minderheit, S. 18. Angabe nach: Kabuzan, Zahl, S. 871, 873.

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orts Pogrome aus, an denen sich vor allem im polnischen Teilungsgebiet auch Bevölkerungsgruppen und monarchistisch-nationalistische Organisationen wie die „Schwarzen Hundertschaften“ beteiligten.371 Wie bereits angedeutet, war im russischen Zarenreich schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Bevölkerungspolitik aufgenommen worden, die letztlich auf eine Russifizierung zielte. Dieser Prozess ging von der demütigenden Niederlage Russlands im Krimkrieg (1853–1856) und den polnischen Aufständen von 1830 und 1863 aus, die zwar niedergeschlagen worden waren, aber die innere Schwäche des Zarenreiches gezeigt hatten. Nachdem 1874 die Wehrpflicht eingeführt worden war, nutzten vor allem Militärs detaillierte Statistiken, die auf ethnischen Kategorien basierten. Diese verliehen dem Nationalismus weiter Auftrieb. So teilten Militärstatistiker die russische Bevölkerung im späten 19. Jahrhundert in „zuverlässige“ und „unzuverlässige“ Gruppen auf. Maßgeblich für diese Differenzierung waren die ethnische Zusammensetzung und die geographische Lage. Damit verbunden, verlief die Russifizierung in den einzelnen Regionen ungleich. So wurde das spät eroberte Zentralasien zunächst geschont. Demgegenüber sollten die als „unzuverlässig“ geltenden Minderheiten im Westen und Süden Russlands zurückgedrängt werden, vor allem durch erzwungene Bevölkerungstransfers. So wurden allein zwischen 1860 bis 1864 in den westlichen Regionen des Kaukasus zwischen 500.000 bis 700.000 Bewohner deportiert, um dort Kosaken anzusiedeln. In den 1880er Jahren erfasste die Russifizierungspolitik besonders die deutschen Schulen. Außerdem richteten sich Angriffe slawophiler Intellektueller und Agrarpolitiker wie Juri Samarin (1819–1876) gegen die deutschbaltische Elite.372 Nachdem die Sonderstellung der deutschen Kolonisten – und damit deren gesellschaftliche Isolation – 1871 vollends aufgehoben worden war, verliehen der aufsteigende Panslawismus und Gesetze zur Russifizierung im späten 19. Jahrhundert der Propaganda gegen Deutsche und der Fremdenfeindlichkeit Auftrieb. Angesichts der zunehmenden internationalen Spannungen galten aber auch Minderheiten wie Armenier und Kurden als subversive Kräfte. Der russische Ministerrat wiegelte diese Gruppen zwar im Osmanischen Reich gegen die Regierung des Sultans auf, unterwarf sie im eigenen Land aber vor allem nach der 371 Sammartino, Border, S. 28; Gosewinkel, Einbürgern, S. 331. 372 Vgl. Peter Holquist, To Count, to Extract, and to Exterminate. Population Statistics and Population Politics in Late Imperial and Soviet Russia, in: Ronald G. Suny (Hg.), A State of Nations. Empire and Decision Making in the Age of Lenin and Stalin, Oxford 2001, S. 111– 144, hier: S. 112–119, 122, 126; Victor Dönninghaus, „Trojanisches Pferd“ für Stalin? Die Deportationen nationaler Minderheiten in den 1930er Jahren, in: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte 21 (2012), S. 34–63; Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 798 f.; Hausmann, Vielvölkerstaat, S. 12–17; Kappeler, Minderheit, S. 21; Altrichter, Russland 1917, S. 414.

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Jahrhundertwende einer brutalen Russifizierungspolitik. So wurden die Armenier ab 1908 rigoros unterdrückt. Insgesamt zielten die Eliten darauf ab, im Zarenreich ethnische Homogenität durchzusetzen, indem Minoritäten verdrängt, entmachtet, deportiert und zur Umsiedlung gezwungen wurden. Aus der Sicht der Regierung unter Ministerpräsident Pjotr Stolypin (1906–1911) sollte diese Politik aber zugleich die Grenzen Russlands sichern. Dazu griff sie auch koloniale Praktiken auf, die andere Mächte in außereuropäischen Räumen genutzt hatten. Damit bestimmte die ethnische Zugehörigkeit, aber auch das Streben nach Sicherheit im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die russische Regierungspolitik. Darüber hinaus war ein Programm gesellschaftlicher Entwicklung einflussreich, das auf die Aufteilung des Großgrundbesitzes in bäuerliche Parzellen zielte und „Spekulation“ bekämpfen sollte.373 Grundsätzlich blieb das Verhältnis zwischen dem Imperium und den Nationen im Zarenreich vorerst „ambivalent und entwicklungsoffen“.374 Jedoch verschärfte das Vorgehen gegen Minderheiten innere Spannungen, die u. a. aus der ungleichen Verteilung des Eigentums und aus konfessionellen Gegensätzen resultierten. In diesem Kontext war die fremdenfeindliche Politik des russischen Ministerrates im späten 19. Jahrhundert gegen deutsche Siedler gerichtet, deren Rechte zum Kauf von Boden eingeschränkt wurden. Auf dem Lande standen außerdem vielerorts mennonitischen deutschen Gutsbesitzern russische Bauern oder Arbeiter gegenüber, die der orthodoxen Kirche angehörten. In diesen Konstellationen bemühten sich die Behörden auch, einen weiteren Zuzug nicht-russischer Minderheiten besonders nach Wolhynien, aber auch in die Gouvernements Kiew und Podolien zu verhindern. So durften Ausländer ab 1887 in Wolhynien kein Land mehr kaufen oder pachten. Alle Proteste und den Widerstand von Minderheiten gegen ihre Unterdrückung deuteten die russischen Eliten als Verschwörung subversiver ausländischer Kräfte.375 373 Peter Holquist, „In Accord with State Interests and the People’s Wishes“: The Technocratic Ideology of Imperial Russia’s Resettlement Administration, in: Slavic Review 69 (2010), H. 1, S. 151–179, bes. S. 156, 166, 169; Alexandra Bachturina, Die Russifizierung der Grenzgebiete im Kontext des Kampfes für die Staatssicherheit Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts (in russ. Sprache), in: Bauerkämper / Rostislavleva (Hg.), Sicherheitskulturen, S. 51–73; Michael A. Reynolds, Shattering Empires. The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires, 1908–1918, Cambridge 2011, S. 57, 70–73; Sammartino, Border, S. 29; Krieger, Bundesbürger, S. 142, 151; Kappeler, Minderheit, S. 21. 374 Martin Aust, Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium, München 2017, S. 61. 375 Mark von Hagen, The Great War and the Mobilization of Ethnicity in the Russian Empire, in: Barnett R. Rubin / Jack Snyder (Hg.), Post-Soviet Political Order. Conflict and State Building, London 1998, S. 34–57, hier: S. 36; Mark Levene, Frontiers of Genocide: Jews in the Eastern War Zones, 1914–1920 and 1941, in: Panayi (Hg.), Minorities, S. 83–117, hier: S. 89–91; Matthias

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Die Wolgadeutschen wandten sich in der Erhebung von 1905, als Massaker an streikenden Arbeitern Massenproteste auslösen und Zar Nikolaus II. damit zu erheblichen Konzessionen gezwungen war, gegen die Russifizierungspolitik, die sich vor allem auf die Schulen der Minderheit erstreckt hatte. Mit der Bildung einer Diaspora-Identität, die von den Eliten der Wolgadeutschen vorangetrieben wurde, zogen diese weitere Angriffe auf sich. In der Revolution von 1905 schlugen sich Misstrauen, Fremdenfeindlichkeit und Neid in Beschuldigungen nieder, die den Deutschen im Zarenreich Spionage und Zersetzung zugunsten ihres Heimatlandes unterstellten. Politisch unterstützte die deutsche Minderheit vor allem die „Kadetten“, die Pawel Miljukow 1905 gegründet hatte. Daneben trafen die in demselben Jahr gebildeten „Oktobristen“, die für eine konstitutionelle Monarchie des Zaren auf der Grundlage des „Oktobermanifestes“ eintraten, unter den (Russland-)Deutschen auf erhebliche Zustimmung. Die Revolution von 1905, die „gleichzeitig lokal, national und konfessionell geprägt“ war, politisierte auch andere Nationalitäten an der Peripherie des Zarenreiches. 1907 konnte der Hof aber die politische Kontrolle zurückgewinnen und die Reformen weitgehend suspendieren. Zudem wurde der Ausnahmezustand verhängt, um die Opposition nachhaltig zum Schweigen zu bringen. Zugleich verstärkte die Regierung die Russifizierungspolitik. Dabei sollten Warnungen vor der „deutschen Gefahr“ und den Juden integrierend wirken.376

Fremdenfeindlichkeit und Sicherheitspolitik Schon am 22. Juli 1914 – d. h. einen Tag vor der Übergabe des Ultimatums Österreich-Ungarns an Serbien – brannten russische Nationalisten in St. Petersburg die Botschaft Deutschlands nieder. Sie wurden dabei von Tausenden EinwohStadelmann, Die Revolution vor der Revolution. Der Fall der Monarchie, in: Altrichter u. a. (Hg.), 1917, S. 35–70, hier: S. 36; Holquist, Violent Russia, Deadly Marxism?, S. 634 f. 376 Zitat: Hausmann, Vielvölkerstaat, S. 25. Vgl. auch Viktor Krieger, Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler. Eine Geschichte der Russlanddeutschen, Bonn 2015, S. 74; Dittmar Dahlmann, Die Deportation der deutschen Bevölkerungsgruppe in Rußland und in der Sowjetunion 1915 und 1941. Ein Vergleich, in: Andreas Gestrich (Hg.), Ausweisung und Deportation: Formen der Zwangsmigration in der Geschichte, Stuttgart 1995, S. 103–113, hier: S. 103; Oksana Beznosova, Regionale Besonderheiten in den antideutschen Kampagnen im Russischen Reich: Gouvernement Ekaterinoslav, in: Alfred Eisfeld / Guido Hausmann / Dietmar Neutatz (Hg.), Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa, Essen 2013, S. 311–332, hier: S. 325–327; Brandes, Die Deutschen in Russland, S. 122; Manz, German Diaspora, S. 159; Long, From Privileged to Dispossessed, S. 192–214; Altrichter, Russland 1917, S. 420–422; Allgemein: Epkenhans, Der Erste Weltkrieg, S. 161.

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nern teilnahmslos beobachtet, von denen rund 1.000 zuvor die Läden und Cafés deutscher Inhaber und Pächter auf dem Newski-Prospekt geplündert hatten. Als nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand (1863–1914) die Spannungen auch in Russland zunahmen, wuchs das Misstrauen gegen Deutsche, Österreicher und Ungarn, die im Zarenreich lebten. Die Armeeführung richtete eine Abteilung ein, der die Koordination aller Maßnahmen gegen Feindstaatenangehörige oblag, besonders ihre Internierung und Deportation, die Beschlagnahme ihres Eigentums und Requisitionen. Dennoch bildete sich in Russland im Frühsommer 1914 noch kein umfassender nationalistischer Hass auf die Russlanddeutschen heraus, die im August ihre Loyalität gegenüber dem Zaren und seinem Reich erklärten.377 Erst anschließend unterschieden die vorwiegend russischen Eliten nicht mehr zwischen der militärischen und zivilen Sphäre. Vielmehr zielte ihre Politik auf die totale Erfassung der Bevölkerung, die für den Krieg mobilisiert werden sollte. Demgegenüber wurden „innere Feinde“ wie Minderheiten und russische Kriegsgegner unterdrückt, verdrängt, vertrieben und deportiert. Dazu nutzten die Behörden die Bevölkerungsstatistiken, in denen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die ethnische Herkunft der Bewohner des Zarenreiches erhoben worden war. Die Militärverwaltung schreckte auch vor Geiselnahmen nicht zurück, mit denen vor allem die jüdische und die deutsche Minorität zur Kooperation gezwungen werden sollte. In der russischen Armee war generell die Instrumentalisierung von Zivilisten für eine weit verstandene Sicherheitspolitik tief verwurzelt. Ebenso nährten radikale Bevölkerungs- und Repressionskonzepte die fremdenfeindliche und antisemitische Propaganda, die Minderheiten pauschal als Gefahr für das Imperium diffamierte. Besonders Feindstaatenangehörige galten als potentielle Verräter und Spione, die zu kontrollieren und zu entmachten waren. In Prozessen nutzten die Gerichte dazu ein 1912 erlassenes Gesetz über Hochverrat, mit dem Strafen für Spionage drastisch verschärft worden waren. So konnten Agenten zu lebenslanger Haft verurteilt werden.378 377 Hierzu und zum Folgenden: Victor Dönninghaus, Revolution, Reform und Krieg. Die Deutschen an der Wolga im ausgehenden Zarenreich, Essen 2002, S. 231; György Dalos, Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zurGegenwart, München 2014, S. 51 f.; Olejnikow, Ritterlichkeit, S. 191; Peter Gatrell, Tsarist Russia at War: the View from Above, 1914 – February 1917, in: Journal of Modern History 87 (2015), S. 668–700, hier: S. 672 f.; Eric Lohr, The Russian Army and the Jews: Mass Deportation, Hostages, and Violence during World War I, in: Russian Review 60 (2001), S. 404–419, hier: S. 407; Proctor, Civilians, S. 79, 81; Manz, German Diaspora, S. 165 f.; Becker, Captive Civilians, S. 262; Üngör / Lohr, Nationalism, S. 508; Neutatz, Träume, S. 139. 378 Joshua Sanborn, Violent Migrations and Social Disaster in Russia during World War I, in: Journal of Modern History 77 (2005), Nr. 2, S. 290–324, hier: S. 306; Fuller, Foe, S. 177; Krieger, Kolonisten. S. 77; Marshall, Russian Military Intelligence, S. 404; Holquist, Forms, S. 339.

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Obgleich liberale Politiker und Intellektuelle wie die Historiker Nikolai Karejew und Maxim Kowalewski (1851–1916) vor 1914 der Fixierung auf die „nationale Sicherheit“ widersprochen und den Stellenwert der Freiheit betont hatten, kennzeichnete die enge Verbindung von Deutschenhass und Antisemitismus im Ersten Weltkrieg die staatliche Propaganda im Zarenreich. Die Ängste um die Sicherheit des Staates begründeten einen schnellen Ausbau des Repressionsapparates. Allerdings blieben die Kompetenzen zersplittert. Während die 1881 gegründete Ochrana dem Innenministerium zugeordnet war, unterstand die Abteilung für Kundschafterwesen dem Generalstab. In den russischen Streitkräften verfügten die Spionageabteilungen in den einzelnen Militärbezirken über Agenten, die oft eigenmächtig vorgingen. Zudem lähmten Intrigen und die permanente Furcht vor Unterwanderung durch Spione die Geheimdienste und Polizeikräfte des Zarenreiches, in dem bereits 1912 Listen mit den Namen der im Kriegsfall zu Verhaftenden und zu Verbannenden zusammengestellt worden waren. Erst 1915 wurde aber eine zentrale Spionageabwehrabteilung im Oberkommando der russischen Streitkräfte (Stawka) gegründet, um den Kampf gegen feindliche Agenten in den Militärbezirken und an den einzelnen Fronten stärker zu koordinieren. Auch den Aufbau einer Funkaufklärung hatten die russischen Militärs in der Vorkriegszeit vernachlässigt.379 Der Rekurs auf die Sicherheit des Staates verband sich mit einer beschleunigten Russifizierungspolitik. Sie richtete sich gegen Minderheiten, denen die Behörden oft Illoyalität unterstellte. Insgesamt kennzeichneten „ethnische Säuberungen“ und Deportationen vor allem in den Randzonen des Zarenreiches das Leben von Zehntausenden Untertanen. Die erzwungene Mobilität von rund 15 Millionen russischen Soldaten im Ersten Weltkrieg knüpfte daran an.380 Darüber hinaus erfasste die Zwangsmigration im Zarenreich nach begründeten Schätzungen schon bis 1915 rund drei Millionen und bis Ende 1917 sieben Millionen Zivilisten.381 Die damit verbundenen Erfahrungen von Unsicherheit und Entwurzelung sollten sich schließlich im Bürgerkrieg von 1918 bis 1922 fortsetzen. Im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich wurden in Russland allerdings nicht formale Kriterien der Staatsangehörigkeit enger gefasst. Vielmehr verwischte eine Vielzahl von Maßnahmen, die einzelne ethnische Gruppen be379 Dietmar Neutatz, Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, München 2013, S. 136. Zu Karejew und Kowalewski: Natalia Rostislavleva, Probleme der Freiheit und Sicherheit in der russischen Geschichtsschreibung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (in russ. Sprache), in: Bauerkämper / Rostislavleva (Hg.), Sicherheitskulturen, S. 35–50. 380 Joshua A. Sanborn, Unsettling the Empire: Violent Migrations and Social Disaster in Russia during World War I, in: Journal of Modern History 77 (2005), S. 296. 381 Gatrell, Refugees, S. 86.

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günstigten oder benachteiligten, den Gegensatz von Staatsangehörigen und Fremden.382

Rechtliche Grundlagen der Politik gegenüber „inneren Feinden“ Schon am 25. Juli 1914 (d. h. vier Tage vor der Teilmobilmachung der russischen Armee) hatte General Michael Beljajew (1863–1918) für den Generalstab der russischen Armee befohlen, alle wehrfähigen Männer, die potentiellen Feindstaaten angehörten, in Lagern festzusetzen. Am darauffolgenden Tag versicherten in einer Sitzung der Duma alle Abgeordneten der politischen Parteien (mit Ausnahme der Sozialdemokraten) der Regierung ihre Unterstützung in dem Krieg, der sich deutlich abzeichnete. Anstelle der Legislative, die außer Kraft gesetzt wurde, regierte der Ministerrat mit Dekret. So ordnete ein Ukas vom 28. Juli an, im Kriegszustand die wehrfähigen Angehörigen gegnerischer Staaten an der Ausreise zu hindern und die anderen auszuweisen oder zu internieren. Am nächsten Tag übertrug die Regierung den Armeekommandeuren im Westen Russlands die Kontrolle über zivile Behörden. In Regionen und Orten, in denen der Kriegszustand erklärt worden war, konnten Befehlshaber Grundrechte wie die Unantastbarkeit der Person und des Eigentums einschränken. Die weitreichenden Vollmachten, die sich in detaillierten Anweisungen an die Heeresverbände niederschlugen, gewährten den Militärs in den besetzten Gebieten eine nahezu uneingeschränkte Macht.383 Darüber hinaus verhängte ein Militärstatut unmittelbar nach der Kriegserklärung Deutschlands gegenüber Russland (am 1. August 1914) in weiten Gebieten des Zarenreiches – so in Petersburg, Polen, Finnland, im Kaukasus und in Zentralasien – das Kriegsrecht. Damit bildete sich vollends ein Gegensatz zwischen Territorien heraus, die von zivilen Behörden oder dem Militär verwaltet wurden. An den westlichen und südwestlichen Frontabschnitten, die für die

382 Sanborn, Empire, S. 294, 298; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 123; Holquist, To Count, to Extract, and to Exterminate, S. 123–125; Altrichter, Russland 1917, S. 438 f. Vgl. auch Kramer, Historiography, S. 22. 383 Hierzu und zum Folgenden: Peter Holquist, Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, Cambridge 2002, 21 f.; ders., Forms of Violence During the Russian Occupation of Ottoman Territory and in Northern Persia (Urmia and Astraba), October 1914- December 1917, in: Bartov / Weitz (Hg.), Shatterzone, S. 334–361, hier: S. 337 f.; Sanborn, Empire, S. 300–304; Marrus, The Unwanted, S. 53, 61 f.; von Hagen, Great War, S. 42; Stevenson, 1914– 1918, S. 346 f. Aus zeitgenössischer und deutscher Perspektive: H. Klibanski, Rußlands Kriegsgesetze gegen die feindlichen Ausländer, in: Zeitschrift für Völkerrecht 10 (1917), S. 329–349, hier: S. 338, 341.

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Kriegführung entscheidend waren, erhielt der Oberkommandierende Großfürst Nikolai Nikolajewitsch (der Cousin des Zaren, im August 1915 abgelöst durch Nikolaus II. selber) diktatorische Macht. Im Armeehauptquartier nahm vor allem Nikolai Januschkewitsch (1868–1918), der Stabschef Nikolajewitsch Romanows, eine Schlüsselstellung bei der Zwangsevakuierung von Zivilisten ein. Das Standrecht, das am 16. Juli 1914 vorab für frontnahe Gebiete eingeführt worden war, erlaubte die Deportation von Minderheiten wie den Deutschen, Österreichern, Ungarn und Juden, die als „Feinde“ stigmatisiert wurden. Daneben konnten die Militärbehörden (tatsächliche oder vermeintliche) Verräter und andere Personen, die als unzuverlässig galten, in das Innere des Reiches verschleppen und dort internieren. Damit sollte die Bewegung von Feindstaatenangehörigen, Kriegsgegnern und Minoritäten kontrolliert werden. In den Kampfzonen begründete die Stawka die Zwangsmaßnahmen ebenso wie die enge Überwachung durchweg mit dem Ziel, die Sicherheit des Staates zu gewährleisten. Deutsche Siedler, die in der Nähe der Front lebten, mussten ihre Häuser innerhalb von fünf Tagen verlassen. Jedoch konnte die angestrebte rigorose Trennung von Soldaten und Bevölkerungsgruppen, die als illoyal und deshalb als Risiko für die Stabilität der Heimatfront galten, wegen organisatorischer Mängel zu Beginn des Krieges nur partiell durchgesetzt werden. Dennoch nutzten Nikolajewitsch und Januschkewitsch den Hinweis auf „militärische Notwendigkeiten“ gezielt, um in der Kampfzone und im Hinterland eine „ethnische Säuberung“ durchzuführen und die Russifizierung voranzutreiben. Auf diese Weise sollten die Operationen gegen Zivilisten, die aus der Sicht der Militärs den eigenen Kampf störten, abgeschirmt werden. Dieses Ziel löste aber eine Eskalation der Gewalt aus, die sich vorrangig gegen „unzuverlässige“ Minderheiten richtete. Dazu trug auch bei, dass Kommandeure der russischen Armee westlich des Dnjepr und einer Linie von Smolensk bis St. Petersburg (Petrograd) Eigentum requirieren und Anordnungen erlassen durften. Überdies waren sie ermächtigt, Verwaltungsangestellte zu entlassen, Preise festzulegen und Spione zu verhaften.384

384 Eric Lohr, Politics, Economics and Minorities. Core Nationalism in the Russian Empire at War, in: Ulrike von Hirschhausen / Jörn Leonhard (Hg.), Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011, S. 518–529, hier: S. 526; ders., 1915 and the War Pogrom Paradigm in the Russian Empire, in: Jonathan Dekel-Chan u. a. (Hg.), Anti-Jewish Violence. Rethinking the Pogrom in East European History, Bloomington 2011, S. 41–51, hier: S. 43–46; Irina Belova, ‚Human Waves‘: Refugees in Russia, 1914–18, in: Gatrell / Žvanko (Hg.), Europe, S. 88–107, hier: S. 90; Sanborn, Migrations, S. 301–309; Holquist, Forms, S. 340, 344, 350; Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 800–802; Levene, „The Enemy Within“?, S. 148, 156, 160. Vgl. auch der Rückblick in Brändström, Prisoners of War, S. 22.

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Allerdings blieb der Unterschied zwischen Zivil- und Kriegsfangenen im Herbst 1915 noch unklar. Erst in einem Telegramm vom 1. Januar 1915 differenzierte die Hauptverwaltung des Generalstabes deutlich zwischen den beiden Gruppen. Danach waren militärpflichtige Angehörige gegnerischer Länder, die im russischen Zarenreich lebten, als Zivilgefangene zu behandeln. Sie sollten der Verwaltung des Innenministeriums unterstehen. Dagegen galten diejenigen Personen, die sich in von russischen Truppen besetzten Gebieten der feindlichen Staaten aufhielten, offiziell als Kriegsgefangene. Für sie waren die Militärbehörden zuständig.385

Mobilisierung der Kriegsgesellschaft: Integration und Unterdrückung Die Kriegsmobilisierung steigerte nicht nur die Macht der Armee, sondern auch den russischen Nationalismus, der mit akuter Fremdenfeindlichkeit einherging. Außer Juden wurden besonders die Angehörigen feindlicher Staaten und von ihnen abstammende Eingebürgerte zur Zielscheibe der Agitation und Verfolgung. In einer wegweisenden Rede hatte Nikolaus II. am 4. August 1914 den Einfluss von Deutschen und Russlanddeutschen im Zarenreich scharf verurteilt. Daraufhin waren die ohnehin weit verbreiteten Sicherheitsängste gewachsen, die sich in Gerüchten über Deutsche, aus Deutschland stammende Russen und Juden niederschlugen. Die Behörden erreichten aus der Bevölkerung Tausende von Denunziationen, mit denen Fälle von „Spionage“ und „Subversion“ angezeigt wurden. So forderten in Moskau im August 1914 im städtischen Amt für Kanalisation 83 Angestellte, Deutsche und Österreicher aus der Stadtverwaltung zu entlassen, „weil wir an der Ergebenheit dieser Personen gegenüber unserem Vaterland Zweifel hegen.“386 An der patriotischen und fremdenfeindlichen Kampagne gegen „feindliche Ausländer“ (poddanye strany, vojujustschej s Rossijei) und russische Untertanen, die eingewandert waren, beteiligten sich ebenso kulturelle Einrichtungen. Im Zirkus gaben Clowns die Staatsmänner Deutschlands, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches der Lächerlichkeit preis. Diesem Zweck dienten auch Filme, Sportveranstaltungen, Graphiken und Revuen, in denen stereotype Wahrnehmungen des deutschen Gegners verbreitet wurden. Die Mobilisierung 385 Wurzer, Die Kriegsgefangenen, S. 43. 386 Zitat: Gatagowa, „Chronik der Exzesse“, S. 1091. Vgl. auch Sanborn, Migrations, S. 307; Bischof, Spy Fever. Zum historischen Kontext und analytischen Rahmen: Arnd Bauerkämper, Zwischen Sicherheit und Humanität. Feindbilder „des Deutschen“ im Russischen Zarenreich. Konzeptionelle Überlegungen, in: ders. / Rostislavleva (Hg.), Russland, S. 63–86, hier: S. 65– 79.

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gegen den „inneren Feind“ war eng mit staatlicher Repression verzahnt. So untersagte ein Dekret des Zaren am 18. August den Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit. Das Verbot wurde nicht nur von der Polizei durchgesetzt und kontrolliert, sondern auch von Spitzeln überwacht, die Deutsche wegen des Gebrauchs ihrer Sprache denunzierten.387 Allerdings konnte sich die russische Kriegspropaganda nicht auf eine klare nationale Identität stützen. Der Patriotismus blieb vielmehr schillernd und ambivalent. Er schwankte zwischen zivilgesellschaftlicher Mobilisierung für Russland und einer Instrumentalisierung für kommerzielle Zwecke. Graphische Medien (wie Plakate, Postkarten, Kalender, Karikaturen und Holzdrucke) verwendeten zwar ähnliche Themen, Klischees und Symbole; sie wandten sich aber jeweils an unterschiedliche Zielgruppen. Auch griffen sie differente Aspekte des Kriegspatriotismus auf, und sie sollten jeweils spezifischen Zwecken dienen. So wurden Poster 1916 in der Kampagne des Ministerrates für Kriegsanleihen eingesetzt. Eine klare und geschlossene nationale Symbolik bildete sich unter diesen Umständen nicht heraus. Überdies verlor der heroische und militante Patriotismus nach den ersten großen Niederlagen des Zarenreiches 1915 an Anziehungskraft. Demgegenüber behandelten Graphiken und andere Darstellungen zunehmend auch die Folgelasten des Krieges. Fürsorgliche Krankenschwestern, die einen sozial-karitativen Patriotismus zeigen sollten, verdrängten als Motive heroisch kämpfende Soldaten. Folkloristische Abbildungen spiegelten die weit verbreitete Neigung zu Nostalgie, Sentimentalität und Eskapismus wider. Vor allem distanzierten sich große gesellschaftliche und politische Gruppen – von den Nationalisten bis zu den „Kadetten“ – von der Regierung. Zwischen dem Zaren und der Gesellschaft öffnete sich 1916 eine tiefe Kluft, die entscheidend zum Zusammenbruch der Monarchie im Februar des darauffolgenden Jahres beitragen sollte.388 Umso wichtiger war die scharfe Abgrenzung von gemeinsamen Feinden, die verteufelt wurden. So verliehen russische Zeitungen und Zeitschriften, die von der Regierung zensiert wurden, der fremdenfeindlichen Agitation und den Verdächtigungen gegen Feindstaatenangehörige und Juden kräftig Auftrieb. Die Kampagne von Presseorganen und Verbänden wie der „Gesellschaft des Jahres 1914“ erstreckte sich sogar auf deutsche Namen. So ordnete Zar Nikolaus schon am 31. August an, die Hauptstadt St. Petersburg in „Petrograd“ umzubenennen. Nach einem Rundschreiben des Innenministers Nikolai A. Maklakow 387 Hubertus F. Jahn, Patriotic Culture in Russia during World War I, Ithaca 1995, S. 38, 49 f., 59, 86, 89, 173; Borodziej / Górny, Der vergessene Weltkrieg, S. 204; Panayi, Minorities, S. 223; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 123. 388 Jahn, Culture, S. 39, 42, 47, 72, 80–83, 68, 171–176.

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(1871–1918) wurden darüber hinaus deutschen Ortschaften russische Namen verliehen. Die Deutschen durften ihre Sprache in der Öffentlichkeit und in Schulen nicht mehr gebrauchen, und sie unterlagen einem Versammlungsverbot. Am 22. September 1914 untersagte ein Erlass des Zaren Angehörigen feindlicher Nationen grundsätzlich, Boden zu kaufen oder zu pachten.389 Minderheiten wie Juden und Polen wurde die Verantwortung für wirtschaftliche und soziale Probleme – so steigende Preise und die Verknappung des Warenangebotes – zugewiesen, die Russlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg herbeigeführt hatte. Dabei nutzte die Militär- und Zivilverwaltung Animositäten, Konflikte und Neid. Im Ersten Weltkrieg radikalisierte überdies die Presse die seit dem späten 19. Jahrhundert entstandenen pauschalen Feindbilder. Die Kampagne, die auch gebildete Russen anheizten, richtete sich vor allem gegen Deutsche. Von Herbst 1914 bis zum Frühjahr 1915, als das Zarenreich die ersten schweren militärischen Niederlagen erlitt, eskalierte die antideutsche Hetzkampagne. Sie bezog sogar die Zarin Alexandra Fjodorowna (geboren als Alix von Hessen-Darmstadt, 1872–1918) ein, eine Cousine des deutschen Kaisers Wilhelm II. Sie wurde zusammen mit ihrem ominösen Berater, dem Wanderpropheten Grigori Rasputin (1869–1916), der Subversion und Spionage verdächtigt. „Verrat“ schien in der gesamten Familie des Zaren verbreitet. Die Verschwörungsvorstellungen gingen mit Alteritätskonstruktionen einher, die sich in der Repression und Deportation der deutschen Minderheit niederschlugen. So steigerte der neue Vorsitzende des Ministerrates, Alexander F. Trepow (1868–1928), am 19. November 1916 die fremdenfeindliche Stimmung mit einer Regierungserklärung, in der er betonte: Erst jetzt haben wir mit großer Klarheit erfahren, unter welchem schweren Einfluß und Druck von Seiten Deutschlands alle Seiten des russischen Lebens gestanden haben. Die russische Industrie, Schule, Wissenschaft und Kunst, alles lag in den Händen deutscher Einwanderer. Es ist jetzt die dringlichste Aufgabe Russlands, sich von dieser deutschen Vormundschaft zu befreien und den Weg der Selbständigkeit zu betreten …

389 Hierzu und zum folgenden: Victor Dönninghaus, Die Deutschen in der Moskauer Gesellschaft. Symbiose und Konflikte (1494–1941), München 2002, S. 469–506; Eric Lohr, War and Revolution, 1914–1917, in: Dominic Lieven (Hg.), The Cambridge History of Russia, Bd. 2: Imperial Russia, 1689–1917, Cambridge 2006, S. 655–669, hier: S. 664, 668; Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft, Stuttgart 1986, S. 451, 506; Josua Sanborn, Imperial Apocalypse. The Great War and the Destruction of the Russian Empire, Oxford 2014, S. 166 f.; Peter Gatrell, A Whole Empire Walking: Refugees in Russia during World War I, Bloomington 1999, S. 8, 81; Long, From Privileged to Dispossessed, S. 229; Krieger, Kolonisten, S. 79; ders., Bundesbürger, S. 143 f.; Heine, Schulalltag, S. 36; Sergeev, Wahrnehmung, S. 102; Dalos, Geschichte, S. 55 f.

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Der Mythos einer Unterwanderung und Fremdbestimmung Russlands sollte den Kampf um die innere Sicherheit des Reiches gegenüber den „inneren Deutschen“ begründen.390 Besonders in den Gouvernements Samara und Saratow verbreiteten radikal nationalistische Gruppen Gerüchte über Illoyalität, Spionage und subversive Aktivitäten von Deutschen und Russlanddeutschen. So sollte ein Siedler in einem Gespräch mit einem russischen Soldaten nach den ersten Niederlagen der Zarenarmee geäußert haben: „Euer russischer Zar kann die Armee nicht führen; unser Wilhelm ist reich, und wenn er Russland besitzen würde, gäbe es hier keine Armut, und die Russen würden gut leben.“ Angesichts der wachsenden Unsicherheit und Fremdenfeindlichkeit wurden viele Wolgadeutsche verhaftet und interniert. Die rund 250.000 Deutschstämmigen, die in der russischen Armee dienten, zog die Militärführung nach den militärischen Niederlagen 1915 von den westlichen Frontabschnitten ab.391

Militärische Niederlagen und die Suche nach „Verrätern“ Wiederholt lösten vor allem Rückschläge der russischen Truppen im Ersten Weltkrieg eine oft hektische Suche nach „Verrätern“ in den eigenen Reihen aus, die im Allgemeinen in den Minderheiten vermutet wurden. So behauptete die Militärführung, dass ein Sieg Russlands im Krieg voraussetze, die „russischen Deutschen“ zu enttarnen und zu entmachten. Eine solche Kampagne beendete schon früh die militärische Karriere General Pawel Karlowitsch von Rennenkampffs (1854–1918), dem die Niederlage in der Schlacht bei Tannenberg im Herbst 1914 angelastet wurde. In den Kämpfen hatte Russland 120.000 Soldaten verloren. Der Oberbefehlshaber der Zarenarmee löste den General im November 1914 ab, den eine Untersuchungskommission aber wenige Wochen später entlastete. Jedoch war es Rennenkampffs unmittelbarem Vorgesetzten, General Jakow Shilinski (1853–1918), gelungen, die im Offizierskorps verbreiteten Gerüchte über Verräter in den eigenen Reihen auf seinen Untergebenen zu lenken und damit seine eigenen Führungsfehler zu verdecken. Nachdem im Februar 1915 in 390 Zitat: Lindemann, Kolonisten, S. 106; Fleischhauer, Deutschen, S. 460. Vgl. auch Dönninghaus, Bild, S. 18 f.; Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 62; Fuller, Foe, S. 180; Tooze, Sintflut, S. 93. 391 Dönninghaus, Revolution, S. 216; Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 50. Angabe nach: Lindemann, Kolonisten, S. 94. Als Erlebnisbericht: Käthe von Mihalotzy, Eine Reise durch Kriegsgefangenenlager in Rußland und Tukestan. Aus dem Tagebuch einer Delegierten des österreichischen Roten Kreuzes, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 251–258, hier: S. 254.

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der Winterschlacht von Masuren fast die gesamte Nordwestfront der Streitkräfte zusammengebrochen war und Russland in den ersten neun Monaten des Krieges fast zwei Millionen Soldaten (darunter 764.000 Kriegsgefangene) eingebüßt hatte, initiierten russische Nationalisten eine Kampagne gegen „Verräter“. Ziel der Agitation waren Angehörige von Minderheiten in Führungspositionen, besonders Deutsche und Juden. Nach Gerüchten hatten sie den Zarenhof, den Geheimdienst und Ministerien infiltriert. Schriftsteller warnten darüber hinaus vor dem Einfluss der Deutschen in der Wirtschaft und Wissenschaft des Zarenreiches. Unter dem Druck der fremdenfeindlichen Propaganda und der ersten Kriegsniederlagen zerfiel die Wehrgemeinschaft von Russen und Russlanddeutschen. An die Stelle der gemeinsamen Staatsangehörigkeit trat schrittweise ein ethnisch-kulturell geprägtes Selbstverständnis, das ein enormes Konfliktpotential barg.392 Die fremdenfeindliche Propaganda, die sich vor allem gegen Angehörige von Feindstaaten richtete, wurde noch radikaler, nachdem den Streitkräften Deutschlands und Österreich-Ungarns in der Schlacht von Gorlice-Tarnów im Mai 1915 ein Durchbruch durch die russischen Stellungen gelungen war. Die Truppen des Zarenreiches verzeichneten dabei rund 750.000 Tote und Verwundete. Im Zuge des „Großen Rückzuges“, der sich anschloss, verlor die Armee bis September 1915 rund zwei Millionen Soldaten, von denen über 900.000 gefangen genommen wurden. Darüber hinaus entfernten sich Tausende unkontrolliert von der Front. Um den Vormarsch der feindlichen Verbände zu erschweren, ordnete die Stawka eine Politik der „verbrannten Erde“ an, die aber nicht verhinderte, dass sich die russischen Armeen letztlich 400 Kilometer nach Osten zurückziehen mussten. Zuvor waren mindestens 200.000 Deutsche, 300.000 Litauer, 250.000 Letten, 350.000 Juden und 743.000 Polen ins russische Hinterland gebracht worden. Insgesamt deportierten die Militärbefehlshaber während des Rückzuges allein 750.000 Juden. Mit ihnen wurden eigene Staatsangehörige, die als „innere Feinde“ diffamiert wurden, Opfer des Krieges.

392 Marshall, Russian Military Intelligence, S. 409; Fuller, Foe, S. 132, 162; Gosewinkel, Einbürgern, S. 335; Echternkamp / Mack, Militärgeschichte, S. 18 f.; Fleischhauer, Deutschen, S. 462–468; Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 811. Angaben zu den Verlusten der russischen Armee nach: Chickering, Das Deutsche Reich, S. 39; Kershaw, Höllensturz, S. 76. Zur Kampagne gegen Rennenkampff: Larissa Korowina, Munition ohne Patronen. Antideutsche Stimmungen und Propaganda in der russischen Armee während des Ersten Weltkrieges, in: Eimermacher / Volpert (Hg.), Verführungen, S. 246–248; Olejnikow, Ritterlichkeit, S. 195. Angabe nach: Hirschfeld / Krumeich, Deutschland, S. 86.

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Die Niederlage von Gorlice-Tarnów radikalisierte damit erheblich die Repression von Zivilisten durch das russische Militär.393 Da der weite Vorstoß der deutschen und österreichischen Truppen nicht nur auf Fehler der Armeeführung, sondern auch auf Munitionsmangel zurückzuführen war, wuchs die Kritik an der Regierung. Kriegsminister Wladimir Alexandrowitsch Suchomlinow (1848–1926) wurde im Juni 1915 entlassen und im darauffolgenden Monat sogar vorübergehend inhaftiert, nachdem einige seiner Mitarbeiter – darunter Oberst Sergei Mjasojedow – wegen Spionage für Deutschland verhaftet und verurteilt worden waren. Zudem übernahm Zar Nikolaus II. persönlich den Oberbefehl über die russische Armee, so dass weitere Niederlagen ihm unmittelbar angelastet werden konnten.394 Überdies verstärkten sich haltlose Gerüchte über „Verrat“. Angeblich vergifteten Feindstaatenangehörige und Juden Brunnen, halfen den deutschen Armeen bei ihrem Vormarsch, verbargen Soldaten der Kriegsgegner oder übermittelten Nachrichten über russische Truppenbewegungen. Auch Russlanddeutschen und sogar russischen Kriegsgegnern wie den Sozialdemokraten und den Bolschewiki als Fraktion der Partei wurde Unterwanderung unterstellt. Nur die subversive Aktivität von Spionen schien die überraschenden Niederlagen erklären zu können. So verhaftete die Polizei Ende 1914 fünf bolschewistische DumaAbgeordnete, die anschließend verbannt wurden. Gerüchte über Spionage verliehen einer radikalen Sicherheitspolitik kräftig Auftrieb. So waren Spione angeblich als Nonnen verkleidet. Auch verboten Militärverwaltungen, die – wie in Riga – nahe an der Front lagen, die Haltung von Tauben. Angesichts dieser Sicherheitspolitik, die paradoxerweise die Verunsicherung noch erhöhte, verhallte zunehmend der Appell des Zaren an alle Völker, das Reich geschlossen zu verteidigen. Auch unter den Feindstaatenangehörigen traf er angesichts der Unterdrückung durch die staatlichen Organe kaum auf Resonanz. Zudem war die Repressionspolitik selber nicht kohärent und konsequent. So wurden die Kompetenzen der beiden Abteilungen, die für die im Russischen Reich lebenden Angehörigen von Feindstaaten zuständig waren, nicht klar voneinander abgegrenzt, so dass sich Reibungsverluste ergaben. Überdies gingen die Behörden vor allem mit Zivilisten aus der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zunächst zurückhaltender um als mit den (Russland)Deut-

393 Horne / Kramer, War S. 160, 162; Lieb, Krieg, S. 472 f. Angaben nach: Kramer, Prisoners, S. 75 f.; Leidinger / Moritz, Der Erste Weltkrieg, S. 79; Kershaw, Höllensturz, S. 82, 117; Levene, „The Enemy Within“?, S. 144, 149–151. 394 Fuller, Foe, S. 119–126, 132–149, 166, 168, 176 f., 187–190; Marshall, Russian Military Intelligence, S. 408–410, 417 f.; Holquist, War, S. 26; Sanborn, Imperial Apocalypse, S. 69; Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 799 f.

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schen.395 Damit war die Hoffnung verbunden, die Slawen für die eigene Kriegführung gewinnen oder zumindest neutralisieren zu können. Auch trafen die Loyalitätserklärungen vieler Deutscher vor allem bei russischen Liberalen durchaus auf Resonanz. So unterschieden viele Russen in den ersten Monaten des Krieges noch zwischen fremden und „unseren“ Deutschen. Auch Bürger, die in Russland geboren oder vor 1880 eingebürgert worden waren, wurden zunächst von der Zwangsaussiedlung ausgenommen. Dabei verwiesen die Behörden darauf, dass sich viele Russlanddeutsche in den ersten Wochen des Krieges freiwillig für die Armee des Zarenreiches gemeldet hatten. Auch stellte diese Gruppe reichlich Sach- und Geldspenden zur Verfügung, und sie engagierte sich auch bei der Errichtung von Lazaretten und Krankenhäusern.396 Dennoch wandten sich russische Nationalisten scharf gegen eine differenzierende Politik, die sie auf die Protektion von Deutschen durch ihre Sympathisanten in den russischen Eliten zurückführten. Angesichts der inneren Spannungen, die im Zarenreich während des Ersten Weltkrieges wuchsen, wurden auch den Russlanddeutschen Verbrechen wie Verrat, Subversion und Spionage vorgeworfen. So agitierten radikal nationalistische Organisationen wie die im Januar 1915 gebildete Bewegung „Für Russland“ und „Gesellschaft von 1914“, die 1916 über 6.000 Mitglieder in 19 regionalen Verbänden verfügte, gegen die „inneren Deutschen“. Einflussreiche Presseorgane stimmten in die fremdenfeindliche Kampagne ein. Anfang 1915 heizte vor allem die Zeitung Golos Moskwy („Moskauer Stimme“) des Unternehmers und konservativen Politikers Alexander Gutschkow (1862–1936) die Stimmung mit einer wochenlangen Kampagne auf. So hetzte das Blatt am 1. Mai 1915 gegen die Deutschen, die „bei uns leben, mit Waren, Gold und Tausenden von Menschenleben innerhalb des Landes Handel führen und mit dem würgenden Gas ihrer jesuitischen Natur auf die Psyche unseres Volkes einwirken.“ Auch die Organe des Herausgebers und Journalisten Alexei S. Suworin (1834–1912) verliehen der Spionagehysterie mit ihrer Sensationsberichterstattung kräftig Auftrieb. Besonders die Nowoje Wremja warnte seit 1914 unablässig vor einer Gruppe angeblich unzuverlässiger Deutscher. Außer der Presse verbreitete auch die Agitationsliteratur, die von Behörden zur Steigerung des Kampfgeistes verbreitet wurden, fremdenfeindliche Vorurteile. Allerdings waren russische Bauern und Soldaten überwiegend An-

395 Als Erlebnisbericht: Helene Hörschelmann, Hilfe der deutschen Balten, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 259–265, hier: S. 261. 396 Insgesamt ist die Zahl der deutschen Siedler, die im Ersten Weltkrieg in der russischen Armee dienten, mit rund 180.000 – darunter 50.000 Wolgadeutschen – veranschlagt worden. Vgl. Krieger, Kolonisten, S. 78. Ebenso Fleischhauer, Deutschen, S. 449–451, 470.

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alphabeten. Als noch wirksamer als Druckerzeugnisse erwiesen sich deshalb Plakate und Karikaturen, die gegen das „innere Deutschland“ hetzten.397 Wichtiger für den Umgang mit den Angehörigen gegnerischer Staaten waren aber politische Akteure und Institutionen. Außer den regulären Ministerien und den ihnen unterordneten Verwaltungsinstanzen sollten neugebildete, gesonderte Einrichtungen der Agitation gegen „innere Feinde“ und der Verdrängung und Repression dieser Gruppe dienen. So ordnete der Zar am 9. April 1915 die Gründung einer Sonderkommission an, die beauftragt wurde, Verstöße gegnerischer Armeen gegen das Kriegsrecht zu dokumentieren. Das Gremium publizierte bis Juli 1916 insgesamt 14 Bände und zahlreiche, oft übersetzte Propagandaschriften, die in Russland, aber auch in neutralen Ländern die Feindschaft gegenüber Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich steigern sollten. Am 3. August 1915 beschloss auch die Staatsduma, eine interfraktionelle Kommission „zum Kampf gegen die deutsche Übermacht auf allen Gebieten des russischen Lebens“ einzurichten. Ebenso sollte das im März 1916 gegründete und am 1. Juni vom Zaren bestätigte „Sonderkomitee zur Bekämpfung der deutschen Übermacht“ die Deutschen und Russlanddeutschen aus dem öffentlichen Leben verdrängen. Dem Gremium, das auf die „Befreiung des Landes von dem deutschen Einfluss auf allen Gebieten des Volkslebens im russischen Reiche“ zielte, gehörten Vertreter wichtiger Ministerien an. Direkt dem Ministerrat unterstellt, war die Kommission beauftragt, die innere Ordnung des Zarenreiches zu sichern. Damit oblag ihr die Jagd nach Spionen, für die sie weitreichende Polizeikompetenzen erhielt. Das Sonderkomitee verfügte auch über umfassende Befugnisse bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze unter dem Kriegszustand. So drängte es die Behörden erfolgreich, die Schließung deutscher Schulen zu befehlen. Allerdings setzen die beauftragten Inspektoren die Anordnungen in ihren Bezirken durchaus unterschiedlich um.398 397 Zitat: Dalos, Geschichte, S. 58. Vgl. auch Vasilij Molodjakov, Insgeheim germanophil? Valeri Brjusov und sein literarisches Umfeld während des Ersten Weltkriegs, in: Dagmar Hagemann (Hg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von den Reformen Alexanders II. bis zum Ersten Weltkrieg, München 2006, S. 697–726, hier: S. 701; Krieger, Kolonisten, S. 79 f.; ders., Bundesbürger, S. 144; Fleischhauer, Deutschen, S. 488; Gatagowa, „Chronik der Exzesse“, S. 1090; Korowina, Munition, S. 253. Im Rückblick aus der Perspektive der frühen zwanziger Jahre: Karl Lindemann, Von den deutschen Kolonisten in Rußland. Ergebnisse einer Studienreise 1919–1921, Stuttgart 1924, S. 103, 107. 398 Lindemann, Kolonisten, S. 83 f.; Sergeev, Wahrnehmung, S. 106. Hierzu und zum Folgenden auch: Wladimir Fedjuk, Der Kampf gegen die „deutsche Überfremdung“ in der russischen Provinz, in: Eimermacher / Volpert (Hg.), Verführungen, S. 95–119, hier: S. 96; Lohr, War, S. 668; Korowina, Munition, S. 259 f.; Gatrell, War, S. 685; Fuller, Foe, S. 177; Marshall, Russian Military Intelligence, S. 409 f., 414; Krieger, Kolonisten, S. 80; Dalos, Geschichte, S. 67. Zeitgenössisch: Klibanski, Kriegsgesetze, S. 345 f.

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Ebenso suchte Oberst Nikolai Batjuschins „Kommission zum Kampf gegen staatsfeindliche Aktivitäten und Spionage“, die im Mai 1916 gebildet wurde, fieberhaft nach „inneren Feinden“. Im ziellosen Kampf gegen „Verräter“ und „Saboteure“ nahm sie dabei oft wilde Gerüchte auf, die sich schon zuvor verbreitet hatten. So war bei der Gendarmerie des Gouvernements Jaroslawl (rund 200 Kilometer nordöstlich von Moskau) im Mai 1915 eine Information über die angeblich bevorstehende Ankunft eines deutschen Offiziers eingegangen, dem der Auftrag zugeschrieben wurde, eine Brücke über die Wolga zu sprengen. Auch Gerüchte über deutsche Gutsbesitzer, die angeblich Befestigungsarbeiten zur Unterstützung der Armee des Kaiserreiches durchführten und deutschen Flugzeugen Signale übermittelten, zeigten die allgemeine Verunsicherung. Feindliche Luftschiffe wurden sogar in Sibirien gemeldet, obgleich dies schon wegen der begrenzten Reichweite der Doppeldecker und Zeppeline völlig unmöglich war. Im Allgemeinen erwiesen sich diese Nachrichten als haltlose Gerüchte. Der baltische Generalgouverneur Pawel Kurlow (1860–1923), der für Ermittlungen zu Spionagefällen zuständig war, hatte schon Ende 1914 festgestellt, dass nur ein Prozent aller Meldungen einen Anfangsverdacht begründete.399 Viele Russen denunzierten ihre Nachbarn aus eigensüchtigen Motiven. Die Regierung und der Zarenhof nutzten die Agitation ihrerseits, um von den sozioökonomischen Problemen abzulenken und eigene Fehlentscheidungen zu verdecken. Dazu griffen sie auch Nachrichten über die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich auf. Diese politische Funktionalisierung nahm noch zu, als der gemäßigte Innenminister Nikolai B. Stscherbatow (1868–1943) im September 1915 durch Alexei N. Chwostow (1872–1918) ersetzt wurde, der in der Duma die Fraktion der radikalen Rechten führte. Stscherbatow hatte im August 1915 im Ministerrat die Judenverfolgung durch die Stawka unter ihrem Stabschef Nikolai Januschkewitsch kritisiert. Dabei waren von ihm außer den menschlichen Opfern die ökonomischen Schäden, die innere Destabilisierung des Zarenreiches und sein Reputationsverlust gegenüber den westlichen Kriegsverbündeten hervorgehoben worden.400 Mit der Kampagne gegen Spione und der wachsenden Fremdenfeindlichkeit ging eine forcierte Russifizierung einher, die sich in zunehmendem Nationalismus und Chauvinismus niederschlug. Im Zuge dieses Prozesses wurden der Illoyalität verdächtigte Feindstaatenangehörige und Minderheiten aus allen frontnahen Regionen ausgewiesen und deportiert. Bereits am 7. September 1914 ordnete ein Militärkommandeur im Gouvernement Suwalki (im russischen Teilungsgebiet Polens und im Baltikum) an, Deutsche aus den rückwärtigen Gebie399 Fedjuk, Kampf, S. 95, 100 f., 110; Olejnikow, Ritterlichkeit, S. 199. 400 Levene, „The Enemy Within“?, S. 161.

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ten zu entfernen. Als einige Regionen der Provinz nach einer gescheiterten russischen Offensive Anfang 1915 von deutschen Truppen erobert wurden, setzte im russischen Hinterland, wo die Bevölkerung angesichts der oft panischen Flucht kaum zu kontrollieren war, nach einem Erlass des Befehlshabers der Nordwestrussischen Front eine hektische Suche nach Spionen ein. Ihnen unterstellten die Militärbehörden, Details der Verteidigungsanlagen verraten zu haben. Dabei wurden Verdächtige in drei Gruppen eingeteilt: zu Deportierende (1), administrativ Verbannte (2) und Geiseln (3). Allerdings waren die Zurechnungskriterien nicht eindeutig. Deshalb herrschte in den Prozessen oft Unklarheit, obwohl Gendarmen Aussagen von mindestens drei Personen vorweisen mussten. Auch waren angesichts der Verschiebung der Fronten viele Informationen unsicher. Zahlreiche Auskünfte erwiesen sich als haltlose Denunziationen. Alles in allem prägten ethnische Konflikte und Konkurrenz um knappe Ressourcen – so zwischen Letten und den oft adligen Deutschen im Baltikum – die Verfahren.401 Die scharfen Auseinandersetzungen waren aber nicht nur auf die Russifizierungspolitik, sondern auch auf die Dynamik der Gewalt an der Front und im Hinterland zurückzuführen, die längerfristig angelegte fremdenfeindliche und antisemitische Ressentiments mobilisierte und radikalisierte. Das rigorose Vorgehen der Militärs spiegelte sich in den eskalierenden Pogromen wider, die schon im Herbst 1914 besonders Grenzregionen wie Galizien und die Bukowina erschütterten. Beide Gebiete, in denen Juden elf bzw. zwölf Prozent der Einwohner stellten, waren Ende 1914 und Anfang 1915 von der russischen Armee besetzt worden. Im Bann ihrer Sicherheitsängste und unter dem Einfluss der Doktrin „militärischer Notwendigkeiten“ beschuldigte die russische Militärführung Juden und Deutsche hier der Illoyalität und des Verrats. Dazu nutzte sie erneut Meldungen von Spitzeln, die Nachbarn der Zusammenarbeit mit dem Feind bezichtigten. Die österreichische Propaganda, die Minderheiten zu einer Erhebung gegen die Zarenherrschaft aufstachelte, schien die Vorwürfe der Stawka zu bestätigen. In den oft haltlosen Verdächtigungen verschwammen die Grenzen zwischen inneren und äußeren Feinden. In Galizien luden eingeschliffene ethnische und religiöse Konflikte zwischen Ukrainern, Polen und Juden den Krieg 401 Brändström, Prisoners of War, S. 21. Hierzu und zum Folgenden: Sanborn, Empire, 306 f., 310; Holquist, To Count, to Extract, and to Exterminate, S. 125; Kappeler, Minderheit, S. 22. Vgl. auch Sergej Nelipovič, Die Deportation von Deutschen aus Warschau im Ersten Weltkrieg (1914–1915), in: Neutatz / Hausmann / Eisfeld (Hg.), Besetzt, S. 231–262; Hull, Destruction, S. 234 f.; Fuller, Foe, S. 175 f., 180 f.; Marshall, Russian Military Intelligence, S. 414; Lohr, War, S. 665; Dönninghaus, Revolution, S. 226 f.; Gatrell, War, S. 679 f. Aus zeitgenössischer Perspektive: Lindemann, Kolonisten, S. 104 f.; Ernst Seraphim, Schicksal deutscher Helfer, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 258 f

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zwischen Russland und Österreich noch auf. Russische Soldaten gingen in Dörfern und Städten, die sie erobert hatten, ebenfalls gewalttätig gegen jüdische Bewohner vor. Darüber hinaus kam es hier zu Vergewaltigungen und Morden. Die Gewalt der russischen Soldaten war durchweg willkürlich, unsystematisch und unberechenbar. Sie wurde von Schlüsselakteuren wie Januschkewitsch und dem Vertreter des Außenministeriums für die Besatzungspolitik in der Bukowina, Graf Walerian Murawjow, angeordnet und damit ausgelöst. Auch radikale Nationalisten betrachteten den Krieg als Chance, jüdische und deutsche „Spione“ ohne die ihnen lästige Kontrolle des Parlaments zu beseitigen.402 Daneben wirkten Angehörige der russischen Intelligenz an der fremdenfeindlichen Kampagne mit, so die Schriftsteller Alexander Kuprin (1870–1938), Konstantin Balmont (1867–1942) und Sergei Gorodezki (1884–1967). Auch der Philosoph Wladimir Ern (1882–1917) brandmarkte die deutsche Kultur als innere Gefahr und setzte sie weitgehend mit dem Militarismus gleich, der in vielen Publikationen die Metapher der „eisernen Faust“ symbolisierte. Er führte die gesamte Kultur Deutschlands auf eine Fehlentwicklung zurück. Ebenso interpretierten andere slawophile Intellektuelle wie Sergei N. Bulgakow (1871–1944) das intellektuelle Erbe Deutschlands selektiv und negativ, während sie umgekehrt die Russen als auserwähltes Volk verherrlichten. Insgesamt diente die Metapher des „inneren Deutschen“ der Intelligenz des Zarenreiches besonders der Auseinandersetzung mit der russischen Identität im Rahmen der europäischen Zivilisation. Damit verschärfte sich im Ersten Weltkrieg nochmals der Konflikt zwischen den Slawophilen und den Anhängern einer Modernisierung nach westlichem Vorbild, die schon im 19. Jahrhundert gegensätzliche Entwicklungsmodelle vertreten hatten.403 Jedoch beschränkte sich die Berichterstattung über den Einfluss der Deutschen und Russlanddeutschen in einzelnen Presseorganen wie der Tageszeitung Russkoje Slowo auch im Ersten Weltkrieg nicht auf Feindbilder. Vielmehr hielten sich in ihren Artikeln Nuancen und Differenzierungen, mit der sich die

402 Peter Holquist, The Role of Personality in the First (1914–1915) Russian Occupation of Galicia and Bukovina, in: Jonathan Dekel-Chen u. a. (Hg.), Anti-Jewish Violence. Rethinking the Pogrom in East European History, Bloomington 2011, S. 52–73, hier: S. 52 (Angaben), 55, 57 f., 61, 64, 66; ders., Forms, S. 343–345, 350–353; ders., Politics, S. 162 f., 166 f. Vgl. auch Elsa Brändström-Ulich, Die Zivilinternierten in Rußland, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 2, S. 129–131, hier: S. 130 403 Nikolaj Plotnikov / Modest Kolerov, „Den inneren Deutschen besiegen“. Nationalliberale Kriegsphilosophie in Rußland 1914–1917, in: Eimermacher / Volpert (Hg.), Verführungen, S. 31–70, bes. S. 35 f., 47 f., 54, 69 f.; Aaron Cohen, Bild und Spiegelbild: Deutschland in der russischen Tageszeitung „Russkoe Slovo“ (1907–1917), in: Hermann (Hg.), Deutsche, S. 258– 279, hier: S. 263, 274; Molodjakov, Insgeheim germanophil?, S. 701.

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Zeitung schon in den Vorkriegsjahren von der zunehmenden Distanzierung von Deutschland und dessen Kultur abgehoben hatte. So lehnten die Journalisten zwar die autoritäre Herrschaft im Kaiserreich und den Militarismus seiner Eliten ab; jedoch diente diese Kritik auch der Auseinandersetzung mit der Zarenherrschaft, deren Reform und Liberalisierung sie forderten. Darüber hinaus hoben Artikel, die in Russkoje Slowo veröffentlicht wurden, die Prägekraft der deutschen Romantik in der deutschen Kultur hervor, die sie mit Gemütlichkeit und Friedlichkeit assoziierten. Zumindest in einzelnen Presseorganen blieben die Wahrnehmungen Deutschlands – und damit auch der Russlanddeutschen im eigenen Staat – vielschichtig und gelegentlich sogar widersprüchlich.404 Auch schlossen sich keineswegs alle russischen Intellektuellen der Kampagne gegen die Deutschen und ihre Kultur an. Trotz der fremdenfeindlichen Kriegspropaganda blieb die Wahrnehmung Deutschlands vielmehr ambivalent. So verteufelte der Schriftsteller Waleri Brjussow (1873–1924), der von August 1914 bis Mai 1915 als Kriegsberichterstatter arbeitete, die Deutschen nicht pauschal. In seinen Gedichten, Romanen und Zeitungsartikeln forderte er vielmehr einen Zusammenschluss der Europäer, besonders gegen Japan und die Osmanen. Auch Semjon L. Frank (1877–1950) und einzelne andere Philosophen ergriffen nicht einseitig für Russland Partei, sondern sie vertraten u. a. allgemeine Prinzipien humanitärer Gerechtigkeit im Rahmen eines gesamteuropäischen Denkens. Andere Intellektuelle, die Russland im Ersten Weltkrieg zu einem Hort der Zivilisation erklärten, bezogen sich auf das Erbe Goethes und der deutschen Liberalen. Noch entschiedener vertraten die „Tolstojaner“, die sich unter dem Eindruck der Werke des Schriftstellers Leo Tolstoi (vor allem des zuerst 1894 in Deutschland veröffentlichten Buches „Das Himmelreich in euch“) im späten 19. Jahrhundert gebildet hatten, humanitäre Prinzipien und universelle Werte wie Brüderlichkeit, Liebe und Versöhnung. Da sie an eine gemeinsame Seele aller Menschen glaubten, beriefen sie sich auch auf eine umfassende Humanität. Die Anhänger der Bewegung – darunter besonders Tolstois Freunde – verweigerten im Ersten Weltkrieg den Wehrdienst, wandten sich gegen den Krieg und lehnten den russischen Nationalismus ebenso ab wie Pässe und Steuern. Dem Chauvinismus setzten sie das Ideal der freien Erziehung entgegen. Sie lehnten die Wehrpflicht ab und unterstützten Pazifisten. Obgleich 1916 eine Gruppe von Tolstojanern in einem Prozess freigesprochen wurde, trafen sie vor allem auf dem Lande auf Ressentiments, die sich auch gegen Sekten wie die Mennoniten und Baptisten richteten. Angehörige dieser Gruppen, die sich der Integration in die Nation verweigerten und die damit verbundene Vorherrschaft der Orthodoxen Kirche ablehnten, wurden oft auch physisch angegriffen. So 404 Cohen, Bild, S. 258 f., 263, 268, 272 f., 276; Sergeev, Wahrnehmung, S. 98

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gingen Arbeiter, die in Tula in der Rüstungswirtschaft beschäftigt waren, im Oktober 1914 gegen „Tolstojaner“ vor, die zur Einstellung der Produktion aufgefordert hatten. Sie waren daraufhin als deutsche Spione diffamiert worden. 1917 ging aus der Bewegung die „Gesellschaft für die Bewahrung der Freiheit“ hervor, die sich für eine geistige Weiterentwicklung aller Gesellschaften einsetzte. Die Tolstojaner strahlten vor allem nach 1917/18 über Russland bzw. die Sowjetunion aus, indem sie beispielsweise zur Arbeit der 1921 gegründeten War Resisters International beitrugen.405 Ebenso weigerten sich einzelne russische Wissenschaftler sogar noch nach der Veröffentlichung des „Aufrufes an die Kulturwelt“, in dem 93 deutsche Intellektuelle und Wissenschaftler am 2. Oktober 1914 die Kriegführung ihres Landes gerechtfertigt hatten, Deutsche, Österreicher und Ungarn unterschiedslos aus ihren Institutionen und Gremien zu verstoßen. So schloss die Kaiserliche St. Petersburger Akademie der Wissenschaften Ehrenmitglieder und Korrespondierende aus Staaten, die gegen Russland Krieg führten, nicht aus, obgleich der Ministerrat am 31. Oktober 1914 angeordnet hatte, alle Feindstaatenangehörige in wissenschaftlichen Einrichtungen zu entlassen. Die Akademieleitung verteidigte ihren Beschluss bis 1915 trotz einer radikal nationalistischen Pressekampagne. Dabei unterstellte vor allem die Zeitung Nowoje Wremja („Neue Zeit“) den russischen Wissenschaftlern mangelnden Patriotismus. Mit ihren großen Forschungsprojekten trug die Akademie aber explizit zur Mobilisierung der Ressourcen Russlands für den Krieg bei, und sie wandte sich schrittweise von der Kooperation mit deutschen Kollegen ab.406

Ausmaß und Grenzen der Repressionspolitik: Ausweisung, Deportation und Vertreibung Die propagierten Feindbilder, eine Vielzahl von Denunziationen und die verstärkte Russifizierungspolitik lösten im Zarenreich eine radikale Unterdrückung aller „inneren Feinde“ aus. Dabei konzentrierten sich die Repressionsmaßnahmen auf Russen, die aus Feindstaaten stammten. Bereits in den ersten Kriegsmonaten wiesen die Behörden viele Deutsche und Russlanddeutsche aus ihren Heimatorten aus. Nachdem unter Anwendung des Kriegsrechts auf der Grund405 Dennis de Lange, Die Revolution bist Du! Der Tolstojanismus als soziale Bewegung in den Niederlanden, Heidelberg 2016; Sanborn, Russian Nation, S. 183–187, 193; Molodjakov, Insgeheim germanophil?, S. 704–709. 406 Wladimir Jessakow, Die Petersburger Akademie der Wissenschaften und der Umbruch in den russisch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen 1914–1917, in: Eimermacher / Volpert (Hg.), Verführungen, S. 531–549, bes. S. 536 f., 542.

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lage eines Erlasses vom 15. August 1914 zunächst alle waffenfähigen Feindstaatenangehörigen im Alter von 18 bis 45 Jahren verhaftet und unter Polizeikontrolle gestellt worden waren, wurden sie anschließend in zentrale Gouvernements – besonders Wologda, Orenburg und Kazan – verbannt. Bis Ende 1914 erfasste die Deportation, die das Innenministerium anordnete, rund 50.000 der insgesamt 600.000 Bürger Deutschlands, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches, die sich im russischen Zarenreich aufhielten. In den Lagern, in denen die Verschleppten festgesetzt wurden, starben viele von ihnen an Hunger und Epidemien. Die hohe Mortalität verstärkte die Wahrnehmung dieser Gruppe als gefährliche Außenseiter. Dazu trug überdies die Internierung von Feindstaatenangehörigen bei, die in den frontnahen Gebieten der Spionage verdächtigt wurden. Außer wehrfähigen Männern wurden ab Herbst 1914 auch Frauen und Kinder festgesetzt.407 Noch wichtiger waren in Russland aber von 1914 bis 1917 die Deportation, Vertreibung und Enteignung von Feindstaatenangehörigen und anderen „inneren Feinden“. Deutschen Bauern entzogen die Behörden in einer Zone von 100 Kilometern entlang der Westgrenzen und der Küsten ihre Immobilien. Zudem wurden 250.000 Personen mit deutschen Familiennamen aus frontnahen Gebieten entfernt und deutsche Unternehmen der Aufsicht der Regierung unterstellt. Die Ausweisung und Zwangsaussiedlung aus den Kampfzonen begründete das Kriegs- und Innenministerium mit Sicherheitserfordernissen, denen ihrerseits Verschwörungsvorstellungen zu Grunde lagen. So erklärte Kriegsminister Wladimir Suchomlinow in der Kabinettssitzung am 17. Oktober 1914, dass die Russlanddeutschen spionierten, Streiks organisierten und für die Revolution agitierten. Die systematische „Säuberung“ der Gebiete, die als gefährdet galten, erfasste außer den Deutschen und Russlanddeutschen auch Österreicher, Ungarn und Juden. Sie wurden der Spionage und des Verrats bezichtigt und schon zu Beginn des Krieges vielerorts misshandelt, deportiert oder ermordet. So mussten nach einer Anordnung der Armeeführung ab August 1914 eine halbe Million Juden, die in der Nähe der Front lebten, ihre Wohnorte verlassen. Die Zwangsevakuierung bezog sich zunächst auf die Grenzgouvernements Radom, Łomża und Lublin, weniger später auch auf Warschau. Die Militärs begründeten die Deportationen mit dem Ziel, die Sicherheit hinter der Front zu erhöhen. Schon im November 1914 erklärte die Stawka, dass die Militärbefehlshaber Juden auch als Geiseln nehmen und bei einer Gefährdung der Sicherheit sogar exekutieren würden. Der Verdacht, den Deutschen als Spione zu dienen, richtete sich darüber hinaus gegen Tschechen und Polen, obgleich viele von ihnen für das Za407 Spiropoulus, Ausweisung, S. 88 f.; Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 800 f. Allgemein: Sanborn, Migrations, S. 294.

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renreich kämpften. Außerdem galten Kurden als unzuverlässig, so dass auch sie oft vertrieben wurden.408 Nicht nur in den Zonen an der westlichen Grenze, sondern auch in den zentralen Regionen Russlands durchsuchten und verhafteten die Behörden schon unmittelbar nach Kriegsbeginn Fremde, deren Loyalität gegenüber dem Zarenreich sie bezweifelten. So demolierten und plünderten Einwohner in Moskau am 10. Oktober 1914 Geschäfte von Deutschen und Österreichern, denen sie vorwarfen, die russische Wirtschaft zu beherrschen. Die Wolgadeutschen wurden aus den zentralen Städten der Gouvernements Saratow und Samara ausgewiesen. Überdies lösten panislamische und großtürkische Ideologien im Zarenreich nach dem Kriegseintritt des Osmanischen Reiches am 29. Oktober 1914 Bedrohungsängste aus, vor allem in den südlichen Provinzen. In Russland waren damit Sicherheits- und Minderheitenpolitik im Ersten Weltkrieg schon früh verknüpft. Zugleich beeinflusste der Umgang mit Minoritäten maßgeblich die Legitimität der zarschen Herrschaft. Ebenso veränderte die Zwangsverschleppung im Russischen Reich das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie.409 Während des „Großen Rückzuges“ drohte vorübergehend sogar ein Völkermord. Außer Politikern der Liberalen Demokraten verhinderten ihn die verbündeten Regierungen, vor allem britische Diplomaten. Besonders bedeutend waren aber institutionelle Barrieren im Zarenreich, denn die Armeeführung verfolgte zwar brutal Minderheiten wie Armenier und Assyrer. Jedoch war die Gewalt oft unsystematisch und nicht vorrangig ideologisch motiviert, sondern sie folgte einer militärischen Eigenlogik, die auf die Unterordnung von Zivilisten unter die (wahrgenommenen) Zwänge der Kriegführung zielte und gegenüber zivilen Instanzen weitestgehend abgeschirmt war. Damit hob sich die Entwicklung in Russland trotz der grausamen Verfolgung von Minderheiten vom Genozid gegen die Armenier ab, der im Osmanischen Reich im Mai 1915 gleichfalls nach einer militärischen Niederlage und angesichts einer akuten Bedrohung der Sicherheit des Landes begann.410 408 Angabe nach: Lohr, Politics, S. 526. Vgl. auch Alfred Rieber, The Struggle for the Eurasian Borderlands. From the Rise of Early Modern Empires to the End of the First World War, Cambridge 2014, S. 589, 615; Sanborn, Russian Nation, S. 171 f., 205; ders., Imperial Apocalypse, S. 74–77, 85; Sergeev, Wahrnehmung, S. 103; Levene, „The Enemy Within“?, S. 148; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 113 f.; Sammartino, Border, S. 33; Gatrell, Empire, S. 147–150; von Hagen, Great War, S. 44; Aust, Russische Revolution, S. 79; Hausmann, Vielvölkerstaat, S. 26; Holquist, Forms, S. 345; Borodziej / Górny, Der vergessene Weltkrieg, S. 102 f. 409 Zu den frühen Ausschreitungen in Moskau: Ludmilla Gatagowa, „Chronik, der Exzesse“. Die Moskauer Pogrome von 1915 gegen die Deutschen, in: Eimermacher / Volpert (Hg.), Verführungen, S. 1085–1112, hier: S. 1088. 410 Peter Holquist, The Politics and Practice of the Russian Occupation of Armenia, 1915 – February 1917, in: Ronald Grigor Suny / Fatma Müge Göçek / Norman Naimark (Hg.), A Ques-

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Im Zarenreich ergriff Außenminister Sergei Sasonow (1860–1927) aber auch nicht offen für die Armenier Partei. Nach dem Abkommen, das Anfang 1916 vorbereitet und am 16. Mai 1916 von den Diplomaten Mark Sykes (1879–1919) und François Georges-Picot (1870–1951) abgeschlossen wurde, verschob sich das Interesse russischer Außenpolitiker vom Kaukasus nach Nordmesopotamien, wo vorrangig Kurden lebten. Der vorsichtigen Politik gegenüber den Armeniern folgte der Statthalter der Kaukasusprovinz, Großfürst Nikolai Nikolajewitsch (1856–1929), der sich gegen eine bevorzugte Behandlung einer besonderen Volksgruppe im Kaukasus stellte. Er grenzte sich damit von seinem Vorgänger Illarion Iwanowitsch Worontzow-Daschkow (1837–1916) ab, der die russischen Armenier nachdrücklicher unterstützt hatte, um sie für den Kampf gegen das Osmanische Reich zu gewinnen. Die russische Regierung schwankte zudem zwischen der Förderung von Mitgliedern der 1890 gegründeten Armenischen Revolutionären Föderation (Daschnaken) und ihrer Hilfe für die regionalen Kurdenstämme. Diese beiden Gruppen wurden auch von den „Jungtürken“ im Osmanischen Reich gegeneinander ausgespielt.411 Obwohl die russischen Militärs auch die örtliche Bevölkerung aufforderten, sich an den Übergriffen zu beteiligen, blieb deren Mitwirkung zumindest in Galizien begrenzt – im Gegensatz zu den Massakern, bei denen im Juni und Juli 1941 Bewohner gelegentlich sogar die Initiative ergreifen sollten. Dennoch wurden im Zuge von Pogromen, an denen sich in den vorübergehend von der Zarenarmee besetzten Gebieten besonders in der Ukraine auch Bewohner beteiligten, Juden deportiert und ihr Eigentum zerstört oder geraubt. Insgesamt verschoben die Militärkommandanten allein in Galizien schon bis Frühjahr 1915 rund 50.000 Juden innerhalb der Provinz. Weitere 20.000 bis 30.000 deportierten sie nach Russland. 1914/15 blieben militärisch-sicherheitspolitische Gesichtspunkte aber wichtiger als antisemitische Ressentiments, die Generale und Offiziere wiederholt unter hohem Einsatz eindämmten, um die Disziplin in ihren Einheiten aufrecht zu erhalten. So gelang es dem militärischen Generalgouverneur in Galizien und in der Bukowina, Graf Georgi Bobrinski (1863–1928), die angeordnete Beschlagnahme des Landes jüdischer Eigentümer und das Verbot von Hilfslieferungen für Juden zu hintertreiben. Alles in allem entgrenzte die radikale Feindschaft gegen Juden aber die Kriegsgewalt schrittweise, die wiederum die Pogrome auslöste. Zugleich sind daneben auch situative Faktoren und der Einfluss einzelner Personen zu berücksichtigen. So blieben in Galizien

tion of Genocide. Armenians and Turks at the End of the Ottoman Empire, Oxford 2011, S. 151– 174, hier: S. 152–154, 160–163, 165, 168, 170–172; ders., Forms, S. 338 f.; Levene, Frontiers, S. 92–97, 114; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 207, 210 f. 411 Holquist, Politics, S. 155–158.

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und in der Bukowina 1916/17 Befehle der Spitzenmilitärs zur Verfolgung aus. Auch fehlte hier eine zumindest stillschweigende Duldung von Gewalt gegen Juden.412 Besonders Deutsche und Juden wurden auch Opfer großflächiger Zwangsevakuierungen. So mussten 1914/15 in Wolhynien ca. 70.000, in Kiew rund 10.000, in Podolien und im nördlichen Bessarabien 20.000 und in Tschernigow 11.540 Personen deutscher Nationalität ihre Siedlungsgebiete verlassen. Auch viele Wolgadeutsche, die verdächtigt wurden, Kaiser Wilhelm II. zu verehren und für Deutschland Partei zu nehmen, wurden nach Sibirien oder Zentralasien deportiert. Zuvor versuchten die Betroffenen vielerorts verzweifelt, ihr Eigentum zu verkaufen, um der Beschlagnahme durch das russische Militär oder der Zivilverwaltung zuvorzukommen. Außerdem durften deutschstämmige Soldaten nach den schweren Niederlagen der Zarenarmee in Ostpreußen im Herbst 1914 ausschließlich an der Kaukasusfront im Kampf gegen das Osmanische Reich eingesetzt werden, um Desertationen, Spionage und Subversion zu verhindern. Insgesamt führten die Zwangsumsiedlungen und -einsätze eine enorme Mobilität herbei, die letztlich das soziale und politische Gefüge des Zarenreiches nachhaltig erschütterte. Die erzwungene Migration zerstörte vor allem gesellschaftliche Beziehungen zwischen unterschiedlichen Volksgruppen. Schon Ende 1915 wurden rund 3,3 Millionen Flüchtlinge registriert. Die meisten dieser Zwangsmigranten waren vor den heranrückenden österreichischen und deutschen Truppen aus Galizien geflohen oder evakuiert worden. Darunter waren auch rund 200.000 Russlanddeutsche, die ihre Wohngebiete im Westen Russlands – besonders in Wolhynien und in Russisch-Polen – verlassen mussten. Sie wurden an den Ural oder nach Kaluga (an der Oka südwestlich von Moskau), aber auch nach Sibirien und Turkestan gebracht. Die Militärführung lehnte eine Unterstützung der Flüchtlinge, die lästig waren, konsequent ab. Vielmehr wurde die Fürsorge bewusst gesellschaftlichen und karitativen Hilfsorganisationen überlassen.413

412 Prusin, „Zone of Violence“, S. 364–371, 374; Holquist, Forms, S. 343–345, 350–353; ders., Role, S. 52, 58, 64, 66, 68; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 255–257. Angaben nach: Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 799. 413 Angaben nach: Sanborn, Empire, S. 310; Krieger, Bundesbürger, S. 144, 191; Sandorn, Imperial Apocalypse, S. 79, 82; von Hagen, Great War, S. 42, 46; Fleischhauer, Deutschen, S. 507; Proctor, Civilians, S. 122 f.; Lohr, Army, S. 405 f., 416 f., 419; Becker, Captive Civilians, S. 269; Dahlmann, Deportation, S. 195. Vgl. auch Marrus, The Unwanted, S. 54; Belova, ‚Human Waves‘, S. 93, 99; Sanborn, Migrations, S. 292–294; Stevenson, 1914–1918, S. 347; Hull, Destruction, S. 234 f.; Long, From Privileged to Dispossessed, S. 226; Brandes, Die Deutschen in Russland, S. 123; Levene, „The Enemy Within“?, S. 148; Holquist, Forms, S. 340–343; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 105.

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Zwei Jahre später belief sich die Zahl der Vertriebenen nach zeitgenössischen Schätzungen auf sechs Millionen (rund fünf Prozent der Bevölkerung). Sie waren überwiegend aus den westlichen Randgebieten des Zarenreiches geflohen. Allein in den baltischen Provinzen hatte die Militärführung durch ihre Deportationen 200.000 Juden und 500.000 Litauer entwurzelt, darunter die Hälfte der Einwohner von Riga. Aber auch Tausende Deutsche mussten ihre Heimat verlassen. Dabei waren die Übergänge zwischen Vertreibung, Deportation und Internierung fließend, zumal besonders 1917/18 viele Deutsche nicht in geschlossenen Lagern untergebracht, sondern einfach sich selbst überlassen wurden. Die Zwangsumsiedlung dieser Gruppe wurde im deutschen Kaiserreich kaum diskutiert und war offenbar auch kein Gegenstand der Kriegspropaganda. Russlands militärisches Oberkommando und lokale Amtsträger ließen nichtrussische Minderheiten aus den peripheren Regionen des Reiches vertreiben und deportieren, weil sie diese Gruppen als Risiko für die Sicherheit des Landes betrachteten. Wie in anderen kriegführenden Staaten war die Spionagemanie besonders unter den Militärs weit verbreitet.414 Bis 1917 wurden die Deportationen von Juden und Deutschen zunehmend organisiert und ausgeweitet, sowohl hinsichtlich der erfassten Gebiete als auch im Hinblick auf die betroffenen Personengruppen. Angesichts der militärischen Niederlagen ging die russische Armeeführung im Frühjahr 1915 zu einer „Politik der verbrannten Erde“ über, um den vorstoßenden Armeen Deutschlands und Österreich-Ungarns keine Ressourcen zu überlassen. Auch Bevölkerungsgruppen, die als illoyal galten, sollten entfernt werden. So ließen Offiziere die jüdische Minderheit systematisch aus den westlichen Gebieten abtransportieren. Im April und Mai 1915 wurden allein aus Litauen 176.000 Angehörige der jüdischen Minderheit deportiert. Zugleich mussten in den Provinzen Kielce und Radomsko 15.000 jüdische Bewohner ihre Heimat verlassen. Sie verschleppten Soldaten in das Gouvernement Lublin. Als die russische Armee Anfang Juni in Galizien die Stadt Przemysl aufgeben musste, führte sie 17.000 Juden zwangsweise mit. Am 14. Juni befahl Januschkewitsch schließlich, alle Angehörigen der deutschen und jüdischen Minderheit aus Wolhynien zwangsweise zu evakuieren, die aus der Sicht der Militärverwaltung die Sicherheit gefährdeten, auch weil sie Deutsch miteinander sprachen. Im Sommer 1915 waren von den Deportationen in Russisch-Polen mindestens 600.000 Juden betroffen, die pauschal als „Spione“, „Verräter“ und „Saboteure“ galten. Der Ministerrat wies die Militärkom-

414 Rieber, Struggle, S. 534 f.; Rachamimov, ‚Zivilhistoriographie‘, S. 35; Stibbe, Civilian Internment, S. 243.

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mandeure an, die einzelnen Minderheiten in jeweils festgelegte Regionen im Innern des Zarenreiches zu transportieren.415

Ausschreitungen gegen zivile Feindstaatenangehörige und Juden in den Städten Die Ausschreitungen und Pogrome gegen zivile Feindstaatenangehörige und Juden erstreckten sich auch auf die urbanen Zentren. Die Behörden des Zarenreiches unterwarfen die Deutschen und Österreicher in Städten restriktiven Maßnahmen. Außerdem schürten gesellschaftliche Gruppen und Organisationen die Angst vor den Fremden und den Hass auf Feindstaatenangehörige. So lösten der öffentliche Abtransport der Betroffenen, den die Militärgouverneure anordneten, und Gerüchte über Spionage und Sabotage angesichts der katastrophalen militärischen Niederlagen im Frühjahr 1915 in den Metropolen Russlands Unruhen aus.416 Die gewalttätigen Übergriffe, die vom 27. bis 29. Mai 1915 vor allem Moskau erschütterten, sind auch auf die grenzüberschreitende Empörung über die Versenkung der Lusitania zurückzuführen. Der Ozeanriese war am 7. Mai von einem deutschen Unterseeboot torpediert worden und innerhalb von 18 Minuten untergegangen. Dabei starben 1.198 Menschen, darunter 128 US-Amerikaner. Vor allem der Tod von Frauen und Kindern hatte – wie dargestellt – viele Engländer empört, so dass es in Liverpool bereits unmittelbar nach der Bekanntgabe der Versenkung zu Übergriffen gegen Deutsche gekommen war. Anschließend erfassten die Ausschreitungen nicht nur weitere Städte in Großbritannien, sondern auch die Vereinigten Staaten und Südafrika, wo sich der gewalttätige Protest ebenfalls gegen die deutschen enemy aliens richtete.417 Die antideutschen Unruhen in Großbritannien, in den Dominions und in den USA zeitigten in Russland einen erheblichen Demonstrationseffekt. Jedoch waren die Ausschreitungen, die nach Übergriffen auf Geschäfte und andere Im415 Alexander Victor Prusin, Nationalizing a Borderland: War, Ethnicity, and Anti-Jewish Violence in East Galicia, 1914–1920, Tuscaloosa 2005; Semion Goldin, Deportation of Jews by the Russian Military Command, 1914–1915, in: Jews in Eastern Europe 41 (2000), Nr. 1, S. 40–73. Aus der Sicht einer Zeitzeugin: Brändström, Among Prisoners of War, S. 22, 152, 155. 416 Hierzu und zum Folgenden S. 225 f. und Eric Lohr, Nationalizing the Russian Empire. The Campaign against Enemy Aliens during World War I, Cambridge 2003, S. 31–54, 166–173; Levene, „The Enemy Within“?, S. 148. 417 Nicoletta Gullace, Friends, Aliens, and Enemies: Fictive Communities and the Lusitania Riots of 1915, in: Journal of Social History 39 (2005), S. 345–367; Panayi, Enemy, S. 283–291; Dedering, ‚Avenge the Lusitania‘; Holmes, John Bull’s Island, S. 97 f.

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mobilien von Deutschen, Österreichern und Ungarn vom 26. bis 29. Mai 1915 zu einem vorübergehenden Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führten, auch durch die vorangegangene Niederlage der Truppen des Zarenreiches gegen deutsche und österreichische Verbände bei Gorlice-Tarnów ausgelöst worden. Hinzu kam der Protest gegen Preissteigerungen, Lebensmittelspekulationen und die ungleiche Verteilung von Versorgungsgütern des täglichen Bedarfs, denn die Bewirtschaftungspolitik war in Russland improvisiert und unsystematisch geblieben. Die Bevölkerung erreichten vor allem Lebensmittel, die 1916 rationiert worden waren, nur unregelmäßig und ungleich. Die Zunahme der Streikenden von rund 38.600 im April 1915 auf mehr als 80.000 im darauffolgenden Monat spiegelt darüber hinaus die Unzufriedenheit mit der Kriegswirtschaft wider. Nicht zuletzt protestierten breite Bevölkerungsgruppen, die von der nationalistischen Presse aufgewiegelt worden waren, mit dem Konsum großer Mengen Alkohol gegen die Prohibition, die nach dem Kriegsbeginn verhängt worden war. Bei den Ausschreitungen in Moskau wurden Ende Mai 113 Deutsche, Österreicher oder Ungarn, aber auch 489 Russen mit deutschen Namen verletzt. Plünderer verwüsteten 759 deutsche Geschäfte und Häuser in Privatbesitz. 475 Handelsfirmen und 297 Wohnungen erlitten Schäden, u. a. durch die insgesamt siebzig Brände, welche die marodierenden Gruppen gelegt hatten. Der materielle Schaden belief sich nach zeitgenössischen Schätzungen auf insgesamt vierzig bis fünfzig Millionen Rubel.418 Die örtlichen Behörden – vor allem der Moskauer Stadthauptmann Alexander A. Adrianow (geb. 1861) – hatten die Gewalt zugelassen. Die Polizei hielt sich zurück, um zu verhindern, dass ökonomische Unzufriedenheit in politischen Protest umschlug. Zudem waren viele Polizisten gegen die Deutschen und Russlanddeutschen eingestellt. Nach einer späteren Untersuchung vermittelten sie mit ihrer Passivität den bis zu 50.000 Menschen, die an den Ausschreitungen teilnahmen, den Eindruck, dass Gewalt zugelassen war oder zumindest hingenommen wurde. Der Oberkommandierende der Stadt, Fürst Felix F. Jusupow (1887–1967), versuchte sogar, die Ausschreitungen gegen die Fremden in den Dienst der offiziellen Politik zu stellen und zur Kriegsmobilisierung zu nutzen. Dazu erklärte er den Kampf gegen den „inneren Feind“ zu einem Bei418 Angaben nach: Dalos, Geschichte, S. 59; Fuller, Foe, S. 182; Gatagowa, „Chronik der Exzesse“, S. 1106; Brandes, Die Deutschen in Russland. S. 122. Zahlen zu den Streiks in: Sandorn, Imperial Apocalypse, S. 94. Hierzu und zum Folgenden auch: Eric Lohr, Patriotic Violence and the State: The Moscow Riots of May 1915, in: Kritika 4 (2003), S. 607–626; ders, War, S. 600; ders., Army, S. 418 f.; ders. / Üngör, Nationalism, S. 509, S. 516; Lindemann, Kolonisten, S. 106 f.; Proctor, Civilians, S. 82, 92; Tumanova, Associations, S. 366 f.; Stadelmann, Revolution, S. 37; Holquist, „Information is the Alpha and Omega of Our Work“, S. 426–428; Dönninghaus, Bild, S. 21–34. Aus nationalistisch-deutscher Perspektive: Hörschelmann, Hilfe, S. 262.

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trag der Zivilbevölkerung zum Sieg. Demgegenüber erfuhr Innenminister Maklakow in Petrograd erst am 28. Mai aus den Zeitungen von den Ausschreitungen. Als in Moskau schließlich sogar Geschäfte von Russen geplündert wurden, die Marodeure das Raubgut unkontrolliert abtransportierten und sich der Protest auch gegen die Eliten des Zarenreiches richtete, bemühte sich vor allem das Innenministerium, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Der Einsatz von Truppen beendete schließlich die Verfolgungen, Plünderungen und Brandstiftungen. Obgleich Vermutungen, dass die Ausschreitungen in Moskau von den örtlichen Behörden geplant und initiiert worden waren, nicht eindeutig belegt worden sind, verlieh die Gewalt vor allem denjenigen Gruppen in der politischen Elite Auftrieb, die für eine bedingungslose Fortsetzung des Krieges eintraten.419 Die Marodeure töteten in Moskau drei Deutsche und verletzten mindestens vierzig weitere. Auch die materiellen Schäden der fremdenfeindlichen Unruhen waren erheblich. So wurden 200 Wohnhäuser und 475 Geschäftsgebäude (überwiegend Läden) zerstört.420 Liberale Duma-Abgeordnete, russische Geschäftsleute und einzelne hohe Offiziere protestierten gegen die pogromartigen Tumulte, und 52 Moskauer Bürger unterzeichneten sogar einen Brief an Jusupow. Sie verurteilten die Gewalt, die „Moskau einen nie zu tilgenden Makel aufgeprägt hat.“421 Ebenso deutlich sprachen sich 45 Angestellte (vornehmlich Ingenieure) in einem Schreiben, das am 16. August 1915 beim Moskauer Stadtoberhaupt Michail V. Tschelnokow (1863–1935) einging, gegen die Unterdrückung von Ausländern aus. Zugleich versicherten sie: „Wir glauben unerschütterlich daran, daß die Größe und die Würde unserer Heimat nicht auf Unduldsamkeit, Gehässigkeit und niedriger Rachsucht gründen.“ Dennoch mussten Deutsche im Sommer 1915 in Moskau ihre Geschäftstätigkeit einstellen, und sie wurden aus allen Betrieben entlassen.422 Auch in anderen Städten – so in Petrograd, Nowgorod, Twer, Odessa und Astrachan – forderten die örtlichen Militärbehörden und die Spitzen der Zivilverwaltungen die Bevölkerung 1915 auf, gegen Deutsche und Russlanddeutsche vorzugehen. Mit einer Flut von Denunziationen beglichen daraufhin viele Russen alte Rechnungen, besonders in den Siedlungsgebieten der Deutschen an der Wolga, wo die Russifizierungspolitik einerseits und die Kolonisation andererseits schon vor dem Ersten Weltkrieg ethnische Spannungen und Konflikte

419 Umfassend: Gatagowa, „Chronik der Exzesse“, S. 1095–1097, 1103, 1106, 1109; Dönninghaus, Deutschen, S. 373–423; Sandorn, Imperial Apocalypse, S. 94 f. 420 Angaben nach: Panayi, Minorities, S. 227. 421 Zitat: Dalos, Geschichte, S. 66. 422 Zitat: Gatagowa, „Chronik der Exzesse“, S. 1091.

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ausgelöst hatten. Daran anknüpfend, alarmierte der Befehlshaber des Militärbezirkes Odessa, General Michail Ebelow, am 26. November 1914 Januschkewitsch. Nach seiner Meldung lebten die deutschen Kolonisten an der Wolga „derart abgesondert von der einheimischen russischen Bevölkerung, daß sie in ihrer Gesamtheit in dem ganzen Raum unserer südlichen Gouvernements als Basis für eine deutsche Invasion bereitstehen.“423 Ermuntert von der russischen Regierung, stachelten die Gouverneure die Russen 1915 mit dem Hinweis auf die „nationale Sicherheit“ dazu auf, gegen die „Fremden“ vorzugehen. Außerdem wurden die Sprache und Kultur der Wolgadeutschen unterdrückt. Erst als sie die Kontrolle über die entfesselte nationalistische Bewegung zu verlieren drohten, bemühten sich die Behörden in Saratow und Samara – ebenso wie in Moskau –, die Agitation einzudämmen. Zugleich mussten die Gouverneure der beiden Regionen bis Mitte 1916 rund 20.000 Deutsche und Österreicher aufnehmen, die Truppen aus den westlicher gelegenen Weichselgouvernements Warschau, Łomża, Lublin und Plock deportiert hatten.424 Alles in allem war die staatliche Repression von zivilen Feindstaatsangehörigen auch in den zentralen Regionen Russlands eng mit einer nationalistischen Mobilisierung verzahnt, in der große Bevölkerungsgruppen mit Rekurs auf die innere Sicherheit vermeintlich zum Kampf des Zarenreiches beitrugen, dabei aber auch partikulare Interessen verfolgten.425

Die Internierung als integraler Bestandteil von Ausweisung und Verschleppung Die Fremdenfeindlichkeit war im unmittelbaren Hinterland der Front besonders akut, da hier der Kampf akute Bedrohungsängste auslöste. Mit der Zwangsevakuierung von Angehörigen der gegnerischen Staaten und Minderheiten, die der Illoyalität verdächtigt wurden, ging oft die Internierung dieser Gruppen einher. So ordnete der Militärbefehlshaber der Südwestfront im Oktober 1914 die Deportation aller Deutsche, Juden und „Fremden“ an, die als Spione galten und damit angeblich die Sicherheit der Truppen gefährdeten. Da die Städte mit Flüchtlingen überbelegt waren, wurden die zivilen Feindstaatenangehörigen im Allgemeinen auf dem Lande interniert. Jedoch brachten die Militärbehörden keineswegs alle verhafteten Zivilisten in Lagern unter, da zunächst Kapazitäten fehlten und ab Herbst 1915 viele Gefangene zur Arbeit gezwungen waren. Die Praxis 423 Zitat: Sergeev, Wahrnehmung, S. 103. 424 Sandorn, Imperial Apocalypse, S. 95; Dönninghaus, Revolution, S. 217 f.; Long, From Privileged to Dispossessed, S. 228 425 Dönninghaus, Revolution, S. 228, 239, 254, 256, 261, 273 f.

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der Internierung war deshalb im russischen Zarenreich deutlich vielfältiger als in den meisten anderen kriegführenden Ländern.426 Zudem entschied der russische Generalstab am 14. November, Deutsche, Österreicher und Ungarn nach Sibirien zu verbringen, slawische und italienische Gefangene aber in den europäischen Provinzen des Zarenreiches zu belassen. Sie sollten im Krieg privilegiert werden, um sie für die russische Politik zu gewinnen. Dazu gehörte auch, dass westlich des Ural nur im Bezirk Kazan große ständige Lager eingerichtet wurden. Demgegenüber litten in den östlichen Gebieten des Zarenreiches in Camps entlang der Transsibirischen Eisenbahn Hunderttausende Angehörige der „Mittelmächte“ unter den zumindest bis 1916 erbärmlichen Lebensbedingungen. Diese waren auf Vernachlässigung, Willkür und organisatorische Mängel zurückzuführen, für die in den einzelnen Bezirken vor allem die zuständigen Militärkommandeure verantwortlich zeichneten. Diejenigen Internierten, die in Lagern untergebracht wurden, lebten vielerorts eng mit gefangenen Offizieren und Soldaten zusammen. Hier erwiesen sich gesellschaftliche Unterschiede allerdings oft als wichtiger als die Differenzierung zwischen gefangenen Slawen und Italienern einerseits und Deutschen und Österreichern anderseits. Bei der Internierung wurde ohnehin die zunächst vorgesehene räumliche Trennung bis 1917 nicht durchgehalten. So verbrachten die Behörden Deutsche, Österreicher und Ungarn, die ab 1916 in den europäischen Gebieten arbeiteten, nicht nach Asien, wo umgekehrt auch Slawen, Italiener und Rumänen zum Einsatz kamen. Die angeordnete privilegierte Behandlung der slawischen Gefangenen und der Angehörigen von Minderheiten wie Elsässer und Lothringer verursachte unter den Gefangenen erhebliche Spannungen und Konflikte, obwohl die untergeordneten Verwaltungsbehörden diese Instruktionen keineswegs überall umsetzten. Alles in allem bestimmten vielmehr die Größe, Ausstattung und räumliche Lage der Camps, die Kompetenz ihrer Kommandanten und das Ausmaß der gegenseitigen Hilfe zwischen den Insassen das Leben tiefgreifender als die ethnische Herkunft und nationale Zugehörigkeit der Internierten. Auch deren gesellschaftliche Stellung, das Vorgehen der zuständigen Befehlshaber in den Militärbezirken und die dort zur Verfügung stehenden Ressourcen beeinflussten die Situation der Internierten, deren Unterbringung und Versorgung sich 1916 generell langsam verbesserten.427 426 Rachamimov, POWs, S. 88 f.; Overmans, „Hunnen“, S. 344. 427 Reinhard Nachtigal, Die dänisch-österreichisch-ungarischen Rotkreuzdelegierten in Rußland 1915–1918. Die Visitation der Kriegsgefangenen der Mittelmächte durch Fürsorgeschwestern des österreichischen und ungarischen Roten Kreuzes, in: Zeitgeschichte 25 (1998), S. 366– 374, hier: S. 368 f.; ders., Seuchen unter militärischer Aufsicht in Rußland. Das Lager Tockoe als Beispiel für die Behandlung der Kriegsgefangenen 1915/16?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48 (2000), S. 363–387, hier: S. 364, 386; ders., Anzahl, S. 366 f., 370; Wurzer, Die

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In den vorübergehend eroberten Gebieten Ostpreußens, das durch Flucht und Vertreibung im Spätsommer 1914 rund 870.000 Bewohner verloren hatte, wurden bis März 1915 nach offiziellen Angaben nicht nur 1.491 Deutsche ermordet, sondern auch 13.000 Zivilisten – davon fast die Hälfte Kinder und Frauen – nach Zentralrussland gebracht. Hier behandelten sie die Behörden als Kriegsgefangene. Mehr als 4.000 starben bei den Deportationen, die ebenso eindeutig gegen die Haager Konvention von 1907 verstießen wie die Zwangsrekrutierung belgischer Arbeitskräfte durch die deutschen Besatzungstruppen 1915/16. Offenbar ähnelte auch die Furcht der Soldaten vor Spionen und Freischärlern den Ängsten, die in den vorrückenden deutschen Einheiten in Belgien weit verbreitet waren. In Ostpreußen verschleppten die russischen Truppen sogar 15 Schweizer, die dort gelebt hatten und wegen ihrer Sprache als Deutsche galten, nach Sibirien und Ostrussland. Hier wurden sie schließlich interniert. Auch damit verstießen die russischen Behörden oft gravierend gegen völkerrechtliche Schutzbestimmungen.428 Darüber hinaus nahmen die Militärs 1914/15 rund 1.000 Juden als Geiseln, und sie beschlagnahmten vielerorts ihr Eigentum. Presseberichte und Gerüchte über angeblich subversive Aktivitäten deutscher Spione und Verschwörungen verliehen der Kampagne gegen „Feinde“ eine enorme Sprengkraft. Damit radikalisierte sich auch der Kampf gegen Spione, die nach Auffassung der Militärs die Sicherheit gefährdeten. Nikolajewitsch befahl im Winter 1914/15, Juden rücksichtlos aus den Frontgebieten zu entfernen und Rabbiner als Geiseln zu nehmen, da er die Minderheit verdächtigte, die Deutschen und Österreicher zu unterstützen. An der südwestlichen Front ordnete der Generalstabschef, Michail Aleksejew (1857–1918), sogar an, Juden aus gesellschaftlichen Organisationen wie den Semstwa und Verbänden des Roten Kreuzes zu entfernen, da sie als Drückeberger und politische Agitatoren gegen den Krieg galten. Bis Sommer 1915 erfasste die Zwangsaussiedlung nach Zentralrussland (besonders nach Sibirien und Turkestan) rund 50.000 Juden.429 Die Internierung von Angehörigen der „Mittelmächte“ – besonders Deutsche und Österreicher – wurde von den jeweils zuständigen MilitärbezirksfühGefangenen, S. 527, 530, 535, 537; Rachamimov, POWs, S. 92–97. Vgl. auch Brändström, Prisoners of War, S. 153–155. 428 Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 805, 809, 812, 823; Kramer, Prisoners, S. 83; Wurzer, Die Gefangenen, S. 422; Gatrell, Refugees, S. 84. Daneben: Brändström-Ulich, Die Zivilinternierten, S. 130. Von 43.000 nach Russland verschleppten Zivilisten (davon etwa die Hälfte Frauen und Kinder) wird ausgegangen in: Lieb, Krieg, S. 469. 429 Von Hagen, Great War, S. 42 f.; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 259 Watson, „Unheard-ofBrutality“, S. 792–794, 807 f., 812, 822 f. Angaben nach: Kershaw, Höllensturz, S. 78; Huber, Fremdsein, S. 233.

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rungen kontrolliert, die auch für die Kriegsgefangenen zuständig waren. Diesen Behörden unterstanden die Lager. Nach Angaben des Russischen Roten Kreuzes hatten die Behörden des Zarenreiches im Oktober 1915 12.144 Deutsche und 2.545 Bürger Österreich-Ungarns als Zivilisten interniert. Die Zahl der gefangenen Soldaten und Zivilpersonen, die dem Deutschen Reich angehörten, belief sich bis Dezember 1917, als Russland faktisch aus dem Krieg ausschied, auf insgesamt 250.000 bis 300.000. Die betroffenen Feindstaatenangehörigen waren dabei keineswegs homogen. Der Mehrheit, die über kein eigenes Eigentum und Vermögen verfügte, stand eine Minderheit gegenüber, die Geld mitgeführt hatte. Diese Internierten konnten russische Staatsbeamte bestechen, um auf diesem Wege günstige Bedingungen zu erreichen. Einige reiche Deutsche und Österreicher durften sogar den Ort ihrer Internierung wählen. Insgesamt nutzte die Militärführung den Krieg, um unter dem Deckmantel der militärischen Sicherheit eine ethnische Homogenisierung durchzuführen.430 Mit der Deportation sollten Spionage und eine Zusammenarbeit mit den vordringenden deutschen Soldaten verhindert werden. Die Regierung, in der mehrere Minister über die Auswirkungen der Zwangsverschleppung aus den Frontgebieten auf die öffentliche Meinung in anderen Staaten besorgt waren, lehnte die radikale Evakuierungspolitik zunächst ab, da sie ihre Autorität gefährdet sah. Vor allem Innenminister Maklakow befürchtete, dass großräumige Bevölkerungsverschiebungen zu Unruhen führen und letztlich eine Revolution auslösen könnten. Er widersetzte sich deshalb im Mai 1915 einer Deportation von Juden aus der frontnahen Festung Kowno. Letztlich stimmte der Ministerrat den restriktiven Maßnahmen gegen die „Fremden“ aber zu, um eine Frontstellung gegen die mächtige Militärführung zu vermeiden. Zudem teilte die Regierung das umfassende Sicherheitsverständnis der Generale. Die Armee – vor allem Kosakeneinheiten – ging vielerorts mit Unterstützung der örtlichen Bevölkerung gegen die jüdische Minderheit und die deutschstämmigen Russen vor. Die Gewaltdynamik, die sich auch in umfassenden Plünderungen niederschlug, eskalierte gelegentlich sogar zu Pogromen, besonders im jüdischen Ansiedlungsrayon. Unter dem Einfluss verfestigter antisemitischer Vorurteile, die den Juden illoyale Umtriebe zuschrieben und sie deshalb als Sicherheitsrisiko einstuften, und dem Durchbruch der Deutschen durch die russische Front befahl die Militärführung auch in den darauffolgenden Kriegsjahren, rücksichtslos ge-

430 Piskorski, Die Verjagten, S. 56; Stibbe, Introduction, S. 2; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 111; Nachtigal, Seuchen, S. 373. Vgl. auch Brändström-Ulich, Die Zivilinternierten, S. 129. Angaben nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 244; Sergeev, Wahrnehmung, S. 102; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 259.

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gen die jüdische Minderheit vorzugehen. Mit ihr wurden die Russlanddeutschen in der Regel gleichgesetzt.431 Im Kriegsverlauf erfasste die Internierung im Zarenreich auch eingebürgerte Russlanddeutsche. Beide Gruppen wurden ohne Anklageschriften und Anhörungen festgesetzt. Die Behörden wiesen sie im Allgemeinen nicht – wie die Russen im Deutschen Kaiserreich – in bewachte Lager ein, sondern transportierten sie in entlegene Räume, vor allem an der Wolga und in Sibirien. Hier wurden sie sich weitgehend selber überlassen, da eine Flucht unmöglich war. Die Deportation betraf auch Institutionen wie die Universität Dorpat (seit 1893: Universität Jurew) und die an ihr lehrenden deutsch-baltischen und russlanddeutschen Wissenschaftler. Wie dargelegt, war die Hochschule in den 1880er Jahren von der Russifizierungspolitik Zar Alexanders III. erfasst und 1893 in die Universität Juŕev umgewandelt worden. Hier durfte nur noch in russischer Sprache gelehrt werden. Die Institution sollte im Herbst 1917 nach Woronesh verlegt werden, um den anrückenden deutschen Truppen auszuweichen. Die russische Front brach aber so schnell zusammen, dass die deutschen Militärbehörden im Sommer 1918 in Dorpat erneut eine deutsch-baltische Universität einrichteten, in der das Armeeoberkommando 8 eine gemäßigte Politik gegenüber Esten und Letten durchsetzen konnte. Nach dem Waffenstillstand musste diese Hochschule ihren Lehrbetrieb einstellen.432

Die Beschlagnahme des Eigentums von Feindstaatenangehörigen Die Repressionspolitik erstreckte sich auch auf das Eigentum der Feindstaatenangehörigen. Die Beschlagnahme hing mit der Russifizierungspolitik und dem staatlichen Programm gesellschaftlicher Entwicklung zusammen, die besonders die technokratische Elite im Landwirtschaftsministerium und in der Hauptverwaltung für Siedlung und Agrarwirtschaft (Glawnoje uprawlenie semleustroistwa i semledelija) seit den 1890er Jahren „von oben“ durchzusetzen suchte. Der Krieg bot dazu eine ungeahnte Gelegenheit. Hinzu kamen akute Sicherheitsängste, die von der Propaganda gegen „innere Feinde“ noch gesteigert wurden. So basierte die Beschlagnahme des Vermögens in den Dörfern nach der Verabschiedung von zwei Gesetzen über die Liquidation des Landbesitzes der Wolga431 Lohr, 1915, S. 41–45; Marrus, The Unwanted, S. 61; Sanborn, Empire, S. 305; ders., Russian Nation, S. 205; Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 810 f. 432 Erich Donnert, Die Universität Dorpat-Juŕev 1802–1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Hochschulwesens in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches, Frankfurt/M. 2007, S. 58– 73, 199–208. Ergänzend: Neutatz, Träume, S. 139 f., 143; Hildermeier, Geschichte Russlands, S. 1066, 1069; Holquist, Role, S. 53. Vgl. auch Lindemann, Kolonisten, S. 119.

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deutschen vom 2. Februar 1915 vielerorts auf haltlosen Gerüchten und polizeilicher Willkür. Den Kolonisten wurde damit eine Zwangsversteigerung ihres Landes (zu geringen Preisen) auferlegt. Deutsche und Russlanddeutsche mussten ihr Eigentum innerhalb der folgenden 16 Monate verkaufen. Zudem durften sie keinen Boden mehr erwerben. Insgesamt verloren die Kolonisten damit 500.000 Hektar.433 Während sich diese Gesetze noch auf die Gebiete an der Front erstreckten oder auf einzelne Landkreise begrenzt waren und zahlreiche Ausnahmen enthielten, wurde das Territorium, in dem deutsche Siedler ihr Eigentum verloren, bis Anfang 1917 fortschreitend erweitert. Schließlich war fast nur noch Sibirien ausgenommen. Die Regierung verschärfte auch das Verfahren. So bestimmte ein Gesetz vom Dezember 1915, dass für die Zwangsversteigerung von Land kein geringstes Gebot mehr festgelegt und der erfasste Boden von der russischen Bauernagrarbank aufgenommen werden sollte. Noch am 6. Februar 1917 beschloss der Ministerrat eine zusätzliche Verordnung, nach der deutscher Landbesitz in insgesamt 22 Gouvernements ihren Eigentümern zu entziehen war. Die Regierung beanspruchte zwar, mit der Enteignung der deutschen Siedler dem Gebot der „nationalen Sicherheit“ zu folgen; zugleich sollte aber Boden für zurückkehrende russische Soldaten gewonnen, damit eine Forderung der Kleinbauern erfüllt und so letztlich das Zarenregime gefestigt werden. Russische Bauern nutzen unter dem Deckmantel der Sicherung der „Heimatfront“ die Chance zu staatlich gebilligtem Landraub. Warnungen vor den wirtschaftlichen Auswirkungen blieben weitgehend folgenlos. So hatten liberale Angeordnete in der Duma schon im März und Juni 1916 deutlich auf die Gefahr einer Hungersnot hingewiesen. In Deutschland aber verlieh die zunehmende Unterdrückung der Russlanddeutschen im Zarenreich den radikal nationalistischen Anhängern einer Annexionspolitik Auftrieb. Sie drängten auf eine Ansiedlung deutscher Kolonisten in den westlichen Grenzräumen (so im Baltikum) nach dem erwarteten Sieg des Kaiserreiches. Schon Ende 1916 und Anfang 1917 überquerten Russlanddeutsche aus Wolhynien im Westen der Ukraine die Kampffront in Richtung Westen. Sie wurden vom Fürsorgeverein für Deutsche Rückwanderer betreut, dem das Preußische Kriegsministerium am 8. März 1917 zudem erlaubte, Russlanddeutsche in den Kriegsgefangenenlagern als Siedler zu rekrutieren.434 433 Sammartino, Border, S. 33; Sergeev, Wahrnehmung, S. 103; Holquist, „In Accord with State Interests and the People’s Wishes“, S. 152, 157, 178. Angaben nach: Dönnighaus, Revolution, S. 185; Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 50. 434 Rempel, Expropriation, S. 53–66; Sammartino, Border, S. 34 f.; Gatagowa, „Chronik der Exzesse“, S. 1091 f.; Long, From Privileged to Dispossessed, S. 229–232; Krieger, Kolonisten, S. 80; Panayi, Minorities, S. 223 f. Aus deutscher Perspektive: Klibanski, Kriegsgesetze, S. 329, 332.

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Auch in der Industrie und im Handel verloren Feindstaatenangehörige sukzessive ihr Eigentum. Der Beginn des Ersten Weltkrieges hatte ökonomische Verbindungen zu den „Mittelmächten“ unterbrochen und einer Wirtschaftspolitik Auftrieb verliehen, die auf Autarkie und staatliche Regulierung setzte. Nikolaus II. und der Ministerrat wiesen die Behörden und Steuerungsgremien – so die Kriegsindustrieräte – an, alle Geschäfte mit Geld, Wertpapieren und Edelmetallen, an denen Ausländer beteiligt waren, streng zu kontrollieren. Jedoch war ein offener Wirtschaftskrieg im August 1914 noch vom Ministerrat abgelehnt worden. Vor allem Außenminister Sasonow hatte dabei auf russisches Vermögen in den „Mittelmächten“ verwiesen. Zunächst beschlagnahmten die Behörden deshalb lediglich den Landbesitz von deutschen Kolonisten, die in den frontnahen Gebieten lebten. Eingriffe in das Eigentum von Feindstaatenangehörigen gingen im Allgemeinen mit der Deportation oder Internierung dieser Personen einher. 1915 begann schließlich die Liquidation deutscher Unternehmen in der Landwirtschaft und Industrie. Drei Gesetze weiteten den Kreis der zu Enteignenden schrittweise aus. Zunächst wurde den Behörden am 11. Januar erlaubt, Betriebe von Ausländern unter bestimmten Bedingungen zu schließen. Ab Februar durften Feindstaatenangehörige zudem kein Land mehr kaufen oder pachten. Auch mussten sie Aktien und Wertpapiere veräußern, die sich in ihrer Hand befanden. Nach einem Gesetz vom 1. Juli 1915 konnten darüber hinaus Unternehmen abgewickelt werden, deren Kapital von Ausländern kontrolliert wurde. Ausgenommen von diesen Restriktionen blieben Deutsche, die bereits vor dem 1. Januar 1880 russische Staatsbürger geworden waren. Im Zuge der Enteignung verloren Feindstaatenangehörige im Zarenreich nicht zuletzt Rechtsschutz. Insgesamt waren die wirtschaftlichen Eingriffe der zivilen Behörden gegen das Vermögen feindlicher Ausländer zurückhaltender als das deutlich rigorosere Vorgehen der Truppenkommandeure, die auch Ausweisungen anordneten und Plünderungen zumindest hinnahmen. Dennoch wurden bis 1917 alle 33 Konzerne, die nach deutschem oder österreichischem Recht gegründet worden waren, ebenso liquidiert, verstaatlicht oder neuen Eigentümern übergeben wie 2.000 Handelsgesellschaften und 59 große Industrieunternehmen.435 Auch die Beschlagnahme war begleitet von einer populistischen Kampagne gegen „deutsche“ Waren, an der sich zahlreiche russische Unternehmer und Kaufleute beteiligten. So hatte die Moskauer Kaufmannsgesellschaft schon im 435 Angaben nach: Lohr, Politics, S. 527. Vgl. auch Caglioti, Property Rights, S. 7, 11; Dalos, Geschichte, S. 68 f.; Fuller, Foe, S. 181; Fleischhauer, Deutschen, S. 479, 482; Klibanski, Kriegsgesetze, S. 335 f. Hierzu und zum Folgenden auch: Dönninghaus, Deutschen, S. 506–516; Lohr, War, S. 660 f.; Gatrell, War, S. 685, 699.

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November 1914 eine Kommission gegründet, die zum Boykott ausländischer Produkte und zur Beschlagnahme fremden Besitzes aufrief. Damit sollte nicht zuletzt unliebsame Konkurrenz beseitigt werden. Arbeitern bot die Agitation gegen Deutsche Gelegenheit, in Betrieben, die sich – tatsächlich oder vermeintlich – in deutscher Hand befanden, zu Streiks aufzurufen. Die Wirtschaftselite der Deutschen und Russlanddeutschen war diesem Druck weitgehend schutzlos ausgesetzt, da der Ministerrat im Dezember 1914 alle Vereinigungen von Feindstaatenangehörigen verboten hatte. Mitte 1915 wurden schließlich auch alle Handelsunternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung gezwungen, sich aufzulösen. Allerdings mussten in Russland damit Handelsvereinigungen, die ihre Produkte von Lieferanten aus Deutschland bezogen, ihre Geschäfte einstellen. Ebenso geschädigt wurden russische Fabrikanten und Händler, die ökonomisch mit inzwischen enteigneten Deutschen oder Russlanddeutschen verflochten waren. Sogar einzelne Unternehmen, deren Eigentümer neutralen Staaten angehörten, wurden Opfer der Liquidierungspolitik. So stellten die russischen Behörden im April 1915 die Nähmaschinenfabrik Singer, deren Vorstand sich in den Vereinigten Staaten befand, z. T. unter Zwangsverwaltung, weil sie hier ein getarntes Spionagezentrum vermuteten. Schon im August 1914 waren deshalb Geschäfte des Unternehmens durchsucht und Mitarbeiter aus Russland ausgewiesen worden. Im Juli 1915 wurden schließlich auch Filialleiter des Betriebs verhaftet, und rund 500 Verkaufsläden mussten vorübergehend schließen, weil einzelne Manager der Spionage für die „Mittelmächte“ beschuldigt wurden. Erst eine energische Intervention des US-Botschafters, der sich über die erzwungene Schließung der Geschäfte, die Entlassung von Hunderten Beschäftigten und die Internierung vieler Angestellter ohne Gerichtsverfahren beschwerte, bremste die Übergriffe gegen die Firma Singer. Aber noch im Juli 1916 bezichtigte Batjuschins „Kommission zum Kampf gegen staatsfeindliche Aktivitäten und Spionage“ sogar den Direktor der Französisch-Russischen Bank, Dmitri Rubinstein, der Subversion. Der Beschuldigte wurde daraufhin auf Anordnung des Justizministeriums verhaftet und wegen Landesverrats angeklagt.436 Der volkswirtschaftliche Schaden, den die Verdrängung der „Ausländer“ und „Fremden“ aus der russischen Ökonomie verursachte, war immens. Zudem schlug die fremdenfeindliche Hetze 1916/17 angesichts der wachsenden Not gelegentlich in einen pauschalen Antikapitalismus um, besonders unter unzufriedenen Arbeitern. Daher warnte der Vorsitzende der Konstitutionellen Demokraten in der Duma, Pawel Miljukow, vor der Beschlagnahme von Boden, den rus436 Hierzu und zum Folgenden: Fleischhauer, Deutschen, S. 495, 501 f., 505; Lohr, Politics, S. 523 f.; Marshall, Russian Military Intelligence, S. 412 f., 415 f.; Rempel, Expropriation, S. 58; Fuller, Foe, S. 166; Fedjuk, Kampf, S. 99 f., 104.

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sische Bauern dringend verlangten: „Meine Herren, Sie täuschen sich selbst. Das Land der Kolonisten reicht nicht aus. Und wer immer mit deren Land beginnt, wird mit Ihrem Land aufhören!“ Der liberale Politiker stellte auch die Rede vom „deutschen Joch“ in Frage und wandte sich damit gegen die Kampagne nationalistischer Abgeordneter der Duma. Dennoch enteigneten die Behörden schrittweise sogar Russlanddeutsche. Die Repressionspolitik und die obsessive Suche nach „inneren Feinden“ wurden von den „Schwarzen Hundertschaften“ (tschornajasotnja) unterstützt, die sich schon vor dem Ersten Weltkrieg an antisemitischen Pogromen beteiligt hatten.437

Die Vertiefung ethnischer Gegensätze als selbstzerstörerische Politik An den Fronten und im unmittelbaren Hinterland hatte die russische Armee schon in der ersten Kriegsphase nationalistische und fremdenfeindliche Ausschreitungen gegen Österreicher, Ungarn und Deutsche angefacht. Damit gerieten die Machthaber aber selber unter den Druck der radikal populistischen Agitatoren, so dass sie schließlich eine zentrale Regelung „von oben“ durchsetzten. 1915 mussten sich alle Feindstaatenangehörigen statistisch erfassen lassen, und sie durften nicht mehr eingebürgert werden. Zugleich verlangte das Innenministerium von den Provinzen und Bezirken Stimmungsberichte – eine Anordnung, welche die Verunsicherung der schwachen politischen Eliten zeigt. Die Verschwörungsängste der Machthaber richteten sich neben den Feindstaatenangehörigen auch gegen Juden und Muslime. Allein im Kaukasus deportierten die Militärs Anfang 1915 rund 10.000 Untertanen des Zaren, die dem Islam angehörten. Hier wurden mit einem Dekret, das Nikolaus II. am 25. Juni 1916 erließ, Ausnahmen für ethnische Gruppen, die bislang keinen Wehrdienst leisten mussten, aufgehoben. Ebenso beschuldigte die russische Regierung Nomadenvölker der Illoyalität und als Helfershelfer der „Mittelmächte“, besonders nach dem Aufstand in Zentralasien 1916. Zudem wurden hier muslimische Arbeiter rekrutiert, die neben dem Einsatz von Koreanern, Chinesen und Kriegsgefangenen die Produktion in der Rüstungsindustrie aufrechterhalten sollten.438

437 Zitat: Dalos, Geschichte, S. 71. Vgl. auch Fedjuk, Kampf, S. 105 f., 111; Long, From Privileged to Dispossessed, S. 228. 438 Dietrich Beyrau, Mortal Embrace. Germans and (Soviet) Russians in the First Half of the 20th Century, in: Kritika. Explorations in Russian History 10 (2009), S. 423–439, S. 433 f.; Stibbe, Introduction, S. 2, 9 f.; Sanborn, Migrations, S. 318 f.; Holquist, Violent Russia, Deadly Marxism?, S. 635; ders., To Count, to Extract, and to Exterminate, S. 121. Angabe nach: Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 799.

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Diese Zwangsmaßnahmen verschärften die ethnischen Spannungen, die mit der Russifizierungspolitik einerseits und der muslimisch-nationalistischen Reformbewegung des Dschadidismus andererseits seit den 1880er Jahren gewachsen waren. Im Ersten Weltkrieg erreichten diese Auseinandersetzungen über die Politik des Zarenregimes gegenüber den Minderheiten in den Randzonen des russischen Reiches ihren vorläufigen Höhepunkt. Unruhen erschütterten besonders Mittelasien, das in den 1860er Jahren erobert worden war. In dem Gebiet, das einer Kolonie ähnelte, hatten die russischen Eroberer die einheimische Bevölkerung (tusemzy) „zivilisiert“. Die Unterdrückung mündete 1916 in die Zwangsrekrutierung von Muslimen für das russische Heer. Dazu verhängten die russischen Behörden am 17. Juli 1916 in Turkestan das Kriegsrecht. Sie requirierten Land und förderten die Einwanderung von Russen, welche die Nomaden verdrängten. 1916/17 plante der Militärbefehlshaber in Zentralasien, Aleksei Kuropatkin (1848–1925), sogar, die Kirgisen auszuweisen und das dadurch freiwerdende Land an Russen zu vergeben. Nur die Februarrevolution 1917 verhinderte, dass diese Zwangsumsiedlung durchgeführt wurde. Insgesamt forderte die radikale Repressionspolitik, der auch vielen Kasachen zum Opfer fielen, mehr als eine Million Menschenleben.439 Zugleich hatte die vorangegangene Konstruktion „innerer Feinde“ als Folge der hypertrophen Sicherheitspolitik und politisch-gesellschaftlicher Spannungen jedoch eine Dynamisierung und Politisierung ausgelöst, die maßgeblich zum Sturz des Zaren beitrugen. Der besonders von den russischen Nationalisten vorangetriebene Diskurs über den „Patriotismus“ sollte angesichts der akuten äußeren Bedrohung zwar vorrangig der innenpolitischen Integration dienen. Die Diskussion und die damit verbundenen Ausschreitungen grenzten aber „Fremde“ aus der gebetsmühlenartig beschworenen nationalen Gemeinschaft aus. Dazu gehörten Angehörige feindlicher Staaten, aber auch Minderheiten im Zarenreich und Russen, die der Spionage, Spekulation und anderer subversiver Aktivitäten beschuldigt wurden. So weckten die fremdenfeindlichen Angriffe vielerorts erst das nationale Bewusstsein der deutschstämmigen Russen, die ansonsten eine heterogene Gruppe bildeten. Aber auch andere Minderheiten strebten nach Autonomie oder sogar staatlicher Selbständigkeit. Die fremdenfeindli439 Angabe nach: Sanborn, Empire, S. 320. Vgl. auch Jörn Happel: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916, Stuttgart 2010; Rudolf A. Mark, Krieg an fernen Fronten. Die Deutschen in Zentralasien und am Hindukusch, 1914–1918, Paderborn 2013; Dan Brower, Kyrgyz Nomads and Russian Pioneers: Colonization and Ethnic Conflict in the Turkestan Revolt of 1916, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), Nr. 1, S. 41– 53; Altrichter, Russland 1917, S. 407–411; Sanborn, Imperial Apocalypse, S. 140; Lohr, War, S. 665. Zum historischen Hintergrund: Ulrich Hofmeister, Die Bürde des Weißen Zaren. Russische Vorstellungen einer imperialen Zivilisierungsmission in Zentralasien, Stuttgart 2019.

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che Kampagne bereitete damit der Destabilisierung des Landes, dem Sturz des Zarenregimes und schließlich der Oktoberrevolution von 1917 den Boden. Auch der russische Patriotismus trug letztlich zum Zusammenbruch des multiethnischen Imperiums bei, denn er stärkte die Entschlossenheit vieler Russen, sich aus dem Reichsverbund zu lösen.440

Ambivalente Ablehnung der Repressionspolitik: Politiker, Journalisten, Intellektuelle und Institutionen Trotz der Zensur wandten sich im Zarenreich einzelne Gruppen offen gegen die Politik der Regierung und des Hofes. In Russland protestierten nicht nur die betroffenen Deutschen gegen die Repressionspolitik des Ministerrates. Vielmehr traten auch die Konstitutionellen Demokraten in der Duma und die Presse für die Rechte der Bürger deutscher und österreichischer Nationalität ein. Diese „Kadetten“, deren Einfluss der Zusammenschluss mit moderaten Monarchisten im „Progressiven Block“ im August 1915 steigerte, wandten sich gegen Exzesse, die das militärische Standrecht begünstigten. Obwohl Nikolaus II. das Programm des „Blocks“ brüsk ablehnte, kritisierten russische Liberale weiterhin die fremdenfeindliche Agitation. So verteidigten Pawel Miljukow und der Duma-Abgeordnete der Trudowiki, Alexander Kerenski (1881–1970), die Deutschen und Russlanddeutschen gegen Vorwürfe, die der Minderheit pauschal Illoyalität unterstellten. Auch populäre Schriftsteller wie Maxim Gorki (1868– 1936), der zunächst zum Kampf gegen das „germanische Joch“ aufgerufen hatte, und Wladimir Korolenko (1853–1921) nahmen die Minderheit vor unbegründeten Verdächtigungen in Schutz. In einem Artikel, der am 8. November 1916 im liberalen Moskauer Blatt Russkije Wedomosti erschien, protestierte Korolenko gegen die Entlassung eines Kapitäns wegen seiner deutschen Herkunft als „unnötige Ungerechtigkeit, derentwegen das gutmütige Russland wohl Mitleid und Scham empfinden wird, wenn diese trübe Welle abgeflaut ist.“ Auch Zirkusdirektoren und Entertainer mussten wegen ihrer deutschen Herkunft ihre Arbeit einstellen.441 Der Schriftsteller unterstützte auch die Bemühungen des Professors an der Landwirtschaftlichen Akademie in Moskau, Karl Eduardovitsch Lindemann

440 Dazu vor allem: Lohr, Politics, S. 518, 521, 529; Aust, Russische Revolution, S. 83. Vgl. auch Fedjuk, Kampf, S. 95, 113, 119; Gatrell, War, S. 698; Jahn, Culture, S. 97, 171, 174–176; Sanborn, Imperial Apocalypse, S. 97; Kappeler, Minderheit, S. 22. 441 Jahn, Culture, S. 96; Long, From Privileged to Dispossessed, S. 230. Zit. nach (in dieser Reihenfolge): Krieger, Kolonisten, S. 148; Stevenson, 1914–1918, S. 347.

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(1847–1929), die 1915/16 drohende Enteignung aller deutschen Bauern zu verhindern. Im Februar und März 1916 protestierte der „Progressive Block“ offen gegen die fremdenfeindlichen Gesetze, die gegen die deutsche Minderheit verhängt worden waren. Allerdings setzten innenpolitische Reformen aus der Sicht der russischen Liberalen letztlich einen Sieg ihres Landes im Ersten Weltkrieg voraus. Dieses Kalkül milderte ihre Kritik an der staatlichen Repressionspolitik gegenüber Feindstaatenangehörigen. Einzelne „Kadetten“ schlossen sich zumindest vorübergehend sogar der Propaganda gegen den „inneren Deutschen“ an.442 Auch einige Politiker der konservativ-liberalen Oktobristen traten der nationalistischen Agitation nicht uneingeschränkt entgegen. Zwar kritisierten besonders Lindemann und Alexander von Meyendorff (1869–1964) öffentlich die Deportation der nationalen Minderheiten im Zarenreich, vor allem der Deutschen und Russlanddeutschen. Lindemann sprach im Rückblick in den frühen zwanziger Jahren sogar von „Verbrechen gegen die Humanität“.443 Ebenso verurteilte Korolenko die Entfernung und Degradierung von Deutschen aus der russischen Armee und aus zivilen Berufen. Vor allem während der Okkupation Galiziens durch russische Truppen 1914/15 wandten sich in der Duma vereinzelt sogar konservative Abgeordnete gegen die Verfolgung von Minderheiten, die unterschiedslos zu „Feinden“ erklärt worden waren. Allerdings ging die Opposition gegen die Regierungspolitik nicht nur mit Loyalitätserklärungen gegenüber dem Zaren einher, sondern auch mit Bekenntnissen zum Kampf gegen Spionage und Subversion.444 Nicht zuletzt lehnten zumindest einzelne regionale und lokale Behörden in den Gouvernements Saratow und Samara eine pauschale Enteignung von Deutschen und Russlanddeutschen ab. So erklärten die Abgeordneten der Stadtduma, die Mitglieder des Börsenkomitees und der Semstwa von Saratow und Petrowsk in einer Protestresolution: Die unter uns lebenden deutschen Kolonisten sind ebensolche russische Bürger wie wir alle. In unserer Region sind die Kolonisten unersetzliche Landwirte. Wir sind verpflichtet, nachdrücklich zu erklären, daß die Liquidation der deutschen Ländereien […] eine Maßnahme darstellt […], die sowohl für die Kolonisten selbst wie auch für die gesamte Region verheerende Folgen hat. Sie wird auch für ganz Russland zu spüren sein.

442 Dalos, Geschichte, S. 53, 66, 73; Fuller, Foe, S. 197; Fedjuk, Kampf, S. 110; Olejnikow, Ritterlichkeit, S. 196; von Hagen, Great War, S. 47; Fleischhauer, Deutschen, S. 449, 510, 515 f.; Krieger, Bundesbürger, S. 147; Dahlmann, Deportation, S. 105. Als zeitgenössischer Rückblick: Lindemann, Kolonisten, S. 106, 115. 443 Ebd., S. 106. 444 Long, From Privileged to Dispossessed, S. 230.

4.4 Russisches Zarenreich 

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Ebenso wenig wurde die Verordnung des Ministerrates vom 10. Mai 1915 über die Schließung von Handels- und Industrieunternehmen in den Wolgagouvernements bruchlos durchgesetzt. Vielmehr verfügten bekannte reichsdeutsche und österreichische Staatsangehörige, die für die Wirtschaft in der Wolgaregion wichtig waren, auch nach 1915 über ihr Eigentum.445

Auslandshilfe im Strudel des Staatszerfalls Eindeutiger als die regionalen und lokalen Gegenkräfte in Russland unterstützten Schutzmächte und humanitäre Organisationen die bedrängten oder bereits internierten zivilen Feindstaatenangehörigen. So trugen und förderten die Vereinigten Staaten von Amerika als Schutzmacht der Deutschen, Österreicher und Ungarn in Russland Hilfsaktionen. US-Diplomaten übersandten den Behörden des Zarenreiches auch Berichte, in denen sie forderten, die Lebensbedingungen in den von ihnen besuchten Lagern zu verbesserten. Zudem organisierten das Amerikanische, Schwedische und Dänische Rote Kreuz Hilfslieferungen für die festgesetzten Angehörigen der „Mittelmächte“. Auch die YMCA stand den Gefangenen im Zarenreich bei. Nicht zuletzt drängten diese Organisationen und die US-Botschaft die Regierungen Russlands, Deutschlands und Österreich-Ungarns, sich auf einen Austausch von Gefangenen zu einigen. So schlossen Vertreter dieser Staaten im Sommer 1915 ein Abkommen, das die Rückführung von schwer verwundeten und kriegsversehrten Internierten und Inhaftierten vorsah. Ein Austausch unter denselben Bedingungen vereinbarten im Dezember 1916 Russland und das Osmanische Reich, dessen Interessen und Bürger von 1914 bis 1918 Spanien vertrat. Insgesamt wurden auf dieser Grundlage von August 1915 bis Frühjahr 1918 allein 26.168 Angehörige der „Mittelmächte“ aus dem Zarenreich und 37.295 russische Gefangene aus Österreich-Ungarn und dem Deutschen Kaiserreich repatriiert.446 Allerdings verschlechterten die zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Konflikte in Russland 1916/17 die Rahmenbedingungen für die Unterstützung der gefangenen Deutschen, Österreicher, Ungarn und Türken. Nach dem Kriegseintritt der USA vertraten ab Frühjahr 1917 die Botschaften Schwedens und Dänemarks die Interessen der Deutschen bzw. der Staatsangehörigen Österreich-Ungarns. Die innenpolitischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen – besonders über das Bodeneigentum, aber auch über die Forderung nach einem Friedensschluss – mündeten schließlich in die Februarrevolution, 445 Ebd., S. 259. 446 Angabe nach: Brändström, Among Prisoners of War, S. 185.

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wenn auch nicht zwangsläufig. Nach dem Sturz Nikolaus’ II. und dem Ende der Monarchie bekannte sich die neue Provisorische Regierung in ihrem Programm am 6. März zur Koalitions-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Fünf Tage später wurden auf Antrag der „Oktobristen“, die Lindemann vertrat, auch die wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen gegen die Deutschen und Russlanddeutschen eingestellt, darunter die Versteigerung ihres Landes. Das Gesetz „Über die Gleichheit der Nationen und Konfessionen“ vom 20. März beendete schließlich offiziell die Unterdrückung der Minderheiten. Auch die Grund- und Menschenrechte sollten beachtet werden. Zudem wurden in den Siedlungsgebieten der Deutschen und Russlanddeutschen Bürgerausschüsse gestärkt und Selbstverwaltungsorgane eingerichtet. Zivile Feindstaatenangehörige, die während des Ersten Weltkrieges in die östlichen Gouvernements deportiert worden waren, durften in ihre angestammten Siedlungsgebiete zurückkehren. Hier bildeten sich unterschiedliche politische Richtungen heraus. In Südrussland und im Wolgagebiet, wo im Oktober 1918 eine deutsche Arbeiterkommune gegründet wurde, herrschten die „Kadetten“ vor. Demgegenüber dominierten in der Moskauer Gemeinde die Konservativen um Lindemann.447 Mit den halbherzigen Reformen der Provisorischen Regierung des Fürsten Georgi Lwow (1861–1925) und seines Nachfolgers Alexander Kerenski konnte aber die Polarisierung nicht eingedämmt werden, die sich seit der Jahrhundertwende schrittweise herausgebildet hatte. Vor allem die Forderung nach einer umfassenden Bodenreform blieb unerfüllt. Nur in den Regionen, die zunehmend auf ihrer Autonomie – und anschließend Unabhängigkeit – bestanden, mündete der Protest der Bauern in die Enteignung der Grundherren. So wurde in Estland und Lettland im Herbst 1917 der Besitz der russischen Krone und der deutschbaltischen Adelsfamilien beschlagnahmt, die als Helfershelfer Deutschlands galten. Die Provisorische Regierung bekannte sich zwar zu einer humanitären Politik gegenüber festgesetzten Feindstaatenangehörigen, stachelte aber auch den russischen Nationalismus an, den sie für ihre Kriegspolitik in Dienst nahm.448 Die ethnischen Konflikte verschärften sich nicht nur in den europäischen Grenzregionen, sondern auch im besetzten nordwestlichen Persien. Hier spielten Russland und das Osmanische Reich Volksgruppen – vor allem die Kurden, Armenier und Assyrer – gegeneinander aus und nahmen diese jeweils für die 447 Dalos, Geschichte, S. 74 f.; Krieger, Kolonisten, S. 81; ders., Bundesbürger, S. 149; Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 73 f.; Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 50, 86. Vgl. auch Brändström, Prisoners of War, S. 30. 448 Nachtigal, Rotkreuzdelegierten, S. 367 f. Zur Sprengkraft der Nationalisierungspolitik im russischen Zarenreich im Ersten Weltkrieg: von Hagen, Great War, S. 48 f.

4.4 Russisches Zarenreich 

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eigene Kriegführung in Dienst. Dabei erwiesen sich bewaffnete Formationen, die gegeneinander kämpften, wiederholt als unkontrollierbar. Fixiert auf die Sicherung des Hinterlandes, verfolgten die russischen Militärs vor allem die Kurden. Demgegenüber bemühten sich Diplomaten des Zarenreiches, die Volksgruppe zu gewinnen. Diese Avancen lösten in Aserbaidschan aber Misstrauen unter den Assyrern und Armeniern aus, die den russischen Konsuln vorwarfen, einseitig für die Kurden Partei zu ergreifen. Auch die Vertreibungen und Deportationen führten zu erheblichen Auseinandersetzungen. So bestanden die örtlichen Kommandeure in der Region der Stadt Urmia auf der Zwangsrückführung von Kurden, die von der Front deportiert worden waren, in ihre Heimat. Insgesamt brachen die militärische Ordnung und Kontrolle weitgehend zusammen. Überdies führte die russische Regierung den zunehmend unpopulären Krieg weiter. Nach militärischen Niederlagen lenkten die Machthaber die wachsende Unzufriedenheit und den Protest gegen Feindstaatenausländer und Minderheiten, die mit ihnen assoziiert wurden. An die Stelle der angeordneten und organisierten Übergriffe gegen Minoritäten trat unter diesen Bedingungen vielerorts eine zügellose Gewalt, die auch das kollabierende Militär nicht mehr bändigen konnte.449 Als die deutschen Truppen Ende 1917 und Anfang 1918 in Russland tief vordrangen, nahm der Druck auf die Feindstaatenangehörigen erneut zu. Bereits während des Ersten Weltkrieges hatten Interventionen des Deutschen Reichstages und der Reichsleitung – so im Mai 1916 ein Protest des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg gegen die Enteignungen deutscher Kolonisten im Zarenreich – die Lage der bedrängten Minderheit verschlechtert. In diesem Kontext verlieh die verstärkte Beteiligung und Aktivität zivilgesellschaftlicher Gruppen in Russland letztlich nicht den Menschenrechten Geltung, sondern sie führte eine nationalistische Mobilisierung herbei, die sich auch gegen die Zivilinternierten richtete. In Russland setzten die Behörden im Verlauf des Krieges insgesamt rund 200.000 Deutsche und nahezu 100.000 Bürger Österreich-Ungarns fest. Darüber hinaus wurden von 1914 bis 1917 wenigstens 300.000 Litauer, 250.000 Letten und 350.000 Juden nach Zentralrussland deportiert. Die Verschleppung erfasste alles in allem rund eine Million Ausländer, davon 800.000 Juden und Deutsche, die überwiegend aus den frontnahen Grenzbezirken zwangsweise evakuiert wurden. Obgleich die Deportationen auch etwa 800.000 Russen betrafen, galten vorrangig Angehörige von Minderheiten als „innere 449 Peter Holquist, The World Turned Upside Down: Refugee Crisis and Militia Massacres in Occupied Northern Persia, 1917–1918, in: Annette Becker / Hamit Bozarslan / Vincent Duclert (Hg.), Le genocide des Armeniens. Cent ans de recherché 1915–2015, Paris 2015, S. 130–154, 332–339, bes. S. 130, 138 f., 145, 153; ders., Forms, S. 336, 350.

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Feinde“ und damit als Sicherheitsrisiko. Sie wurden wiederholt verschoben und vielerorts in entlegenen Dörfern festgesetzt, die sie nicht verlassen durften.450

Feindstaatenangehörige und „Klassenfeinde“ in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg Letztlich konnte die Repression von Feindstaatenangehörigen und Minderheiten nur vorübergehend von den gesellschaftlichen Konflikten und der grassierenden Unzufriedenheit ablenken, die schließlich zum Nährboden der Oktoberrevolution wurden. Die neuen Machthaber um Lenin setzen zwar die Dämonisierung äußerer und innerer Gegner durchaus fort. Allerdings richtete sich die Gewalt nicht mehr vorrangig gegen Flüchtlinge, Kriegsgefangene und Zivilinternierte, die im Zarenreich 1917 zusammen rund fünf Prozent der Bevölkerung stellten. Vielmehr überlagerte die von den Bolschewiki propagierte Klassendifferenzierung die zuvor dominante ethnische und nationalstaatliche Abgrenzung. Damit wurden viele politische Gegner der neuen Machthaber verhaftet und interniert. Demgegenüber eröffnete das „Dekret über die Rechte der Völker Russlands“ vom 2. November 1917 den Völkern des zerfallenden Zarenreiches nicht nur Rechtsgleichheit, sondern auch „freie Selbstbestimmung, inklusive des Rechts auf die Abtrennung und Bildung eines selbständigen Staates“. Demzufolge erklärte Stalin einer Delegation der Wolgadeutschen im Frühjahr 1918 in Moskau seine Bereitschaft, eine Republik der Volksgruppe anzuerkennen. Im Vertrag von Brest-Litowsk mussten die Bolschewiki am 3. März 1918 in die Repatriierung aller gefangenen Angehörigen der „Mittelmächte“ einwilligen. Daraufhin wurden im weiteren Verlauf des Jahres allein 214.000 deutsche Zivilinternierte und Kriegsgefangene in ihre Heimat zurückgeführt. Die Zahl der repatriierten Staatsangehörigen Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches, die im Sommer und Herbst 1918 entlassen wurden, belief sich auf 450.000 bzw. 250.000. Die neuen Machthaber in Russland erkannten auch das Recht der Deutschen an, auf Antrag innerhalb von zehn Jahren in ihr Heimatland zurückzukehren. Der „Fürsorgeverein für Deutsche Rückwanderer“ durfte die Remigranten unterstützen. Auch deutsche Privatpersonen besuchten mit Hilfe der 450 Angaben nach: Terry Martin, The Origins of the Soviet Ethnic Cleansing, in: Journal of Modern History 70 (1998), S. 813–861, hier: S. 818; Hull, Destruction, S. 234; Holquist, Violent Russia, Deadly Marxism?, S. 638; McMillan, War, S. 58; Kershaw, War, S. 110. Vgl. auch Davis, Red Cross Societies, S. 33; Dönninghaus, „Trojanisches Pferd“ für Stalin?, S. 40; Altrichter, Russland 1917, S. 426, 438–440, 448; Holquist, Role, S. 61; Sammartino, Border, S. 33. Zur Stellungnahme Bethmann Hollwegs: Fleischhauer, Deutschen, S. 517. Aus zeitgenössischer Sicht: Brändström-Ulich, Die Zivilinternierten, S. 131.

4.4 Russisches Zarenreich



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Behörden Siedler, um sie zur Rückkehr in das Reich zu ermuntern. Damit hatte der ADV sein radikales Programm durchgesetzt, das darauf abzielte, die Russlanddeutschen in das Reich zu bringen. Anschließend wurden sie aber ebenso wie die entlassenen Zivilinternierten und Kriegsgefangenen oft als Anhänger der Bolschewiki beargwöhnt.451 Die Zwangsmigration und die Gewalt gegen Ausländer und Minderheiten, deren Repression im Ersten Weltkrieg nur Illusionen von Sicherheit und Stabilität vermittelt hatte, setzten sich im Bürgerkrieg fort, der auf die Oktoberrevolution und die faktische Kapitulation Russlands folgte. Auch wies die „permanenpermanente Rhetorik einer Bedrohung durch Saboteure und innere „Feinde“ deutliche Kontinuitäten zum Stalinismus auf. Die Repressionspolitik im Zarenreich von 1914 bis 1917 hatte die ethnisch begründete Gewalt gegen Feindstaatenangehörige und die – im Allgemeinen mit ihnen assoziierten Minderheiten – enorm verschärft, wie auch das Vorgehen der Bolschewiki gegen die verbliebenen Anhänger der Zarenherrschaft zeigte.452 Umgekehrt griffen die „weißen“ Gegner des neuen Regimes unter dem Einfluss des Vorurteils vom „jüdischen Bolschewismus“ zu extremer Gewalt und offenem „Agrarterror“.453 Die Zahl der Pogrome, die das Zarenreich von 1917 bis 1921 erschütterten, belief sich nach Schätzungen auf 2.000. Bis 1922 fielen den Ausschreitungen allein in der Ukraine und Südrussland rund 120.000 Juden zum Opfer. Bedroht von den gegenrevolutionären Kräften, fürchteten die Bolschewiki um die Sicherheit ihres neuen Staates. Dabei richtete sich der Verdacht nicht zuletzt gegen heimkehrende Kriegsgefangene und Zivilisten aus Deutschland und Österreich, die tatsächlich z. T. die Revolution bekämpften, so in der Ukraine. Besonders unsicher war aus der Sicht der bolschewistischen Führung aber die Loyalität der unterschiedlichen Nationalitäten, die nach Unabhängigkeit strebten. Diese separatistischen Tendenzen galten bald als Gefahr, die aus der Sicht der neuen Machthaber zu bannen war. Dazu wurden radikale Praktiken der Bevölkerungspolitik genutzt, die im 19. Jahrhundert entwickelt worden waren, so gezielte Benachteiligungen, Vertreibungen und Deportationen. Darüber hinaus etablierten die Bolschewiki „Konzentrationslager“ (kontslager), um „unzuverlässige Elemente“ und „Klassenfeinde“ festzusetzen, die von der Ende 1917 gegründeten „Außerordentlichen Allrussischen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“ verhaftet worden waren. Unter 451 Zitat: Dalos, Geschichte, S. 85. Angaben nach: Wurzer, Die Gefangenen, S. 500; Brändström, Prisoners of War, S. 283. Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 252; Sammartino, Border, S. 41 f.; Fleischhauer, Deutschen, S. 563; Gosewinkel, Einbürgern, S. 335 f.; Moorehead, Dream, S. 239. 452 Aust, Russische Revolution, S. 20. 453 Fleischhauer, Deutschen, S. 569 („Agrarterror“); Sanborn, Migrations, S. 294.

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Führung Felix Dsershinskis etablierte die Geheimpolizei „Tscheka“ bis zum 1. Januar 1920 21 Camps, in denen 16.447 Insassen litten. Das Lagersystem expandierte während des Bürgerkrieges schnell. So wurden am 1. November 1920 schon 59.636 Häftlinge in 84 Camps festgehalten. Politische Gegner und „Saboteure“ wurden in Konzentrations-, Soldaten der gegenrevolutionären („weißen“) Truppen in Kriegsgefangenen- und „unerwünschte Elemente“ in Zwangsarbeiterlager eingewiesen. Die Repressionspolitik sollte im Zweiten Weltkrieg erneut in Gewalt gegenüber Minderheiten – darunter den Deutschen – münden.454 Zunächst bot die neue staatliche Politik Minderheiten aber auch Anreize. So gewährte ein Dekret der sowjetischen Regierung vom 19. Oktober 1918 den Wolgadeutschen Autonomie. Diese bezog sich auf das deutsche Siedlungsgebiet an der mittleren Wolga mit über 600.000 Einwohnern. Davon waren rund zwei Drittel deutscher Nationalität. Die Minderheit erhielt offiziell eine „Arbeitskommune“. Damit sollte nicht zuletzt die Fiktion einer selbstgewählten „Bolschewisierung“ der deutschen Minderheit aufrechterhalten und verbreitet werden. Nach 1920 verlagerte sich die Agitation von den deutschen Kriegsgefangenen schließlich auf die Kolonisten, zumal sich diese vielerorts weigerten, dem Terror der Erfassungskommissionen nachzugeben und – wie gefordert – alle Getreidevorräte (einschließlich des Saatkorns) abzuliefern. Auf die drückende Hungersnot, der 1921/22 rund fünf Millionen Menschen zum Opfer fielen, den „Kriegskommunismus“ und den Bürgerkrieg folgte ab 1922 eine Phase der Stabilisierung. Nunmehr war der Herrschaftsanspruch der Bolschewiki nicht mehr bedroht, und sogar die von ihnen angestrebte Weltrevolution schien möglich. Um die Wolgadeutschen für sich zu gewinnen, erhob die neue sowjetische Führung ihr Siedlungsgebiet 1924 zu einer Autonomen Republik. Damit war nicht nur die politische Vertretung der Minderheit gesichert, sondern auch die kulturelle Entwicklung. Deutsch wurde Amtssprache, die auch in Institutionen wie Theatern und Museen gepflegt wurde.455

454 Watson, „Unheard-of-Brutality“, S. 824; Mühlhahn, Concentration Camp, S. 549; Manz / Panayi, Enemies, S. 38. Angaben nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 247. Zur Furcht der Bolschewiki vor den zurückkehrenden Soldaten: Verena Moritz, Österreich-Ungarn und die Ukraine unter dem Gesichtspunkt der Kriegsgefangenen- und Heimkehrerproblematik im Jahr 1918, in: Wolfram Dornik / Stefan Karner (Hg.), Die Besatzung der Ukraine 1918. Historischer Kontext – Forschungsstand – wirtschaftliche und soziale Folgen, Graz 2008, S. 95–108, hier: S. 98. 455 Angabe nach: Leidinger / Moritz, Der Erste Weltkrieg, S. 78. Vgl. auch Dalos, Geschichte, S. 95–105; Krieger, Bundesbürger, S. 149, 191; Holquist, To Count, to Extract, and to Exterminate, S. 126, 130; Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 86; Marrus, The Unwanted, S. 63.

4.4 Russisches Zarenreich 

417

Jedoch war die Zahl der Deutschen und Russlanddeutschen infolge von Deportationen, Hunger, Einberufungen in die russische Armee, Flucht und Emigration deutlich zurückgegangen. Angesichts der Gewalt emigrierten allein von 1917 bis 1922 rund 120.000 Deutsche. In Moskau, wo vor dem Ersten Weltkrieg 20.000 deutschstämmige russische Staatsangehörige gewohnt hatten, wurden 1926 nur noch 8.600 Angehörige dieser Gruppe registriert. Die verbliebenen Deutschen hinderten die Behörden schon in den zwanziger Jahren vor allem an der Ausübung ihres christlichen Glaubens.456 Der Krieg, die beiden Revolutionen und der Bürgerkrieg hatten damit einem tiefen politischen und gesellschaftlichen Umbruch herbeigeführt, der es nahelegt, die Jahre von 1914 bis 1921 als eine Epoche der Geschichte Russlands zu interpretieren.457

Bilanz Der Umgang mit Feindstaatenangehörigen war im Zarenreich ein integraler Bestandteil lange angelegter Nationalitätenkonflikte. Hinzu kamen situative Faktoren, vor allem militärische Rückschläge. Pogrome und gewalttätige, fremdenfeindlichen Übergriffe hatten schon 1915 im Westen des Zarenreiches eine „genozidale Situation“ herbeigeführt. Im Gegensatz zum armenischen Gebiet des Osmanischen Reiches, das im Dezember 1914 im Kaukasus eine schwere Niederlage gegen russische Truppen erlitten hatte, eskalierten die Zwangsmaßnahmen gegen Juden und Deutsche in Russland 1915 aber nicht zu einem Völkermord, da liberale Politiker und Intellektuelle gegen die Morde und die verhängten kollektiven Zwangsmaßnahmen protestierten. Zudem nahmen Zar Nikolaus und der Ministerrat Rücksicht auf die öffentliche Meinung in den neutralen Staaten, vor allem in den USA. Ungeachtet dessen war die Repressionspolitik im Zarenreich umfassend und hart. Außer partikularen Interessen kennzeichnete sie eine obsessive Fixierung auf „Sicherheit“, deren Kehrseite Ängste und Frustration waren. Noch angesichts der zunehmenden Kriegsmüdigkeit sollte die Agitation gegen zivile Feindstaatenangehörige die Gesellschaft für den Krieg einspannen, nachdem andere Initiativen sozialer Mobilisierung gescheitert waren.458 Die Deportation und Internierung von Feindstaatenangehörigen ging vor allem von den russischen Militärbehörden aus, die um die Stabilität der Fronten, 456 Victor Dönninghaus, Minderheiten in Bedrängnis. Sowjetische Politik gegenüber Deutschen, Polen und anderen Diaspora-Nationalitäten 1917–1938, München 2009, S. 97, 103, 577 f., 592–594. Angaben nach: Dönninghaus, Deutschen, S. 518, 529; Levine, Frontiers, S. 105. 457 Angabe nach: Brandes, Die Deutschen in Russland, S. 124; Holquist, Violent Russia, Deadly Marxism?, S. 637, 644, 651 f. 458 Zitat: Levene, Frontiers, S. 94. Vgl. auch Sergeev, Wahrnehmung, S. 107.

418  4 Sicherheit und „innere Feinde“

aber auch um die Rüstungsproduktion in den Städten besorgt waren. „Sicherheit“ wurde auch in Russland zu einem Argument und Vorwand, hinter dem sich Eigeninteressen unterschiedlicher Gruppen verbargen. Die Elite des Zarenreiches – darunter besonders der Monarch und der Ministerrat – dämonisierten Fremde, vor allem Feindstaatenangehörige, als Sicherheitsrisiko, um die Mobilisierung für den Krieg unter dem Postulat der politischen Einheit zu sichern und zu verstärken. Die Gewalt war aber auch einer gesellschaftlichen Dynamik geschuldet, denn zugleich nutzten einzelne Bevölkerungsgruppen die Gelegenheit, um sich an den verfemten „Feinden“ zu bereichern, alte Rechnungen zu begleichen oder andere persönliche Motive zu verfolgen. So drängte der geschwächte russische Adel auf Maßnahmen, mit denen deutsche Kolonisten, Siedler und Unternehmer am Landerwerb gehindert werden sollten. Bauern hofften ihrerseits, nach der geforderten Aufteilung des deutschen Großgrundbesitzes Land zu erhalten. Nicht zuletzt wollten sich russische Unternehmer und Händler der deutschen Konkurrenz entledigen, die über erhebliche finanzielle Mittel verfügte und ihre wirtschaftlichen Aktivitäten geschickt auf die Nachfrage der Käufer ausgerichtet hatte. So lag die Zahl der deutschen Untertanen des Zaren, die im frühen 20. Jahrhundert Unternehmen gründeten, um ein Vierzehnfaches höher als der Anteil der Deutschen im Zarenreich. Der Krieg bot Neidern und Konkurrenten schließlich die Chance, Deutsche als Spione und Saboteure zu denunzieren, die angeblich die nationale Sicherheit gefährdeten. Im weiteren Verlauf griffen sie auf Unterdrückungspraktiken zurück, die sich schon im 19. Jahrhundert herausgebildet hatten. Politiker der konservativ-liberalen „Oktobristen“ und des 1915 gebildeten „Progressiven Blocks“ (aus Liberalen und moderaten Monarchisten) wirkten an der Repression ebenso mit wie liberale Intellektuelle, die damit dem russischen „Wirtschaftsnationalismus“ im Ersten Weltkrieg kräftig Auftrieb verliehen. Damit waren der Neid und die Konkurrenzangst systematisch in die staatliche Enteignungs- und Verdrängungspolitik eingebunden worden. Der Krieg schuf den ökonomischen Nationalismus zwar nicht, radikalisierte ihn aber, indem er ihn in einen Diskurs über „Feinde“ integrierte. Letztlich erwies sich die hypertrophe Sicherheitspolitik gegenüber Deutschen und Russlanddeutschen sowie anderen Feindstaatenangehörigen und Minderheiten als selbstzerstörerisch. Sie trug maßgeblich zum Legitimitätsverlust des Zarenregimes, seiner Beseitigung und schließlich auch zum Zerfall des Russischen Reiches bei.459 459 Zitat: Aust, Russische Revolution, S. 78. Angabe nach: Lohr, Politics, S. 521. Dazu auch: Dietmar Neutatz / Lena Radauer, Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die Zivilbevölkerung im östlichen Europa, in: Neutatz / Hausmann / Eisfeld (Hg.), Besetzt, S. 9– 25, bes. S. 10, 15, 20, 23 f.; Lohr, 1915, S. 41 f., 46–49; Sergeev, Wahrnehmung, S. 107; Victor

4.5 Österreich-Ungarn



419

Deutlich umstrittener ist die Interpretation geblieben, dass der Umgang mit Kriegsgefangenen und Internierten in Russland im Ersten Weltkrieg bereits unmittelbar das System der Straf- und Arbeitslager begründete, das in der Sowjetunion in den frühen 1920er Jahren etabliert wurde. Dabei zwang das Regime Gefangene – fast ausschließlich Mannschaftsdienstgrade unter den Soldaten – in mehr als 250 Camps zur Arbeit. Auch sind Ähnlichkeiten wie eine klare Hierarchie unter den Lagern unverkennbar, in denen zudem sämtlich unmenschliche Bedingungen vorherrschten. Ebenso wie im Ersten Weltkrieg wurden die Gefangenen der Propaganda ausgesetzt, um ihre Loyalität umzupolen. Darüber hinaus war Stalin das Lagersystem, das von 1914 bis 1917 im Zarenreich bestand, durch seinen Besuch im Camp Krasnojarsk Ende 1916 bekannt. Allerdings hob sich der Gulag durch das Ziel, den Einfluss politischer Gegner und „Volksfeinde“ wie der verfemten „Kulaken“ zu brechen, deutlich von den früheren Lagern ab. Während zivile Feindstaatenangehörige völkerrechtlich festgelegt waren, erwies sich die Kategorie „Volksfeinde“ als dehnbar. Zudem erreichte der systematische Terror in den sowjetischen Straf- und Arbeitslagern ein zuvor unbekanntes Ausmaß. So wurden im Januar 1938 rund 1,8 Millionen Häftlinge im Gulag festgehalten. Nicht zuletzt bestanden diese Lager deutlich länger als die Camps, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs errichtet worden waren.460

4.5 Österreich-Ungarn Voraussetzungen und Rahmenbedingungen: Minderheiten- und Sicherheitspolitik Schon im 18. Jahrhundert waren in der Habsburgermonarchie Minderheiten deportiert worden, so allein von 1700 bis 1760 rund 7.400 Personen461. Demgegenüber ist der Umgang mit Feindstaatenangehörigen in Österreich-Ungarn im Ers-

Dönninghaus, Das Bild des „inneren Feindes“ im Ersten Weltkrieg oder die antideutschen Progrome in Moskau von 26.-29. Mai 1914, in: Elivira Barbašina / Detlef Brandes / Dietmar Neutatz (Hg.), Die Rußlanddeutschen in Rußland und Deutschland. Selbstbilder, Fremdbilder, Aspekte der Wirklichkeit, Essen 1999, S. 16–34, hier: S. 33; Stevenson, 1914–1918, S. 348; Beznosova, Besonderheiten, S. 321, S. 331. 460 Stibbe, Civilian Internment, S. 249–251. Angabe nach: Manz / Panayi, Enemies, S. 38. Zur Debatte: Peter Pastor, Introduction, in: Samuel Williamson / Peter Pastor (Hg.), Essays on World War I: Origins and Prisoners and Prisoners of War, New York 1983, S. 113–117; Sanborn, Migrations, S. 317; Rachamimov, POWs, S. 67, 78–82. Übersicht über den Gulag in: Bertil Häggman, Gulag, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 123. 461 Dazu umfassend: Steiner, Rückkehr unerwünscht.

420  4 Sicherheit und „innere Feinde“

ten Weltkrieg lange als relativ zivilisiert und milde interpretiert worden.462 Dabei spielte schon unmittelbar nach 1918 eine nostalgische Sicht auf den langsamen Niedergang der Doppelmonarchie im 19. und frühen 20. Jahrhundert ebenso eine Rolle wie die bis 1917 vergleichsweise geringe Zahl der Internierten. In dem multiethnischen Imperium, in dem 1907 ein allgemeines Männerwahlrecht zum Parlament einführt worden war, waren besonders eigene Staatsbürger von der staatlichen Repressionspolitik betroffen. Minderheiten wie die Serben, Tschechen, Polen, österreichischen Ukrainer (Ruthenen) und Italiener galten als unzuverlässig, obwohl sie gegenüber Franz Josef I. (1830–1916), der von 1848 bis 1916 Kaiser von Österreich und nach dem „Ausgleich“ von 1867 zugleich König von Ungarn war, auch im Ersten Weltkrieg überwiegend loyal blieben.463 Dennoch betrachtete sie die Regierung des Habsburgerreiches als „innere Feinde“. So galten die Ruthenen, die im Gegensatz zu den Ukrainern im Zarenreich der römisch-katholischen Kirche angehörten, als Anhänger Russlands. Den italienischen Österreichern warfen die Behörden in der Doppelmonarchie vor, den Irredentismus der Regierung in Rom zu unterstützen. Alle diese Bürger Österreich-Ungarns konnte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz nach dem geltenden Völkerrecht nicht schützen oder auch nur erfassen. Ebenso mussten sich neutrale Regierungen und der Vatikan, die von den Betroffenen Hilfsgesuche erhielten, auf Appelle an die Regierung Österreich-Ungarns und den Kaiser beschränken. Da der Reichsrat in Wien von März 1914 bis Mai 1917 suspendiert war (im Gegensatz zum ungarischen Reichstag), entzog sich das Vorgehen der Militärführung gegen die Angehörigen der Feindstaatenangehörige und Minderheiten der politischen Kontrolle. Diese „Feinde“ wurden daher unter dem Vorwand, die Sicherheit des Reiches gewährleisten zu müssen, oft unterdrückt, enteignet, deportiert und interniert, besonders nach militärischen Niederlagen. Außerdem nahmen die Militärs und die Regierung wiederholt bereits beschlossene Erleichterungen zurück. Dies betraf auch internierte Frauen und Kinder. Sie wurden zudem Opfer von Flucht und Vertreibung, vor allem in der ungarischen Reichshälfte.464 462 Garner, Treatment, S. 52. 463 Borodziej / Górny, Der vergessene Weltkrieg, S. 104; Leidinger, Krieg, S. 100; Stibbe, Civilian Internment, S. 102. Die Verwaltung in Österreich-Ungarn bezeichnete mit „Ruthenen“ die Ostslawen, die in Galizien, in den nordostungarischen Karpaten und in der Bukowina lebten. Sie hatten in der Habsburgermonarchie schon im 19. Jahrhundert eine begrenzte kulturelle Selbstverwaltung und Autonomie erhalten. Vgl. Klaus Steinke, Art. „Ruthenen“, in: Holm Sundhaussen / Konrad Clewing (Hg.), Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Köln 2016, S. 805 f. 464 Martin Zückert, Imperial War in the Age of Nationalism. The Habsburg Monarchy and the First World War, in: Leonhard / Hirschhausen (Hg.), Comparing Empires, S. 500–517, hier:

4.5 Österreich-Ungarn 

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Die Sicherheitspolitik der Behörden basierte auf einer Spionagefurcht, die auch in der Doppelmonarchie in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg deutlich gewachsen war. Der Geheimdienst hatte 1905 lediglich 300 verdächtige Vorgänge bearbeitet, 1913 aber bereits 8.000. Während 1910 Gerichtsverfahren gegen 19 russische Spione durchgeführt worden waren, mussten sich 1913 nicht weniger als 34 verantworten. Besonders nachdem der österreichische Nachrichtenoffizier Alfred Redl (1864–1913) in diesem Jahr als Agent der Ochrana, der Geheimpolizei und des Geheimdienstes des Zarenreiches, enttarnt worden war, hatte sich in Österreich-Ungarn eine geradezu manische Angst vor ausländischen Agenten und „Verrätern“ verbreitet.465 Schon vor 1914 hatte die österreichische Regierung über die Kontrolle und Deportation von Kriegsgegnern und als feindlich eingestuften Minderheiten hinaus eine umfassende Indienstnahme der Bevölkerung für den erwarteten Kampf geplant. Das Kriegsleistungsgesetz, das 1912 verabschiedet worden war, hatte zivile Bedürfnisse fast uneingeschränkt den militärischen Erfordernissen untergeordnet. Generalstabschef Conrad von Hötzendorf (1852–1925) gewann gegenüber der Regierung eine dominante Position, und das Parlament in der österreichischen Reichshälfte (Cisleithanien) hatte die Außen- und Militärpolitik bis zu seiner Suspendierung lediglich über das Zustimmungsrecht zum Budget beeinflussen können. Zudem verfügte Ungarn nach dem „Ausgleich“ von 1867 über eine eigene Verfassung und einen separaten Reichstag. Auch wurden die beiden Reichshälften getrennt regiert. Nur das Außen-, Kriegs- und Finanzministerium blieben in der Doppelmonarchie vereint. Darüber hinaus war ein Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten zur Koordination eingerichtet worden. Dies konnte aber nicht verhindern, dass im Ersten Weltkrieg faktisch zwei „Heimatfronten“ bestanden.466

S. 501; Leidinger / Moritz, Flüchtlingslager, S. 195; Matthew Stibbe, The Internment of Political Suspects in Austria Hungary during the First World War: A Violent Legacy, in: Agatha Schwartz (Hg.), Gender and Modernity in Central Europe. The Austro-Hungarian Monarchy and Its Legacy, Ottawa 2010, S. 203–218, hier: S. 204, 213; Hausmann, Vielvölkerstaat, S. 21; Leidinger, Krieg, S. 112 f.; Kershaw, Höllensturz, S. 107. 465 Marshall, Russian Military Intelligence, S. 403. 466 Tamara Scheer, „Ich kann das nur für einen Druckfehler halten (…)“. István Tisza und der k. u. k. Ausnahmezustand während des ersten Weltkrieges, in: Robert Kriechbaumer (Hg.), Politik und Militär im 19. und 20. Jahrhundert. Österreichische und europäische Aspekte, Wien 2017, S. 209–226, hier: S. 210, 226; Leidinger, „Der Einzug des Galgens und des Mordes“, S. 240; ders., Krieg, S. 96.

422  4 Sicherheit und „innere Feinde“

Der institutionelle und rechtliche Rahmen: Notstandsgesetze, Militärjustiz und Kriegsüberwachungsamt Bereits am 16. März 1914 hatte die Regierung unter Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh (1859–1916) den Notverordnungsparagraphen 14 der Verfassung vom Dezember 1867 angewendet, um das Parlament zu vertagen. Der Reichsrat mit seinen beiden Kammern, dem Herren- und dem Abgeordnetenhaus, stellte daraufhin bis März 1917 seine Arbeit ein. Demgegenüber konnte das Kabinett „provisorische“ Gesetze verabschieden, die nur der Kaiser gegenzeichnen musste. Nachdem schon vom 16. März bis 24. Juli 1914 18 Verordnungen beschlossen worden waren, folgten vom 25. Juli (der Teilmobilmachung des Heeres) bis März 1917 weitere 181, davon 139 bis 21. Oktober 1916, als Stürgkh ermordet wurde. In Ungarn griffen die Behörden auf ein Notstandsgesetz zurück, das 1912 erlassen worden war und im Ersten Weltkrieg Ausnahmeregelungen rechtfertigte. Hier blieben Ministerpräsident István Tisza (1861–1918) und die Regierung zuständig für die Verabschiedung und Durchführung der Notstandsgesetze und Ausnahmeverfügungen, die ab 28. Juli 1914 erlassen wurden. Die beiden Reichshälften – Cis- und Transleithanien – waren damit hinsichtlich der gesetzlichen Grundlagen und Administration getrennt. Die Verhängung des Ausnahmezustandes ausschließlich in der österreichischen Reichshälfte in Frühjahr 1915 vertiefte diese Kluft noch.467 Mit einer kaiserlichen Verordnung am 25. Juli 1914 erklärte die österreichische Regierung den Ausnahmezustand, der grundlegende Bürgerrechte beseitigte. Dabei griff sie auf den Artikel 20 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 zurück, das den „Ausgleich“ mit Ungarn besiegelt hatte. Damit wurden in Österreich die Rechte der Freizügigkeit, der freien Wahl des Aufenthaltes und des Erwerbs mit Verfügungen eingeschränkt. Ein Gesetz über die „Befugnisse der Regierungsgewalt zu Ausnahmsverfügungen“ hatte am 5. April 1869 den Artikel 20 spezifiziert. Im Falle einer unmittelbaren Kriegsgefahr, innerer Unruhen und Angriffen auf die Verfassung durfte die Regierung mit Zustimmung des Kaisers den Ausnahmezustand verhängen, Grundrechte aufheben und Notstands467 Gernot Hasiba, Das Notverordnungsrecht in Österreich (1848–1917). Notwendigkeit und Mißbrauch eines „Staatserhaltenden Instrumentes“, Wien 1985, S. 152–154; Hans Hautmann, Kriegsgesetze und Militärjustiz in der österreichischen Reichshälfte 1914–1918, in: Erika Weinzierl u. a. (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte. Symposiumsbeiträge 1976–1993, Bd. 1, Wien 1995, S. 73–85, hier: S. 74; Tamara Scheer, Denunciation and the Decline of the Habsburg Home Front during the First World War, in: European Review of History 24 (2017), Nr. 2, S. 214– 228, hier: S. 217; dies., War Surveillance Office; Stibbe, Internment of Political Suspects, S. 207; Scheer, „Ich kann das nur für einen Druckfehler halten (…)“, S. 213–216; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 254.

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gesetze erlassen. Dazu folgten bis 1917 weitere 22 Erlasse, mit denen die Kompetenzen des Militärs auf einzelnen Politikfeldern erheblich erweitert wurden, überwiegend schon zu Kriegsbeginn. So hatte eine Kaiserliche Verordnung schon am 25. Juli 1914 Zivilisten der Militärjustiz unterstellt, zunächst in Bosnien-Herzegowina, in Dalmatien und im Banat. Am 31. Juli wurde auch in Galizien, Krakau, Schlesien, in einzelnen Gebieten Nordmährens und in der Bukowina die Zivilverwaltung aufgelöst. Zunächst auf den Mobilisierungsbereich begrenzt, dehnte die Regierung die Militärjustiz im Ersten Weltkrieg auf weitere Gebiete der Doppelmonarchie aus. So erhielten die Militärbefehlshaber nach der Kriegserklärung Italiens auch in Tirol, Vorarlberg, Istrien, Görz und Gradisca, Triest, Krain, Kärnten, Salzburg und in der Steiermark außerordentliche Befugnisse. Ein kaiserliches Dekret vom 23. Mai 1915 übertrug dem Militär an der neuen Front gegen Italien auch die Verwaltungshoheit. Damit war ein (weit gefasstes) Weisungsrecht gegenüber der Zivilverwaltung verbunden. So wurden allein im Mai und Juni 1915 aus dem adriatischen Küstenland und dem Trentino 5.700 „politisch Unzuverlässige“ deportiert. Aber auch die Zugriffsmöglichkeiten der zivilen Behörden auf die Staatsbürger wuchsen, besonders in den Regionen, die nicht direkt von der Armeeführung kontrolliert wurden (Böhmen, Südmähren, Ober- und Niederösterreich). Alles in allem gewannen die Heeresführung und die zivilen Statthaltereien mit dem Rekurs auf Sicherheit außerordentlich umfassende Kompetenzen.468 Während die ordentlichen Geschworenengerichte ihre Arbeit einstellen mussten, sollten die Militärtribunale vor allem „Verbrechen wider die Kriegsmacht des Staates“ ahnden. Damit waren die „Ausspähung, andere Einverständnisse mit dem Feind und sonstige, einen Nachteil für die bewaffnete Macht […] bezweckende Handlungen“ gemeint. Daraufhin verhafteten die Behörden schon ab 26. Juli 1914 Zivilisten, so in Dalmatien, in Kärnten, in der 468 Tamara Scheer, Die Ringstraßenfront. Österreich-Ungarn, das Kriegsüberwachungsamt und der Ausnahmezustand während des Ersten Weltkrieges, Wien 2010, S. 12, 44–46, 137 f., 140; dies., War Surveillance Office (Austria-Hungary) (Version 1.1), in: Ute Daniel u. a. (Hg.), 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, Berlin 2018-04-04. (doi:10.15463/ie1418.10203/1.1; Zugriff am 21. Dezember 2018); Martin Moll, Erster Weltkrieg und Ausnahmezustand, Zivilverwaltung und Armee. Eine Fallstudie zum innerstaatlichen Machtkampf 1914–1918 im steirischen Kontext, in: Siegfried Beer (Hg.), Focus Austria. Vom Vielvölkerreich zum EU-Staat, Graz 2003, S. 383–407, hier: S. 387 f.; Alessandro Livio, The Wartime Treatment of the Italian-Speaking Population in Austria-Hungary, in: European Review of History 24 (2017), Nr. 2, S. 185–188, hier: S. 186 f., 189 f., 192; Matthew Stibbe, The Internment of Enemy Aliens in the Habsburg Empire 1914–18, in: Manz / Panayi / Stibbe (Hg.), Internment, S. 61–84, hier: S. 64; Hautmann, Kriegsgesetze, S. 74–77; Hasiba, Notverordnungsrecht, S. 154; Caglioti, Subjects, S. 502. Angabe nach: Manfred Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Köln 2015, S. 197.

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Krain und Steiermark. Vor allem im Front- und Etappengebiet gegenüber Serbien und Russland – in Galizien, Bosnien-Herzegowina und Dalmatien – verurteilten die Militärgerichte bis 1917 oft willkürlich Verdächtige. Allein in Böhmen und Mähren wurden 5.000 Todesurteile verhängt, überwiegend wegen Hochverrats. Außerdem internierten die Behörden hier Tausende beschuldigte Personen oft jahrelang ohne Urteil. Darüber hinaus durfte das Armeeoberkommando alle Ausländer und verdächtige eigene Staatsbürger aus Kampfzonen und der Etappe ausweisen. Hier galt nunmehr auch eine Passpflicht. Auch der ebenfalls eingeführte Arbeitszwang richtete sich gegen das Autonomiestreben und den Nationalismus der verschiedenen Volksgruppen, aber auch gegen Personen, die gesellschaftlich abweichendes Verhalten zeigten. Insgesamt hatte die österreichische Regierung im Ländervergleich damit überaus harte Kriegsgesetze erlassen.469 Eine Schlüsselposition gewann im Ausnahmezustand das Kriegsüberwachungsamt, das am 27. Juli 1914 seine Arbeit aufnahm. Es war aus dem 1906 gegründeten „Sicherheitsamt beim Reichskriegsministerium“ hervorgegangen, das alle Maßnahmen koordinieren sollte, die eine effektive Kriegführung behinderten. Während das Militär für die Deportation von Feindstaatenangehörigen und verdächtigen Personen aus den bedrohten Gebieten unmittelbar hinter der Front zuständig war, führte das Amt, das zunächst dem Kriegsministerium und von 1915 bis 1917 dem Armeeoberkommando unterstellt wurde, die Notstandsgesetze aus. Dazu gehörten die Zensur, Überwachung und Kontrolle der Medien. Dem Amt oblag aber auch die Abwehr von Spionage und Subversion, und es war für die Politik gegenüber Kriegsgefangenen und die Internierung zuständig. Dazu wurden Zivilisten kontrolliert und Verdächtige ohne Haftbefehle festgenommen. In diesem Rahmen übernahm die Behörde auch die Überwachung von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Ministerien mussten dabei nicht hinzugezogen werden. Allerdings waren die Kompetenzen des Kriegsüberwachungsamtes auf die österreichische Hälfte des Habsburgerreiches und Bosnien-Herzegowina begrenzt. Auch musste es mit anderen Behörden kooperieren, bei der Zensur beispielsweise mit dem Kriegspressequartier.470 469 Zitat: Leidinger, „Der Einzug des Galgens und des Mordes“, S. 240. Vgl. auch Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1917 und 1918, XXII. Session 1917, Bd. 1–3, Nr. 470 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, Wien 1917/18. Hierzu auch die Protokolle des Hauses der Abgeordneten vom 12. Juni 1917 (4. Juni 1917), 15. Juni 1917 (7. Sitzung) und 6. Juli 1917 (15. Sitzung). Übersicht in: Stibbe, Civilian Internment, S. 105, 111. 470 Katharina Wesener, Internment in WWI. The Case of Thalerhof, in: Ota Luhar (Hg.), The Great War and Memory in Central and South-Eastern Europe, Leiden, 2017, S. 111–122, hier: S. 112; Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 59. Hierzu und zum Folgenden auch: Caglioti,

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Kriegsregiment, Gewalt und Deportationen durch die Armee Nach dem Kriegsbeginn wurde das Gesetz vom 5. April 1869 in Kraft gesetzt, nach dem Personen, die als Gefahr für die öffentliche Ordnung galten, entweder aus den Gemeinden, in den denen sie lebten, ausgewiesen oder dort festgehalten werden konnten. Eine beliebige Deportation oder eine Internierung hatte das Gesetz aber nicht vorgesehen. Die Lücke war mit dem „Gesetz betreffend die Erlassung von Ausnahmeverfügungen für Bosnien und die Herzegowina“ vom 5. März 1910 teilweise geschlossen worden. Damit durfte die Landesregierung Bewohner während des Ausnahmezustandes an einen jeweils festgelegten Aufenthaltsort binden. Im Kriegsüberwachungsamt waren unter der Leitung des Generals Leopold Schleyer von Pontemalghera (1858–1920) rund fünfzig Beschäftigte schon bis April 1915 mit rund 45.000 einzelnen Vorgängen befasst. Alles in allem blieb das Kriegsüberwachungsamt bis zum Tod Kaiser Franz Josefs I. eine zentrale Schaltstelle. Obwohl sich seine Zuständigkeit auf die österreichische Reichshälfte beschränkte, war es ein wichtiger Pfeiler der autoritären Herrschaft, die in Österreich von 1914 bis 1917 bestand und sogar als „Militärdiktatur“ bezeichnet worden ist.471 Allerdings war die Armeeführung oft auf die Kooperation mit der Zivilverwaltung angewiesen. Zusammen mit den Statthaltereien hatten die regionalen Korpskommandos seit 1914 ein Kriegsregiment etabliert, das auch nach den Reformen des Jahres 1917 fortbestand. So hatte eine kaiserliche Verordnung, die am 11. August 1914 erlassen worden war, dem Armeeoberkommando ausdrücklich erlaubt, Orte zu räumen. Alle Zivilisten konnten damit aus den jeweiligen Gemeinden ausgewiesen werden. Besonders Feindstaatenangehörige und Minderheiten, die als illoyal galten, mussten ihre Heimatorte verlassen. Auch dabei kooperierten Militärbehörden mit der regionalen und örtlichen Zivilverwaltung, der die Verdächtigen vielerorts lästig waren. Österreichische Generale ordneten auf dieser Grundlage schon 1914 an, Juden aus Kampfzonen zu deportieren. Darüber hinaus ließen die Militärbehörden verdächtige Angehörige von Minderheiten, die der Spionage und Sabotage bezichtigt worden waren, vielfach standrechtlich verurteilen. Dabei nutzten sie auch Gegensätze und Spannungen zwiSubjects, S. 503; Livio, Treatment, S. 188; Scheer, Denunciation, S. 214, 220; dies., War Surveillance Office. Ausführliche Darstellung in: Scheer, Ringstraßenfront, S. 16–48; Caglioti, Subjects, S. 502 f.; Stevenson, 1914–1918, S. 342. Daneben: Jürgen Wilke, Presseanweisungen im zwanzigsten Jahrhundert. Erster Weltkrieg – Drittes Reich – DDR, Köln 2007, S. 47 f. 471 Mark Cornwall, Auflösung und Niederlage. Die österreichisch-ungarische Revolution, in: ders. (Hg.), Die letzten Jahre der Donaumonarchie. Der erste Vielvölkerstaat im Europa des frühen 20. Jahrhundert, Essen 2004, S. 174–201, hier: S. 178. Kritisch zur Deutung als „Militärdiktatur“: Moll, Erster Weltkrieg, S. 385–387.

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schen einzelnen Minoritäten aus, so Konflikte zwischen Polen und Ruthenen. Auch auf dem Balkan verdächtigten die österreichisch-ungarischen Militärs Angehörige gegnerischer Staaten und Minderheiten, die sich im Frontgebiet aufhielten, als Freischärler einen Volkskrieg gegen die eigenen Truppen zu führen. Diese Gruppen wurden deshalb in Serbien und Bosnien-Herzegowina oft deportiert oder als Geiseln genommen. Dabei verschmolzen Sicherheitsängste mit kulturellen Vorurteilen über den Balkan – besonders die vermeintliche Rückständigkeit und die Herrschaft von „Banden“ (Haiducken) – und einer allgemein restriktiven Auslegung der Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung. Im Besonderen vertrat die Wiener Regierung eine enge Interpretation der Bestimmungen über den Kombattantenstatus, die Rechte bei der Besetzung von Territorium und die Legitimität des bewaffneten Kampfes seiner Bewohner. Die daraus resultierenden Gewaltexzesse von Truppen an der Front gegenüber unschuldigen Zivilisten in Serbien, wo 1914/15 allerdings auch Freischärler die österreichischen Truppen beschossen, wurden in der Publizistik und fachjuristischen Debatte zwar weniger beachtet als die Massaker während der Balkankriege und der Völkermord an den Armeniern; sie untergruben aber letztlich die Loyalität gegenüber der Habsburgermonarchie. So fielen dem Angriff Österreich-Ungarns auf Serbien bis Ende 1914 schon 3.500 bis 4.000 Zivilisten zum Opfer. Das Armeeoberkommando des Habsburgerreiches rechtfertigte den Tod dieser Serben mit dem Hinweis auf vorangegangene Angriffe von Freischärlern auf die eigenen Truppen. Der in den folgenden Jahren weiter zunehmende Konflikt zwischen dem österreichisch-ungarischen Staat und großen Gruppen der Untertanen schwächte damit frühzeitig den Zusammenhalt in dem multiethnischen Imperium, wenngleich es erst 1918 zerfallen sollte.472 Die Gefahr wahrnehmend, bemühte sich die Staatsverwaltung lange, Kompetenzen zur Kontrolle der „Heimatfront“ zu behalten. Auch Kaiser Franz Joseph I. verlangte von den Militärs schon im September 1914 Mäßigung beim Vorgehen gegen eigene Staatsbürger.473 Im darauffolgenden Jahr warnte sogar 472 Vgl. Segesser, Kriegsverbrechen?, S. 217, 220 f., 223, 233; ders., Kriegsverbrechen, S. 194, 200 f., 207; Gammerl, Staatsbürger, S. 328; Cornwall, Morale, S. 174, 179; Moll, Erster Weltkrieg, S. 401, 404–407; Bartov / Weitz, Introduction, S. 14; Stibbe, Civilian Internment, S. 148 f. Angabe nach: McMillan, War, S. 59. Zur militärischen Entwicklung in Serbien: M. Christian Ortner, Die Feldzüge gegen Serbien in den Jahren 1914 und 1915, in: Angelow (Hg.), Der Erste Weltkrieg, S. 123–142, bes. S. 129, 140 f. Zu den Haiducken der Überblick in: Sundhaussen / Clewing (Hg.), Lexikon, S. 373–376. 473 Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1917 und 1918, XXII. Session 1917, Bd. 1–3, Nr. 46, 470 und 479 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, Wien 1917/18. Vgl. auch Leidinger, „Der Einzug des Galgens und des Mordes“, S. 247f., 253–255; Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 62; Marrus, The Unwanted, S. 57; Scheer, Denunciation, S. 221.

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das Ministerium des Innern, dass Todesurteile gegen Angehörige von Minderheiten letztlich die Doppelmonarchie destabilisieren könnten. Zugleich betonten Beamte des Ressorts ihren Beitrag zur inneren Sicherheit, die damit zumindest hinsichtlich der Kompetenzverteilung zwischen Zivil- und Militärverwaltung umstritten war. Auch sollte als „elementare Pflicht der Menschlichkeit“ Unrecht verhindert oder zumindest verringert werden. Deshalb blieb die Mehrheit der Ausländer – auch Briten und Franzosen – in den ersten Kriegsmonaten zunächst in Freiheit.474 Letztlich berief sich die Generalität jedoch erfolgreich auf das Recht zur „Kriegsnotwehr“. Die Militärs setzten den unablässig betonten Vorrang der Sicherheit weitestgehend durch. Dabei arbeiteten die kaiserliche Staatsverwaltung, die Armee sowie die Polizei in den Kampfzonen und in der Etappe eng zusammen, vor allem bei der Deportation „innerer Feinde“. Besonders hart wurden Serben und (ab 23. Mai 1915) Italiener behandelt. Das Armeeoberkommando, das am 31. Juli 1914 mit der allgemeinen Mobilmachung von Kaiser Franz Joseph I. etabliert worden war, strebte nach einer Militärdiktatur, die zwar von Stürgkh mit Unterstützung des ungarischen Ministerpräsidenten Tisza verhindert werden konnte. Die Generalität behielt aber das Weisungsrecht über das Kriegsüberwachungsamt. Dessen „Politische Gruppe“ zensierte Presseerzeugnisse, kontrollierte den Briefverkehr und überwachte die telefonische Kommunikation. Damit folgte es der kaiserlichen Verordnung vom 25. Juli 1914, die mit „Sicherheitsrücksichten“ begründet worden war. Zugleich wurde die Einfuhr von Waffen, Munition und Sprengstoffen verboten. Das Kriegsüberwachungsamt kümmerte sich sogar um die Besitzer von Brieftauben, die militärische Nachrichten übermitteln konnten. Allerdings waren die untergeordneten Militärbehörden mit der Zensur oft überfordert, zumal qualifiziertes Personal fehlte. Der Postverkehr, zu dem im Oktober 1914 für Feindstaatenangehörige restriktive Bestimmungen erlassen wurden, war deshalb kaum lückenlos zu kontrollieren, obgleich Österreich-Ungarn ebenso wie alle kriegführenden Mächte dazu detaillierte Vorschriften zu Briefen, Karten und Päckchen erließen.475

474 Zitat: Leidinger, „Der Einzug des Galgens und des Mordes“, S. 248, 255. Vgl. auch Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 62; Livio, Treatment, S. 190. 475 Beispiel in: NA, FO 383/326 (Formblatt „Communication with Prisoners of War Interned Abroad“). Vgl. auch NA, FO 383/5 (Schreiben vom 22. Oktober 1914). Zitat: Scheer, Ringstraßenfront, S. 83; Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 62–64, 66. Allgemein: Mark Cornwall, Morale and Patriotism in the Austro-Hungarian Army, 1914–1918, in: Horne (Hg), State, S. 171–191, hier: S. 173; Marco Mondini / Francesco Frizzera, Beyond the Borders. Displaced Persons in the Italian Linguistic Space during the First World War, in: Gatrell / Žvanko (Hg.), Europe, S. 177– 196, hier: S. 179.

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Darüber hinaus ging das Amt Anzeigen und Nachrichten nach, die eine amtliche Aufforderung, „subversive Elemente“ zu enttarnen, ausgelöst hatten. So waren in den ersten Wochen des Krieges Gerüchte über mit Geld beladene französische Autos verbreitet worden, die angeblich durch die Doppelmonarchie fuhren, um die Noten russischen Truppen an der Front in Galizien zu übergeben. Da der Automobil-Kontrolldienst aber – ebenso wie in Deutschland – auch den militärischen Verkehr behindert hatte, mussten Straßensperren im Herbst 1914 aufgehoben werden. Entgegen den Absichten der politischen Eliten hatten diese Maßnahmen gegen „innere Feinde“ die öffentliche Sicherheit nicht gestärkt, sondern verringert. Deshalb bezweifelten sogar die Polizeibehörden Berichte über angebliche Illoyalität.476

Internierungs- und Konfinierungspolitik, wirtschaftliche Restriktionen In diesem Kontext und institutionellen Rahmen vollzog sich die Internierungspolitik, für die neben dem Kriegs- und Innenministerium das Kriegsüberwachungsamt zuständig war. Diese Behörde hatte den einzelnen Polizeistatthaltereien schon am 27. August 1914 befohlen, Personen zu verhaften, „deren Verwahrung zur Hintanhaltung von Gefahren für die Kriegführung geboten ist, die aber nicht wegen einer bestimmten strafbaren Handlung verfolgt werden, und daher den Gerichten nicht eingeliefert, somit in gerichtlichen Arresten auch nicht untergebracht werden können.“ Schon eine Woche zuvor hatte Kriegsminister Alexander von Krobatin (1849–1933) angeordnet, verhaftete „Russophile“, gegen die ein Verfahren eröffnet worden war, in den Garnisonen in Brünn und Ölmütz festzusetzen. Nur Verdächtige waren nach Theresienstadt zu schicken und dort administrativ zu verwahren. Zugleich kündigte Krobatin eine allgemeine Verfügung an.477 Die Internierung war ein besonders wichtiges Aufgabenfeld des Kriegsüberwachungsamtes. Dafür wurde ein gesonderter Inspekteur, Hans Swoboda, ernannt. Er übertrug die Verantwortung für den Bau der Lager und die Versorgung der Insassen zunächst der Zivilverwaltung. Demgegenüber waren für die Bewachung die Militärbehörden zuständig, denen das Kriegsüberwachungsamt im Dezember 1914 auch die Verantwortung für die Gefangenen übertrug. Zivile Stellen sollten nur noch unterstützend tätig werden. Ausländer, die sich in der Doppelmonarchie aufhielten, wurden unterschiedlich behandelt. Während die 476 Vgl. Scheer, Ringstraßenfront, S. 53–56, 64–66; Leidinger, Krieg, S. 106. 477 Leidinger, Krieg, S. 95. Zitat: Georg Hoffmann / Nicole-Melanie Goll / Philipp Lesiak, Thalerhof 1914–1936. Die Geschichte eines vergessenen Lagers und seiner Opfer, Herne 2010, S. 47.

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Regierung Italienern die Ausreise erlaubte, wurden Angehörige von Feindstaaten und eigene Minderheiten, die als „innere Feinde“ galten, nach dem Beginn des Krieges nicht nur ohne gesetzliche Grundlage verhaftet, sondern oft auch unbefristet festgehalten. Nur „Reichsitaliener“, die sich in der österreichischen Hälfte der Doppelmonarchie aufhielten, durften über die Schweiz ausreisen. Außerdem entgingen einzelne prominente Feindstaatenangehörige wie der Schriftsteller James Joyce (1882–1941), der 1915 mit der Arbeit an seinem Roman „Ulysses“ begann, der Internierung. Dagegen wurde sein Bruder während des Krieges festgehalten.478 Den Betroffenen teilten die Militärs die Gründe für die repressiven Maßnahmen nicht mit, und sie erhielten auch keinen Rechtsbeistand. Im Allgemeinen unterschieden die Behörden zwischen zumeist mittellosen „Internierten“, die in Lager eingewiesen wurden, und „Konfinierten“, die oft wohlhabend waren und sich nur in einzelnen Gemeinden Niederösterreichs aufhalten durften. Viele von ihnen lebten auf eigene Kosten in diversen Dörfern im Bezirk Waidhofen (nahe der Hauptstadt Wien), wo schon am 10. November 1914 1.026 Internierte (davon 673 Russen) und 130 Konfinierte (darunter 40 Serben) verzeichnet wurden. So hatten die Behörden in Großau ein Lager eingerichtet, in dem im Oktober 1915 253 zivile Feindstaatenangehörige interniert waren, davon 80 Italiener, 67 Briten und 45 Russen. In einem ähnlichen Camp hatte die Regierung in der Gemeinde Illmau in demselben Monat 104 Zivilisten untergebracht, darunter 37 Serben, 36 Russen und 21 Italiener. Am besten waren offenbar die Lebensbedingungen im Lager Drosendorf, wo im Oktober 1915 503 zivile Feindstaatenangehörige – darunter allein 459 Italiener – registriert wurden. In Markl ließ der Leiter der Bezirksverwaltung 1915 ein Camp mit einer Kapazität für 1.400 Personen einrichten. Hierher wurden orthodoxe Juden transportiert, die überwiegend in Russland geboren waren, ausschließlich koscheres Essen zu sich nahmen und zuvor in den Lagern Illmau und Drosendorf gelebt hatten. Frauen und Kinder einiger Insassen begaben sich freiwillig in das Lager, um der Armut zu entkommen. Darüber hinaus waren in Braunau (am Inn) im Juni 1918 allein 820 serbische Jugendliche interniert, zu deren Aufnahme sich Dänemark bereit erklärt hatte. Das britische Kriegskabinett sollte die Versorgung übernehmen, verwies die serbischen Diplomaten aber an die US-Regierung.479

478 Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 65 f.; ders., Civilian Internment, S. 104; Wesener, Internment, S. 118 f.; Pitzer, Night, S. 112. 479 Angaben nach den veröffentlichten Berichten vom 18. August, 7. Oktober und 19. Oktober 1915 sowie einem publizierten Brief Greys vom 6. Dezember 1915, in: NA, FO 383/5. Außerdem Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 64–67; Thorpe, Empire, S. 106. Ebenso: NA, FO 383/473 (Briefe vom 6. und 18. Juni 1918). Zum Lager Mark: Stibbe, Civilian Internment, S. 54.

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Besonders die Furcht vor russischen Offensiven verbreitete die Wahrnehmung von Unsicherheit, die sich gegen Feindstaatenangehörige und Minoritäten richtete. In der Rückwärtspanik, die sich in der österreichisch-ungarischen Armee erstmals schon im Herbst 1914 verbreitete, griffen bedrängte Soldaten zu exzessiver Gewalt, auch gegenüber Zivilisten. So wurden in Ungarn im Oktober 1914 rund 600 Slowaken verhaftet, die vor dem Krieg als nationalistische Agitatoren aufgefallen waren.480 Im Westen Galiziens, wo die Kämpfe gegen die zunächst erfolgreichen russischen Truppen ebenso wie in der Bukowina wertvolle Ländereien verwüsteten, deportierten die Militärs Zivilisten, die sie als illoyal oder unzuverlässig ansahen, von der Front. Zehntausende Ruthenen verschleppten die Behörden in Internierungslager. Von den Minderheiten wurden die italienischen Staatsangehörigen und Reichsbürger besonders hart behandelt, denn aus der Sicht der österreichischen Regierung waren sie Anhänger der Regierung des Ministerpräsidenten Antonio Salandra (1853–1931) und des Königs Vittorio Emanuele III. (1869–1947), der Österreich-Ungarn am 23. Mai 1915 den Krieg erklärte. Die Kriegserklärung, der die Aufkündigung des 1882 geschlossenen „Dreibundes“ voranging, brandmarkten die Eliten des Habsburgerreiches als „Verrat“. Sie löste in der Doppelmonarchie heftige Proteste aus. Vielerorts konnten Übergriffe gegen Italiener nur mit Mühe vermieden werden, so in Triest. Jedoch beschädigte die aufgebrachte Menge hier italienische Geschäfte, Vereinsgebäude und Zeitungsredaktionen. Die Behörden ordneten unmittelbar nach der Kriegserklärung an, 75.000 italienische Zivilisten von der Front in Südtirol zu evakuieren und in Lagern zu internieren. Allein im Trentino wurden 1.700 „politisch Unzuverlässige“ festgesetzt. Außerdem wies die Regierung Frauen, Kinder und Alte italienischer Herkunft aus, besonders aus dem Trentino und der Region um Triest. Diese Zivilisten wurden mit Zügen durch die Schweiz auf die Apenninhalbinsel gebracht.481 Während Landsturm-Einheiten Internierte oft streng bewachten, mussten sich Konfinierte lediglich täglich bei der örtlichen Polizei melden, so in Kautzen (Bezirk Waidhofen). Ansonsten durften sich die Betroffenen in öffentliche Gebäude wie Restaurants begeben und sich auch ansonsten frei bewegen, allerdings nur in einem bestimmten Radius – in der Regel zwei Kilometer – um ihren 480 Zückert, War, S. 511. „Rückwärtspanik“ in Anlehnung an den Begriff „Vorwärtspaniken“ (Überegger, Kampfdynamiken, S. 82). 481 Angaben nach: Nils Arne Sørensen, Zwischen regionaler und nationaler Erinnerung. Erster Weltkrieg und Erinnerungskultur im Trentino der Zwischenkriegszeit, in: Kuprian / Überegger (Hg.), Der Erste Weltkrieg, S. 397–411, hier: S. 398f.; Rieber, Struggle, S. 534 f. Vgl. auch Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 203 f.; Watson, Ring, S. 342; Cornwall, Morale, S. 176; Huber, Fremdsein, S. 164 f.; Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 193; Leidinger, Krieg, S. 99 f.; Mondini / Frizzra, Borders, S. 179.

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Konfinierungsort. Damit sollte gesichert werden, dass sie in den entlegenen Regionen, in die sie gebracht worden waren, isoliert blieben. Auch mussten sie sich selber versorgen, so dass vor allem Wohlhabende konfiniert wurden. Zur Aufnahme von Personen, die das Kriegsüberwachungsamt für besonders gefährlich hielt, wurden „Konfinierungsstationen“ eingerichtet, die Lagern ähnelten. Die Bevölkerung profitierte von Wachsoldaten als Kunden. Auch Konfinierte durften Versorgungsgüter kaufen. Andererseits trafen die Fremden in vielen Gemeinden auf Misstrauen und Ablehnung. So richteten sich gegen Juden antisemitische Ressentiments.482 Zwar war der Übergang zur Internierung fließend. Dennoch unterschied sich die Konfinierung von der Politik in vielen anderen kriegführenden Staaten, in denen Feindstaatenangehörige festgehalten wurden. Zudem differenzierten die Behörden in der Habsburgermonarchie – ebenso wie im russischen Zarenreich – zwischen zivilen Feindstaatenangehörigen, die im Innern der Doppelmonarchie lebten, und als unzuverlässig geltenden Bürgern des Reiches, die sich in der Nähe der Front aufhielten. Die unterschiedliche Behandlung war auch Annahmen der österreich-ungarischen Regierung und der zuständigen untergeordneten Beamten über zivilisatorische Standards geschuldet. Während Italiener, Serben, Russen und Ruthenen im Allgemeinen interniert wurden, konfinierten die Behörden Briten und Franzosen überwiegend in kleinen, entlegenen Dörfern. So waren im Mai 1915 lediglich 4,6 Prozent der Engländer und 4,5 Prozent der Belgier interniert. 1916 forderten Bürgermeister und lokale Behörden, diese zivilen Feindstaatenangehörigen als Kriegsgefangene anzuerkennen, um ihnen damit eine ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln zu gewähren. Demgegenüber beliefen sich die Anteile bei den Montenegrinern und Serben auf 83,1 bzw. 73,0 Prozent. Diese Gruppen galten offiziell als besonders gefährliche „innere Feinde“, die streng überwacht werden sollten. So internierten die Behörden in der Doppelmonarchie allein vom 30. August bis zum 10. November 1916 16.577 als unzuverlässig eingestufte, wehrfähige Serben.483 Einige Feindstaatenangehörige aus westlichen Staaten durften sogar in ihren Wohnorten verbleiben. So waren in der ungarischen Reichshälfte, wo Ministerpräsident Tisza auf den Kompetenzen der Zivilverwaltung gegenüber dem 482 NA, FO 383/249 (Schreiben vom 30. Januar 1917). Vgl. auch Reinhard Mundschütz, Markl Internment Camp, in: Ute Daniel u. a. (Hg.), 1914–1918-online: International Encyclopedia of the First World War, Berlin 2016 (DOI: 10.15463/ie1418.10894; Zugriff am 18. Dezember 2018); Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 196. 483 NA, FO 383/5 (Bericht vom 6. Mai 1915); Stibbe, Civilian Internment and Civilian Internees, S. 58; Caglioti, Subjects, S. 506; Hartmann, Kriegsgesetze, S. 83; Scheer, Ringstraßenfront, S. 63 f., 74; Manz / Panayi / Stibbe, Internment, S. 11; Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 196. Angaben nach: Leidinger, Krieg, S. 102.

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Kriegsüberwachungsamt bestand, im August 1915 lediglich drei britische Staatsbürger interniert und 16 weitere konfiniert, 536 aber frei. Einen Monat später wurde sogar nur noch ein internierter Brite registriert. Der US-Inspekteur zählte daneben 26 konfinierte britische Staatsbürger. In Ungarn lebten in einzelnen Gemeinden Internierte und Konfinierte eng zusammen, so in Vacz (dreißig Kilometer von Budapest entfernt). Hier waren im Januar 1916 von insgesamt 726 zivilen Feindstaatenangehörigen 203 in einem Lager interniert, die anderen aber konfiniert. Sogar Russen und Serben durften mit Erlaubnis des örtlichen Polizeibefehlshabers gelegentlich Budapest besuchen. Dieser Vorzug wurde auch den Internierten im Lager Tapio-Süly (45 Kilometer östlich von Budapest) gewährt, wo im September 1915 377 Italiener litten. Darunter befanden sich 13 Frauen, die ihre gefangen genommenen Ehemänner in das Camp begleitet hatten. Internierte und Konfinierte unterstanden in Ungarn einer gesonderten Kriegsüberwachungskommission (Hadifelügyleti Bizottság), die am 24. Juli 1914 ihre Tätigkeit im Landesverteidigungsministerium aufnahm. Ebenso wie dem österreichischen Kriegsüberwachungsamt, mit dem das Gremium eng zusammenarbeitete, oblag dieser Einrichtung die Spionageabwehr, die Kontrolle des Reiseverkehrs und die Zensur. Darüber hinaus überwachte die Kommission nationalistische Verbände und lenkte die Propaganda. Nicht zuletzt war sie in der ungarischen Reichshälfte für Kriegsgefangene und Zivilinternierte zuständig. Im Gegensatz zum Wiener Kriegsüberwachungsamt durfte sie allerdings nicht Direktiven erlassen, ohne zuvor die Regierung einzubeziehen. Vielmehr hatte Tisza auf einer Kontrolle der Behörde durch die Regierung beharrt.484 Das Militär war in Transleithanien ausschließlich für den unmittelbaren Rückraum der Front zuständig. Außerhalb dieser engen Zone wurden auch keine Standgerichte eingerichtet. Obgleich die Armeeführung damit den Notstand nicht kontrollierte, setzte die Regierung in Ungarn eine harte Kriegspolitik durch. So registrierte das Ministerium des Innern hier im September 1915 bereits 5.486 Internierte (darunter 4.176 Serben) und 8.866 Konfinierte (davon 4.474 Italiener).485 Beide Gruppen lebten in Transleithanien – im Gegensatz zu Österreich – weit verstreut, aber unter guten gesundheitlichen Bedingungen, wie der zuständige Generalkonsul der amerikanischen Schutzmacht und Inspektoren des IKRK berichteten. Allerdings wurden Zivilisten, die den westlichen EntenteMächten angehörten, deutlich besser behandelt als Deportierte aus dem besetzten Serbien und Bosnien. Nur zögernd übermittelte das Innenministerium dem 484 Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 70; ders., Civilian Internment, S. 108 f.; Scheer, „Ich kann das nur für einen Druckfehler halten (…)“, S. 213–219; dies., War Surveillance Office. 485 Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 70. Allgemein: Scheer, „Ich kann das nur für einen Druckfehler halten (…)“, S. 224; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 258.

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Roten Kreuz in Genf Angaben zu dieser Gruppe von Feindstaatenangehörigen, die 1917/18 immer brutaler unterdrückt wurden. Diese Eskalation der Gewalt spiegelte die zunehmende Angst der Militärs und der Polizei vor einer Gefährdung der Sicherheit des Reiches durch die „inneren Feinde“ wider. Zudem litten auch die Konfinierten mit zunehmender Kriegsdauer unter einem Mangel an Lebensmitteln und frischem Wasser. Außerdem klagten sie gegenüber den Inspekteuren der USA und des IKRK gelegentlich über schlechte Latrinen, zu monotone Ernährung, fehlende feste Kleidung und Diskriminierung. Wegen der Preissteigerungen konnten sie nur noch wenige Güter hinzukaufen. So war ihnen in einzelnen Dörfern der Zutritt untersagt. Einige Beobachter berichteten sogar, dass Internierte und Konfinierte zu Arbeit gezwungen wurden. Wiederholt protestierte vor allem das britische Außenministerium auch gegen Misshandlungen durch die örtliche Bevölkerung und die Einweisung von Internierten und Konfinierten in unsaubere Unterkünfte, wo sie auf Ungeziefer trafen und mit Russen und Serben zusammenleben mussten. Diese Interventionen bei der US-Schutzmacht waren aber auch von antislawischen Vorurteilen beeinflusst.486 Im Gegensatz zu anderen kriegführenden Staaten wie Deutschland, Großbritannien und Frankreich wurden in Österreich-Ungarn – ebenso wie im russischen Zarenreich und im Osmanischen Reich – aber überwiegend eigene Staatsbürger interniert oder konfiniert. Die Behörden stellten vor allem die Loyalität von Minderheiten gegenüber dem Kaiser und ihre Zuverlässigkeit im Krieg in Frage, da diese Gruppen zunehmend vom Nationalismus beeinflusst waren. Dabei wurden Feindbilder geschaffen; so richtete sich der Verdacht gegen ruthenische „Spione“ in Galizien, italienische „Irredentisten“ im Trentino und serbische „Terroristen“ in Bosnien. Allerdings setzen die Behörden auch 1.500 Franzosen fest, besonders nachdem das Kriegsüberwachungsamt im November 1914 Repressalien gegen Feindstaatenangehörige beschlossen hatte. Damit sollten die westlichen Kriegsgegner gezwungen werden, österreichische Zivilisten, die sich in ihrer Obhut befanden, besser zu behandeln. Nicht zuletzt wurden in der Doppelmonarchie viele Russen interniert.487 486 NA, FO 383/5 (veröffentlichte Berichte vom 6. und 21. April 1915, 5. und 6. Mai und 9. Juni 1915; Bericht des IKRK „Documents Publiés à l’Occasion de la Guerre Européenne“; Bericht vom 24. September 1915); FO 383/118 (Berichte vom 24. Januar, 29. März, 29./30 März, 22. Mai und 21./22. Juni 1916); FO 383/110 (Brief vom 2. August 1915). Vgl. auch Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 70, 75 f. 487 Angabe nach: Farcy, Camps, S. 361. Hierzu und zu Folgenden auch: Matthew Stibbe, Krieg und Brutalisierung. Die Internierung von Zivilisten bzw. politisch Unzuverlässigen in Österreich-Ungarn während des Ersten Weltkriegs, in: Eisfeld / Hausmann / Neutatz (Hg.), Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa, Essen 2013, S. 87–106, hier: S. 88; ders., Intern-

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Auch unterstellten die Militärbehörden nach einer Bundesratsverordnung vom 4. September 1914 ausländische Firmen, Unternehmen und Grundbesitz ihrer Kontrolle, obgleich das Handelsministerium vor den Folgen für die Wirtschaft der Doppelmonarchie warnte. Ein kaiserliches Edikt vom 16. Oktober ermächtigte die Regierungen Österreichs und Ungarns schließlich, ihrerseits Maßnahmen gegen wirtschaftliche Restriktionen zu ergreifen, denen ihre Staatsangehörigen in gegnerischen Ländern unterworfen wurden. Ergänzend verhängten Verordnungen, die am 22. Oktober 1914 und im Oktober 1915 erlassen wurden, eine staatliche Kontrolle über die Geschäfte von Feindstaatenangehörigen. Im Juli 1916 wurde sogar eine Zwangsverwaltung von Betrieben dieser Ausländer angeordnet. Damit blieben die ökonomischen Eingriffe in der Doppelmonarchie jedoch vergleichsweise begrenzt.488

Die ethnische Dimension der Unterdrückung und Internierung von „inneren Feinden“ Die harte Repressionspolitik gegenüber südost- und osteuropäischen Zivilisten ist auf den generellen Verdacht der Illoyalität und daraus resultierende Sicherheitsphobien zurückzuführen. Aber auch Vorstellungen einer zivilisatorischen und rassistischen Überlegenheit gegenüber den „barbarischen“ Völkern Ostund Südosteuropas beeinflussten das rigorose Vorgehen gegen Ruthenen, Serben, Montenegrinern, Italienern und Rumänen. Nach der Eroberung Serbiens im Herbst 1915 hatten Österreich-Ungarn und Bulgarien das Land untereinander in Besatzungszonen aufgeteilt, die sie jeweils kontrollierten. Da sie ihren Staat nicht anerkannten, weigerten sich die beiden Besatzungsmächte, Serben als Staatsbürger zu behandeln, denen völkerrechtlicher Schutz zu gewähren war. Vielmehr zielten sie auf Assimilation und Repression. Serben wurden deshalb in allen drei okkupierten Zonen bei Verstößen gegen das Regime hart bestraft

ment of Political Suspects, S. 202, 206, 215; Hermann J. W. Kuprian, „Entheimatungen“: Flucht und Vertreibung in der Habsburgermonarchie während des Ersten Weltkrieges und ihre Konsequenzen, in: ders. / Überegger (Hg.), Der Erste Weltkrieg, S. 289–306, hier: S. 293–296; Matthew Stibbe, Enemy Aliens, Deportees, Refugees: Internment Practices in the Habsburg Empire, 1914–1918, in: Modern European History 12 (2014), S. 479–499, hier: S. 480 f., 486–489; Uğur Ümit Üngör / Eric Lohr, Economic Nationalism, Confiscation, and Genocide: a Comparison of the Ottoman and Russian Empires during World War I, in: Modern European History 12 (2014), S. 500–522, hier: S. 508, 511; Hoffmann / Goll / Lesiak, Thalerhof, S. 47; Overmans, „Hunnen“, S. 349; Proctor, Civilians, S. 78; Scheer, Ringstraßenfront, S. 76, 81. Bericht der US-Diplomaten zu Russland abgedruckt in: Spiropoulus, Ausweisung, S. 141–148. 488 Caglioti, Property Rights, S. 7 f.

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und oft exekutiert. Die Unterdrückung richtete sich besonders gegen Gruppen, die in Städten wohnten und als Träger des serbischen Nationalismus verdächtigt wurden. Dazu zählten besonders die akademische Elite und Politiker. Auch deportierten die Besatzungsmächte sozial und politisch „unerwünschte“ Personen.489 Darüber hinaus wurden vor allem Serben, Albaner, Türken, Griechen und Juden präventiv interniert. So ließ die bulgarische Besatzungsmacht Hunderte Geistliche und Lehrer verhaften. Österreich-Ungarns Regierung in Wien und ihre Besatzungsverwaltung in Belgrad verhängten die Internierung unter dem Deckmantel der „militärischen Sicherheit“, mit der die Ordnung und der Zusammenhalt des multiethnischen Reiches gesichert werden sollten. Schon während der Eroberung 1916 Serbiens nahmen die österreichisch-ungarischen Truppen 20.000 bis 25.000 Serben fest. Anschließend wurden sie in Lager wie das Camp Heinrichsgrün (Jindřichovice) in Böhmen eingewiesen, darunter auch serbische Kinder im Alter von mehr als sechs Jahren. Als der Eintritt Rumäniens in den Krieg gegen Österreich-Ungarn Ende August 1916 in Wien neue Ängste um die Stabilität und Kohäsion des Staates auslöste, wurden weitere 16.500 Serben interniert. Nach dem Aufstand in Toplica im Frühjahr 1917 kam es erneut zur Verhaftung von Angehörigen dieses Volkes, das insgesamt besonders rücksichtslos behandelt wurde. Die letzte Internierungswelle vollzog sich im Herbst 1918, als die Streitkräfte der Entente-Mächte in Mazedonien den Durchbruch erzielten und damit eine akute Gefahr für die Integrität des Habsburgerreiches heraufbeschworen.490 Die enge Verbindung zwischen Sicherheitsängsten und der Repression von Minderheiten, die in Wien als Helfer oder zumindest Sympathisanten der Kriegsgegner verdächtigt wurden, zeigt auch die Internierung in Montenegro, das Anfang 1916 okkupiert worden war. Nachdem schon im Herbst 1914 Montenegriner, die in Österreich-Ungarn lebten, festgesetzt worden waren, wurden weitere nach der Kapitulation ihres Königreiches interniert. Die Niederschlagung der Rebellion in Montenegro löste die dritte Internierungswelle aus. Bis Mai 1918 ließen die Besatzungsbehörden weitere Zivilisten internieren. Die betroffenen Personen wurden in Österreich-Ungarn in Lager eingewiesen oder in Bosnien bzw. in Italien zur Arbeit gezwungen. Nach Schätzungen belief sich die Zahl der internierten Montenegriner auf rund 10.000. Alles in allem wurden sowohl die Serben als auch die Montenegriner nicht nur interniert, sondern auch als Geiseln missbraucht, gefoltert, deportiert und zur Arbeit gezwungen. Dage489 Andrej Mitrović, Serbia’s Great War 1914–1918, West Lafayette 2007, S. 221–223. 490 Ebd., S. 228 f., 238; Trifunović, Prisoners of War. Überblick in: Stevenson, 1914–1918, S. 342 f.

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gen fielen den österreichisch-ungarischen Militärs deutlich weniger Rumänen in die Hände, da die „Mittelmächte“ 1916/17 zwar weite Gebiete ihres Landes erobert hatten, aber nur schrittweise, so dass viele geflohen waren, vor allem zu den russischen Truppen, die im Osten Rumäniens eine Front halten konnten. Dennoch wurden von Dezember 1916 bis zum Sommer 1917 mehrere Tausend Rumänen gefangen genommen, zumindest teilweise als Repressalie, da die rumänische Regierung zuvor 28 Internierungszentren für Staatsangehörige der „Mittelmächte“ eingerichtet hatte.491 Zudem wurden viele Serben, Ruthenen und (seit 1915) Italiener aus Grenzgebieten und Zonen unmittelbar hinter der Front zwangsweise evakuiert, da sie als politisch unzuverlässig galten. Weitere Bürger Österreich-Ungarns flohen 1914/15 vor den heranrückenden russischen Truppen, vor allem in Galizien und in der Bukowina. Umgekehrt ordneten die Befehlshaber, die im Mai 1915 bei Gorlice-Tarnów eine Großoffensive gegen die Zarenarmee begannen, an, unmittelbar vor dem Angriff die Bewohner der Dörfer zu evakuieren, in denen die Ausgangsstellungen der Truppen lagen. Damit sollte Spionage verhindert werden. Als Folge der Vertreibungen und Deportationen ließen sich allein 70.000 jüdische Flüchtlinge in Wien nieder. Insgesamt belief sich die Zahl der Geflohenen schon im Dezember 1915 allein in Österreich nach offiziellen Angaben auf 291.459. In der ungarischen Reichshälfte lebten im April 1915 mindestens 30.000 Geflohene. Nach dem Kriegseintritt Italiens kamen 400.000 Flüchtlinge hinzu. Alles in allem erreichte die Zahl der Vertriebenen in Österreich-Ungarn noch 1917 760.000, obwohl ab 1915 schon 250.000 in Siedlungen zurückgekehrt waren, die in der Nähe der Fronten lagen. In den Aufnahmegebieten behandelten die Behörden und die Bevölkerung die Vertriebenen vielerorts als Fremde, obwohl sie Staatsangehörige der Doppelmonarchie waren.492

Die Lager Angesichts der erfolgreichen Offensiven des Zarenreiches verbreitete sich in Österreich-Ungarn 1915 eine Spionagehysterie, die letztlich die Angst vor einer entscheidenden militärischen Niederlage widerspiegelte. Deshalb wurden besonders rund 10.000 Ruthenen, die in der Öffentlichkeit als Anhänger Russlands 491 Andrei Şiperco, Internment in Neutral and Belligerent Romania, 1914–19, in: Manz / Panayi / Stibbe (Hg.), Internment, S. 227–251, hier: S. 234; Trifunović, Prisoners of War. 492 Angaben nach: Leidinger / Moritz, Der Erste Weltkrieg, S. 78. Vgl auch Stibbe, Internment of Political Suspects, S. 203, 209; Hartmann, Kriegsgesetze, S. 80; Leidinger, „Der Einzug des Galgens und des Mordes“, S. 247; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 295; Thorpe, Empire, S. 105; Gatrell, Refugees, S. 84; Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 193; Cornwall, Morale, S. 176.

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galten, in den verschiedenen österreichischen Landesteilen in Lagern – besonders in Thalerhof bei Graz – oft wahllos und willkürlich von der Polizei interniert. Hier hielt man sie ohne Anklage und Gerichtsverfahren unter dem Vorwand eines „verdächtigen Herumschwärmens an der Front“ fest. Am 9. November 1914 waren in dem Lager bereits 5.700 Feindstaatenangehörige interniert, 890 in Theresienstadt und vierzig in Schwarz (Tirol). Fünfzig Internierte wurden in Kufstein (Tirol) und zwanzig weitere in verschiedenen Lagern in Ober- und Niederösterreich gezählt.493 In Thalerhof hielten die Behörden bis zu 7.000 Menschen (überwiegend Ruthenen) fest. Wegen Unterernährung, Entkräftung und Epidemien wie Typhus starben hier rund 1.800 Häftlinge aus Galizien und der Bukowina. Viele dieser „Russophilen“ waren zu Unrecht – z. B. aufgrund von Denunziationen – verhaftet worden. In dem Camp lebten Mitte 1916 noch 14.000 Ruthenen. Nach dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 ordnete die österreichische Regierung schließlich an, die Bürger dieses Landes in das Lager Katzenau (nahe Linz) einzuweisen. Hier waren im August 1915 rund 3.000, Ende 1915 schon mehr als 6.000 und im März 1918 schließlich über 9.000 Italiener (davon 150 Frauen) interniert. Viele von ihnen waren gesellschaftlich führende, aber nun entwurzelte Flüchtlinge aus dem Trentino. Ein weiteres Camp für italienische Zivilisten wurde in Leibnitz (südlich von Graz) eröffnet, nachdem sich Ungarns Regierung im Mai 1915 geweigert hatte, Internierte aus Österreich zu übernehmen. Jedoch wurden in Ungarn in Arad und Nezsider (Neusiedl) Lager für Serben eingerichtet. Hier waren Ende August 1914 3.429 Insassen notdürftig untergebracht. Kleinere Internierungsstellen nahmen Zivilisten an verschiedenen Orten wie Gmünd und Theresienstadt (Terezín) auf. So wurden im August 1917 zwei Inder in Steinklam festgehalten. Einschneidender war die Verschleppung von insgesamt 30.000 Personen aus Bosnien und der Herzegowina in Internierungslager in Österreich und Ungarn. Außerdem durchliefen mindestens 12.000 österreichische Italiener zwischen Mai 1915 und Mai 1917 Camps im Innern des Landes.494 Alle festgesetzten „feindlichen Ausländer“ unterstanden ab Ende 1914 der Militärverwaltung. Die betroffenen Personen, aber auch einzelne Mitglieder der Regierung protestierten wiederholt gegen die Internierungen. So kritisierte ein

493 Zitat: Hoffmann / Goll / Lesiak, Thalerhof, S. 60. Angaben nach: Wesener, Internment, S. 119. Vgl. auch Borodziej / Górny, Der vergessene Weltkrieg, S. 106. 494 Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 67; ders., Civilian Internment, S. 106, 109; Livio, Treatment, S. 190 f.; Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 196; Leidinger, Krieg, S. 97. Zu den Indern in Österreich der Bericht vom 23. August 1917 in: NA, FO 383/249. Zum Lager Terezín: Todd Huebner, The Internment Camp at Terezín 1919, in: Austrian History Year Book 27 (1996), S. 199–211, hier: S. 199. Zu Katzenau: Mondini / Frizzera, Borders, S. 186.

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Insasse des Lagers Thalerhof, in das 7.000 „Russophile“ gebracht worden waren, in seinem Schreiben an Kaiser Franz Joseph I. im Dezember 1914, dass die allermeisten von uns ohne Vorhalt irgendwelcher konkreten strafbaren Handlungen, vielmehr blos [sic] deshalb interniert wurden, weil uns angeblich eine staatsfeindliche Gesinnung zugemutet wird, was wir jedoch mit Entrüstung zurückweisen. […] Diese unsere Rechtslage verletzt unsere durch die Staatsgrundsätze gewährleisteten Rechte, welche durch den Kriegszustand keineswegs als aufgehoben gelten dürfen.

Dennoch hatte das Kriegsüberwachungsamt bereits im August 1914 für die österreichische Reichshälfte sogar angeordnet, festgesetzte Feindstaatenausländer zur Zwangsarbeit heranzuziehen. Überdies beruhigten die Behörden nicht die Bevölkerung in den Gemeinden, die in der Nähe der Camps lagen. Hier wurden die Internierten oft als „innere Feinde“ beargwöhnt und gebrandmarkt.495 In die Lager wurden auch Frauen und Kinder eingewiesen, die des Verrats oder der Illoyalität verdächtigt wurden oder Angehörige internierter Männer waren. Die Mehrheit nahmen die österreichisch-ungarischen Behörden erst in der letzten Phase des Ersten Weltkrieges fest. Im April 1917 erkundigte sich der päpstliche Nuntius in Wien bei Außenminister Graf Ottokar Czernin (1872–1932) nach den Gründen der Internierung serbischer Kinder im Alter zwischen zehn und 15 Jahren. Dennoch hielt die Regierung Österreich-Ungarns an dieser Politik fest. In den Lagern wurden alle Internierten in Baracken untergebracht, in denen jeweils 200 Insassen leben mussten. Serben, Montenegriner, Rumänen und Ruthenen litten im Allgemeinen an Nahrungsmittelmangel und schlechter Behandlung. So wurden sie oft geschlagen. Nach dem Krieg hat die Regierung im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen die Zahl der serbischen Zivilisten, die in Österreich-Ungarn, Deutschland und Bulgarien verstarben, mit 81.214 angegeben.496 Im Lager Thalerhof wurden Insassen des Lagers von ungarischen Soldaten sogar erschossen. Insgesamt kamen hier acht Menschen ums Leben; 41 wurden schwer verletzt. Aber auch Internierte und Konfinierte, die nicht Opfer gewalttätiger Übergriffe oder der grassierenden Krankheiten wurden, waren notleidend. Darüber hinaus verarmten ihre Familien wegen des oft langen Zwangsaufenthaltes in den ihnen zugewiesenen Lagern oder Gemeinden. Zwar waren bereits im November 1914 Untersuchungskommissionen gebildet worden, um die Festnahme der einzelnen Personen zu prüfen. Sie sollten über eine weitere Festset-

495 Zitat: Hoffmann / Goll / Lesiak, Thalerhof, S. 81. Vgl. auch: Kuprian, „Entheimatungen“, S. 296; Wesener, Internment, S. 121; Stibbe, Phänomen, S. 166; Stibbe, Internment of Political Suspects, S. 211; Scheer, Ringstraßenfront, S. 80. 496 Trifunović, Prisoners of War.

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zung, eine Konfinierung, die Einweisung in Flüchtlingslager oder eine Freilassung entscheiden. Wegen der Epidemien, die sich in den Lagern ausbreiteten, konnten die Gremien aber erst ab Mitte 1915 ihre Arbeit aufnehmen. Die Kommissionen und das Kriegsüberwachungsamt bewilligten insgesamt nur wenige Petitionen auf Freilassung. Im Lager Steinklamm (bei St. Pölten), wo zunächst Ruthenen und dann Italiener litten, waren die Lebensbedingungen so dürftig, dass es 1915 sogar geschlossen werden musste; hier wurden nur noch Flüchtlinge untergebracht. Gefangene französische und britische Zivilisten behandelten die Behörden generell deutlich besser. Die Todesrate unter den Internierten war in diesen Gruppen relativ gering.497

Grenzen der Repressionspolitik Auch wenn die überkommende Deutung, dass festgehaltene Zivilisten in der Doppelmonarchie gut behandelt wurden, in Frage gestellt werden muss, erlegten besonders der Propagandakrieg und das Reziprozitätsprinzip der Politik gegenüber Feindstaatenausländern Schranken auf. So wehrte vor allem das Wiener Außenministerium Vorwürfe gegen die Kriegführung der Doppelmonarchie beharrlich ab. Vielmehr war es durchweg bemüht, das „zivilisierte“ Vorgehen der Regierung herauszustreichen. Allerdings konnte es damit die Kritik der Entente-Mächte, vieler neutraler Staaten und humanitärer Organisationen an der brutalen Repressionspolitik gegenüber den Serben allenfalls dämpfen. Wirksamer dämmte die Furcht vor Repressalien gegenüber Österreichern und Ungarn, die in den gegnerischen Staaten festgehalten wurden, die Gewalt ein.498 So ließ die Regierung Österreich-Ungarns mit Vermittlung der USA schon 1914 Inspektionen der Internierungslager für russische Zivilisten durch neutrale Mächte zu; allerdings drohte sie im März 1915 mit dem Abbruch, falls Russland amerikanischen Diplomaten nicht ähnliche Besuche im Zarenreich erlaubte. Die US-Gesandtschaft in St. Petersburg durfte daraufhin auch Camps in Russland besichtigen und prüfen. Nachdem die Kriegsministerien in Berlin und Petrograd im Juli 1915 unter Vermittlung der Rotkreuz-Gesellschaft des neutralen Dänemark gegenseitige Besuche von Krankenschwestern in Lagern vereinbart hatten, wurde im Oktober ein ähnliches Abkommen zwischen den Regierungen Russlands und Österreich-Ungarns unterzeichnet. Die „Schwesternreisen“, die das Rote Kreuz von 1915 bis 1917 durchführte, vermittelten der Regierung des 497 Stibbe, Internment of Civilians, S. 5; ders., Civilian Internment, S. 106 f.; Scheer, Ringstraßenfront, S. 80; Wesener, Internment, S. 119. Angaben nach: Leidinger, Krieg, S. 108. 498 Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 72 f., 76.

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Habsburgerreiches – ebenso wie der deutschen Reichsleitung – verlässliche Informationen über den Umgang mit österreichischen und ungarischen Gefangenen im Zarenreich. Insgesamt bestand vor allem das Armeeoberkommando auf einer strikt reziproken Behandlung der Gefangenen und dabei vor allem auf Vergeltung. Dieses Vorgehen verteidigte es auch gegenüber dem Kriegsministerium, das wiederholt auf eine mildere Behandlung der Feindstaatenangehörigen und Minderheiten drängte.499 Ebenso mäßigend wirkten bilaterale Abkommen, die im Verlauf des Ersten Weltkrieges zwischen der Regierung Österreich-Ungarns und anderen Staaten abgeschlossen wurden. So erhielten britische Frauen, Kinder, Ärzte, Geistliche sowie Männer unter 18 und über 50 Jahren nach einer Vereinbarung mit dem Vereinigten Königreich vom November 1914 eine relativ humane Behandlung, und sie wurden bevorzugt ausgetauscht.500 Im weiteren Verlauf des Krieges kam es nach dem Vorbild der Übereinkunft zwischen Deutschland und Frankreich vom Januar 1916 zu weiteren Abkommen über den Umgang mit Zivilinternierten. Diese Vereinbarungen, die ebenfalls vom Kriegsüberwachungsamt umgesetzt wurden, blieben aber selten, und sie verschafften insgesamt nur einer Minderheit der betroffenen Zivilisten Erleichterung. Nachdem schon zuvor auf der Grundlage eines bilateralen Abkommens nicht zum Wehrdienst fähige internierte Briten freigelassen worden waren, einigte sich die Regierung ÖsterreichUngarns 1916 mit dem Vereinigten Königreich auf den Austausch von Konsuln. Damit konnte ein Konflikt beigelegt werden, in dem das Außenministerium der Doppelmonarchie wiederholt – so im November 1915 – scharf gegen die Behandlung seiner Diplomaten im Empire protestiert hatte. Demgegenüber gelang keine Einigung mit der italienischen Regierung, die an ihren Staatsbürgern wenig interessiert war. Sie kümmerte sich bewusst kaum um die Zivilinternierten und Kriegsgefangenen, da sie Hilfsleistungen als Anreiz zur Desertion betrachtete. Umgekehrt vernachlässigten die österreich-ungarischen Militärbehörden die insgesamt 400.000 italienischen Gefangenen, die sich Anfang 1918 in fünfzig Lagern aufhielten, besonders stark, da sie als illoyal und „Verräter“ galten.501

499 NA, FO 383/5 (Schreiben vom 10. und 15. November 1914); Moritz, „Schauermärchen“, S. 45–47; Nachtigal, Rotkreuzdelegierten, S. 366; Wurzer, Die Gefangenen, S. 422–430. 500 NA, FO 383/5 (gedruckter Bericht vom 7. Mai 1915); Stibbe, Internment of Civilians, S. 5. 501 FRUS, 1915, Supplement, S. 997 f., 1011; NA, FO 383/118 (Schreiben vom 18. November 1915 sowie vom 7. Januar, 1. Februar, 12. Juni und 1. November 1916; Note vom 18. November 1915); FO 383/5 (Schreiben vom 13. April 1915; Memorandum vom 16. August 1915). Angabe nach: Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 199. Vgl. auch Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 74 f.

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Ursachen und Folgen der Internierungspolitik im Kontext der Repression im multiethnischen Reich Ebenso wie in Russland führten in Österreich-Ungarn militärische Niederlagen trotz der Anweisungen, völkerrechtliche Regelungen zu beachten, nicht nur zu extremer, oft situationsbedingter Gewalt an der Front, sondern auch zu einer Ausweitung und Radikalisierung der Internierungspraxis. So waren in der Habsburgermonarchie im Jahr 1917 allein nahezu 40.000 Serben interniert. Insgesamt saßen am Jahresende rund 79.000 serbische Zivilisten in deutschen, österreichischen und ungarischen Lagern ein. Vielerorts wurden sie zur Arbeit gezwungen. Die Besatzungsbehörden fassten vor allem Internierte, die in Serbien belassen wurden und überwiegend Bauern waren, in Arbeitsbataillonen von jeweils 250 bis 300 Männern zusammen. Damit sollte der Mangel an Kräften behoben werden, der in Serbien die von den Besatzungsmächten angestrebte wirtschaftliche Ausbeutung zu blockieren drohte.502 Die ersten Niederlagen der österreichischen Armee, die allein bei einer schlecht vorbereiteten Offensive in den Karpaten im Winter 1914/15 rund 800.000 Soldaten verlor, hatten schon früh eine manische Fixierung auf Spionage herbeigeführt. Sie schlug sich in einer Flut von Meldungen und Anzeigen zu „inneren Feinden“ nieder. Das Kriegsrecht und der zunehmende Mangel an Versorgungsgütern förderten Denunziationen, die oft in deutscher Sprache verfasst waren, um politische Loyalität im Krieg zu demonstrieren. Tatsächlich vertraute das Kriegsüberwachungsamt, das die Informationen prüfen musste, besonders Meldungen deutschsprachiger Denunzianten, die sich als besorgte Patrioten darstellten. Wichtige Motive waren aber auch persönliche Feindschaften, religiöse Gegensätze und politische Auseinandersetzungen, die oft in den Jahren vor 1914 begonnen hatten. Hinzu kamen Verteilungskonflikte in der Kriegswirtschaft. Die Bearbeitung der Denunziationen band nicht nur im Kriegsüberwachungsamt, sondern auch in der österreichischen Polizei, die über eine Vielzahl kolportierter Gerüchte klagte, erhebliche Ressourcen. Damit konterkarierten Denunziationen die offizielle Sicherheitspolitik. Letztlich destabilisierten sie damit das multiethnische Imperium.503 Im Besonderen säte das Vorgehen der Staatsverwaltung und des Armeeoberkommandos, die Angehörige von Minderheiten der Sabotage verdächtigten, zusehends Misstrauen. Im Kontext radikaler gesellschaftlicher Militanz und 502 Livio, Treatment, S. 186; Trifunović, Prisoners of War. Zur Gewaltpanik an der Ostfront: Überegger, Kampfdynamiken, S. 82, 84, 97. 503 Scheer, Denunciation, S. 215–217, 219, 221 f., 224; dies., War Surveillance Office; Leidinger, Krieg, S. 104.

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amtlicher Aufforderungen zur Enttarnung vermeintlich österreichfeindlicher „innerer Feinde“ wurden (tatsächliche oder vermeintliche) Agenten, die Soldaten gefangen nahmen, oft nicht – wie vorgesehen – von der Front zurückzuführt, sondern sofort erschossen. Auch das Kriegsüberwachungsamt, das nahezu alle Gesuche auf Befreiung von der Internierung oder frühzeitige Entlassung ablehnte, war an der Repressionspolitik führend beteiligt. Tschechen, Slowaken, Ruthenen und Juden, die sich nicht uneingeschränkt zur Krone bekannten, galten als Sicherheitsrisiko, das aus der Sicht der Zivilverwaltung und Generale unnachsichtig kontrolliert werden musste. Da eine enge Überwachung aber schon wegen der Massenflucht aus den bedrohten Frontgebieten nicht möglich war, verbreitete sich unter den Eliten der Doppelmonarchie Unsicherheit. Obgleich der Nationalismus und die Desertion unter Angehörigen der Minderheiten erst angesichts der offenkundigen Niederlage 1918 zunahmen, hatte die Furcht vor dem „inneren Feind“ bereits zuvor die Zentralisierungsbestrebungen genährt, die in der westlichen Reichshälfte vor allem von nationalistischen Deutschen ausgingen. Diese Politik entfremdete aber die Minderheiten. Ebenso wie in Russland trugen die Internierung, Enteignung und Deportation von Ausländern und den – mit diesen weitgehend assoziierten – Minoritäten schließlich maßgeblich zum Zerfall des Reiches bei. Die Repression erschwerte nach den hohen Verlusten, die das Habsburgerreich 1914/15 erlitten hatte, in den letzten beiden Kriegsjahren eine erneute Mobilisierung, ohne die der Kampf letztlich nicht weitergeführt werden konnte. Zudem erwies sich die wachsende Ungleichheit, die der Ausnahmezustand herbeigeführt hatte, als eine erhebliche Belastung.504

Die (zu) späte Korrektur der Internierungspolitik 1917/18 Erst angesichts des sich abzeichnenden Zerfalls des multiethnischen Imperiums ordnete der neue Kaiser Karl I. (1887–1922), der nach seiner Inthronisierung Ende 1916 grundlegende Reformen wie eine Föderalisierung des Reiches versprochen hatte, eine Rückkehr zur Herrschaft auf der Grundlage der Verfassung an. Er hob daraufhin das Notstandsregime auf, das Karls Großonkel, Franz Joseph I., zu Kriegsbeginn installiert hatte. Damit ging die Macht der Militärführung zurück. Im Einzelnen setzte der neue Kaiser am 8. März 1917 eine generelle und beschleunigte Überprüfung aller Internierungen von Zivilisten durch. Diese 504 Zückert, War, S. 510 f., 514, 517; Leidinger, „Kriegsgräuel“, S. 27; Scheer, Denunciation, S. 224; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 254; Livio, Treatment, S. 197; Cornwall, Morale, S. 174, 179. Angabe nach: Kershaw, Höllensturz, S. 81 f.

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Aufgabe übernahmen Kommissionen, denen Vertreter politischer Gremien, der Lagerverwaltungen und des Kriegsüberwachungsamtes angehörten. Sie ordneten die Internierten in vier Gruppen ein: politisch Unzuverlässige sollten entlassen, aber von den Kampfzonen ferngehalten werden (A). Personen, die wegen subversiver Aktivitäten interniert worden waren, mussten ausgebürgert werden (B). Internierte, von denen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausging, waren in den Lagern zu belassen (C), und Verbrecher wurden zivilen Gerichten überstellt (D). Von den 4.104 Staatsbürgern Österreich-Ungarns, die im April 1917 noch interniert waren, wurden 3.252 entlassen und 689 ausgewiesen. Daraufhin schloss die Regierung viele Lager – so Thalerhof, Mitterngraben und Göllersdorf – oder widmete sie um.505 Einige freigesetzte Internierte wurden aber aufgrund der Intervention des Armeeoberkommandos anschließend sofort erneut konfiniert. In der Regel mussten sie sich vom militärischen Operationsgebiet fernhalten, um – so die Rechtfertigung – die Sicherheit der Soldaten und österreichischen Zivilbevölkerung nicht zu gefährden. Im Juli 1917 begnadigte Kaiser Karl I. schließlich alle politischen Gefangenen. Die kaiserliche Amnestie erhöhte den Druck auf die militärische Führung und die Ministerialkommission im Kriegsministerium, die 1917 dem aufgelösten Kriegsüberwachungsamt nachgefolgt war. Die neue Institution unterstand nicht mehr dem Weisungsrecht des Armeeoberkommandos, und sie wurde außer von einem hochrangigen Militär auch von einem zivilen Beamten geleitet. Besonders die ehemalige Führung des Kriegsüberwachungsamtes musste sich nachträglich für die repressiven Maßnahmen rechtfertigen, die sie im Namen der öffentlichen Sicherheit im Krieg durchgesetzt hatte. Zudem konnten die Militärs nicht mehr verhindern, dass die Zensur gelockert wurde.506 Im Mai 1917 hatte der neue Kaiser auch den Reichsrat wieder einberufen. Damit war er der wachsenden Kritik am Ausnahmezustand und Forderungen nachgekommen, die bereits 1916 erhoben worden waren. So hatte der gemäßigt deutschnationale Abgeordnete Josef Redlich (1869–1936), der sich wiederholt antisemitischer Angriffe erwehren musste, kritisiert, dass die außerordentlichen Vollmachten, die mit der Verhängung des Ausnahmezustandes verbunden waren, keineswegs nur eine reibungslose Mobilisierung gewährleisten sollten, sondern von der Armee und Regierung gezielt genutzt worden waren, um ihre

505 Livio, Treatment, S. 195 f.; Leidinger, Krieg, S. 97. 506 Scheer, Ringstraßenfront, S. 74, 79, 127; dies., War Surveillance Office; Livio, Treatment, S. 196; Stibbe, Internment of Political Suspects, S. 207, 210, 215 f.; Cornwall, Morale, S. 174, 177. Zum Kontext: Kershaw, Höllensturz, S. 133. Der junge Kaiser erhielt 1917 den Beinamen „Amnestiekarl“. Vgl. Tamara Scheer, Von Friedensfurien und dalmatinischen Küstenrehen. Vergessene Wörter aus der Habsburgermonarchie, Wien 2019, S. 26–28.

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Macht zu steigern. Daraufhin wurden einige der außerordentlichen Vollmachten zurückgenommen, so restriktive Regelungen zur Pressezensur. 507 Im Juni und Juli 1917 diskutierte der Reichsrat schließlich auch die Internierungspolitik. Dabei mussten sich die Militärs scharfer Kritik stellen. Zugleich wurden aber gegensätzliche Auffassungen zur Weiterführung des Krieges und zum Friedensschluss deutlich. In den Debatten wandten sich deutschnationale Parlamentarier kategorisch gegen die Amnestie des jungen Kaisers, dem sie vorwarfen, damit „slawische Wühlarbeit“ belohnt zu haben.508 Auch Innenminister Friedrich Graf Toggenburg (1866–1956) gab allgemein zwar Fehler im Umgang mit den „inneren Feinden“ zu, rechtfertigte aber ebenso wie das Kriegsüberwachungsamt nachträglich die Repression von Angehörigen der Minderheiten: „Daß […] Menschen, von denen seit Jahren bekannt war, daß sie mit allen ihren Sympathien auf der Seite des Feindes stehen, […] unschädlich gemacht werden mussten […], das erforderten die primitivsten vaterländischen Interessen.“509 Jedoch forderte der Reichsrat erneut die Rechte des Parlaments ein, welche die kaiserliche Verordnung vom 25. Juli 1914 außer Kraft gesetzt hatten. Abgeordnete wie Ignacy Daszyński (Polnische Sozialdemokratische Partei für Galizien und Schlesien, 1866–1936) und Vertreter der ukrainischen Nationaldemokraten – so der Anwalt Evhen Petruševič (1863–1940) – wandten sich gegen den Militarismus. Im Einzelnen verlangten sie, die Militärgerichtsbarkeit über Zivilisten aufzuheben. Auch forderten diese Parlamentarier, den Standgerichten Todesurteile zu untersagen, und sie setzen sich für eine Entschädigung für die Hinterbliebenen von zu Unrecht exekutierten Zivilisten ein.510 Darüber hinaus kritisierten Abgeordnete wie der spätere italienische Ministerpräsident Alcide de Gasperi (Trentiner Volkspartei, 1881–1954), Ernest Breiter (fraktionslos, 1865–1935), Valentino Pittoni (Gruppe der italienischen Sozialdemokraten, 1872–1933) und Karel Baxa (Vereinigung der böhmischen nationalsozialen, radikalfortschrittlichen und staatsrechtlichen Abgeordneten, 1863–1938) 1917/18 wiederholt die willkürliche Internierungspolitik. In verschiedenen Interpellationen verurteilten sie die miserablen Lebensbedingungen in den Lagern, wo Versorgungsmängel und unzureichende Hygiene maßgeblich zur Verbrei507 Livio, Treatment, S. 189; Moll, Erster Weltkrieg, S. 401; Stibbe, Civilian Internment, S. 103. 508 Zitat: Manfred Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz 1993, S. 478. Vgl. auch Leidinger, „Der Einzug des Galgens und des Mordes“, S. 251; Livio, Treatment, S. 196; Stibbe, Krieg, S. 88, S. 104 f.; Jahr, Feriengäste, S. 240; Hoffmann / Goll / Lesiak, Thalerhof, S. 29–46. Vgl. auch Bruendel, Zeitenwende, S. 95; Stibbe, Internment, S. 58; Cornwall, Morale, S. 181. 509 Hasiba, Notverordnungsrecht, S. 159, 166; Moritz, „Schauermärchen“, S. 55 f. Zitat: Leidinger, „Der Einzug des Galgens und des Mordes“, S. 253. 510 Ebd., S. 235–237, 254 f.

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tung von Krankheiten beigetragen hatten. In seiner Sitzung vom 11. Juli 1917 nahm der Budgetausschuss des Reichsrates auch einen Antrag an, in dem die Abgeordneten die Freilassung der Internierten und ihre Rückführung in die Heimatorte forderten. Zudem verlangten sie, die Opfer zu entschädigen. Nicht zuletzt wandten sie sich gegen die vom Kriegsüberwachungsamt verwendeten Kategorien „politisch verdächtig“ bzw. „politisch unverlässlich“. Ebenso wiesen sie im Januar 1918 den Spionageverdacht, der sich vor allem gegen russische Staatsangehörige richtete, explizit zurück. Damit wandten sie sich gegen das Armeeoberkommando, das im Herbst 1918 entlang der Ostfront 24 „Übernahmestationen“ und 53 „Heimkehrerlager“ einrichtete, um eine bolschewistische Infiltration durch Kriegsgefangene und Zivilisten, die aus Russland zurückkehrten, zu verhindern.511 Ebenso erinnerte der Justizausschuss des Reichsrates die Regierung an die „Pflichten der Humanität“, die eine menschenwürdige Behandlung von Zivilisten erforderten.512 Abgeordnete wie Václav Jaroslav Klofáče (1868–1942, Böhmischer national-sozialer Klub), der zu Kriegsbeginn wegen angeblichen Hochverrats inhaftiert worden war, bemühten sich um ein offeneres Verständnis des Verhältnisses zwischen Sicherheitserfordernissen und Humanität. Diese Parlamentarier begründeten 1918 ihren Antrag auf Schadenersatz für Untersuchungshaft, Internierung und Konfinierung folgendermaßen: „Wie entfernt, das Recht des Staates zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit zu bestreiten, muß doch ein jeder, der Sinn für Recht und Billigkeit hat, darauf bestehen, da ebenso wie die öffentliche auch die persönliche Sicherheit und Unverletzlichkeit gewahrt bleibe.“513 Die Abgeordneten beriefen sich dabei auch auf Grundsätze des Völkerrechts.514 511 Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1917 und 1918, XXII. Session 1917, Bd. 1–3, Nr. 370, 378, 479, 1120, 1140 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, Wien 1917/18. Hier auch die Protokolle des Hauses der Abgeordneten vom 20. Dezember 1917 (52. Sitzung), 30. Januar 1918 (56. Sitzung), 1. März (67. Sitzung) und 16. Juli 1918 (75. Sitzung). Vgl. zusammenfassend Moritz, Österreich-Ungarn, S. 98. 512 Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1917 und 1918, XXII. Session 1917, Bd. 1–3, Nr. 456 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, Wien 1917/18. Vgl. dazu ähnlich die Protokolle des Hauses der Abgeordneten vom 12. Juni 1917 (4. Sitzung), 6. Juli 1917 (15. Sitzung) und 14. Juli 1917 (20. Sitzung). 513 Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1917 und 1918, XXII. Session 1917, Bd. 1–3, Nr. 1140 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, Wien 1917/18. 514 Vgl. das Protokoll des Hauses der Abgeordneten vom 14. Juli 1917 (20. Sitzung), in: Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1917 und 1918, Wien 1917/18.

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Bilanz Alles in allem war die Politik gegenüber den zivilen Feindstaatenangehörigen in Österreich-Ungarn zumindest bis 1916 keineswegs liberal.515 Vielmehr führten auch hier extreme Bedrohungsängste und eine obsessive Fixierung auf Sicherheit angesichts militärischer Niederlagen trotz der Anweisungen, völkerrechtliche Regelungen zu beachten, nicht nur zu extremer, oft situationsbedingter Gewalt an der Front, sondern auch zu einer systematischen Ausweitung und Radikalisierung der Repression „innerer Feinde“. Die Internierung und Konfinierung beanspruchten aber ihrerseits erhebliche Mittel. So mussten die festgesetzten Personen im Krieg, als die Verluste an der Front und Versorgungsengpässe zunahmen, versorgt werden.516 Letztlich schädigten die Deportationen, Internierungen und die (seit 1916 erlaubte) Liquidation von Unternehmen und Landbesitz in Österreich-Ungarn nicht nur die Wirtschaft des Landes, sondern sie führten auch eine anhaltende Belastung des gesellschaftlichen Lebens herbei. Die Repressionspolitik richtete sich nicht nur gegen Feindstaatenangehörige, sondern auch gegen eigene Bürger. Damit unterhöhlte sie letztlich die Legitimität des Vielvölkerstaates, indem sie Misstrauen zwischen den Bürgern und dem Staat säte und den Konflikt zwischen unterschiedlichen kulturellen Identitäten verschärfte. Die zentrifugale Kraft des Nationalismus war unter diesen Umständen stärker als die späte Deeskalationsstrategie und Reformpolitik des Wiener Hofes. Allerdings bleibt noch zu untersuchen, ob, inwieweit und wie der Umgang mit den Minderheiten – vor allem ihre Internierung – zum Zerfall des österreichisch-ungarischen Imperiums beitrug.517 Die Feindbilder wirkten auch in den Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie nach, die gleichfalls starke Minderheiten aufwiesen. In diesen Ländern belastete die Repressionspolitik besonders das Verhältnis zwischen den Nationalitäten. Auch in Österreich selber setzte sich die Kriegsgewalt fort. Hier ging die Revolution in der neuen Republik, die im November 1918 gegründet wurde, nicht aus einem gewaltsamen Putsch hervor. Vielmehr hatten Versorgungsmängel, Streiks und die revolutionäre Unruhe, die aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassene Soldaten verbreiteten, zunächst zur Abdankung des Kaisers geführt. Im November 1918 marschierten Rote Garden durch Wien. Obgleich sich an den Demonstrationen viele Soldaten beteiligten, verliefen sie weitge515 Demgegenüber aber: Garner, Treatment, S. 58. 516 Livio, Treatment, S. 186; Trifunović, Prisoners of War. Zur Gewaltdynamik an der Ostfront: Überegger, Kampfdynamiken, S. 82, 84, 97. 517 Stibbe, Internment of Political Suspects, S. 216 f.; ders., Civilian Internment, S. 110.

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hend friedlich. Erst ab Juni 1919, als ein kommunistischer Aufstandsversuch in Wien scheiterte, verlieh besonders der wachsende Antibolschewismus der rechtsradikalen Propaganda gegen „innere Feinde“ erneut Auftrieb. Die Ende 1918 von der Provisorischen Nationalversammlung eingesetzte Kommission zur Untersuchung militärischer Pflichtverletzungen im Weltkrieg traf vor diesem Hintergrund zusehends auf Widerstand, so dass sie ihre Arbeit schließlich am 25. Februar 1922 einstellte.518 Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in Ungarn, wo Béla Kun (1886– 1938) Anfang 1919 eine Räterepublik etablierte. Sie wurde aber nach 133 Tagen von rumänischen Truppen, die im August 1919 in Budapest einmarschierten, gestürzt. Rumänien errichtete daraufhin ein Lager in Brașov (Kronstadt), in dem bis zu 900 Ungarn interniert wurden. Die Interalliierte Kommission in Budapest – vor allem die Regierung Frankreichs – erzwang schließlich die Auflösung des Camps. Aufgeschreckt durch die Invasion, welche die Verlusterfahrung der Kriegsniederlage vertiefte, übernahm zugleich Admiral Miklós Horthy (1868– 1957) im November 1919 die Macht. Ohne das Parlament zu beseitigen, errichtete er als „Reichsverweser“ (in der Tradition der österreich-ungarischen Monarchie) ein autoritäres Regime, das „innere Feinde“ rücksichtslos verfolgte. Der Terror richtete sich besonders gegen Juden, Sozialisten, Gewerkschafter und Pazifisten. Nach dem Vertrag von Trianon, der Ungarn rund zwei Drittel seines Staatsgebietes nahm, verstärkte das Regime seine Unterdrückung dieser „inneren Feinde“. So wurde schon 1920 ein extrem restriktives Gesetz gegen die Juden erlassen, das ihren Zugang zu Hochschulen und höheren Schulen drastisch einschränkte.519 In der Tschechoslowakei wurden „verdächtige Elemente“ 1919 interniert. Am 18. Mai belief sich die Zahl der Insassen allein im Lager Terezín auf 470 und am Monatsende bereits auf 611. Darunter waren 542 Ungarn, 36 Slowaken und 18 Deutsche. Die Verhaftung dieser Personen und ihre Einweisung in das Camp waren offenbar willkürlich erfolgt, und Proteste richteten sich auch gegen die Lebensbedingungen der Internierten. Obwohl einige Lagerinsassen durchaus Freiheiten genossen und die Mängel im Allgemeinen auf bürokratische Inkompetenz zurückzuführen waren, zeigte sich der sozialdemokratische Justizminister Frantiṧek Soukup (1871–1940) besorgt. Daraufhin wurden bis Ende August mit Ausnahme von acht Personen alle Internierten entlassen. Damit sollten ein 518 Hierzu und zum Folgenden: Gerwarth, Die Besiegten, S. 141–147, 172–183; Segesser, Kriegsverbrechen?, S. 231 f.; Stibbe, Internment of Enemy Aliens, S. 77. 519 Tim Cole, Ebenen der „Kollaboration“. Ungarn 1944, in: Tatjana Tönsmeyer (Hg.), Kooperation und Verbrechen. Formen der „Kollaboration“ im östlichen Europa 1939–1945, Göttingen 2003, S. 55–77, hier: S. 58; Gerwarth, Die Besiegten, S. 141–147, 172–183. Angabe nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 270.

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internationaler Skandal und ein Status- und Einflussverlust des neuen Staates während der Friedenskonferenz von Versailles vermieden werden.520

4.6 Osmanisches Reich Voraussetzungen: das Streben nach staatlicher Souveränität, ethnische Konflikte und die Turkifizierungspolitik des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ Im Osmanischen Reich hatten die Großmächte im 19. Jahrhundert Handelsprivilegien („Kapitulationen“) durchgesetzt, mit denen Frankreich, Russland und Großbritannien dem multiethnischen Imperium eine uneingeschränkte souveräne Staatlichkeit absprachen. Daraus wurde ein Interventionsrecht zugunsten von Christen und des „zivilisatorischen Fortschritts“ abgeleitet. Damit verbunden, war dem Sultan im Berliner Vertrag von 1878 (Artikel 61) auferlegt worden, Reformen in Gebieten durchzuführen, die von Armeniern bewohnt waren. Insgesamt mussten die herrschenden Osmanen, die von den westlichen Eliten als „unzivilisiert“ abgewertet wurden, damit erhebliche völkerrechtliche Benachteiligungen hinnehmen.521 Dagegen protestierte das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (KEF, Terakki Cemiyeti), das mit der von ihr erzwungenen Einführung einer Verfassung im Juli 1908 entscheidenden Einfluss auf die Regierung erlangte. Zwar erkannten die „Jungtürken“ zunächst neben den überwiegend muslimischen Türken auch andere Völker im Osmanischen Reich an. Ab 1911 verhängten sie aber Boykotte gegen Betriebe, die sich in der Hand von Österreichern, Ungarn und Griechen befanden. Dabei knüpfte das KEF an fremdenfeindliche Vorurteile und Verschwörungsvorstellungen an, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatten. Spätestens nach dem Putsch der „Jungtürken“ 1913 prägte die leitende Vorstellung eines ethnisch homogenen Staates die Politik des Osmanischen Reiches. Der türkische Nationalismus war zwar nicht rassistisch grundiert, schloss aber andere Volksgruppen aus, die er als „innere Feinde“ brandmarkte. Er war deshalb als Integrationsideologie im multi-ethnischen Osmanischen Reich nicht geeignet. Die Konstruktion und Verteufelung „innerer Feinde“ schien diesen Mangel ausgleichen zu können. Zugleich war der Rekurs auf „Sicherheit“ eng 520 Angaben nach: Huebner, Internment Camp, S. 201, 203. 521 Hans-Lukas Kieser, Germany and the Armenian Genocide of 1915–17, in: Jonathan C. Friedman (Hg.), The Routledge History of the Holocaust, London 2011, S. 30–44, hier: S. 31; Payk, Frieden durch Recht?, S. 40; Fisch, Civilization, S. 252.

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an den umfassenden Umgestaltungs- und Erneuerungsanspruch der KEF-Führung gekoppelt.522 Die Assimilations- und Homogenisierungspolitik schlug sich in einschneidenden Eingriffen der neuen Machthaber nieder, die darauf zielten, den Anteil der nicht-muslimischen Bevölkerung in den einzelnen Provinzen auf maximal zehn Prozent zu begrenzen. Dazu erhoben die Behörden Daten für Statistiken, und sie fertigten auf der Grundlage von Karten Pläne zur Zwangsumsiedlung und Deportation an. Nicht zuletzt wurde schon vor 1914 das Eigentum verzeichnet, das sich in der Hand der nicht-muslimischen Bewohner des Osmanischen Reiches befand. Ebenso wie im Zarenreich und in Österreich-Ungarn beeinflusste darüber hinaus das Kräftefeld der internationalen Politik den Umgang mit Minderheiten. Russische Politiker schürten im Osmanischen Reich offensiv innere Konflikte, um das multiethnische Imperium zu sprengen. Dazu wiegelten sie außer den Armeniern auch die Kurden auf, obgleich diese Minderheiten im Zarenreich selber verfolgt wurden. Die russische Regierung drohte dem Sultan und den „Jungtürken“ sogar mit einer Intervention zugunsten der Armenier und Kurden, die sie protegierte. Aber auch die Regierungen Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens setzten die Hohe Pforte unter Druck, um ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen in Südosteuropa und Vorderasien durchzusetzen.523 Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich im Osmanischen Reich das Streben des Sultans nach Souveränität in den Beziehungen zu den anderen europäischen Großmächten, die Turkifizierungspolitik und die Ausgrenzung von Minderheiten eng miteinander verwoben. Die Kampagne gegen „innere Feinde“ verstärkte ab 1908 diesen Nexus von Außen- und Innenpolitik. Das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ ging zu einer zunehmend radikalen Turkifizierung über, die sich grundsätzlich gegen alle Minderheiten richtete. Bereits zuvor hatte der Sultan im Osmanischen Reich eine pansunnitische Einigungspolitik begonnen. Sie bedrohte besonders Griechen, Kurden und die 1,5 bis zwei Millionen Armenier, die im späten 19. Jahrhundert zwar nur einen geringen Anteil der 35 Millionen Bewohner des Osmanischen Reiches stellten, aber konzentriert in 522 Vgl. Gerard J. Libaridian, The Ultimate Repression: The Genocide of the Armenias, 1915– 1917, in: Isidor Wallimann / Michael N. Dobkowski / Richard L. Rubenstein (Hg.), Genocide and the Modern Age. Etiology and Case Studies of Mass Death, New York 1987, S. 203–235, hier: S. 203, 207 f., 218; Raymond Kévorkian, Les Arméniens dans l’Empire Ottoman. À la veille du génocide, Paris 1992, S. 21; Jones, Captivities, S. 182. 523 Hans Lukas Kieser / Mehmet Polatel / Thomas Schmutz, Reform of Cataclysm? The Agreement of 8 February 1914 Regarding the Ottoman Eastern Provinces, in: Journal of Genocide Research 17 (2015), S. 285–304, hier: S. 286; Akçam, Young Turks, S. 259–261, 263 f., 269, 273; Reynolds, Empires, S. 63, 70–75.

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Anatolien lebten. Zudem waren sie durch die Aktivitäten der revolutionären Daschnakzutjun-Partei deutlich sichtbar, auch wenn diese nur eine Minderheit der Armenier gewann. Ethnische Konflikte, konkurrierende Gebietsansprüche und religiöse Gegensätze zwischen muslimischen Türken und christlichen Armeniern lösten schon in dieser Phase Massaker aus, nachdem Sultan Abdülhamid II. (1842–1918), den die gewalttätigen Ausschreitungen erheblich in Bedrängnis brachten, die im Berliner Vertrag zugesagten Reformen zugunsten der Armenier begonnen hatte. Von 1894 bis 1896 fielen den mörderischen Übergriffen nach Schätzungen 200.000 Armenier zum Opfer. Allein 1895 wurden im Diyarbakır (Ostanatolien) 100.000 Einwohner getötet und 2.500 Dörfer zerstört. 546.000 Menschen blieben mittellos zurück. Als im April 1909 ein Aufstand islamischgeistlicher Gruppen gegen das KEF begann und deren Kontrolle vorübergehend zusammenbrach, wurden in der Provinz Adana nicht nur Anhänger der „Jungtürken“ angegriffen, sondern auch armenische und assyrische Christen ermordet. Die Erhebung wurde niedergeschlagen, und der Sultan, der als unfähig galt, von den „Jungtürken“ entmachtet. Die Zahl der Opfer ist mit rund 20.000 bis 30.000 veranschlagt worden. Die Beziehungen zwischen dem herrschenden KEF und den Armeniern, denen die Regierung die Verantwortung für die Aufstände zuwies, verschlechterten sich daraufhin deutlich. Aus der Sicht der politischen Führung in Konstantinopel gefährdete die Minderheit nicht nur die politische Integrität des Osmanischen Reiches, sondern auch seine autoritäre Ordnung. Andererseits sahen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch die Armenier ihre Sicherheit akut bedroht. Sie und die Regierung waren mit der Herausforderung konfrontiert, Sekurität und Stabilität herzustellen, ohne weitere Massaker auszulösen. Die Vertreter der Minorität teilten mit den „Jungtürken“ aber auch das Ziel, die Herrschaft des Sultans zu beseitigen.524 Ab 1909 nahmen außer den inneren Spannungen auch die außenpolitischen Bedrohungen zu, besonders auf dem Balkan. 1910 verstärkte ein Aufstand in Albanien, woher einige führende „Jungtürken“ stammten, deren Unsicherheitswahrnehmung. Damit wuchs die Angst vor „inneren Feinden“, die unter den Minderheiten vermutet wurden. Zugleich gaben die führenden Politiker des KEF ihre Reformprojekte auf, die nach den Wahlen zum Parlament 1909 besonders bei den Armeniern Hoffnungen auf politische Gleichstellung, wirtschaftli524 Erik-Jan Zürcher, Turkey. A Modern History, London 1993, S. 100–104. Angaben nach: Khatchig Mouradian, Internment and Destruction. Concentration Camps During the Armenian Genocide, in: Manz / Panayi / Stibbe (Hg.), Internment, S. 145–180, hier: S. 148; David Gaunt, Failed Identity and the Assyrian Genocide, in: Bartov / Weitz (Hg.), Shatterzone, S. 320 f. Vgl. auch Klaus Kreiser, Atatürk. Eine Biographie, München 22014, S. 33, 58; Kévorkian, Arméniens, S. 11, 13–15, 19, 29, 31, 34; Kieser / Polatel / Schmutz, Reform or Cataclysm?, S. 288; Kieser, Germany, S. 31; Libaridian, Repression, S. 204, 217.

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che Entwicklung und eine Umverteilung des Bodens geweckt hatten. Diese Entwicklung stärkte die militanten Armenier, welche die Eskalationsdynamik des Konflikts unterschätzten und damit auch die Gefahr eines gezielten Völkermords durch die Regierung nicht in Rechnung stellten.525 Zur Unterdrückung der Minoritäten trug 1912 auch der erste Balkankrieg bei, in dem das besiegte Osmanische Reich 80 Prozent seines Territoriums in Europa und mit 4,2 Millionen Einwohnern rund 16 Prozent seiner Bevölkerung verlor. Zudem waren schon zu Beginn des Krieges viele bulgarische und griechische Soldaten desertiert. 1912/13 flohen eine halbe Million Muslime nach Südosten, und bis 1914 suchten 413.000 Muslime aus Südosteuropa im Osmanischen Reich Zuflucht. Anatolien wurde zum Kernland eines türkischen Nationalbewusstseins, das imperiale Identitäten zunehmend überlagerte, aber keineswegs einfach ersetzte. Zugleich steigerten die „Jungtürken“ infolge ihres Staatsstreiches vom 23. Januar 1913 ihre Macht, während der Sultan weiter zurückgedrängt wurde. Damat Enver Pascha (1881–1922) als Kriegsminister, Mehmet Talât Pascha als Innenminister und Ahmet Cemal Pascha (1872–1922) als Marineminister nahmen in dem Regime des KEF die entscheidenden Schlüsselpositionen ein. Sie verzögerten gezielt die im Juni 1913 begonnenen Verhandlungen zwischen den europäischen Großmächten über einen russischen Vermittlungsvorschlag, der auf die Einrichtung einer autonomen Region für alle Armenier zielte.526 Die ausgeprägte Selbstviktimisierung der Führung, welche die Türkei als Opfer der europäischen Großmächte betrachtete, verband sich mit der zunehmend scharfen Abgrenzung von Russland, dessen Regierung im frühen 20. Jahrhundert zusehends als Fürsprecher der apostolisch-orthodoxen Armenier gegen die Muslime auftrat. Das Zarenreich stellte dabei die Religion für seine Politik in Dienst und propagierte einen aggressiven Panslavismus. Die Jungtürken misstrauten aber auch den westlichen Großmächten, die das Kalifat zusammen mit Russland seit der Berliner Konferenz und dem Vertrag von San Stefano (1878) drängten, Minderheitenrechte zu gewähren und die rechtliche Gleichheit von 525 Zürcher, Turkey, S. 109; Libaridian, Repression, S. 210–214, 219; Kévorkian, Arméniens, S. 21. 526 Hew Strachan, Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte, München 2006, S. 134–136; Thomas Schmutz, Reacting to Violence. The Diplomatic Context of the Armenian Question and the Armenian Genocide (1913–1917), in: Australian Journal of Politics and History 62 (2016), S. 501–513, hier: S. 502–507; Zürcher, History, S. 113–115; Kreiser, Atatürk, S. 71 f. Ausführlich: Stefan Ihrig, Justifying Genocide: Germany and the Armenians from Bismarck to Hitler, Cambridge/Mass. 2016. Angaben nach: Erik-Jan Zürcher, Demographic Engineering, State-Building and the Army. The Ottoman Empire and the First World War, in: Leonhard / von Hirschhausen (Hg.), Comparing Empires, S. 530–544, hier: S. 535; Ther, Seite, S. 74; Marrus, The Unwanted, S. 75; Kershaw, Höllensturz, S. 80; Kershaw, War, S. 111; Piskorski, Die Verjagten, S. 36.

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Muslimen und Christen herzustellen. Demgegenüber bestanden die führenden Politiker des KEF auf uneingeschränkter Souveränität. Dazu versuchten sie, die europäischen Großmächte gegeneinander auszuspielen. Zugleich war das Osmanisch Reich jedoch zu ökonomischen Konzessionen an die Geldgeber gezwungen, die berechtigt waren, ein Drittel der Steuereinnahmen des Staates zu beschlagnahmen. Auch enttäuscht von der schwachen Resonanz, die ihre liberale Wirtschaftspolitik unter westlichen Investoren gefunden hatte, gingen die neuen Machthaber 1913 zu einem nationalistischen Kurs über, der Unternehmen, Boden und Kapital in das Eigentum von Türken überführen sollte.527 Schon Anfang 1914 häuften sich auch Übergriffe gegen die überwiegend christlichen Armenier. Sie wurden in den einzelnen Gemeinden daran gehindert, ihre Waren zu den jeweiligen Märkten zu bringen. Die Unterdrückung der Minderheit ging vom KEF aus, das damit zugleich die Mobilisierung der Türken vorantrieb. So wirkten verschiedene gesellschaftliche Schichten und Gruppen wie Kaufleute, Hafenarbeiter, städtische Eliten, untergeordnete Offiziere, Bauern und Angehörige der Professionen in vielen Gemeinden unmittelbar an Ausschreitungen gegenüber den Armeniern mit. 1914 radikalisierte das KEF die Turkifizierungspolitik im Innern und den Panturkismus nach außen. Damit zielte die jungtürkische Regierung vorrangig gegen die Armenier bzw. die Völker im Kaukasus, deren Autonomiestreben unterdrückt werden sollte. Dieser Politik ethnischer Zwangshomogenisierung lag das politische Ziel zu Grunde, das Osmanische Reich durch die Bildung einer einheitlichen Nation zu stärken. Zugleich wurde sie von einer obsessiven Fixierung der „Jungtürken“ auf Spionage und politische Subversion vorangetrieben. Dabei definierten sie besonders die Armenier als Feinde, und sie stellen Neid, Gier und Raublust in den Dienst ihrer fremdenfeindlichen Unterdrückungspolitik. Die Kombination von politischer Radikalisierung „von oben“ und populistischer Mobilisierung „von unten“ zeigte sich schon 1913/14 in den Angriffen auf griechische Christen.528 Zwar waren noch Anfang 1914 der Kriegseintritt des Osmanischen Reiches und das Massaker an den Armeniern und Assyrern keineswegs unausweichlich. Vielmehr einigte sich die Führung des KEF am 8. Februar mit dem russischen Geschäftsträger Konstantin Gulkevich (1865–1935) auf Reformen. Sie sahen eine Zurückgabe des beschlagnahmten Landes an die Minderheiten unter internationaler Aufsicht vor. Jedoch widersetzten sich lokale Eliten dieser Restitution, die 527 Kieser / Polatel / Schmutz, Reform or Caraclysm?, S. 296. 528 Uğor Ümit Üngör / Mehmet Polatel, Confiscation and Destruction. The Young Turk Seizure of Armenian Property, London 2011, S. 64 f.; Donald Bloxham / Fatma Müge Göçek, The Armenian Genocide, in: Dan Stone (Hg.), The Historiography of Genocide, Basingstoke 2008, S. 344– 372, hier: S. 363–366; Strachan, Der Erste Weltkrieg, S. 139–142; Panayi, Minorities, S. 225; Mann, Dark Side, S. 165; Rieber, Struggle, S. 536.

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vor allem kurdischen Honoratioren die Grundlage ihrer Macht zu entziehen drohte. Ein Aufstand in Bitlis (im Südosten der Türkei) verstärkte im März 1914 diese Sorgen. Auch hatten die führenden Politiker der „Jungtürken“ der Übereinkunft vom 8. Februar 1914 nur halbherzig zugestimmt, weil sie die Souveränität des Osmanischen Reiches einschränkte und gegenüber den Minderheiten einen – aus der Sicht der Machthaber – unkalkulierbaren Präzedenzfall zu schaffen drohte. Nicht zuletzt gab die deutsche Reichsleitung, welche die Avancen des KEF gegenüber den Armeniern – und damit auch dem russischen Zarenreich – misstrauisch beobachtete, ihre Forderung nach inneren Reformen auf, um die Jungtürken auf ihre Seite zu ziehen und in einem Krieg als Bundesgenossen zu gewinnen. Die Reformpolitik wurde deshalb verzögert – eine Entwicklung, die wiederum die Armenier in den östlichen Provinzen entfremdete. Zugleich verstärkte die Krise, die im Juli 1914 offen ausbrach, die Bemühungen der KEF-Führung um eine Allianz mit Deutschland, das dem Osmanischen Reich zusammen mit Österreich-Ungarn im November 1910 einen Kredit in Höhe von elf Milliarden Gold-Pfund gewährt hatte.529

Kriegseintritt und die Verfolgung ethnischer Minderheiten als „innere Feinde“ Nachdem am 2. August 1914 ein Kooperationsabkommen zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich abgeschlossen worden war, kündigte die Regierung am 9. September an, die „Kapitulationen“ (Privilegien für Ausländer) aufzuheben, ohne damit aber eine klare Politik gegenüber Briten und Franzosen festzulegen. Vermittler wie der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau und der Gesandte des Vatikans, Kardinal Angelo Maria Dolci (1867–1939), konnten deshalb Erleichterungen für ausländische Staatsangehörige erwirken. Auch die Politik gegenüber dem russischen Zarenreich blieb noch im Spätsommer unentschieden. Jedoch lehnte Sasanow die Forderung der „Jungtürken“ ab, die territoriale Integrität des Osmanischen Reiches zu garantieren und auf eine Unterstützung der armenischen Nationalisten in Anatolien zu verzichten. Zugleich wuchsen in Konstantinopel die Sorgen um die Sicherheit an der Grenze im Kaukasus, zumal Vertreter der Armenier dem Druck der Jungtürken, Aufstände an der Südgrenze Russlands anzuzetteln, nicht nachgaben und zumindest einzelne Gruppen dieser Minderheit offen auf einen Sieg des Zarenreiches hofften. Das Bündnis mit Deutschland enthob die FEF-Führung nicht nur des Druckes anderer Mächte auf innere Reformen, sondern bot auch die Gelegenheit, offensiv ge529 Kieser / Polatel / Schmutz, Reform or Cataclysm?, S. 285 f., 292 f., 296–300; Kévorkian, Arméniens, S. 39; Kieser, Germany, S. 32. Angabe nach: Kreiser, Atatürk, S. 64.

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gen „innere Feinde“ vorzugehen, die als Anhänger der äußeren Gegner – Frankreich, Großbritannien und Russland – galten.530 Am 25. Oktober beschloss die Regierung schließlich den Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns, da das KEF nach den Balkankriegen eine erneute außenpolitische Isolation des Landes unbedingt zu vermeiden suchte und die deutsche Reichsleitung die „Jungtürken“ als gleichberechtigte Bündnispartner zu akzeptieren schien. Jedoch war in Konstantinopel nicht erkannt worden, dass der Angriff auf Frankreich in der Kriegsplanung des Deutschen Reiches vorrangig war. Am 29. Oktober befahl Enver Pascha dennoch einen Artillerieüberfall auf russische Städte an der Schwarzmeerküste. Mit der Unterstützung der „Mittelmächte“, deren Sieg das KEF für sicher hielt, sollte der machtpolitische Abstieg des Osmanischen Reiches aufgehalten werden. Dazu war als erster Schritt geplant, die verhassten „Kapitulationen“ zu beseitigen, welche die Regierungen Russlands, Frankreichs und Großbritanniens erzwungen hatten, um gegenüber dem Sultan ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Nach dem Angriff auf Russland erklärten das Zarenreich, Frankreich und Belgien dem Osmanischen Reich bis zum 11. November den Krieg.531 Anschließend beschuldigte die „jungtürkische“ Führung um Enver Pascha und Talât Pascha Minderheiten, die Kriegführung der Entente-Mächte zu unterstützen. Dabei verwiesen die Machthaber auf die Sicherheit des multiethnischen Imperiums, dessen Fortbestand nach den schweren Niederlagen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gefährdet schien. So bezeichnete Innenminister Talât Pascha die Armenier in einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter Hans von Wangenheim (1859–1915) ausdrücklich als „innere Feinde“. Nach dem Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg erhöhte die verstärkte Mobilisierung armenischer Gruppen und Verbände in Anatolien aus der Sicht der Regierung die Gefahr einer Destabilisierung noch weiter. Die Minorität galt offiziell nun endgültig als „fünfte Kolonne“ Russlands. Innenminister Talât Pascha entließ deshalb Ende 1914 armenische Polizisten. Angesichts der auch ansonsten wachsenden Unterdrückung flohen schon bis Ende 1914 rund 100.000 Armenier in das Zarenreich.532 530 Hierzu und zum Folgenden: Ronald Grigor Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“. A History of the Armenian Genocide, Princeton 2015, S. 214–218, 237–240; Zürcher, Engineering, S. 537; Libaridian, Repression, S. 223. Zum Kontext und zur Historiographie: Oliver Schulz, „Ungeordnete Verhältnisse“ und entgrenzter Krieg. Das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg, in: Bauerkämper / Julien (Hg.), Durchhalten!, S. 260–270; Zürcher, Turkey, S. 116 f., 120. 531 Zürcher, Turkey, S. 117–119. 532 Gatrell, Refugees, S. 87; Kieser, Germany, S. 36.

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Nachdem Spione Anfang 1915 von britischen Schiffen an der syrischen Küste gelandet und dort verhaftet worden waren, befahl Enver Pascha am 27. Februar darüber hinaus, armenische Soldaten aus der Armee zu entfernen und sie in Arbeitsbataillone einzuweisen. Darüber hinaus ließen die Militärbehörden des Osmanischen Reiches gelegentlich armenische Soldaten sogar ermorden. Ende März begann auch die Deportation einzelner Gruppen von Armeniern, die vor allem aus frontnahen Gebieten verschleppt wurden. Auch diese Maßnahme sollte offiziell die Sicherheit des Reiches im Krieg aufrechterhalten. Daran wirkten auch paramilitärische Verbände mit, die das Zentralkomitee des KEF schon vor dem Ersten Weltkrieg gegründet hatte. Diese geheime „Sonderorganisation“ (oder „Spezialorganisation“, Teşkilat-ɩ Mahsusa), die 30.000 bis 34.000 Männer rekrutiert hatte und eng an die Regierung gebunden war, sollte die innere und äußere Sicherheit des Staates gewährleisten. Von Enver Pascha in Istanbul gegründet, wurden Komitees sogar im Ausland konstituiert, beispielsweise in Makedonien und Bulgarien. Die zunächst verdeckten Operationen erleichterten die weitreichenden Befugnisse, die das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ mit dem Ausnahmezustand nach dem Kriegsbeginn erhalten hatte. Damit konnte die politische Elite nicht nur das Parlament ausschalten, sondern auch die Regierung weitgehend entmachten.533 Im Osmanischen Reich wurden im Ersten Weltkrieg zwar auch andere Minderheiten wie die Griechen, Albaner, Georgier, Bosnier und Tscherkessen verfolgt. Wie dargelegt, hatten diese Repressionen ebenfalls schon vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt. Dabei war den Griechen, die im Osmanischen Reich lebten, unterstellt worden, dass sie ihr Heimatland und Großbritannien unterstützten. Im Ersten Weltkrieg zeigte sich besonders Talât Pascha überzeugt, dass sich die „Jungtürken“ nicht auf die Loyalität der griechischen Minderheit verlassen konnten. Er ließ bis 1918 deshalb 93.000 von ihnen deportieren. 164.000 weitere flohen unter dem zunehmenden Druck nach Griechenland. Noch weit-

533 Vahhakn Dadrian, The Role of the Special Organisation in the Armenian Genocide during the First World War, in: Panayi (Hg.), Minorities, S. 50–82, hier: S. 60 f.; Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, S. 219, 221 f., 224, 229–231; Libaridian, Repression, S. 205; Kreiser, Atatürk, S. 75 f., 97 f.; Kévorkian, Arméniens, S. 42; Swatek-Evenstein, History, S. 155. Dazu auch: Donald Bloxham, The Great Game of Genocide. Imperialism, Nationalism, and the Destruction of the Ottoman Armenians, Oxford 2005, S. 70; Hull, Destruction, S. 266; Üngör / Polatel, Confiscation, S. 64; Bloxham / Göçek, Armenian Genocide, S. 357; Kieser, Germany, S. 33 f.; Levene, „The Enemy Within“?, S. 157 f.; Sandorn, Imperial Apocalypse, S. 88; Caglioti, Subjects, S. 503 f. Umfassend: Vahhakn Dadrian, The History of the Armenian Genocide. Ethnic Conflict from the Balkans to Anatolia to the Causasus, Providence 1995; Mann, Dark Side, S. 145 f., 158, 164.

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aus intensiver waren die Sicherheitsängste aber gegenüber den Armeniern, von denen bis Januar 1915 schon fast 50.000 nach Russland geflohen waren.534

Der Völkermord an den Armeniern: Ursachen und Verlauf Wie dargelegt, vollzogen sich die Repression und Ermordung der Armenier im Kontext einer zunehmenden Nationalisierung, mit der im Osmanischen Reich ethnische Minderheiten zugunsten der Türken verdrängt wurden. Prominente Intellektuelle wie der Soziologe Mehmed Ziyâ Gökalp (1876–1924), der Schriftsteller Ömer Seyfettin (1884–1920) und der Historiker Yusuf Akçura (1876–1935) unterstützten die Turkifizierungspolitik, die auch Juden und die griechische Minorität stigmatisierte. Ihnen wurde Bereicherung auf Kosten der Türken vorgeworfen. Darüber hinaus gehend, bot der totale Krieg dem KEF einen Vorwand zur „ethnischen Säuberung“, die Zwangsdeportationen und Massenmord umfasste. Besonders die militärischen Rückschläge, welche die Regierung im Dezember 1914 und Januar 1915 an der Kaukasusfront hinnehmen musste, steigerten die Sicherheitsängste der Machthaber in Konstantinopel. In der Schlacht bei Sarıkamış wurden allein 45.000 Soldaten des Osmanischen Reiches getötet. Weitere starben beim Rückzug an Erschöpfung und Erfrierungen, so dass von rund 90.000 Soldaten nur ca. 12.000 überlebten. Hinzu kam im März 1915 die Weigerung von Armeniern in Zeytun, weiter für das Osmanische Reich zu kämpfen, und Mitte April 1915 ein Aufstand in der Provinz Van. Hier hatten Armenier russischer Herkunft mit Unterstützung des Zarenreiches schon vor 1914 die politische Vorherrschaft errungen und damit türkische Verschwörungsvorstellungen genährt, welche die Minderheit als „fünfte Kolonne“ Russlands stigmatisierten. Mitte Mai 1915 musste die osmanische Armee die Stadt aufgeben. Erst vor Bitlis, Muş und Sasun konnte der Vorstoß der russischen Truppen aufgehalten werden. Nicht zuletzt löste die Landung britischer, französischer, australischer und neuseeländischer Truppen bei Gallipoli in unmittelbarer Nähe Konstantinopels am 25. April 1915 in der jungtürkischen Elite Sicherheitsängste aus, die maßgeblich zum Völkermord an den Armeniern beitrugen.535 534 Angaben nach: Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, S. 213, 236. Vgl. auch Zürcher, Engineering, S. 539; ders., Turkey, S. 114; Bloxham, Game, S. 69, 98; Mann, Dark Side, S. 140; Schulz, „Ungeordnete Verhältnisse“, S. 271–279. 535 Hierzu und zum Folgenden: Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, S. 213, 222, 240, 242 (Angabe), 252–263, 280, 303, 308, 321; Bloxham, Game, S. 82; Zürcher, Turkey, S. 119; Kieser, Germany, S. 35. Vgl. auch Winter, Cover, S. 206–208; Reynolds, Empires, S. 53; Gatrell / Nivet, Refugees, S. 202; Levene, „The Enemy Within“?, S. 151; Kreiser, Atatürk, S. 98; Marrus, The Unwanted, S. 76; Kershaw, Höllensturz, S. 80 f.; Borodziej / Górny, Weltkrieg,

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Wie erläutert, ist er aber auch auf langfristig angelegte Konflikte im Osmanischen Reich zurückzuführen. So wurden in Konstantinopel bereits am 24. April 1915 235 einflussreiche Vertreter der Armenier verhaftet. Diese Arreste und den Umsiedlungsbeschluss vom 20. Mai rechtfertigten die Machthaber in Konstantinopel angesichts des scheinbar drohenden russischen Angriffs als Not- und Sicherheitsmaßnahme gegenüber „inneren Feinden“. Anschließend erfolgte die Zwangsverschleppung von Angehörigen der Minderheit in Lager in der syrischen Wüste östlich von Aleppo. Viele armenische Männer in Ostanatolien erschoss die „Sonderorganisation“ auch schon in ihren Wohnorten. Im letzten Stadium des Völkermords verhungerten die Insassen der Camps aufgrund bewusster und gezielter Vernachlässigung. Darüber hinaus starben bis Herbst 1915 weitere Armenier während erzwungener Märsche in die Wüste. Überlebende wurden exekutiert. Die Zahl der Ermordeten ist mit rund 220.000 veranschlagt worden. Der Genozid ging damit aus einer kumulativen Radikalisierung hervor, und er umfasste schließlich Deportationen und Zwangsverschleppungen ebenso wie die direkte Ermordung von Armeniern. Sicherheitsängste gegenüber „inneren Feinden“ und „Verrätern“ verschmolzen mit dem Ziel, den Krieg zur Turkifizierung des Osmanischen Reiches zu nutzen, schließlich zum Völkermord.536 Militärisch unter Druck, wuchsen die Verschwörungsängste der „Jungtürken“, die angesichts der angeblich subversiven Aktivitäten „innerer Feinde“ um die Sicherheit des Reiches fürchteten. Der Verlust der Stadt Van und die vorangegangene katastrophale Niederlage bei Sarıkamış führte die Regierung vorrangig auf die Illoyalität der Armenier zurück, von denen aber nur 5.000 bis 6.000 im Kaukasus für die russische Armee kämpften. Ebenso selten blieben in der Minderheit offene Stellungnahmen zugunsten des Zarenreiches. Dennoch verbreitete sich in der KEF-Führung die Furcht vor einer weiteren russischen Offensive, die aus der Sicht der Jungtürken die Existenz des Osmanischen Reiches bedrohen könnte. So wurde die armenische Minderheit im Osmanischen Reich unablässig der Sabotage und Spionage bezichtigt, für die allerdings kaum Beweise gefunden werden konnten. Offenkundiger und umfassender war die Desertion armenischer Soldaten des osmanischen Heeres, dessen Führung deshalb im Frühjahr 1915 auf drakonische Maßnahmen gegen die christliche Minorität drängte. Der Krieg schien eine Chance zu bieten, die Sicherheitsgefahr an der Nordostgrenze des Landes zu bannen und die „inneren Feinde“ endgültig zu beseitigen. In den Besprechungen im Zentralkomitee des KEF verlangte auS. 206 f. Zur Operation gegen Gallipoli der Überblick in: Strachan, Der Erste Weltkrieg, S. 146– 156; Berghahn, Der Erste Weltkrieg, S. 43. 536 Bloxham, Game, S. 69, 71, 79. Angabe nach: Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 110.

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ßer Spitzenmilitärs auch der Befehlshaber der „Sonderorganisation“, Bahaettin Şakir (1874–1922), Mitte März, den von ihm verteufelten „inneren Feind“ auszulöschen. Dabei verwies er besonders auf vermeintlich subversive Aktivitäten armenischer Banden im Osten Anatoliens. Unter dem Eindruck der zunehmenden Agitation gegen die Minderheit drängten führende Vertreter armenischer Verbände ihre Mitglieder zu Besonnenheit und Ruhe, um Übergriffe der Regierung und Gewalt von Türken zu verhindern.537 Die Forderung des Regimes nach dauerhafter Sicherheit trug schließlich entscheidend zum Völkermord bei. Sie war zwar weitestgehend ein Vorwand, beruhte aber auf genuinen Ängsten, die im Kontext des Ersten Weltkrieges handlungsmächtig waren. Auf der Grundlage eines Dekretes, das die Regierung am 23. Mai 1915 verabschiedet hatte, wies Talât Pascha das Oberkommando der Armee am darauffolgenden Tag an, radikale Maßnahmen gegen die Armenier zu ergreifen. Am 27. Mai wurde auch ein Deportationsgesetz erlassen, das der Innenminister ebenso wie seinen vorangegangenen Befehl ausdrücklich mit dem Hinweis auf die Sicherheit des Staates als „militärische Notwendigkeit“ rechtfertigte. An dem Genozid wirkte die „Sonderorganisation“, für die auch verurteilte Kriminelle rekrutiert wurden, führend mit. Angestachelt von der Regierungspropaganda für einen Jihad, zielte die Gewalt der Offiziere und Mannschaften auf eine Bekehrung der „ungläubigen“ Christen. Jedoch war religiöser Eifer zumindest bei den Angehörigen des Milizverbandes untrennbar mit konkreten materiellen Interessen wie Raub verbunden. Auch trugen Vernachlässigung und Indifferenz auf Seiten der Wachsoldaten zu der hohen Todesquote bei.538 Mit dem Übergang zur Deportation und zum systematischen Völkermord sollte auch die Existenzberechtigung der Milizverbände bewiesen werden, deren Ressourcen von der Armeeführung beansprucht wurden. In dieser Konkurrenz suchte sich die „Sonderorganisation“ zu behaupten. Wenn die Milizen auf Widerstand trafen, radikalisierten sie ihren Kampf gegen die „inneren Feinde“ 537 Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, S. 221–224. Vgl. auch Zürcher, Engineering, S. 538; Bloxham, Game, S. 75, 78, 84; Winter, Cover, S. 210. Ähnlich: Dadrian, Role, S. 52 f; Bloxham / Göçek, Armenian Genocide, S. 354 f., 359, 366; Mann, Dark Side, S. 143; Sandorn, Imperial Apocalypse, S. 89; Levene, „The Enemy Within“?, S. 151; Panayi, Minorities, S. 225; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 206. 538 Levene, „The Enemy Within“?, S. 158 f.; Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, S. 270–286; Bloxham, Game, S. 85; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 100 f. Die Militärführung des Osmanischen Reiches vernachlässigte auch die Versorgung der eigenen Truppen, so dass die Zahl der Soldaten, die während des Ersten Weltkrieges an Krankheiten starben, diejenige der Toten, die direkt Kämpfen zum Opfer fielen, um das Siebenfache übertraf. Vgl. Charles Townshend, When God made Hell. The British Invasion of Mesopotamia and the Creation of Iraq 1914–1921, London 2010, S. 323.

4.6 Osmanisches Reich 

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noch weiter. Wahllos folterten, vergewaltigten und ermordeten sie wehrlose Zivilisten. Die Armenier, die nicht Massakern an ihren Wohnorten zum Opfer fielen, starben auf den langen „Todesmärschen“ durch Wüstengebiete. Weitere Opfer forderte die Haft in Konzentrationslagern, die vor allem in der syrischen Wüste oft hastig errichtet wurden, so bei Aleppo, Tel-Abiad, Ras al Ayn und Katma. Viele Deportierte landeten schließlich im Camp Der el Zor, das mit einer besonders hohen Zahl von Toten zum Symbol des Genozids geworden ist. Außer fünf Durchgangslagern wurden 25 Konzentrationslager eingerichtet – überwiegend am Euphrat –, in denen die Insassen überwiegend dem Hungertod überlassen wurden. In den Lagern starben etwa 630.000 Menschen. Obgleich der Massenmord in den Deportationsbefehlen nicht explizit angeordnet worden war, hatte das KEF an seinem Ziel, die Armenier zu töten, keinen Zweifel gelassen. Das „Komitee“ koordinierte den Genozid, der unterschiedslos gegen eine gesamte ethnische Gruppe der Armenier gerichtet war. Überdies befahl Innenminister Talât Pascha am 14. Juni 1915, bei den erzwungenen Märschen Opfer, die sich den Deportationen widersetzten oder zu fliehen versuchten, sofort zu töten. Drei Tage später betonte Talât, dass der Krieg zur Abrechnung mit den Armeniern als „inneren Feinden“ genutzt werden sollte, da diplomatische Interventionen anderer Mächte nicht zu befürchten waren.539 Unter den verantwortlichen Politikern – so Bahaettin Şakir – und Gouverneuren (Abdülhalik Bey in Bitlis und Mehmet Reşit in Diyarbakır) waren viele Flüchtlinge aus den Gebieten, die das Osmanische Reich im ersten Balkankrieg verloren hatte. Der Völkermord an den Armeniern spiegelte aber nicht nur die inneren Spannungen und Konflikte im multiethnischen Imperium der Osmanen wider, sondern zeigte vor allem die mörderische Konsequenz einer Politik, die gezielt „innere Feinde“ konstruierte und im Namen der Sicherheit des Staates fundamentale Menschenrechte systematisch ignorierte. Die extreme Gewalt, vor allem der „Sonderorganisation“, mündete in diesem Kontext in den Genozid. Anschließend wurden Armenier gezielt aus Anatolien, Kilikien und Thrazien umgesiedelt. Zudem fielen Massakern allein von Ende Juli bis Dezember 1916 fast 193.000 Menschen zum Opfer.540

539 Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, S. 286–295, 309–318; Bloxham, Game, S. 82, 90, 93; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 104, 110 (Angabe); Stibbe, Civilian Internment, S. 112; Kreiser, Atatürk, S. 99; Strachan, Der Erste Weltkrieg, S. 143–146. 540 Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 109. Vgl. auch Taner Akçam, The Young Turks’ Crime against Humanity: The Armenian Genocide and Ethnic Cleansing in the Ottoman Empire, Princeton 2012; Rolf Hosfeld, Tod in der Wüste. Völkermord an den Armeniern, München 2015; Jürgen Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Berlin 2015; Janz, 14, S. 123; Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere

460  4 Sicherheit und „innere Feinde“

Der Völkermord an den Armeniern: gesellschaftliche Mobilisierung gegen „innere Feinde“ und Widerstand Die Deportationen, die vom Innen- und Kriegsministerium gezielt betrieben und geleitet wurden, lösten in den jeweiligen Gemeinden eine Massenmobilisierung aus, bei der vielerorts hinterlassener Besitz spontan zerstört, beschlagnahmt und geraubt wurde. Staatliche Behörden und Polizeikräfte nahmen die pogromartigen Unruhen hin oder förderten sie sogar noch. So bemühte sich das Innenministerium, die Plünderungen mit der eigens gebildeten „Kommission für aufgegebenes Eigentum“ zu regeln und zu kontrollieren. Am 9. Juni 1915 ordnete das Ministerium schließlich an, den Besitz von Armeniern zu versteigern. Er wurde daraufhin von Muslimen übernommen. Offenbar erwarteten weder die Regierung noch die Bevölkerung eine Rückkehr der Beraubten, die im August auch aus Van flohen, nachdem die osmanische Armee die Stadt zurückerobert hatte.541 Führende Minister wie Talât Pascha betrachteten aber nicht nur die Armenier, sondern auch die 608.000 assyrischen Christen als Sicherheitsrisiko, obgleich sie verstreut lebten und es sich um eine heterogene Gruppe handelte. Das KEF unterstellte den Chaldäern, Nestorianern und Syrisch-Orthodoxen, deren Wohngebiete in Ostanatolien lagen, enge Kontakte zu Frankreich, Großbritannien und Russland. Der Innenminister hatte deshalb schon unmittelbar nach dem Kriegseintritt im Oktober 1914 befohlen, Assyrer aus den Grenzregionen nach Zentralanatolien zu deportieren. Hinzu kamen Bemühungen der Regierung, nomadische Völker im Osten des Reiches anzusiedeln. Dazu sollten sie das Land der assyrischen Christen erhalten, von denen im Januar 1915 bereits mehr als 8.000 nach Russland geflohen waren. Das Regime des KEF setzte im Frühjahr 1915 deshalb lokale Honoratioren und Beamte, die sich der Zwangsdeportation und dem Raub widersetzten, unverzüglich ab. Auch beim Völkermord an den Assyrern griffen Anordnungen der Herrschaftszentrale in Konstantinopel und eine weitreichende Selbstermächtigung in Gemeinden ineinander. Diese lokalen Mobilisierungsprozesse und die zentrale Politik der demographischsozialen Umschichtung lösten in Ostanatolien 1916 erneut eine destruktive Dynamik aus, der rund die Hälfte der assyrischen Christen zum Opfer fiel. In der Stadt Diyarbakır wurden sogar zwei Drittel der Minderheit ermordet. Auch hier

Else“, S. 219, 245, 274, 279; Zürcher, Engineering, S. 539 f.; Kieser / Bloxham, Genocide, S. 392; Hull, Destruction, S. 263; Akçam, Young Turks, S. 270; Kershaw, Höllensturz, S. 81, 561. 541 Üngör / Polatel, Confication, S. 65–69, 80, 87; Bloxham / Göçek, Armenian Genocide, S. 355 f., 361; Dadrian, Role, S. 58, 62 f., 66–68, 78; Bloxham, Game, S. 89 f., Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 208; Mann, Dark Side, S. 145.

4.6 Osmanisches Reich 

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bot der Krieg die Gelegenheit für eine Abrechnung mit „inneren Feinden“, die schon vor 1914 vermeintlich die Sicherheit, Souveränität und Integrität des zunehmend labilen Osmanischen Reiches gefährdet hatten. Die prekäre militärische Lage 1915/16 führte zu einer weiteren Radikalisierung der Gewalt.542 So eroberte die russische Armee im Februar und März 1916 mit Erzurum, Bitlis und Muş wichtige Städte im kurdisch-armenischen Siedlungsgebiet. Heeresführer wie Mustafa Kemal (der spätere „Atatürk“), der den Genozid an den Armeniern in Südanatolien 1915/16 in seinen Aufzeichnungen nicht erwähnt hatte, sprach der Minderheit daraufhin ein Existenzrecht auf dem türkischen Gebiet ab. Jedoch widersetzten sich Armenier, denen die KEF-Führer „Geschichtslosigkeit“ vorwarfen, zumindest vereinzelt der Deportation und Internierung, die sich zum Völkermord steigerten. Zwangsverschleppte halfen sich untereinander und begrenzten damit die Auswirkungen des Genozides. Auch Internierte waren keineswegs ausschließlich hilflose Opfer. Vielmehr wehrten sie sich in den Lagern gegen Übergriffe. Ihre Abwehr wurde inner- und außerhalb des Osmanischen Reiches von Armeniern unterstützt. Das grenzüberschreitende Netzwerk der Exilgruppen stärkte besonders die Politik der EntenteMächte gegenüber den Jungtürken. Auch Christen und Muslime bestachen Staatsbeamte, und sie schmuggelten Armenier über die Grenzen, um sie zu retten. Darüber hinaus umfasste das Spektrum der humanitären Aktivitäten die Versorgung der Deportierten und Internierten mit Nahrungsmitteln und Medikamenten. Dafür sammelten Hilfsorganisationen Spenden, die an die leidenden Armenier, Assyrer und Kurden verteilt wurden. Gelegentlich wurden diese auch von Missionaren wie der Schweizerin Beatrice Rohner (1876–1947) versteckt und geschützt. Eine systematische Unterstützung deutscher und US-amerikanischer Missionsgesellschaften blockierten die Jungtürken aber, weil aus ihrer Sicht der Widerstand der „inneren Feinde“ nur gebrochen werden konnte, wenn ihnen die Hoffnung auf humanitäre Hilfe genommen wurde.543 Andererseits begünstigten in den Städten und Dörfern Plünderungen und Raub, die sich vielerorts trotz des Widerstandes vollzogen, vor allem die türkische Mittelschicht, deren Loyalität gegenüber der politischen Führung damit gestärkt wurde. Das stillschweigende Abkommen zwischen den lokalen türkischen Eliten und dem Regime stärkte das Osmanische Reich aber nur vorübergehend, zumal die Machthaber in Konstantinopel die Flut von Denunziationen 542 Gaunt, Identity, S. 325–327, 330; Kieser / Bloxham, Genocide, S. 587, 593 f., 597–599, 602 f.; Holquist, World, S. 139; ders., Politics, S. 151; Kreiser, Atatürk, S. 99; Akçam, Young Turks, S. 269, 271 f. Angabe nach: Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, S. 236. 543 Kreiser, Atatürk, S. 99 f., 102, 119 f.; Bloxham, Game, S. 88 f. Zu dem – bislang nur wenig erforschten – Widerstand: Mouradian, Internment, S. 149, 154; Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, S. 318–323.

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und die pogromartige Gewalt nur mühsam bändigen und kontrollieren konnten. Auch der ökonomische Schaden war enorm. So ging die Kohleförderung 1915 um 75 Prozent und die Produktion von Textilien um die Hälfte zurück. Auch die landwirtschaftliche Erzeugung, die vielerorts von Armeniern betrieben worden war, brach ein. Insgesamt nahm die ohnehin hohe Staatsverschuldung nicht zuletzt infolge des Genozids an den Armeniern weiter zu. Die Preise stiegen bis zum Kriegsende um das fünfzehnfache, und im Oktober 1918 war das Osmanische Reich bankrott. Die Sicherheitsmanie der „Jungtürken“, ihre hypertrophe Furcht vor Minderheiten als „innere Feinde“, die radikale Politik der Turkifizierung und materielle Gier hatten den Staat letztlich destabilisiert.544 Insgesamt ergaben sich die Repression, Vertreibung und Ermordung der Armenier vor allem aus dem Konzept ethnischer Homogenisierung, die im frühen 20. Jahrhundert als Ausdruck von Modernität galt. Im Besonderen zielte der Völkermord auf einen einheitlichen und souveränen Nationalstaat. Die Jungtürken nutzten den Ersten Weltkrieg, um dieses Projekt voranzutreiben. Indem der Kampf gegen die Entente-Mächte die ethnischen Konflikte radikalisierte, wurde er zu einem zentralen Bedingungsrahmen des Völkermordes an den armenischen und assyrischen Christen. Der Genozid ist in der Geschichtsschreibung aber bislang kaum auf die Internierungspolitik bezogen worden, die letztlich dem Massenmord diente. Beide Prozesse waren deshalb miteinander verknüpft. Sie müssen in die längerfristigen Spannungen im internationalen Mächtesystem und die radikale Bevölkerungspolitik seit dem späten 19. Jahrhundert eingebettet werden, ohne dabei aber den spezifischen Kontext des Ersten Weltkrieges zu vernachlässigen, der die radikale ethnische Homogenisierungspolitik im Allgemeinen und den Völkermord im Besonderen ermöglichte.545 Der Völkermord war aber nicht nur den Konzepten der inneren Einheit und der nationalstaatlichen Souveränität geschuldet und auf imperiale Ambitionen zurückzuführen, sondern basierte auch auf weitreichenden Feindvorstellungen, die Minderheiten als Helfershelfer der Entente-Staaten brandmarkten. So stigmatisierten die „Jungtürken“ Minoritäten, die gegen die Herrschaft Konstantinopels aufbegehrten, als Agenten Russlands und der Westmächte, deren Kredite das Reich aus der Sicht der neuen Machthaber zu erdrosseln drohten. Die KEF-Führung wandte sich deshalb auch gegen die Tanzimat-Reformen, mit de544 Üngör / Polatel, Confication, S. 94 (Angaben), 104 f., 166, 169. 545 Vgl. die Argumentation in Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, bes. S. 351; Üngör / Polatel, Confiscation, S. 61–64; Bloxham / Göçek, Genocide, S. 360–363; Gaunt, Identity, S. 219, 327; Kieser / Polatel / Schmutz, Reform or Cataclysm?, S. 301; Kieser, Germany, S. 32, 40 f.; Mouradian, Internment, S. 145, 147 f., 156; Ther, Seite, S. 81 f.; Kieser / Bloxham, Genocide, S. 585; Langewiesche, Jahrhundert, S. 36 f.; Schmutz, Violence, S. 507; Mann, Dark Side, S. 115, 117, 131, 133, 143; von Hagen, Great War, S. 40.

4.6 Osmanisches Reich



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nen im Februar 1856 die Gleichstellung aller osmanischen Untertanen und die Garantie kirchlicher Privilegien und Immunitäten festgelegt worden war. Diese Politik hatte Nichtmuslime nicht nur rechtlich gleichgestellt, sondern ihnen mit den „Kapitulationen“ auch eine Sonderstellung als Vermittler eingeräumt, die von den Regierungen vieler europäischer Mächte protegiert wurden. Aus der Sicht der türkisch-muslimischen Bevölkerungsmehrheit galten diese Minderheiten daher als „fünfte Kolonne“ der Europäer. Angesichts des offenkundigen Einflussverlustes, den das Osmanische Reich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erlitt, konnte das KEF diese Ressentiments leicht für seine nationalistische Politik mobilisieren. Auch aus der Wirtschaft sollten Ausländer verdrängt werden. Obwohl Beweise selten blieben, wurden den Minderheiten – besonders den Armeniern – generell Illoyalität gegenüber dem Osmanischen Reich und subversive Aktivitäten unterstellt. Angesichts dieser Bedrohungswahrnehmungen verlangten Jungtürken schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, ethnische Minderheiten aus gefährdeten Grenzgebieten zu deportieren. Die Feindbilder steigerten sich im Ersten Weltkrieg, den die politische Elite, aber auch breite Bevölkerungsgruppen als Not- bzw. Ausnahmezustand wahrnahmen. In diesem Kontext galten „innere Feinde“ als akutes Sicherheitsrisiko. Besonders in der Agitation und in den Ausschreitungen gegen die christlichen Armenier verbanden sich unentwirrbar ethnische, nationale und religiöse Ressentiments, die letztlich auf Furcht gründeten und einer genozidalen Sicherheitspolitik den Weg bereiteten.546 Wie bereits angedeutet, blieb der Massenmord an den Armeniern und Assyrern trotz der Repressionspolitik und des Terrors der Machtelite im KEF nicht unwidersprochen. So kritisierten einige Parlamentsabgeordnete, dass das Innen- und Kriegsministerium die Gefahr eines Staatszerfalls durch subversive Aktivitäten der Armenier (und anderer Minderheiten) gezielt überzeichnete. Einzelne türkische Offiziere warfen Kommandeuren wie dem Befehlshaber der Dritten Armeegruppe, General Mahmut Kamil Pascha (1880–1922), zudem vor, bewusst Zwischenfälle provoziert zu haben, um anschließend die Ermordung der Armenier zu fordern. Ebenso gelang es Gouverneuren, anderen hohen Verwaltungsbeamten und Bürgermeistern in kleinen Räumen gelegentlich, den Genozid zu verhindern oder zu verzögern. So wurden protestantische oder katholische Armenier mancherorts ausgenommen. In den Gemeinden versteckten auch einzelne Dorfbewohner Angehörige der verfolgten Minderheit, obwohl sie dafür mit dem Tode bestraft werden konnten. Sie stellten sich damit indirekt den Tätern entgegen, unter denen männliche, radikale Türken dominierten. Viele von 546 Bloxham, Game, S. 71, 76, 81, 86; Zürcher, Engineering, S. 537; Schmutz, Violence, S. 508, 511 f.; Kieser / Polatel / Schmutz, Reform or Caraclysm?, S. 299; Mann, Dark Side, S. 124.

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ihnen waren vor dem Ersten Weltkrieg aus den verlorenen europäischen Gebieten der Türkei geflohen oder in den gefährdeten Grenzregionen geboren worden. Auch dieser Befund verweist auf die Wirkungsmacht fremdenfeindlicher Bedrohungsvorstellungen und Sicherheitsängste.547

Reaktionen der Großmächte auf den Genozid Die Entente-Mächte konnten die Enteignung, Deportation und Ermordung der Armenier nicht verhindern, obgleich die Regierung des Zarenreichs seine westlichen Verbündeten drängte, die Massaker zumindest öffentlich zu verurteilen. Daraufhin prangerten die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Russlands die Morde in ihrer Erklärung vom 24. Mai 1915 ausdrücklich als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (crimes against humanity and civilization) an. Diese Formulierung war ein Kompromiss zwischen den Entente-Staaten. Damit konnte Russlands Vorschlag, „Verbrechen gegen die Christenheit und die Zivilisation“ (crimes against Christianity and civilisation) zu brandmarken, abgewendet werden. Die verantwortlichen Politiker des Osmanischen Reiches sollten nach dem Krieg zur Verantwortung gezogen werden. Diese Warnung, die sich auch auf die Opfer des Völkermords an den assyrischen Christen bezog, ist gleichermaßen auf humanitäre Ideale und auf imperiale Zivilisationsvorstellungen zurückzuführen, die im 19. Jahrhundert verwurzelt waren. Die Deklaration ordneten die Entente-Mächte aber ihrer Propagandakampagne gegen Massaker deutscher und österreich-ungarischer Truppen in Belgien und Serbien 1914/15 unter. Zudem verdeckte die Erklärung, dass zugleich im Russischen Zarenreich Juden und Deutsche systematisch verfolgt und deportiert wurden. Hier verhinderte allerdings eine Intervention Großbritanniens eine Eskalation zum Genozid. Zudem blieb das Sicherheitskalkül in dem hierarchisch aufgebauten und autoritär beherrschten Staat rationaler als im Osmanischen Reich, in dem die Jungtürken traditionale Grenzen sprengten und institutionelle Barrieren schwächer waren.548

547 Mann, Dark Side, S. 147, 156, 163, 172 f. 548 Levene, „The Enemy Within“?, S. 151, 161; Kieser / Bloxham, Genocide, S. 595; von Lingen, Martens Clause, S. 195; Holquist, Politics, S. 154; Horne / Kramer, War, S. 166; Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, S. 296–298; Swatek-Evenstein, History, S. 156. Vgl. auch Arieh Kochani, The Role of the Genocide of European Jewry in the Preparations for the Nuremberg Trials, in: David Bankier / Dan Michman (Hg.), Holocaust and Justice. Representation and Historiography of the Holocaust in Post-War Trials, Jerusalem 2010, S. 59–80, hier: S. 68; Michael J. Bazyler, The Holocaust, Nuremberg and the Birth of Modern International Law, in:

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Der Hinweis auf die erwartende Bestrafung bestärkte die jungtürkische Regierung, die sich nun allen Zwängen zu außenpolitischer Rücksichtnahme entledigt sah, sogar noch in ihrer Entschlossenheit, die vermeintliche Gefahr durch die Aktivitäten „innerer Feinde“ endgültig zu bannen. Die US-Regierung bemühte sich darüber hinaus, das Eigentum von Amerikanern zu schützen. Forderungen, Armenier, die bei Unternehmen wie der Singer-Nähmaschinenfabrik arbeiteten, von den Deportationen auszunehmen, wurden von den „Jungtürken“ jedoch zurückgewiesen. Ebenso rechtfertigte das KEF-Regime den Massenmord gegenüber dem deutschen Verbündeten mit dem Hinweis auf dessen „nationale“ oder „militärische Notwendigkeit“. Deutsche Konsuln, Offiziere und Missionare, die gegen den Genozid protestierten, zwangen Reichskanzler von Bethmann Hollweg und Kaiser Wilhelm II. zum Schweigen, da das Osmanische Reich in der Kriegsallianz mit Deutschland gehalten werden sollte.549 Deutsche Beobachter wie der Journalist Rudolf Zabel (1876–1939), der für die „Tägliche Rundschau“ arbeitete, erkannten früh die neue Qualität des Vernichtungskrieges gegen die Armenier. Nachdem das Ausmaß des Völkermordes trotz der Zensur auch im Deutschen Reich bekannt geworden war, richteten hier 49 humanitäre Aktivisten (darunter Professoren, Geistliche und Missionare), die sich für den Schutz von Minderheiten einsetzten, eine Eingabe an die Reichsleitung, die gegen die Unterdrückung von Minderheiten durch die „Jungtürken“ protestieren sollte. Reichskanzler Bethmann Hollweg und Wilhelm II. intervenierten aber nicht gegen ihren osmanischen Bündnispartner.550 Vielmehr unterdrückten sie kritische Beobachter wie den Konsul Max von Scheubner-Richter (1884–1923), der gegen die Massenmorde in der Provinz Erzurum protestierte (und 1923 als Teilnehmer an Hitlers Putschversuch in München sterben sollte). Diese Kritiker wurden zum Schweigen gezwungen. Auch Paul Wolff-Metternich (1853–1934), der im Spätsommer 1915 Wangenheim als deutscher Botschafter in Konstantinopel ablöste, traf mit seiner Forderung, die deutsche Presse über den Genozid an den Armeniern berichten zu lassen, in Berlin bei Reichskanzler Bethmann Hollweg auf entschiedenen Widerstand. Letztlich akzeptierte die Reichsleitung ebenso wie die deutschen Militärs und Spitzendiplomaten die Vernichtungspolitik der „Jungtürken“. Dem übergeordneten Ziel, das Kriegsbündnis mit dem Osmanischen Reich zu erhalten, widersetzten sich nur wenige deutsche Beobachter – so der Theologe Pastor Johannes Bankier / Michman (Hg.), Holocaust, S. 45–57, hier: S. 49; Conze, Völkerstrafrecht, S. 198; Bloxham, Game, S. 86; Mann, Dark Side, S. 155, 173; Schmutz, Violence, S. 508–510, 513. 549 Bloxham, Game, S. 86; Mann, Dark Side, S. 155, 173; Schmutz, Violence, S. 508–510, 513. 550 Üngör / Lohr, Nationalism, S. 520; Üngör / Polatel, Confiscation, S. 76 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 113 f. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurde 1915 als moralische (nicht rechtliche) Kategorie geprägt. Vgl. Kramer, Combatants, S. 192.

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Lepsius (1858–1926) und Generalleutnant August Stange – und Politiker wie der Sozialdemokrat Karl Liebknecht. Letztlich blieb die Politik der deutschen Regierung opportunistisch und utilitaristisch.551 In Istanbul wandte sich der armenische Patriarch Zaven Der Yeghiayan (1868–1947) wiederholt und nachdrücklich gegen den Völkermord. Aber auch die Jungtürken zeigten sich unnachgiebig. Sie rechtfertigten die Massaker durchweg mit dem Hinweis auf die Sicherheit des Reiches. Diplomaten neutraler Staaten wie US-Botschafter Morgenthau konnten diese Obsession mit seinen Interventionen gegenüber der Regierung nicht brechen. Am 31. August 1916 versicherte Innenminister Mehmed Talât Pascha einem Vertreter der deutschen Botschaft, dass die „armenische Frage“ nicht mehr existiere. Haltlose Ängste hatten eine extreme Vernichtungspolitik hervorgebracht, die erst nach der Niederlage des Osmanischen Reiches geahndet werden konnte. Auch humanitäre Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erwiesen sich als hilflos. So starben 800.000 bis 1,5 Millionen der insgesamt 1,7 bis 2,1 Millionen Armenier, die im Osmanischen Reich lebten. Damit waren rund 40 Prozent der Bevölkerungsgruppe umgebracht worden. In den Konzentrationslagern wurden 250.000 von ihnen Opfer von Vernachlässigung und Gewalt, die sich besonders gegen weibliche Insassen richtete. Allein die Zahl der Toten im Camp Meskeneh ist mit 60.000 bis 80.000 veranschlagt worden. Darüber hinaus wurde mit 608.000 assyrischen Christen die Hälfte dieser Minderheit im Osmanischen Reich in einem weiteren Genozid ermordet.552 Die Vertreibung dieser Minoritäten und der Hunger begünstigten die Verbreitung von Krankheiten, vor allem der Malaria, auch über den Ersten Weltkrieg hinaus. Trotz der Hilfe des Roten Halbmondes in den von Türken kontrollierten Gebieten forderte die Epidemie noch in den frühen 1920er Jahren zahlreiche Opfer.553

551 Hierzu und zum Folgenden: Kreiser, Atatürk, S. 102; Hull, Destruction, S. 263–290; Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, S. 298–308; Dadrian, Role, S. 55, 64, 66, 78; Bloxham, Game, S. 94–96; Akçam, Young Turks, S. 271; Kieser, Germany, S. 37 f. 552 Gaunt, Identity, S. 319, 325; Mouradian, Internment, S. 153; Libaridian, Repression, S. 206; Bloxham, Game, S. 98; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 102. In den meisten Publikationen wird die Zahl der ermordeten Armenier mit rund einer Million veranschlagt. Dazu: Jones, Centenary, S. 873. Von 700.000 bis 800.000 bzw. einer Million Toten wird ausgegangen in: Zürcher, Engineering, S. 539; Winter, Cover, S. 207; McMillan, War, S. 59. Zur Spannbreite der Schätzungen: Levene, „The Enemy Within“?, S. 152 f. 553 Chris Gratien, Malaria and the Legacy of the First World War in the Ottoman Empire, in: Katrin Bromber u. a. (Hg.), The Long End of the First World War. Ruptures, Continuities and Memories, Frankfurt/M. 2018, S. 67–81, bes. S. 67, 72, 75 f., 78.

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Bilanz und Ausblick Die nationaltürkische Politik basierte auf einer Sicherheitsparanoia, die auch als Vorwand für Bereicherung ausgenutzt wurde. Ebenso wie im russischen Zarenreich denunzierten in den einzelnen Gemeinden Bewohner Armenier, Juden und Griechen, vereinzelt aber auch Deutsche, um Konkurrenten zu schädigen, beschlagnahmtes Eigentum zu übernehmen oder Ressentiments zu befriedigen. Appelle humanitärer Organisationen oder anderer Staaten, die gegen den Völkermord und die damit verbundene Enteignung und Deportation protestierten, blieben ohne Wirkung, zumal die „Jungtürken“ bereits 1914 internationale Abkommen gekündigt hatten, die ihnen Bindungen auferlegten. Offenbar war das Völkerrecht im Osmanischen Reich deutlich schwächer verankert als in Russland, wo die Behörden trotz der oft extremen Gewalt gegen Juden vor einem Massenmord an den nationalen und ethnischen Minoritäten zurückschreckten. Demgegenüber entkamen dem Genozid im Osmanischen Reich nur wenige Armenier. Die Überlebenden wurden 1923 in der Türkei zur Assimilation gezwungen. Nachdem die siegreichen Entente-Mächte 1919/20 zunächst Prozesse vor türkischen Gerichten, die Anklagen wegen des Völkermordes erhoben, durchgesetzt hatten, versandeten die Verfahren Anfang der 1920er Jahre. Damit entgingen nahezu alle Offiziere, die an der Ermordung der Armenier mitgewirkt hatten, Prozessen und Strafen. Im Anschluss an die Gründung der türkischen Republik setzte die neue politische Elite sogar eine bis zur Gegenwart einflussreiche Interpretation durch, welche die Verantwortung für den Genozid den Armeniern zugewiesen hat.554 Insgesamt handelte es sich aber um einen gezielt herbeigeführten Völkermord, der nicht ausschließlich als spontane Reaktion auf Bedrohungsvorstellungen gelten kann. Vielmehr war der Genozid auch in der Turkifizierungspolitik und dem damit verbundenen Ziel, einen ethnisch homogenen türkischen Nationalstaat zu schaffen, langfristig angelegt. Auch wurde er nach Anweisungen der Machthaber verübt. Aber erst akute Bedrohungsvorstellungen und die einhergehende verschärfte Sicherheitspolitik verliehen der Verfolgung der armenischen Minderheit im Ersten Weltkrieg ihre radikale und destruktive Dynamik. In dieser Konstellation wurde aus einem Hindernis vermeintlich eine akute Bedrohung der Sicherheit des Staates. Als die jungtürkische Elite des Osmanischen Reiches im Frühjahr 1915 eine entscheidende militärische Niederlage

554 Bloxham / Göçek, Armenian Genocide, S. 348–351; Suny, „They Can Live in the Desert but Nowhere Else“, S. 232; Dadrian, Role, S. 75; Üngör / Lohr, Nationalism, S. 500–503, 520 f.

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fürchtete, zielte der Massenmord an den Armeniern darauf, den dämonisierten „inneren Feind“ zu beseitigen.555 Sicherheits- und Minderheitenpolitik waren zwar schon vor 1914 eng miteinander verwoben; dieses Syndrom steigerte sich aber erst zum Genozid, als die Bedrohung durch die Entente-Mächte die Armenier als erhebliches Sicherheitsrisiko erscheinen ließ. Dabei deuteten die Machthaber besonders den Aufstand in der Provinz Van als Bestätigung ihrer Furcht vor den Armeniern als „fünfter Kolonne“ der Kriegsgegner. Konstruktionen, Imaginationen und Projektionen eines „inneren Feindes“ wurden schließlich zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, die auch deutsche Diplomaten und Wissenschaftler akzeptierten und übernahmen. So verwies Wangenheim in seinen Berichten an das Auswärtige Amt wiederholt auf die Sicherheit des Bündnispartners als Rechtfertigung des Genozids. Auch humanitäre Hilfe leisteten bis Herbst 1915 nur einzelne Deutsche in Eigeninitiative.556 Nach dem Waffenstillstand vom 30. Oktober 1918 und dem Vertrag von Sèvres, den die Regierung des zerfallenden Osmanischen Reiches im August 1920 unterzeichnen musste, gelang es Kemal Atatürk, die angreifenden griechischen Truppen 1922 zu besiegen. Im Zuge der Kämpfe, die 1919 begonnen hatten, wurden erneut Griechen verfolgt und z. T. getötet. Die „Sonderorganisation“ setzte ihre Massaker gegen diese Volksgruppe fort, vor allem während des Feldzuges in Westanatolien 1921/22. Der Vertrag von Lausanne erlaubte der Regierung 1922 darüber hinaus, 1,25 Millionen Griechen auszuweisen. Im Gegenzug wurden 356.000 griechische Türken zur Umsiedlung in die Türkei gezwungen. Nachdem Atatürk 1923/24 die Türkei gegründet und das Kalifat endgültig abgeschafft hatte, wurden die Normen des neuen säkularen Staates durchgesetzt. Er basierte auf dem türkischen Nationalismus und einer zentralen Regierung, die eine Autonomie und Gleichberechtigung der unterschiedlichen Volksgruppen ausschloss. Dabei richtete sich der Argwohn der Machtelite besonders gegen die Kurden. Aufstände in Anatolien weckten 1925 und 1928 bis 1930 jeweils erneut Sorgen um die Sicherheit des jungen Staates. Die Minderheit wurde deshalb gewaltsam unterdrückt. Insgesamt waren die Repression und Massaker aber weniger systematisch und brutal als der Völkermord an den Armeniern. Dieser wird in der Türkei offiziell bis zur Gegenwart oft geleugnet oder verharmlost, obwohl einige Analogien zur Politik der Nationalsozialisten unübersehbar sind. An der Agitation gegen Juden in den frühen 1920er Jahren nahmen in Deutschland auch einzelne Personen wie Scheubner-Richter teil, der den Geno555 Mouradian, Internment, S. 148; Bloxham, Game, S. 94. Zur Diskussion auch: Zürcher, Turkey, S. 120 f. 556 Kieser, Germany, S. 36, 38.

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zid im Osmanischen Reich als Augenzeuge noch verurteilt hatte, nunmehr aber eine umfassende „Säuberung“ des Deutschen Reiches von „Volksfeinden“ forderte. Umgekehrt lenkte der Prozess gegen den Mörder Talât Paschas, der am 15. März 1921 in seinem Berliner Exil erschossen worden war, und die Freilassung türkischer Kriegsverbrecher die Aufmerksamkeit des jungen Juristen Raphael Lemkin (1900–1959) auf den Völkermord, den er 1943 als „Genozid“ bezeichnete.557

4.7 Italien Der Konflikt über den Kriegseintritt und die Flucht von Italienern aus Österreich-Ungarn In Italien trennten 1914/15 scharfe Konflikte Befürworter und Gegner einer Beteiligung des Landes am Ersten Weltkrieg. Schon zuvor war die Kluft zwischen der Bevölkerung und dem Staat gewachsen, und der beschleunigte Wandel hatte gesellschaftliche Gegensätze verschärft und neue Konflikte herbeigeführt. Im Juni 1914 waren besonders in Nord- und Mittelitalien Erhebungen in die Erklärung „unabhängiger Republiken“ durch die Aufständischen gemündet. Vor diesem Hintergrund schien ein schneller Sieg aus der Sicht der traditionalen konservativen Eliten die Perspektive zu eröffnen, ihre Herrschaft zu sichern, die liberale und sozialistische Opposition zu isolieren, die Italiener an ihre Regierung zu binden und das Land zu befrieden. Entgegen diesen Hoffnungen sollte die Mobilisierung für den totalen Krieg aber ineffektiv bleiben und zudem die bestehenden Spannungen noch verschärfen. Militärische Misserfolge und die Niederlage bei Caporetto im Herbst 1917 radikalisierten schließlich den Kriegsnationalismus und verstärkten die Suche nach „inneren Feinden“.558 1914/15 trafen die nationalistischen Interventionisten, zu denen sich auch der junge Benito Mussolini bekannte, auf Sozialisten und Pazifisten, die den Eintritt ihres Landes in den Krieg strikt ablehnten. Zudem verwiesen besonders Monarchisten auf den Dreibund, der im Mai 1882 zwischen dem Königreich Italien, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich abgeschlossen worden war. Italien kündigte aber am 3. Mai 1915 diese Allianz und trat zwanzig Tage später der Entente bei. Schon zuvor hatte sich die innenpolitische Polarisierung in 557 Gerwarth, Die Besiegten, S. 304–307; Stibbe, Civilian Internment, S. 115 f.; Bloxham, Game, S. 97–111; Kieser, Germany, S. 38–40. 558 Paul Corner / Giovanna Procacci, The Italian Experience of ‚Total‘ Mobilization 1915–1920, in: Horne (Hg.), State, S. 223–240, hier: S. 223 f., 226, 232 f.

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akuten Sicherheitsängsten und im März 1915 in der Verabschiedung eines Gesetzes gegen Spionage niedergeschlagen. Am 2. Mai wurde Ausländern die Einreise verboten und ihnen eine Meldepflicht auferlegt. Arbeitgeber und Hotels mussten den Behörden eingestellte bzw. übernachtende fremde Staatsangehörige melden. Ebenso hatten Landeigentümer den Verkauf von Boden an Ausländer anzuzeigen. Am 20. Mai erließ das Parlament, die Abgeordnetenkammer, ein Dekret, das der Regierung starke legislative und exekutive Kompetenzen übertrug. Zudem wurde die Armee ermächtigt, in Kriegszonen das Standrecht auszuüben. Da diese Gebiete nach der Kriegserklärung Italiens an ÖsterreichUngarn zusehends erweitert wurden, wuchs die Macht des Militärs, das die weiterhin starke Opposition gegen den Krieg brutal unterdrückte und innere Unruhen mit harten Strafen niederschlug. Rigorose Gesetze im Ausnahmezustand und die Vormacht der Heeresführung kennzeichneten damit Italiens Kriegsregime.559 In dem Land hatten sich 1881 59.956 (0,2 Prozent der gesamten Bevölkerung) und 1901 61.606 (0,18 Prozent) Ausländer aufgehalten. 1911 waren 79.756 fremde Staatsangehörige (0,22 Prozent der Bevölkerung) registriert worden; davon hatten allerdings 23.894 Ländern angehört, gegen die Italien im Ersten Weltkrieg kämpfen sollte: 11.911 Bürger Österreich-Ungarns, 10.715 Deutsche und 1.187 Untertanen des osmanischen Sultans. Fast ein Drittel von ihnen lebte in Rom, Mailand oder Neapel. Darüber hinaus wohnten 1911 allein 11.121 Schweizer auf der Apenninhalbinsel. Nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges verließen viele wehrfähige Männer Italien, um für ihre Heimatländer zu kämpfen. Damit ging vor allem der wirtschaftliche Einfluss der Deutschen zurück, die von 1883 bis 1911 rund 22 Prozent des ausländischen Kapitals in Aktiengesellschaften bereitgestellt hatten. Obwohl von einer ökonomischen Abhängigkeit Italiens von ausländischem Kapital nicht gesprochen werden konnte, behaupteten die nationalistischen Befürworter eines Kriegseintritts, dass Deutsche, Österreicher und Ungarn spionierten und einen subversiven Einfluss ausübten. Ein Aufstand in Turin, wo im August 1917 Hungerproteste in eine revolutionäre Agitation umschlugen, verstärkte die fieberhafte Suche nach „inneren Feinden“. Auch die Verbreitung von Dolchstoßlegenden zeigte, dass die Mobilisierungspolitik nicht beabsichtigte kontraproduktive Wirkungen gezeitigt hatte.560

559 Daniela Caglioti, Enemy Aliens and Colonial Subjects. Confinement and Internment in Italy, 1911–19, in: Manz / Panayi / Stibbe (Hg.), Internment, S. 125–144, hier: S. 131; dies., Germanophobia and Economic Nationalism: Government Policies against Enemy Aliens during the First World War, in: Panayi (Hg.), Germans as Minorities, S. 147–170, hier: S. 153; dies., Subjects, S. 504; Corner / Procacci, Experience, S. 226. 560 Ebd. S. 230, 232 f., 237. Angaben nach: Caglioti, Germanophobia, S. 149, 152.

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Die enorm zunehmende Migration verschärfte Feindbilder und die fremdenfeindliche Kampagne, welche die Politik und den gesellschaftlichen Umgang mit zivilen Angehörigen gegnerischer Staaten prägte. Nach der Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn flohen 86.500 „Reichsitaliener“ (regnicoli) aus der Doppelmonarchie. Davon kamen allein 35.000 aus der Region Triest. Weitere 42.216 Zivilisten – überwiegend Frauen, Kinder und Ältere – wies die Wiener Regierung aus. Flüchtlinge nahmen die italienischen Behörden auch aus den Gebieten auf, die im Mai und Juni 1915 von der Armee erobert wurden. Die Mehrheit dieser insgesamt 52.000 Personen galt offiziell als Repatriierte (rimpatriati); 3.000 bis 5.000 von ihnen wurden aber interniert, da sie aus der Sicht der italienischen Regierung die Sicherheit des Landes gefährdeten. Eine österreichische „Strafexpedition“ löste im Mai 1916 die Flucht von 110.000 weiteren Italienern aus, bevor die katastrophale Niederlage italienischer Truppen bei Caporetto Ende Oktober 1917 und die darauffolgende Besetzung weiter Gebiete im Nordosten Italiens in eine Panik mündeten. Insgesamt belief sich die Zahl der Flüchtlinge in Italien auf 600.000. Die staatlichen Behörden ordneten die Unterstützung der Geflohenen nun vollends dem Primat nationaler Sicherheit unter. Zudem arbeiteten in vielen Hilfsstellen Staatsbedienstete, die Flüchtlinge oft wie Kriminelle behandelten, obgleich sie in der italienischen Kriegspropaganda als nationale Helden überhöht wurden. Zu der Herabsetzung trug auch die unklare Abgrenzung zwischen den zu Internierenden und Vertriebenen bei. Vermittelnd wirkten aber die zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen, die vor allem von Katholiken und Sozialisten getragen wurden. Ihre Flüchtlingshilfe griff vielerorts karitative Traditionen auf, die im 19. Jahrhundert begründet worden waren.561

Verschwörungsvorstellungen und die Internierung bzw. Konfinierung von Feindstaatenangehörigen Anfang 1915 hielten sich in Italien noch 4.201 Deutsche, 1.503 Österreicher und Ungarn, 30 Türken und 22 Bulgaren auf. Sie lebten räumlich konzentriert und wurden zunächst noch nicht interniert. Nach dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg im Mai 1915 untersagte die Regierung allen Italienern auszuwandern, um Soldaten und Arbeitskräfte zu behalten. Vor allem aber verschärfte sie die Kontrolle von Ausländern, die sich innerhalb eines Tages bei der Polizei registrieren 561 Angaben nach: Matteo Ermacora, Assistance and Surveillance. War Refugees in Italy, 1914–1918, in: Contemporary European History 16 (2007), S. 445–459, hier: S. 446 f.; Mondini / Frizzera, Borders, S. 178, 181.

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lassen mussten. Die Meldepflicht erstreckte sich auch auf Hotels und private Gastgeber. Bürger Österreich-Ungarns wurden aus ihren Wohnorten in Frontabschnitten ausgewiesen, nachdem sich Berichte über vermeintliche österreichische Spione häuften, die angeblich Schiffen und Flugzeugen Signale übermittelt hatten. Angriffe richteten sich aber auch gegen Deutsche, nachdem die Versenkung der Lusitania und die Kriegserklärung an die österreichische Doppelmonarchie den Hass auf die Minderheit noch gesteigert hatte. Die Regierung gab der fremdenfeindlichen Agitation, aber auch dem Druck der neuen Bündnispartner in der Entente schrittweise nach, besonders ab August 1916, als sich Italien auch im Krieg mit Deutschland befand. Damit waren die verbliebenen 4.180 Deutschen (davon 2.546 Frauen und 1.634 Männer) unmittelbar bedroht, obwohl der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow (1863–1935), am 21. Mai 1915 mit dem Botschafter Italiens in Berlin, Riccardo Bollati (1858–1939), ein Abkommen zum Schutz ihrer Staatsbürger abgeschlossen hatte. 1915/16 hatten die Behörden vorrangig Staatsbürger Österreich-Ungarns ohne Anklage festgesetzt. Die Verletzung der Rechte dieser Feindstaatenangehörigen hatte die Neutralisierung des Parlaments und der Judikative durch die zivilen und militärischen Behörden im erklärten Notstand erheblich begünstigt.562 Allerdings wurden Feindstaatenangehörige nicht interniert, sondern nur in ihrer Mobilität eingeschränkt. Dazu nutzten die Behörden das Instrument des domicilio coatto (Hausarrest), mit dem schon in den Jahrzehnten nach der Gründung des Königreichs Italien (in den 1860er Jahren) Aufrührer bestraft worden waren, auch in den Kolonien. Im Ersten Weltkrieg wurden viele männliche Feindstaatenangehörige im Alter von 18 bis 50 Jahren auf Sardinien interniert, da eine Flucht von der Insel schwierig war. Hier hielt die Regierung aber auch italienische Gegner des Krieges fest, so Anarchisten, Sozialisten und Personen, die der Sympathie mit Österreich-Ungarn verdächtigt wurden (Austriacanti). Hierher, aber auch auf kleinere Inseln wie Ustica, Favignana und Ponza wurden von 1911 bis 1919 ebenso Araber aus Libyen gebracht. Im Mai 1915 hatten die Behörden in Italien mindestens 1.512 Bewohner der nordafrikanischen Kolonie festgesetzt. Bis Januar 1916 wurden weitere 1.560 Araber auf italienische Inseln deportiert. Alles in allem war die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger 562 Angaben nach: Caglioti, Germanophobia, S. 150. Hierzu und zum Folgenden: Daniela L. Caglioti, Why and How Italy Invented an Enemy Aliens Problem in the First World War, in: War in History 21 (2014), S. 142–169; dies., Germanophobia and Economic Nationalism: Government Policies against Enemy Aliens in Italy during the First World War, in: Panayi (Hg.), Germans, S. 147–170; dies., Dealing with Enemy Aliens, S. 186; dies., Subjects, S. 506; Torpey, Invention, S. 114 f.; Mondini / Frizzera, Borders, S. 185, 191; Jahr, Feriengäste, S. 236; Spiropoulus, Ausweisung, S. 90; Manz / Panayi / Stibbe, Internment, S. 10 f.

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im Ersten Weltkrieg in die längerfristige Unterdrückung politischer Opponenten und Aufständischer in den Kolonien eingebettet. Sie blieb unsystematisch und improvisiert. Die Behörden wurden deshalb schon Anfang 1916 mit einer Vielzahl von Anträgen auf Entlassung überschwemmt. Am 31. März hatte das Innenministerium 3.270 derartige Gesuche erhalten, von denen 1.428 bewilligt worden waren. Zugleich erwies sich die Internierungspolitik als anpassungsfähig und flexibel. Sie erfasste ausschließlich männliche Feindstaatenangehörige, denn Frauen, Kinder und Alte wurden nur aus den Kriegszonen deportiert und überwiegend über die Schweiz nach Deutschland zurückgeführt.563 Der Übergang zur Konfinierung, die erstmals 1889 ein Gesetz zur öffentlichen Sicherheit als polizeiadministrative Maßnahme festgelegt hatte, war dabei fließend. So wurden die verhafteten Österreicher, Ungarn, Deutschen und Türken nicht in zentrale Lager eingewiesen, sondern an ihren Wohnorten isoliert und unter Hausarrest gestellt. Auch richtete die Regierung für die Internierung keinen gesonderten Verwaltungsapparat ein. Vielmehr ergriff die ordentliche Administration Maßnahmen, die sie bereits vor dem Ersten Weltkrieg zur Unterdrückung von Widerstand in Italien und in den Kolonien genutzt hatte. Die Internierung war integraler Bestandteil einer Sicherheitspolitik, mit der Spionage und Unterwanderung verhindert, aber auch Druck auf die gegnerischen Staaten ausgeübt werden sollte. Sie richtete sich zunächst vorrangig gegen Österreicher und Ungarn. Im Anschluss an die Kriegserklärung an das Kaiserreich am 28. August 1916 erstreckte sich die Repressionspolitik aber auf die deutsche Minderheit. Zwar war ihren Angehörigen nach dem Abkommen zwischen der deutschen und italienischen Regierung vom 21. Mai 1915 freie Ausreise gewährt worden. Zudem hatten die beiden Staaten beschlossen, die Freiheits- und Eigentumsrechte ihrer Bürger gegenseitig anzuerkennen. Diese Vereinbarungen wurden im Ersten Weltkrieg aber gebrochen.564 Flüchtlinge (profughi) und Repatriierte waren separate Kategorien. Als profughi galten die rund 500.000 Italiener, die unmittelbar nach Kriegsbeginn von den nördlichen Grenzen zwangsweise evakuiert wurden. Hinzu kamen 70.000 italienische Emigranten, die aus der Schweiz ausgewiesen wurden, und 200.000, die aus Frankreich zurückkehrten. Dieselbe Zahl von Italienern kam jeweils aus Deutschland und Österreich-Ungarn. Ab Mai 1915 bezeichnete pro563 Angaben nach: Caglioti, Enemy Aliens, S. 133, 135; dies., Property Rights, S. 11 f. Vgl. auch Caglioti, Germanophobia, S. 155. Noch sechs Jahrzehnte später bereitete der Informationsdienst der italienischen Streitkräfte (Servizio Informazioni Forze Armate) die Internierung von Personen auf Sardinien vor, die der aktiven Unterstützung des Linksterrorismus der Brigate Rosse verdächtigt und als „Sicherheitsrisiko“ galten. Vgl. Leonard Weinberg, The Red Brigades, in: Art / Richardson (Hg.), Democracy, S. 26–62, hier: S. 45. 564 Caglioti, Enemy Aliens, S. 128 f., 131, 134, 137; dies., Germanophobia, S. 155.

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fughi deportierte Bewohner aus Gebieten, die italienische Truppen erobert hatten. Die Politik der italienischen Regierung gegenüber diesen Gruppen war besonders ab 1916 von Sicherheitsmaßnahmen geprägt. Vor allem Flüchtlinge aus dem Trentino wurden in Italien – ebenso wie in Österreich-Ungarn – als „innere Feinde“ stigmatisiert. Zugleich waren staatliche Institutionen und private Hilfsorganisationen mit der Unterstützung der Geflohenen und Deportierten überfordert. Die Ineffizienz und die Wahrnehmung der Zwangsmigranten als Sicherheitsproblem verhinderten, das sich die Betroffenen mit Italien identifizierten und eine innere Bindung an das Land entwickelten.565 Angesichts der nationalistischen Mobilisierung nach der Kriegserklärung galten auch italienische Sozialisten und Pazifisten bald als Saboteure der Kriegsanstrengungen. Im Sommer 1917 verstärkten Streiks und Plünderungen, die in Italien besonders die Versorgung mit Lebensmitteln und Kohlen gefährdeten, die Sorgen um die Sicherheit des Landes. Auch diese Bedrohung führten italienische Nationalisten auf eine Verschwörung von Gegnern zurück. Sogar der neue Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando (1860–1952) beschuldigte Pazifisten, Sozialisten und katholische Priester als „innere Feinde“. Noch massiver richtete sich der Verdacht gegen Feindstaatenangehörige, besonders die noch freien Zivilisten. So suchten die Sicherheitsbehörden in Messina (Sizilien) Ende 1917 und Anfang 1918 fieberhaft nach Spionen.566 Die fremdenfeindliche Agitation und Repressionspolitik konzentrierten sich aber auf die (eingebürgerten) Deutschen. In Städten wie Neapel verbreiteten Zeitungen viele Gerüchte über Spionage und Verrat. Die so Beschuldigten zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück, wo sie auch nicht mehr Deutsch sprachen. Einige von ihnen stellten Sicherheitskräfte an, die ihr Eigentum vor Übergriffen und Ausschreitungen schützen sollten. Deutsche Schulen und Krankenhäuser wurden der Kontrolle von Schutzmächten unterstellt und umbenannt. Dies betraf auch kirchliche Einrichtungen wie die 1826 in Neapel gegründete DeutschFranzösische evangelische Gemeinde, die zudem viele Gläubige verlor. Auch deutsche Vereine mussten ihre Tätigkeit einstellen oder erheblich reduzieren.567

565 Mondini / Frizzera, Borders, S. 180, 183, 185–187, 190. 566 MacGregor Knox, Origins and Dynamics of the Fascist and National Socialist Dictatorships, Bd. 1: To the Threshold of Power, 1922/33, Cambridge 2007, S. 221–223; Ángel Alcade, War Veterans and the Transnational Origins of Italian Fascism (1917–1919), in: Journal of Modern Italian Studies 21 (2016), S. 565–583, hier: S. 570 f., 573, 576; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 184; Gatrell / Nivet, Refugees, S. 200; Gerwarth, Die Besiegten, S. 205. Zum Kontext: Tooze, Sintflut, S. 98 f., 108. 567 Caglioti, Germanophobia, S. 161–163.

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Der Wirtschaftskrieg gegen Feindstaatenangehörige Außer der Internierung konzentrierte sich die Politik der italienischen Regierung auf die ökonomischen Aktivitäten der Feindstaatenangehörigen. Der Wirtschaftskrieg ergab sich einerseits aus Abkommen mit den alliierten Staaten, besonders den Beschlüssen der Pariser Wirtschaftskonferenz vom Juni 1916. Andererseits strebten Politiker, Unternehmer und die beteiligten Experten (darunter Rechtsanwälte) mit der Beschlagnahme und dem Verkauf des Vermögens von Feindstaatenangehörigen aber auch eine Italienisierung der Wirtschaft an.568 Dazu sollte der Einfluss von Ausländern beseitigt werden. Ab August 1916 gingen die Behörden gegen das Eigentum und Vermögen von Deutschen, Österreichern und Ungarn vor. Dabei folgten sie im Wesentlichen der restriktiven Politik, die Großbritannien zwei Jahre zuvor mit dem Trading with the Enemy Act eingeleitet hatte. Dekrete vom 8. und 10. August 1916 stellten Unternehmen, an denen Feindstaatenangehörige beteiligt waren, unter die Kontrolle italienischer Verwaltungsorgane. Darüber hinaus wurden alle Geschäftsbeziehungen zwischen Feindstaatenangehörigen und Italienern verboten und Eigentumsrechte eingeschränkt. Unter dem Eindruck der schweren militärischen Niederlage bei Caporetto Ende Oktober 1917 sequestrierte die Regierung schließlich nach einem Dekret vom 18. Januar 1918 alle Betriebe der Bürger von Staaten, mit denen sich Italien im Krieg befand.569 Den Übergang von der Beschlagnahme als Repressalie der Diplomatie zur pauschalen Konfiszierung als Instrument einer ausufernden Sicherheitspolitik gegenüber Feindstaatenangehörigen im totalen Krieg trieben maßgeblich gesellschaftliche Akteure wie eine Gruppe von Juristen aus Mailand (besonders Eliseo Antonio Porro, Alfredo Ascoli und Giulio Cesare Buzzati) voran, die über den Entzug von Rechten hinaus anstrebten, Deutsche, Österreicher und Ungarn ihr Eigentum zu entziehen. Die Ministerpräsidenten Salandra und Orlando stemmten sich zwar lange gegen die Agitation, weil sie an der traditionalen Doktrin vom Schutz des Privateigentums festhielten und Vergeltungsmaßnahmen der gegnerischen Staaten fürchteten. Auch bestanden sie auf dem Herrschaftsmonopol der Regierung gegenüber den gesellschaftlichen Agitationsgruppen. Nach dem Desaster von Caporetto, als Italien den Krieg zu verlieren drohte, gab die Regierung aber der aufgepeitschten öffentlichen Empörung nach. Sie förderte damit eine Entwicklung, die individuelle Eigentumsrechte

568 Ebd., S. 148, 157, 168. 569 Angaben nach: Caglioti, Property Rights, S. 11. Vgl. auch Panayi, Minorities, S. 223; Caglioti, Enemy Aliens, S. 127; dies., Germanophobia, S. 156; Spiropoulus, Ausweisung, S. 40.

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deutlich umfassender staatlichem Einfluss unterwarf. Damit dehnte sich auch die öffentliche Sphäre gegenüber der privaten aus.570 Insgesamt war vor allem die „Italienisierung“ der Wirtschaft einschneidend. Schon im Februar 1917 waren rund 1.250 deutsche Firmen beschlagnahmt worden. Das beschlagnahmte Vermögen von Deutschen ist mit 275 Millionen Lira veranschlagt worden. Aber auch Schweizer Bankiers und Unternehmer, die weithin mit Deutschland assoziiert wurden, verloren im Ersten Weltkrieg ihr Vermögen. Eine besonders radikal fremdenfeindliche Kampagne richtete sich gegen die Direktoren der Banca Commerciale Italiana, Otto Joel (1856–1916) und Federico Weil (1854–1919), die in Deutschland geboren, aber in Italien eingebürgert worden waren. In einzelnen Branchen wie der Textilindustrie wurden ausländische Unternehmer vollständig enteignet. Die Italiensierungspolitik zielte außerdem besonders auf Schlüsselsektoren der Kriegswirtschaft wie die Elektrizitätserzeugung und öffentliche Versorgungsleistungen.571 Der Versailler Vertrag bestätigte die ökonomischen Zwangsmaßnahmen in Artikel 297, der den siegreichen Staaten ein uneingeschränktes Verfügungsrecht über das beschlagnahmte Eigentum einräumte. Deshalb setzte die italienische Regierung ihre Verstaatlichungs- und Liquidationspolitik bis 1920/21 fort. Ebenso konnte Feindstaatenangehörigen, die eingebürgert worden waren, die italienische Staatsbürgerschaft entzogen werden. Nicht zuletzt wurden viele von ihnen nach einem Dekret vom 6. März 1918 aus ihren Wohnorten zwangsevakuiert. Auch diese restriktive Maßnahme begründete die Regierung mit Sicherheitsgefahren. Zugleich mobilisierten nationalistische Vereinigungen in der italienischen Gesellschaft fremdenfeindliche Ressentiments, nicht zuletzt um ihren Patriotismus zu demonstrieren und sich in die Kriegsanstrengungen des Landes einzuschreiben.572

Bilanz und Folgen In Italien waren wirtschaftliche Einschränkungen für zivile Feindstaatenangehörige besonders gravierend. Daneben kennzeichnete die Konfinierung – im Gegensatz zur Internierung – die Politik der Regierung gegenüber den zivilen Feindstaatenangehörigen.573 Als folgenreich erwies sich auch die fremdenfeind-

570 Caglioti, Property Rights and Economic Nationalism. Allgemein: Gosewinkel, Introduction, S. 11. 571 Angaben nach: Caglioti, Germanophobia, S. 159, 169. 572 Caglioti, Enemy Aliens, S. 137 f.; dies., Germanophobia, S. 168 f. 573 Ebd., S. 148.

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liche Agitation, welche die innenpolitischen Spannungen und gesellschaftlichen Gegensätze allenfalls kurzfristig überdecken konnte. So bildeten demobilisierte Soldaten, besonders ehemalige Angehörige der Arditi, nach dem Waffenstillstand paramilitärische Gruppen, aus denen die faschistische Bewegung hervorging. Benito Mussolinis Kampfbünde, die 1919 in Oberitalien als gegenrevolutionäre Truppen gebildet wurden, dienten Großgrundbesitzern und Unternehmern zur Unterdrückung streikender Land- und Industriearbeiter. Dabei setzten die Kriegsveteranen den Kampf gegen Sozialisten, Pazifisten, „Drückeberger“ und „Fremde“, die im Ersten Weltkrieg unterdrückt worden waren, nahtlos fort. Ehemalige Offiziere wandten sich auch gegen Ministerpräsident Giovanni Giolitti (1842–1928), der sich dem Kriegseintritt Italiens widersetzt hatte, und Francesco Nitti (1868–1953), dem 1919/20 vorgeworfen wurde, italienische Deserteure amnestiert zu haben. Darüber hinaus erregte der „verstümmelte Sieg“ (vittoria mutilata), den Italien nach den enttäuschenden Pariser Vorortverträgen errungen hatten, den Zorn der nationalistischen Veteranen. Mit dem entflammten Nationalismus und der Verherrlichung von Gewalt wurden die ehemaligen Soldaten und Offiziere zu vielfach verherrlichten Vorbildern, die – auch unter dem Einfluss der politischen Radikalisierung in anderen europäischen Staaten, Sowjetrussland und den USA – politisch-kulturell zu Helden avancierten.574 Im faschistischen Italien wurden bürgerliche Freiheiten schon in den ersten Jahren nach der Machtübertragung an Benito Mussolini am 30. Oktober 1922 deutlich eingeschränkt. Überdies betrieb das neue faschistische Regime in Norditalien gegenüber den dort lebenden Minderheiten eine brutale Assimilationspolitik. Nach der offenen Errichtung der Diktatur im Januar 1925 sollte Widerstand gebrochen, aber auch die Teilung, die Italien aus der Sicht der Eliten im Ersten Weltkrieg und bei den Verhandlungen während der Pariser Friedenskonferenz geschwächt hatte, endgültig überwunden werden. Dazu erließ der Duce im November 1926 ein Dekret über öffentliche Sicherheit. Es zeigte vollends die Kontinuität einer radikal nationalistischen Ideologie, die sich einerseits auf das Ideal des Kriegers stützte, andererseits aber auch „innere Feinde“ rücksichtslos auszulöschen trachtete. Der italienische Faschismus war damit auch ein Vermächtnis der fehlgeschlagenen Mobilisierung des Ersten Weltkrieges. Er erwies sich in Italien, das 1918 zu den Siegern gehört hatte, letztlich als selbstzerstörerisch.575

574 Clark, Squadrismo, S. 36 f.; Alcade, War Veterans, S. 565–567, 570–573, 576 f. 575 Corner / Procacci, Experience, S. 237 f.; Marrus, The Unwanted, S. 126; Stibbe, Civilian Internment, S. 272.

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4.8 Rumänien und Bulgarien Internierungen vor dem Kriegseintritt Ebenso wie Italien war Rumänien im Ersten Weltkrieg zunächst neutral geblieben. Anhängern der Entente, die Transsylvanien von Österreich-Ungarn forderten, standen Befürwortern eines Kriegseintrittes auf der Seite der „Mittelmächte“ gegenüber, die Bessarabien Russland zu entreißen versprach. Bis zum Beginn der Kampfhandlungen gegen Österreich-Ungarn am 27. August 1916 blockierten sich die beiden Gruppen, so dass sich die Regierung dem Krieg fernhielt. Allerdings musste sie den Verpflichtungen gerecht werden, die aus der Neutralität resultierten. So waren Soldaten kriegführender Staaten und Deserteure im Land zu internieren. Dieser Prozess verlief aber weitgehend unspektakulär, so dass er in der Öffentlichkeit nur geringes Interesse weckte. Die Publizistik beschränkte sich auf Berichte zur Politik anderer neutraler Länder, zu ihrem Umgang mit Kriegsgefangenen und zivilen Feindstaatenangehörigen und zur vermittelnden Rolle humanitärer Organisationen wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. Darüber hinaus richtete sich die Aufmerksamkeit auf Bürger Österreich-Ungarns, die aus Rumänien stammten und als Kriegsgefangene in das Zarenreich gebracht oder als Zivilisten von der russischen Armee aus von ihr eroberten Gebieten deportiert worden waren.576 Für ausländische Soldaten und Deserteure wurden in Şipote und Işalniţa Lager eingerichtet. Hier gelangen Internierten wiederholt Fluchten. Auch protestierten und revoltierten die Insassen gegen die schlechten Lebensbedingungen in den Camps. So beklagten sich im Herbst 1914 213 Österreicher und Ungarn ebenso über die Unfreiheit und das strikte militärische Reglement in Şipote wie 137 russische Internierte. Ein General, den die Regierung zur Berichterstattung entsandt hatte, wies die Vorwürfe zwar zurück. Auch litt Rumänien (im Gegensatz zur Schweiz und zu den Niederlanden) während der Neutralität nicht unter Nahrungsmittelmangel. Dennoch wurden Insassen freigelassen, um die Überbelegung zu beseitigen. Zudem sollte damit den kriegführenden und neutralen Staaten die humanitäre Politik Rumäniens demonstriert werden. Diese Ziele lagen auch den Entlassungen von Insassen des Lagers Işalniţa zu Grunde, nachdem 1916 ein Hungerstreik die Behörden zu einer Reaktion gezwungen hatte. Dabei wurden aus Rumänien stammende Österreicher und Ungarn bevorzugt.577

576 Şiperco, Internment, S. 228–230. 577 Ebd., S. 230–232.

4.8 Rumänien und Bulgarien



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Internierungen ab August 1916 Als die Regierung am 27. August 1916 Österreich-Ungarn den Krieg erklärte, verhängte sie den Ausnahmezustand, um die Mobilisierung von Soldaten zu erleichtern und die Zensur zu legalisieren. Zudem richtete das Kriegsministerium in seiner Abteilung für Statistik zwei Kommissionen ein, denen die Verantwortung für Kriegsgefangene bzw. Zivilinternierte übertragen wurde. Daraufhin begann am 29. August 1916 die Internierung von Österreichern und Ungarn. Mit dem Scheitern der rumänischen Armee bei Turtucaia am 6. September 1916 richtete sich die Kriegspropaganda aber besonders gegen Bulgarien und Deutschland. Bis Ende 1916, als Rumänien am Rande einer entscheidenden militärischen Niederlage stand und zwei Drittel des Staatsgebietes (einschließlich der Hauptstadt Bukarest) besetzt worden waren, wurden 15.000 bis 20.000 Rumänen bulgarischer Abstammung in die Moldauregion deportiert, da sie als „innere Feinde“ galten.578 Im Mai 1918 waren in Rumänien 3.913 Österreicher und Ungarn, 2.579 Türken, 1.812 Bulgaren und 249 Deutsche interniert. 8.500 Feindstaatenangehörige wurden auf Dörfer verteilt und dort festgesetzt. Insgesamt hielt die Regierung 1917/18 37.929 Zivilisten gefangen. Davon waren 15.000 bis 20.000 eigene Staatsangehörige. Es handelte sich dabei vorrangig um Bulgaren und Türken, die erst durch die Annexion der südlichen Dobruscha im zweiten Balkankrieg Staatsbürger geworden waren.579 In Bulgarien belief sich die Zahl der internierten Serben und Rumänen im September 1918 auf zusammen 14.831.580 In den rumänischen Lagern wurden die Internierten in vier Gruppen eingeteilt. Diejenigen, die über eine ausreichende finanzielle Lebensgrundlage verfügten und deshalb zusätzliche Nahrungsmittel kaufen konnten (Klasse 1A) unterschieden sich von Angehörigen des Wirtschaftsbürgertums und Freiberuflern, die einen staatlichen Zuschuss erhielten (Klasse 1B). Kleinbürgerlichen und niederen Angestellten wies die Regierung eine geringere Unterstützung zu (Klasse 2), und Bauern, Arbeiter und Kleinhandwerker wurden lediglich mit Lebensmitteln versorgt (Klasse 3). Die Lager waren aber nicht nur hierarchisch strukturiert und deshalb keineswegs egalitäre Gemeinschaften, sondern auch schlecht mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt. Wie Inspektionen von Diplomaten der Schweizer Schutzmacht aufdeckten, litten die österreichischen und

578 Ebd., S. 232–235. 579 Zivilinternierte in Rumänien, in: Weiland / Kern (Hg.) Feindeshand, S. 125; Şiperco, Internment, S. 228; Stibbe, Internment, S. 61. 580 Ebd.

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deutschen Internierten in den Camps im Osten Rumäniens 1917/18 auch an der mangelnden Hygiene, den verschmutzten Latrinen, der monotonen Verpflegung und den quälenden Parasiten und Insekten. Dennoch waren viele Frauen von Internierten so verzweifelt und verarmt, dass sie freiwillig zusammen mit ihren Männern in den Lagern lebten.581 Die rumänischen Behörden zogen nur Internierte der dritten Klasse zur Arbeit heran, aber gegen Entgelt. Demgegenüber konnten reiche Gefangene (der ersten Klasse) die Camps gegen eine Kaution befristet verlassen. Die Bevölkerung reagierte vielerorts unterschiedlich auf die Internierten. Während ihre Arbeitsleistung geschätzt wurde, galten sie andererseits als „innere Feinde“, die Staatsbeamte bestachen. Deshalb weigerten sich Bauern im Mai 1917, den 850 Deutschen, Österreichern und Ungarn, die im Lager Buneşti interniert waren, Lebensmittel zu verkaufen. Auch Fluchten und Entlassungen aus den Camps wurden weithin auf Korruption und Bestechung durch die Insassen zurückgeführt, vor allem nach dem Waffenstillstand von Focșani vom 9. Dezember 1917. So konnten von den 672 zivilen Feindstaatenangehörigen, die im Lager RặdặuţiPrut interniert waren, nicht weniger als 148 entweichen. Darüber hinaus repatriierten die Behörden allein am 9. März 1918 7.200 Bulgaren. Auch 6.000 bis 7.000 Österreicher, Ungarn und Deutsche durften in ihre Heimat zurückkehren.582 Insgesamt wurden von den 37.929 internierten Zivilisten 24.343 repatriiert und 2.349 freigesetzt. 534 entkamen und 243 galten als vermisst. Von den insgesamt 50.366 Soldaten und Zivilisten, die während des Ersten Weltkrieges gefangen genommen wurden, starben 10.460 (27,6 Prozent).583 Nachdem die Regierung Rumäniens am 7. Mai 1918 in Bukarest einen Friedensvertrag mit den „Mittelmächten“ abgeschlossen hatte, trat sie am 10. November erneut auf der Seite der Entente in den Ersten Weltkrieg ein. Das Land gehörte deshalb zu den siegreichen Mächten und konnte von April bis August 1919 weitere Gebiete Ungarns (einschließlich der Hauptstadt Budapest) erobern. In den besetzten Regionen wurden daraufhin Lager eingerichtet, in denen verdächtige „Feinde“, die in Ungarn lebten, ebenso interniert wurden wir Angehörige von Minderheiten, die in Rumänien wohnten. Die Zustände in den Camps in Transsylvanien waren offenbar so schlecht, dass zahlreiche Beschwerden eingingen. Die vorübergehende Weigerung der rumänischen Behörden, im September 1919 Inspekteuren des Roten Kreuzes Zugang zu den Lagern in Arad und

581 Şiperco, Internment, S. 235–242. 582 Ebd., S. 242–245. 583 Ebd., S. 228.

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Czegléd zu gewähren, verstärkte das Interesse der humanitären Organisation an den Internierten in den besetzten Gebieten Ungarns. Berichte der Inspekteure fielen im Herbst 1919 überaus kritisch aus.584

Bilanz Obgleich die rumänische Regierung schließlich dem Druck der alliierten Mächte nachgeben und die Truppen bis März 1920 aus Ungarn zurückziehen musste, hatte sie die Internierung bis weit nach dem offiziellen Kriegsende fortsetzen können. Außerdem zeigt die Fallstudie zu Rumänien, dass sich Sicherheitsängste der Eliten des Landes offenbar im Hinblick auf den sozialen Status der zivilen Feindstaatenangehörigen und Minoritäten unterschieden. Die Trennung der Internierten nach ihrer Zugehörigkeit zu spezifischen gesellschaftlichen Gruppen und – damit zusammenhängend – Vermögen schlug sich in den Lagerhierarchien nieder.

4.9 Vereinigte Staaten von Amerika Einwanderung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus vor 1917 Schon unmittelbar nach der Befreiung von der britischen Herrschaft hielten sich etwa 100.000 Deutsche in den Staaten der neuen USA auf. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde das Land Ziel vieler Einwanderer aus Europa, darunter auch viele Immigranten aus Deutschland. Die Immigration vollzog sich in mehreren Wellen. Allein von 1840 bis 1860, als in den Vereinigten Staaten insgesamt vier Millionen Einwanderer registriert worden waren, erreichten das Land 1,5 Millionen Deutsche. Darunter waren auch Flüchtlinge der Revolution von 1848/49 („Forty-Eighters“). Insgesamt ließen sich von 1820 bis 1890 rund fünf Millionen Deutsche in den USA nieder. Obwohl die Immigration aus dem Kaiserreich nach 1893 zurückging, kamen von 1890 bis 1919 nochmals 2,5 Millionen Deutsche in die USA. Um 1900 stellten acht Millionen Deutsche rund zehn Prozent der Einwohner. Davon waren 2,5 Millionen noch selber Einwanderer, die anderen Nachkommen. Zehn Jahre später belief sich der Anteil der 8,6 Millionen Deutschamerikaner der ersten oder zweiten Generation auf 7,9 Pro-

584 Ebd., S. 227 f., 245 f.

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zent der gesamten Bevölkerung (92 Millionen). 1910 waren von 92 Millionen Amerikanern über acht Millionen (8,6 Prozent) deutscher Herkunft.585 Im späten 19. Jahrhundert hatte auch die zunehmende Immigration aus Süd-, Südost- und Osteuropa in den USA Überfremdungsängste geweckt, die nach Streiks und einem Anschlag von Anarchisten auf den Haymarket („Heumarkt“) in Chicago 1886 wuchsen. In einem Prozess wurden sechs Einwanderer – darunter fünf Deutsche – zum Tode verurteilt. Der Abschluss von Arbeitsverträgen in den Auswanderungsländern wurde daraufhin eingestellt, und der republikanische Politiker Theodore Roosevelt (1858–1919) warnte 1894 allgemein vor „Bindestrich-Amerikanern.“ Der 1882 verabschiedete Chinese Exclusion Act schloss Chinesen von der Einwanderung aus. Weitere Einschränkungen verhängten 1884 und 1888 ergänzende Gesetze. Die chinesischen Immigranten ersetzten japanische Arbeiter, von denen viele zu Farmern aufstiegen. Obwohl die in Japan geborenen Immigranten (Issei) nach dem 1790 verabschiedeten Naturalization Act von der Einbürgerung ausgeschlossen waren, weckte der Wohlstand der Japaner, die 1919 in Kalifornien rund ein Zehntel der exportierten Nahrungsmittel erzeugten, Argwohn und Ressentiments. Zugleich galt die italienische Minderheit als verarmte und unzuverlässige Gruppe. Angesichts dieser Wahrnehmungen war schon vor dem Ersten Weltkrieg der Ruf nach einer Einwanderungskontrolle, die über den 1798 erlassenen Alien Enemies Act und das Statute 4067 von 1812 hinausging, auf eine erhebliche Resonanz getroffen.586 Der politische Radikalismus galt im 19. Jahrhundert als „europäischer Import“.587 Jedoch wurden nach einem Gesetz, das der Kongress zwei Jahre nach 585 Angaben nach: Monika Blaschke, ‚Deutsch-Amerika‘ in Bedrängnis: Krise und Verfall einer ‚Bindestrichkultur‘, in: Bade (Hg.), Deutsche, S. 170–179, hier: S. 171, 176; Katja Wüstenbecker, Politik gegenüber ethnischen Minderheiten im Vergleich. Die deutschstämmige Bevölkerung in Kanada und den USA im Ersten Weltkrieg, in: Eisfeld / Hausmann / Neutatz (Hg.), Besetzt, S. 263–282, hier: S. 263; Blackbourn, Germans, S. 336; Nagler, Control, S. 182; Heine, Schulalltag, S 10 f. 586 Die in Japan geborenen Einwanderer wurden offiziell als „Issei“ und ihre im Aufnahmeland geborenen Kinder als „Nisei“ bezeichnet. Die dritte Generation waren die „Sansei“. Vgl. Smith, Japanese Canadians, S. 279 (Anm. 7). Zur Fremdenfeindlichkeit: Mae M. Ngai, The Strange Career of the Illegal Alien: Immigration Restriction and Deportation Policy in the Unites States, 1921–1965, in: Law and History Review 21 (2003), Nr. 1, S. 69–107, hier: S. 75. Zum Gesetz von 1798 und zur Abwehr von Chinesen und Italienern: Jörg Nagler, Amerikanischer Antikommunismus von der First Red Scare zu McCarthy, in: Norbert Frei / Dominik Rigoll (Hg.), Der Antikommunismus in seiner Epoche. Weltanschauung und Politik in Deutschland, Europa und den USA, Göttingen 2017, S. 204–217, hier: S. 204; Torpey, Invention, S. 94–99, 104. Zum Naturalization Act von 1790: Culley, Enemy Alien Control, S. 138 f. 587 Nagler, Antikommunismus, S. 204.

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der Ermordung des Präsidenten William McKinley (September 1901) verabschiedete, bis 1919 lediglich rund fünfzig verdächtige Anarchisten ausgewiesen. Dennoch wuchs die Fremdenfeindlichkeit um 1900 sprunghaft. Zudem verbreiteten sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ebenso wie in Großbritannien Bedrohungsvorstellungen, obwohl die USA im Krieg gegen Spanien 1898 deutlich obsiegten. Auch Invasionsszenarien, die u. a. auf eine vermeintliche Gefahr durch Fremde aus dem Weltall abhoben, trugen zu der Furcht bei, welche die Kehrseite des entstehenden Diskurses über die „nationale Sicherheit“ war.588 Die Angst vor Subversion durch Fremde ignorierte, dass viele Einwanderer im Verlauf des 19. Jahrhunderts in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren. Auch Deutsche hatten die USA nicht nur wegen der wachsenden Ablehnung wieder verlassen, sondern auch weil der erhoffte Erfolg in der Neuen Welt ausgeblieben war. Überdies gedachten Rückkehrer die erworbenen Fähigkeiten in Deutschland zu nutzen, oder sie wollten hier ihren Lebensabend verbringen. So ist der Anteil der Remigranten an den deutschen Zuwanderern für die Jahre von 1899 bis 1924 auf 19,6 Prozent geschätzt worden.589 Schon vor 1914 stagnierte deshalb das Leben in den deutschen Einwanderergemeinden. Allerdings verteidigten einzelne radikal nationalistische Organisationen wie die New Yorker Ortsgruppe des Alldeutschen Verbandes (AV) die deutsche „Weltpolitik“. Nach dem Kriegsbeginn rechtfertigten die Alldeutschen das Vorgehen der Reichsleitung – so in Belgien – und den propagierten Verteidigungskampf. Im Widerspruch dazu beanspruchte der Verband auch ein Recht des Deutschen Kaiserreiches auf Expansion. Darüber hinaus trat er für eine strikte Neutralität der Vereinigten Staaten ein. Mit einer Flut von Propagandaschriften suchten die Alldeutschen die Politik der US-Administration unter Präsident Woodrow Wilson zu beeinflussen. Auch Kontakte des Leiters der AV Ortgruppe, Friedrich Große, und anderer Alldeutscher zur irisch-nationalen Bewegung weckten von 1914 bis 1916 Zweifel an der Loyalität der Organisation gegenüber den Vereinigten Staaten. Jedoch unterstützte im Ersten Weltkrieg nur eine Minderheit der Amerikaner irischer Herkunft Deutschland. Auch die Deutschamerikaner selber bildeten keineswegs eine einheitliche Front, so dass ihre Mobilisierung für eine großdeutsche Politik schwierig war. So lehnten die Vereinigten Deutschen Gesellschaften der Stadt New York und der DeutschAmerikanische Nationalbund den völkischen Nationalismus ab. Umfassender und nachhaltiger prägten diese Ideologie demgegenüber nativistische US-Vereinigungen wie die Immigration Restriction League, die verlangten, die „Rasse“ 588 Preston, Monsters, S. 484 f. 589 Karen Schniedewind, Fremde in der Alten Welt: die transatlantische Rückwanderung, in: Bade (Hg.), Deutsche, S. 179–185, hier: S. 180.

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der Anglo-Saxons zu bewahren und die Einwanderung radikal einzuschränken.590 Viele Deutschstämmige reagierten auf den zunehmenden Anpassungsdruck, indem sie ihre Diaspora-Identität stärkten. Diese blieb in den einzelnen Gruppen der Deutschamerikaner aber zersplittert.591 Dennoch richteten sich die Fremdenfeindlichkeit und die Angst vor Unterwanderung im Ersten Weltkrieg schon früh gegen Angehörige der „Mittelmächte“, vor allem gegen Deutsche, und Deutschamerikaner. In den USA waren 1910 rund 27 Prozent der Bevölkerung entweder in Deutschland geboren worden oder Kinder von Deutschen. In den Vereinigten Staaten hatten 1914 fast 500 Zeitungen in deutscher Sprache 3,3 Millionen Leser. Angesichts des Überfalls auf Belgien geriet die Minderheit schon früh in die Defensive. So agitierte die National Service League, die im Dezember 1914 gegründet worden war, für einen starken äußeren und inneren Schutz vor „Feinden“. Der Verband, der 1918 schließlich 85.000 Mitglieder – darunter auch auf Kuba und Hawaii – aufweisen sollte, griff die weit verbreitete Besorgnis über die „nationale Sicherheit“ auf und verstärkte diese, obgleich die USA nach Einschätzung der meisten militärischen Experten für die „Mittelmächte“ unerreichbar waren.592 1914/15 steigerten Gräuelberichte zum Verhalten deutscher Truppen in Belgien, besonders aber die Nachricht über die Versenkung der Lusitania die Feindschaft gegen die Deutschen. Sie spiegelte sich in der Preparedness Movement wider, die 1915/16 für umfassende militärische Vorbereitungen zum Schutz der Nation eintrat. Außerdem drängte Großbritannien die amerikanische Regierung, auf der Seite der Entente in den Krieg einzutreten. Eine Intervention der USA gegen Deutschland forderten ebenso amerikanische Politiker und Diplomaten, so Botschafter Page, der allerdings auch wiederholt die Blockade der Handelsschifffahrt durch die britische Marine in der Nordsee verurteilte. Die Kritik richtete sich besonders gegen die Beschlagnahme von Gütern und Schiffen der USA in britischen Häfen. Page tauschte sich eng mit dem US-Botschafter in Berlin, James Gerard, über die Bedingungen in britischen und deutschen Lagern aus, um eine Eskalation der Gewalt gegen hilflose Kriegsgefangene und Zivilinternierte zu verhindern. Dabei versuchten sie auch, in den beiden Staaten die 590 Markus Bierkoch, Alldeutsche in den USA. Die New Yorker Ortsgruppe im frühen 20. Jahrhundert, Berlin 2019, S. 187, 191, 195 f., 201, 210 f., 215 f., 229–231; Manz, German Diaspora, S. 141, 144. 591 Der Prozess ist treffend als „compartmentalised diasporisation“ bezeichnet worden. Vgl. Manz, German Diaspora, S. 144. 592 Tammy M. Proctor, ‚Patriotic Enemies‘: Germans in the Americas, 1914–1920, in: Panayi (Hg.), Germans, S. 213–233, S. 214 f.; Richard Bach Jensen, The Pre-1914 Anarchist „Lone Wolf“ Terrorist and Governmental Responses, in: Terrorism and Political Violence 26 (2014), Nr. 1, S. 86–94, hier: S. 91.

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Auswirkungen der nationalistischen Pressekampagne gegen die Behandlung der jeweils eigenen Staatsangehörigen einzudämmen. Diesem Zweck sollten u. a. Inspektionsberichte der Diplomaten dienen.593 1915 schreckte Wilson noch vor einer Kriegserklärung zurück, da vor allem progressive Sozialreformer in Bundesstaaten mit einem hohen Bevölkerungsanteil von Deutschen ein militärisches Engagement der USA ablehnten. Allerdings war die Forderung nach einer Registrierungspflicht für alle enemy aliens bereits in dieser Phase durchaus populär. Angesichts der wachsenden Spannungen, der unzureichenden Informationen über Sicherheitsmaßnahmen durch die amerikanische Regierung und Gerüchten über Spionage verbreiteten sich in den USA Angst und Bedrohungswahrnehmungen. Die Regierung gab der Forderung nach einer strikten Kontrolle von Ausländern zwar noch nicht nach; aber sie verlieh den fremdenfeindlichen Ressentiments Auftrieb. So rief Präsident Wilson im Juni 1916 die Amerikaner auf, die angeblich wachsende „Illoyalität“ in den USA zu zerschlagen. Er wandte sich dabei ausdrücklich gegen die „Bindestrich-Amerikaner“ deutscher Abstammung. Auch andere führende Politiker wie Theodore Roosevelt wiesen einen hyphenated Americanism zurück. Ihm setzten sie den one hundred percent Americanism als Leitbild entgegen.594 Am 30. Juli 1916 wurde ein Sprengstoffanschlag auf die Umschlags- und Lagerungseinrichtung für Munitionsgüter auf Black Tom Island in Jersey City (New Jersey) verübt. Dabei starben vier Menschen; der Schaden belief sich auf 14 Millionen Dollar. Da die Behörden die Tat deutschen Agenten zuschrieben, wuchsen die Vorbehalte gegen die Staatsangehörigen des Kaiserreichs und die Deutschamerikaner. Das Misstrauen richtete sich vor allem gegen den 1901 gegründeten Deutsch-Amerikanischen Nationalbund (National German-American Alliance), der in den USA unter ihrem Präsidenten Charles Hexamer (1862–1921) deutsche Kultur förderte und über zwei Millionen Deutschamerikaner aufgenommen hatte. 1916 berichtete die Zeitung New York World, dass Brauereibesitzer (die pauschal mit Deutschen gleichgesetzt wurden) die Arbeit der Organisation mit Spenden unterstützt hatten. Der Rechtsberater der US-Regierung, Charles Warren (1868–1954), verlangte sogar, alle ausländischen Staatsangehörigen zu überwachen. Ähnlich behauptete Gerard, dass 500.000 deutsche Reservisten im Falle eines Kriegseintritts der Vereinigten Staaten gegen den amerikanischen Staat losschlagen würden. Auch darüber hinaus forderten führende

593 FRUS, 1915, Supplement, S. 385 f., 389, 472–480, 578–608; Preston, Monsters, S. 485; Nagler, Control, S. 181; Stibbe, Enemy Aliens and Internment. 594 Bierkoch, Alldeutsche, S. 216; Manz, German Diaspora, S. 145; Heine, Schulalltag, S. 16.

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amerikanische Regierungsvertreter und andere Politiker von den „Fremden“ ein uneingeschränktes Bekenntnis zu den Vereinigten Staaten.595

Kriegseintritt, Propaganda gegen die Deutschen und Einschränkungen Im Februar 1917 brachen die Vereinigten Staaten die Beziehungen zu Deutschland ab, so dass sie als Schutzmacht für Staatsangehörige des Kaiserreiches ausfielen. Obgleich sich pazifistische Sozialreformer und Traditionalisten, die auf einer Konzentration auf die USA beharrten, einer Intervention in Europa widersetzten, kündigte Wilson schließlich in seiner Rede im Kongress am 2. April die Kriegserklärung der USA an das Deutsche Kaiserreich an. Dabei bezeichnete er den uneingeschränkten deutschen U-Boot-Krieg, der zu Jahresbeginn erneut aufgenommen worden war, als Verstoß gegen die Humanität und als Verletzung der nationalen Sicherheit. Der Eintritt in den Krieg wurde auch von liberalen Eliten, die humanitäre und pazifistische Organisationen wie die Carnegie Endowment for International Peace leiteten, einhellig unterstützt. Jedoch befürchteten Kriegsgegner und sogar Wilson eine Verrohung der amerikanischen Gesellschaft infolge der Kriegserklärung, welche die USA am 6. April 1917 dem Deutschen Reich übermittelten. Der Schritt stärkte in den Entente-Staaten die Siegeshoffnungen und schwächte dort Initiativen für einen Verhandlungsfrieden. Damit verknüpft, wurde von den Deutsch-Amerikanern noch massiver Loyalität gegenüber den Vereinigten Staaten verlangt. „Bindestrich-Identitäten“ galten als verdächtig, wie die Untersuchung der Aktivitäten der National German-American Alliance durch eine Senatskommission 1917 zeigte. Das Committee on Public Information, das am 13. April mit einer Anordnung des Präsidenten gebildet wurde, richtete gezielt Ressentiments gegen die Deutschamerikaner, die unter noch zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Druck gerieten. Besonders tief griffen aber Gesetze, die auf das 1798 erlassene Fremdengesetz und das Statute von 1812 Bezug nahmen, aber auch auf die britischen Vorbilder rekurrierten, in das Alltagsleben von Feindstaatenangehörigen ein. Wil595 Matthew Seligmann, James Watson Gerard: American Diplomat as Domestic Propagandist, in: Matthew Hughes / Matthew Seligmann (Hg.) Leadership in Conflict 1914–1918, Barnsley 2000, S. 158–176; Jules Witcover, Sabotage at Black Tom: Imperial Germany’s Secret War in America, 1914–1917, Chapel Hill 1989; Thomas Welskopp, Die große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn 2010, S. 48; Ellis / Panayi, German Minorities, S. 240; Manz, German Diaspora, S. 145. Angaben nach: Andrew, Defence of the Realm, S. 77. Zur Aufforderung Wilsons und seinen fremdenfeindlichen Reden von 1915 bis 1917: Arnold Krammer, Undue Process. The Untold Story of America’s German Alien Internees, Boston 1997, S. 13; Ellis / Panayi, German Minorities, S. 240 f.; Greiner, Angstunternehmer, S. 30.

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son berief sich in seiner Proklamation vom 6. April, mit der er Deutschen im Alter von über 14 Jahren erhebliche Einschränkungen auferlegte, ausdrücklich auf die „öffentliche Sicherheit“. Dagegen sah seine Administration von einer Ausweisung der Deutschen ab, offenbar auch weil sie andernfalls mit Repressalien gegen eigene Staatsbürger im Kaiserreich rechnete.596 1917 lebten in den Vereinigten Staaten rund acht Millionen Deutsche in der ersten oder zweiten Generation (von insgesamt 93 Millionen Bewohnern). Davon waren mehr als 2,5 Millionen in Deutschland geboren. Gegen diese Gruppe richteten sich zwölf Verordnungen, die Wilson erließ, um ihre Mobilität, ihren Zugang zu Munition und die Verfügung über Verkehrs- und Kommunikationsmittel einzuschränken. So wurde diesen Feindstaatenangehörigen untersagt, festgelegte „verbotene Zonen“ zu betreten und Waffen zu tragen. Auch mussten sie Funkausrüstungen und Radioapparate abgeben. Darüber hinaus unterlagen sie der Registrierungspflicht. Diese restriktiven Bestimmungen galten zunächst nur für deutsche Männer. Erst im Dezember 1917 wurden sie auf Österreicher und Ungarn ausgedehnt. Nachdem der Kongress die Women Spy Bill verabschiedet hatte, mussten sich ab Juni 1918 auch weibliche enemy aliens regelmäßig bei Polizei- oder Poststationen melden. Insgesamt wurden damit 220.000 Frauen registriert. Damit verstieß die US-Administration gegen den 1868 ratifizierten 14. Verfassungszusatz, der allen Bürgern in den Bundesstaaten gleiche Rechte gewährt hatte.597 Vor allem das von George Creel (1876–1953) geleitete Committee on Public Information diffamierte die in den USA lebenden, z. T. eingebürgerten Deutschen pauschal als „Hunnen“. Das Committee heizte die Feindschaft u. a. mit den „Hate-the-Hun“-Filmen an. Ebenso wie in Großbritannien war die Verdrängung der deutschen Minderheit integraler Bestandteil einer umfassenden Kampagne gegen ihre Kultur. So wurden deutsche Komponisten ebenso aus der Öffentlichkeit verbannt wie Opern und Theaterstücke. Auch bemühten sich nationalistische Amerikaner, die deutsche Sprache zu reglementieren, deren Gebrauch in der Öffentlichkeit ohnehin bis 1923 in 23 Bundesstaaten verboten 596 Angaben nach: Krammer, Process, S. 13. Zitat: Nagler, Control, S. 182. Vgl. auch George Creel, How We Advertised America, New York 1920; Nicholas Schlosser, Cold War on the Airwaves. The Radio Propaganda War Against East Germany, Urbana 2015, S. 4; Berg, Wilson, S. 116, 119; Wüstenbecker, Politik, S. 271; Dubin, Carnegie Endowment, S. 347; Spiropoulus, Ausweisung, S. 105. Zum Kontext: Tooze, Sintflut, S. 91, 96, 113 f.; Welskopp, Ernüchterung, S. 46–48. 597 Nagler, Internment, S. 195–197; Glidden, Internment Camps, S. 137; Krammer, Process, S. 14; Stibbe, Enemy Aliens and Internment. Nach dem Enemy Alien Act konnten Feindstaatenangehörige im Kriegsfall überwacht, verhaftet oder deportiert werden. Vgl. Jahr / Thiel, Prolegomena, S. 11.

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war. Umbenennungen bezogen sich u. a. auf deutsche Speisen. So wurde aus „Sauerkraut“ offiziell „liberty cabbage“ oder „victory cabbage“ aus „hamburger“ „liberty sandwich“ und aus „Frankfurter“ „hotdog“. Ebenso wurden Städte – so „Berlin“ –, Straßen, Institutionen und Unternehmen umbenannt. „German measles“ (Röteln) mussten als „liberty measles“ bezeichnet werden.598 Die fremdenfeindlichen Ressentiments richteten sich sogar gegen prominente deutsche Einwanderer wie den 1868 in Hamburg geborene Bankier Paul Warburg (1868–1932), den Wilson 1913 in das Leitungsgremium der neugegründeten Federal Reserve Bank berufen hatte. Im Ersten Weltkrieg ernannte der Präsident Warburg zwar noch zum Vizepräsidenten der Notenbank, distanzierte sich aber von ihm, als er die Amerikaner vor dem Kauf vieler (englischer und französischer) Kriegsanleihen warnte.599 Insgesamt mündeten im Ersten Weltkrieg der Nativismus und die Fremdenfeindlichkeiten in einen rabiaten Amerikanismus, der sich vorrangig gegen Deutsche und US-Bürger deutscher Herkunft richtete. Unter dem wachsenden politischen Druck lösten sich ab 1916 Organisationen der Deutschamerikaner auf, so die New Yorker Gruppe des ADV. Anderen Europäern, die einen geringen Bildungsstand aufwiesen, wurde 1917 die Einwanderung untersagt. Opfer der rassistischen US-Politik waren im Ersten Weltkrieg aber auch Asiaten. Die Restriktionen, die gegen diese Gruppe verhängt wurden, sollte die Regierung im Zweiten Weltkrieg erheblich verschärfen.600

Internierung und die Lager Noch massiver widersprach dem 14. Verfassungszusatz der US-Verfassung die Internierung von Zivilisten, deren Festnahme schon vor dem Kriegseintritt der USA vorbereitet worden war. So hatte das Außenministerium (State Department) Richtlinien zum Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen aus Europa anfertigen lassen. Dazu waren dem Kriegsministerium Vorschläge vom National Committee on Prisons and Prison Labor, einer privaten Hilfsorganisation an der Columbia University (New York), übermittelt worden. Schließlich hatte der Secretary of War Newton D. Baker (1871–1937) allgemeine Verordnungen und Richtlinien herausgegeben. Das 1908 gegründete Bureau of Investigation (BOI, 598 Heine, Schulalltag, S. 14, 43 f., 50–53. Zu Creel und zu seinem Committee: Nagler, Antikommunismus, S. 206; Stieglitz, Undercover, S. 131, Demm, Censorship, S. 141–143. 599 Glidden, Internment Camps, S. 140; Proctor, Civilians, S. 80; Ellis / Panayi, German Minorities, S. 243–245; Welskopp, Ernüchterung. S. 47 f.; Berg, Wilson, S. 130; Blaschke, ‚DeutschAmerika‘, S. 177; Jarausch, Ashes to Ashes, S. 97 f.; Stibbe, Enemy Aliens and Internment. 600 Torpey, Invention, S. 117.

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1935 umbenannt in Federal Bureau of Investigation, FBI), das dem US-Justizministerium unterstand, überwachte und verhaftete verdächtigte enemy aliens. Dazu wurden – im Gegensatz zu Großbritannien – nicht Polizisten und andere professionelle Kräfte, sondern private Detektive eingestellt. Auch nahm das FBI Bürgerwehren in Dienst, vor allem die American Legion, deren Angehörige oft Mitbürger bespitzelten. Damit sollte die gesellschaftliche Entwicklung nach den Leitbildern der Progressive Era (von den 1890er bis zu den 1920er Jahren), als die beschleunigte Industrialisierung und Urbanisierung mit Reformpolitik, Selbstkontrolle und Gewalt einherging, optimiert werden. Hier findet sich unterhalb der Ablehnung des progressivism durch die amerikanischen Nationalisten eine subkutane Kontinuität.601 Auf dieser Grundlage vollzog sich die Internierung, deren Ausmaß aber zwischen den Ministerien zunächst umstritten war. Während Attorney General Thomas W. Gregory (1861–1933) und Baker für ein zurückhaltendes Vorgehen plädierten, forderten Außenminister Robert Lansing und Finanzminister William G. McAdoo (1861–1943) eine umfassende Verhaftungsaktion. Letztlich setzten sich die Befürworter einer vorsichtigen Politik durch, so dass lediglich 8.500 enemy aliens festgenommen und 6.300 von ihnen interniert wurden. Sie verbrachten die ersten Tage nach ihrer Verhaftung durch die Polizei in Gefängnissen des Justizministeriums, bevor sie das Kriegsministerium übernahm und in Lager brachte, die Soldaten bewachten.602 Obwohl im April 1917 in Deutschland zunächst nur 16 der insgesamt 1.200 Amerikaner, die zu dieser Zeit im Kaiserreich lebten, festgesetzt wurden, trieb die US-Regierung die Internierung „gefährlicher“ Ausländer voran. Bereits am 30. Juni 1917 waren 295 Ausländer festgenommen worden. Besonders der Espionage Act (Juni 1917) führte zur Verhaftung weiterer enemy aliens. Das Gesetz sah harte Sanktionen (Geldstrafen von bis zu 10.000 Dollar und eine maximal zwanzigjährige Haft) bei Wehrdienstverweigerung, Hochverrat und Beteiligung an Aufständen vor. Insgesamt wurden in den USA rund 6.000 Feindstaatenangehörige interniert. Allein das Justizministerium stellte rund 4.000 Haftbefehle aus. Obgleich von den enemy aliens keine Gefahr ausging, instrumentalisierten und steigerten politische und gesellschaftliche Akteure die weit verbreitete Fremdenfeindlichkeit und die Sorge über die öffentliche Sicherheit, um die Festnahme von Feindstaatenangehörigen zu rechtfertigen. Besonders die Verhaftung der Deutschen als „innere Feinde“ festigte in den USA darüber hinaus 601 Stieglitz, Undercover, S. 129 f., 139; Bierkoch, Alldeutsche, S. 221. 602 Angaben nach: Nagler, Internment, S. 184; Ellis / Panayi, German Minorities, S. 242. Vgl. auch Krammer, Process, S. 14 f.; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 186; Vance, Civilian Internees – World War I, S. 50.

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1917/18 die emotionale Kriegsgemeinschaft. In den Lagern wurden die Zivilinternierten deshalb oft schlechter als die Kriegsgefangenen behandelt. Alles in allem internierten die Behörden in den USA aber maximal acht Prozent der männlichen Feindstaatenangehörigen im wehrfähigen Alter, die meisten von ihnen vorübergehend.603 Von den insgesamt vier Camps betrieb das Kriegsministerium drei. Enemy aliens, die westlich des Mississippi wohnten, wurden nach Fort Douglas (Utah) gebracht, das auch andere „unerwünschte“ Personen aufnahm. Demgegenüber mussten Feindstaatenangehörige, die in den östlichen Staaten der USA lebten, die letzten Kriegsmonate in Fort Oglethorpe (Georgia) verbringen. In diesen beiden Lagern lebten insgesamt 2.300 Feindstaatenangehörige. Ein weiteres Camp in Hot Springs, North Carolina, unterstand bis Juli 1917 dem Arbeitsministerium, bevor es ebenfalls vom Department of War übernommen wurde. Im vierten Lager, das in der Nähe von Fort McPherson, Georgia, gelegen war, saßen Marineoffiziere und Seeleute von Schiffen ein, deren Auslaufen aus amerikanischen Häfen die britische Marine seit 1914 blockiert hatte. Eine Sondergruppe bildeten auch die 1.356 Offiziere und Matrosen, welche die US-Marine auf aufgebrachten deutschen Versorgungsschiffen gefangen genommen hatte. Außerdem wurden 2.331 Deutsche, Österreicher und Ungarn interniert, die als gefährliche Feindstaatenausländer eingestuft worden waren. Nicht zuletzt ließ die Regierung noch 1918/19 Frauen, die aufgrund des Gesetzes vom Februar 1918 registriert und verhaftet worden waren, in Internierungslager einliefern. Vergeblich protestierten die Betroffenen und Friedensaktivistinnen wie Jane Addams gegen diese Maßnahme.604 Die Festsetzung der zivilen Feindstaatenangehörigen wurde im Allgemeinen mit der Notwendigkeit begründet, die „nationale Sicherheit“ der USA vor den verdächtigen deutschstämmigen Amerikanern zu schützen. In den Lagern kam es aber wiederholt zu Übergriffen von Wachsoldaten gegen einzelne Insassen, besonders in Fort Oglethorpe. Zudem wurden die Internierten nach dem Waffenstillstand zu Geiseln. Die amerikanische Regierung behielt sie bis zur Unterzeichnung des Versailler Vertrages durch die deutsche Delegation als Faustpfand. Noch im Juli 1919 waren allein in Fort Oglethorpe weiterhin 1.461 und im April 1920 (als das Lager aufgelöst wurde) 300 enemy aliens interniert. Erst an603 Berg, Wilson, S. 132; Stibbe, Enemy Aliens and Internment; Speed, Prisoners, S. 165 f.; Pöppinghege, Lager, S. 56; Glidden, Internment Camps, S. 140; Luff, Operations, S. 736. Angaben nach: Nicole M. Phelps, „A Status Which Does not Exist Anymore“: Austrian and Hungarian Enemy Aliens in the United States, 1917–1921, in: Günter Bischof / Fritz Plasser / Peter Berger (Hg.), From Empire to Republic: Post-World War I Austria, New Orleans 2010, S. 90– 109, hier: S. 95; Speed, Prisoners, S. 160. 604 Nagler, Internment, S. 185, 196 f.

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schließend wurden die letzten gefangenen Zivilisten 1920 entlassen. Von den 791 Insassen des Lagers Fort Douglas entließ die Regierung 412, während 271 repatriiert wurden.605 Eine klare Einordnung der internierten Bürger Österreich-Ungarns, die erst nach der Kriegserklärung der USA an die Doppelmonarchie vom 7. Dezember 1917 erfasst und insgesamt relativ milde behandelt wurden, erwies sich als schwierig. Das Justizministerium war oft nicht imstande, Anträge vor allem von Tschechen und Polen, die sich nicht als Staatsangehörige der Doppelmonarchie betrachteten, sachgerecht zu prüfen und zu entscheiden. Überdies reduzierte der Trading with the Enemy Act den Handel mit Deutschland und die gesellschaftlichen Beziehungen zu den Deutschamerikanern, die in den USA nunmehr weithin als enemy within galten. Das Gesamtvermögen des einbehaltenen Vermögens internierter Feindstaatenausländer belief sich auf nahezu sechs Milliarden Dollar.606

Wirtschaftskrieg: die Beschlagnahme des Eigentums von Feindstaatenangehörigen und die Verdrängung ihrer Unternehmen Obgleich der Oberste Gerichtshof der USA 1867 und die Haager Konferenz 1899 die Beschlagnahme fremden Eigentums in Kriegen für illegal erklärt hatten, entschied sich die Wilson-Administration für eine restriktivere Politik gegenüber dem Besitz von Feindstaatenangehörigen als die deutsche Reichsleitung und die Regierungen der verbündeten Entente-Staaten. Dem Trading with the Enemy Act, den der Kongress am 6. Oktober 1917 verabschiedete, lag zunächst zwar lediglich die Absicht zu Grunde, den Handel mit gegnerischen Ländern zu unterbinden. Allerdings sollte das Gesetz zunehmend auch Ressourcen für die Kriegführung der USA erschließen. Letztlich zielte der Act generell auf die Beseitigung des deutschen Einflusses auf die amerikanische Wirtschaft. Justizminister 605 Angaben nach: Nagler, Internment, S. 189, 191, 194. Vgl. auch Glidden, Internment Camps, S. 137; Luff, Operations, S. 736; Krammer, Die internierten Deutschen, S. 97; Pöppinghege, Lager, S. 56, 117. 606 Jörg Nagler, Nationale Minoritäten im Krieg. „Feindliche Ausländer“ und die amerikanische Heimatfront während des Ersten Weltkriegs, Hamburg 2000, S. 641. Sogar von sechs bis acht Milliarden Dollar wird ausgegangen in: Rex M. Potterf, Treatment of Alien Property in War Time and After by the United States, in: Indiana Law Journal 2 (1927), Nr. 6, S. 453–472, hier: S. 465. Hierzu und zum Folgenden auch: Jörg Nagler, Victims of the Home Front: Enemy Aliens in the United States during the First World War, in: Panayi (Hg.), Minorities, S. 191–215; Frank Trommler, The Lusitania Effect: America’s Mobilization against Germany in World War I, in: German Studies Review 32 (2009), S. 241–266; Phelps, „A Status Which Does not Exist Anymore“, S. 91, 96, 99; Hutchinson, Champions, S. 273.

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(Attorney General) Alexander Mitchell Palmer (1872–1936) bekannte sich noch nach dem Ersten Weltkrieg offen zu diesem Vorhaben und rechtfertigte die harte Politik mit dem Vorwurf, dass Deutschland Unternehmen eigener Staatsangehörige in den Vereinigten Staaten als Zentren der Propaganda und auch für andere Kriegszwecke nutzen würden.607 Für die Beschlagnahme und Verwaltung des konfiszierten Eigentums wurde ein staatlicher Treuhänder (der Alien Property Custodian) eingesetzt, dessen Kompetenzen drei ergänzende Gesetze zum Trading with the Enemy Act noch erweiterten. 1918 konnte er nahezu das gesamte beschlagnahmte Eigentum verkaufen, Anteile in Unternehmen erwerben und auch Patente beschlagnahmen. So wurden allein in der US-amerikanischen Chemieindustrie 4.500 deutsche Patente konfisziert und für 225.000 Dollar verkauft. Aus dem beschlagnahmten Vermögen ging die Chemical Foundation hervor. Für die Beschlagnahme und Verwaltung des erfassten Eigentums gebot der Alien Property Custodian über eine umfassende Verwaltung. Allein in der Bundeshauptstadt Washington waren über 500 Beschäftigte mit dieser Aufgabe befasst. Erst im Mai 1921 wurde letztmalig Eigentum nach dem Trading with the Enemy Act beschlagnahmt. Alles in allem war die Enteignungspolitik gegenüber Feindstaatenangehörigen in den USA überaus einschneidend.608 Besonders hart wurden deutsche Brauereibesitzer getroffen. Nachdem Bewegungen wie die 1873/74 gegründete Women’s Christian Temperance Union und die 1893 gebildete Anti-Saloon League schon im späten 19. Jahrhundert den Alkoholgenuss kriminalisiert und ihn Einwanderern ebenso zugeschrieben hatten wie Schwarzen, erhoben sie den Konsum alkoholischer Getränke im Ersten Weltkrieg zu einer Frage der „nationalen Sicherheit“. Nach dem Kriegseintritt der USA gingen sie besonders gegen deutsche Brauereien vor. Diese hatten dank neuer Kühltechniken und Bewirtungsformen in geräumigen Bierhallen, in denen auch Familien willkommen waren, das englische und irische Ale auf dem Markt zusehends zurückgedrängt. Fremdenfeindliche Ressentiments richteten sich schon ab 1914, besonders aber 1917/18 gegen den Inhaber des marktbeherrschenden Unternehmens Anheuser-Busch, Adolphus Busch (1839–1913), der von Kaiser Wilhelm II. ausgezeichnet worden war. Zudem hatten zwei seiner Töchter deutsche Offiziere geheiratet. Nach Auffassung der Temperenzler zersetzten die deutschen Brauer die Wehrkraft der USA. Erfolgreich brandmarkte der Verband den Alkoholkonsum als Illoyalität gegenüber den USA. Auch der 607 Potterf, Treatment, S. 453, 456, 458–461. 608 David C. Hammack / Helmut K. Anheier, A Versatile Institution. The Changing Ideals and Realities of Philanthropic Foundations, Washington 2013, S. 51 f. Angaben nach: ebd., S. 462, 464, 468.

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Bruder des Nahrungsmittelindustriellen Will Keith Kellogg (1860–1951), der Lebensreformer John Harvey Kellogg (1852–1943), deklarierte den Kampf gegen den Alkohol im Ersten Weltkrieg zur nationalen Pflicht. Die Propaganda beeinflusste auch die Politik der Wilson-Administration, die nach dem Lever Food and Fuel Control Act vom August 1917 die Lebensmittelversorgung der Amerikaner kontrollierte. In diesem Rahmen schränkte die Regierung die Verwendung von Gerste durch Brauereien ein.609 Letztlich verlieh der Kampf gegen die deutschen Brauer den Anhängern der Prohibition enorm Auftrieb. Nachdem der Kongress 1917 den 18. Verfassungszusatz, der die Herstellung, den Transport und Verkauf berauschender Getränke verbot, gebilligt hatte, verabschiedete er im Oktober 1919 den Volstead Act. Er enthielt detaillierte Ausführungsbestimmungen zum Alkoholverbot. Die Prohibition, die auch vom Ku-Klux-Klan aufgenommen und nach 1918 besonders gegen Sozialisten und Kommunisten gerichtet wurde, führte schließlich zum Zusammenbruch vieler Brauereien. Nur einige hundert Unternehmen überlebten das Alkoholverbot, das in Großstädten den Aufstieg organisierter Verbrecherbanden förderte und letztlich das Vertrauen in den amerikanischen Rechtsstaat unterhöhlte. Im Februar 1933 hob der Kongress die Prohibition deshalb auf. Die Feindbilder, die im Zuge der Kampagne verbreitet worden waren, wirkten aber weiter. Die wirtschaftliche Verdrängung deutscher Firmen verstärkte letztlich den ökonomischen Einfluss amerikanischer Unternehmen in Lateinamerika.

Der Sicherheitsapparat und die Suche nach Spionen Mit der Internierung und den wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen ging die Herausbildung eines Sicherheitsstaates einher, der sich im Ersten Weltkrieg in der Expansion von Institutionen wie der Military Intelligence Division (MID) im Kriegsministerium, des BOI, des Marinegeheimdienstes und der Kontrolle des Briefverkehrs durch das Postministerium widerspiegelte. Die Mitarbeiter dieser Einrichtungen suchten überall nach „inneren Feinden“ und unterdrückten unter dem Vorwand, Spionage und Subversion abzuwehren, die amerikanische Arbeiterbewegung – vor allem radikale Gruppen, mit denen sich der Sozialistenführer Eugene Debs (1855–1926) im Gefängnis öffentlich solidarisierte – und schlugen Streiks nieder. Die Aufstände nahmen Anfang 1918 zu, als die Unzu-

609 Hierzu und zum Folgenden: Welskopp, Ernüchterung, bes. S. 33–48, 405, 410.

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friedenheit in der Arbeiterschaft wuchs, besonders wegen der wachsenden Inflation, die zu einem Rückgang der Reallöhne führte.610 Nach dem Kriegseintritt der USA suchte vor allem das BOI, das beim Justizministerium ressortierte, nach Spionen. Schon von Mitte 1916 bis Ende März 1917 hatte die Polizeibehörde 11.770 Ausländer erfasst, die verdächtigt wurden, gegen Neutralitätsgesetze verstoßen zu haben. Darüber hinaus wurden fünf Millionen Deutsche und rund vier Millionen Bürger Österreich-Ungarns registriert, die in den Vereinigten Staaten lebten. Die Berichte des Bureau of Investigation zu dieser Gruppe, die pauschal verdächtigt wurde, umfassten schließlich 400.000 Seiten. Das BOI schützte aber auch kriegswichtige Rüstungsbetriebe und sicherte wichtige Versorgungseinrichtungen wie Wasserwerke. Diesem Zweck sollte die Überwachung von Organisationen wie der Industrial Workers of the World (IWW) dienen, die 1905 als internationaler Gewerkschaftsverband in Chicago gegründet worden war. Das Justizministerium infiltrierte die Organisation mit Spionen. Damit gelang es der Regierung letztlich, gemäßigte Arbeiter, welche die Kriegsanstrengungen der Vereinigten Staaten unterstützten, gegenüber radikaleren Aktivisten so nachhaltig zu unterstützen, dass Letztere an den Rand gedrängt wurden. Die Übergriffe gegen die IWW zerstörten den Verband schließlich. Allein in Chicago wurden 166 Mitglieder angeklagt, um Arbeiter von einer Radikalisierung abzuhalten.611 Auch die US-Armee wurde im Ersten Weltkrieg zur Überwachung und Repression „innerer Feinde“ eingesetzt. Dazu trug vor allem die im Mai 1917 im Kriegsministerium gegründete MID bei, die Oberst Ralph Van Deman (1865– 1952) leitete. Er hatte schon im Krieg gegen Spanien (1898) militärisch wichtige Informationen über den Gegner gesammelt und anschließend auf den Philippinen eine Organisation für Gegenspionage etabliert, die von Spitzeln Informationen erhielt. Nachdem die Armee am 20. April 1914 in Kohlebergwerken in Colorado auf protestierende Arbeiter geschossen und dabei auch Frauen und Kinder getötet hatte (Ludlow Massacre), setzte sie die amerikanische Regierung nach dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg umfassend für den Schutz von Fabriken ein. Damit ging eine erhebliche innenpolitische Radikalisierung einher. So forderten republikanische Senatoren wie Henry Cabot Lodge (1850–1924), demonstrierende Arbeiter von Standgerichten verurteilen zu lassen, auch zu Exekutionen. Vor diesem Hintergrund erweiterte die MID ihr Netz von Spitzeln auf im-

610 Joan M. Jensen, Army Surveillance in America, 1775–1980, New Haven 1991, S. 142, 155– 157, 160; Nagler, Antikommunismus, S. 209. 611 Ellis / Panayi, German Minorities, S. 242 f.; Jensen, Army Surveillance, S. 143–145, 159; Hutchinson, Champions, S. 273; Deflem, Policing World Society, S. 112 f.; Curt Gentry, J. Edgar Hoover. The Man and the Secrets, New York 1991, S. 70.

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mer mehr Gruppen von Zivilisten. Über Staatsangehörige von „Mittelmächten“ und eingebürgerten Deutschen hinaus wurde gegen Pazifisten, Sozialisten, Dissidenten und radikale Arbeiter ermittelt. Das MID dehnte 1917/18 fortlaufend den Kreis der Verdächtigten aus, denn dem enemy at home wurde die Absicht unterstellt, die Kriegsanstrengungen der Vereinigten Staaten zu sabotieren. Die Arbeit der MID gewann dabei eine enorme Eigendynamik und wurde letztlich selbstreferentiell. Die gebetsmühlenartig beschworene Gefährlichkeit der „inneren Feinde“ sollte letztlich den Ausbau der Abteilung rechtfertigen. Dies gelang: Im Herbst 1918 war aus einer zunächst kleinen, vom Kriegsministerium beaufsichtigten Institution zur Spionageabwehr ein einflussreicher Geheimdienst geworden, der unter der Führung Van Demans 1.000 Zivilisten zur Verwaltung der wachsenden Akten beschäftigte. Er band auch Hunderte Armeeoffiziere, denen die Aufsicht über die Operationen oblag. Besonders in Rüstungsbetrieben unterstützten das Justiz- und Kriegsministerium die Unternehmer gegen Arbeiter, die als illoyale und subversive Kräfte galten. Dazu richtete die MID im Department of War eine Abteilung zum Schutz von Produktionsanlagen ein, die Plant Protection Section. Sie rekrutierte in der Arbeiterschaft und in den Gewerkschaften Freiwillige, die den Krieg uneingeschränkt unterstützten. Darüber hinaus wurden bezahlte Spione gezielt in die Unternehmen eingeschleust. Alle Spitzel sollten nicht nur das Kriegsministerium vor Streiks warnen, sondern auch Arbeitsniederlegungen schon im Keim ersticken.612

Gesellschaftliche Mobilisierung und Denunziationen: Bürgerwehren und nationalistische Organisationen An der Denunziation und Verfolgung von Deutschen, aber auch der anderen Gruppen, die zu den potentiellen Feinden gerechnet wurden, wirkten auch nichtstaatliche Organisationen kräftig mit. Bürgerwehren wie die American Defense Society, die National Civic Federation, die National Security League und die Loyalty League kooperierten vielerorts mit Vertretern staatlicher Behörden und Unternehmern. Aus diesen Verbänden ragte die American Protective League (APL) heraus, die 1917 von einem reichen Werbeunternehmer in Chicago gegründet wurde. Alle Organisationen wirkten auch bei der Durchsetzung von restriktiven Gesetzen mit, die von der Regierung erlassen worden waren. Gregory, der im Ersten Weltkrieg das Justizministerium leitete, ermunterte besonders die im März 1917 mit seiner Zustimmung gegründete APL zur Kontrolle von „Feinden“. Der militante Verband mobilisierte schon unmittelbar nach seiner Grün612 Jensen, Army Surveillance, S. 141, 147–156, 159–163, 166, 169, 177.

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dung 100.000, Ende 1917 aber bereits 250.000 freiwillige Überwacher. Sie übermittelten dem Bureau of Investigation Berichte, die oft Fremde denunzierten. Damit beanspruchte die APL im Rückgriff auf den Fortschrittsoptimismus der Progressive Era, zur gesellschaftlichen Formierung beizutragen. Auch die Freiwilligen der Home Guard kontrollierten „innere Feinde“ und überwachten Einrichtungen, die als gefährdet galten. In den Bundesstaaten nahmen besonders die Councils of Defence, in denen Vertreter der Verwaltung mit den patriotischen gesellschaftlichen Organisationen zusammenarbeiteten, eine wichtige Vermittlungsfunktion ein. Das Kriegsministerium war über die MID in die Aktivitäten der Organisation einbezogen, die 1917/18 zu einem mächtigen Dachverband „patriotischer“ Gruppen wurde. Aber auch die Army League, die Navy League, die Pittsburgh Movement und die National Security League waren wichtige „Angstunternehmer“, die den populären Bürgerprotest gegen Feindstaatenangehörige, Einwanderer und alle „Fremden“ trugen und nährten.613 Die Kooperation staatlicher Institutionen und sozialer Verbände sollte die Kriegsmobilisierung vorantreiben, diese aber auch kanalisieren und kontrollieren. So erreichten das Justizministerium Tausende von Schreiben und Telegrammen, in denen Amerikaner enemy aliens denunzierten. Diese Anzeigen mussten ausgewertet werden. Die „Aufforderungskultur“, die sich 1917/18 in den Vereinigten Staaten herausbildete, verlieh der Eigendynamik der Gewalt enormen Auftrieb, zumal radikal nationalistische Organisationen die Politik der Regierung gegenüber den „inneren Feinden“ fortwährend als halbherzig denunzierten. Beschwörende Hinweise auf die Sicherheit der Nation im Ersten Weltkrieg wurden dabei zur Begleichung alter Rechnungen und zur Verfolgung abweichender Gruppen – besonders der politischen Linken – genutzt. Letztlich konnte die Regierung die Selbstmobilisierung nur begrenzt in Dienst nehmen und kontrollieren.614 So sollte die Kritik der staatlichen Politik eine eigenständige Verfolgung von Feindstaatenangehörigen, Selbstjustiz und Morde rechtfertigen. Lynchmorde, die im Allgemeinen öffentlich inszeniert wurden, kosteten in den USA im Ersten Weltkrieg allein rund 70 Personen, die der Freundschaft mit Deutschland verdächtigt wurden, das Leben. So ermordeten radikalisierte Amerikaner am 5. April 1918 in Collinsville (Illinois) den deutschen Einwanderer Robert Prager (geb. 1888) wegen „illoyaler Bemerkungen“. Ein Schwurgericht sprach die Täter 613 Bernd Greiner, Made in U. S. A. Über Politische Ängste und Paranoia, in: Mittelweg 36, 22. Jg. (2015), Nr. 1–2, S. 137–155, hier: S. 145 f., 151; ders., Angstunternehmer, S. 30 f.; Ellis / Panayi, German Minorities, S. 243; Stieglitz, Undercover, S. 134 f., 139, 141. Vgl. auch Jensen, Army Surveillance, S. 164 f., 171, 174; Nagler, Control, S. 181 f.; Bierkoch, Alldeutsche, S. 219–221. Angaben nach: Nagler, Antikommunismus, S. 205; Gentry, Hoover, S. 71. 614 Stieglitz, Undercover, S. 143, 145, 155; Gentry, Hoover, S. 72.

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trotz klarer Beweise frei. Alles in allem beschädigten die Ausschreitungen in den USA hier nachhaltig das Fundament der Zivilgesellschaft, vor allem die deutschen Siedlungsgemeinschaften. Als Reaktion bildeten sich hier Patronageund Schutzverhältnisse zwischen Eliten und einzelnen Bevölkerungsgruppen heraus. Darüber hinaus mussten die Identitäten unter dem Druck der gesellschaftlichen Verdrängung und politischen Repression neu bestimmt und ausgehandelt werden. Der im Mai 1918 erlassene Sedition Act erhob Illoyalität sogar zu einem Verbrechen, das mit einer Gefängnisstrafe von bis zu zwanzig Jahren geahndet werden konnte.615 Alles in allem ist die fremdenfeindliche Gesetzgebung maßgeblich auf die populistische Agitation fremdenfeindlicher Organisationen zurückzuführen, die dem amerikanischen Nativismus verhaftet waren, die Sorge um die national security gezielt steigerten und z. T. sogar die alteingesessenen amerikanischen Eliten des „Verrats“ bezichtigten. Die Regierung – wiederholt auch Präsident Wilson – nährte ihrerseits das Misstrauen gegenüber Immigranten und Fremden, besonders den Deutschen. Staatliche Institutionen und gesellschaftliche Organisationen wirkten bei der Unterdrückung von enemy aliens trotz gelegentlicher Konflikte letztlich eng zusammen. Diese Kooperation prägte auch die Durchsetzung des ebenfalls 1918 verabschiedeten Alien Deportation Act, der die Ausweisung ausländischer Staatsangehöriger legalisierte. Das Misstrauen gegen Fremde sollte die politische Diskussion in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg wiederholt belasten.616

Humanitäres und pazifistisches Engagement zugunsten der Feindstaatenangehörigen: Ausmaß und Grenzen Internationale und gesellschaftliche Organisationen, die sich für Einwanderer und enemy aliens einsetzten, waren 1917/18 fast einflusslos. Immerhin wies das National Civil Liberties Bureau, das 1917 zum Schutz von Wehrdienstverweigern gegründet worden war und den Krieg ablehnte, auf eine Vielzahl von Übergriffen hin. Die Bürgerrechtsorganisation, aus der 1920 die Civil Liberties Union hervorgehen sollte, registrierte 280 Vorfälle, bei denen „feindliche Ausländer“ und Deutschamerikaner Opfer illegaler Übergriffe geworden waren. Auch die IWW, 615 Jennifer Keene, A ‚Brutalizing‘ War? The USA after the First World War, in: Journal of Contemporary History 50 (2015), S. 78–99, hier: S. 78–89 (Angabe zur Zahl der Ermordeten: 83); Luff, Operations, S. 736; Stieglitz, Undercover, S. 157 f.; Berg, Wilson, S. 130; Ellis / Panayi, German Minorities, S. 244; Bierkoch, Alldeutsche, S. 221; Heine, Schulalltag, S. 7 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 38. 616 Nagler, Antikommunismus, S. 205; Bierkoch, Alldeutsche, S. 227; Gentry, Hoover, S. 70.

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Addams und Vertreter der afroamerikanischen Emanzipationsbewegung vertraten eine pazifistische Politik. Zu den Kriegsgegnern gehörten zudem einzelne republikanische Politiker wie Robert La Follette (1855–1925), der Wisconsin im Senat vertrat.617 Dagegen war das Amerikanische Rote Kreuz bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eng auf die Ziele der US-Regierung und des amerikanischen Militärs fixiert. Außerdem hingen die Aktivitäten der Organisation von den Spenden großer Unternehmen ab. Ab 1914 radikalisierten besonders Befürworter eines Kriegseintrittes im American Red Cross auch den Nationalismus. Allerdings setzten sie sich bis 1917 nicht durch. Vielmehr schickte das Amerikanische Rote Kreuz mit Unterstützung von Stiftungen (so der Rockefeller Foundation) internierten Zivilisten und Kriegsgefangenen in Europa Pakete mit Lebensmitteln, Kleidung und anderen dringend benötigten Gütern, um das Überleben von Feindstaatenangehörigen in Lagern zu sichern. Jedoch mussten die Lieferungen und der Betrieb der Feldlazarette, die ebenfalls zur Verfügung gestellt wurden, wegen Finanzmangels und politischer Blockaden wiederholt eingestellt werden, so im Frühjahr 1915 in Sibirien.618 Nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg spannte die Regierung das Rote Kreuz schließlich offen für die Agitation gegen „Fremde“ und zivile Feindstaatenangehörige ein. Unterstützt von Verbänden wie dem Women’s Auxiliary Committee mobilisierte die nationale Rotkreuzgesellschaft zahlreiche Amerikaner, die beispielsweise gedrängt wurden, Kriegsanleihen (Liberty Bonds) zu zeichnen. Damit vermittelte sie ihnen die Illusion, zumindest an der „inneren Front“ an den Kämpfen teilzunehmen und damit zum Sieg der USA beizutragen. So sammelten viele freiwillige Helfer Spenden für das American Red Cross. Sie bezichtigten Amerikaner, die sich der offenen Unterstützung verweigerten, der Illoyalität gegenüber der Nation und Regierung. Auch in dieser Phase waren nationale Integration und Ausschluss unentwirrbar miteinander verbunden. Die US-Gesellschaft des Roten Kreuzes verband humanitäres Engagement mit dem Einsatz für die Nation. So betonte der Präsident der amerikanischen Sektion, Henry P. Davidson (1867–1922), noch im Juli 1918 in einer Ansprache vor japanischen Vertretern des Roten Kreuzes das gemeinsame Ethos: „We are in the war for purely humanitarian aims, and you have come purely as a humanitarian commission.“619

617 Stieglitz, Undercover, S. 131 f.; Nagler, Antikommunismus, S. 207. 618 FRUS, 1915, Supplement, S. 1022–1025, 1032, 1041–1050. 619 New York Times, 21. Juli 2018. Zitat: Mikita, Alchemy, S. 118. Vgl. auch Hutchinson, Champions, S. 224, 235, 256 f., 268, 273–275; Stieglitz, Undercover, S. 141, 147.

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Die Verfolgung von US-Bürgern als „innere Feinde“ Wie bereits erwähnt, beschränkte sich die Repression keineswegs auf (eingebürgerte) Deutsche, Österreicher und Ungarn. Vielmehr war die Fremdenfeindlichkeit eingebettet in die restriktiven Jim-Crow-Gesetze, welche die Afroamerikaner auch nach dem Bürgerkrieg anhaltend und einschneidend benachteiligten. Deshalb können die Maßnahmen gegen die deutsche Minderheit nicht losgelöst von dem Rassismus interpretiert werden, der sich gegen alle Einwanderer richtete. Diese radikale Fremdenfeindlichkeit wurde von Eugenikern wie Madison Grant (1865–1937) verbreitet, dessen Buch The Passing of the Great Race (1916) die Forderung begründen sollte, die Immigration in die USA drastisch einzuschränken. Demgegenüber fanden afroamerikanische Aktivisten, die – wie W. E. D. Du Bois (1868–1963) – auch im Krieg fortbestehende Diskriminierungen und Schikanen kritisierten, kaum Gehör. Präsident Wilson kommentierte sogar die Spannungen nicht, die sich von 1917 bis 1919 in Rassenunruhen und einer wachsenden Zahl von Lynchmorden niederschlagen sollten. So wurden im Juli 1917 in East St. Louis bei Ausschreitungen mindestens hundert Afroamerikaner ermordet. Im Rahmen der Politik umfassender Bevölkerungskontrolle, mit der die Vorherrschaft der Einheimischen (nativism) durchgesetzt werden sollte, verabschiedete der Kongress am 5. Februar 1917 ein Gesetz, das die Behörden ermächtigte, über die schon zuvor ausgeschlossenen Gruppen hinaus weitere „unerwünschte“ Einwanderer an der Grenze abzulehnen oder Immigranten, die sich schon im Land befanden, zwangsweise auszubürgern. Dafür wurden erstmals auch finanzielle Mittel bereitgestellt. Zudem sollten neue technische Instrumente wie der Lügendetektor genutzt werden, um deutsche Spione zu überführen.620 Die destruktive Dynamik der Verschwörungsängste richtete sich bald gegen alle amerikanischen Kriegsgegner und andere „innere“ Feinde, die der Sicherheitsapparat und die Regierung als unzuverlässig brandmarkten. Dazu zählten US-Bürger, die den Krieg ablehnten, den Militärdienst ablehnten und als „Drückeberger“ (slackers) denunziert wurden. Zahlreiche Pazifisten und Sozialisten wurden wegen Illoyalität verurteilt. Präsident Wilson, der während des Krieges eine uneingeschränkte Unterstützung aller Amerikaner und Deutschamerikaner für die Kriegführung verlangte, kommentierte die Kampagne gegen „innere Feinde“ nicht. Er ließ vielmehr Justizminister Gregory gewähren und billigte 620 John Philipp Baesler, From Detection to Surveillance: U. S. Lie Detection Regimes from the Cold War to the War on Terror, in: Behemoth 8 (2015), Nr. 1, S. 46–66, hier: S. 51; Manfred Berg, Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt. Eine Biographie, München 2017, S. 134 f.; Ngai, Career, S. 74; Holmes, A Tolerant Country? S. 105.

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auch die umfassende Zensur, die Postminister Albert Burleson (1863–1937) durchführte. Proteste amerikanischer Dissidenten gegen die Bestimmungen zum Postversand von Publikationen blieben wirkungslos. Die Ängste steigerten Anschläge auf vier amerikanische Unternehmen durch deutsche Agenten, Rassenunruhen und Angriffe auf Afroamerikaner in Georgia im Mai 1918, die angeblich von Deutschen angezettelt worden waren. Die Agitation gegen die „inneren Feinde“ spiegelt nicht zuletzt die Verunsicherung einer multiethnischen Gesellschaft wider, die sich angesichts der zunehmenden Wanderung aus dem Süden in den Norden und Mittleren Westen der USA im Wandel befand. Obwohl Präsident Wilson in den Kriegsjahren überwiegend von dem Ziel sprach, die „internationale Sicherheit“ der USA zu gewährleisten, befürwortete er doch eine umfassende Repressionspolitik gegen Minderheiten.621 Zwar wuchs angesichts der Vielzahl von Denunziationen im Herbst 1918 im Justiz- und Kriegsministerium das Misstrauen gegenüber der MID und den von ihr in Dienst genommenen, aber kaum noch zu kontrollierenden Bürgerwehren. Besonders Kriegsminister Newton D. Baker (1871–1937) bemühte sich Ende 1918, die Aktivitäten des MID und der Verbände einzuschränken, die mit ihr assoziiert waren. Dazu ordnete er Van Deman in das Hauptquartier des amerikanischen Oberbefehlshabers der US-Streitkräfte in Europa, John Pershing (1860– 1948), ab. Auch wurden nach dem Ersten Weltkrieg und angesichts der sich abzeichnenden Annahme des Friedensvertrages von Versailles durch die deutsche Delegation schon im Juni 1919 rund 3.700 Internierte entlassen und nach Deutschland repatriiert. Aber erst im März 1920 informierte eine Kommission der Schweiz die deutsche Regierung, dass die Internierung vollständig aufgehoben worden war. Bemühungen Palmers, Deutschamerikaner, die er für gefährlich hielt, gegen ihren Willen nach Deutschland zu deportieren, setzten sich in den Vereinigten Staaten nicht durch. Im April 1920 schloss das Department of War die verbliebenen Lager. 2.300 Deutsche, die sich im November 1919 noch in Internierungslagern befanden, wurden freigelassen.622 Die Regierung nutzte auch den Espionage Act, um amerikanische Sozialisten (besonders Mitglieder der IWW, Pazifisten und andere Kritiker des Krieges) zum Schweigen zu bringen. Festnahmen erfolgten oft ohne vorherige Untersuchung und auf der Grundlage eines vage formulierten Spionageverdachts. Nach dem Kriegsende ging die Internierung von Deutschen und Österreichern deshalb nahtlos in die verschärfte Repression von Kriegsgegnern wie den Mitgliedern der IWW, Pazifisten und Linke über. So wurde Debs wegen seiner Aufrufe 621 Berg, Wilson, S. 129–135. Dagegen die Interpretation in: Preston, Monsters, S. 486 f. 622 Jensen, Army Surveillance, S. 171 f.; Glidden, Internment Camps, S. 140; Stibbe, Enemy Aliens and Internment. Angabe nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 273.

4.9 Vereinigte Staaten von Amerika 

501

zur Kriegsdienstverweigerung 1918 zu zehn Jahren Haft verurteilt. Das Oberste Gericht der USA bestätigte das Urteil, das Wilson letztlich hinnahm. Noch 1920 weigerte sich der Präsident, den verurteilten Sozialistenführer zu begnadigen. Damit enttäuschte er seine Wählerbasis, die Progressivisten, während er den Forderungen radikaler Nationalisten nachgab. Diesen verlieh der Red Scare, in dem sich von 1919 bis 1921 die Furcht vor dem Sozialismus und Kommunismus mit radikaler Fremdenfeindlichkeit verband, kräftig Auftrieb. Die Agitation gegen die „Hunnen“ mündete in einem radikalen Antikommunismus, der auf einer populistischen Mobilisierung beruhte. Briefbombenanschläge auf Kongressabgeordnete und Staatsanwälte und eine Explosion in der New Yorker Wall Street am 16. September 1920 führte Palmer auf eine bolschewistische Verschwörung zurück. Insgesamt wurden 6.000 verdächtige Ausländer verhaftet. Auch in den darauffolgenden Jahren schürten die Regierung und die staatlichen Institutionen den Antikommunismus und nahmen ihn in Dienst.623

Bilanz und Auswirkungen Die Unterdrückung der zivilen Feindstaatenangehörigen hatte erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung der Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg. Mit der Registrierung und Internierung der enemy aliens war ein nationaler Sicherheitsstaat entstanden, der die weit verbreitete Angst vor Sabotage und Spionage aufnahm. Damit wuchs auch die Fremdenfeindlichkeit, wie die restriktiven Bestimmungen in dem neuen Einwanderungsgesetz zeigten, das der Kongress 1924 verabschiedete. Jedoch hielt die Wilson-Administration noch an einer Einzelfallprüfung fest. Demgegenüber sollte Präsident Franklin D. Roosevelt Anfang 1942 Japaner, die an der Westküste der USA lebten, summarisch deportieren und internieren lassen.624

623 Nagler, Internment, S. 194; ders., Antikommunismus, S. 208–210; Berg, Wilson, S. 132, 213; Speed, Prisoners, S. 159; Welskopp, Ernüchterung, S. 49; Gentry, Hoover, S. 76–79. Angabe nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 274. 624 Ähnliche Argumentation in: Nagler, Internment, S. 198 f.

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4.10 Lateinamerika Überblick: Einwanderung, Identitäten und Loyalitäten Lateinamerika geriet schon 1914, vor allem aber nach dem Kriegseintritt der USA in den Sog des globalen militärischen Konflikts. In Staaten wie Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay und Uruguay lebten viele Einwanderer aus Europa, so dass nach dem Beginn der Kämpfe in der Alten Welt ethnische Konflikte drohten. Die Regierungen dieser Länder blieben deshalb neutral, zumal wirtschaftliche Schäden vermieden werden sollten. 1915 schlossen sich Argentinien, Brasilien und Chile sogar zum „ABC-Pakt“ zusammen, um den Einfluss der Vereinigten Staaten einzudämmen. Die US-Administration konzentrierte sich in dieser Phase vor allem auf die Sicherung des strategisch wichtigen, im August 1914 eröffneten Panamakanals, den Zugriff auf wertvolle Rohstoffe und die Blockade des deutschen Schiffsverkehrs. Aber auch die Kommunikation mit den „Mittelmächten“ sollte unterbrochen werden. Dazu besetzten US-Truppen 1915/ 16 Haiti und die Dominikanische Republik, wo ab 1917 dasselbe Kriegsrecht galt, das auch in den Vereinigten Staaten durchgesetzt worden war. In diesem Jahr gewannen amerikanische Soldaten auch die Kontrolle über Kuba. Darüber hinaus drängte US-Präsident Wilson 1917 die Regierungen der anderen mittelund südamerikanischen Staaten, ihre Neutralität aufzugeben und Deutschland den Krieg zu erklären.625 Damit gerieten auch die deutschen Einwanderer unter Druck, die sich seit dem 17. Jahrhundert vor allem in Brasilien und Argentinien, daneben aber auch in Uruguay und Chile niedergelassen hatten. Im 19. Jahrhundert waren rund 150.000 deutsche Immigranten nach Lateinamerika gekommen, zunächst vor allem in den 1820er Jahren in den Süden Brasiliens, bevor eine zweite Immigrationswelle in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch andere südamerikanische Länder erfasste. Eine weitere Wanderungsbewegung gipfelte 1890, als allein 5.924 Deutsche nach Argentinien, Chile und Brasilien auswanderten. Im 20. Jahrhundert wuchs die Zahl der Immigranten aus Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik deutlich, bevor die Machtübertragung an die deutschen Nationalsozialisten die Flucht vieler Verfolgter auch in die lateinamerikanischen Staaten auslöste.626 625 Stefan Rinke / Karina Kriegesmann, Experiencing Global Violence. Latin America and the United States, facing the Great War, in: Wilfried Russert (Hg.), The Routledge Companion to Inter-American Studies, London 2017, S. 402–414, hier: S. 403, 406; Stefan Rinke / Frederik Schulze, Kleine Geschichte Brasiliens, München 2013, S. 129. 626 Walther L. Bernecker / Thomas Fischer, Deutsche in Lateinamerika, in: Bade (Hg.), Deutsche, S. 197–214, bes. S. 198 f. Angaben nach: Stefan Rinke, The Reconstruction of National

4.10 Lateinamerika 

503

Nach der Gründung des Deutschen Reiches hatten sich die Zugewanderten immer offensiver zu ihrer nationalen Identität bekannt, die den Siedlergemeinschaften Stabilität und Zusammenhalt verlieh. Eine Vielzahl von Vereinen und Verbänden widmete sich der Pflege der deutschen Kultur, die von den Kirchen – besonders protestantischen Geistlichen – und bürgerlichen Eliten getragen wurde. Zudem unterstützte die deutsche Reichsregierung im späten 19. Jahrhundert die aktive Pflege des „Deutschtums“, so durch die Förderung der 734 Auslandsschulen, die 1914 in Lateinamerika gezählt wurden. Davon waren allein 600 in Brasilien gegründet worden. Die „Deutschtumspolitik“, die außer der Reichsregierung Organisationen wie der Alldeutschen Verband und die Deutsche Kolonialgesellschaft vorantrieben, weckte in Lateinamerika jedoch den Argwohn vieler Regierungen und der politischen Eliten, die eine politische Unterwanderung ihrer Länder befürchteten und sogar Verschwörungen vermuteten. Damit unterschätzten sie aber die Unterschiede zwischen den deutschen Siedlern, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Lage und ihres religiösen Bekenntnisses deutlich voneinander abhoben. Auch die regionale Verteilung war ungleich. Weitere Differenzen trennten deutsche Staatsbürger und Eingebürgerte sowie Bewohner von Stadt und Land. Das Bekenntnis zu nationalen (politischen und kulturellen) Identitäten verlieh den deutschen „Kolonien“ dennoch eine Stärke, die vor allen die Regierungen Brasiliens, Argentiniens und Chiles als Sicherheitsgefahr wahrnahmen.627

Lateinamerikanische Staaten im Dilemma: Einflussnahmen Deutschlands und Druck der USA Politische Initiativen der deutschen Reichsregierung waren schon vor dem Ersten Weltkrieg vor allem auf Mexiko gerichtet, wo sich 1910 oppositionelle Gruppen um Francisco Madero (1873–1913) gegen den diktatorisch regierenden Präsidenten Porfirio Díaz (1830–1915) erhoben hatten. Deutschland griff indirekt in den Bürgerkrieg ein und unterstützte Übergriffe mexikanischer Freischärler in den Südstaaten der USA. Damit sollten Gebiete, die Mexiko in der Mitte des 19. Jahrhunderts an die Vereinigten Staaten verloren hatte, wiedergewonnen und der nördliche Nachbarstaat geschwächt werden.628 Identity. German Minorities in Latin America during the First World War, in: Nicola Foote / Michael Goebel (Hg.), Immigration and National Identities in Latin America, Gainesville 2014, S. 160–181, hier: S. 160, 163. 627 Angaben nach: Rinke, Reconstruction, S. 169. Vgl. auch ders. / Schulze, Geschichte, S. 130. 628 Rinke / Kriegesmann, Violence, S. 404–406.

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Kuba und Panama, wo die Kanalzone unter Kriegsrecht gestellt wurde, traten schon am 7. April 1917 (d. h. einen Tag nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten) auf der Seite der alliierten Mächte in den Ersten Weltkrieg ein, bevor Brasilien diesen Schritt am 26. Oktober 1917 vollzog. Dabei warnte Präsident Venceslau Brás (1868–1966) seine Landsleute vor den Deutschen. Daneben schlossen sich noch 1918 Costa Rica, Guatemala, Haiti, Honduras und Nicaragua den USA als Bündnispartner an. Demgegenüber brachen Bolivien, Ecuador, Peru und Uruguay zwar die Beziehungen zum Deutschen Reich ab, verzichteten aber auf eine Kriegserklärung. Neutral blieben Argentinien, Chile, Kolumbien, Venezuela, El Salvador und Mexiko.629 Dennoch versuchten die kriegführenden Mächte wiederholt, die Internierungspolitik auch in diesen Staaten zu beeinflussen. So wandte sich die britische Admiralität gegen Erleichterungen für deutsche Gefangene auf der chilenischen Insel Quiriquina und der argentinischen Enklave Martin Garcia, zumal einige bereits entkommen waren, die nach offizieller Auffassung sogar britische Interessen in Südamerika gefährdeten.630 In diesem historischen Kontext verbreitete Creels Committee on Public Information auch in Süd- und Mittelamerika die Kriegspropaganda der USA. Das Komitee bot einen aktuellen Nachrichtendienst an, beeinflusste die Presse, vertrieb Filme und richtete Bibliotheken mit Literatur ein. In den einzelnen Staaten dämonisierten auch britische Zeitungen wie die Daily Mail den Einfluss Deutschlands und Deutschstämmiger. Zugleich wurden deutschfreundliche Presseorgane oder Veröffentlichungen, welche die Politik der Entente-Mächte kritisierten, auf „schwarze Listen“ gesetzt, um die lateinamerikanischen Regierungen zu drängen, diese Veröffentlichungen zu verbieten. Auch der im Oktober 1917 gegründete War Trade Board bemühte sich, den Handel der deutschen Unternehmen, die auf seinen Listen verzeichnet waren, in Süd- und Mittelamerika zu unterbinden. Damit folgte die Regierung der Vereinigten Staaten dem Vorbild des Trading with the Enemy Act, den das britische Kabinett 1915 erlassen hatte. Darüber hinaus forderte das US-Außenministerium die lateinamerikanischen Regierungen auf, in ihren Ländern deutsches Eigentum zu verstaatlichen oder an Geschäftsleute zu verkaufen, die in den Vereinigten Staaten lebten. Tatsächlich wurde noch 1918 in Haiti der Besitz von Deutschen unter staatliche Verwaltung gestellt. In Honduras und Guatemala gerieten Unternehmen sogar

629 Stefan Rinke, Im Sog der Katastrophe. Lateinamerika und der Erste Weltkrieg, Frankfurt/ M. 2015, S. 146 f.; Frederick C. Luebke, Germans in Brazil. A Comparative History of Cultural Conflict During World War I, Baton Rouge 1987, S. 171; Rinke / Schulze, Geschichte, S. 129. 630 NA, FO 383/244 (Schreiben vom 6. Juni und 6. Dezember 1916).

4.10 Lateinamerika 

505

unter die Aufsicht von Experten der USA. Auch deutsche Schiffe wurden in vielen Häfen beschlagnahmt.631 Darüber hinaus forderte die Wilson-Administration die lateinamerikanischen Regierungen auf, die Aktivitäten aller Deutschen und Deutschstämmigen zu überwachen und einzuschränken. Zwar blieben die deutschen Minderheiten in den meisten Staaten Lateinamerikas unbehelligt, so in Chile. Demgegenüber galten sie vor allem in Panama, Guatemala und Brasilien, deren Regierungen der Politik der USA unterstützten, offiziell als „innere Feinde“. Ihnen wurde oft pauschal Sabotage und Spionage unterstellt. In Panama ließen die Behörden schon Mitte März 1917 (d. h. vor der Kriegserklärung der USA) deutsche Seeleute internieren. Hier hatte der Kongress Wilson Sonderbefugnisse übertragen, und die Regierung unter Ramón Maximiliano Valdés Arce (1867–1918) deportierte verdächtige Deutsche auf die Isla de Taboga, wo sie festgehalten wurden. Die deutsche Reichsleitung reagierte auf diesen Schritt, indem sie panamaische Studierende in Berlin internierte. Auch auf Kuba wurden verdächtigte Deutsche und Deutschstämmige bereits ab April 1917 verhaftet und festgesetzt. Im Juli erklärte Präsident Mario García Menocal (1866–1941), der mit einem Aufstand liberaler Gegner konfrontiert war, sogar den Notstand. Dabei sollte der Hinweis auf eine Spionagegefahr die Aufhebung grundlegender Bürgerrechte rechtfertigen. Die deutsche Minderheit wurde damit offen für innen- und außenpolitische Interessen instrumentalisiert. Dies gilt auch für Hawaii, wo die Military Intelligence Division mit Hilfe der American Protective League nicht nur die rund 300 Deutschen, sondern die gesamte Bevölkerung überwachte.632

Brasilien In Brasilien hatten sich vor allem nationalistische Intellektuelle schon vor dem Kriegseintritt des Landes gegen die deutschstämmigen Siedler im Süden des Landes gewandt, deren Volkskultur und Sprache Argwohn hervorriefen. Diese Gruppe wurde subversiver Aktivitäten bezichtigt. Zunächst erregten Veröffentlichungen in der deutschsprachigen Presse, die zu Meldungen zum Wehrdienst für das Reich aufrief, Sammlungen für deutsche Opfer organisierte und die Kriegführung der „Mittelmächte“ verteidigte, unter Brasilianern erheblichen Argwohn. Besonders eng war die Führung der protestantischen Kirchen an Deutschland gebunden. So verteidigte der Vorsitzende der Evangelischen Syn631 Luebke, Germans, S. 141–143, 197–201; Rinke, Reconstruction, S. 171, 174. 632 Jensen, Army Surveillance, S. 172; Rinke, Sog, S. 138, 146–149, 153, 204 f.; ders. / Kriegesmann, Violence, S. 408. Vgl. auch Spiropoulus, Ausweisung, S. 93.

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ode des Bundesstaates Rio Grande do Sul, Wilhelm Rothermund, in seiner Zeitung „Deutsche Post“ uneingeschränkt die deutsche Kultur. Auch der Pfarrer Erwin Hübbe verband in der südbrasilianischen Stadt Rio Grande seine kirchliche Arbeit mit dem Engagement für Deutschland. Als Vorkämpfer des „Deutschtums“ verstanden sich auch viele Assoziationen, besonders der VDA, das DAI und der 1832 gegründete „Gustav-Adolf-Verein“ (GAV), der zunächst in Mitteleuropa und Russland den protestantischen Glauben gegenüber Katholiken und Orthodoxen festigen sollte, ab 1871 aber den deutschen Nationalismus in der Diaspora in anderen Ländern verbreitete und dabei auch philanthropisch tätig war. Zur Festigung des Nationalprotestantismus in der Diaspora trugen in Südamerika auch Turnvereine bei. Anfang 1916 wurde schließlich der „Germanische Bund für Südamerika“ gebildet, der als Sammelorganisation fungieren sollte, aber dieses Ziel nicht erreichte. Demgegenüber waren katholische Geistliche (so der Erzbischof von Porto Alegre, Dom João Becker, 1870–1946) zurückhaltender, ohne sich freilich klar vom Militarismus und Chauvinismus vieler Siedlervereine zu distanzieren. Zahlreiche Deutsch-Brasilianer feierten auch öffentlich militärische Siege des Kaiserreiches.633 Dagegen protestierten Deutschbrasilianer, die sich zwar mit der deutschen Kultur identifizierten, als brasilianische Staatsbürger aber eine politische Bindung an das Deutsche Reich ablehnten. Sowohl gegen die Deutschen als auch gegen die Deutschbrasilianer agitierten die entschiedenen Anhänger der Entente-Mächte. In Brasilien forderten nationalistische Verbände wie die Liga pelos Alliados die Regierung auf, von ihrer Neutralitätspolitik abzurücken. Dabei wurde der deutschstämmige Außenminister Lauro Müller (1863–1926) heftig angegriffen und sogar als Spion denunziert. Nationalisten wie der Schriftsteller und Politiker Ruy Barbosa (1849–1923) wandten sich scharf gegen Angriffe deutscher U-Boote auf amerikanische und britische Schiffe. Zugleich erhöhte Großbritannien den wirtschaftlichen Druck. In einer „schwarzen Liste“ waren brasilianische Unternehmen verzeichnet, die mit Deutschland handelten und deshalb boykottiert wurden. 1917 verbot die Regierung des Vereinigten Königreiches auch den Kaffeeimport. Nicht zuletzt schädigte die britische Seeblockade Geschäfte mit Deutschland, das vor dem Ersten Weltkrieg zum drittgrößten

633 Luebke, Germans, S. 85–101, 106–111, 113–116. Zu Hübbe als „Deutschtumsakteur“: Frederik Schulze, Von verbrasilianisierten Deutschen und deutschen Brasilianern. „Deutschsein“ in Rio Grande do Sul, Brasilien, 1870–1945, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015), S. 197– 227, hier: S. 202 f. Zum GAV: Kevin Cramer, Philanthropy, Race, and Religion: The Gustav Adolf Association and National Socialism, in: Gregory R. Witkowski / Arnd Bauerkämper (Hg.), German Philanthropy in Transatlantic Perspective. Perceptions, Exchanges and Transfers since the Early Twentieth Century, Cham 2016, S. 57–74, hier: S. 57–60.

4.10 Lateinamerika 

507

Handelspartner Brasiliens aufgerückt war. Allerdings wuchsen die Im- und Exporte aber schon 1918 erneut.634 Presseorgane verstärkten mit Sensationsberichten die fremdenfeindliche Stimmung. Dabei wurde den Deutschbrasilianern Spionage und Sabotage unterstellt. Vor allem in den südlichen Staaten Rio Grande do Sul und Santa Catarina, wo sich die deutsche „Kolonie“ konzentrierte, unterstützten sie nach diesen Gerüchten die Kriegführung des Deutschen Reiches. Die Propagandisten, die eine „deutsche Gefahr“ beschworen, griffen damit nicht nur Behauptungen des französischen Journalisten André Chéradame (1871–1948) auf, sondern sie verwiesen auch auf das 1913 erlassene Staatsangehörigkeitsgesetz des Deutschen Reiches. Der Kampf gegen die „Deutschtümelei“ (germanismo) eskalierte unmittelbar nach der Versenkung des brasilianischen Frachters Paraná vor der nordfranzösischen Küste am 5. April 1917 und dem Abbruch der Beziehungen zum Deutschen Reich sechs Tage später. Seit der Nacht vom 14. auf den 15. April wurden Deutsche und ihre Einrichtungen besonders in Porto Alegre, Santa Maria, Montenegro und Pelotas angegriffen. Allein in Porto Alegre, wo die Ausschreitungen drei Tage anhielten, wurden 300 Gebäude zerstört oder beschädigt. Die Polizei stand den Ausschreitungen aufgewiegelter Bevölkerungsgruppen weitgehend hilflos gegenüber. Vereinzelt nahmen Polizisten die Gewalt auch einfach hin. Erst langsam gewann die Regierung, die sich zögernd der extrem nationalistischen Propaganda widersetzte, die Kontrolle zurück. Die meisten Deutschbrasilianer, die über die Gewalt besonders im Staat Rio Grande do Sul bestürzt waren, betonten ihre Loyalität gegenüber Brasilien und wiesen Vorwürfe zurück, dass sie die Sicherheit des Landes gefährdeten. Vielmehr bemühten sie sich um eine verstärkte Integration oder sogar Assimilation.635 Unmittelbar nach dem Kriegseintritt Brasiliens brachen Ende Oktober und Anfang November 1917 erneut Unruhen aus, die wiederum die Versenkung brasilianischer Schiffe durch deutsche U-Boote ausgelöst hatten. Studierende, Jugendliche und Angehörige der Unterschichten zerstörten vor allem in den Küstenstädten Eigentum von Deutschen. Die Ausschreitungen trafen besonders Zeitungen und Schulen in Städten wie Curitiba, Pelotas, Santos, Petrópolis und Rio de Janeiro. Auch schränkten die Behörden die kulturellen Aktivitäten der deutschstämmigen Minderheit, die besonders im Bundesstaat Santa Catarina schon zuvor restriktiven Gesetzen unterworfen worden war, weiter ein. So durfte in Schulen und Kirchen nur noch Portugiesisch gesprochen werden. Ab Okto634 Rinke / Schulze, Geschichte, S. 126; Schulze, Von verbrasilianisierten Deutschen, S. 204 f.; Luebke, Germans, S. 111–113, 120–123. 635 Ebd., S. 119–146, 175–199 (Angabe: S. 135); Panayi, Minorities, S. 227 f.; Rinke, Reconstruction, S. 174; Blackbourn, Germans, S. 344.

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ber 1917 kontrollierten die Polizeibehörden auch die deutschen Assoziationen noch schärfer als schon zuvor. Schützenvereine mussten aufgelöst werden, nachdem über die südlichen Staaten Brasiliens der Ausnahmezustand verhängt worden war. Auf dieser Grundlage wurden zudem Reichsdeutsche verhaftet und 700 von ihnen in „Konzentrationslagern“ (campos de concentração) interniert. Am 16. November verabschiedete das Parlament schließlich das von der Regierung vorgelegte „Kriegsgesetz“ (lei da guerra), das die Erklärung des Belagerungszustandes und die Kündigung von Verträgen mit Staatsbürgern gegnerischer Staaten erlaubte. Das Gesetz legalisierte auch die Beschlagnahme von Eigentum und Unternehmen. Alle Geschäfte mit den „Mittelmächten“ und Exporte in diese Staaten mussten eingestellt werden. Schon am darauffolgenden Tag verhängte Präsident Brás über Brasilien den Belagerungszustand, und am 28. Juli 1918 wurden auch Banken geschlossen, die Deutschen gehörten.636 Über die Deutschen und Deutschstämmigen hinaus gerieten auch alle Gruppen, denen eine Sympathie für die Minderheit unterstellt wurde, in das Visier der brasilianischen Polizei. Nationalistische Organisationen wie die Liga pelos Alliados, die 1916 gebildete Liga da Defesa Nacional und die ebenfalls neugegründete Liga da Resistencia Nacional agitierten gegen Sozialisten, Anarchisten und Pazifisten, die sie gleichfalls zum „inneren Feind“ zählten. Im Zuge der fremdenfeindlichen Agitation beschuldigten radikale Nationalisten sogar die Regierung des Bundesstaates Rio Grande do Sul der Nachgiebigkeit gegenüber den deutschen Siedlern. Der Präsident des Bundesstaates, Antônio Borges de Medeiros (1863–1961), der eine differenzierende Politik gegenüber der Minderheit vertrat, wurde pauschal des „Germanismus“ beschuldigt.637

Argentinien Ebenso wie in Brasilien erregte in Argentinien vor allem die Versenkung von Schiffen durch deutsche U-Boote die Öffentlichkeit. Zwar widersetzten sich die Anhänger der Neutralität (neutralistas), besonders katholische Pfarrer, Offiziere und andere Konservative, der Agitation gegen Deutschland. Jedoch konnten sie die radikalen Kundgebungen, die sich im April und Juni 1917 gegen die deutschstämmige Minderheit richteten, nicht verhindern. Die Empörung wuchs, nachdem der amerikanische Geheimdienst im September 1917 geheime Depeschen des deutschen diplomatischen Vertreters in Buenos Aires, Karl von Luxburg 636 Rinke, Sog, S. 162–164; ders., Reconstruction, S. 175; Rinke / Kriegesmann, Violence, S. 407; Rinke / Schulze, Geschichte, S. 130 f. 637 Rinke, Sog, S. 163, 171, 185, 200.

4.10 Lateinamerika 

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(1872–1956), entschlüsselt und veröffentlicht hatte. In den Telegrammen war eine Versenkung argentinischer Schiffen ohne Spuren angekündigt und der argentinische Außenminister Honorio Pueyrredón (1876–1945) beleidigt worden. Daraufhin kam es am 13. September zu schweren Ausschreitungen gegen die deutsche Minderheit. Die Nachrichten Luxburgs waren von politischen und gesellschaftlichen Gruppen, die sich für die Entente-Mächte einsetzten, gezielt instrumentalisiert worden, um den Beitrag Argentiniens zur Kriegführung zu dokumentieren.638

Bilanz Radikale Feindbilder und Verschwörungsvorstellungen schränkten in Brasilien, aber ebenso in Panama und Guatemala den Spielraum für eine humanitäre Behandlung von Feindstaatenangehörigen besonders deutlich ein. Obgleich die harten Maßnahmen keineswegs überall durchgesetzt wurden und Deutschstämmige vor allem in abgelegenen Siedlungen auf dem Lande oft unbehelligt blieben, wurde die Minderheit in Brasilien einer harten und präzedenzlosen Repressionspolitik unterworfen. Die deutschen Siedlergemeinschaften und ihre Vereine reagierten auf die Angriffe, indem sie sich ruhig verhielten oder offensiv ihre Loyalität zu dem Land herausstellten, in dem sie lebten. Dazu stärkten sie auch die Beziehungen zu den jeweiligen Eliten. Mit diesen Strategien konnten sie offene Gewalt in vielen lateinamerikanischen Staaten – so in Chile – vermeiden.639 Auf der anderen Seite hatte die Gewalt gegen Deutsche die Fremdenfeindlichkeit in Lateinamerika nachhaltig verstärkt. Sie blieb vor allem in Brasilien virulent, wo sie sich nach dem Waffenstillstand und Friedensschluss besonders gegen Japaner richtete. Auch andere Asiaten wurden hier als „gelbe Gefahr“ gebrandmarkt.640

638 Rinke, Reconstruction, S. 175; ders. / Kriegesmann, Violence, S. 408. Zur Kontroverse um Luxburg: Stefan Rinke, Luxburg Affair, in: 1914–1918 Online. International Encyclopedia of the First World War (https://encyclopedia.1914–1918-online.net/article/luxburg_affair; Zugriff am 2. Dezember 2018). 639 Rinke, Reconstruction, S. 176 f. 640 Rinke / Schulze, Geschichte, S. 131.

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4.11 Japan Rahmenbedingungen und Voraussetzungen Nach der Öffnung des Landes durch den US-Admiral Matthew C. Perry (1794– 1858) 1854 setzte mit der Meiji-Restauration 1868 die Modernisierung Japans ein. Dabei sollten technische Innovationen des Westens übernommen werden, um sich aber dessen Vorherrschaft zu entledigen. Damit ging ein Überlegenheitsanspruch einher, der sich u. a. in der Überhöhung des Kaisers (Tennō) zu einem Gott ausdrückte und sich vor allem gegen die Chinesen richtete. Aber auch die westliche Kolonialherrschaft in Ostasien, das Japans Elite zu seiner Einflusssphäre zählte, wurde abgelehnt. Vielmehr entwickelte sich in Japan das Konzept einer eigenen Zivilisierungsmission, die sich in der Verfassung von 1889 und dem im darauffolgenden Jahr erlassenen Erziehungsedikt niederschlug. Zu der Staatsideologie, die schon der imperialistischen Politik gegenüber China und Russland zu Grunde lag, passte die Übernahme preußischer Strukturen, besonders im Militär und im Beamtenwesen.641 Im frühen 20. Jahrhundert prägten aber noch nicht radikale Feindbilder, sondern humanitäre Grundsätze den Umgang mit gefangenen Soldaten und Zivilisten. Die Internierung in Japan erfolgte nicht in Abstimmung mit den anderen Entente-Mächten, mit denen das Land seit dem 23. August 1914 verbündet war. Vielmehr blieb das ostasiatische Inselreich weitgehend isoliert. So weigerte sich die japanische Regierung, die deutsche Zivilisten grundsätzlich nicht internierte, gefangene Soldaten der „Mittelmächte“ in Abkommen über den Austausch von Kriegsgefangenen einzubeziehen.642 Auch entsprach die Behandlung deutscher und österreichischer Kriegsgefangener und Zivilinternierter im fernöstlichen Inselreich überwiegend humanitären Grundsätzen. Schon nach den Kriegen gegen China (1894/95) und Russland (1904/5) war gefangenen Gegnern in Japan relativ viel Freiraum gelassen worden. Die humane Behandlung hatte der Regierung des Landes auch international erhebliche Anerkennung verschafft. Das Verhalten der japanischen Armee bezeichneten einige Juristen sogar als vorbildlich.643

641 Bernd Martin, Japanische Kriegsverbrechen und Vernichtungspraktiken während des Pazifischen Krieges 1937–1945), in: Dittmar Dahlmann / Gerhard Hirschfeld (Hg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999, S. 133–151, hier: S. 134, 136 f. 642 Murphy, Captivity, S. 169, 178. 643 Checkland, Humanitarianism, S. 71; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 134.

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Seit dem späten 19. Jahrhundert hatte sich das Verhältnis zum Deutschen Kaiserreich, das zusammen mit Russland und Frankreich die territorialen Konzessionen Chinas an Japan nach dem Friedensvertrag vom 17. April 1895 abgelehnt hatte, zusehends verschlechtert. In Deutschland war ab den 1890er Jahren das Vorurteil von der „gelben Gefahr“ verbreitet worden, besonders penetrant vom Kaiser Wilhelm II. selber.644 Dennoch herrschte vor allem in der militärisch-bürokratischen Elite Japans weiterhin eine beträchtliche Sympathie für Deutschland vor, das im ostasiatischen Kaiserreich weithin als Vorbild politischer, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung galt. So bewunderten Feldmarschall Yamagato Aritomo (1838–1922) und Generalmajor Tanaka Giichi (1864–1929) die preußische Militärorganisation. Diese Hochachtung, die sich schon 1878 in der Übernahme des Generalstabes niedergeschlagen hatte, teilten hochrangige Verwaltungsbeamte wie Gatō Shinpei, der u. a. als Gouverneur der Insel Taiwan maßgeblich zur Festigung des japanischen Imperiums beitrug. Diese Vertreter der außerhalb der Verfassung agierenden Oligarchie (genrō) traten noch im Frühsommer 1914 für ein Bündnis mit Deutschland ein, um den Einfluss Großbritanniens in China zurückzudrängen und damit eine Barriere gegen den japanischen Imperialismus in Ostasien zu beseitigen. Auch die Marineführung forderte noch am 4. August zumindest eine Neutralität Japans. Innenpolitisch sollte damit eine Verwestlichung des Landes und eine Liberalisierung des politischen Systems verhindert werden.645

Die Allianz mit Großbritannien, der Kriegseintritt und die Eroberung Jiaozhous Nachdem das Land aber schon 1902 ein Bündnis mit Großbritannien geschlossen hatte, setzte sich im Sommer 1914 der anglophile Außenminister Katō Takaaki (1860–1926) durch, der energisch auf eine Unterstützung des Vereinigten Königreiches drängte, um damit das Mächtegleichgewicht in Ostasien zugunsten Japans zu verschieben und die Interessen des Landes in der Mandschurei zu wahren. Außerdem erwartete er den Schutz der Seeverbindungen im Pazifik. Nicht zuletzt sollte die deutsche Kolonie Tsingtao erobert werden. Der strategisch wichtige Hafen und die Halbinsel Jiaozhou waren 1897 vom Deutschen Kaiserreich unter dem Vorwand annektiert worden, damit die Ermordung deutscher Missionare durch Chinesen zu vergelten. Am 6. März 1898 musste die 644 Iikura Akira, The ‚Yellow Peril‘ and its Influence on Japanese German relations, in: Christian W. Spang / Rolf-Harald Wippich (Hg.), Japanese-German Relations, 1895–1945. War, Diplomacy and Public Opinion, London 2006, S. 80–97, bes. S. 93. 645 Dickinson, War, S. 45, 48, 52, 57, 75, 242 f., 245 f., 251.

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Regierung Chinas die Region für 99 Jahre an das Deutsche Reich verpachten, dessen Siedler dort mit Hilfe der „Chinesenordnung“ herrschten und ein separates Heimatbewusstsein herausbildeten. Da Katō zunächst hoffte, Tsingtao kampflos einzunehmen, übermittelte er der Reichsregierung am 15. August ein relativ großzügiges, auf sieben Tage befristetes Ultimatum, das Deutschland aber zurückwies. Im Anschluss an die Kapitulation der deutschen Kolonie am 7. November 1914 fielen rund 4.700 Deutsche und Staatsangehörige ÖsterreichUngarns in die Hand der siegreichen japanischen Truppen. Frauen und Kindern war die Möglichkeit eingeräumt worden, die Provinz Shandong unbehelligt zu verlassen. Die Männer, darunter Kaufleute, Missionare, Ärzte und Apotheker, die in der „Musterkolonie“ gearbeitet hatten, waren zur Verteidigung des Hafens herangezogen worden.646

Der Umgang mit Feindstaatenangehörigen und Lager Im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten bildete sich in Japan an der Heimatfront aber kein ausgeprägter Hass auf die Kriegsgegner heraus. Auch hatte die offizielle Propaganda die feindlichen „Mittelmächte“ nicht dämonisiert. Die insgesamt 4.500 gefangenen Deutschen und Österreicher wurden daher nach dem schwierigen Schiffstransport, der aber ohne Zwischenfälle blieb, bei der Ankunft im Inselreich nicht angegriffen. Trotz der Kritik von Seiten der verbündeten britischen Regierung unterblieb auch eine Internierung von Zivilisten, nachdem in Deutschland achtzig verhaftete Japaner freigelassen worden waren. Ein neugebildetes „Informationsbüro für Kriegsgefangenenfragen“ im 646 Hinweise verdanke ich Torsten Weber (Deutsches Institut für Japanstudien, Tokio). Angabe nach: Checkland, Humanitarianism, S. 71. Vgl. auch Gerhard Krebs, Von Tsingtau nach Bāndo. Das Schicksal der Gefangenen in einem japanischen Lager des Ersten Weltkrieges, in: Heike Düselder (Hg.), Begegnungen hinter Stacheldraht. Deutsche Kriegsgefangene im Lager Bāndo in Japan, 1917–1920, Lüneburg 2017, S. 10–25, hier: S. 30; Jessica Leffers, Begegnungen hinter Stacheldraht, in: Düselder (Hg.), Begegnungen, S. 26–137, hier: S. 35, 42, 51; Stibbe, Civilian Internment, S. 265; Dickinson, War, S. 34–48, 63, 75. Hierzu und zum Folgenden ebenso: Mahon Murphy, Brücken, Beethoven and Baumkuchen: German and Austro-Hungarian Prisoners of War and the Japanese Home Front, in: Gunda Barth-Scalmani / Joachim Bürgschwentner / Matthias Egger (Hg.), Other Fronts, Other Wars? First World War Studies on the Eve of the Centennial, Leiden 2014, S. 125–145, bes. S. 125 f., 137; Gerhard Krebs, Die etwas andere Kriegsgefangenschaft. Die Kämpfer von Tsingtau in japanischen Lagern 1914–1920, in: Overmans (Hg.), Hand, S. 323–337, hier: S. 323 f.; Dierk Günther, Das Kriegsgefangenenlager Bandō (Teil I/II), in: OAG-Notizen, 12/2000, S. 6–20, hier: S. 6–8. Zum Heimatbewußtsein der Deutschen in Tsingtau: Sabina Groeneveld, Faraway at Home in Qingdao (1897–1914), in: German Studies Review 39 (2016), Nr. 1, S. 65–79, bes. S. 70–73.

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japanischen Heeresministerium sorgte für eine Benachrichtigung der Angehörigen von Soldaten, die sich in den Lagern (und gelegentlich auch außerhalb) unter der Aufsicht von Wachen frei bewegen durften. Zudem hielt Japans Regierung enge Verbindung zu deren Schutzmächten (bis Februar 1917 die USA, anschließend die Schweiz für die Deutschen und Spanien für Staatsangehörige Österreich-Ungarns) und zum IKRK. So inspizierte ein Diplomat der amerikanischen Botschaft in Tokio, Sumner Welles (1892–1961), 1916 zweimal die Camps, um Klagen der Insassen zu untersuchen. Zwar mussten die Gefangenen die Jahre bis 1919/20 hier verbringen. Zunächst waren die sanitären Umstände und Verpflegung unzureichend. Als die provisorischen Camps ab 1915 aufgelöst und durch feste Baracken ersetzt wurden, verbesserten sich die Lebensbedingungen jedoch schrittweise, und den Insassen wurden größere Freiheiten gelassen.647 Insgesamt richtete Japans Regierung zunächst zwölf provisorische Lager ein, die fast ausschließlich Kriegsgefangene aufnahmen, dem Kriegsministerium unterstanden und in den Außenbezirken größerer Städte (wie Kurume und Tokushima) gebaut wurden. Dabei griff sie europäische Vorbilder auf. Erst 1917/ 18 wurden die Gefangenen in sechs besser ausgestatteten Lagern konzentriert. Vor allem in Bandō (das 1917 auf der Insel Shikoku eingerichtet wurde) konnten sich die Insassen sportlich und kulturell umfassend betätigen. Ebenso billigte ihnen der Lagerkommandant, Oberst Toyohisa Matsue (1872–1955) zu, über Briefe den Kontakt zur Heimat zu halten. Einzelnen Frauen von Kriegsgefangenen erlaubten die japanischen Behörden sogar, ihren gefangenen Männern nachzureisen und in Städten in der Umgebung der Lager zu wohnen. Da die Gefangenen auch gegen Entgelt arbeiten durften, konnte die Langeweile verringert werden. Darüber hinaus erweiterten die japanischen Behörden die Versorgung mit Lebensmitteln und die medizinische Betreuung. Im Lager Bandō, das aus acht Mannschafts- und zwei Offiziersbaracken bestand, bauten Gefangene sogar eine Druckerei, die ab September 1917 regelmäßig eine eigene Zeitschrift produzierte. Auch stand ein Stück Land für den Anbau von Gemüse und die Hühnerzucht zur Verfügung. Deutsche Zivilisten, die in Japan nicht interniert waren, unterstützten ihre gefangenen Landsleute mit Waren und Geld, die oft Hilfsausschüsse transferierten. Zudem wurden Bücher und Musikinstrumente gespendet. In der Gefangenenfürsorge waren Mitarbeiter des Unternehmens SiemensSchuckert besonders engagiert. Sie vermittelten zwischen der deutschen und japanischen Regierung und nahmen damit quasi-diplomatische Aufgaben wahr. Obwohl die Selbstorganisation, die Matsue in Bandō zuließ, in der japanischen 647 Charles Burdick / Ursula Moessner, The German Prisoners-of-War in Japan, 1914–1920, Lanham 1984, S. 1–4, 7–9, 13–16. Vgl. auch Murphy, Captivity, S. 59, 160, 168–176; Mikita, Alchemy, S. 120; Pöppinghege, Lager, S. 119.

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Regierung unumstritten war, setzte sich hier schließlich das Innenministerium mit seiner liberalen Politik gegen das Kriegsministerium durch, das ein härteres Vorgehen gegen die deutschen Lagerinsassen verlangt hatte.648 Ausdrücklich und wiederholt lobte der zuständige Delegierte des IKRK, der Schweizer Arzt Fritz Paravici, die Lebensbedingungen in den Lagern, die er besonders im Sommer 1918 eingehend inspizierte und prüfte. Da die meisten Camps in der Nähe von Städten eingerichtet wurden, beeinflussten die Gefangenen auch die weitere kulturelle Entwicklung Japans, vor allem musikalisch und kulinarisch. So spielten im Lager Bandō, wo die Lebensverhältnisse besser waren als in anderen Lagern wie demjenigen in Kurumde, nicht weniger als drei Musikkapellen. Ebenso prägend waren die Theateraufführungen, die künstlerischen Aktivitäten und die Architektur der Bauten, die Matsue sogar zu einem Vorbild erhob. Der japanischen Regierung erlaubte diese relativ menschenwürdige Behandlung, das Land in der Propaganda als Hort der Humanität zu verherrlichen. Auch verbot die japanische Regierung erst am 23. April 1917 den Handel mit gegnerischen Staaten, und ab Januar 1918 mussten sich Ausländer registrieren lassen. Ebenso war Japan schon 1916 bereit, kranke und verwundete Gefangene zu entlassen. Allerdings zogen sich die Verhandlungen bis zum Kriegsende hin. Nach dem Waffenstillstand 1918 durften sich deutsche Kriegsgefangene und Zivilinternierte auch außerhalb der Lager aufhalten. 171 von ihnen blieben dauerhaft in Japan, wo in der Stadt Naruto noch heute das 1972 eröffnete „Deutsche Haus“ an das Lager Bandō erinnert.649

Bilanz Insgesamt erwarb Japan im Ersten Weltkrieg noch stärker als schon vor 1914 eine Reputation als humanitäre Macht, die auch bewusst angestrebt worden war. Damit verbunden, wurden zurückkehrende Soldaten, die in die Hand geg-

648 Krebs, Tsingtau, S. 20 f.; Leffers, Begegnungen, S. 52–121; Checkland, Humanitarianism, S. 72; Dierk Günther, Das Kriegsgefangenenlager Bandō (Teil II/II), in: OAG-Notizen, 1/2001, S. 6–22; ders., Das Kriegsgefangenenlager Bandō (Teil I/II), S. 10–17; Potterf, Treatment, S. 457; Mühlhahn, Concentration Camp, S. 548; Wippert, Internierung, S. 23; DIJ Bando Sammlung: Lagerdruckerei und Buchbinderei; http://bando.dijtokyo.org/?page=theme_detail. php&p_id=30 (Zugriff am 17. Mai 2017); Krebs, Kriegsgefangenschaft, S. 325–332. Anschaulich auch der Bericht in FAZ, Nr. 249 / 26. Oktober 2011, S. 3. 649 Angabe nach: Krebs, Kriegsgefangenschaft, S. 333. Vgl. auch Krebs, Tsingtau, S. 21; Leffers, Begegnungen, S. 76–93, 116 f., 119 f., 132; Murphy, Captivity, S. 59 f.; Günther, Das Kriegsgefangenenlager Bandō (Teil I/II), S. 17–19; Caglioti, Subjects, S. 509; Checkland, Humanitarianism, S. 72.

4.12 Britische Kolonien und Dominions 

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nerischer Staaten gefallen waren, durchaus respektiert. Erst seit den späten 1920er Jahren galt Kriegsgefangenschaft als unehrenhaft. Nunmehr bildete sich eine Schamkultur heraus, die das Verhalten japanischer Soldaten und Zivilisten im Zweiten Weltkrieg prägen sollte.650

4.12 Britische Kolonien und Dominions Die Unterdrückung, Deportation und Internierung von Feindstaatenangehörigen im britischen Weltreich Wie bereits angedeutet, erstreckte sich die fremdenfeindliche Sicherheitspolitik im Ersten Weltkrieg auch auf die Kolonialreiche der kriegführenden Mächte. Hier hatten vor 1914 vielerorts europäische Politiker, Verwaltungsbeamte, Siedler, Akademiker und Missionare einen rassistischen Überlegenheitsanspruch gegenüber der einheimischen Bevölkerung vertreten. Daraus leiteten diese Akteure das Recht und die Pflicht ab, die unterworfenen Völker zu „zivilisieren“. Viele Europäer, die in den Kolonien lebten, hofften zu Beginn des Ersten Weltkrieges noch, die etablierte Rassenhierarchie bewahren und dem Nationenkrieg ausweichen zu können. Im Herbst 1914 schwand aber die Solidarität der Europäer gegenüber den Kolonisierten sukzessive zugunsten des nationalstaatlichen Antagonismus, der allerdings schon vor 1914 zugenommen hatte. Damit befürchteten alle kriegführenden Regierungen zunehmend, dass die unterworfenen Völker in den Kolonien die Kämpfe zwischen den europäischen Großmächten ausnutzen könnten, um sich gegen die Kolonialmächte zu erheben. Im Umgang mit Feindstaatenangehörigen relativierten die herrschenden weißen Eliten nicht nur die überkommene Rassenhierarchie, sondern sie kehrten diese oft sogar gegen ihre Gegner um, die sie gegenüber der einheimischen Bevölkerung bewusst erniedrigten. Zugleich bemühten sie sich ebenso wie die Regierungen der multiethnischen Reiche in Europa, den Protest gegen die Kolonialherrschaft der jeweiligen Kriegsgegner für ihre eigenen politischen und militärischen Ziele auszunutzen. Daraus resultierten in den Imperien Ressentiments, die ihrerseits die nationalen und ethnischen Gegensätze und Konflikte verschärften. Im britischen Weltreich geriet die Identifikation mit Großbritannien schon vor 1914 unter den Druck eines Nationalismus, der letztlich auf Abtrennung von der Kolonialmacht, Autonomie oder sogar Unabhängigkeit zielte. Diese Tendenz sollte sich in den 1930er Jahren und im Zweiten Weltkrieg erheblich verstärken.651 650 Bob Moore / Kent Fedorovich, Prisoners of War in the Second World War: An Overview, in: dies. (Hg.), Prisoners of War, S. 1–17, hier: S. 13.

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Im Empire waren 1901 insgesamt 149.140 Bewohner deutscher Herkunft registriert worden. Davon hatten 69.222 im Vereinigten Königreich und 27.300 in Kanada gelebt. Die Zahl der Einwohner, die in der Habsburger Monarchie geboren waren, belief sich auf 46.599. Sie hatten sich vorrangig in Kanada niedergelassen (28.407); 12.649 lebten in Großbritannien. Demgegenüber waren lediglich 5.156 Untertanen des Sultans der Osmanen verzeichnet worden. 1.589 von ihnen hatten ihren Wohnsitz im Vereinigten Königreich und 1.093 auf Zypern. Im Allgemeinen übertraf die Zahl der Männer diejenige der Frauen deutlich.652 Sowohl in den Dominions Australien, Neuseeland, Südafrika und Kanada als auch in Kolonien wie Indien und Tanganjika stigmatisierten, unterdrückten, deportierten und internierten die Behörden Feindstaatenangehörige. Dabei wurden die Insassen von Camps wiederholt verschoben. In diesem weltweiten Transfer bildeten sich Zentren und Drehscheiben der Internierung heraus, so das Lager Ahmednagar in Indien, wo bereits nach dem Aufstand von 1857/58 Zivilisten, die des Aufruhrs verdächtigt wurden, verhaftet worden waren. Der 1871 erlassene Criminal Tribes Act hatte auch andere Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen wie die Zwangsansiedlung nomadischer Gruppen legalisiert. Die Ordnung des Camps Ahmednagar erlegte den Insassen eine rigorose Disziplin auf, um sie von der vermeintlich unzivilisierten Umwelt zu isolieren. Während des Krieges in Südafrika waren hier Buren interniert worden. Ab 1914 wurden in Ahmednagar in ehemaligen britischen Kasernen außer den Feindstaatenangehörigen, die in Indien lebten, auch Zivilisten untergebracht, die im Nordatlantik und in Westafrika aufgegriffen worden waren.653 Ebenso nahm Kanada Gefangene aus der westlichen Hemisphäre auf. Im Mittelmeer waren Gibraltar und Malta wichtige Standorte für Lager, in denen zivile Feindstaatenangehörige zumindest vorübergehend festgehalten wurden. Dies gilt auch für Süd- und Südwestafrika, während das Londoner Kolonialministerium Deutsche aus den östlichen Kolonien des Kontinents mit Hilfe der regionalen Gouverneure nach Indien verschiffen ließ, wohin auch enemy aliens 651 Daniel Steinbach, Challenging European Colonial Supremacy: The Internment of ‚Enemy Aliens‘ in British and German East Africa during the First World War, in: James E. Kitchen / Alisa Miller/ Laura Rowe (Hg.), Other Combatants, Other Fronts: Competing Histories of the First World War, Newcastle 2011, S. 153–175, hier: S. 154–160, 171; Michael Pesek, The Colonial Order Upside Down? British and Germans in East African Prisoner-of-War Camps during World War I, in: Ulrike Lindner u. a. (Hg.), Hybrid Cultures – Nervous States. Britain and Germany in a (Post)Colonial World, Amsterdam 2010, S. 23–41, hier: S. 23; Stibbe, Civilian Internment, S. 17. 652 Angaben nach: Manz / Panayi, Enemies, S. 53 f. 653 Forth, Barbed-Wire Imperialism, S. 34–39, 126, 221, 126. Zu Ahmednagar auch der Bericht des IKRK in den „Documents publiés à l’occasion de la guerre Européene (1914–1917)“, in: NA, FO 383/277, und der Bericht vom 1. Juli 1918 in: NA, FO 383/473. Übersicht zur Entwicklung des Lagers: Manz / Panayi, Enemies, S. 276–280.

4.12 Britische Kolonien und Dominions



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aus Südostasien und Siam verschleppt wurden. Die Regierungen Australiens und Neuseelands internierten vorrangig Feindstaatenangehörige aus dem Südpazifik, so aus Samoa und Neuguinea, aber auch Ceylon.654 Nach Kanada verschiffte u. a. der Gouverneur von Bermuda 1917 deutsche Zivilinternierte, die dort im Lager St. George festgehalten worden waren. Diesem Transport stimmte sogar die deutsche Reichsleitung zu, die aber auf angemessene Unterbringung bestand und verlangte, den Gefangenen regelmäßig ihre Post zu übermitteln und ihre persönlichen Gegenstände nachzuschicken.655

Lager In den Dominions und Kolonien wurden die verhafteten Zivilisten in unterschiedliche Lager eingewiesen, in denen vielerorts auch Kriegsgefangene litten. Improvisierte Camps wie Rottnest Island, Claremont und Torrens Island in Australien bestanden vielerorts nur vorübergehend. Permanente Lager waren ehemalige Kasernen (so Ahmednagar in Indien und Fort Napier in Südafrika), frühere Arbeitshäuser (beispielsweise Oldcastle Camp in Irland) oder neu errichtet (so Holsworthy bei Sydney in Australien). Auch Fabrikgebäude wie eine Eisengießerei in Nova Scotia (Kanada) wurden im Empire zur Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger genutzt. Nicht zuletzt brachten die Behörden enemy aliens auf Gefangeneninseln unter. Bekannte Beispiele sind Somes Island und Motuiki Island in Neuseeland sowie Fort Verdala auf Malta und Up Park Camp auf Jamaica.656 In diese unterschiedlichen Lager wurden in den britischen Kolonien und Dominions die verhafteten enemy aliens verbracht. Ebenso wie in Großbritannien trennten die Insassen der Camps soziale Unterschiede. Unter den Internierten waren auch Deutsche, die für Missionsgesellschaften – so die „Basler Mission“ – arbeiteten. Die Regierungen der Dominions und die Gouverneure der Kolonien ließen sogar Schweizer verhaften, die sie wegen ihrer Sprache irrtümlich als Deutsche ansahen. Aus diesem Grund richteten sich im Empire – ebenso wie in Großbritannien – auch Ausschreitungen gegen Angehörige der Eidgenossenschaft, vor allem im Mai 1915, als die Kriegspropaganda nach der Versenkung der Lusitania global in Gewalt umschlug. Im Allgemeinen ließen die Regierun-

654 Manz / Panayi, Internment, S. 23–25, 35; Pesek, Colonial Order, S. 39. 655 NA, FO 383/277 (Verbalnoten vom 8. Juni und 26. September 1917). 656 Manz / Panayi, Enemies, S. 126–131.

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gen der kriegführenden Staaten aber Angehörige neutraler Länder, die sie irrtümlich interniert hatten, zügig wieder frei.657 Die Internierung konzentrierte sich auf die Dominions. In diese Staaten wurden beispielsweise die rund 20.000 Deutschen verbracht, die nach der Eroberung Togos, Kameruns, Südwestafrikas, Deutsch-Ostafrikas, Neuguineas, Samoas und einiger Pazifikinseln wie der Karolinen dort von britischen, australischen oder neuseeländischen Truppen gefangen genommen worden waren. Die betroffenen deutschen Siedler forderten, nach Artikel 46 der Haager Konvention behandelt zu werden, der vor allem das Leben, die Familien und das Eigentum von Zivilisten schützte. Die siegreichen Truppen übernahmen aber die Kolonien und den Besitz, der sich in den eroberten Territorien befand, um sie für die eigene Kriegführung zu nutzen. Die Gefangenen wurden ausnahmslos registriert und in Lager gesperrt, die Großbritannien oder die Dominions unterhielten. Nur in Mikronesien verblieben sie zunächst in Freiheit. Hier konnten sich beispielsweise im Frühjahr 1915 133 Deutsche auf der entlegenen Insel Tonga, die Großbritannien 1900 als Protektorat übernommen hatte, frei bewegen. Jedoch wurden im Empire auch Feindstaatenangehörige, die von der Internierung verschont blieben, enteignet und ausgewiesen. 658 In allen Camps entwickelte sich ein reges Leben. Außer sportlichen Wettbewerben bemühten sich die Internierten um Weiterbildung. So bot eine Schule in Nova Scotia im Februar 1918 Sprachkurse und Unterricht in verschiedenen Fächern wie Mathematik und Chemie an. Auch konnten Fertigkeiten in der Stenographie und Buchhaltung erworben werden. Kulturelle Aktivitäten dienten ebenfalls der Beschäftigung und Ablenkung. Dazu zählten der Druck und die Veröffentlichung von Zeitungen. Lokale philanthropische Organisationen, vor allem aber die Quäker und die YMCA förderten die Selbstorganisation der Lagerinsassen. Ihre Tätigkeit unterstützte im Allgemeinen auch die jeweiligen Kommandanten, die sich davon Entlastung versprachen.659 Die Behandlung der internierten enemy aliens im britischen Weltreich war im Allgemeinen gut. Die Londoner Regierung bemühte sich, negative Publizität zu vermeiden, denn die internationale Empörung über den Umgang mit gefangenen Buren von 1899 bis 1902 hatte die politische Elite im Vereinigten Königreich aufgeschreckt. Die Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und anderen Gütern des täglichen Bedarfs war überwiegend ausreichend. Nur wenige Feind-

657 Huber, Fremdsein, S. 180, 184, 200–202, 234 f.; Manz / Panayi, Internment, S. 25–29, 34. 658 NA, FO 383/30 (Schreiben vom 6. März 1915); Sandra Barkhof, The New Zealand Occupation of German Samoa during the First World War, 1914–1918, in: Manz / Panayi / Stibbe (Hg.), Internment, S. 205–223, hier: S. 206; Murphy, Captivity, S. 41–43, 65; Panayi, Germans, S. 188. 659 Manz / Panayi, Enemies, S. 133–139.

4.12 Britische Kolonien und Dominions 

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staatenangehörige starben während ihrer Internierung, und auch Fluchten blieben selten. Klagen der Betroffenen bezogen sich besonders auf die Freiheitsberaubung und Misshandlungen. So beschwerten sich im Lager Tanglin in Singapur gefangene Mitglieder des Teutonia Club gegenüber dem amerikanischen Konsul über die Internierung im Allgemeinen und die Unterkunft im Besonderen. Auch die Nahrungsmittel wurden als unzureichend kritisiert. Viele Klagen waren auf die Wahrnehmung zurückzuführen, von den britischen Behörden oder einheimischen Wachmannschaften gedemütigt worden zu sein. Verletzte Ehrvorstellungen waren gerade in den kolonialen Kontexten eine mächtige emotionale Kraft.660

4.12.1 Dominions Überblick: politischer Rahmen der Politik und Propaganda gegen Feindstaatenangehörige Die sich selbst verwaltenden britischen Siedlerkolonien waren relativ autonom, da sie über eigene Regierungen verfügten. Die Internierungspolitik in den Dominions spiegelte im britischen Empire sogar „subimperiale Tendenzen“ wider. 1914 traten die Südafrikanische Union, Australien, Neuseeland und Kanada auf der Seite des Vereinigten Königreiches in den Ersten Weltkrieg ein. Eine enge Kooperation zwischen den Regierungen (so im Imperial War Cabinet und im Committee of Imperial Defence), gemischte Truppenkontingente und die Mobilisierung anderer Ressourcen in den Dominions sollten eine einheitliche und effektive Kriegführung sichern. Darüber hinaus wirkten die Operationen der britischen Marine integrierend. Die Royal Navy brachte auf den Meeren, die sie weitgehend beherrschte, deutsche Handelsschiffe auf und nahm die Seeleute gefangen. Zusammen mit vielen Deutschen, die in den Dominions (aber noch häufiger in den Kolonien) interniert worden waren, transportierte sie die Kriegsmarine zu Lagern in den verschiedenen Territorien des Empire. Jedoch waren damit Sonderinteressen in den Dominions keineswegs stillgelegt. Gerade indem sie sich mit Großbritannien solidarisierten, hofften die einheimischen weißen Eliten, ihre Rechte und ihren politischen Handlungsspielraum gegenüber der Londoner Regierung zu erweitern. Sie propagierten deshalb auch den Kampf gegen die Deutschen, die sich in ihren Ländern befanden. Dazu übernahmen sie weitgehend die Gesetze, die in Großbritannien erlassen wurden, wie der in Australien verabschiedete War Precautions Act und das Amt des Commissioner for Enemy Subjects in der Südafrikanischen Union dokumentierten. Die restriktiven 660 Ebd., S. 139–143.

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Maßnahmen gegen zivile Feindstaatenangehörige wurden in den Dominions aber noch durch den Rassismus zugunsten der Weißen aufgeladen, denen der 1901 für das Commonwealth verabschiedete Immigration Restriction Act eindeutig die Vorherrschaft eingeräumt hatte.661 Presseorgane und nationalistische Verbände agitierten gegen die enemy aliens. Dabei verschärften einzelne Ereignisse (so die Berichte über Übergriffe deutscher Soldaten gegen Zivilisten in Belgien und die Versenkung der Lusitania im Mai 1915) jeweils die Unterdrückung der Deutschen und – in geringerem Ausmaß – der in Österreich-Ungarn geborenen Bürger. Das Spektrum der Einschränkungen reichte auch in den Dominions von der Registrierungspflicht über den Entzug des Bürgerrechts und Deportationen bis zu Zwangsinternierungen. Überdies durften die enemy aliens oft Geräte und Verkehrsmittel nicht mehr nutzen. Die Restriktionen gingen mit einer radikalen Propagandakampagne gegen vermeintliche deutsche und österreichische Spione und Saboteure einher. Zusammen mit der Niederlage britischer, australischer und neuseeländischer Truppen in Gallipoli und der Publikation des von Lord Bryce vorgelegten Berichtes über die Übergriffe deutscher Truppen gegen Belgier verlieh der deutsche U-Bootkrieg besonders der Angst vor den „Hunnen“ kräftig Auftrieb. Der aufgepeitschte Hass schlug sich in Übergriffen und der Zerstörung von Eigentum der verhassten Feindstaatenangehörigen nieder, deren Wohnhäuser und Läden besonders nach der Versenkung der Lusitania nahezu im gesamten Empire geplündert wurden. Dabei belief sich der Schaden allein im südafrikanischen Johannesburg im Mai 1915 auf schätzungsweise 750.000 Pfund. Zu den Ausschreitungen trug der Einfluss transnationaler Netzwerke von Zeitungen und Zeitschriften maßgeblich bei, in denen z. T. offen zur Verdrängung der Deutschen aus den jeweiligen Gesellschaften aufgerufen wurde. Die Gesetze und die Gewalt in öffentlichen Räumen sollten Angehörige von Feindstaaten zudem zwingen, Loyalitätserklärungen gegenüber Großbritannien abzugeben.662 Trotz des Widerstandes einzelner Politiker wurden die Dominions – besonders Australien – als Aufnahmegebiete für festgenommene Zivilisten missbraucht. Die Politik Großbritanniens strahlte damit weit in das Empire aus. Allerdings versuchten die Regierungen dort wiederholt, Übergriffe zu ahnden und Missstände zu beseitigen. Darüber hinaus wandten sich in Südafrika und Kana661 Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 23, 30 f.; Manz, „Enemy Aliens“, S. 122; Manz / Panayi, Enemies, S. 75–79, 98, 100–110. 662 Tilman Dedering, ‚Avenge the Lusitania‘: The Anti-German Riots in South Africa in 1915, in: Immigrants and Minorities 31 (2013), S. 256–288; Murphy, Captivity, S. 186; Manz / Panayi, Enemies, S. 79–96. Zitat: Jonas Kreienbaum, Eurozentrismus, europäische Geschichte und das Problem der Empires, in: Journal of Modern European History 14 (2016), S. 469–474, hier: S. 472. Angabe nach: Manz, „Enemy Aliens“, S. 121.

4.12 Britische Kolonien und Dominions



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da burische bzw. aus Frankreich stammende Bevölkerungsgruppen gegen die forcierte Assimilationspolitik ihrer Regierungen und die Verfolgung von Feindstaatenangehörigen. In diesen Staaten waren die Ressentiments gegen die Deutschen und Österreicher deshalb weniger ausgeprägt als in Australien und Neuseeland.663 Australien Schon vor dem Ersten Weltkrieg war die Überwachung der Ureinwohner verschärft worden, da diese als unzuverlässig galten. Rassistische Vorurteile richteten sich auch gegen Asiaten. Die Einwanderung nach Australien hatte sich vom späten 18. Jahrhundert bis 1914 auf Südaustralien und Queensland konzentriert, wo im späten 19. Jahrhundert die meisten deutschen Ortsnamen registriert wurden. Daneben hatte die Entdeckung von Gold in Westaustralien Deutsche auch in diese Region gelockt. Insgesamt waren in einer Volkszählung 1911 rund 33.000 Australierinnen und Australier in Deutschland geboren. Weitere 100.000 Bürgerinnen und Bürger lebten in der zweiten oder dritten Generation in Australien. Allein in den Jahrzehnten zwischen 1840 und 1890 waren rund 70.000 Deutsche angekommen. Die deutschstämmige Bevölkerung hatte sich überwiegend umfassend in die Gesellschaft integriert, in der sie ein eigenständiges kulturelles Leben pflegte.664 Deshalb waren die Notverordnungen, die das Commonwealth Parliament unmittelbar nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges erlassen hatte, zunächst umstritten. Während in der neuen Regierung der Labour Party besonders Justizminister William Morris Hughes (1862–1952) eine Bündelung aller Kräfte für den Krieg forderte und deshalb für die Stärkung staatlicher Institutionen eintrat, lehnte die liberale Opposition unter Joseph Cook (1860–1947) tiefe Einschnitte in Bürgerrechte ab. Die Kritiker ließen sich aber mit dem Hinweis auf die „nationale Sicherheit“ von der Notwendigkeit weitreichender Gesetze überzeugen, als im Herbst 1914 der Nationalismus und die Fremdenfeindlichkeit zunahmen. Deutsche galten zumindest als potentielle Spione. Der vorbereitete War Precautions Act wurde daher vom Senat und vom Repräsentantenhaus ohne Gegenstimme verabschiedet und von Generalgouverneur Ronald Munro-Ferguson 663 Zu Australien: Gerhard Fischer, Fighting the War at Home: The Campaign against Enemy Aliens in Australia during the First World War, in: Panayi (Hg.), Minorities, S. 263–286; ders., Prisoners, 55, 58, 301; ders., Germans, S. 15, 20; Saunders, Aliens, S. 14–16. Zu Neuseeland: Andrew Francis, From ‚Proven Worty Settlers‘ to ‚Lawless Hunnish Brutes‘: Germans in New Zealand during the Great War, in: Panayi (Hg.), Germans, S. 289–309. 664 Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 28; Pitzer, Night, S. 113; Manz / Panayi, Enemies, S. 59.

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(1860–1934) am 29. Oktober 1914 in Kraft gesetzt. Das Gesetz war eng an den britischen Defence of the Realm Act angelehnt. Die einzelnen Bestimmungen, die im Manual of War Precautions spezifiziert wurden, reichten aber z. T. noch darüber hinaus, vor allem nachdem die Versenkung der Lusitania im Mai 1915 in Sydney Unruhen ausgelöst hatte. Daraufhin wurde der War Precautions Act noch im Juli novelliert. So durften die Behörden nunmehr Verdächtige, denen Illoyalität gegenüber Australien und Verbindungen zu feindlichen Organisationen unterstellt wurde, ohne Haftbefehl festnehmen und internieren.665 Zudem konnte das Vorgehen der Polizei von den Betroffenen rechtlich nicht angefochten werden. Damit war die Habeas-Corpus-Akte aufgehoben. Die Gerichte wurden sogar ermächtigt, gegen Personen, die Verdächtigen Unterschlupf gewährten, dieselben Strafen zu verhängen wie gegen die diejenigen, die direkt gegen das Gesetz verstoßen hatten. Nach dem Rückzug australischer Truppen von der Halbinsel Gallipoli wurden weitere Aliens Restriction Orders erlassen. Diese Gesetze verliehen der Polizei außer der Befugnis zur Internierung Vollmachten, mit denen Angehörigen von Feindstaaten der Zutritt zu Gebieten untersagt werden konnte, die als militärisch gefährdet galten. Zudem unterlagen sie ausnahmslos der Melde- und Residenzpflicht. Dazu konnten sogar eingebürgerte Australier verpflichtet werden. Kriegsgerichte durften für absichtliche Verstöße gegen den War Precautions Act die Todesstrafe verhängen, und die Sicherheitsorgane wurden deutlich gestärkt. So stufte die Regierung im März 1916 den Militärgeheimdienst im Generalstab zu einem eigenständigen Direktorat herauf, das eng mit dem der britischen Spionageabwehr kooperierte. Darüber hinaus wurde die Mobilität der enemy aliens eingeschränkt. Mit diesen einschneidenden Bestimmungen verband die Regierung unter Premierminister Andrew Fisher (1862–1928) die Erwartung, den Status Australiens als kriegführendes Dominion zu festigen, besonders gegenüber dem britischen Mutterland. Jedoch gab sie damit die persönliche Freiheit zugunsten der nationalen Sicherheit auf.666

665 Hierzu und zum Folgenden auch: Daniel Marc Segesser, Empire und Totaler Krieg: Australien 1905–1918, Paderborn 2002, S. 404–406, 410; Gerhard Fischer, Enemy Aliens. Internment and the Homefront Experience in Australia 1914–1920, St. Lucia 1989, S. 65; ders., Integration, „Negative Integration“, Disintegration: The Destruction of the German Australian Community during the First World War, in: Saunders / Daniels (Hg.), Alien Justice, S. 1–27, hier: S. 3, 9–11; Raymond Evans, „Tempest Tossed“: Political Deportations from Australia and the Great War, in: Saunders / Daniels (Hg.), Justice, S. 29 f.; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 28. In langfristiger Perspektive: Johannes H. Voigt, Deutsche in Australien und Neuseeland, in: Bade (Hg.), Deutsche, S. 215–230, hier: S. 215–225. 666 So die Interpretation in: Evans, „Tempest Tossed“, S. 32. Vgl. auch Saunders, ‚The stranger in ourgates‘, S. 29; Voigt, Deutsche, S. 226; Caglioti, Subjects, S. 508.

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Dieses Ziel lag auch der umfassenden Mobilisierung zu Grunde, zu der die Kriegspropaganda beitragen sollte. Dabei wurden Angehörige der Feindstaaten, aber auch in ihnen nur geborene und später eingebürgerte Australier dämonisiert, obwohl viele von ihnen öffentlich ihre Loyalität gegenüber ihrer neuen Heimat erklärten. Vor allem in der Debatte über die umstrittene Wehrpflicht für Einsätze außerhalb des Landes mobilisierte die Regierung unter Premierminister Hughes 1916 Ressentiments gegen die enemy aliens, besonders die Deutschen. Aber auch deutschstämmige Australier wurden in der Kriegspropaganda stigmatisiert. Damit sollte angesichts der unerwartet hohen Opfer und langen Dauer der Kämpfe nicht zuletzt von inneren Spannungen und Konflikten abgelenkt werden. Zudem vermittelte die Agitation in Australien auch Zivilisten den Eindruck, mit dem Kampf gegen die Deutschen und Österreicher zum Sieg im Ersten Weltkrieg beizutragen. So gingen Bürgerwehren gegen die verhassten enemy aliens vor. Zu den „inneren Feinden“, die der Spionage und Unterwanderung verdächtigt wurden, zählten die Behörden zusehends aber nicht nur Angehörige anderer Staaten, sondern auch australische Gegner des Krieges, gegen die 1916 der Unlawful Associations Act erlassen wurde. Damit konnten die Sicherheitsbehörden – besonders die zuständige Abteilung im Verteidigungsministerium – radikale Sozialisten, pazifistische Organisationen und Feministinnen verhaften. Das Gesetz richtete sich zudem gegen Mitglieder der Industrial Workers of the World, die abwertend als „Wobblies“ bezeichnet wurden. Daraufhin wurden viele australische Kriegsgegner festgenommen und inhaftiert. Dazu bot schon der Verdacht auf Sabotage eine rechtliche Grundlage. Die Regierung und die untergeordneten Institutionen konnten damit fortwährend neue „innere Feinde“ definieren und konstruieren. So gingen die Behörden auch gegen gesellschaftliche Gruppen vor, die wegen ihrer Herkunft, ihres sozioökonomischen Status und ihres abweichenden Verhaltens als „unerwünscht“ („undesirable“) stigmatisiert wurden. Wie die Ausweitung der Kategorie des enemy alien zeigte, wurde die Ausnahmegesetzgebung, welche die Regierung mit der Sorge um die „nationale Sicherheit“ rechtfertigte, damit letztlich zu einem Instrument politischer Überwachung und Repression.667 Besonders einschneidend wirkte sich die Internierung auf das Leben der Feindstaatenangehörigen aus. Diese Maßnahme war schon seit 1911 vorbereitet und von der Furcht vor einem kulturellen Verfall in Australien beeinflusst wor-

667 Gerhard Fischer, The Darkest Chapter: Internment and Deportation of Enemy Aliens in Queensland, 1914–1920, in: Manfred Jurgensen / Alan Corkhill (Hg.), The German Presence in Queensland, St. Lucia 1988, S. 22–52, hier: S. 26; ders., Enemy Aliens, S. 66, 85 f, 96; ders., Integration, S. 9 f., 16 f., 22; Segesser, Empire, S. 417, 410, 412, 414, 416 f., 503 f.; Evans, „Tempest Tossed“, S. 30–32, 36; Pöppinghege, Lager, S. 117 f.

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den. Ebenso wie in vielen europäischen Staaten hatte auf dem fünften Kontinent die Kultur- und Zivilisationskritik im frühen 20. Jahrhundert zugenommen. Dabei wurden Probleme wie Alkoholismus, Geschlechtskrankheiten und Nervosität besonders auf „Fremde“ in der australischen Gesellschaft zurückgeführt. Vor diesem Hintergrund trieb Verteidigungsminister George Pearce (1870–1952) seit 1908 die Vorbereitungen für den Ausnahmezustand beim Ausbruch eines Krieges voran. Dazu bat er das Council of Defence um Vorschläge zum Umgang mit den enemy aliens, die von der Regierung als „possible danger to the community“ eingestuft wurden. Nachdem die Kommission drastische Maßnahmen vorgeschlagen hatte, internierten die Behörden schon unmittelbar nach Kriegsbeginn viele Angehörige von Feindstaaten, besonders Deutsche und Österreicher, die das Verteidigungsministerium als unzuverlässig eingestuft hatte. Die Masseninternierung begann schließlich 1915, nachdem der War Precautions Act um die Verordnungen 55 und 56a ergänzt worden war. Sie ermächtigten den Verteidigungsminister, Feindstaatenangehörige, aber auch als illoyal eingestufte Australier festzusetzen, die in anderen Staaten geboren worden waren. Dazu bezog sich die Regulation 56a ausdrücklich auf die „public safety“.668 Auch einzelne Deutsche, Österreicher und Ungarn, die zunächst verschont, aber als Sicherheitsrisiko eingestuft worden waren, wurden festgenommen.669 Ab 1916 konnten sogar alle Ausländer interniert werden. Vor allem im Westen des Landes errichteten die Behörden dafür Lager. Sie nahmen Deutsche und Staatsbürger Österreich-Ungarns auf, die in der Industrie – vor allem im Bergbau – oder als Beamte entlassen worden waren. Obgleich sie die Kriegführung der Doppelmonarchie keineswegs durchweg und uneingeschränkt unterstützten, wurden auch Serben, Kroaten, Bulgaren, Tschechen und Polen festgesetzt. Ihre Loyalitäten waren oft gespalten, obwohl sie öffentlich ihre Unterstützung für Australien als britisches Dominion und die Entente-Mächte bekundeten. Die gegen sie verhängten Restriktionen entfremdeten sie dem Land, so dass sie die Suche nach neuen Identitäten verstärkten. Die Internierung war aber auch ein Instrument des social engineering, denn mit den Migranten wurden zugleich viele „unerwünschte“ und marginale gesellschaftliche Gruppen in Lager eingewiesen. In diesen übergreifenden Rahmen war die Sicherheitspolitik eingebettet.670 Noch im Februar 1918 waren von den Zivilinternierten 4.305 Deutsche und 1.246 andere enemy aliens. Insgesamt wurden in Australien 6.890 Deutsche und 668 Commonwealth of Australia, War Precautions Regulations, Statutory Rules 1915, No. 135, Zitat: Yuriko Nagata, Japanese Internment in Australia during World War II, Diss. University of Adelaide 1993 (Ms.), S. 52. 669 NA, FO 383/30 (Schreiben vom 27. April 1915). 670 Fischer, Integration, S. 10 f.; ders., Chapter, S. 23; Nagata, Internment, S. 53, 55; Segesser, Empire, S. 408, 427, 502.

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Staatsangehörige Österreich-Ungarns in Lagern festgehalten, darunter 67 Frauen und 84 Kinder. Rund 4.500 Internierte hatten schon vor dem Krieg in Australien gelebt, z. T. sogar lange. Unter den gefangenen Deutsch-Australiern waren rund 700 eingebürgerte Briten. Die Polizei wies sogar britische Staatsbürger deutscher oder österreichischer Abstammung in Lager ein. Alles in allem mussten für die Internierung öffentliche Mittel in Höhe von 1,5 Million Pfund ausgegeben werden; hinzu kamen weitere ökonomische Verluste, da die festgesetzten Personen den Betrieben fehlten, in denen sie gearbeitet hatten. 5.500 Lagerinsassen waren Deutsche und 1.100 Staatsbürger Österreich-Ungarns. Nur elf Prozent der Internierten kam aus Queensland und der Südprovinz Australiens, wo sich die Deutsch-Australier konzentrierten. Dagegen hatten 42 Prozent der Internierten zuvor in New South Wales und 21 Prozent in Western Australien gelebt. Diese beiden Provinzen stellten aber nur 27 bzw. fünf Prozent der Personen, die überhaupt der Internierung unterlagen. Die meisten Internierten kamen aus Queensland, das aber nur den dritthöchsten Anteil von enemy aliens auswies. Alles in allem beeinflusste außer der geographischen Lage die Dynamik tief verwurzelter gesellschaftliche Konflikte in den einzelnen Regionen die Praxis der Internierung nachhaltiger als das Ausmaß der Bedrohung. In den Provinzen trafen die Gesetze und Verordnungen der Regierung auch auf Grenzen, die vor allem auf den Interessen lokaler Akteure beruhten. Die Gesetzgebung gegen den inneren „Feind“ trug aber letztlich nachhaltig zur Festigung eines nationalen Bewusstseins in Australien bei, das sich noch stärker aus der überhöhten Beteiligung an der Schlacht bei Gallipoli speiste.671 Die Repressionspolitik beschränkte sich aber nicht auf Deutsche, sondern erfasste auch Chinesen, Japaner und Melanesier. Sogar eingebürgerte Briten wurden interniert, weil sie lästige wirtschaftliche Konkurrenten waren. Vor allem in New South Wales und Western Australia arbeiteten viele Migranten, die erst im 19. Jahrhundert nach Australien gekommen waren, im Bergbau – so in den Goldminen von Kalgoorlie – und in Industriebetrieben, die sie mit Beginn des Ersten Weltkrieges entließen. Während Selbständige besonders in der australischen Landwirtschaft geschützter waren, verloren außer Arbeitern viele Angestellte, die aus Deutschland und Österreich-Ungarn eingewandert waren, ihre Arbeitsplätze. Unfähig, den Unterhalt für sich selber und ihre Familienangehörigen zu sichern, fielen sie der Internierung anheim. Mütter, die verhaftet wur-

671 Angaben nach: Margaret Bevage, Behind Barbed Wire. Internment in Australia during World War II, St. Lucia 1993, S. 26; Fischer, Integration, S. 11; ders., Chapter, S. 24, 28, 40; Nagata, Internment, S. 51, 54; Manz / Panayi, Enemies, S. 111, 125; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 30, 38; Murphy, Captivity, S. 211; Neumann, Interest, S. 13; Stibbe, Enemy Aliens and Internment.

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den, mussten z. T. sogar ihre Kinder in weit entfernte Lager wie das Holsworthy Detention Camp bei Liverpool in der Nähe von Sydney mitführen. Hier nahm die Zahl der Internierten von August 1915 bis Mai 1916 von 1.695 auf 4.299 (davon 3.421 Deutsche und 811 Bürger der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie) geradezu sprunghaft zu. Im Juli 1916 wurden sogar 4.500 Insassen registriert. In dem Lager waren sie vor allem vor Regen nur unzureichend geschützt. Auch mussten Häftlinge, die vergeblich eine Flucht gewagt hatten, z. T. wochenlang auf ihre Strafprozesse warten. Insgesamt degenerierte die Internierung damit unter dem Vorwand der „Sicherheit“ zu einem Instrument sozialer Kontrolle, die alle enemy aliens und Personen mit abweichendem Verhalten einschüchtern sollte. Damit richtete sich die rassistische Abgrenzungspolitik, die seit der Jahrhundertwende verschärft worden war, im Ersten Weltkrieg auch gegen Europäer.672 Türken, die offenbar nicht als Sicherheitsrisiko galten, wurden entweder schon bis Mitte 1915 freigelassen oder gar nicht interniert. Deutlich später wies die Regierung die 4.500 internierten Deutschen aus.673 Australien übernahm auch Deutsche aus den britischen Kolonien in Südostasien, so Singapur, Hongkong, Ceylon und den Fidschi-Inseln. Außerdem wurden im März 1917 85 Deutsche im wehrfähigen Alter festgesetzt. Sie waren im September 1914 bei der Eroberung Neuguineas durch die australische Marine und Armee gefangen genommen worden. Nach den Bedingungen, die bei der Kapitulation ausgehandelt worden waren, hatten sie die Behörden in Neuguinea nicht interniert, wenn sie eidlich versicherten, im weiteren Kriegsverlauf neutral zu bleiben. Als im Frühsommer 1915 aber auf der Insel ein Aufstand der deutschen Siedler drohte, ordnete der eingesetzte Verwalter an, das Kriegsrecht über Neuguinea zu verhängen und die Deutschen (darunter auch Frauen und Kinder) für einen Monat zu inhaftieren. Im November wurden einige von ihnen auf den fünften Kontinent verbracht, davon dreißig nach Sydney. Trotz des Widerspruchs der australischen Regierung griff die britische Regierung wiederholt in die Internierungspolitik ein, und sie behielt sich die Überwachung vor, um die Dynamik von Gewalt und möglichen Repressalien gegen Briten im Deutschen Kaiserreich zu kontrollieren.674 Auch die Beschlagnahme des Eigentums deutscher Missionare, Siedler und Wissenschaftler durch australische Truppen auf Neuguinea stimmte die Regierung eng mit dem Londoner Außenministerium ab.675 672 NA, FO 383/163, Bl. 164 f.; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 30. Angaben nach: Manz / Panayi, Internment, S. 28. 673 NA, FO 383/88 (Telegramm vom 27. Juni 1915). Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 45. 674 Murphy, Captivity, S. 56 f., 188, 190; Barkhof, Occupation, S. 205 f. Angabe nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 45. 675 Dazu beispielhaft: NA, FO 383/70 (Vermerke vom 22. Juni und 4. Oktober 1915).

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Allerdings beugten sich Australiens Eliten keineswegs vollständig dem Druck Großbritanniens, das auf Betreiben Munro Fergusons bestrebt war, direkt die Kontrolle über Neuguinea zu übernehmen. Demgegenüber bemühte sich die australische Militäradministration, auf der Insel zumindest während des Ersten Weltkrieges den Status quo weitgehend beizubehalten. Neuguinea sollte vorrangig der Politik der australischen Regierung und ihren wirtschaftlichen Interessen unterworfen werfen. Im Einzelnen war geplant, die Insel auszubeuten, sie als Sicherheitszone gegenüber „Asien“ zu nutzen und damit die Politik des White Australia zu flankieren. Deshalb internierte die Militärverwaltung 1915 zunächst nur einflussreiche deutsche Unternehmer und Geschäftsleute, oft zusammen mit ihren Angestellten. Auch von einer Massendeportation sah man ab, um eine Solidarisierung von Melanesiern, die weiterhin persönliche Kontakte zu den Deutschen aufrechterhielten, zu verhindern. Vielmehr wurden nur „unerwünschte“ Feindstaatenangehörige, die den wirtschaftlichen Projekten australischer Unternehmer wie der Reederei und Handelsgesellschaft Burns Philp entgegenstanden, festgesetzt. Eine umfassende Enteignung vollzogen die australischen Behörden aber erst ab September 1920. Dabei wurden auch vier große Handelsgesellschaften beschlagnahmt, deren Kokosnussplantagen erhebliche Gewinne auf dem Weltmarkt versprachen. Zugleich mussten die meisten der verbliebenen Deutschen Neuguinea verlassen.676 In Australien hatten Polizisten während des Ersten Weltkrieges sogar einzelne Angehörige von Staaten der Entente verhaftet, beispielsweise Russen. Auch Bürger neutraler Staaten wurden in Gewahrsam genommen und z. T. interniert. So nahmen die australischen Behörden in Westaustralien im Mai 1915 einen Schweizer fest, den sie als Ausländer in das Internierungslager Liverpool bei Sydney verbrachten. Die Militärverwaltung lehnte seinen Antrag, seine Unschuld vor Gericht zu beweisen, kategorisch ab. Er durfte aber schließlich auf die Insel Java in Niederländisch-Ostindien übersiedeln. In einem Schreiben an die Regierung der Eidgenossenschaft klagte er über die unzumutbaren Lebensbedingungen während der Internierung. So war die Hygiene im Lager Liverpool ebenso unzureichend wie die Lebensmittelversorgung und die Unterbringung. In seinem Brief warnte der Schweizer Bürger die Eidgenossenschaft vor unbegründetem Vertrauen in die australische Regierung, die „ihre Verpflichtungen nur soweit anerkennt als es ihnen passt und das Individuum natuerlich [sic] machtlos ist gegen einen Staat“.677 Die Militärverwaltung entzog den enemy aliens mit der Begründung, dass sie die Sicherheit Australiens bedrohten, zuvor als unantastbar geltende Grund676 Hiery, War, S. 58–67, 99, 104, 110, 104–106, 114 f. 677 Zitat: Segesser, Empire, S. 408. Vgl. auch Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 30.

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rechte. So stand verhafteten und internierten Angehörige von Feindstaaten keine Appellationsinstanz zur Verfügung.678 Darüber hinaus ging aus der Registrierung der enemy aliens ein umfassendes Überwachungssystem hervor. Die Sicherheitsabteilung im australischen Verteidigungsministerium war gegenüber parlamentarischer und gerichtlicher Kontrolle abgeschirmt. Außer Pearce zeigte sich besonders Premierminister Hughes im Ersten Weltkrieg bereit, im Namen der „nationalen Sicherheit“ individuelle Menschen- und Freiheitsrechte zu verletzen, rechtsstaatliche Grundsätze aufzugeben und liberal-demokratische Verfahren zugunsten einer staatlichen Repressionspolitik zu unterhöhlen. Die Internierung diente aber auch dem Ziel der Regierung, die britische Identität Australiens zu stärken. Umgekehrt gefährdeten Sozialisten und Pazifisten aus der Sicht der Minister wie auch der Polizei- und Militärführung die Sicherheit des Landes. Sie wurden deshalb verfolgt.679 Nachdem die Internierten zunächst nur behelfsmäßig untergebracht worden waren, richtete die Armeeführung oft in der Nähe von Militärstützpunkten feste Lager ein. Die schlechten Lebensbedingungen, Langeweile und Überdruss lösten in Camps wie demjenigen in Rottnest (in der Nähe der Stadt Perth) z. T. heftige Konflikte aus, obwohl sich die Internierten hier relativ frei bewegen, Hilfssendungen empfangen und kulturelle Aktivitäten organisieren durften. Gesteigerte Sicherheitsbedürfnisse, die damit einhergehende Spionagefurcht und Fremdenfeindlichkeit steigerten auf dem fünften Kontinent jeweils die Internierungspolitik, besonders nach der Landung australischer Truppen auf Gallipoli am 25. April 1915 und der Versenkung der Lusitania am 7. Mai. Bedürftige enemy aliens, die fürchteten, gelyncht zu werden, ihre Arbeit verloren hatten und sich nicht mehr ernähren konnten, begaben sich in oft verwahrlostem Zustand z. T. freiwillig in die Obhut der Behörden, und einige von ihnen ließen sich internieren. Dazu trug auch die fremdenfeindliche Agitation von Organisationen wie der All-British Association bei, die Deutsche und Österreicher pauschal als „Feinde“ denunzierte. Viele Polizisten griffen diese Gerüchte auf und konstruierten eine „possible danger to the community“. Angesichts der Kriegspropaganda und der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit wuchs die Zahl der Internierten allein von März bis Oktober 1915 von 1.930 auf 3.135 (davon 58 Frauen).680 Damit brach auch das kulturelle Leben der deutschen Gemeinden 678 Hierzu und zum Folgenden: Fischer, Enemy Aliens, S. 66, 75–77; Segesser, Empire, S. 407 f., 416 f.; Stibbe, Enemy Aliens and Internment. 679 Andrew Moore, „…when the caretaker’s busy taking care?“ Cross-currents in Australian Political Surveillance and Internment, 1935–1941, in: Saunders / Daniels (Hg.), Alien Justice, S. 47–65, hier: S. 50. 680 Angabe nach: Nagata, Internment, S. 52. Vgl. auch Fischer, Chapter, S. 30, 32; Neumann, Interest, S. 14–16.

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weitgehend zusammen. Der Gottesdienst durfte nur noch in englischer Sprache durchgeführt werden, und deutsche Schulen wurden geschlossen. Zeitungen der Minderheit konnten nicht mehr erscheinen und Ortsnamen mussten durch englische Bezeichnungen ersetzt werden.681 Allerdings waren Geistliche und zahlreiche Frauen von der Internierung ausgenommen, obwohl auch viele von ihnen belästigt wurden. Überdies ließen die Behörden ab Ende 1915 zumindest einzelne internierte enemy aliens frei. Dazu hatten Proteste von Internierten beigetragen. So appellierten die Insassen des Lagers Holsworthy noch im August 1918 an den zuständigen Verteidigungsminister: „The mental torture and resulting frailty of physical health is so pronounced in the case of those who are uncomfortable enough to have been interned for any lengthy period, that the time has arrived when an urgent appeal on the grounds of humanity must be made for consideration of our cases with some sense of fair play and justice.“682Außerdem unterstützten humanitäre Organisationen wie das Rote Kreuz die in den Lagern Verbliebenen, nachdem sich Angehörige beim IKRK nach den jeweiligen Aufenthaltsorten erkundigt hatten. Im Rückblick versuchten deutsche Internierte, von denen viele nach dem Ersten Weltkrieg aus Australien repatriiert wurden, sich in ihren autobiographischen Erinnerungen in den Krieg für das Kaiserreich einzuschreiben, indem sie ihr Opfer für das Vaterland verherrlichten.683 Feindstaatenangehörige wurden aber nicht nur verfolgt und interniert, sondern auch aus der Wirtschaft Australiens verdrängt. So beschlagnahmten die Behörden deutsche Unternehmen, deren Eigentümer damit de facto enteignet wurden. Auch dabei waren Sicherheitsrisiken oft nur ein Vorwand. Enteignungen und Verstaatlichungen können daher nicht nur mit der Furcht der Regierung vor Sabotage erklärt werden, sondern sie war zumindest auch dem Ziel des Premierministers geschuldet, Australien ökonomisch auf den Handel im Empire auszurichten und das Land damit eng an Großbritannien zu binden. Dazu beteiligte sich die Regierung ebenso an der britischen Blockade deutscher Güter, und das Parlament verabschiedete im Oktober 1914 den Trading with the Enemy Act. Er verbot Geschäfte mit Unternehmen, die enemy aliens gehörten oder von ihnen dominiert wurden. Um die Kontrolle über rüstungswichtige Branchen und die Versorgung mit Rohstoffen (besonders Blei, Kupfer und Zink) zu gewinnen, wurden deutschstämmige Unternehmer festgenommen und inter-

681 Voigt, Deutsche, S. 226. 682 Zitat: Nagata, Internment, S. 54 f. 683 Alexandra Ludewig, Zwischen Korallenriff und Stacheldraht. Interniert auf Rottnest Island, 1914–1915, Frankfurt/M. 2015, bes. S. 49, 58 f., 65, 74, 79, 83, 88, 90–96, 100, 103–108, 121–124.

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niert, so Franz Wallach und Walter Schmidt von der Australian Metal Company in Melbourne. Die Polizei verhaftete aber auch Angehörige der freien Professionen wie Rechtsanwälte und Mediziner. Den Zugriff auf das Eigentum der Feindstaatenangehörigen erleichterte auch das Verbot, deutsche Namen zu verändern. Darüber hinaus erlaubte der im Mai 1915 verabschiedete Enemy Contracts Annulment Act, bestehende Verträge mit Betrieben in gegnerischen Ländern zu kündigen. Unter dem Deckmantel der „nationalen Sicherheit“ sollten damit lästige wirtschaftliche Konkurrenten vom Markt verdrängt werden – ein Ziel, das australische Gewerkschaften und Unternehmer teilten. Wachsende Preise, zunehmende Arbeitslosigkeit und die Verringerung des Lebensstandards waren der Nährboden dieser fremdenfeindlichen Politik.684 Die rigorose Internierung richtete sich auch gegen das gesellschaftliche Leben von enemy aliens in Australien. Besonders in der südlichen Provinz des Landes und in Queensland, wo sich die Deutschen und Österreicher konzentrierten, sollten ihre Gemeinden zerschlagen werden. Dazu wurden die führenden Vertreter der beiden Minderheiten und darüber hinaus die deutsch-australischen Eliten verhaftet und interniert. Außer den Unternehmern und wohlhabenden Geschäftsleuten erfasste das Vorgehen der Sicherheitsapparate vor allem Pastoren der lutherischen Kirche, Lehrer und die führenden Vertreter von Vereinen und Verbänden wie die Leiter der 1913 gegründeten German Language Society. Das australische Verteidigungsministerium nahm Männer, die – wie Konsul Oskar Hirschfeld in Brisbane (Queensland) – das „Deutschtum“ im Ausland förderten und mit den Behörden ihres Heimatlandes einen engen Austausch unterhielten, besonders früh fest. Auch vier weitere Konsuln wurden interniert. Damit folgte die Regierung dem gesellschaftlichen Druck lautstarker Bevölkerungsgruppen, die das Handeln der „Fremden“ misstrauisch beobachteten und ihren vermeintlich überwältigenden Einfluss im Land kritisierten. Die Kampagne gegen den „inneren Feind“ war nicht zuletzt dem Wunsch geschuldet, an der „Heimatfront“ direkt den Kampf der australischen Soldaten zu unterstützen. Angesichts der Propaganda und Übergriffe gegen sie zogen sich Österreicher und Deutsche, die z. T. eingebürgert waren und weder verhaftet noch interniert wurden, in die Privatsphäre zurück.685 Anträge der deutschen Reichsregierung, festgesetzten Pastoren die Rückkehr in ihre Gemeinden zu erlauben,

684 Fischer, Enemy Aliens, S. 92–99; ders., Integration, S. 14; Fischer, Chapter, S. 36; Voigt, Deutsche, S. 226. 685 Hierzu und zum Folgenden: Fischer, Enemy Aliens, S. 74–76, 99–120; ders., Integration, S. 13 f.; ders., Chapter, S. 33 f., 36–38, 40.

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blieben erfolglos.686 Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden 6.150 Australier deutscher Herkunft ausgewiesen.687 Alles in allem bildeten sich in Australien in den Jahren von 1914 bis 1922, als das Notstandsregime schließlich aufgehoben wurde, neue Konflikte heraus. So waren zwei Volksabstimmungen über die Wehrpflicht 1916/17 überaus umstritten, vor allem in der Labour Party. Dies galt auch für die Verfolgung von Dissidenten. 1916 löste besonders die Verurteilung von zwölf Mitgliedern der Industrial Workers of the World heftige Proteste aus. Auch die Kriegspropaganda und Zensur führten zu Konflikten. Zudem verliehen der Rückgang des Lebensstandards, schlechte Arbeitsbedingungen und die unzureichende Lohnentwicklung Protesten Auftrieb, besonders in der Arbeiterschaft. Überdies standen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien, die eine enge Kooperation mit Großbritannien im Krieg befürworteten, Pazifisten, Sozialisten, Kommunisten und Wehrdienstverweigerer gegenüber. Darüber hinaus verschärften sich Kontroversen über die Kompetenzen der Zentralregierung und der Einzelstaaten. Nicht zuletzt entstand ein schroffer Gegensatz zwischen Sicherheitsbedürfnissen einerseits und individuellen Freiheitsrechten und humanitären Gesichtspunkten andererseits. Dabei wurde dem „public good“ auch in der Nachkriegszeit der Vorrang eingeräumt, wie die Verabschiedung des Nationality Act von 1920 zeigt. Analog zur Praxis in Großbritannien erlaubte dieses Gesetz der Regierung, Einbürgerungen zu widerrufen. Dabei konnte es ausreichen, dass ein Beschuldigter nicht „of good character“ war.688 Neuseeland Hier hatte die Einwanderung europäischer Siedler, die seit den 1840er Jahren offiziell angelockt und unterstützt worden waren, im späten 19. Jahrhundert fremdenfeindliche Reaktionen herbeigeführt, die auf der Angst vor wirtschaftlicher Verdrängung, zunehmend aber auch auf Rassismus beruhten. Zwar stellten die rund 100.000 Immigranten, die 1880 gezählt wurden, nur einen geringen Anteil der Bevölkerung. Zudem war die Mehrheit der Neuankömmlinge Briten, während lediglich 3.185 Deutsche, 2.009 Dänen, 743 Norweger und 727 Schweden registriert wurden. Rassistische Vorurteile richteten sich um 1900 besonders gegen Einwanderer aus Dalmatien (5.468 zwischen 1897 und 1919) und China. Sie waren nur schwach in Neuseeland verwurzelt und wurden als fremd 686 Dazu die Vermerke vom 7. Mai 1915 in: NA, FO 383/30. 687 Stibbe, Civilian Internment, S. 263. 688 Nationality Act, 1920–1930, Section 12, Zitat: Nagara, Internment, S. 77. Zur politischen Überwachung: Frank Cain, The Origins of Political Surveillance in Australia, Sydney 1983; ders., The Wobblies at War, Melbourne 1993.

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wahrgenommen. Außerdem galten sie wegen ihrer Konzentration in der Baumharzverarbeitung als wirtschaftliche Konkurrenz. Der 1899 erlassene Immigration Restriction Act schrieb deshalb einen Sprachtest vor, der sich vorrangig gegen außereuropäische Einwanderer richtete. Die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Großbritannien steigerte in Neuseeland, das im September 1907 Dominion wurde, die Angst vor einer Invasion, die populäre Jugendmagazine, Schriftsteller und Presseorgane beschworen. Die rund 10.000 Deutschen, die 1914 in Neuseeland registriert wurden, galten weithin als Anhänger des Kaisers, und die deutsche Kolonie auf den westlichen Samoa-Inseln (seit 1900) wurde weithin als Sprungbrett eines deutschen Angriffes betrachtet. Aber auch die Flottenrüstung des Kaiserreiches schürte Sicherheitsängste, da deutsche Kreuzer im Kriegsfall die Seeverbindungen des Landes – besonders zu Großbritannien – gefährdeten.689 Obwohl König Georg V. Deutschland am 4. August 1914 auch für Neuseeland den Krieg erklärt hatte, brachte die Regierung des Landes durchaus eigene Interessen und Ziele ein. So besetzte ein Expeditionskorps die deutsche Kolonie Samoa, wo die große Handels- und Plantagengesellschaft bereits 1915 und andere deutsche Unternehmen im darauffolgenden Jahr enteignet wurden. Allerdings zogen die Behörden weiteren Besitz erst 1920 ein, als auch die verbliebenen deutschen Zivilisten deportiert wurden. In Europa setzte die Regierung Neuseelands ihre Truppen besonders in den Kämpfen auf Gallipoli (1915), in der Schlacht an der Somme (1916) und bei der Offensive bei Ypern (Passchendaele, 1917) ein. Der angestrebte Einfluss- und Statusgewinn des Landes wurde letztlich erreicht, denn die Regierung unterzeichnete am 28. Juni 1919 selbständig den Friedensvertrag mit Deutschland. Zudem entsandte sie eigene Vertreter in den Völkerbund.690 Die Reaktionen auf den Kriegsausbruch hatten äußere Einflüsse und innere Kräfte gekennzeichnet. Einflussreiche Tages- und Wochenzeitungen suchten den Krieg auf der Seite Großbritanniens als Politik imperialer Solidarität zu rechtfertigen, die Mobilisierung der Neuseeländer voranzutreiben und die Siegesgewissheit zu stärken. Dazu appellierte die Propaganda gezielt an Emotionen. So verbreitete sie das Feindbild der „Hunnen“, denen barbarische Kriegsverbrechen zugeschrieben wurden. Vor allem der Angriff auf Belgien und Serbi689 Andrew Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘. New Zealand, Enemy Aliens and the Great War Experience, 1914–1919, Bern 2012, S. 27 f.; ders., Anti-Alienism in New Zealand during the Great War: The von Zedlitz Affair, in: Immigrants and Minorities 24 (2006), S. 251–276, hier: S. 259; Manz / Panayi, Enemies, S. 62 f. 690 Ian McGibbon, The Shaping of New Zealand’s War Effort, August – October 1914, in: Crawford / McGibbon (Hg.), Great War, S. 49–68, hier: S. 50, 65; McGibbon, Germany, S. 5–7, 10 f.; Hiery, War, S. 154, 156 f.

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en steigerte unter vielen Neuseeländern den Argwohn auf die 6.200 Einwohner, die in Deutschland oder Österreich geboren waren. Nur wenige Presseorgane wie der Maoriland Worker, der die britischen Friedensaktivisten und Labour-Politiker Ramsay MacDonald und Keir Hardie lobte, stellten sich gegen die Kriegspropaganda, die sich schon im August 1914 besonders gegen die deutsche Minderheit richtete. In der Hauptstadt Wellington beschädigten aufgebrachte Bewohner Geschäfte von Deutschen und das Konsulat des Kaiserreiches. Offenbar folgten sie damit den Ausschreitungen, die in Großbritannien zunächst die östlichen Wohnviertel Londons und anschließend auch den Westen Yorkshires, Winchester, Liverpool und Glasgow erfasst hatten.691 Die Politik gegenüber Fremdstaatenangehörigen bestimmten einerseits Anweisungen des britischen Kabinetts. Andererseits betrachtete die neuseeländische Regierung unter Premierminister William Massey (1856–1925) den Krieg aber auch als Chance, die Selbstbestimmung des Landes im Rahmen des Empire zu stärken. Sie verabschiedete deshalb im Herbst 1914 selbständig Gesetze, die eine verstärkte Überwachung von enemy aliens ermöglichten. Auch durften diese Neuseeland nicht mehr verlassen. So sollte verhindert werden, dass die deutsche Reichsleitung weitere Soldaten gewann. Darüber hinaus sollten diejenigen, die als Sicherheitsgefahr galten, interniert werden. Dazu erließ die Regierung am 10. November 1914 den War Regulations Act, der ein staatliches Notstandsregime begründete. Damit sollten „the public safety, the defence of New Zealand, and the effective conduct of the military or naval operations of His Majesty during the present war“ gesichert werden.692 In dem Gesetz war die Kategorie des „enemy alien“ breit gefasst worden, denn es bezog nicht nur Ausländer ein, die in den gegnerischen Staaten geboren waren. Vielmehr galten die Bestimmungen auch für Eingebürgerte und „any person reasonably suspected of being an enemy alien.“693 Jedoch setzte Massey zunächst außer der verstärkten Kontrolle von enemy aliens lediglich weitere Einbürgerungen aus. Demgegenüber wurden die 2.688 Deutschen und Österreicher, die in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Krieg naturalisiert worden waren, vorerst nicht angetastet. Damit geriet Massey, der in den Wahlen vom Dezember 1914 keine Mehrheit gewonnen hatte und deshalb mit seiner Reformpartei eine Kriegskoalition mit den Liberalen und der 691 Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘, S. 47–68; McGibbon, Germany, S. 6 f. Angabe nach: Francis, Anti-Alienism, S. 257. 692 Regulations Under the War Regulations Act, 10 November 1914, in: New Zealand Gazette, S. 4021–4024, zit. nach: Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘, S. 80. Vgl. auch Francis, Anti-Alienism, S. 252. 693 Regulations Under the War Regulations Act, 10 November 1914, Zitat: Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘, S. 69.

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Labour Party gebildet hatte, zunehmend unter den Druck der radikalen Kriegsbefürworter, der Anhänger Großbritanniens und der neuseeländischen Nationalisten. Sie stellten die Loyalität der eingebürgerten enemy aliens gegenüber Neuseeland und dem Empire grundsätzlich in Frage, indem sie auf die Abstammung anstelle der Staatsbürgerschaft abhoben.694 Nach der Versenkung der Lusitania am 7. Mai 1915 stachelten Zeitungen und Zeitschriften, die schon im Herbst 1914 kräftig zu der fremdenfeindlichen Propaganda gegen die enemy aliens beigetragen hatten, die Neuseeländer verstärkt zu gewalttätigen Übergriffen gegen die „Fremden“, ihre Angehörigen und ihr Eigentum an. Auch diese Ausschreitungen verliefen unter dem Eindruck der Angriffe, die sich im Vereinigten Königreich gegen Deutsche richteten. Zugleich nährte der Bryce-Bericht über deutsche Kriegsverbrechen in Belgien das Vorurteil vom grausamen „Hunnen“. Zudem hatten Nachrichten über hohe Verluste in der Schlacht auf Gallipoli, wo bis Dezember 1915 schließlich 2.000 neuseeländische Soldaten fallen sollten, die Öffentlichkeit erheblich beunruhigt. Eine Flut von Denunziationen erreichte die Polizeiwachen, die daraufhin über Arbeitsüberlastung durch haltlose Gerüchte klagten.695 Im Zuge der Propagandakampagne gegen die „Feinde“ sank das Vertrauen in die Regierung, die von ihren Gegnern – so dem selbsternannten People’s Popular Labour candidate und Parlamentsabgeordneten für den Wahlkreis Greg Lynn, John Payne (1871–1942) – unablässig der Nachgiebigkeit gegenüber den angeblich gefährlichen enemy aliens beschuldigt wurde. Presseberichte, die das vermeintlich hervorragende Leben der deutschen Internierten in Neuseeland dem Leiden britischer Zivilisten im Lager Ruhleben gegenüberstellten, sollten der Forderung, alle Feindstaatenangehörigen festzusetzen, Nachdruck verleihen. Angesichts der Agitation erklärten Deutsche und Österreicher ihre Loyalität gegenüber Neuseeland, Großbritannien und dem Empire. Sie wechselten auch die Namen ihrer Betriebe, um Übergriffen zu entgehen. So mutierte die Dresden Piano Company zur Bristol Piano Company. Städte, Berge und sogar der Franz-Josef-Gletscher wurden gleichfalls umbenannt. Diejenigen Neuseeländer, die Übergriffe gegen Angehörige der gegnerischen Staaten ablehnten, konnten die fremdenfeindliche Kriegspropaganda besonders ab 1915, als die Kriegsverluste wuchsen, kaum noch eindämmen. Erneut wurden die Läden von Inhabern, deren Namen eine deutsche Herkunft nahelegten, geplündert, so in der Stadt Wanganui an der Westküste der Nordinsel Neuseelands. Hier und in anderen Gemeinden verband sich die Empörung emotionaler Kriegsgemeinschaften 694 Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘, S. 50 f., 73 (Angabe). 695 Ebd., S. 96–103, 109 (Angabe), 130–137. Vgl. auch Jean King, Anti-German Hysteria during World War I, in: Bade (Hg.), Shadow, S. 19–24, hier: S. 22 f.

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mit der Entschlossenheit, sich am Eigentum der hilflosen und oft ungeschützten enemy aliens zu bereichern.696 Dennoch kritisierte sogar in der Regierung der Innen- und Gesundheitsminister George Russell (1854–1937) die aus seiner Sicht nach wie vor unzureichende Überwachung der enemy aliens. Er hielt sogar Neuseelands Sicherheit für gefährdet. Massey und Verteidigungsminister James Allen (1855–1942) gaben dem wachsenden Druck 1915 zwar nicht einfach nach. Jedoch sahen sie sich gezwungen, die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger auszuweiten. Dazu waren schon unmittelbar nach Kriegsbeginn Lager auf den beiden Inseln Somes und Motuihi (nahe Auckland) eingerichtet worden, die dem britischen Kolonialministerium unterstanden. Schon Anfang August 1914 waren 90 Deutsche ohne Haftbefehl festgenommen und nach Somes (vor Wellington) gebracht worden. Im Herbst belief sich die Zahl der deutschen Internierten auf 236. Tschechen wurden in Freiheit belassen. Auch hatte die Polizei unmittelbar nach Kriegsbeginn nur drei Türken verhaftet. Ebenso wurden Bürger Österreich-Ungarns weitgehend geschont. Jedoch mussten viele der verhassten Bewohner Dalmatiens Zwangsarbeit leisten. Die Regierung kündigte aber Freilassungen nach Anhörungen an und setzte einzelne Internierte, für die britische Staatsangehörige ein günstiges Leumundszeugnis ausgestellt hatten, auf Bewährung frei. Außerdem übernahm das Gesundheitsministerium ab Oktober 1914 die Hälfte der Kosten, mit denen karitative Verbände den Lebensunterhalt der Angehörigen von Internierten sicherten. Insgesamt wurden in Neuseeland zwar nicht mehr als 500 Feindstaatenangehörige festgenommen. Allerdings befanden sich darunter auch Eingebürgerte, und die Internierung ohne individuelle Begründung widersprach auch hier den Grundsätzen des Habeas Corpus. Sogar der deutsche Generalkonsul in Auckland, Carl Seegner, wurde 1916 festgenommen, obwohl er 69 Jahre alt war und drei Jahrzehnte in Neuseeland gelebt hatte. Nach der schnellen Eroberung Samoas übernahm die Regierung 1914 auch Deutsche, die von der Südseeinsel deportiert wurden. Zuvor war eine ergänzende Verordnung zum War Regulations Act verabschiedet worden. Sie legalisierte die Internierung von Personen, die in besetzten Gebieten verurteilt worden waren. Daraufhin brachten Schiffe sechzig bis siebzig der rund 250 deutschen Siedler, die auf Samoa aufgegriffen worden waren, nach Neuseeland.697 Der Umgang mit den zivilen Feindstaatenangehörigen wurde aber nicht nur von der

696 Francis, Anti-Alienism, S. 255–257, 261; King, Hysteria, S. 22 f. 697 Barkhof, Occupation, S. 208; King, Hysteria, S. 21. Angaben nach: Stibbe, Enemy Aliens and Internment; Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘, S. 89, 113.

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Regierung dieses Dominion bestimmt, sondern durchweg auch vom britischen Außenministerium beeinflusst.698 Zudem behandelten die Behörden die Internierten in Neuseeland keineswegs gleich. Vielmehr hielt die Regierung die Angehörigen der deutschen Oberschicht (darunter Geschäftsleute wie der Manager der Deutschen Handels- und Plantagen-Gesellschaft der Südsee-Inseln zu Hamburg, Paul Hansen, der ehemalige Gouverneur von Deutsch-Samoa, Erich Schultz, der Kapitän des Hilfskreuzers „Seeadler“, Felix von Luckner, und die Konsuln Eberhard Focke und Carl Seegner) überwiegend auf Motuihi fest. Hier waren sie privilegiert untergebracht. Auf Motuihi internierten die Behörden auch die einzige Frau, die mit dem früheren stellvertretenden Gouverneur von Samoa verheiratete Aline Tecklenburg. Im Juni 1916 wurde der über siebzigjährige Seegner wegen seiner stark angeschlagenen Gesundheit freigelassen, während die Regierung eine Entlassung des früheren österreich-ungarischen Konsuls in Auckland, Eugen Langguth, ablehnte. Im Oktober 1917 beschloss das Kabinett auf Empfehlung des britischen Außenministeriums, das Ehepaar Tecklenburg freizulassen. Damit gewährte es angesichts der akuten Krankheit Aline Tecklenburgs und unter dem Eindruck der wiederholten Verbalnoten des Auswärtigen Amtes eine Ausnahme gegenüber der ansonsten üblichen Praxis. Neuseeland überführte die beiden Deutschen über das Vereinigte Königreich nach Frankreich, dessen Regierung über das weitere Verfahren entscheiden musste.699 Auch Gouverneur Schultz (1870–1935) wurde 1917 aus gesundheitlichen Gründen aus Neuseeland verbracht, obwohl das britische Außen- und Kolonialministerium ebenso wie die Regierung Neuseelands übereinstimmend erklärten, dass seine Beschwerden unbegründet waren.700 Dasselbe Verfahren schlug die Regierung Neuseelands schließlich für Langguth vor, dessen Freilassung in Neuseeland aber noch 1916 offiziell unerwünscht war, obwohl er seit mehr als drei Jahren im Land lebte und sein Sohn in den militärischen Hilfsverbänden der Territorial Force diente.701 Im Lager Motuihi gehörten im Juli 1917 38 der insgesamt 84 Internierten der ersten und 46 der zweiten „Klasse“ an. Die bevorzugten Insassen genossen Privilegien wie eine bessere Versorgung und größere Freiheiten. Diese Zuge698 Dazu exemplarisch die Notiz vom 13. Juli 1915 in: NA, FO 383/70. Angabe nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 46. 699 NA, FO 383/305 (Schreiben vom 31. Mai 1917, 9. Juli, 21. August und 12. September 1917; Verbalnote vom 4. September 1917 und Telegramm vom 8. Oktober 1917); NA, FO 383/118 (Schreiben vom 2. und 11. Juni 1916). Vgl. auch Barkhof, Occupation, S. 215 f. 700 NA, FO 383/30 (Schreiben vom 12. März 1915; Vermerk vom 17. Mai 1917); FO 383/29 (Schreiben vom 6. Februar 1915). 701 NA, FO 383/118 (Schreiben vom 2. Juni 1916).

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ständnisse widersprachen aber der pauschalen Verurteilung der „Hunnen“ und erregten den Zorn der Befürworter einer radikalen Internierungspolitik, zu denen auch der Abgeordnete für Christchurch East, Henry Thacker (1870–1939), gehörte. Demgegenüber waren die Lebensbedingungen auf der Insel Somes deutlich schlechter. Hier wurden Ende 1917 insgesamt 277 und im Mai 1918 314 Lagerinsassen gezählt, von den 270 in Deutschland geboren waren. 19 weitere entstammten Österreich und elf Dalmatien. Der Rest gehörte anderen Nationen an, gegen die Neuseeland Krieg führte. Außer der mangelnden Hygiene und den harten Strafen für geringfügige Verstöße gegen die Lagerordnung klagten die Insassen vor allem über die Kälte und den Regen. Die Wetterbedingungen waren besonders die Internierten, die von Samoa nach Neuseeland gebracht worden waren, nicht gewohnt.702 Alles in allen war die Internierungspolitik der Regierung offenkundig von einer Unterscheidung nach Status und Klassenzugehörigkeit geprägt. Die unterschiedliche Behandlung kritisierten populistische Zeitungen und Zeitschriften wie die New Zealand Free Lance und nationalistische Verbände, so die British Patriotic League. Sie forderten auch eine gleichere Verteilung der Lasten und Opfer des Krieges, der nach ihrer Auffassung die Eliten und Oberschicht weitestgehend verschonte. Diese Agitation, die 1916 in der Gründung der Women’s Anti-German League (WAGL) gipfelte, ging unmittelbar mit einem fremdenfeindlichen Populismus einher. Er richtete sich gegen Angehörige der gegnerischen Staaten, besonders Deutsche. Unter den extremen Bedingungen des totalen Krieges verbanden sich Fremdenfeindlichkeit und Ressentiments gegen traditionale Eliten mit Kontroversen über Staatszugehörigkeit und Loyalität. Demgegenüber geriet Humanität in die Defensive. So forderte die New Zealand Free Lance am 11. Juni 1915: „… there must be no mealy-mouthed cant about ‚humanitarianism‘ in dealing with the Germans in our midst who have chosen to remain Germans.“703 Die nationalistische Mobilisierung gegen den Professor für Sprachwissenschaft am Victoria College in Wellington, George von Zedlitz (1871–1949) zeigte die Sprengkraft des fremdenfeindlichen Populismus, der sich im Ersten Weltkrieg gegen die Eliten und das Establishment wandte. Von Zedlitz hatte keinen Antrag auf Einbürgerung gestellt, war aber in Großbritannien erzogen worden und lebte seit 1902 in Neuseeland. Da er am 3. August 1914 (d. h. vor der Kriegserklärung Großbritanniens) unvorsichtigerweise der Botschaft Deutschlands 702 Murphy, Captivity, S. 59 f.; Barkhof, Occupation, S. 215 f.; Manz / Panayi, Enemies, S. 115, 125. Angaben nach: Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘, S. 117, 119, 125. 703 New Zealand Free Lance, 11. Juni 2015, zit. nach: Francis, Anti-Alienism, S. 261. Vgl. auch Martin, Blueprint for the Future?, S. 519.

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seine Dienste für den Sanitätsdienst des Kaiserreiches angeboten hatte, stellten die Empire-Nationalisten, die das Vereinigte Königreich unterstützten, seine Loyalität gegenüber Neuseeland schon früh in Frage. Er hatte sich seit 1910 im Victoria College der Bewegung für eine Universitätsreform angeschlossen und wurde im Ersten Weltkrieg auch in seiner Hochschule angefeindet. Angesicht des massiven Drucks verabschiedete die Regierung am 15. September 1915 die Alien Enemy Teachers’ Bill, die zwar allgemein allen Feindstaatenangehörigen Positionen in öffentlichen Bildungseinrichtungen verwehrte, aber vor allem die Verdrängung des verdächtigten Sprachwissenschaftlers legalisieren sollte. Von Zedlitz wurde daraufhin aus dem Victoria College entlassen und auch nach dem Waffenstillstand nicht erneut eingestellt.704 Insgesamt wies die Regierung Neuseelands, welche die Einwanderungsund Internierungspolitik trotz der Eingriffe aus London bestimmte, der Sicherheit des Landes Priorität zu. Sie erlaubte aber eine Kontrolle der Lager durch neutrale Schutzmächte. So inspizierte der amerikanische Generalkonsul von Auckland bis zum Kriegseintritt der USA die Lager. Auch ein Schweizer Diplomat führte Besichtigungen durch, um die Behandlung und das Leben der Insassen zu prüfen. Im Juli 1917 besuchte er die Insel Somes, wo er 271 Zivilinternierte vorfand, darunter 222 Deutsche. Der Konsul berichtete, dass die Lagerinsassen zwar gut ernährt und versorgt waren, der Kommandant die Internierten aber mit seinem aggressiven Verhalten gegen sich aufgebracht hatte. Dagegen zeigte sich der Leiter des Lagers auf Motuihi offenbar entgegenkommender und flexibler. Die Flucht Felix Graf von Luckners (1881–1966), der im Oktober 1917 mit seiner Mannschaft im Pazifik aufgegriffen worden war, aus dem Camp nur zwei Monate später löste deshalb nicht nur Bewunderung, sondern auch geharnischten Protest aus. So warf die WAGL der Regierung vor, mit Arglosigkeit und Nachlässigkeit das Entkommen des populären Kapitäns begünstigt zu haben, obwohl Luckner schon nach einer Woche erneut gefasst wurde. Die Regierung entließ daraufhin den Kommandanten des Lagers Motuihi. Die Vorwürfe des prominenten deutschen Kapitäns, dass Gefangene auf Somes misshandelt würden, trugen im März 1918 aber zur Einsetzung einer Untersuchungskommission bei, die in ihrem Bericht den Umgang mit festgesetzten Zivilisten in den Lagern kritisierte. Nach dem Waffenstillstand wurden im Mai 1919 schließlich 410 Zivilisten – überwiegend Deutsche – in ihre Heimatländer zurückgeführt.705 Obwohl eine Invasion im Verlauf des Ersten Weltkrieges unwahrscheinlich wurde, verwiesen die Befürworter eines rigorosen Vorgehens unablässig auf die 704 McGibbon, Germany, S. 8; King, Hysteria, S. 21 f. 705 Francis, Anti-Alienism, S. 122 (Angaben), 143–150. Vgl. auch James N. Bade, Count Felix von Luckner, in: ders. (Hg.), Shadow, S. 37–49, hier: S. 39–42.

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Sicherheit des Landes, um neue Gesetze zu fordern. Die Regierung internierte zwar nicht – wie weithin verlangt – alle zivilen Feindstaatenausländer, zwang sie aber mit dem Registration of Aliens Act vom September 1917, sich innerhalb von 28 Tagen in ein Register eintragen zu lassen. Das Gesetz nahm nur Eingebürgerte von der Zwangsmaßnahme aus. Auch dieses Zugeständnis traf auf den Widerspruch der radikalen Nationalisten, die – wie der Abgeordnete John Vigor Brown (1854–1942) – auch auf eine Zusage der Regierung drängten, nach dem Kriegsende alle enemy aliens auszubürgern. Um die geschürten Sicherheitsängste zu verringern und der Opposition entgegenzukommen, legte der Minister für Einwanderung, Francis Dillon Bell (1851–1936), noch im September 1917 die Revocation of Naturalisation Bill vor, die der Regierung erlaubte, vor 1914 unrechtmäßig oder auch nur fahrlässig vorgenommene Einbürgerungen zu annullieren. Die Vorlage, die am 15. September 1917 Gesetzeskraft erlangte, richtete sich vorrangig gegen ausländische Frauen von Briten, Kinder von Eingebürgerten und diejenigen, die in Großbritannien oder in einem Dominion (darunter auch Neuseeland) nach dem Aliens Act von 1908 aufgenommen worden waren. Diesen Gruppen konnte die neuseeländische Staatsbürgerschaft entzogen werden.706 Zu den Maßnahmen, die gegen zivile Feindstaatenangehörige in Neuseeland ergriffen wurden, gehörten auch wirtschaftliche Restriktionen. Deutschstämmige Unternehmer wurden beschuldigt, für das Kaiserreich zu arbeiten. Nationalistische Organisationen riefen zum Boykott ihrer Betriebe und Produkte auf. Neuseeländische Kunden sollten ausschließlich Waren kaufen, die in Großbritannien und in seinem Empire erzeugt worden waren. Dazu initiierte vor allem die WAGL eine Kampagne, die auf die neuseeländischen Hausfrauen zielte. In ihrer Agitation nahm sie geschlechterspezifische Rollenzuweisungen ausdrücklich auf, indem sie den Einkauf ausschließlich als weibliche Tätigkeit darstellte. Auch warben Unternehmen in Anzeigen und Gewerbeausstellungen (so im Rahmen der British Commercial and Industrial Patriotic Exhibition, welche der Industrieverband und die Handelskammer von Wellington im Februar 1916 ausrichteten) ausschließlich für eigene und britische Produkte, denen Embleme, Symbole (so der Kiwi) und der Bezug zum Kriegseinsatz in den Augen der Konsumenten eine hohe Qualität verleihen solle. So warb ein Arzneimittelhersteller für seine Tabletten gegen Verstopfung, die er als „Feind in unserer Mitte“ bezeichnete.707 Damit nahm er auf den Kampf gegen enemy aliens Bezug, deren 706 Francis, Anti-Alienism, S. 104–109. Hierzu und zum Folgenden auch: Francis, From ‚Proven Worthy Settlers‘ to ‚Lawless Hunnish Brutes‘, S. 289, 297–299, 306–309; Caglioti, Subjects, S. 509. 707 Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘, S. 189 („An Enemy in Our Midst“). Vgl. auch McGibbon, Germany, S. 8 f.; King, Hysteria, S. 22.

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wirtschaftlicher Einfluss in Neuseeland endgültig gebrochen werden sollte. Vor allem neuseeländische Unternehmer, ihre Organisationen und Handelskammern nutzten den Krieg, um sich der lästigen deutschen Konkurrenz unwiderruflich zu entledigen.708 Dafür spannten sie auch die Regierung ein, die schon im November 1914 den Trading with the Enemy Act erlassen hatte. Nach dem Gesetz mussten Personen, die mit gegnerischen Staaten oder ihren Angehörigen handelten, mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren rechnen. Alternativ sollten bis zu 1.000 Pfund gezahlt werden. Der Trading with the Enemy Act, den die Regierung in der Hoffnung auf ein rasches Kriegsende zunächst nur bis zum 31. Dezember 1914 befristet hatte, konnte aber umgangen werden, indem deutsche Produkte über neutrale Staaten wie die Niederlande, die Schweiz oder Schweden nach Neuseeland eingeführt wurden. Neuseeländische Unternehmer und ihre Verbände bezeichneten dieses Schlupfloch als Sicherheitsgefahr und erreichten damit, dass die Regierung im Juli 1915 den weitergehenden Enemy Contracts Act verabschiedete. Das neue Gesetz erlaubte, Verträge mit Angehörigen gegnerischer Länder zu kündigen, auch wenn andere ausländische Staaten beteiligt und damit geschädigt wurden. Die Kampagne wurde nach dem Waffenstillstand und dem Versailler Vertrag weitergeführt. Auch wies die Regierung im Mai 1919 410 zuvor internierte Deutsche – darunter Erich Schultz – aus. Jedoch erfüllte sich die Erwartung der neuseeländischen Unternehmer und Händler, ihren Betrieben auf dem Markt ihres Landes ein Monopol sichern zu können, letztlich nicht. Vielmehr hob die Regierung die Gesetze, die im Ersten Weltkrieg die wirtschaftliche Aktivität von enemy aliens weitgehend unterbunden hatten, schließlich auf.709 Kanada Ebenso wie Australien und Neuseeland strebte Kanada im frühen 20. Jahrhundert nach nationaler Unabhängigkeit, die führende Politiker von einer vorbehaltlosen Unterstützung Großbritanniens erhofften. Zudem prägte die bereits vorhandene Fremdenfeindlichkeit in allen drei Dominions den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Ersten Weltkrieg. In Kanada hatte sich die Regierung um 1900 zwar aktiv und erfolgreich um die Einwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland bemüht; jedoch waren bereits aus der Ankunft chinesischer Einwanderer im 19. Jahrhundert Spannungen und Konflikte hervorgegangen. Rassistische Vorurteile und Feindbilder wie die Vorstellung von der „gelben Gefahr“ verbreiteten sich vor allem in der Provinz British Columbia, 708 Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘, S. 191–198. 709 Ebd., S. 198–201, 206–210. Angabe nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 263.

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wo viele Chinesen landeten und arbeiteten. Da sie als rückständig galten, führten sie nur untergeordnete Tätigkeiten aus, so beim Eisenbahnbau. In den 1880er Jahren, als eine Wirtschaftskrise viele Kanadier in Not brachte, verschärften sich die fremdenfeindlichen Ressentiments. Der Rassismus richtete sich darüber hinaus gegen die japanischen Einwanderer, die sich in den 1890er Jahren zunehmend in Kanada niederließen. Von den 4.800 Japanern, die 1901 in British Columbia lebten, arbeiteten viele als Fischer oder im Obst- und Gemüsebau. Anders als die Regierungen der USA, Australiens, Neuseelands und der südafrikanischen Provinz Natal lehnte die Regierung Kanadas zwar ein generelles Einwanderungs- und Beschäftigungsverbot gegen Asiaten ab; in British Columbia wurde ihnen aber das Wahlrecht entzogen, obwohl hier viele Japaner und Chinesen eingebürgert worden waren. Aber auch Deutschstämmige, die 1911 mit 393.320 Einwohnern rund 5,5 Prozent der Gesamtbevölkerung stellten, wurden der Illoyalität verdächtigt. Daneben lebten in Kanada 129.103 Bürger Österreich-Ungarns und 3.880 Untertanen des osmanischen Sultans.710 Zwar grenzten sich die politischen Eliten des Landes nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges von den „barbarischen“ Formen des Kampfes ab, den sie den Deutschen zuschrieben. Auch bekannten sie sich zu humanitären Mindeststandards im Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen, die nach den christlichen Prinzipien der Nächstenliebe und Fürsorge behandelt werden sollten. Allerdings folgte die Sicherheitspolitik im Wesentlichen dem Vorgehen der britischen Regierung, die dafür insbesondere das Committee of Imperial Defence nutzte. Demgegenüber erließ die Regierung nach ersten Sicherheitsgesetzen vom 7. und 13. August 1914 am 22. August den War Measures Act, der u. a. drastische Maßnahmen zur Überwachung und die Festnahme von Feindstaatenangehörigen vorsah. Das Gesetz legalisierte ein Notstandsregime, das damit angesichts von Krieg oder Kriegsgefahr, Invasion und Aufständen die Verteidigung Kanadas gewährleisten sollte. Ein umfassendes Bedrohungsszenario, das die weit verbreiteten Ängste zugleich widerspiegelte und noch erhöhte, sollte die Übertragung starker Kompetenzen auf die Regierung ebenso rechtfertigen wie ein breit gefasstes Sicherheitsverständnis. So durfte das Kabinett über den Gouverneur der britischen Krone (Governor in Council) Dekrete erlassen, ohne das Parlament zu beteiligen. Das Spektrum der Maßnahmen, die der Regierung nach dem War Measures Act eingeräumt wurden, reichte von der Zensur über 710 Gomer Sunahara, The Politics of Racism. The Uprooting of the Japanese Canadians During the Second World War, Toronto 1981, S. 11 f.; Kordan, Enemy Aliens, S. 28 f., 44 f. Angaben nach: Donald H. Avery, Internment (Canada), in: Ute Daniel u. a. (Hg.), 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, Berlin 2015-03-27 (doi:10.15463/ie1418.10594; Zugriff am 13. Mai 2020); Wüstenbecker, Politik, S. 264; Smith, Japanese Canadians, S. 95, 97; Manz / Panayi, Enemies, S. 66.

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das Verbot einzelner Organisationen bis zur Internierung und Deportation. Das Gesetz nährte besonders das Misstrauen gegen Feindstaatenausländer, die nach dem Kriegsbeginn arbeitslos geworden waren. Um Unruhen, die nach Auffassung der Regierung und der lokalen Eliten besonders von verarmten enemy aliens ausgehen konnten, zu vermeiden, wurden viele von ihnen interniert. Zugleich wurde damit eine Sicherheitsgefahr erst definiert, da die Behörden selber mit ihrer repressiven Politik Mißtrauen sähten. Dementsprechend konnten grundlegende Freiheitsrechte, die im Habeas Corpus verankert waren, aufgehoben werden. Die Rechtswissenschaftlerin Patricia Peppin hat dem Gesetz im Rückblick sogar ein „potential for despotism“ zugeschrieben.711 Zunächst blieb die Politik gegenüber den rund 120.000 zivilen Feindstaatenangehörigen, die 1914 in Kanada lebten, noch zurückhaltend. Als das wirtschaftliche Wachstum und der Handel nach dem Kriegsbeginn aber zurückgingen, wurden viele enemy aliens entlassen, zumal sie als illoyal galten. Ihres Lebensunterhaltes beraubt, verarmte diese Gruppe, so dass sie der öffentlichen Fürsorge anheimfiel. Die Regierung hatte keine Vorkehrungen für eine staatliche Unterstützung getroffen, untersagte den Betroffenen aber auch die Ausreise in die Vereinigten Staaten. Daher wandten sich die Bedürftigen an kommunale Behörden und Wohlfahrtsverbände, die jedoch schon im Herbst 1914 überfordert waren. Bürgermeister und Premierminister der Provinzen lenkten die Aufmerksamkeit der Regierung auf die Not der zivilen Feindstaatenangehörigen. Auch Premierminister Robert Borden (1854–1937) und Justizminister Charles Doherty (1855–1931) zeigten sich zunehmend besorgt über die Sprengkraft der Armut. Angesichts der Notlage verlangten Nationalisten und Anhänger Großbritanniens, aber auch Aktivisten in den Fürsorgeverbänden zunehmend die Internierung von enemy aliens. Diese Forderung vertraten ebenso Geistliche und Unternehmer wie der Industrielle Thomas Shaughnessy (1853–1923) in Montreal. Er empfahl, nach Standorten für Lager zu suchen, in denen arbeitslose Deutsche, Österreicher und Türken versorgt werden konnten. Zudem erhöhte der britische Außenminister Edward Grey (1862–1933) den Druck auf die Regierung, die ihre Loyalität gegenüber dem Vereinigten Königreich klar zeigen sollte. Bordens Kabinett ging daraufhin gleichfalls zu einem Verordnungsregime über, in

711 Avery, Internment; Peppin, Emergency Legislation, S. 132; Luciuk, Fear, S. 10; Manz / Panayi, Enemies, S. 99. Vgl. auch Bohdan S. Kordan, No Free Man. Canada, the Great War and the Enemy Alien Experience, Kingston 2016, S. 76 f.; ders., „They Will Be Dangerous“. Security and the Control of Enemy Aliens in Canada, 1914, in: Barry Wright / Eric Tucker / Susan Binnie (Hg.), Canadian State Trials, Bd. 4: Security, Dissent, and the Limits of Toleration in War and Peace, 1914–1939, Toronto 2015, S. 42–70, hier: S. 42, 44, 54 f., 57, 64; ders., Enemy Aliens, S. 16–18; ders., Internment, S. 162.

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dem das Parlament ausgeschaltet war. Weder die liberale Opposition noch die Medien erhoben gegen die Regierung durch Orders-in-Council Einwände.712 Nachdem das Kabinett im August und September 1914 enemy aliens den Besitz von Waffen und die Übermittlung kriegsrelevanter Nachrichten verboten hatte, verabschiedete es am 28. Oktober die Alien Enemy Registration Ordinance (Order-in-Council P. C. 2721). Nach dieser Verordnung konnten zivile Feindstaatenausländer nicht nur überwacht, sondern auch ohne individuelle Begründung verhaftet und festgesetzt werden. Zuständig für diese Maßnahmen war das Justizministerium, das die konkrete Durchführung aber der Dominion Police und der Royal Northwest Mounted Police übertrug. Die Internierungslager unterstanden dem neugebildeten Internment Operations Directorate, das Generalmajor William Otter (1843–1929) ab 6. November 1914 (nach der Order-in-Council P. C. 2817) leitete. Als der Sicherheitsapparat etabliert war, wurden schon bis Ende November 8.200 Deutsche, Österreicher und Ungarn verhaftet, bis Februar 1915 aber nur 2.294 von ihnen interniert. Darunter waren viele Einwanderer aus der Habsburgermonarchie (so Ukrainer), wo sie weiterhin der Wehrpflicht unterlagen. Darüber hinaus waren 36.620 enemy aliens in den Städten gezwungen worden, sich bei der Polizei registrieren zu lassen. Bis Juni stieg die Zahl der Lagerinsassen in den verschiedenen Camps auf 5.088 und bis zum 1. Mai 1916 auf 6.061. Insgesamt erfasste die Internierung in Kanada 8.579 enemy aliens (1,5 Prozent der vom War Measures Act Erfassten). Davon hatten die Sicherheitsbehörden 2.009 Deutschen vorgeworfen, Kanadas Kriegsanstrengungen zu sabotieren. Weitere 5.954 Internierte waren Österreicher oder Ungarn (darunter viele Ukrainer), 205 Türken und 99 Bulgaren. Mehr als 80.000 andere Feindstaatenangehörige mussten sich regelmässig bei Gemeindeverwaltungen oder Polizeistationen melden. Vor allem 1915, als kanadische Grenzsoldaten verhaftete Personen verdächtigt hatten, die Sprengung von Brücken zwischen Kanada und den USA vorbereitet zu haben, waren Deutschstämmige angegriffen und verhaftet worden. 1916/17 löste der Brand des Parlamentsgebäudes in Ottawa und eine Explosion im Hafen von Halifax erneut Repressionen aus. Im Februar 1918 belief sich die Zahl der in Lager eingewiesenen deutschen Zivilisten noch auf 1.198; 463 weitere Internierte gehörten anderen gegnerischen Staaten an. Im März wurden auch 47 Frauen und Kinder gezählt, die freiwillig mit ihren gefangenen Männern bzw. Vätern in den Camps lebten. Zu dieser Zeit waren aller-

712 Kordan, „They Will Be Dangerous“, S. 44–54, ders., Man, S. 73 f.; ders., Enemy Aliens, S. 5 (Angabe) 21 f., 25 f.

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dings nur noch rund 2.100 zivile und militärische Feindstaatenangehörige in den Lagern, da Otter ab 1915 mehr als 6.000 von ihnen freigelassen hatte.713 Diesen Opfern des Ersten Weltkrieges wurde nicht nur die Freiheit, sondern auch das Recht auf Widerspruch genommen. Besonders sollten enemy aliens, die verarmten, weil sie ihre Arbeit verloren hatten, interniert werden, nach einer ergänzenden Verordnung zum War Measures Act aber als Kriegsgefangene. Damit verwischte Kanadas Regierung den völkerrechtlich wichtigen Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten, um den Internierten, die auf Bewährung freigelassen wurden, eine Arbeitspflicht auferlegen zu können. So wurde auch eine massive staatliche Unterstützung der oft verarmten Zivilisten vermieden. Frauen und Kinder durften ihre Männer bzw. Väter in die Lager begleiten. Die kanadische Regierung rechtfertigte die Internierung dieser mittel- und hilflosen Deutschen, Österreicher und Ungarn sogar als humanitäre Maßnahme. Demgegenüber drängte der britische Kolonialminister Andrew Bonar Law den Generalgouverneur Kanadas 1916, die Arbeitsverpflichtung für internierte deutsche Zivilisten aufzuheben. Damit erreichte er zumindest eine Abmilderung, bevor die deutsche Regierung, die öffentlich gegen die Praxis protestierte, zu Repressalien griff.714 Auch die Internierten selber kritisierten in einer Vielzahl von Eingaben die exzessive Sicherheitspolitik der Behörden. Diese nahmen sogar Eingebürgerte fest, die aus den „Mittelmächten“ stammten. Zudem protestierten die „Kriegsgefangenen“ gegen diesen Status, denn sie waren Zivilisten. Über die Gruppe der Internierten hinaus mussten sich alle Ausländer, deren Länder gegen Kanada Krieg führten, bei den jeweiligen Ämtern ihrer Gemeinden registrieren lassen und sich dort regelmäßig melden. Diese Vorschrift erfasste rund 85.000 enemy aliens, die über die Anordnung verstört und empört waren, da sie sich als loyale Staatsbürger betrachteten. Zudem traf die Macht der Beamten in den lokalen Behörden auf Widerspruch, da sie Sicherheitsgefahren oft willkürlich definierten. Zivile Feindstaatenangehörige, die sich der Registrierungspflicht entzogen, wurden festgenommen. Insgesamt diskriminierte und kriminalisierte die Order-inCouncil P. C. 2721 pauschal alle enemy aliens, deren Internierung legalisiert wurde, wenn sie als Sicherheitsrisiko galten. Kritiker warfen der Regierung Täu713 Angaben nach: NA, FO 383/473 (Memorandum „The Internment of Enemy Aliens in Canada“); Luciuk, Fear, S. 6; Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘, S. 227; Manz / Panayi, Enemies, S. 99, 125; Kordan, Internment, S. 165; ders., „They Will be Dangerous“, S. 42, 63; ders., Enemy Aliens, S. 25, 32, 36; ders., Man, S. 82 f., 128; Peppin, Emergency Legislation, S. 142 f.; Keyserlingk, Allies or Subversives?, S. 240; Kordan, Internment, S. 162. Vgl. auch Wüstenbecker, Politik, S. 266 f.; Avery, Internment. 714 Kordan, Man, S. 75–79, 84, 92; ders., Enemy Aliens, S. 34, 45–48; Stibbe, Civilian Internment, S. 141–143; Luciuk, Fear, S. 14–19.

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schung und eine unterschiedslose Unterdrückung wehrloser Minderheiten vor. Allerdings durften „ungefährliche“ Feindstaatenangehörige, die über finanzielle Mittel für eine Ausreise verfügten und gegnerischen Staaten im Krieg nicht dienen konnten, Kanada nach der Verordnung vom 28. Oktober 1914 verlassen.715 Die fremdenfeindliche Politik richtete sich vor allem gegen Deutsche, die schon seit dem 18. Jahrhundert eingewandert waren. 1867, als die britisch-nordamerikanischen Provinzen das Dominion Kanada bildeten, hatten sich drei Viertel der hier lebenden Deutschen, die vor allem aus dem Osten der USA nach Norden gewandert waren, in Ontario niedergelassen. Anschließend war der Westen zu einem bevorzugten Ziel geworden, besonders für deutsche Mennoniten, die nach dem 1872 erlassenen Dominion Lands Act Boden zu günstigen Bedingungen erhielten. Die Mehrheit dieser Siedler war nicht in Deutschland geboren, sondern aus Russland, Polen und den Vereinigten Staaten zugezogen, wie eine Volkszählung in Manitoba 1886 zeigte. Bei Kriegsausbruch stammten rund eine halbe Million Kanadier (sechs Prozent der Bevölkerung) aus Deutschland oder Österreich-Ungarn. 80.000 dieser Feindstaatenangehörigen hatte die Polizei vorab verzeichnet.716 In den Jahren von 1914 bis 1918 brach das kulturelle Leben in den Gemeinden der Österreicher und Deutschen weitgehend zusammen, da viele entlassen wurden und damit ihren Lebensunterhalt verloren. Zu den Betroffenen zählten auch prominente Intellektuelle und Akademiker, die oft schon seit Jahrzehnten in Kanada lebten. So entzog die Universität Toronto Professor P. W. Mueller seine Position als Dozent. Ihm wurde Illoyalität vorgeworfen, obwohl er bereits zwei Jahre zuvor eingewandert war. Eine Untersuchungskommission lehnte auch seinen Antrag auf Einbürgerung ab. Außerdem wurden die deutschsprachige Presse und Gottesdienste verboten. Auch schlossen die Behörden deutsche Schulen. Darüber hinaus erhielten Orte mit deutschen Namen englischsprachige Bezeichnungen. So wurde aus der Stadt „Berlin“ in Ontario „Kitchener“. Viele Deutsch-Kanadier verleugneten daraufhin ihre Abstammung.717 715 Kordan, Man, S. 75–79, 84, 92; ders., Enemy Aliens, S. 34, 45–48; Stibbe, Civilian Internment, S. 141–143. Von lediglich 9.000 zivilen Staatsangehörigen der „Mittelmächte“ wird ausgegangen in: Robert H. Keyerlingk, The Canadian Government’s Attitude Toward Germans and German Canadians in World War II, in: Canadian Ethnic Studies 16 (1984), S. 16–28, hier: S. 17. 716 Udo Sautter, Deutsche in Kanada, in: Bade (Hg.), Deutsche, S. 185–197, hier: S. 185–194; Robert H. Keyserlingk, Allies or Subversives? The Canadian Government’s Ambivalent Atitude towards German-Canadians in the Second World War, in: Panayi (Hg.), Minorities, S. 239–260, hier: S. 240; Auger, Prisoners, S. 9. Angabe nach: Peppin, Emergency Legislation, S. 142. 717 Kordan, Man, S. 83 f.; ders., „They Will Be Dangerous“, S. 61 f.; Blackbourn, Germans, S. 344.

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Alle Feindstaatenangehörigen, besonders die Deutschen, wurden zudem Opfer der Ausschreitungen, welche die Versenkung der Lusitania auch in Kanada auslöste. Vielerorts – so in Victoria (Provinz British Columbia) – verwüsteten empörte Kanadier Wohnhäuser und Geschäfte, die deutsche Namen trugen. Personen, die enemy aliens waren oder als solche galten, wurden belästigt, angepöbelt oder geschlagen. In mehreren Bundesstaaten gaben die jeweiligen Regierungen Forderungen von Bergarbeitern nach, die verlangt hatten, in den Minen alle Feindstaatenangehörigen zu entlassen. Auch der Druck, der von der intensiven Pressekampagne gegen „Saboteure“ und „Spione“ ausging, veranlasste die Regierung im Frühsommer 1915, die Verhaftung von enemy aliens auszuweiten. Doherty bat Otter am 26. Juni, Deutsche, Österreicher und Türken zu übernehmen, die sich bereits in Polizeigefängnissen befanden. Zugleich erließ die Regierung die Order-in-Council P. C. 1501. Nach dieser Verordnung waren arbeitslose Feindstaatenangehörige unverzüglich zu internieren. Außerdem konnten Deutsche, Österreicher und Ungarn, die mit Kanadiern um Stellen konkurrierten, sofort entlassen werden. Am Jahresende hatte die Regierung schließlich ein Lagersystem etabliert, das den gewachsenen Sicherheitsängsten und – damit verbunden – dem Ziel gerecht werden sollte, verarmte enemy aliens zu versorgen. Darüber hinaus war beabsichtigt, die Internierten für Entwicklungsprojekte einzusetzen, so dass die Camps überwiegend in entlegenen Regionen errichtet wurden. Die Regierung zwang vor allem Österreicher und Ungarn im Westen Kanadas zur Arbeit, während Deutsche überwiegend in den östlichen Provinzen in festen Lagern untergebracht wurden. Zu den einschneidenden Restriktionen gehörte auch der Wartime Elections Act. Das Gesetz, das die Regierung am 20. September 1917 erließ, entzog enemy aliens, die nach dem 31. März 1902 eingebürgert worden waren oder den Wehrdienst für Kanada verweigert hatten, das Wahlrecht.718 Die Eingriffe in die Freiheit der zivilen Feindstaatenangehörigen rechtfertigte die Regierung mit dem Hinweis auf Sicherheitserfordernisse. Die zuständigen Ministerien für Miliz und Verteidigung (Department of Militia and Defence, 1914–15) sowie für Justiz (Department of Justice, 1915–1920) behandelten Internierte, von denen einige aus Großbritannien über den Atlantik transportiert worden waren, insgesamt aber relativ human. Dazu trugen die Frankokanadier erheblich bei, indem sie auf die Unabhängigkeit des Staates von Großbritannien setzten und eine enge Kooperation im Rahmen des Empire ablehnten. Darüber hinaus waren die Behörden ebenso wie die britische Regierung im Umgang mit Angehörigen einzelner Migrantengruppen aus multiethnischen Imperien unsi718 Kordan, Man, S. 90–102, 114 f.; 122, 141 f.; ders., Enemy Aliens, S. 39, 41; Avery, Internment; Wüstenbecker, Politik, S. 268.

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cher. Beispielsweise konnten Makedonier in Kanada nicht klar klassifiziert werden. Auch mussten Hilfskomitees für internierte Polen eintreten, die dem Zarenreich angehörten und offiziell als enemy aliens eingestuft worden waren. Generell folgte die Regierung Kanadas aber auch bei Freistellungen der Politik des Londoner Kriegskabinetts, das die Dominions und Kolonien am 8. Februar 1915 angewiesen hatte, „friendly aliens“ nicht zu internieren. Dies betraf u. a. Tschechen, Kroaten, Italiener, Polen, Rumänen und Ukrainer, die als Gegner des österreich-ungarischen Reiches galten. Die kanadischen Behörden bewerteten besonders Meldungen von Angehörigen dieser Gruppen für den freiwilligen Dienst in der kanadischen Armee als Beleg ihrer Loyalität.719 Für die verhafteten zivilen Feindstaatenangehörigen wurden insgesamt 24 Lager eingerichtet. 1916 waren noch 2.000 Personen interniert. Ihre fortdauernde Verwahrung wurde mit dem Umstand begründet, dass es sich bei den Betroffenen um „unnaturalised aliens“ handelte, deren Aktivitäten die Behörden als eine „source of danger to the State“ betrachteten. Damit verbunden, rechtfertigten die Regierungen in Ottawa und in den Provinzen die Internierung – wie schon seit Herbst 1914 – mit dem Hinweis auf eine drohende Verarmung, mit der sie – so die Angst der Eliten – rebellieren, die öffentliche Ordnung bedrohen und die innere Sicherheit gefährden könnten. Jedoch vermied Bordens Regierung eine Masseninternierung, da sie die hohen Kosten für die Versorgung von Lagerinsassen scheute und den Eindruck eines Polizeistaates zu vermeiden suchte. Zudem sollte den kommunalen Verwaltungen die Möglichkeit genommen werden, arbeitslose Feindstaatenangehörige in Camps abzuschieben.720 Demgegenüber traten vor allem die anglophilen Eliten für eine harte Unterdrückung aller Feindstaatenausländer ein. Diese Kanadier, die den Krieg Großbritanniens gegen die „Mittelmächte“ vorbehaltlos unterstützten, verbreiteten Ressentiments gegen die enemy aliens. Sie lehnten die Argumentation Dohertys ab, dass deutlich zwischen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten unterschieden werden müsse, denn Zivilisten sollten nicht der Arbeitspflicht unterworfen werden. Demgegenüber fragte William F. MacLean (1854–1929), der den Wahlkreis South York im kanadischen Unterhaus vertrat, noch im Rückblick rhetorisch: „What was the good of having a moral discussion with an unethical people like the Germans?“ Diese Politiker behaupteten, dass die Internierten, deren rechtlicher Status im Verhältnis zu den Kriegsgefangenen in Kanada umstritten war, unter erheblich besseren Bedingungen als kanadische Arbeiter lebten. Zu719 Kordan, Man, S. 183; ders., Enemy Aliens, S. 44; Luciuk, Fear, S. 33 f. Zum Umgang mit den Makedoniern: NA, FO 383/88 (Vermerk vom 3. April 1915). 720 NA, FO 383/88 (Telegramm vom 8. Juli 1915); Avery, Internment; Sautter, Deutsche, S. 194; Auger, Prisoners, S. 9.

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gleich bezweifelten sie öffentlich die Loyalität der Frankokanadier in der Provinz Quebec, wo die Rekrutierungsquote für die Armee unter dem nationalen Durchschnitt geblieben war. Der konservative Abgeordnete Herbert Sylvester Clements (1865–1939) verlangte sogar, französische Kanadier in die Provinz British Columbia zu verschleppen, um sie dort zur Arbeit zu zwingen. Auch wenn die Regierung diese Forderung zurückwies, dokumentierte sie die Radikalität des Nationalismus und das Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit, unter der vor allem die enemy aliens litten.721 In den Camps wurden die Angehörigen der unterschiedlichen Feindstaaten 1915 zunehmend voneinander getrennt. So waren im Juni in Fort Henry in Kingston (Provinz Ontario) zwar noch 210 Deutsche, 22 Staatsangehörige ÖsterreichUngarns und ein Türke zusammen interniert. Demgegenüber hielten sich im Lager Petawawa (gleichfalls Ontario) 583 Zivilisten auf, die ausschließlich aus der Doppelmonarchie stammten. Die Deutschen, die Otter für besonders gefährlich hielt, konzentrierte er in einzelnen Camps wie demjenigen in Amherst (Nova Scotia), Niagara Falls und Kingston. Nach Amherst wurden u. a. Seeleute gebracht, die als zivile enemy aliens in der Karibik gefangen genommen worden waren. Alles in allem waren die Lebensbedingungen in den Lagern vor allem zu Beginn des Krieges unterschiedlich. Inhaftierte Honoratioren wurden besser versorgt, und sie durften sich Diener halten, die sie bezahlten. Dagegen mussten die anderen Insassen sich selber versorgen. Hinzu kamen regionale Differenzen. Die Internierten, die in den Rocky Mountains arbeiteten, litten unter den extremen klimatischen Bedingungen, besonders der Kälte im Winter. Hier entschlossen sich die Regierungen in den Provinzen wiederholt, Lager zu schließen, deren Standorte sich als ungeeignet erwiesen hatten, da sie in unwirtlichen Regionen lagen, nur mit erheblichem Aufwand versorgt werden konnten und deshalb hohe Kosten verursachten. So entschloss sich die Regierung British Columbias, das Camp Monashee nach nur einem Monat aufzugeben und die Insassen in einem neuen Lager in Edgewood unterzubringen.722 Aber auch im Osten Kanadas waren die Lebensbedingungen in einzelnen Camps unerträglich, so noch 1916 in Fort Henry. Die betroffenen Insassen reagierten gelegentlich mit Fluchten und Aufständen, beispielsweise in Fort Henry im April 1915 und in Kapuskasing (Ontario), wo 1916 rund 900 Gefangene gegen 300 Wachleute vorgingen. Auch die deutsche Regierung kritisierte mit Bezug auf das Lager besonders unzuträgliche Temperaturunterschiede, die Rheumatismus verursachten, eine unzureichende Versorgung mit Wasser und 721 Hierzu und zum Folgenden: Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 26; Kordan, Enemy Aliens, S. 123, 126. Zitat: Kordan, Enemy Aliens, S. 122; Auger, Prisoners, S. 9 f. 722 Kordan, Man, S. 111–115, 141; Avery, Internment.

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eine mangelhafte Beleuchtung, die zu Augenerkrankungen führte. Sie forderte deshalb, das Lager zu schließen. Demgegenüber wies der zuständige Militärbefehlshaber Otter im Juli 1916 alle Vorwürfe der Reichsleitung, dass die kanadische Regierung deutsche Kriegsgefangenen und Zivilinternierten nicht nach den „Gesetzen der Humanität“ behandelte, kategorisch zurück. Nach der Darstellung des Spitzenmilitärs wurde auch für die Frauen und Kinder der Betroffenen gesorgt. Anderslautende Berichte und Nachrichten über exzessive Strafen für gefasste Geflohene bezeichnete er als Propaganda, mit der in den USA Sympathie mit den deutschen Opfern geweckt werden sollte. Intern bemühten sich das Kabinett in Ottawa und die Regierungen in den Bundesstaaten aber durchaus, auch von ihnen erkannte Missstände wie die Überbelegung von Lagern zu beseitigen.723 Viele der Internierten waren Opfer einer ausufernden Politik „nationaler Sicherheit“ geworden, der sich das Oberste Gericht (Supreme Court) und das Parlament nicht entschieden widersetzten. Da vor allem notleidende enemy aliens, die oft mit der Arbeit auch ihren Lebensunterhalt verloren hatten, als gefährlich galten, wurden sie einfach festgesetzt. Zahlreiche Lagerinsassen mussten sogar nach der Order-in-Council P. C. 2721 Zwangsarbeit leisten. Dazu wurden die internierten Männer mit dem Hinweis auf ihre Wehrfähigkeit kurzerhand zu Kriegsgefangenen erklärt. Viele von ihnen setzte die Regierung in den unwirtlichen Rocky Mountains ein, besonders für Arbeiten zur Verbesserung der Infrastruktur in den Nationalparks. Dabei nahm der Straßenbau einen herausragenden Stellenwert ein. So bauten Internierte im Revelstoke National Park eine neue Verbindung. Für die staatlichen Entwicklungsprojekte richteten Militärbefehlshaber – so Brigadegeneral Ernest Alexander Cruickshank (1853–1939) – in British Columbia in Abstimmung mit Otter Lager wie das Camp Banff ein. Damit schlossen sie Lücken, welche die Einführung der Wehrpflicht im August 1917 hinterlassen hatte. Insgesamt kennzeichnete der systematische und erzwungene Arbeitseinsatz die Internierungspolitik in Kanada. Damit verhinderte die Regierung, dass die enemy aliens verarmten und (daraus resultierend) protestierten. Zugleich waren die Nationalisten beruhigt, denn die Lagerhaft wirkte nicht wie eine staatliche Unterstützung, sondern sie wurde vielmehr als Strafe gedeutet. Die Internierung verstärkte so die ohnehin erhebliche Stigmatisierung und Isolation der zivilen Feindstaatenangehörigen. Nicht zuletzt wurden die arbeitenden „Kriegsgefangenen“ dem Zweck gerecht, die wirtschaftliche Entwicklung Kanadas voranzutreiben, besonders im wenig erschlossenen Westen des Landes. Die Sicherheitspolitik gegenüber den Zivilisten gegnerischer Staaten 723 NA, FO 383/163, Bl. 128 f., 283–293, 360 (Zitat); Kordan, Man, S. 115. Zu den Erhebungen und Fluchten: Luciuk, Fear, S. 24.

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war damit in ein Spektrum von Zielen eingebettet, die wechselseitig aufeinander bezogen waren und den Schutz vor „Feinden“ zu stärken versprachen.724 Vergeblich protestierte die deutsche Reichsleitung auch gegen den Arbeitszwang und die damit verbundene Erklärung der Internierten zu Kriegsgefangenen. Berichte des US-Botschafters in Berlin, Gerard, über eine schlechte Behandlung von britischen und kanadischen Gefangenen in den Lagern im Deutschen Reich bestätigten vielmehr die Gerüchte über Gewalt gegenüber Angehörigen der Entente-Mächte, so in den Lagern Döberitz, Wittenberg und Ruhleben. Diese Nachrichten stärkten die Entschlossenheit der Regierung in Ottawa, die Internierten und Kriegsgefangenen aus den „Mittelmächten“ zur Arbeit zu zwingen. Jedoch bestanden pazifistische Aktivisten wie Emily Murphy (1868–1933), die das Committee on Peace and Arbitration for the National Council of Women of Canada gegründet hatte, auf eine menschenwürdige Behandlung der Internierten. Sie verstand und propagierte den Schutz der enemy aliens als patriotische Mission, die den humanitären Traditionen Kanadas entsprechen sollte. Diese Auffassung vertrat sie auch gegenüber dem Kommandanten des Lagers in Lethbridge, bei dem sie sich nach den Lebensbedingungen der Insassen des Camps erkundigte.725 Letztlich sah sich die kanadische Regierung zu einigen Konzessionen gezwungen. Die Drohung der deutschen Regierung, Repressalien gegen kanadische Gefangene im Kaiserreich zu ergreifen, schreckte die Politiker in Ottawa auf. Zudem musste auf die öffentliche Meinung in anderen Staaten Rücksicht genommen werden. So trat Zwang zurück, und 1918 wuchs der Anteil der freiwillig arbeitenden Internierten. Auch wurde eine generelle Arbeitspflicht aller Feindstaatenangehörigen nicht eingeführt. Zudem veranlasste besonders die harte Arbeit vieler Internierter für die Eisenbahn (Canadian Railways) die Regierung schließlich, zumindest alle 6.000 Untertanen des österreichischen Kaisers (darunter viele Ukrainer) freizulassen, wenn sie schriftlich ihre Loyalität gegenüber Kanada bekundeten. Insgesamt trafen Feindstaatenangehörige in dem nordamerikanischen Land im Ersten Weltkrieg auf geringere Ablehnung als in Neuseeland und Australien.726 Zwar wurden „feindliche Ausländer“ auch in Kanada registriert und interniert. 107 von ihnen starben, darunter 69 Staatsangehörige Österreich-Ungarns.

724 Peppin, Emergency Legislation, S. 147–149; Kordan, Internment, S. 169–174; ders., Man, S. 115–120, 124, 128, 131, 138, 149, 153, 179, 188, 190, 192, 194. Vergleichend: Kordan, Enemy Aliens, S. 25, 53 f., 84, 87, 116, 123; Krammer, Process, S. 15. 725 Kordan, Men, S. 175 f., 180 f. 726 Avery, Internment; Kordan, Men, S. 190.

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Jedoch waren die Übergriffe gegen enemy aliens hier weniger gewalttätig als in den USA. Besonders die unterschiedliche ethnische Bevölkerungsstruktur milderte in Kanada das Vorgehen der Regierung gegen die Feindstaatenangehörigen. Otter, der intern durchaus an der Internierungspolitik zweifelte, schützte zumindest einzelne Zivilinternierte genauso wie Kriegsgefangene. Jedoch hielt die Regierung Kanadas 1.964 ehemalige enemy aliens noch lange nach dem Waffenstillstand zurück, bevor sie im Februar 1920 freigelassen wurden. Davon wies die Regierung 1.100 „unerwünschte“ ehemalige Feindstaatenangehörige als „Bolschewisten“ oder „Radikale“ aus. Nachdem das Lager Kapuskasing am 24. Februar 1920 geschlossen worden war, beendete die Auflösung des Internment Operations Directorate in Ottawa am 20. Juni 1920 offiziell die Internierung.727 Insgesamt hatte der War Measures Act das parlamentarische Regierungssystem Kanadas nachhaltig beschädigt. Grundlegende Rechte gefangener Zivilisten, die in der Kriegspropaganda pauschal als Feinde galten, waren eingeschränkt worden. Dabei ist die willkürliche Einstufung Internierter als Kriegsgefangene hervorzuheben, denen die Regierung dann eine Arbeitspflicht auferlegt hatte. Dazu gehörten aber nicht nur zivile enemy aliens, sondern zunehmend auch Sozialisten, Kommunisten und Pazifisten, die ab 1918 im Allgemeinen zwar nicht interniert, aber unterdrückt wurden. Nachdem eine Untersuchung im September 1918 erhebliche Sicherheitsmängel festgestellt hatte, wurden 14 sozialistische und anarchistische Organisationen verboten. Eine weitere Verordnung unterdrückte die fremdsprachige Presse. Die Red Scare erreichte 1919 ihren Höhepunkt, als ein Generalstreik in Winnipeg vom 15. Mai bis 28. Juni das Misstrauen gegen die 63.784 Russen steigerte, die sich in Kanada aufhielten. Viele von ihnen wurden im Sommer 1919 in das Lager Kapuskasing gebracht. Der Argwohn richtete sich auch gegen die Ukrainer, die bis 1918 Österreich-Ungarn angehört hatten. Organisationen der entlassenen Soldaten wie die Great War Veterans Association forderten eine Arbeitspflicht für Deutsche und „Österreicher“ (zu denen Ukrainer gezählt wurden) und die Deportation vermeintlicher Revolutionäre. Auch die „Zeugen Jehovas“ waren politisch und gesellschaftlich geächtet. Darüber hinaus schränkte die Regierung mit dem Order-in-Council P. C. 1203 vom Juni 1919 die Einwanderung von Deutschen, Österreichern, Ungarn, Bulgaren und Türken erheblich ein. Damit hatte das hypertrophe Sicherheitssyndrom den humanitären Anspruch der kanadischen Regierung nachhaltig unterminiert. Die Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus, der auf dem Leitbild eines „weißen Kanada“ beruhte, waren im Ersten Weltkrieg erheblich gewachsen, nicht zuletzt aufgrund der Internierung von enemy

727 Angaben nach: Kordan, Internment, S. 175 f.; Luciuk, Fear, S. 20.

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aliens. Dennoch hatte die Regierung in Kanada keine diktatorischen Befugnisse erhalten.728 Südafrikanische Union In der Südafrikanischen Union, die 1910 Dominion geworden war, nahm die Regierung besonders das benachbarte Deutsch-Südwestafrika als Bedrohung der Sicherheit wahr. Hier hatten sich seit 1884 11.140 Siedler niedergelassen. Zugleich wurde die deutsche Minderheit in Südafrika selber der Illoyalität verdächtigt. Vor allem das Telegramm Kaiser Wilhelms II. an den burischen Präsidenten von Transvaal, Paul (Ohm) Kruger, vom 3. Oktober 1896 hatte das Misstrauen verstärkt. Deshalb ordnete der britische Generalgouverneur Sydney Buxton (1853–1934) am 7. August 1914 an, alle deutschen Offiziere und Reservisten im Alter von 18 bis 56 Jahren festzunehmen. Damit sollte dem Kaiserreich der Zugriff auf Soldaten entzogen werden. Obwohl nur 12.798 Einwohner Südafrikas in Deutschland geboren waren, bezweifelten die Behörden die Loyalität dieser und eingebürgerter enemy aliens gegenüber Südafrika und damit gegenüber dem britischen Empire. Erhebliche Gruppen der burischen Bevölkerung um General James Hertzog (1866–1942) nährten die Sicherheitsängste der Regierung unter Premierminister Louis Botha (1862–1919) und Verteidigungsminister Jan Smuts (1870–1950), indem sie den Kriegseintritt auf der Seite Großbritanniens ablehnten. Einzelne Einheiten der Armee rebellierten sogar offen gegen die Bündnispolitik der Regierung, wenngleich erfolglos. Die Regierung, die selber nach einer Erweiterung des Staatsgebietes strebte, trat am 9. September 1914 in den Krieg ein und griff Deutsch-Südwestafrika an, auch um Großbritannien zu entlasten. Im Juli 1915 musste die deutsche Schutztruppe gegenüber den überlegenen südafrikanischen Truppen kapitulieren.729 Eine Internierung der Deutschen und anderer enemy aliens schien dennoch geboten. Ein Kommissar für Feindstaatenangehörige (Commissioner for Enemy Subjects) in Pretoria sollte die Verhaftungen und die Einweisung in Lager zentral koordinieren. Am 21. August waren die ersten hundert Zivilisten in ein Transitlager, die Agricultural Show Grounds in Johannesburg, gebracht worden. Am 11. September belief sich die Zahl der Insassen dort schon auf 1.055. Zwei Wochen später ließ der Commissioner insgesamt 2.000 Männer nach Fort Napier in Pietermaritzburg transportieren, das 1843 als Garnisonfestung gebaut worden 728 Manz / Panayi / Stibbe, Internment, S. 7; Kordan, „They Will be Dangerous“, S. 62–65; Wüstenbecker, Politik, S. 280 f.; Avery, Internment; Stibbe, Civilian Internment, S. 278; Luciuk, Fear, S. 38–48. 729 Vgl. Eberhardt, Nationalsozialismus, S. 45–47. Angabe nach: Manz / Panayi, Enemies, S. 50, 64.

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war, um die britische Herrschaft gegenüber der Zulu-Bevölkerung und den weißen niederländischen Siedlern (Voortrekkers) zu sichern. Im Ersten Weltkrieg diente es als zentrales Internierungslager. Die Zahl der Insassen stieg von 514 im August 1914 auf 1.174 im September und 2.554 im Dezember. Im August 1916 litten hier noch immer 2.426 Feindstaatenangehörige, davon 2.212 Deutsche und 192 Bürger Österreich-Ungarns. Ende Juni 1917 befanden sich hier 2.552 und im April 1919 2.116 Insassen in Fort Napier. Bis August 1919 waren in diesem Camp durchschnittlich 2.500 Gefangene untergebracht. Der höchste Wert wurde im Juli 1915 mit 2.782 Internierten registriert. Im Februar 1918 belief sich die Zahl der internierten deutschen Zivilisten in ganz Südafrika auf 2.054; 180 weitere gehörten anderen gegnerischen Nationen an.730 Die Gruppe der Insassen war uneinheitlich. Hinsichtlich ihrer Berufszugehörigkeit herrschten zwar Handwerker und Kaufleute vor; aber auch Bergarbeiter, Lehrer, Missionare, Pastoren und Ingenieure befanden sich in Fort Napier. Während Frauen und Kinder verhafteter enemy aliens, die in Südafrika gelebt hatten, nicht interniert wurden, nahm das „Konzentrationslager“ (wie es im amtlichen Schriftverkehr bezeichnet wurde) in Pietermaritzburg Kriegsgefangene und deutsche Zivilisten auf, die den britischen Truppen in Territorien südlich der Sahara (so in Rhodesien, Belgisch-Kongo, Südwestafrika und Ostafrika) in die Hand gefallen waren. Unter den Verschleppten waren auch mindestens 633 Frauen und Kinder, die in Fort Napier getrennt von ihren Männern bzw. Vätern untergebracht wurden. Kontrolliert von der Wachmannschaft, konnten sich Familienangehörige allerdings regelmäßig treffen. Im März 1915 wurden sie schließlich geschlossen von Pietermaritzburg in das Camp Robert Heights in Pretoria verlegt, das aber schon im Mai 1915 geschlossen wurde.731 Viele Internierte waren aus afrikanischen Kolonien Deutschlands nach Fort Napier deportiert worden, so 408 Deutsche aus Südwestafrika. Darunter waren von Oktober 1914 bis März 1915 auch 81 Mädchen, 90 Jungen sowie 48 Säuglinge und Kleinkinder. Alle diese Deutschen durften nach dem Kapitulationsvertrag, der am 9. Juli 1915 in Khorab abgeschlossen wurde, in ihre Heimat in der ehemaligen Kolonie zurückkehren. Im Anschluss an die weitgehende Besetzung Deutsch-Ostafrikas wurden allein von 1916 bis 1918 in den Lagern Tanga, Daressalam und Wilhelmsthal 21 Männer, 258 Frauen und 443 Kinder interniert. Dagegen ordnete die britische Regierung an, 54 Frauen und 80 Kinder aus Mombasa, wo tropische Krankheiten verbreitet waren, nach Südafrika zu deportieren und dort in einem Militärstützpunkt in Tempe (nahe Bloemfontein) zu internie730 Angaben nach: Manz / Dedering, ‚Enemy Aliens‘, S. 536, 541–543, 551; Manz / Panayi, Enemies, S. 125, 193, 254, 274; NA, FO 383/305 (Rundschreiben vom Juli 1917). 731 Manz / Panayi, Enemies, S. 255–275, 202.

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ren. In diesem Lager wurden Ende 1917 134 Insassen gezählt. Hier litten von 1916 bis 1918 auch 54 Frauen und 80 Kinder. 619 weitere Internierte wies im Juni 1917 ein Lager in Laurenco Marques auf. Die mehrfachen Transfers erwiesen sich für die betroffenen enemy aliens als überaus anstrengend und belastend, zumal sie ihre Angehörigen nur verzögert über ihre jeweiligen Aufenthaltsorte unterrichten konnten. Wegen der Verschiebungen von Gefangenen waren in Ostafrika im Februar 1918 nur noch 26 deutsche Zivilisten und zwei andere enemy aliens interniert.732 In Pietermaritzburg durften sich 750 Deutsche außerhalb des Camps aufhalten; sie standen dabei lediglich unter Beobachtung. Das Konzept, die Deutschen ebenso zu integrieren wie die Buren, traf aber auf Widerstand, so dass sich die südafrikanische Regierung im Ersten Weltkrieg zunächst bemühte, die Feindstaatenangehörigen wieder nach Südwestafrika abzuschieben. Dabei behauptete sie sogar, dass in der ehemaligen Kolonie des Kaiserreiches, deren politische Kontrolle und Verwaltung Südafrika übernommen hatte, weiße Siedler fehlten, die das Territorium sichern konnten. Ab 1915 wurden Deutsche, die sich noch in Südwestafrika befanden, auf Anordnung des Premierministers Louis Botha nicht mehr in die Südafrikanische Union gebracht. Vielmehr durften sie mit Ausnahme von 23 Personen in der ehemaligen deutschen Kolonie bleiben, in der Südafrika eine Militärverwaltung etablierte. Da die Zivilisten hier weiterhin Not litten, stellte die deutsche Regierung Ende 1915 200.000 Mark zur Versorgung ihrer Staatsangehörigen bereit. Zudem erinnerte das Berliner Auswärtige Amt die südafrikanische Regierung an ihre Fürsorgepflicht. Darüber hinaus wandten sich einzelne Internierte – so Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Synode in Südafrika im März 1915 – an die Vertretung der Vereinigten Staaten in Kapstadt, um ihre Freilassung zu erreichen. Das britische Kriegsministerium drängte den US-Botschafter daraufhin mit dem Hinweis auf die offiziellen Kommunikationskanäle, die Versendung von Telegrammen zur Lage der Deutschen in die Schweiz zu unterbinden. Gewarnt auch durch einen Aufstand von Kriegsgefangenen, der in Pietermaritzburg im August 1917 nur mit Truppen niedergeschlagen werden konnte, verstärkte Botha seinerseits Bemühungen, die verbliebenen zivilen Feindstaatenangehörigen in britische Kolonien abzuschieben.733 732 Manz / Dedering, ‚Enemy Aliens‘, S. 540 f., 545–548; Stibbe, Civilian Internment, S. 263; Manz / Panayi, Enemies, S. 113, 125, 201; NA, FO 383/305 (Rundschreiben vom Juli 1917). Erlebnisbericht in: Erich von Schulte, Die Internierten und Kriegsgefangenen in der Südafrikanischen Union, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 2, S. 111–113, hier: S. 112. 733 NA, FO 383/277 (Telegramm vom 21. August 1917); FO 383/167 (Verbalnoten vom 15. Dezember 1915 und 28. Januar 1916; Schreiben vom 12. April 1916); FO 383/30 (Schreiben vom 23. März 1915). Vgl. auch den Brief Bothas an das Außenministerium vom 23. April 1917 in: NA, FO 383/292. Angabe nach dem Vermerk vom 2. Februar 1916 in: NA, FO 383/167.

4.12 Britische Kolonien und Dominions



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Die Mehrzahl der Insassen südafrikanischer Lager hatte zuvor in dem Land gelebt. Ihr Eigentum war vielerorts bei den Ausschreitungen nach dem Untergang der Lusitania im Frühsommer 1915 zerstört worden, als sich der Schaden allein in Johannesburg auf 750.000 Pfund belief. Im Städtchen Lüderitzbucht, das am 19. September 1914 von südafrikanischen Truppen besetzt worden war, plünderten Soldaten viele Häuser von Deutschen. Auch Briten beteiligten sich an den Übergriffen, weil sie diese Zivilisten als Sicherheitsgefahr betrachteten. Außerdem sollte ihr wirtschaftlicher Einfluss beseitigt werden. Nach Aussagen der deutschen Opfer wirkten an den Ausschreitungen deshalb auch Angehörige der Ober- und Mittelschichten mit, darunter zumindest in Kapstadt auffällig viele Frauen. Vielerorts blieben Polizisten gegenüber den randalierenden Gruppen, die nicht nur in Johannesburg, sondern auch in Pretoria, Kapstadt, Durban, Bloemfontein und Kimberley Eigentum der deutschen Bewohner zerstörten, völlig passiv.734 Insgesamt wurden die deutschen Bewohner Südafrikas aber humaner behandelt als in anderen Dominions. Dazu trugen nicht nur völkerrechtliche Regelungen, die Furcht vor Repressalien und die Auswirkungen der Empörung über die Internierung während des Burenkrieges bei, sondern auch der Anspruch Großbritanniens auf moralische Überlegenheit, der humanitäre Rücksichtnahmen gebot, um vor allem die Unterstützung der Regierungen neutraler Staaten zu gewinnen. Deshalb bat das Foreign Office die Regierung Südafrikas um einen Bericht, nachdem sich das Berliner Auswärtige Amt im Frühjahr 1916 beim amerikanischen Generalkonsul in Kapstadt über eine unzureichende Versorgung – besonders mit Gemüse – und harte Strafen beklagt hatte, die angeblich vom Kommandeur des Lagers Pietermaritzburg gegen deutsche Insassen verhängt worden waren. Im August 1917 wiesen Botha und das Londoner Außenministerium Klagen der Internierten über die Postverbindung mit Hinweis auf fehlende konkrete Angaben umgehend zurück, um den humanitären Anspruch nicht zu gefährden. Jedoch legte die Sympathie vieler Buren für Deutschland – vor allem im westlichen Transvaal – ein zurückhaltendes Vorgehen gegen die enemy aliens nahe. Der burische General Koos de la Rey (geb. 1847), der einen Kriegseintritt der Südafrikanischen Union an der Seite Großbritanniens abgelehnt hatte, war im September 1914 bei einer Straßenkontrolle erschossen worden. Daraufhin hatten andere Burengenerale gegen die Regierung rebelliert, allerdings vergeblich. Die Erhebung wurde durch den Einsatz der Union Defence Force erfolgreich unterdrückt. Dennoch blieb Bothas und Smuts’ Politik gegenüber den ehemaligen Feindstaatenangehörigen auch nach dem Kriegsende vorsichtig. Von den 2.116 Internierten, die im April 1919 noch in Fort Napier verblieben waren, 734 Manz / Panayi, Enemies, S. 188–192.

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wurde zwar die Hälfte nach Deutschland ausgewiesen. 1.096 durften aber in Südafrika verbleiben.735

4.12.2 Kolonien Überblick: Einwanderergemeinschaften, Maßnahmen gegen Feindstaatenangehörige, die Kontrolle durch das Londoner Kolonialministerium und Handlungsspielräume lokaler Akteure In den britischen Kolonien waren Deutsche, Österreicher, Ungarn und Angehörige des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert in der Regel in multiethnische Einwanderergemeinschaften integriert. Hier arbeiteten sie neben Angehörigen anderer Nationen als Händler, Geschäftsleute, Ingenieure und Pastoren. Nur in wenigen Territorien waren sie prominent vertreten. So lebten in Ägypten 1897 7.115 Österreicher, aber nur 1.281 Deutsche, vor allem in Kairo und Alexandria. Hier beeinflussten evangelische und katholische Geistliche das Erziehungswesen und die Aktivitäten von Assoziationen. In Alexandria agitierten der Deutsche Flottenverein und die Deutsche Kolonialgesellschaft. In Indien, für das der verantwortliche Minister Edwin Montague (1879–1924) nach Absprache mit dem Vizekönig Lord Chelmsford (1868–1933) am 20. August 1917 eine begrenzte Selbstregierung ankündigte, waren von 300 Millionen Einwohnern 1911 lediglich 1.860 deutscher Herkunft. Darunter befanden sich Missionare und Kaufleute, die vor allem vom Übergang zum Freihandel in Indien 1882 profitierten. Sie waren einerseits in die Kolonialgemeinschaft der insgesamt 131.968 Europäer (davon 122.919 Briten) integriert. Andererseits weckten und verstärkten nationale Aktivisten besonders seit der Jahrhundertwende ein Sonderbewusstsein der Deutschen. Impulse aus dem Deutschen Reich und Selbstmobilisierung in den Kolonien griffen ineinander. Auf der anderen Seite agitierten aber die britischen Nationalisten. Ihre wichtigste Organisation war die European Association, die bei Kriegsbeginn über 2.931 Mitglieder (in elf Untergruppen) verfügte und anschließend schnell auf 3.308 Angehörige wachsen sollte.736 Die britischen Truppen und Kolonialbehörden deportierten die gefangen genommenen Angehörigen der „Mittelmächte“ und beraubten sie ihres Eigen735 NA, FO 383/76 (Vermerk vom 10. September 1915); FO 383/163, Bl. 168 f., 332 f.; NA, FO 383/277 (Notiz vom 14. Juni 1917 und Schreiben vom 2. August 1917). Vgl. auch Gullace, Friends; Eberhardt, Nationalsozialismus, S. 55 f., 61 f.; Manz / Panayi, Enemies, S. 187; von Schulte, Die Internierten und Kriegsgefangenen, S. 111. Angaben nach: Manz / Dedering, ‚Enemy Aliens‘, S. 537, 555; Stibbe, Civilian Internment, S. 263. 736 Angaben nach: Manz / Panayi, Enemies, S. 70, 206 f.

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tums. So setzte der Gouverneur der Karibikinsel Trinidad schon im Oktober 1914 eine Kommission ein, die Unternehmen von enemy aliens liquidierte und ihr Eigentum verkaufte. Hier waren sie auch weiterhin unerwünscht, wie der Vertreter der Krone dem Londoner Kolonialminister noch im November 1918 mitteilte. Eine Rückkehr von Deutschen nach Trinidad sei – so seine Warnung – „likely to lead to disorder and danger to themselves.“737 Nach dem Kriegsende mussten auch die meisten Feindstaatenangehörigen, die in Trinidad verblieben waren, die Insel verlassen. Die Behörden befürchteten vor allem, dass Personen, deren Eigentum beschlagnahmt worden war, eine Rückgabe verlangen und damit aufdecken könnten, dass sich britische Kolonialbeamte und einheimische Eliten bereichert hatten. Allein bei einer Auktion, in der am 22. November 1917 in London Kakaoplantagen und Immobilien von enemy aliens versteigert worden waren, hatte der Gouverneur für verschiedene Lose 107.900 Pfund erzielt. Das britische Kolonialministerium und die Kronjuristen bemühten sich durchweg sicher zu stellen, dass Unternehmen und Gesellschaften, die geschäftlich mit den Kriegsgegnern verbunden waren, von Auktionen ausgeschlossen blieben. Zudem wurde der Handel zwischen Trinidad und anderen Staaten wie Venezuela, wo im Februar 1918 eine deutsche Propagandazeitschrift erschien, im Ersten Weltkrieg strikt unterbunden. 738 Deutsche und österreichische Siedler, die in der britischen Kolonie Njassaland gefangen genommen und enteignet worden waren, wurden nach Südafrika gebracht. Frauen und Kinder ließ der Generalgouverneur Ende 1917 nach Deutschland zurückführen. Demgegenüber waren Männer, die in einer Zone von 100 Meilen an den Küsten wohnten, in das Binnenland gebracht oder interniert worden. Allerdings hatten sich unter den Deportierten auch einige Frauen und Kinder befunden. Der Generalgouverneur der Südafrikanischen Union und das britische Außenministerium begründeten die Einbeziehung dieser Gruppen offiziell mit der Notwendigkeit, Angehörige von Internierten zu schützen und zu unterstützen. Alles im allem erwies sich die Wahrnehmung einer militärischen Bedrohung auch in den Kolonien als der wichtigste Bestimmungsfaktor der Gefangennahme von Zivilisten. Damit war die Internierung dieser Gruppe auch hier vorrangig, wenngleich nicht ausschließlich sicherheitspolitisch motiviert.739 In den kleineren Kolonien Großbritanniens befanden sich in der Regel nur wenige zivile Feindstaatenangehörige, von denen einige interniert wurden. So 737 NA, CO 295/518, Bl. 143. Vgl. Manz / Panayi, Enemies, S. 152. 738 NA, CO 295/518, Bl. 34, 142, 152 f., 345–347, 366 (Angabe), 434–436, 530 f., 533. 739 NA, FO 383/305 (Vermerk vom 20. und 24. August 1917; Schreiben vom 9. Juli und 8. September 1917). Zur Argumentation: Manz / Panayi, Enemies, S. 122.

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waren in Britisch-Guyana Ende Oktober 1918 lediglich drei Deutsche und ein Türke im Lager Georgetown. Auch in den Kolonien an der Straße von Malakka (Straits Settlements) lebten im Februar 1918 nur noch 21 deutsche Zivilisten und sechs weitere enemy aliens in Lagern.740 Wiederholt wurden einzelne Internierte nach einer Vereinbarung zwischen den Regierungen Deutschlands und des Vereinigten Königreiches und mit Vermittlung der Schutzmächte und des IKRK entlassen, so 1915 auf Ceylon, auf Jamaica und in Südafrika. Demgegenüber lehnten die Gouverneure und das (ihnen übergeordnete) britische Kolonialministerium in London die Repatriierung von enemy aliens, die beispielsweise aufgrund ihres Wissens über militärische Operationen und ihrer Kenntnisse über Streitkräfte als Sicherheitsrisiko galten, strikt ab.741 Wie schon erwähnt, steuerte auch das Londoner Foreign Office oft den Umgang mit Feindstaatenangehörigen, beispielsweise in den Inselkolonien. So bat es den Gouverneur Jamaicas im Februar 1916 in einen Bericht, Wachen im Lager Up Park (Kingston) zur Rechenschaft zu ziehen, nachdem hier angeblich ein internierter Deutscher erschossen worden war. Im April 1916 lebten hier 43 Zivilinternierte untergebracht, davon 38 Deutsche, drei Bürger Österreich-Ungarns und zwei Türken.742 Allerdings konnten lokale Akteure in den Kolonien erhebliche Handlungsspielräume bewahren. Ihr Zusammenwirken mit dem Londoner Kolonialministerium zeigt das Vorgehen gegen Deutsche auf Ceylon, wo 68 dieser enemy aliens zunächst in Freiheit gelassen wurden, da sie viele Einheimische beschäftigten. Sie mussten eine Verpflichtung zu strikter Neutralität unterzeichnen und andere Einschränkungen akzeptieren. Dagegen wurden auf derselben Insel 217 Deutsche in einem Lager in Ragama interniert, das schon während des Burenkrieges genutzt worden war. Insgesamt 350 Feindstaatenangehörige lebten im Lager Diyatalawa, darunter deutsche und österreichische Konsuln und ihre Familien, Plantagenbesitzer, Angestellte von Unternehmen und Hotels sowie Missionare. Das US-Konsulat in Colombo übernahm (bis 1917) die Vertretung deutscher Interessen und Staatsbürger. Die Einreise weiterer Feindstaatenangehöriger wurde verboten. Schon im Herbst 1914 klagten die Behörden aber über Verstöße gegen Auflagen, deren Einhaltung durch die verstreut lebenden Deutschen auf Ceylon nur schwer zu kontrollieren war. Zudem protestierten einzelne Gruppen der alteingesessenen Bevölkerung gegen das im Vergleich zum Vereinigten Königreich deutlich nachsichtigere Vorgehen gegen die Deutschen. Im

740 NA, FO 383/473 (Vermerk vom 28. Oktober 1918); Manz / Panayi, Enemies, S. 125. 741 NA, FO 383/29 (Schreiben vom 2. und 22. Februar, 4., 12. und 29. März, 1., 7., 23. und 30. April 1915; Vermerk vom 7. April 1915). 742 NA, FO 383/143 (Brief vom 1. Februar 1916). Angaben nach: Manz / Panayi, Enemies, S. 154.

4.12 Britische Kolonien und Dominions



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Oktober 1914 entschied der Gouverneur in Abstimmung mit dem Londoner Kolonialministerium schließlich, alle enemy aliens in ein Camp bei Diyatalawa zu bringen. Ihre Frauen setzte der Repräsentant der Krone nicht fest, und auch von einer Beschlagnahme des hinterlassenen Eigentums sah er zunächst ab. Ältere Männer mit ihren Frauen, Geistliche und Missionare wurden sukzessive ausgetauscht. Nachdem die Nachrichten und Propaganda zur Versenkung der Lusitania im Mai 1915 auch auf der Insel Empörung, gewalttätige Proteste und Unruhen ausgelöst hatten, wurden die verbliebenen internierten Deutschen – rund 400 wehrpflichtige Männer – schließlich nach Australien verschifft, wo sie die Regierung unverzüglich festsetzen ließ. Damit hatte sich die Administration Ceylons der Kosten entledigt, die Kolonien nach einer Anweisung des Londoner Ministers vom 3. Juni 1915 tragen mussten.743 Das globale Netzwerk der Lager und Transporte von Internierten Für gefangene deutsche Soldaten und Zivilisten etablierte die britische Regierung im Empire ein globales Netz von Lagern, in denen die Insassen auch afrikanische Nahrung als Degradierung empfanden. 1917 zählte das Deutsche Rote Kreuz 111 Camps im britischen Weltreich. Das globale Ausmaß der Internierung hatte sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg abgezeichnet, als in den Kolonien und Dominions Camps eingerichtet worden waren, die der Bestrafung der Insassen und ihrer „Erziehung“ durch Arbeit dienten. Die Internierungspraxis knüpfte von 1914 bis 1918 an diese Politik an, die auf der Annahme zivilisatorischer Überlegenheit gründete.744 So hielten die Behörden in Südafrika 2.300, in Kanada 2.100, in Indien 1.200 und in Ägypten 300 Deutsche fest. Auf Malta waren weitere 1.323, auf Bermuda und Trinidad 194 interniert.745 Schon bis März 1915 hatten 882 gefangene Zivilisten das Lager in Gibraltar durchlaufen. Allerdings wurden Deutsche, die der Gouverneur dort festgesetzt hatte, anschließend in das Vereinigte Königreich gebracht oder entlassen.746 Insgesamt waren in den britischen Kolonien und Dominions im Februar 1918 noch 14.421 zivile Feindstaatenangehörige in743 NA, CO 323/1592 („An Account of Measures Taken in Ceylon to Deal with Internal Difficulties Connected with the European War, 1914–18“ vom 22. Juli 1922); Rudolf Wettenger, Auf Ceylon interniert, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 2, S. 109 f.; Manz / Panayi, Enemies, S. 120. 744 Aidan Forth, Britain’s Archipelo of Camps: Labor and Detention in a Liberal Empire 1871– 1903, in: Kritika 16 (2015), S. 651–680. Vgl. auch Manz / Dedering, ‚Enemy Aliens‘, S. 538, 543; Pesek, Colonial Order, S. 28 f., 32, 35, 39. Für Deutschland: Conrad, Globalisierung, S. 16–19, 279–314. Angabe nach: Manz / Panayi, Enemies, S. 35. 745 Angaben nach: Stibbe, Enemy Aliens and Internment. 746 NA, FO 383/28 (Schreiben vom 2. Februar 1915); Manz / Panayi, Internment, S. 25.

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terniert, davon 8.921 (62 Prozent) Deutsche. Allein 4.305 bzw. 2.054 enemy aliens befanden sich im Gewahrsam der Regierungen Australiens und Südafrikas. In den einzelnen Camps litten die Insassen oft jahrelang unter Langeweile. Auch mussten sie vielerorts eine schlechte Versorgung erdulden. Allerdings behandelten die britischen Behörden die Gefangenen unterschiedlich. Besonders eklatant war die soziale Differenzierung auf Trinidad, wo privilegierte Feindstaatenangehörige in einem separaten Lager untergebracht wurden.747 Die britische Regierung hatte zunächst geplant, die deutschen Zivilisten, die britischen Truppen in Ostafrika in die Hand gefallen waren, in ihr Heimatland zu repatriieren. Vor allem Frauen und Kinder sollten nach Deutschland überführt werden.748 Dazu wurden viele von ihnen zunächst nach Indien und auf die Insel Malta gebracht. Nachdem die Versenkung der Lusitania aber den Hass auf den Kriegsgegner enorm genährt hatte, mussten diese Deutschen den langen Schiffsweg nach Australien antreten, wo sie in Lagern interniert wurden. Dazu hatte auch beigetragen, dass die britischen Streitkräfte den knappen Schiffsraum zum Transport und zur Versorgung der Truppen beansprucht und den Suezkanal gesperrt hatten. Nur die Deutschen, die in Daressalam waren, durften in Ostafrika bleiben.749 Über das Empire hinaus waren die britischen Internierungslager mit der Politik der anderen Entente-Mächte gegen die zivilen Feindstaatenausländer verflochten. Ein enger Kontakt bestand nicht nur mit Frankreich, sondern auch mit Belgien, das in Tabora im eroberten Deutsch-Ostafrika ein Lager unterhielt. Obwohl Portugal offiziell bis März 1916 neutral blieb, internierte die portugiesische Regierung schon vor dem Kriegseintritt des Landes auf der Seite der EntenteMächte außerdem Deutsche in Angola. In Mosambik befand sich in Laurenço Marques ein Lager für deutsche Gefangene. Den Insassen leisteten hier Hilfsorganisationen wie die Sociedade Beneficente Alemã o Gerente Beistand. Sie war als karitativer Verband für die Deutschen in Brasilien gegründet worden. Nach einem Dekret vom 20. April 1916 wurden wehrpflichtige deutsche Männer in Portugal festgenommen. Schon im Mai waren 637 in der Stadt Peniche konzentriert worden. Weitere 736 wurden nach Angra do Heroísmo verschifft, einer Festung auf der Azoreninsel Terceira. In der Kolonie Goa befanden sich in drei Lagern 136 Deutsche und 44 Angehörige der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Die letzten dieser Insassen, die Portugals Regierung als Sicher-

747 NA, FO 383/430 (Denkschrift vom 3. Juni 1918); Manz / Panayi, Enemies, S. 121, 125, 150 748 NA, FO 383/28 (Brief vom 8. Februar 1915). 749 Mahon Murphy, Imperial Entanglements: Britain, German East Africa, and Internment during the First World War, in: German Historical Institute London Bulletin 38 (2016), Nr. 1, S. 3–10, hier: S. 14 f., 18.

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heitsrisiko im Hinblick auf ihre imperialen Ziele betrachtete, mussten die Kolonien 1919 verlassen. Alles in allem war die Internierung damit schon im Ersten Weltkrieg ein globaler Prozess, in dem die betroffenen Personen zwischen unterschiedlichen Regionen transferiert wurden, die kriegführenden Mächte aufeinander reagierten und auch grenzüberschreitend agierende zivilgesellschaftliche Organisationen involviert waren.750 Zu der grenzüberschreitenden Verflechtung trug nicht zuletzt der Rücktransport von Deutschen in ihr Heimatland bei, der bereits Anfang 1915 einsetzte, so in Togo und Kamerun, wo britische Truppen die Feindstaatenangehörigen, die hier vorgefunden worden waren, zunächst von der Küste in das Inland gebracht hatten. Andere Internierte wurden von Frankreich aus Togo und Kamerun nach Marokko, Algerien oder Südfrankreich transportiert. Weitere enemy aliens repatriierte das Vereinigte Königreich ab Anfang 1915 in ihr Heimatland. Ebenso wurden Deutsche aus der ehemaligen Kolonie des Kaiserreiches in Südwestafrika verschifft, zunächst aber nach Südafrika. Von hier aus erreichten sie schließlich nach einem langen Seetransport, der oft unter miserablen Bedingungen verlief, Deutschland. Demgegenüber konnten Deutsche, die in Australien interniert worden waren (so im Lager Holsworthy), das Land erst nach dem Kriegsende verlassen. Damit sollte eine Rückkehr der Deutschen in ihre ehemaligen Kolonien verhindert werden, wo die Kolonialbehörden ihr Eigentum (besonders Land) beschlagnahmt hatten. Allerdings setzte das britische Kriegskabinett die Rücktransporte, welche das Kriegskabinett zur Entlastung des Staates durchführte, nach der Versenkung der Lusitania vorübergehend und im Anschluss an die Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges durch die deutsche Reichsleitung im Januar 1917 vollends aus. Nach dem Kriegsende wurden die verbliebenen Deutschen gemäß einer Anweisung des britischen Innenministeriums vom 10. Januar 1919 endgültig aus den ehemaligen Kolonien ausgewiesen und in das Reich repatriiert. Das Home Office setzte sich dabei mit Unterstützung des Kolonialministeriums gegen das Kriegsministerium durch, das zunächst gefordert hatte, die Internierten bis zum Abschluss der Friedensverträge mit den „Mittelmächten“ als Geiseln in Ostafrika zu belassen. Die Ausweisung betraf auch diejenigen, die während des Ersten Weltkrieges in andere Territorien des Empire verbracht worden waren. Sogar Deutsche, die in China gelebt hatten, mussten das Land verlassen.751

750 Welch, Germany, S. 153–156; Stibbe, Civilian Internment, S. 40–43, 267. 751 Murphy, Captivity, S. 182, 185, 199, 202; Stibbe, Civilian Internment, S. 262–264. Vgl. auch Kern, Die Deutschen, S. 120

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Propagandakrieg und das Überlegenheitsbewusstsein der europäischen Kolonisatoren Die Internierung in den Kolonien stellte das Überlegenheitsbewusstsein der Angehörigen der weißen Eliten grundsätzlich in Frage. So betrieben in Großbritannien vor allem die Ministerien für Indien und die Kolonien – gegen die zögernde Politik des War Office – in Afrika und Asien eine aggressive Kriegführung gegen die deutschen Siedler, Missionare, Militärs und Verwaltungskräfte, von denen einige bei den Kampfhandlungen getötet wurden. Andere setzten die britischen Truppen fest. Die Internierung sollte ihnen ihre koloniale Identität rauben. Umgekehrt bemühte sich das Deutsche Reich, die Kolonialherrschaft des britischen Kriegsgegners symbolisch zu tilgen. Auf beiden Seiten wurden deshalb eroberte Orte umbenannt.752 Besonders einschneidend wirkten sich die Kriegsgefangenschaft und Internierung auf den Status der Betroffenen aus, die vor allem die Bewachung durch Afrikaner als Umkehrung kolonialer Rassenhierarchien wahrnahmen. Die Regierungen Deutschlands und Großbritanniens warfen sich deshalb fortwährend eine gezielte Erniedrigung und Demütigung ihrer jeweiligen Staatsangehörigen vor. Durchweg bezichtigten sich die beiden Kriegsgegner einerseits jeweils der Spionage und Sabotage, andererseits aber der Misshandlung von Gefangenen. So lehnten die deutschen Siedler und die Berliner Reichsregierung schon deshalb Angriffe gegen ihre Kolonien scharf ab, weil damit angeblich der Konsens der weißen Kolonisatoren gegenüber den unterworfenen Völkern gebrochen wurde. Deutsche, die in den Kolonien ihres Landes gefangen genommen worden waren, protestierten gegen die – oft mehrfache – Verschleppung im britischen Empire. Sie empfanden besonders die Bewachung durch einheimische (schwarze) Soldaten als demütigend. Darüber hinaus klagten sie über die extremen klimatischen Bedingungen, Einschränkungen im Postverkehr, die Trennung von den Familien und eine vermeintliche britische Unterstützung lokaler Söldner, die wehrlose deutsche Zivilisten angriffen. Obwohl diese Vorwürfe in einzelnen Fällen zutrafen und auch Schweizer Diplomaten beispielsweise die Restriktionen im Briefversand kritisierten, war die pauschale Selbstdarstellung der Deutschen als Opfer unbegründet und letztlich vor allem überkommenen rassistischen Überlegenheitsvorstellungen verhaftet.753

752 NA, FO 383/70 (Schreiben vom 26. August 1915); Heine, Schulalltag, S. 38; Pesek, Colonial Order, S. 25. 753 Hierzu und zum Folgenden: Steinbach, Colonial Supremacy, S. 159 f., 161 f., 165, 169 f.; Pesek, The Colonial Order Upside Down?, S. 27–32, 35; Eberhardt, Nationalsozialismus, S. 56; Jones, Captivities, S. 182; Welch, Germany, S. 62 f.

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Zudem hatten auch sie zivile Feindstaatenangehörige interniert, die sich ihrerseits über Misshandlung beklagten. Zwar war Briten in Deutsch-Ostafrika in den ersten Kriegstagen erlaubt worden, die Kolonie zu verlassen. Auch in den darauffolgenden Wochen hatten die deutschen Behörden noch vor einer Internierung zurückgescheut, vor allem um die europäischen Feindstaatenangehörigen nicht gegenüber der schwarzen Bevölkerung zu erniedrigen. Als jedoch die Angst vor Spionen Ende 1914 auch auf Afrika übergriff, deportierte die deutsche Kolonialverwaltung bis Mai 1915 die festgenommenen Feindstaatenangehörigen. Unter dem Einfluß des Rassismus, den alle Kolonialmächte teilten, ließen deutsche Soldaten und Offiziere verhafteten Briten zwar noch während des Transports in die Internierungslager Kiboriani, Kilimatinde und Tabora Freiheiten. Hier wurden sie allerdings zu demütigenden Arbeiten gezwungen. So erreichten das Internationale Rote Kreuz in Genf gegenseitige Beschuldigungen der britischen und deutschen Regierung über den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen in Ostafrika. Auf die Eskalation folgte aber eine Lockerung. Als im weiteren Verlauf des Jahres 1915 Nachrichten über Vergünstigungen eintrafen, die deutschen enemy aliens in Südafrika eingeräumt worden waren, milderten die deutsche Kolonialverwaltung und das Militär in Ostafrika das Zwangsarbeitsregime. Dazu trug aber auch das übergeordnete Ziel der Reichsleitung bei, Deutschland als humanitäre Nation zu präsentieren. Obwohl sie ihrerseits an der rassistischen Abgrenzung gegenüber der indigenen Bevölkerung festhielten, verwiesen das Foreign Office und die Regierungen der Dominions im Propagandakrieg über die Internierung in den außereuropäischen Gebieten beständig auf die Übergriffe deutscher Truppen gegen Zivilisten in Belgien, die Versenkung der Lusitania, Todesstrafen gegen Gefangene und – ab Januar 1917 – auf den uneingeschränkten U-Boot-Krieg des Kaiserreiches, der auch auf unbewaffnete Zivilisten zielte. Zugleich bemühte sich die britische Regierung um die Einhaltung völkerrechtlicher Bestimmungen, um Übergriffe gegen eigene Staatsbürger in Deutschland zu verhindern und das Vereinigte Königreich als humanitäre Macht zu profilieren, vor allem gegenüber den USA. Initiativen während einer deutsch-britischen Konferenz in Den Haag im Juni 1917, Repressalien zuzulassen, lehnte das Außenministerium deshalb ab. Vielmehr konnten sich die Delegationen der beiden Staaten in Den Haag auf einen Austausch von Kriegsgefangenen über die Schweiz einigen. Auch die „Stacheldrahtkrankheit“ wurde von der britischen und deutschen Regierung anerkannt, woraus Maßnahmen zur Erleichterung des Lebens in den Lagern resultierten, so im Camp Knockaloe, wo im November 1917 nach offiziellen Angaben 18.441 Internierte auf ihre Freilassung warteten. Die Beschwerden der Insassen, der Deutschen Kolonialgesellschaft und der Reichsleitung – so über unzureichende Beleuchtung und den Verlust persönlichen Eigentums in Knockaloe –

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hatten in neutralen Staaten das Selbstbild der britischen Regierung durchaus in Frage gestellt.754 Die Deutschen in den afrikanischen Kolonien Das Auswärtige Amt führte in den Jahren von 1914 bis 1918 die kolonialen Hierarchien und Zuschreibungen der Vorkriegsjahre bruchlos fort. Auf dieser Grundlage protestierten deutsche Diplomaten – bis 1917 über die US-Botschaft – besonders gegen die Behandlung gefangener deutscher Zivilisten in Afrika. Außer der Bewachung durch schwarze Hilfstruppen, die rassistische Überlegenheitsvorstellungen verletzten, verwies die deutsche Reichsleitung in ihren Verbalnoten an das Vereinigte Königreich und an Frankreich vor allem auf das tropische Klima, um damit die Forderung zu begründen, zumindest Frauen, Kinder, Alte und Kranke freizulassen. Diese Gruppen betrachteten die Regierungen des Vereinigten Königreiches und der Südafrikanischen Union als Last. Auch erkannten Ministerialbeamte des Foreign Office den Hinweis der deutschen Reichsleitung auf die gesundheitlichen Gefahren einer längeren Internierung in Afrika intern durchaus an. Das Londoner Außenministerium einigte sich schließlich mit Deutschland auf einen Austausch der in den Kolonien festgesetzten Deutschen mit Frauen, Kindern und älteren Männern, die in Belgien in die Hand deutscher Truppen gefallen waren. Allerdings weigerte sich die Admiralität wiederholt, knappen Schiffsraum für den Rücktransport der Deutschen aus Afrika zur Verfügung zu stellen. Die Seekriegsleitung äußerte ebenso wie Innenminister Cave Bedenken, denn sie fürchteten die Weitergabe sicherheitsrelevanter Informationen, so über die Konvois der britischen Marine.755 Letztlich konnten sie sich damit aber nicht durchsetzen, und das Foreign Office gab auch deutsche Missionare frei, die in Kamerun, Togo und in den britischen Kolonien in Ostafrika interniert worden waren. Im Gegenzug konnten britische Evangelisten, die deutsche Kolonialbehörden im Osten Afrikas interniert hatten, die Lager verlassen. Ein Konflikt entbrannte aber über die Rückführung von deutschen Missionaren, die nach Indien verschleppt worden waren, und über Verwalter in Nigeria, denen die britische Verwaltung nur Ausreisedokumente nach Gran Canaria (Spanien), nicht aber für Deutschland ausgestellt hatten. In Nigeria waren gefangene deutsche Zivilisten im Lager Ibadan interniert

754 Murphy, Captivity, S. 124–147, 192 f., 212, 215 f.; Stevenson, 1914–1918, S. 330. Zu Knockaloe: NA, FO 383/277 (Schreiben vom 29. November 1917). 755 NA, FO 383/430 (Protokoll vom 7. Januar 1916; Briefe vom 16. und 22. Januar sowie vom 4. Februar und 8. und 27. März, 1. April und 23. April 1918; Denkschrift vom 3. Juni 1918).

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worden, bevor sie nach Lagos verschleppt und schließlich nach Großbritannien verschifft wurden, wo sie mehrere Camps durchliefen.756 Im Lager Lofthouse Park beschwerten sie sich ebenso wie Deutsche, die von Kamerun nach Lagos und anschließend in das Vereinigte Königreich gebracht worden waren, über ihre Gefangennahme und Behandlung in Nigeria und anderen westafrikanischen Kolonien Großbritanniens. Nachdem einige dieser Zivilinternierten freigelassen und nach Deutschland repatriiert worden waren, lenkten sie die Aufmerksamkeit des Auswärtigen Amtes auch auf Missstände während der Überfahrt von Afrika in das Vereinigte Königreich im Oktober 1914, als sie die Besatzung eines Schiffes angeblich ausgeplündert hatte. Die deutsche Reichsleitung protestierte daraufhin im Februar 1917 offiziell über die Gesandtschaft der Schweiz bei der britischen Regierung. Da der Einspruch erfolglos blieb, richteten die Insassen des Camps in Wakefield im Juli eine weitere Eingabe an das Konsulat der Schweiz, in der sie ihre Internierung als Verletzung der internationalen Kongoakte brandmarkten, die 1885 die Flüsse Niger und Kongo für die Schifffahrt freigegeben hatte.757 Solidarisierung mit der Heimat und Internierung in den eroberten deutschen Kolonien Südwest- und Ostafrikas In Südwestafrika waren nach den Kapitulationsbedingungen fast alle Deutschen der Internierung entgangen. Die britische Regierung sicherte der Reichsleitung zu, dass auch finanzielle Transfers aus der Heimat nicht verhindert und die Deutschen nach den geltenden völkerrechtlichen Bestimmungen behandelt würden. Überdies wurden nur wenige von ihnen ausgewiesen. Nach dem Ersten Weltkrieg erlaubte die Regierung Südafrikas sogar denjenigen, die sich 1919 im Land befanden, hier zu bleiben. Bereits zuvor hatte Botha angeordnet, das Eigentum von Deutschen in Südwestafrika zu schützen.758 Andere Feindstaatenangehörige behandelte die Regierung noch milder. So wurden nur fünf von insgesamt 566 Türken interniert.759 756 NA, FO 383/28 (Verbalnote vom 8. Januar 1915, Briefe vom 26. Januar sowie vom 1. und 20. Februar 1915; veröffentlichte Schreiben vom 16. und 22. Januar 1915; Telegramm vom 12. Februar 1915). 757 NA, FO 383/305 (Schreiben vom 26. Juli 1917); FO 383/303 (Verbalnote vom 9. Februar 1917); FO 383/29 (Bericht vom 2. März 1915; Schreiben vom 9. April 1915). Vgl. auch Grady, Landscapes, S. 548. 758 NA, FO 383/167 (Vermerk vom 7. und 9. Februar 1916); Daniel Rouven Steinbach, Defending the Heimat: The Germans in South-West Africa and East Africa during the First World War, in: Jones / O’Brien / Schmidt-Supprian (Hg.), War, S. 179–208, hier: S. 189, 204; Manz, „Enemy Aliens“, S. 117 f.; Murphy, Captivity, S. 48–51, 188, 201, 209. Zum Kampf in Ost- und Südwestafrika: Hirschfeld / Krumeich, Deutschland, S. 96 f.

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Ebenso wie in Südwestafrika schrieben sich auch die Deutschen in der ostafrikanischen Kolonie in den Ersten Weltkrieg ein, indem sie ihre Verbundenheit mit der „Heimat“ und dem „Vaterland“ zeigten. Mit ihren Bemühungen, Aufmerksamkeit zu gewinnen, reagierten sie auf Sorgen, in der Politik der Reichsleitung übergangen zu werden. Zudem sollte ihnen der Rekurs auf die Vorstellung von Heimat helfen, die fremden Lebensumstände in Afrika zu bewältigen. Damit ging die Abgrenzung von der indigenen Bevölkerung einher. Besorgt über einen Aufstand der Schwarzen, die in Ostafrika noch deutlicher vorherrschten als im Süden und Südwesten des Kontinents, eigneten sich die Deutschen ihren Lebensraum als Heimat und den Kilimandscharo als „deutschen“ Berg an. Auch nahmen sie die einheimischen Kolonialtruppen, die Askaris, für sich ein, indem sie deren Loyalität gegenüber dem Deutschen Reich betonten und verherrlichten. Obgleich sie sich die Kolonien unter deutschem Blickwinkel aneigneten, widersetzten sich die Siedler gelegentlich der offiziellen Kolonialpropaganda der Berliner Regierung. So wandten sie sich in Ostafrika, wo Truppen (besonders die einheimischen Askaris) unter ihrem Kommandeur Paul von Lettow-Vorbeck (1870–1964) bis 1917 kämpften, offen gegen die Forderung, als Repressalie für die Internierung von Deutschen in Südafrika Inder festzusetzen. In der ostafrikanischen Kolonie wurden in Kilimatinde und Tabora im Oktober 1914 allerdings Lager für Soldaten und Zivilisten errichtet, die den Entente-Mächten angehörten. Weitere Feindstaatenangehörige nahm seit Januar 1915 ein Camp in Kiboriani auf.760 Indien als Drehscheibe der britischen Internierungspolitik In den ostafrikanischen Kolonien Großbritanniens wurden die ersten deutschen Zivilisten bereits bis 7. August 1914 interniert. Hier richtete die britische Regierung zunächst ein Lager in Sidi Bishr (Ägypten) ein, wo die Leitung Kriegsgefangene und Zivilisten getrennt unterbrachte. Anschließend wurden die meisten Insassen aber nach Kairo, auf die Insel Malta und vor allem nach Indien gebracht. In diesem Land, das als „Kronjuwel“ des Empire die Kriegführung Großbritanniens von 1914 bis 1918 mit 552.311 Soldaten und 391.033 zivilen Kräften unterstützte, nahm die deportierten Deutschen vorrangig ein großes Lager in Ahmednagar auf.761 759 Angabe nach: NA, FO 383/88 (Telegramm vom 3. Juli 1915). 760 Iris Schröder, Der deutsche Berg in Afrika. Zur Geographie und Politik des Kilimandscharo im Deutschen Kaiserreich, in: Historische Anthropologie 13 (2005), S. 19–44; Stibbe, Civilian Internment, S. 49; Manz, German Diaspora, S. 135; Steinbach, Defending the Heimat, S. 180– 182, 187, 190, 192, 194, 200, 206; Pesek, Colonial Order, S. 39 f. 761 Angaben nach: Manz / Panayi, Enemies, S. 205.

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1914 wurden Deutsche, Österreicher, Ungarn und Untertanen des osmanischen Sultans zu enemy aliens erklärt. Am 8. August erlegte die Regierung den Deutschen eine Registrierungspflicht auf, und vier Tage später mussten sie ihre Waffen abgeben. Die Foreigners Ordinance vom 20. August erlaubte außerdem Eingriffe in die Bewegungsfreiheit aller Ausländer. Weitere zwei Tage später wurden die Militärbehörden ermächtigt, Deutsche und Staatsangehörige Österreich-Ungarns im wehrpflichtigen Alter zu internieren. Ab 5. September konnten männliche enemy aliens nach der Ingress into India Ordinance von angekommenen Schiffen geführt und gleichfalls gefangen genommen werden. Ab 14. November 1914 benötigten Ausländer für wirtschaftliche Aktivitäten in Indien eine Erlaubnis, und nach der Versenkung der Lusitania wurden Missionsgesellschaften aufgelöst, da sie als Sammelbecken von Anhängern des Deutschen Kaiserreiches galten.762 Anfang 1915 begann die Internierung im Lager Ahmednagar. Zunächst wurden sieben Männer eingewiesen, die in Basra und Bahrain von der britischen Kriegsmarine aufgegriffen worden waren. Deportierte aus Deutsch-Ostafrika folgten. Das Camp verfügte über eine Kapazität von 2.000 Insassen. Nach amtlichen Angaben litten im Oktober 1915 1.278 und im Juli 1916 1.195 Internierte besonders unter der extremen Hitze. Im April 1917 wurden 1.621 Insassen registriert, darunter 452 Soldaten und 1.169 Zivilisten. Noch nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages wurden im Oktober 1919 1.700 Internierte im Camp zurückgehalten, offenbar als Faustpfand. Der Schiffstransport dieser Kriegsopfer nach Europa erfolgte erst im Dezember 1919 und Oktober 1920.763 Die Lebensbedingungen im Lager Ahmednagar waren umstritten. Schon 1916 hatte das Berliner Auswärtige Amt auch mit Bezug auf das Camp über die Auswirkungen des unzuträglichen Klimas auf die Internierten geklagt. Diese Kritik erneuerte die Reichsleitung gegenüber der schweizerischen Gesandtschaft, die Druck auf die britische Regierung ausüben sollte. Darüber hinaus empörte sich die deutsche Regierung regelmäßig über die harte Behandlung durch den Kommandanten und den angeblich unregelmäßigen Postverkehr zu den Insassen des Lagers. Koloniale Einstellungen offenbarte besonders die Beschwerde, dass Strafen an den deutschen Internierten nicht verdeckt, sondern offen sichtbar vollzogen worden seien. Demgegenüber stellte ein Inspekteur des IKRK im März 1917 zufriedenstellende Bedingungen fest. Begleitet von einer Eskorte durften die Internierten zeitweise sogar das Camp verlassen, und sie konnten ihre Versorgung durch Einkäufe in der Kantine verbessern. Drei deutsche Ärzte hatten die medizinische Versorgung übernommen, und Missionare 762 Ebd., S. 208–210. 763 Ebd., S. 280.

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des Benediktinerordens sorgten für religiösen Beistand. In einem weiteren Bericht attestierte der zuständige britische Militärarzt der Lagerleitung gute sanitäre Bedingungen; allerdings litten die Insassen unter anhaltender Beschäftigungslosigkeit.764 Ein weiteres Lager für Deutsche aus Ostafrika errichteten die Behörden in Belgaum. Hier wurden zunächst Frauen untergebracht, die nach Deutschland ausgebürgert werden sollten, den gefährlichen Transport über See aber ablehnten. Zudem weigerten sie sich, ihre Männer im Stich zu lassen, von denen zahlreiche in Ahmednagar interniert waren. Nicht zuletzt hatten viele dieser weiblichen Feindstaatenangehörigen nur noch eine schwache Bindung an Deutschland. Einige waren sogar im Vereinigten Königreich geboren. Dennoch begründeten die Behörden die Internierung dieser Gruppe – im Sommer 1915 25 Frauen und 26 Kinder – mit einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. So berichtete die Kolonialregierung dem Londoner Indien-Ministerium am 3. März 1916: Action was primarily taken against hostile women in India not so much in the interests of their personal convenience, as because in the majority of cases their continuance at their normal places of residence was held to be prejudicial to the public interest. In other cases concentration was adopted to enable suitable provision to be made for the families of which the male members had been interned.

Bis 1917 schlossen sich Ehemänner ihren internierten Frauen und Kindern an. Schon Ende 1916 waren in Belgaum 194 enemy aliens interniert, darunter 52 Männer, 63 Frauen und 82 Kinder. 1917 wurden 214 und im Oktober 1919 250 Insassen registriert.765 Beschwerden des Auswärtigen Amtes über die Lebensbedingungen und die Postverbindungen der Internierten wies das Ministerium für Indien zurück.766 Andere Deutsche, die in der ostafrikanischen Kolonie des Kaiserreiches in die Hand der britischen Truppen gefallen waren, wurden nach Njassaland (Malawi) verschleppt, wo der britische Gouverneur ein Lager eröffnete, in dem sie oft jahrelang litten.767 Indien nahm im Ersten Weltkrieg aber nicht nur Deutsche auf, die aus Ostafrika kamen, sondern auch Feindstaatenangehörige, die aus Siam deportiert worden waren. Diese Gruppe wurde 1918 im Lager Sholapur interniert. Hier hielten sich zu keiner Zeit mehr als 150 gefangene Deutsche und Ös764 NA, FO 383/163, Bl. 64 f., 73–75, 108 f., 223–226; FO 383/277 (Verbalnoten vom 18. Oktober und 16. November 1917); FO 383/473 (Bericht vom 9. August 1918). Vgl. auch den Bericht des IKRK in den „Documents publiés à l’occasion de la guerre Européene (1914–1917)“, in: NA, FO 383/277, und Pesek, Colonial Order, S. 39. 765 Manz / Panayi, Enemies, S. 221 f. Zitat: NA, FO 383/163, Bl. 64. 766 NA, FO 383/163, Bl. 108 f. 767 Steinbach, Colonial Supremacy, S. 160.

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terreicher auf. Insgesamt belief sich die Zahl der Internierten in allen Lagern Indiens nach Angaben des Konsuls der Schweiz in Bombay im Oktober 1919 auf rund 2.500.768 Die Maßnahmen, die in Indien gegen enemy aliens verhängt wurden, konzentrierten sich jedoch auf die deutsche Minderheit, die im Land selber lebte. Nachdem sich bereits im 16. und 17. Jahrhundert deutsche Kaufleute und Missionare niedergelassen hatten, waren im 19. Jahrhundert Wissenschaftler, Geschäftsleute, Angehörige der freien Berufe und Reisende hinzugekommen. Sie grenzten sich zwar hinsichtlich ihrer Kultur von den Briten ab, entwickelten aber auch nach der Bildung des Deutschen Reiches 1871 kaum ein Nationalbewusstsein. Vielmehr waren sie weitgehend in die indische Kolonialgesellschaft assimiliert. Erst als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, wurden die Deutschen von den britischen Behörden als Gruppe wahrgenommen und als Sicherheitsrisiko definiert. Diese Zuschreibung stärkte ihrerseits den nationalen Stolz der Betroffenen.769 Die Regierung Indiens, die vom britischen Kolonialministerium in London kontrolliert wurde, erließ schon kurz nach dem Kriegsbeginn Gesetze, die den Status der im Land lebenden Deutschen als Feindstaatenangehörige zementierten und sie damit stigmatisierten. Eng verzahnt mit einer fremdenfeindlichen und populistischen Kampagne, die pauschale Vorurteile über Deutsche fortlaufend festigte und verbreitete, ergänzte die Regierung im August 1914 den 1864 erlassenen Foreigners Act, um die Mobilität von enemy aliens zu kontrollieren. Sie wurden nicht nur bei der Einwanderung erfasst, sondern auch polizeilicher Überwachung unterstellt. Zudem hatten sie alle Waffen abzugeben. Darüber hinaus ermächtigte die Foreigners Ordinance vom 20. August den Generalgouverneur als Oberhaupt der britischen Verwaltung in Indien, hier die Freiheit aller Ausländer einzuschränken. Nach der Ingress into India Ordinance, die am 5. September 1914 verkündet wurde, konnte sogar jegliche Einwanderung unterbunden werden. Damit galten die Deutschen, Österreicher und (wenigen) Türken, die in Indien lebten, offiziell als enemy aliens. Ab September 1915 zählten zu dieser Gruppe auch nicht eingebürgerte deutsche Frauen, die Briten geheiratet hatten. Schon im Mai 1915 war von der britischen Kolonialregierung unter dem Eindruck der Empörung über die Versenkung der Lusitania angeordnet worden, die Unterstützung deutscher und österreichischer Missionare und ihrer Gesellschaft mit öffentlichen Mitteln einzustellen.770 768 Angaben nach: Panayi, Germans, S. 207; Manz / Panayi, Enemies, S. 297; Murphy, Captivity, S. 53. 769 Angabe nach: Panayi, Germans, S. 212. 770 Ebd., S. 189–191, 193–196.

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Diese repressiven Gesetze ergänzten Maßnahmen, mit denen die ökonomischen Aktivitäten der Feindstaatenangehörigen unterbunden werden sollten. Unterstützt von nationalistischen Verbänden und britischen Geschäftsleuten, die hofften, deutsche Unternehmen übernehmen zu können, erließ die indische Kolonialregierung am 14. Oktober 1914 eine weitere Foreigners Ordinance. Sie zwang Ausländer, die in Indien lebten, ihre Geschäfte und jeglichen Handel einzustellen. Die Hostile Foreigners (Trading) Order vom 14. November 1914 verbot schließlich alle wirtschaftlichen Aktivitäten von enemy aliens, sofern sie von der Regierung nicht ausdrücklich erlaubt worden waren. Unternehmer, die diese Lizenz nicht erhalten hatten, mussten ihre Betriebe liquidieren. Ihr Vermögen übernahm ein staatlicher Treuhänder, wie die Enemy Trading (Winding Up) Order vom Juli 1916 bekräftigte. Nachdem schon Anfang 1915 fünf Betriebe beschlagnahmt worden waren, wurden schrittweise auch weitere zwanzig Betriebe enteignet, die ihre Geschäfte zunächst mit Erlaubnis der Behörden fortgesetzt hatten. Einsprüche der Besitzer, von denen viele bereits interniert worden waren, blieben erfolglos. Auch das Eigentum der deutschen Missionsgesellschaften, die ihre Aktivitäten einstellen und anderen Organisationen übertragen mussten, wurde beschlagnahmt und 1918 verkauft.771 Deutsche, Österreicher und Untertanen des osmanischen Sultans wurden darüber hinaus in Lager verschleppt, unter denen – wie erwähnt – das Camp in Ahmednagar herausragte. Die Internierung in Indien folgte grundsätzlich zwar der britischen Politik; sie wies aber auch Spezifika auf. Schon während des Burenkrieges waren Zivilisten von Südafrika auf den Subkontinent verschleppt worden. Rund 1.000 von ihnen hatte offenbar das Lager Ahmednagar aufgenommen. Am 13. August 1915 wurden hier 1.143 Insassen gezählt, die vor allem nach dem Untergang der Lusitania festgenommen worden waren. Angesichts der Versenkung des Passagierschiffes und der nachfolgenden Übergriffe gegen Deutsche auch in Indien hatte der Generalgouverneur – der Entscheidung der britischen Regierung folgend – beschlossen, alle wehrdienstfähigen männlichen Feindstaatenangehörigen im Alter von 17 bis 45 Jahren zu internieren. Sie wurden verhaftet, zunächst oft in Polizeigefängnissen festgehalten und anschließend nach Ahmednagar gebracht, wo sie in einer gesonderten Baracke für Zivilisten lebten. Da sie nicht zur Arbeit gezwungen werden durften, initiierten sie im Lager verschiedene Aktivitäten, so zur Bildung und sportlichen Betätigung. Die Internierten klagten zwar über die Unterbringung und Ernährung. Auch empfanden sie die Bewachung durch Inder als erniedrigend. Diese Kritik spiegelte aber ebenfalls vorrangig die rassistischen Einstellungen der Betroffenen wider. Demgegenüber betonten Vertreter der amerikanischen und (seit 771 Angabe nach: ebd., S. 197.

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April 1917) schweizerischen Schutzmacht ebenso wie Repräsentanten des IKRK wiederholt, dass die Internierten – darunter seit 1915 auch Missionare – in Indien im Allgemeinen gut behandelt wurden. Viele Pfarrer durften sogar in ihre Heimat zurückkehren. Die Frauen und Kinder der gefangenen Männer erhielten eine staatliche Unterstützung, welche die Hilfe für Familien britischer Soldaten nicht übertreffen sollte. Allerdings verlangte der US-amerikanische Konsul als Repräsentant der Schutzmacht schon Ende 1914 konkrete Erleichterungen für Deutsche, Österreicher und Ungarn, die im Lager Ahmednagar interniert waren, so eine Erweiterung des Postverkehrs der Internierten und mehr Gelegenheiten für Frauen, ihre gefangenen Ehemänner zu besuchen. Diese Forderungen nahm der Vizekönig auf, der als Generalgouverneur die britische Verwaltung leitete.772 Wie in Großbritannien und anderen Ländern des Empire wurden internierte Feindstaatenangehörige in Indien während des Ersten Weltkrieges und nach den Pariser Friedensverträgen ausgebürgert und in die Staaten, aus denen sie stammten, zurückgeführt. Schon nach der Entscheidung, alle wehrfähigen enemy aliens zu internieren, deportierte der Vizekönig ab August 1915 Frauen, Kinder und Männer im Alter von unter 17 und über 45 Jahren. Insgesamt 823 Passagiere transportierte die „Golconda“ Ende November 1915 in Abstimmung mit der britischen Admiralität von Kalkutta, Madras und Bombay über Kapstadt nach Tilbury und anschließend nach London, wo die Männer vorübergehend im Lager Alexandra Palace interniert wurden. Nach wenigen Wochen konnten sie ihren Frauen und Kindern folgen, die Anfang 1916 nach Deutschland gebracht worden waren. Auch andere Internierte wurden bei familiären und persönlichen Ausnahmesituationen aus Indien nach Deutschland gebracht. Anschließend erhielten sie auf Anweisung des Vizekönigs gegen den Widerstand regionaler Verwaltungen überdies ihr Gepäck zurück, das sie in Indien zurückgelassen hatten.773 Unter den Deportierten waren auch Missionare, deren Organisationen – darunter Hermannsburger und die Basler – die Regierung Indiens nach dem Beschluss einer interministeriellen Konferenz vom November 1915 auflöste. Allerdings konnten sie ihre Arbeit anderen christlichen Institutionen (so der South India United Church) übertragen, die in Indien blieben. Im August 1918 waren nach offiziellen Angaben 898 Deutsche, Österreicher und Ungarn repatriiert

772 NA, FO 383/106 („Bericht des Amerikanischen Konsuls Henry D. Baker über die Besichtigung des Gefangenenlagers Ahmednagar [Britisch-Indien]“ vom 19. Dezember 1914); FO 383/30 (Schreiben vom 22. April 1915). Angabe nach: Panayi, Germans, S. 204. 773 Manz / Panayi, Enemies, S. 295–299. Beispiel in: NA, FO 383/305 (Schreiben vom 15. Mai 1917).

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worden. 523 weitere Feindstaatenangehörige hielten sich noch in den Internierungslagern auf. Achtzig Männer, 220 Frauen und 26 Kinder hatten die Behörden in Freiheit belassen. Aber auch sie wurden im Dezember 1919 und im Oktober 1920 zwangsweise repatriiert. Nur wenige Deutsche durften nach dem Ersten Weltkrieg in Indien bleiben oder nach Siam zurückkehren, wo sie vor ihrer Deportation nach Sholapur gelebt hatten. Darüber hinaus verbot die indische Regierung 1920 für fünf Jahre die Einwanderung von Deutschen. Damit sollte der Einfluss der „Fremden“ auf dem Subkontinent beseitigt und verhindert werden, dass sie die Rückgabe ihres beschlagnahmten Eigentums verlangten. Insgesamt war die deutsche Siedlungstradition in Indien aber schon in den vorangegangenen Jahren abgebrochen. Jedoch stärkte die Unterdrückung unter den verbliebenen Siedlern deutscher Herkunft das Nationalbewusstsein.774 Die britische Repressionspolitik verlieh aber vor allem der indischen Unabhängigkeitsbewegung kräftig Auftrieb. Die Weigerung der britischen Regierung, dem Vertreter des 1885 gegründeten Indischen Nationalkongresses, Bal Gangadhar Tilak (1856–1920), Dokumente für seine geplanten Reise zur Pariser Friedenskonferenz auszustellen, löste im Frühjahr 1919 in Indien heftige Proteste aus. Um die Unruhen einzudämmen, oktroyierte die Regierung im März den Anarchical and Revolutionary Crimes Act (Rowlatt Act), der die Ausnahmegesetzgebung des Ersten Weltkrieges aufnahm und verlängerte. Dazu gehörte auch das Recht zur Internierung ohne Gerichtsverfahren. Das Gesetz konnte aber weitere Erhebungen nicht verhindern. Am 13. April 1919 befahl der britische Brigadegeneral Reginald Dyer seinen Truppen in Jallianwala Bagh (Amritsar, Pubjab), auf unbewaffnete indische Demonstranten zu schießen. Damit sollte eine verbotene Kundgebung unterbunden werden. Die mindestens 379 Toten und über 1.000 Verletzten wurden letztlich zu Märtyrern der indischen Nationalbewegung, die in den 1920er Jahren wuchs und mit Mahatma Gandhi (1869–1948) über eine charismatische Persönlichkeit verfügte. Insgesamt dienten auch in Indien Notstandgesetze, die zu Beginn des Ersten Weltkrieges verkündet worden waren, im Frieden der Unterdrückung innenpolitischer Opposition.775 Der Umgang mit den zivilen Feindstaatenangehörigen in Ost- und Südostasien Auch in den ostasiatischen Kolonien Großbritanniens unterwarfen die Gouverneure im Ersten Weltkrieg enemy aliens ihrer Kontrolle. So internierten die Be774 Angaben nach: Panayi, Germans, S. 216–218. 775 Erez Manela, Dawn of a New Era: The „Wilsonian Moment“ in Colonial Contexts and theTransformation of World Order, 1917–1920, in: Conrad / Sachsenmeier (Hg.), Visions, S. 122– 149, hier: S. 138 f.

4.12 Britische Kolonien und Dominions



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hörden in Singapur 300 bis 400 männliche Feindstaatenangehörige im Lager Tanglin, wo sie von indischen Soldaten bewacht wurden. Frauen blieben frei oder wurden nach Australien bzw. Indien deportiert. Der Gouverneur von Singapur ließ deutsche Frauen und Kinder in einem Hotel festsetzen, während die Männer auf die St.-John’s-Insel gebracht wurden. In China gefangene Deutsche ließ die britische Regierung nach Australien deportieren, da sie vor allem nach dem Aufstand indischer Truppen in Singapur im Februar 1915 die Loyalität der Kolonien grundsätzlich in Frage stellte. Obwohl in Singapur 47 Angehörige des 5. Leichten Infanterieregimentes öffentlich exekutiert worden waren, richtete sich in Mesopotamien im Februar 1916 eine weitere Meuterei gleichfalls gegen den geplanten Einsatz muslimischer Soldaten im Krieg gegen das Osmanische Reich. Das britische Kriegsministerium ließ daraufhin Hunderte Beteiligte verhaften.776 Ebenso wie in Afrika lösten auch in Ost- und Südostasien Repressalien und Strafen, die gefangene Zivilisten in den eroberten Kolonien Deutschlands bewusst demütigten, Ressentiments und diplomatische Proteste aus. So kritisierte das Auswärtige Amt 1915 scharf die Regierungen Großbritanniens und Australiens, deren Soldaten angeblich zugelassen hatten, dass Einheimische auf Neuguinea Deutsche auspeitschten. Das Foreign Office ließ den Vorgang daraufhin genau untersuchen. Nach den Berichten von Ärzten und Juristen hatten acht Deutsche am 26. Oktober 1914 in Namatanai einen Briten misshandelt und am Gesäß schwer verletzt. Daraufhin hatte ein britisches Untersuchungsgericht vier Täter zu einer Prügelstrafe verurteilt, die am 30. November in Rabaul öffentlich vollstreckt wurde. Entgegen der Behauptung der Reichsleitung, die gegen die aus ihrer Sicht entwürdigende Prozedur protestierte, waren deutsche Zivilisten aber offenbar nur gezwungen worden, dem Beginn der Bestrafung beizuwohnen. Einheimische hatte das britische Militär, das Deutsch-Neuguinea kontrollierte, von der Strafaktion ausgeschlossen, auch als Zuschauer. Nach der Darstellung des britischen Außenministeriums waren auch keine Photographien angefertigt worden, mit denen die bestraften Deutschen gegenüber den Einheimischen herabgesetzt werden konnten. Offenkundig teilten die Regierungen der beiden gegeneinander kämpfenden Staaten das Überlegenheitsbewusstsein der Kolonialmächte und einen Rassismus, der sich gegen die Bevölkerung Neuguineas richtete. In der deutschen Presse wurden sogar die australischen Solda-

776 Rudolf Wettenger, Das Interniertenlager bei Singapur, in: Weiland / Kern, Feindeshand, Bd. 2, S. 111; Ansari, „Tasting the King’s Salt“, S. 37. Zur Meuterei in Singapur: Mohd. Safar Hasim, Singapore’s Sepoy Mutiny and the Beginning of Press Control in Malaya, in: Jarosław Suchoples / Stephanie James (Hg.), Re-visiting World War I. Interpretations and Perspectives of the Great Conflict, Frankfurt/M. 2016, S. 129–148, hier: S. 131–135.

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ten, welche die Prügelstrafe vollzogen hatten, als Nachkommen britischer Strafgefangener gebrandmarkt, die auf den fünften Kontinent gebracht worden waren.777 Demgegenüber blieb unerwähnt, dass Australier in Neuguinea regelmäßig Melanesier auspeitschen ließen. Hinsichtlich der Behandlung der eingeborenen Einwohner und der Chinesen, die zur Arbeit auf die Insel gebracht worden waren, bestand zwischen den verbliebenen deutschen Siedlern und der australischen Militärregierung eine koloniale Solidarität.778 Der Umgang mit den Deutschen auf Samoa exemplifiziert den imperialen Kontext der Internierungspolitik besonders deutlich. Als erste deutsche Kolonie war die Insel, auf der vor Kriegsbeginn 300 Deutsche gelebt hatten, am 29. August 1914 von 1.400 neuseeländischen Soldaten kampflos besetzt worden. Der Verwalter, Oberst Robert Logan (1863–1935), regierte Samoa mit dem Standrecht, das Internierungen oft als Strafen gegen Deutsche verhängte. Im Rahmen des rassistischen Regimes, das weitgehend auf willkürlichem Vorgehen basierte, wurde die von den deutschen Kolonialherren gewährte (begrenzte) Selbstverwaltung beseitigt. Dieser Eingriff entfremdete nicht nur die indigene Bevölkerung, sondern auch die Chinesen, die auf die Insel verschleppt worden waren, von der neuseeländischen Verwaltung. Darüber hinaus richteten die Militärs bei der Stadt Apia ein Lager ein, aus dem im Frühjahr 1915 ein Insasse floh. Den Protest des Berliner Auswärtigen Amtes gegen die harte Strafe – drei Jahre Haft – wies Logan zwar ebenso wie der Gouverneur Neuseelands, Arthur Foljambe (1870–1941, Earl of Liverpool), mit dem Hinweis auf Spionagegefahr zurück. Gegenüber dem Londoner Kolonialministerium räumte er aber ein, dass mit der Einweisung ins Gefängnis nicht nur die enemy aliens, sondern auch die indigenen Bewohner der Insel abgeschreckt werden sollten. Das Kriegsministerium übermittelte daraufhin Vorgaben zu Höchststrafen für bestimmte Delikte.779 Die Insassen des Lagers in Apia sorgten sich vor allem um ihre Angehörigen. Im Besonderen befürchteten sie, dass die Polynesier ihre Frauen verfolgen könnten. Auch andere Klagen der Internierten spiegelten koloniale und rassistische Einstellungen wider. Sie konnten nur schwer verwinden, dass ihnen die Briten und Neuseeländer die zuvor vorherrschende Solidarität aufgekündigt hatten. Ebenso wie die gefangenen deutschen Zivilisten in Ostafrika betonten sie daraufhin ihr „Deutschtum“ und ihre Bindung an die „Heimat“. Der ostenta777 NA, FO 383/163, Bl. 4–8; Welch, Germany, S. 63. 778 Hiery, War, S. 66, 77, 80–85. 779 NA, FO 383/70 (Briefe vom 17. Mai und 11. Juni 1915; Auszug aus einer Mitteilung vom 8. Juli 1915; Telegramm vom 12. Juli 1915; „List of German subjects convicted by military court“). Vgl. auch Hermann Joseph Hiery, The Neglected War. The German South Pacific and the Influence of World War I, 1933–40, Honolulu 1995, S. 154–182

4.13 Neutrale Staaten 

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tive Patriotismus sollte nicht nur die Solidarität zwischen den Internierten stärken, sondern auch ihren Beitrag zum Krieg des Kaiserreiches herausstellen. Mit ihrem Leiden, über das sie Inspekteuren berichteten, schrieben sie sich ebenso in die Schicksalsgemeinschaft des Vaterlandes ein wie die Deutschen, die in Afrika interniert worden waren.780

4.13 Neutrale Staaten Einführung: Traditionen der Neutralitätspolitik und Herausforderungen im Ersten Weltkrieg „Neutralität“ ist seit dem 17. Jahrhundert im Völkerrecht verankert, als der Begriff erstmals in einem Edikt des französischen Königs gebraucht wurde. Eine Konferenz, die 1856 in Paris stattfand, kodifizierte das Konzept. Die dabei festgelegten Rechte neutraler Staaten schützten besonders ihren Handel und die Schifffahrt. Neutralität wurde dabei als Nichtbeteiligung eines Staates an einem Krieg zwischen anderen Staaten gefasst. Von der militärischen Neutralität ist im Allgemeinen die politische Neutralität zu unterscheiden, die freilich durchweg situationsbedingt und an bestimmte Rahmenbedingungen gebunden ist. Als noch voraussetzungsvoller muss die wirtschaftliche Neutralität gelten, deren Bewahrung sich im 20. Jahrhundert vielfach als nicht praktikabel erwiesen hat. Gesinnungsneutralität kann schließlich von Regierungen nur erzwungen werden, indem sie öffentliche Äußerungen über kriegführende Länder der Zensur unterwerfen.781 Darüber hinaus ist seit dem 19. Jahrhundert zwischen einer vertragsrechtlich verankerten Neutralität, die Verhaltensmaßregeln und Schutzverpflichtungen im Kriegsfall vorsieht (im Fall der Schweiz und Belgiens) und einer freiwilligen Neutralität, die auf den Regeln des Völkerrechts beruht (USA, Niederlande und Dänemark) differenziert worden.782 Die Zweite Haager Friedenskonferenz präzisierte schließlich die Pflichten neutraler Staaten, deren Territorium für unverletzlich erklärt wurde. Hier durften keine fremden Truppen rekrutiert, aufgestellt und stationiert werden. Umgekehrt waren Soldaten und zivile Flüchtlinge 780 Barkhof, Occupation, S. 209, 211 f., 214, 218, 220. 781 Carlo Moos, Neutralität und innere Krise: Die Schweiz im Ersten Weltkrieg, in: Thier / Schwab (Hg.), 1914, S. 225–245, hier: S. 228 f. 782 Vgl. Wim Klinkert, ‚Espionage Is Practiced Here on a Vast Scale‘: The Neutral Netherlands, 1914–1940, in: Floribert Baudet u. a. (Hg.), Perspectives on Military Intelligence from the First World War to Mali: Between Learning and Law, Den Haag 2017, S. 23–54, hier: S. 25; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 16.

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kriegführender Staaten ausnahmslos zu internieren. Demgegenüber erlaubte die Konvention von 1907 in neutralen Staaten ansässigen Unternehmen, militärische Ausrüstung wie Waffen und Munition zu exportieren. Eine besondere Form der Neutralität ist grundsätzlich die „Unparteilichkeit“, mit der sich Staaten freiwillig verpflichteten, auch im Frieden keine Bündnisse mit anderen Ländern einzugehen. Diese Politik vertrat die Regierung der Niederlande vom 19. Jahrhundert bis zum Angriff des „Dritten Reiches“ im Mai 1940. Jedoch bemühte sich die holländische Regierung – im Gegensatz zur Schweiz – um eine aktive Diplomatie zur Verteidigung der Neutralität.783 Im Ersten Weltkrieg übernahmen neutrale Staaten wie die Schweiz, die Niederlande, Spanien, Schweden, Dänemark, Norwegen und (bis 1917) die Vereinigten Staaten von Amerika für die kriegführenden Mächte die Treuhandschaft über die Angehörigen der jeweils gegnerischen Länder. Ebenso wie das IKRK prüften Vertreter dieser neutralen Staaten die Unterbringung und Lebensverhältnisse der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, die in den Niederlanden zwar in Lager verbracht, dort aber nur lose bewacht wurden. Demgegenüber wiesen die Behörden in der Schweiz verwundete und kranke Soldaten und Zivilisten, die kriegführenden Staaten angehörten, in Hotels und Pensionen ein.784 Geflohene Soldaten mussten nach dem Völkerrecht interniert werden, so in den Niederlanden im Ersten Weltkrieg 1.600 kranke Briten und 400 Deutsche. Einzelne neutrale Staaten wie die Schweiz ließen aber Besuche von Angehörigen kriegführender Staaten zu. Vor allem die Gemeinschaft der betroffenen Männer mit ihren Frauen und Kindern unterschied die Internierung in diesen Ländern damit vom Leben in den deutlich geschlosseneren Lagern, die in den kriegführenden Staaten eingerichtet wurden. Jedoch erreichten nur kleine Gruppen von Frauen und Kindern Dänemark, Norwegen und Schweden. Umgekehrt erlegten kriegführende Staaten auch Angehörigen neutraler Länder Restriktionen auf. So galt der britische Aliens Restriction Act keineswegs nur für Feindstaatenangehörige, sondern auch für Bürger neutraler Staaten. Unter diesen Umständen eröffnete die Unterbringung von Zivilisten und Soldaten besonders den Niederlanden und der Eidgenossenschaft die Möglichkeit, den Umgang der Regierungen kriegführender Mächte mit den Staatsangehörigen der beiden neutralen Länder zu beeinflussen. Zudem unterstützte die vorübergehende Internierung die Neutralitätspolitik, und sie bot wirtschaftliche Vorteile.785 783 Marc Frey, Der Erste Weltkrieg und die Niederlande. Ein neutrales Land im politischen und wirtschaftlichen Kalkül der Kriegsgegner, Berlin 1998, S. 56 f.; Huber, Fremdsein, S. 268. 784 Segesser, Lager, S. 46; Barton, Internment, S. 8. 785 Panayi, Societies, S. 16; Stibbe, Civilian Internment, S. 209 f.; Caglioti, Subjects, S. 502; Murphy, Captivity, S. 157; Barton, Internment, S. 194. Angaben zu den Niederlanden nach: Panayi, Act, S. 60.

4.13 Neutrale Staaten 

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Schweizer Eidgenossenschaft In der Schweiz übertrug das Parlament der Regierung am 3. August 1914 mit dem „Bundesbeschluss betreffend Maßnahmen zum Schutze des Landes und der Aufrechterhaltung der Neutralität“ einstimmig weitreichende Sondervollmachten. Um auch die Sicherheit, Integrität und wirtschaftlichen Interessen des Landes zu bewahren, ermächtigten sie die Kommandeure, Bürgerrechte zu beseitigen, eine Zensur zu verhängen, die Reisefreiheit einzuschränken und Versammlungen zu verbieten (mit Ausnahme von religiösen Zusammenkünften). Darüber hinaus konnten Personen, die als Gefahr für die öffentliche Sicherheit eingestuft wurden, aus ihren Wohngebieten entfernt und interniert werden. Zur Beschränkung des Aufenthaltes und zur Ausweisung von Ausländern wurden auch das „Fremdengesetz“ von 1849 und die Bundesverfassung von 1874 genutzt, die den Bundesrat ermächtigt hatten, Ausländer, die straffällig geworden waren und als öffentliche Gefahr galten, des Landes zu verweisen. Fremde, die aus einem Kanton ausgewiesen worden waren, durften sich seit 1913 in der gesamten Schweiz nicht mehr aufhalten. Die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen sollten vor allem die Neutralität des Landes schützen.786 Obwohl sich die Bundesversammlung (zusammengesetzt aus dem Nationalund Ständerat) damit selber entmachtet hatte und die Verfassung des Landes kein Notstandsrecht vorsah, rechtfertigten Staatsrechtler wie Eduard His (1886– 1948) und Eduard Otto von Waldkirch (1890–1972) das „Vollmachtenregime“. Walther Burckhardt (1871–1939) stellte sogar lakonisch fest: „Keine Verfassung, auch die der reinsten Demokratie, kann der Diktatur ganz entbehren.“787 Die Sozialdemokraten schlossen sich zwar grundsätzlich dieser „Panikreaktion“ an, bestanden aber darauf, dass die Vollmachten nur die militärische Sicherheit gewährleisten sollten, aber grundlegende Freiheitsrechte der Bürger nicht gefährden durften. Nur in den französisch geprägten westlichen Landesteilen, der Romandie, regte sich schon früh Widerstand gegen die Willkür, die mit dem Notstandsrecht einherging. Hier warnten Politiker vor einer Unterhöhlung der föderalistischen Demokratie, die für die Eidgenossenschaft konstitutiv war. Zu786 Oliver Schneider, Die Schweiz im Ausnahmezustand. Expansion und Grenzen von Staatlichkeit im Vollmachtenregime des Ersten Weltkriegs, 1914–1919, Zürich 2019, S. 71 f., 76; Huber, Fremdsein, S. 220. 787 Walther Burckhardt, Gedanken eines Neutralen, in: Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft 28 (1914), S. 11, Zitat: Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München 2015, S. 118. Vgl. auch Oliver Schneider, Diktatur der Bürokratie? Das Vollmachtenregime des Bundesrats im Ersten Weltkrieg, in: Roman Rossfeld / Thomas Buomberger / Patrick Kury (Hg.), 14/18. Die Schweiz und der Große Krieg, Baden 2014, S. 48–71, hier: S. 49, 54, 56; Moos, Neutralität, S. 228.

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dem befürchteten sie eine Militarisierung durch eine Armeeführung, die mit Ulrich Wille (1848–1925) am 3. August 1914 einen deutschfreundlichen Oberbefehlshaber gewählt hatte. Auch andere Staatsrechtler wandten sich gegen die Konzentration der Macht beim Bundesrat und in der Bürokratie. Diese kritischen Stimmen konnten aber nicht verhindern, dass sich die Schweiz im Ersten Weltkrieg faktisch „im Zustand eines demokratischen Autoritarismus“ befand, weil das Vertrauen in die Exekutive in der Schweiz stark war.788 Auf der Grundlage des Bundesbeschlusses vom 3. August 1914 verabschiedete der Bundesrat von 1914 bis zum Ende des Notstands 1919 rund 1.600 Erlasse, die das Bundesgericht nicht im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung prüfen konnte. Die Noterlasse bezogen sich vorrangig auf die Neutralitäts-, Militär- und Wirtschaftspolitik. So sollte die „Verordnung betreffend Handhabung der Neutralität der Schweiz“ vom 5. August 1914 den Umgang mit ausländischen Soldaten und Zivilisten regeln. Weitere Gesetze richteten sich u. a. gegen Spionage, Sabotage und Subversion. Diese Delikte wurden ab 1915 nach dem Militärstrafrecht geahndet. Darüber hinaus konnten Schweizer, die gegen die Vorschriften zur Unparteilichkeit verstießen, interniert und Ausländer ausgewiesen werden. Auch zensierte das Pressebüro des Armeestabes Veröffentlichungen, die nach Auffassung des Bundesrates und der Militärführung die Beziehungen zu anderen Ländern bedrohten. Außerdem sollte die Sprengkraft der inneren Spannungen in der Eidgenossenschaft eingedämmt werden, denn die Schweizer hatten hinsichtlich der Außenpolitik ihres Landes schon vor 1914 unterschiedliche Auffassungen vertreten. Anders als in den Jahren von 1939 bis 1945 verschärften sich die Konflikte im Ersten Weltkrieg. Während im Westen der Schweiz Sympathie mit Frankreich vorherrschte, neigten die Deutschschweizer im Osten des Landes dem Deutschen Reich zu. Damit war äußere und innere Sicherheit auch in der neutralen Schweiz schon zu Beginn des Krieges miteinander verkoppelt. In den Neutralitätsberichten, die der Bundesrat dem Parlament am 1. Dezember 1914 und 19. Februar 1916 vorlegte, rechtfertigte die Regierung das anhaltende „Vollmachtenregime“ deshalb mit dem Hinweis auf die Notlage, in der die „Sicherheit, Integrität und Neutralität des Landes“ geschützt werden müsse.789 788 Zitat: Tanner, Geschichte, S. 129. Vgl. auch Anja Huber, The Internment of Prisoners of War and Civilians in Neutral Switzerland, 1916–1919, in: Manz / Panayi / Stibbe (Hg.), Internment, S. 252–272, hier: S. 253 f.; dies., Fremdsein, S. 269; Thomas Bürgisser, Internees (Switzerland), in: 1914–1918 Online. International Encyclopedia of the First World War (https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/Internees_(Switzerland); Zugriff am 1. März 2018); Schneider, Diktatur der Bürokratie?, S. 50; ders., Schweiz, S. 82. 789 2. Neutralitätsbericht des Bundesrates vom 19. Februar 1916, in: Schweizerisches Bundesblatt 68 (1916), S. 123, Zitat: Schneider, Diktatur der Bürokratie?, S. 57. Vgl. auch Moos, Neutralität, S. 228; Schneider, Schweiz, S. 107, 112.

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Zugleich förderte der Bundesrat jedoch humanitäre Aktivitäten. Er unterstützte vor allem das Engagement des IKRK, dessen Präsident Ador der Schweizer Regierung schon im November 1914 vorschlug, den Transfer verwundeter Soldaten über das Territorium des Landes zu erlauben. Außer dem Genfer Komitee halfen die Behörden der Eidgenossenschaft auch privaten Hilfsorganisationen. Überdies diente die Schweiz als Schutzmacht für zivile und militärische Feindstaatenangehörige, vor allem nach dem Kriegseintritt der USA. 1918 hatte die Eidgenossenschaft diese Funktion für elf Länder übernommen, die sie in elf kriegführenden Staaten vertrat. Sie war damit nach Spanien (und vor den Niederlanden) zur zweitwichtigsten Schutzmacht geworden. Ermutigt von führenden Vertretern des IKRK, erkannten Vertreter der Regierung zunehmend, dass die Neutralität eine Chance für eine offensive humanitäre Politik bot.790 Zu den diplomatischen Aktivitäten zählten auch Bemühungen um Abkommen zwischen den kriegführenden Ländern. So trug die Bundesregierung zu diversen Vereinbarungen zur Rückführung von Zivilisten und verletzten Kriegsgefangenen bei, die jeweils bilateral zwischen der Türkei, Großbritannien, Frankreich, Serbien, Italien und Österreich-Ungarn abgeschlossen wurden. Der daraus resultierende Austausch begann im März 1915 mit der Durchreise schwer verwundeter deutscher und französischer Soldaten durch die Eidgenossenschaft und erreichte im Dezember 1915 mit einem Abkommen zwischen der Schweiz, Deutschland und Frankreich einen ersten Höhepunkt. Die Vereinbarung, die vom Vatikan vermittelt worden war, sah die Internierung schwer verletzter Soldaten in der Eidgenossenschaft vor. Im Frühjahr 1916 wurde ebenfalls mit Unterstützung des Papstes, aber auch des IKRK, des Präsidenten des Britischen Roten Kreuzes und des Staatssekretärs im britischen Außenministerium, Robert Cecil, ein ähnliches Abkommen zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich abgeschlossen. Die Internierten, die in der Schweiz ankamen, wurden in Hotels, Sanatorien und Spitälern untergebracht – zur Freude der darbenden eidgenössischen Tourismusbranche.791 Alles in allem fanden in dem Land bis zur Rückführung des letzten deutschen Soldaten im Februar 1919 zahlreiche verwundete bzw. kranke Kombattanten zumindest vorübergehend Schutz. Die Zahl der Internierten belief sich in den Jahren von 1916 bis 1919 insgesamt auf 67.726, davon allein 37.515 Franzo790 Cedric Cotter / Iréne Herrmann, Hilfe zum Selbstschutz. Die Schweiz und ihre humanitären Werke, in: Rossfeld / Buomberger / Kury (Hg.), 14/18, S. 240–265, hier: S. 241, 244, 246, 254, 258, 262; Herrmann, Ador. 791 NA, FO 383/215 (Vermerk vom 12. Februar und 9. Mai 1916); FO 383/215 (Schreiben vom 30. Dezember 1915, 8. und 25. März sowie vom 12. Mai 1916; „Internement en Suisse de certaines categories de blessés et de malades“; „Memorandum to Sir Edward Grey“ und „Communiqué in the Osservatore Romano“ vom 6. Mai 1916). Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 207.

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sen und 21.000 Deutsche. Jedoch hielten sich nie mehr als 30.000 von ihnen zu derselben Zeit in der Schweiz auf. Auch war die Zahl der Zivilinternierten deutlich geringer als diejenige der kriegsgefangenen Soldaten. Am 31. August 1916 wurden 1.626 Franzosen und jeweils 439 Belgier und Deutsche registriert. Am 31. Oktober 1917 lebten 1.491 französische, 809 deutsche, 463 belgische und 380 österreichisch-ungarische Staatsbürger in der Eidgenossenschaft. Alles in allem wurden 3.120 französische, 1.430 deutsche und 693 belgische Zivilisten in die Schweiz gebracht und hier interniert. Im April 1917 belief sich die Zahl der erfassten ausländischen Soldaten und Zivilisten auf 15.000, von denen 8.000 arbeiteten und 1.650 studierten. Alles in allem avancierte das Land von 1915 bis 1918 zu einem wichtigen Aufnahme- und Transitland für Soldaten und Zivilisten, die Opfer des Krieges geworden waren.792 Wiederholt organisierte und vermittelte die Schweizer Bundesregierung Austauschaktionen. Allein von März 1915 bis Februar 1916 konnten in fünf Transporten rund 8.200 Franzosen und 2.200 Deutsche in ihre jeweiligen Heimatländer zurückgeführt werden. Bis November 1916 wurden in diesem Rahmen 2.350 deutsche und 8.670 französische Soldaten durch die Eidgenossenschaft transportiert.793 Im Frühjahr 1915 bot der Bundesrat auch an, aus den von Deutschland verwalteten nordfranzösischen Gebieten ältere Zivilisten, Jugendliche und Kranke über die Schweiz in das unbesetzte Frankreich zu überführen. Zudem nahm die Eidgenossenschaft seit Februar 1916 Kriegsgefangene auf, die nach einem Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich wegen besonderer Umstände (so einer ansteckenden Krankheit) entlassen worden waren, aber nicht ihrem Heimatland überlassen werden sollten. So hielten sich im August 1917 in der Schweiz u. a. 8.868 deutsche und 14.288 französische Soldaten auf. Nachdem sich Großbritannien dem Übereinkommen im Mai 1916 angeschlossen hatte, belief sich die Zahl der überführten Gefangenen Ende 1917 auf rund 27.000. Allerdings regelte erst das Berner Abkommen vom Frühjahr 1918 nicht nur umfassend und verbindlich die Behandlung und den Austausch von Kriegsgefangenen, sondern auch deren Internierung in der Schweiz. Hier wurden allein 1918 2.613 ausländische Soldaten von ihren Familien besucht. Einige Internierte verliebten sich in Schweizerinnen und blieben dauerhaft in der Eidgenossenschaft, so dass hier die Zahl der Einbürgerungen von 4.800 (1913) auf 10.200 (1917) stieg. Überwiegend wurde Deutschen das Bürgerrecht verliehen. 792 Angaben nach: Huber, Fremdsein, S. 208, 251; dies., Internment, S. 255; Barton, Internment, S. 210; Moorehead, Dream, S. 203 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 205 f.; Ischer, Schweizer Rote Kreuz, S. 310; de Syon / Ericson, Neutral Internees, S. 201; Bürgisser, Internierung, S. 274; Bürgisser, Internees. Von 67.000 Aufgenommenen wird ausgegangen in: Bürgisser, Internierung, S. 272; ders., Internees. 793 Angaben nach: Huber, Internment, S. 255.

4.13 Neutrale Staaten



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Nicht zuletzt ermöglichte die Schweiz dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, Informationen über Kriegsgefangene und Zivilinternierte einzuholen und Paketsendungen zu vermitteln.794 Darüber hinaus nahm die Eidgenossenschaft Flüchtlinge auf, allerdings keineswegs uneingeschränkt und vorbehaltlos. Außer Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern („Refraktären“), deren Aufenthalt jedoch erst ein Gesetz vom Juni 1916 legalisierte, fanden auch Zivilisten in der Eidgenossenschaft Zuflucht, darunter 4.350 Belgier. Ebenso kamen in dem Land Serben, Rumänen, Italiener und Armenier unter. Viele dieser Zivilisten waren Kinder und ältere Personen, die aus ihrer Heimat geflohen waren. Darüber hinaus besuchten Frauen ihre Männer, die als Soldaten in der Schweiz interniert waren. Hier konnten Ehen geschlossen werden und verheiratete Paare ein reguläres Familienleben führen. Auch durften Mütter zu ihren Söhnen kommen. Die Mitwirkung von Frauen an der Freizeitgestaltung, am Sport und an gesellschaftlichen Aktivitäten ließ die Internierung in der Schweiz zu einer deutlich positiveren Erfahrung werden als in den kriegführenden Staaten. Nur gelegentlich musste die Polizei bei Ausschreitungen eingreifen. Einzelne Länder erließen aber Einschränkungen für Besuche ihrer Staatsangehörigen. So mussten Frauen, für die das Central Prisoners of War Committee des Britischen Roten Kreuzes eine Ausreise in die Schweiz arrangiert hatte, jeweils nach zwei Wochen zurückkommen.795 Nicht zuletzt gewährte die Eidgenossenschaft vor allem Sozialisten und Pazifisten politisches Asyl. Der Bundesrat ließ ihre Aktivitäten zu, wenn sie nicht gegen die Neutralitätspolitik verstießen. So fand vom 5. bis 8. September 1915 in Zimmerwald (bei Bern) eine Konferenz statt, die vom Friedensengagement des italienischen Politikers Giuseppe Emanuele Modigliani (1872–1947) geprägt war. Jedoch wurden politische Emigranten 1917/18 in der Schweiz strenger überwacht. Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg blieb die Zahl der Zivilflüchtlinge insgesamt gering. Die Entscheidung über die Aufnahme bzw. Ablehnung überließ der Bundesrat von 1914 bis 1918 den Kantonen.796

794 Angaben nach: Georg Kreis, Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918, Zürich 2014, S. 238, 242, 247; Tanner, Geschichte, S. 131; Huber, Fremdsein, S. 218; dies., Internment, S. 263. Vgl. auch Hull, Destruction, S. 254; Speed, Prisoners, S. 34 f.; Bürgisser, Internierung, S. 270; ders., Internees. 795 Christian Koller, Aufruhr ist unschweizerisch. Fremdenangst und ihre Instrumentalisierung während der Landesstreikzeit, in: Roman Bossfeld u. a. (Hg.), Der Landesstreik. Die Schweiz im November 1918, Baden 2018, S. 368–389, hier: S. 377; Barton, Internment, S. 165–198. 796 Angaben auch: Huber, Fremdsein, S. 158, 164. Zur Zimmerwald-Konferenz: Donatella Cherubini, G. E. Modigliani in the Zimmerwald Movement: ‚War Against War‘ and the United States of Europe, in: Olmstead (Hg.), Peace, S. 61–69.

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Diese erlaubten schon unmittelbar nach Kriegsausbruch zahlreichen Russen, die aus dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn geflohen waren, den Grenzübertritt. Andererseits mussten vor allem mittellose italienische, russische und spanische Staatsangehörige die Schweiz verlassen. Demgegenüber durften Deutsche und Franzosen, die von ihren landsmannschaftlichen Organisationen unterstützt wurden, in der Eidgenossenschaft verbleiben. Das „Schweizerische Bureau für Heimschaffung internierter Zivilpersonen“, das dem Politischen Department unterstand, ließ im Herbst 1914 allerdings auch Ausländer, die nach Kriegsbeginn festgesetzt worden waren, in ihre Heimatländer zurückbringen. Darunter waren 10.845 Franzosen, 7.650 Deutsche und 1.980 Staatsangehörige Österreich-Ungarns.797 Die Neutralitätspolitik entsprach zwar dem humanitären Selbstverständnis der Eidgenossenschaft; ihr lagen aber konkrete politische Ziele und auch utilitaristische Motive zu Grunde. Sie sollte im Ersten Weltkrieg den außenpolitischen Status des Landes erhöhen und damit die Neutralität schützen. Die Regierung konkurrierte dabei vor allem mit dem Vatikan, der gleichfalls humanitäre Initiativen für sich beanspruchte. Nicht zuletzt bezweckte das Engagement für Kriegsopfer, die innenpolitische Integration des Landes zu fördern und den Graben zwischen den mit Deutschland bzw. Frankreich sympathisierenden Schweizern zu überbrücken. Zur Festigung der nationalen Identität trug zudem das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) bei, das zur Gefangenenfürsorge den ihr angeschlossenen Verband Pro Captivis einsetzte, mit verschiedenen Hilfsbüros zusammenarbeitete und in der Eidgenossenschaft private und regionale Initiativen anregte und förderte. So kooperierte das SRK mit der Commission romande des internés, die der Entente zuneigte. Das propagierte Selbstbild der Schweiz als Insel der Humanität entsprach damit sowohl den politischen Zielen des Bundesrates als auch den Interessen des IKRK und der nationalen Rotkreuzgesellschaft. Damit konnte die Bereitschaft der Eidgenossen, für die Opferhilfe zu spenden, gesteigert werden.798 Zudem wirkte sich die Rückführung von Soldaten und Zivilisten, die von den kriegführenden Ländern freigelassen und in die Schweiz überführt worden waren, günstig auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes aus. So bezahlten die Staaten, denen die einbezogenen Personen jeweils angehörten, den Aufenthalt in der Eidgenossenschaft und den Transport in die Heimat, der im Allgemeinen erst nach dem Kriegsende erfolgte. Zuvor konnten sich vor allem kranke und verwundete Soldaten erholen und behandeln lassen. Sie wurden in insge797 Huber, Fremdsein, S. 164 (Angabe), 170. 798 Bürgisser, Internierung, S. 267 f., 277; ders., Internees; Brückner, Hilfe, S. 135, 143 f., 147, 207; Barton, Internment, S. 7, 17, 28.

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samt 200 Orten von Ärzten versorgt. Dafür und als Entgelt für die Aufenthaltskosten erhielt die Schweiz allein von Januar 1916 bis August 1919 von den Regierungen der Staaten, deren Soldaten aufgenommen worden waren, 137 Millionen Franken. Dieser Geldtransfer entsprach der Genfer Konvention von 1906, die auch einen Austausch von schwer Verwundeten festgelegt hatte. Darüber hinaus konnte der Bundesrat mit dem Hinweis auf die Versorgung der aufgenommenen Soldaten und Zivilisten von den Entente-Mächten eine Lockerung der Wirtschaftsblockade verlangen, unter der das Land ebenso litt wie Deutschland.799 Wegen der Neutralität wies die Internierung in der Schweiz einige Besonderheiten auf. Vor allem erfasste sie nur wenige Zivilisten. So hielten sich am 31. Oktober 1917 lediglich 1.491 französische, 809 deutsche, 463 belgische und 380 Zivilisten aus Österreich-Ungarn in der Eidgenossenschaft auf. Sie lebten überwiegend in gesondert ausgewiesenen Regionen, die der Sanitätsabteilung des Armeestabes unterstanden. Außerhalb dieser Gebiete wurden die Internierten von den örtlichen Polizeibehörden überwacht. Oft handelte es sich dabei um Frauen, die aus Kriegsgebieten geflohen waren oder ihre internierten Männer besuchten. So erlaubte der Bundesrat 1918 1.539 Familien (2.613 Personen) internierter ausländischer Soldaten die Einreise.800 Die Zivilisten durften sich auch außerhalb der abgegrenzten Internierungszonen aufhalten, in denen die Soldaten untergebracht waren. Zudem konnten sie in der Schweiz eingebürgert werden, wenn die Behörden in dem jeweiligen Kanton den Anträgen zustimmten.801 Die Militär- und Zivilinternierten lebten vielerorts in Hotels und Sanatorien, die nach dem Kriegsbeginn nur noch wenige Gäste zählten. So war die Zahl der Touristen in Interlaken im Herbst 1914 innerhalb weniger Wochen von 60.000 auf 3.000 zurückgegangen.802 Mit der Internierung konnte der Tourismussektor stabilisiert und eine hohe Verschuldung der Betriebe, deren Inhaber vor 1914 kräftig investiert hatten, vermieden werden. Ende 1917 lebten fast 30.000 Internierte in 195 Hotels, Gäste- und Krankenhäusern sowie Sanatorien. Da die Internierung dem Fremdenverkehr beträchtliche Einnahmen sicherte, lehnten Hoteliers und Gastronomen den Bau fester Lager ab. Der Lobbyismus dieser Gruppen war zunächst erfolgreich, konnte aber nicht verhindern, dass nach einem Erlass vom November 1915 der Bau neuer und die Erweiterung bereits bestehender Ho799 Vgl. Thomas Bürgisser, „Unerwünschte Gäste“. Russische Soldaten in der Schweiz 1915– 1920, Zürich 2010, S. 147; ders., Internierung, S. 267 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 208; Moos, Neutralität, S. 238 f. 800 Huber, Fremdsein, S. 208; dies., Internment, S. 256. 801 Huber, Fremdsein, S. 20, 217. 802 Angaben nach: Huber, Internment, S. 259 f.

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tels der Zustimmung des Bundesrats bedurfte. Jedoch wurden Camps für Internierte nie errichtet, obgleich das Militär dies zunächst aus Sicherheitsgründen geplant hatte. Auch die Einführung der Arbeitspflicht für alle Internierten war ökonomischen Interessen geschuldet. Sie wurden in Schweizer Betrieben beschäftigt, die Arbeitskräfte benötigten. So waren Ende 1917 schon 5.556 Internierte außerhalb ihrer Wohngebiete im Einsatz. Abgesehen von den niedrigen Löhnen, die diesen Beschäftigten gezahlt wurden, kam es bei der Arbeitsvermittlung gelegentlich zu Missbrauch und Betrug. In diesen Gesetzesverstößen trat die utilitaristische Dimension der Aufnahme von Soldaten und Zivilisten ausländischer Staaten besonders deutlich hervor.803 Darüber hinaus nahm im Kriegsverlauf die Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz deutlich zu. Ausländer wurden in den Medien als „Fremdkörper“ stigmatisiert, und auch Wissenschaftler warnten vor einer „geistigen Überfremdung“. Schon ab September 1915 mussten Polizisten deshalb nach einer Anordnung des Bundesrates die Pässe von Angehörigen anderer Staaten prüfen. Humanitäre Organisationen in der Eidgenossenschaft schwiegen zu der Verschärfung der Grenzkontrolle, und Hoteliers, die dadurch ihr Geschäft geschädigt sahen, protestierten vergeblich gegen die Neuregelung. Als 1917 der Mangel, die Arbeitslosigkeit und Armut wuchsen, bezeichneten immer mehr Schweizer Ausländer als „unerwünschte Gäste“ bzw. indésirables. Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit, die Organisationen wie die „Neue Helvetische Gesellschaft“ verbreiteten, ging mit einer Angst um die innere Ordnung und die Neutralitätspolitik einher, die den Umgang mit den zivilen Feindstaatenausländern maßgeblich bestimmte. Sogar internierte Soldaten der kriegführenden Staaten betrachteten die Behörden und große Bevölkerungsgruppen als Risiko, denn sie drohten das Land in den Krieg zu verwickeln. Vor allem Krankenschwestern wurden oft der Spionage verdächtigt. Auch in der Eidgenossenschaft prägten damit geschlechterspezifische Rollenzuweisungen Sicherheitswahrnehmungen.804 Deserteure und Wehrdienstverweigerer, die in der Schweiz Zuflucht gesucht hatten, weckten noch massiver Argwohn und Verdächtigungen. So lehnte der Militärarzt Oberst Carl Hauser (1866–1956), der für die Internierung zuständig und direkt dem Eidgenössischen Politischen Department (und nicht Wille) untergeben war, 1917 Forderungen von Vertretern der Fremdenverkehrsbranche

803 Angabe nach: Huber, Fremdsein, S. 213; dies., Internment, S. 259. Vgl. auch Bürgisser, Internierung, S. 284, 287; ders., Internees; Schneider, Schweiz, S. 95 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 207; Barton, Internment, S. 2, 26 f., 54 f., 210. 804 Huber, Fremdsein, S. 160 f., 223; dies., Internment, S. 262 f.; Barton, Internment, S. 60, 64; Bürgisser, Internees; Stibbe, Civilian Internment, S. 208.

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nach der Aufnahme weiterer Soldaten und Zivilisten aus den kriegführenden Nationen ab, da er die Neutralitätspolitik und Sicherheit der Schweiz gefährdet sah. Er konnte sich mit seinen Bedenken gegen einzelne Bundesstaaten durchsetzen, zumal sich auch Angst vor unerwünschter Konkurrenz verbreitete, besonders unter Arbeitern und in den Gewerkschaften. So sollten Waren, die Internierte produziert hatten, in ihre Heimatländer exportiert werden, damit einheimische Produzenten nicht unterboten wurden. Auch forderten einflussreiche Politiker verstärkt, Einreisende zu kontrollieren. Prozesse gegen Spekulanten, Schieber und Wucherer verliehen fremdenfeindlichen Ressentiments kräftig Auftrieb. Die Abwehr spiegelte vor allem die wirtschaftliche Not, die gesellschaftlichen Gegensätze und die Sicherheitsängste wider, die in der Eidgenossenschaft 1917/18 erheblich zunahmen.805 Die Russische Oktoberrevolution stärkte die Befürworter einer harten Sicherheitspolitik in der eidgenössischen Armee. Ihre führenden Vertreter forderten nunmehr, die Aufnahme von Ausländern in der Schweiz drastisch einzuschränken und sogar aufgenommene Kriegsopfer anderer Staaten abzuschieben. Da auch Offiziere und Soldaten der Zarenarmee, die aus deutscher und österreichischer Kriegsgefangenschaft geflohen waren, in der Schweiz Zuflucht suchten, wuchs nicht nur die Revolutionsangst, sondern auch die Furcht vor Spionage und Subversion. Im Gegensatz zu französischen, britischen, deutschen und belgischen Kriegsgefangenen wurden russische Militärangehörige jedoch nicht pauschal interniert, obwohl die „sozialistischen Revolutionäre“ unter ihnen in der Regierung und im Bürgertum Schrecken verbreiteten. Dagegen sollten aus lungenkranken russischen Gefangenen, die in der Gemeinde Montana untergebracht wurden, Kämpfer gegen die bolschewistische Revolution rekrutiert werden und in Russland in den Bürgerkrieg eingreifen. Die Mehrheit dieser „Montana-Russen“ wehrte sich aber gegen ihre Repatriierung nach Südrussland oder in das Baltikum, wo die genesenen Soldaten und Offiziere die Truppen der Gegenrevolutionäre stärken sollten.806 Alles in allem verlieh der Schweizer Nationalismus und der Antikommunismus der Fremdenfeindlichkeit kräftig Auftrieb. Der Kampf gegen die „Überfremdung“, den Intellektuelle wie der St. Gallener Historiker Wilhelm Ehrenzeller (1887–1949) und die Schweizerische Vereinigung für internationales Recht pro805 Patrick Kury, Der Erste Weltkrieg als Wendepunkt in der Ausländerpolitik. Von der Freizügigkeit zur Kontrolle und Abwehr, in: Rossfeld / Buomberger / Kury (Hg.), 14/18, S. 290–313, hier: S. 291 f., 302–305; Bürgisser, Internierung, S. 270, 281; Huber, Fremdsein, S. 210, 216; Stibbe, Civilian Internment, S. 206. 806 Tanner, Geschichte, S. 151,155; Bürgisser, „Unerwünschte Gäste“, S. 198, 200–202; ders., Internierung, S. 288; ders., Internees; Koller, Aufruhr, S. 375–377; Huber, Fremdsein, S. 213 f.; dies., Internment, S. 264 f.

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pagierten, richtete sich vorrangig gegen die Ausländer, die sich in der Eidgenossenschaft aufhielten. Damit verbunden, mobilisierte besonders die Zuwanderung osteuropäischer Juden rassistische Vorurteile, die sich in Hinweisen auf „gesundheitliche“ Gefahren für den „Volkskörper“ zeigten. Im Feindbild des „jüdischen Bolschewismus“ verbanden sich Antikommunismus und Antisemitismus. Am 21. November 1917 reagierte der Bundesrat auf diese Angst mit einer Notverordnung zur Ausländerkontrolle, für die eine „Zentralstelle für Fremdenpolizei“ gegründet wurde. Verdächtige Fremdstaatenangehörige, die bereits in der Schweiz lebten, mussten sich regelmäßig bei der Polizei melden. Wehrdienstverweigerer wiesen die Behörden in der Regel aus. Verbleibende Refrakteure und Deserteure wurden zu Arbeit verpflichtet. Obwohl Sozialisten, Kirchen und auch die bürgerliche Presse gegen diese Praxis protestierten, wurden nur einzelne Refraktäre geduldet, vor allem Elsässer, die sowohl in Frankreich als auch in Deutschland im Allgemeinen auf Misstrauen trafen. Auch Anarchisten und Sozialisten, die – wie Willi Münzenberg (1889–1940) – antimilitaristischer Propaganda beschuldigt wurden, mussten die Schweiz verlassen. Alles in allem nahm der Stellenwert der Sicherheitspolitik mit der Erweiterung der Kompetenzen, die der Eidgenössischen Fremdenpolizei zugewiesen wurden, erheblich zu.807 Noch 1919 hielten sich in der Schweiz rund 27.000 Fahnenflüchtige und Kriegsdienstverweigerer auf (davon 11.818 Italiener und 7.203 Deutsche), obwohl der Bundesrat die Grenzstellen am 1. Mai 1918 angewiesen hatte, alle Deserteure, die in das Land einreisen wollten, rigoros abzuweisen. Damit waren die Grenzen faktisch geschlossen worden. Auch wenn die Polizei seit vielen Jahren in der Schweiz lebende Ausländer, die sich dem Wehrdienst in ihren Heimatstaaten entzogen, entgegenkommender behandelte, wurde der Erste Weltkrieg zu einem Wendepunkt in der Politik der eidgenössischen Regierung. So ließ Heinrich Rothmund (1888–1961), der die Zentralstelle für Fremdenpolizei von 1919 bis 1955 leitete, in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren an den Grenzen der Schweiz jüdische Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ abweisen. Aufgrund der rigorosen Abschottung, welche die Regierung mit Hilfe der Fremdenpolizei schon vor der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten in Deutschland begonnen hatte, war der Anteil der Ausländer an der Bevölkerung in der Eidgenossenschaft bis 1939 auf fünf Prozent zurückgegangen.808

807 Huber, Fremdsein, S. 178, 198, 223 f.; Brückner, Hilfe, S. 147; Stibbe, Civilian Internment, S. 208. Der Begriff „Überfremdung“ war bereits um 1900 geprägt worden. Vgl. Koller, Aufruhr, S. 374. 808 Angaben nach Kury, Der Erste Weltkrieg, S. 307; Bürgisser, „Unerwünschte Gäste“, S. 253. Vgl. auch Koller, Aufruhr, S. 377 f.

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In migrationsgeschichtlicher Hinsicht wurde die Schweiz 1917/18 zudem von einem Aufnahme- zu einem Transitland. Als am 11. November 1918 der Waffenstillstand verkündet wurde, befanden sich zwar noch 25.614 Internierte im Land, davon 12.555 Franzosen. Am 13. November verlangte ihre Regierung die unverzügliche Rückkehr der Internierten, die daraufhin bis zum Jahresende die Schweiz verließen. Jedoch hatte der Waffenstillstandsvertrag die Repatriierung der rund 8.700 Deutschen nicht geregelt. Sie wurden erst ab 14. Juli 1919 entlassen. Die Rückführung dieser Internierten konnte bis Mitte August abgeschlossen werden.809 Entgegen dem Selbstbild des „Leuchtturms der Humanität“ waren ausländische Soldaten und Zivilisten in der Eidgenossenschaft im Kriegsverlauf zunehmend auf Ablehnung getroffen. Überdies lagen der bereitwilligen Internierung keineswegs ausschließlich humanitäre Motive zu Grunde. Vielmehr sollte sie die Neutralitätspolitik flankieren. Wie dargestellt, waren auch ökonomische Ziele wichtig. Aus der Sicht des Bundesrates diente die Aufnahme fremder Soldaten und ihrer Familien nicht zuletzt der äußeren Sicherheit. Als 1917/18 in der Schweiz innenpolitische Konflikte zunahmen, gewannen die Befürworter einer restriktiven Internierungspolitik vollends die Oberhand. Diese Machtverschiebung ging mit einer Zentralisierung der Kompetenzen einher, die vor allem im Eidgenössischen Politischen Department konzentriert wurden. Hier kontrollierte und lenkte beispielsweise 1918 ein zentrales Büro die Arbeit von Internierten. Damit hatte der Erste Weltkrieg auch in der Schweiz autoritäre Kräfte gestärkt. Sie drängten auf eine verschärfte Sicherheitspolitik. Der Landesstreik, an dem sich vom 12. bis 14. November 1918 Tausende Arbeiter beteiligten, war zwar vorrangig auf innere Gegensätze zurückzuführen, die das „Vollmachtenregime“ lediglich verdeckt und unterdrückt hatte. Die Vielzahl der Bundesratsbeschlüsse und Verfügungen, die in den Departments erlassen worden waren, hatte mit der Fixierung auf „Sicherheit“ eine realistische Risikoanalyse sogar erschwert. Dennoch verlieh der Ausstand der autoritären Regierung nochmals Auftrieb. So blieb die Regierung bis Oktober 1921 ermächtigt, „ausnahmsweise Maßnahmen zu treffen, die zur Sicherheit des Landes unumgänglich notwendig sind.“810 Die Gründung des Völkerbundes im Januar 1920 schien eine Lösung der inneren Konflikte in der Eidgenossenschaft zu eröffnen. So verbriefte der Rat der 809 Barton, Internment, S. 201 f.; Huber, Fremdsein, S. 219, 251; Huber, Internment, S. 265. 810 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Beschränkung der außerordentlichen Vollmachten des Bundesrates vom 3. April 1919, in: Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen der schweizerischen Eidgenossenschaft 30 (1914), S. 255 f. Zitat: Schneider, Diktatur der Bürokratie?, S. 70. Vgl. auch Bürgisser, Internees; Huber, Fremdsein, S. 225–227; Huber, Internment, S. 265; Koller, Aufruhr, S. 378; Stibbe, Civilian Internment, S. 208.

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neuen Staatenorganisation am 13. Februar 1920 die Neutralität der Schweiz. Allerdings bestanden im Land die politischen, sozialen und ethnischen Gegensätze fort, denn die Pariser Friedensordnung war zwischen der deutsch- bzw. französischsprachigen Bevölkerung umstritten. Damit wurde der anhaltende Konflikt zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich in der Eidgenossenschaft reproduziert. Die Bundesregierung bestand deshalb auf eine Zusatzerklärung, die der Völkerbund am 17. Februar 1920 verabschiedete. Die Deklaration unterschied klar zwischen wirtschaftlichen Strafen, an denen sich die Schweiz beteiligen musste, und militärischen Sanktionen, die das Land vermeiden durfte. Unter dem Eindruck der Zwänge des Ersten Weltkrieges war die Eidgenossenschaft damit zu einer differentiellen Neutralität übergegangen. Nachdem Deutschland den Völkerbund verlassen hatte und Sanktionen gegen die Vertragsverletzungen durch die Regierungen Japans und Italiens gescheitert waren, kehrte die Bundesregierung 1938 zu einer integralen Neutralität zurück. Mit diesem Schritt schwächte die Schweiz den ohnehin zerfallenden Völkerbund noch weiter.811

Niederlande Die Regierung der Niederlande entschloss sich schon am 31. Juli 1914 zu einer allgemeinen Mobilisierung der Truppen, um damit ihre Entschlossenheit zu zeigen, die Neutralität des Landes zu schützen. Dabei schloss die Regierung einen Angriff durch das Deutsche Reich nicht aus. Auch wenn der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke (1848–1916) dem niederländischen Gesandten versicherte, dass sein Land die Neutralität der Niederlande respektieren würde, wurde hier die militärische Abwehr verstärkt. Nachdem schon 1906 ein kondschapsdienst etabliert worden war, richtete der Generalstab im Juni 1914 eine neue Abteilung, die GS III unter Hauptmann Willem J. C. Schuurman ein, um den Schutz vor Verrat und Subversion zu verstärken. Dieser militärische Geheimdienst sollte mit Hilfe der örtlichen Polizeikräfte, die ihm unterstanden, Informationen über die kriegführenden Länder sammeln, die Zensur durchsetzen, die Kommunikationsverbindungen der europäischen Großmächte überwachen und Spionage verhindern. Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit des Staates waren besonders die Artikel 98, 100 und 430 des Strafgesetzbuches vorgesehen, nach denen Geheimnisverrat mit bis zu sechs Jahren Haft geahndet werden konnte.812 811 Moos, Neutralität, S. 239–241. 812 Hierzu und zum Folgenden: Maartje Abbenhuis, The Art of Staying Neutral. The Netherlands in the First World War, 1914–1918, Amsterdam 2006, S. 139–156; Wim Klinkert, Defending

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Darüber hinaus verhängte die Regierung am 5. August 1914 über Regionen, in denen sich – wie in Vlissingen an der Scheldemündung – starke Befestigungen befanden, den Kriegszustand, der fünf Tage später angesichts des Vormarsches deutscher Truppen in Belgien auch auf die Provinzen Zeeland, Limburg, Nordbrabant und Gelderland (südlich des Flusses Waal) ausgedehnt wurde. Als sich Gerüchte über belgische Freischärler verbreiteten, die in die Niederlande flohen, und die Militärbehörden mit Denunziationen zu vermeintlichen Spionen überschwemmt wurden, erklärte die Regierung auf Druck des Oberkommandierenden der Land- und Seestreitkräfte, General Cornelis J. Snijders (1852– 1939), am 29. August sogar den Belagerungszustand. Er beruhte auf dem 1899 verabschiedeten Kriegsgesetz, das den Militärbefehlshabern weitgehende Befugnisse gegenüber der zivilen Verwaltung übertrug. 1918 unterstanden rund 75 Prozent der niederländischen Gemeinden der Kriegsgerichtsbarkeit. Außerdem stärkte die Militärführung fortlaufend die GS III, um die Aktivitäten kriegführender Mächte auf niederländischem Territorium kontrollieren zu können. Dazu sollte auch ein 1916 eingerichteter Geheimdienst für Gegenspionage, der Opsporingdienst unter Oberleutnant Cornelis S. S. van Heemstra und die gleichfalls eingeführte Registrierungspflicht für Ausländer dienen. Überdies erweiterte ein Fremdengesetz vom 17. Juni 1918 die Kompetenzen des Opsporingdienst bei der Überprüfung von Identitäten und Wohnorten von Ausländern. Enge Kontakte der niederländischen Militärs zu Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz und der Relief Commission for Belgium (in der auch Niederländer mitwirkten) erleichterten die Informationsgewinnung, vor allem aus dem besetzten Belgien. Letztlich konnte das Land seine Verpflichtungen als neutraler Staat erfüllen und seine territoriale Integrität im Ersten Weltkrieg bewahren.813 Diese Ziele hatten aus Sicht der Regierung desertierte deutsche Soldaten ebenso gefährdet wie die hohe Zahl belgischer Flüchtlinge, die vor allem im Oktober 1914 aus Antwerpen vor den heranrückenden deutschen Armeen flohen und z. T. als Spione verdächtigt wurden. Deshalb wurden die Gesetze zur Meldung von Ausländern verschärft, deren Überwachung dem militärischen Geheimdienst oblag. Zudem sollte der Kriegs- und Belagerungszustand verhindern, dass Waren aus den Niederlanden geschmuggelt wurden. Nicht zuletzt Neutrality. The Netherlands Prepare for War, 1900–1925, Leiden 2013, S. 167 f.; ders., A Spy’s Paradise? German Espionage in the Netherlands, 1914–1918, in: Journal of Intelligence History 12 (2013), Nr. 1, S. 21–35, Zugriff am 23. März 2018), hier: S. 22, 24, 27, 32 (DOI: 10.1080/ 16161262.2013.755019, Zugriff am 23. März 2018); ders., ‚Espionage Is Practiced Here on a Vast Scale‘, S. 27 f., 37; Frey, Der Erste Weltkrieg, S. 58 f. 813 Klinkert, Neutrality, S. 169 f., 183, 187, 289. Vgl. auch Th. H. L. Leclocq, Das Niederländische Rote Kreuz und die Kriegsgefangenen, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 302–304, hier: S. 303.

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waren der Regierung Anfang 1915 die Aktivitäten britischer Konsuln im Norden des Landes aufgefallen. Die Diplomaten hatten versucht, Niederländer für den Geheimdienst des Vereinigten Königreiches zu gewinnen. Diese Spione waren beauftragt worden, deutsche Truppenbewegungen in Belgien zu verfolgen. Offiiziell mit dem Ziel, die Sicherheit des neutralen Landes zu gewährleisten, förderte die Ausnahmegesetzgebung aber Illiberalismus und Fremdenfeindlichkeit, die einer humanitären Politik widersprachen. Auch stärkte die Regierung die staatlichen Sicherheitsorgane. So wuchs die GS III während des Krieges von einem auf 25 feste Angestellte. Allerdings wurde der Belagerungszustand nicht über Rotterdam verhängt. Daher konnten hier deutsche Spione britische Schiffstransporte verfolgen. Außerdem lehnten die Niederländer die Ausnahmegesetze und -verordnungen in den Jahren von 1916 bis 1918 zusehends ab, so dass die Truppenbefehlshaber wichtige Kompetenzen – so das Recht, Militärgerichte einzusetzen – wieder verloren.814 Ein wichtiger Bestandteil der Neutralitätspolitik war auch die Aufnahme und Internierung von Angehörigen der kriegführenden Staaten. Dazu gehörten belgische Zivilisten ebenso wie Gegner der deutschen Reichsleitung. Zu den rund eine Million Flüchtlingen, die sich Ende 1914 (überwiegend vorübergehend) in den Niederlanden aufhielten, gehörten auch desertierte Soldaten Deutschlands und der Entente-Mächte. Ebenso hielten sich im Ersten Weltkrieg reguläre Soldaten, Seeleute sowie geflohene und für den Austausch vorgesehene Kombattanten in den Niederlanden auf. Zudem vereinbarte die holländische Regierung 1917 mit Großbritannien und Deutschland, verletzte Kriegsgefangene zu internieren. Die rund 16.000 verwundeten Soldaten, die bis Kriegsende insgesamt aufgenommen wurden, fanden in Privathäusern oder Baracken Unterkunft, oft bis 1919. Darüber hinaus durfte Deutschland in den Niederlanden 1.600 und Großbritannien 400 Zivilisten unterbringen. Ansonsten orientierte sich die Internierung aber an dem Prozess in der Schweiz, in die niederländische Militärs gereist waren, um dort Erfahrungen aufzunehmen und zu lernen. Es vollzogen sich damit Transfers zwischen den beiden neutralen Staaten.815 Von den Kriegsgefangenen sind die Zivilinternierten zu unterscheiden, obgleich die beiden Gruppen grundsätzlich ähnlich behandelt wurden. Unter den insgesamt 46.829 Internierten waren allein 33.105 Belgier. Viele von ihnen hatten die Niederlande, die im Spätsommer und Herbst 1914 rund 750.000 Flüchtlinge aufnahmen, über Zeeland erreicht. Nach den Bestimmungen der Haager 814 Klinkert, A Spy’s Paradise?, S. 22 (Angabe), 27 f.; ders., ‚Espionage Is Practiced Here on a Vast Scale‘, S. 28, 32, 38; Frey, Der Erste Weltkrieg, S. 69. 815 Angaben nach: Huber, Fremdsein, S. 208; Stibbe, Civilian Internment, S. 206. Vgl. auch de Syon / Ericson, Neutral Internees, S. 201

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Konvention wurden Soldaten in die Lager Amersfoort, Hardewyk und Groningen gebracht. Belgische Zivilisten hielt die niederländische Regierung besonders in Gouda, Ede, Udem und Nunspeet fest. Im Camp in Gouda war die Unterbringung so miserabel, dass es Ende 1916 geräumt wurde. In Nunspeet brachten die Behörden rund 10.000 Belgier unter. Im September 1918 arbeiteten aber 11.432 aller Flüchtlinge in kleinen Gruppen außerhalb der Camps, und 3.012 waren individuell beschäftigt. Auch anderen Internierten erlaubten die Behörden eine Beschäftigung in privaten Betrieben. In umliegenden Dörfern wurden zudem oft Frauen von Internierten untergebracht. Rund 7.000 Belgier flohen weiter nach Großbritannien, wo sich viele für den Wehrdienst meldeten. Alles in allem wurden in den Niederlanden während des Ersten Weltkrieges 34.407 belgische, 1.719 britische und 1.859 deutsche Militärangehörige festgehalten. Die Zahl der Zivilinternierten belief sich auf 1.603.816 Mit dem Schutz geflohener Ausländer entsprach die Regierung der Niederlande ebenso wie der Schweizer Bundesrat den Beschlüssen der Haager Konvention, vor allem deren 5. und 13. Artikel, in denen die Rechte und Pflichten neutraler Staaten festgelegt worden waren. Deshalb wurden Flüchtlinge und Deserteure weit entfernt von den Grenzen und den Schlachtfeldern in Belgien untergebracht. Darüber hinaus sollte die Internierung die Neutralitätspolitik der niederländischen Regierung absichern. Diesem Zweck diente auch das humanitäre Engagement des Landes, das von 1915 bis 1918 den Austausch von 7.800 verwundeten deutschen und 4.700 britischen Soldaten über holländisches Territorium ermöglichte. Auch freigelassene Zivilisten wurden über die Niederlande in ihre Heimatländer zurückgeführt.817 Weitere Angehörige von Staaten, die Krieg führten, durften auf ihren Wunsch im Land verbleiben. Unter dem Eindruck der Initiativen des Schweizer Bundesrats hatte die Regierung der Niederlande 1917 auch ein Abkommen zum Austausch von Kriegsversehrten zwischen Deutschland und Großbritannien vermittelt. In diesem Rahmen wurden 16.000 Personen aufgenommen. Im Gegensatz zur Schweiz erlaubte die niederländische Regierung aber entflohenen Kriegsgefangenen, in ihre Heimat zurückzukehren. Sorgen bereiteten den Behörden vor allem die rund 1.600 Internierten, die schon bis Juli 1915 entkommen waren.818

816 Angaben nach: Leclocq, Das Niederländische Rote Kreuz, S. 303, 304; Abbenhuis, Art, S. 106, 109; Pöppinghege, Lager, S. 61; Klinkert, ‚Espionage Is Practiced Here on a Vast Scale‘, S. 30. Vgl. Ormerod Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 197 f. 817 NA, FO 383/143 (Vermerk vom 14. März 1916). 818 Abbenhuis, Art, S. 104, 109; Huber, Internment, S. 255.

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Nachdem sich ein hastig errichtetes Lager in Alkmaar als unzureichend erwiesen hatte, um die im Spätsommer 1914 rasch zunehmende Zahl von Belgiern aufzunehmen, wurde diese Gruppe in eine neue Unterkunft in Gaasterland gebracht. Die Deutschen wies die niederländische Militärverwaltung, die im Januar 1915 eine Abteilung für Internierung (Afdeling Interneering) etablierte, in ein Zeltlager in der Nähe von Bergen ein. Insgesamt befanden sich im Mai 1918 rund 4.500 Deutsche in Camps. Britische Internierte wurden in Groningen untergebracht. Vor allem die Offiziere durften sich in den umliegenden Dörfern frei bewegen. Die britische Regierung konnte die Internierten nach bilateralen Absprachen mit Hilfsgütern versorgen. Dabei wirkte auch die YMCA mit.819 Familienangehörige der internierten belgischen Soldaten konnten mit ihren Männern oder Vätern Kontakt aufnehmen und sie besuchen. Diese Gäste wurden in Gemeinden nahe Gaasterland untergebracht. Nachdem die Zahl der Belgier im Lager bis Oktober 1914 auf rund 2.300 zugenommen hatte und die Lebensbedingungen dort unhaltbar geworden waren, mussten weitere Unterkünfte in Zeist, Harderwijk und Oldebroek eingerichtet werden. Außer der Beschäftigungslosigkeit litten die Insassen besonders unter Nahrungsmangel und unzureichender Kleidung. Die daraus resultierende Unruhe führte zu Fluchten und im Dezember 1914 sogar zu einem Aufstand im Lager Zeist. Die Internierten wurden damit in der Wahrnehmung der Militärbehörden zu einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit.820 Da die Ressourcen des Landes begrenzt waren und vor allem 1917/18 deutlich schwanden, erlaubte die niederländische Regierung Hilfslieferungen für die Internierten. Holländische Zivilisten halfen ebenso wie die Regierungen Deutschlands und Großbritanniens, die jeweils ihre Staatsangehörigen versorgten. Demgegenüber stigmatisierte die politische Führung Belgiens ihre Soldaten, die in den Niederlanden interniert worden waren, pauschal als Verräter. Diese Gruppe, aber auch andere Internierte wurden vom Niederländischen Roten Kreuz unterstützt, das im Anschluss an die Haager Konferenz von 1907 ein Informationsbüro (Het Informatiebureau van het Nederlandsche Roode Kruis) geplant und unmittelbar nach dem Kriegsbeginn eröffnet hatte. Diese Einrichtung wurde zwar vom Kriegsministerium finanziert, blieb aber humanitären Zielen verpflichtet. Daneben sammelte seit Oktober 1914 eine Informationsstelle des IKRK in Den Haag Mitteilungen über internierte Belgier (Agence Belge de Renseignements

819 NA, FO 383/326 (Memorandum vom 6. Oktober 1917; Schreiben vom 13. und 18 Oktober sowie vom 13. und 28. Dezember 1917). 820 Susanne Wolf, Guarded Neutrality. Diplomacy and Internment in the Netherlands during the First World War, Leiden 2013, S. 41, 67, 72 (Angaben), 83.

4.13 Neutrale Staaten 

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pour les Prisonniers de Guerre et les Internes). Beide Institutionen stellten den Kontakt zu Familienangehörigen von Internierten her, und sie schickten den Lagerinsassen dringend benötigte Waren und Geld. Dazu trugen auch humanitäre Nichtregierungsorganisationen wie die Society of Friends bei. Die niederländische Regierung nutzte ihre großzügige Internierungspolitik und das humanitäre Engagement gezielt und erfolgreich, um die Neutralität des Landes zu legitimieren und zu stärken. Dazu gehörte auch, dass sie die Aktivitäten von Friedensgruppen, Frauenorganisationen und Kirchen kontrolliert zuließ, die anstrebten, eine Verständigung herbeizuführen und den Krieg zu beenden.821 1918 wurden einige Lager – so diejenigen in Gaasterland und Oldebroek – schließlich geschlossen. Bei Kriegsende war nur noch das Camp Hardewijk übriggeblieben. Insgesamt sollte die Internierung die niederländische Regierung vor Vorwürfen der kriegführenden Mächte abschirmen, aber auch Angehörige der jeweils gegnerischen Staaten schützen. Damit war letztlich die Neutralität zu bewahren, die vor allem ab 1917 gefährdet war. In den letzten Monaten des Krieges wurde die Grenze des Landes deshalb mit Drahtverhauen abgesperrt, und auch die deutsche Besatzungsverwaltung schloss die belgische Grenze mit einem elektrisch geladenen Zaun. Dem Starkstrom an diesen Barrieren fielen 3.000 Flüchtlinge zum Opfer. Zugleich waren die Lasten, die der niederländischen Bevölkerung mit der wirtschaftlichen Abschottung des Landes aufgebürdet wurden, überaus unpopulär. Die Unzufriedenheit schlug sich im Frühjahr 1918 in Streiks nieder, welche die Furcht vor einer bolschewistischen Revolution steigerten.822 Der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen hatte der Regierung des Landes aber ermöglicht, das verherrlichende Bild der Niederlande als das „klassische Land des Schieds- und Versöhnungsgedankens, das Land der ‚Haager Landkriegsordnung‘“ zu festigen. Dabei war das humanitäre Selbstbild eng auf die Politik bewaffneter Neutralität bezogen. Im Vergleich mit der Schweiz überwiegen im Hinblick auf den Umgang mit Zivilisten der kriegführenden Nationen die Gemeinsamkeiten deutlich gegenüber den Unterschieden. Beide neutralen Länder erfasste der totale Krieg, wenngleich in geringerer Intensität und indirekter als die direkt beteiligten Staaten. Zwar kann von einer umfassenden Mobilisierung in den neutralen Staaten ausgegangen werden, nicht aber von einem totalen Krieg selber. Allerdings wandelte sich die Bedeutung von Neutrali-

821 Frey, Der Erste Weltkrieg, S. 102; Wolf, Neutrality, S. 60–65, 81 f., 86, 91, 122, 173–176. 822 Abbenhuis, Art, S. 106; Klinkert, Neutrality, S. 203. Angabe nach: Piskorski, Die Verjagten, S. 60.

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tät in den Jahren von 1914 bis 1918, da Kontakte mit den kriegführenden Staaten und Zugeständnisse ihnen gegenüber unausweichlich waren.823

823 Maartje Abbenhuis, On the Edge of the Storm? Situating Switzerland’s Neutrality in the Context of the First World War, in: Michael Olsansky, Am Rande des Sturms. Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg, Baden 2018, S. 27–38, hier: S. 28 f., 35; Leclocq, Das Niederländische Rote Kreuz, S. 302; Klinkert, Neutrality, S. 290–292.

5 Ambivalente Gegenkräfte: zivilgesellschaftliche Aktivitäten und humanitäres Engagement im Ersten Weltkrieg Einführung: Humanität im totalen Krieg Mit der „Totalisierung“ des Krieges wurden im 20. Jahrhundert humanitäre Gesichtspunkte wichtiger. Schon mit der Herausbildung des Völkerrechts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Organisationen, Gruppen und Plattformen entstanden, die auf eine Zähmung der Kriegsgewalt und eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit zielten. Sie traten für Frieden ein und organisierten sich in Verbänden, die oft schon grenzüberschreitend zusammenarbeiteten. Ihre Forderungen akzeptierten die Regierungen und politischen Eliten zwar nicht als rechtlich verbindliche Vorgaben. Jedoch wurden die internationalen Organisationen Foren eines Austausches zwischen Aktivisten und Experten, die damit ein öffentliches Bewusstsein für die Folgen unbeschränkter Kriegsgewalt in einem Zeitalter schufen, in dem neue verheerende Waffen wie das Maschinengewehr und die Artillerie ganze Landstriche verwüsten konnten. Zudem hatten besonders den Amerikanischen Bürgerkrieg und den Krieg zwischen Preußen und Frankreich extreme Gewalt gegenüber Soldaten und Zivilisten gekennzeichnet, deren rechtlicher Schutz nunmehr geboten schien. Nicht nur juristische Einrichtungen wie das Institut de Droit International, sondern auch philanthropische Organisationen – vor allem das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die Young Men’s Christian Association – drängten deshalb auf eine Zähmung der Kriegsgewalt. Darüber hinaus setzten sich zahlreiche Quäker offensiv für Frieden ein. Dazu gründete die Society of Friends in vielen Ländern Vereine, die ihre humanitäre Hilfe als „unpolitisch“ verstanden und eine Parteinahme für einzelne kriegführende Staaten vermieden. Jedoch verfolgten der Verband und andere humanitäre Organisationen durchaus eigene Interessen, und sie agierten keineswegs völlig unabhängig von den Zielen der jeweils beteiligten Regierungen, wie schon die Intervention zugunsten der bulgarischen Christen 1877 im Osmanischen Reich gezeigt hatten. Dabei war auch die Fixierung auf das Leitbild einer christlichen abendländischen Zivilisation deutlich geworden.1

1 Gatrell u. a., Discussion, hier die Stellungnahme von Rebecca Gill. Als Rückblick einer Beteiligten: Francesca M. Wilson, In the Margins of Chaos. Recollections of Relief Work in and between Three Wars, London 1944, S. 188, 196. https://doi.org/10.1515/9783110529951-005

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Zugleich wurden die grenzüberschreitenden Einflüsse, Kontakte und Verbindungen dichter und enger. Alle „Internationalisten“ tauschten sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert regelmäßig auf Konferenzen und in diversen Publikationen aus. Diese Vernetzung förderten neue philanthropische Organisationen, so seit 1910 das Carnegie Endowment for International Peace. Auf dieser Grundlage bemühten sie sich nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, die Leiden der Opfer zumindest zu verringern. Letztlich konnten sich die Regierungen diesem Druck nicht einfach entziehen, wie schon die Vorbereitung der beiden Haager Friedenskonferenzen gezeigt hatte, zu denen internationale humanitäre Organisationen erstmals beratend hinzugezogen worden waren. Allerdings wirkten das Prinzip staatlicher Souveränität und – damit verbunden – der Primat der inneren und äußeren Sicherheit nahezu ungebrochen fort.2 Zeitgenossen wie der Heidelberger Historiker Karl Hampe (1869–1936) stellten deshalb bereits im August 1914 fest, dass Menschlichkeit im soeben begonnenen Krieg geradezu verpönt war. Diese Beobachtung verdeckt aber, dass die Opferhilfe in den Jahren von 1914 bis 1918 den humanitären Internationalismus keineswegs vollständig unterbrach. Vielmehr wurden z. T. schon bestehende Netzwerke sogar gestärkt.3

Initiativen der Regierungen zur Fürsorge, bilaterale Abkommen zum Gefangenenaustausch und Repressalien Die Regierungen der einzelnen kriegführenden Länder sorgten sich um ihre Soldaten und Zivilisten, die in gegnerischen Ländern festgehalten wurden. Deshalb etablierten alle kriegführenden Staaten Einrichtungen, denen die Fürsorge zugunsten der Kriegsopfer oblag. So bildete die französische Regierung schon vier Tage nach Kriegsbeginn das Comité de Secours National. Außerdem wurden in vielen Ländern in der Ministerialbürokratie gesonderte Abteilungen etabliert, die für Kriegsgefangene und Zivilinternierte zuständig waren. Dazu richtete beispielsweise die britische Regierung im Außenministerium das Prisoners of War Department ein, das ab 1916 Lord Newton leitete. Eine Schlüsselstellung in der Abteilung nahm der junge Diplomat Robert Vansittart (1881–1957) ein, der während seines Studiums und in den ersten Jahren im Außenministerium unter

2 Glenda Sluga, Internationalism in the Age of Nationalism, Philadelphia 2013, S. 5. Überblick in: von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 50–54; Herren, Organisationen, S. 42–49; Jones, Great War, S. 89; Manz / Panayi, Internment, S. 30. 3 Gatrell u. a., Discussion, hier Stellungnahme von Rebecca Gill; Hirschfeld / Krumeich, Deutschland, S. 64.

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dem einflussreichen Deutschland-Experten Sir Eyre Crowe (1864–1925) eine tiefe Abneigung gegen Deutschland entwickelt hatte.4 Darüber hinaus sammelte das 1915 etablierte Committee on the Treatment by the Enemy of British Prisoners of War unter dem Vorsitz des hochrangigen Richters Robert Younger (1861– 1946) Informationen über Fälle, in denen die „Mittelmächte“ die Haager Landkriegsordnung oder humanitäre Grundsätze im Umgang mit gefangenem Briten verletzt hatten. Die Kommission veröffentliche ihre Befunde in Berichten, um Druck auf die Regierungen der gegnerischen Länder auszuüben. Auch wurden oft Repressalien verlangt – eine Forderung, die das Reziprozitätsprinzip widerspiegelt.5 Das Prisoners of War Department kümmerte sich in Kooperation mit den jeweiligen Schutzmächten, den (nationalen und internationalen) humanitären Hilfsorganisationen und dem Vatikan um die eigenen Staatsbürger, die in gegnerischen Staaten gefangen genommen worden waren. Die Abteilung nahm eine Vielzahl von Anfragen der Betroffenen und ihrer Angehörigen auf, die beispielsweise um Informationen und Ausweisdokumente baten. Dazu mussten sich die Mitarbeiter bei verschiedenen Behörden und Privatpersonen erkundigen. So erreichte Vansittart im September 1917 die Bitte einer in Jerusalem geborenen britischen Staatsbürgerin, die über das niederländische Konsulat einen Ausweis beantragt hatte. Nachdem Nachfragen widersprüchliche Informationen zur Herkunft der Antragstellerin – einer in Leipzig lebenden Frau – erbracht hatten, wurde ihr Gesuch abgelehnt. Vansittart bat für diese Entscheidung Innenminister Cave um Zustimmung.6 Ein reger Austausch entwickelte sich auch mit den zuständigen Einrichtungen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, des Britischen Roten Kreuzes, der Quäker und der Kirchen. Zudem musste das Department alle Initiativen eng mit den Ministern abstimmen. Darüber hinaus schlossen die Regierungen einzelner Staaten, die gegeneinander kämpften, bilateral Abkommen über die Freisetzung von Internierten. Die Zahl dieser Vereinbarungen belief sich im Ersten Weltkrieg auf insgesamt vierzig. So verhandelte Deutschland zwischen 1916 und 1918 in Bern mit Frankreich und mit Großbritannien 1917/18 in Den Haag. Weitere Abkommen schloss Österreich-Ungarn im Juni 1918 mit Serbien und im September mit Italien ab. Nach der Übereinkunft zwischen der deutschen und britischen Regierung vom Juli 1918 konnten gefangene Zivilisten, die unfähig zum Wehrdienst waren, zwi4 Später, Vansittart, S. 53 f.; Lademacher, Illusion, S. 322. 5 Vgl. z. B. Great Britain. Government committee on treatment by the enemy of British prisoners of war, and Robert Younger. Report on the Treatment by the Enemy of British Prisoners of War Behind the Firing Lines In France and Belgium, London 1918. Zusammenfassend: Wylie, Convention, S. 93. 6 NA, FO 383/323 (Schreiben vom 5. August, 6. September und 4. Dezember 1917).

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schen den beiden Staaten ausgetauscht werden. Allerdings lagen die dafür notwendigen Untersuchungen in der Hand deutscher Ärzte, so dass das britische Außenministerium bei Anfragen nur Namen in Sammellisten aufnehmen konnte, ansonsten aber Angehörige darauf hinweisen musste, dass über die Freilassung letztlich in Deutschland entschieden wurde.7 Andere bilaterale Abkommen trafen auf erhebliche Barrieren. So konnte eine Vereinbarung zwischen Österreich-Ungarn und Russland vom September 1917 (mit Vermittlung Dänemarks) nur langsam umgesetzt werden, weil die Regierung Schwedens und das deutsche Reichsmarineamt bestrebt waren, die Zahl der durchgeschleusten Ausländer einzuschränken. Österreich-Ungarn konnte sich mit Frankreich und Großbritannien überhaupt nicht auf einen Gefangenenaustausch einigen. Grundsätzlich abgelehnt wurde darüber hinaus von vielen Regierungen ein Austausch einzelner Internierter, um Vorwürfe von Begünstigung und Korruption im Keim zu ersticken. So wies Lord Newton im Oktober 1917 eine Bitte des mächtigen Vorsitzenden der Transportarbeitergewerkschaft, Ben Tillett (1860–1943), zurück, der sich für die Repatriierung eines Gewerkschaftsaktivisten oder dessen Internierung in den Niederlanden eingesetzt hatte.8 Umgekehrt lehnte das britische Außenministerium Anfragen der deutschen Reichsleitung, einzelne Internierte aus Lagern im Vereinigten Königreich zu entlassen, im Allgemeinen ab. Auch verteidigte es die Entscheidung, vor allem Deutsche und Österreicher, die der Spionage verdächtigt wurden, in weit entfernte Camps – so das Lager im indischen Ahmednagar – zu deportieren. Ebenso trafen Initiativen des IKRK für einen individuellen Austausch auf den Widerstand der britischen Regierung, die bestrebt war, den Eindruck eines „Handels“ zu vermeiden. Außerdem sollten Internierte, deren frühzeitige Rückführung ausgeschlossen war, und ihre Familien nicht enttäuscht werden.9 Die kriegführenden Staaten reagierten aber nicht nur in Form vereinbarter Freilassungen aufeinander, sondern auch mit Repressalien. Umgekehrt verhinderte die Furcht vor Gegenmaßnahmen zumindest gelegentlich Gewalt im Umgang mit gefangenen Zivilisten. So wies das Prisoners of War Department des britischen Außenministeriums in einem Schreiben an die Heeresführung (Army Council) einen Vorschlag des französischen Botschafters, deutsche Gefangene 7 NA, FO 916/1232 (Vermerke vom 1., 5., 6., 14. und 24. September 1915; Briefe vom 18. und 24. September 1915). Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 240. 8 NA, FO 383/323 (Schreiben vom 10. Oktober 1917). Dazu für Großbritannien auch die Dokumente in: NA, FO 383/26 (Telegramme vom 26. März 1915, 24. Juni und 3. Juli 1915; Brief vom 30. Juli 1915). Angabe nach: Wylie, Convention, S. 94. Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 196, 241. 9 NA, FO 383/303 (Schreiben vom 12. und 17. Mai. 6. Juni 15. Juni 1917; Brief des Foreign Office an das Britische Rote Kreuz vom Mai 1917).

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auf die Insel Réunion zu bringen und sie dort zur Arbeit zu zwingen, mit dem Hinweis auf die absehbaren Konsequenzen für Briten in Deutschland zurück. Am 3. Juli 1917 informierte das Foreign Office den französischen Botschafter über den ablehnenden Beschluss der britischen Regierung. Umgekehrt zeigten sich das britische Kriegs- und Außenministerium bereit, internierten enemy aliens unter der Bedingung der Reziprozität Erleichterungen wie den Zugang zu Publikationen der nationalen Rotkreuz-Gesellschaften zu gewähren. Auch im Verhältnis zwischen anderen kriegführenden Staaten versuchten die Schutzmächte, das Gegenseitigkeitsprinzip zu nutzen.10 Insgesamt war humanitäres Engagement aus der Sicht der Regierungen eng an bestimmte politische Ziele und Zwecke gebunden. Diese Strategie übernahmen viele nationale Gesellschaften des Roten Kreuzes. So rechtfertigte das British Red Cross and Order of St. John besonders weitgehende Forderungen wie die Rückführung derselben Anzahl britischer und deutscher Gefangener (Soldaten und Zivilisten) utilitaristisch. Damit wurde ein Bekenntnis zum Nationalismus und Humanitarismus verbunden. So schrieb der Vorsitzende des Britischen Roten Kreuzes, Louis Mallet (1864–1936), der auch dem Kabinettskomitee für Kriegsgefangene angehörte, am 21. Januar 1916 dem Staatssekretär im britischen Außenministerium, Robert Cecil (1864–1958): … the special circumstances of this War [sic] and the situation to which it is hoped Germany may be reduced, owing to the economic pressure of the Allies, differentiate to some extent the present conditions from those prevailing in other wars and render it imperative, on the grounds of humanity, to secure the return of as many British prisoners as possible to this country before the conclusion of the War. 11

Noch pragmatischer begründete Cecil eine Kriegführung, die humanistischen Grundsätzen folgte, indem er auf die positiven Auswirkungen auf die Kampfmoral der britischen Soldaten und die öffentliche Meinung in den neutralen Staaten hinwies. Dabei betonte er, dass die deutsche Reichsleitung diesen Zusammenhang nicht verstanden habe und deshalb im Propagandakrieg in die Defensive geraten sei. Zuvor hatte sich sogar Admiral Charles Beresford für ein Abkommen über den Austausch von Gefangenen ausgesprochen, das die britische Regierung seit Anfang 1916 mit Deutschland anstrebte.12 Regierungen gründeten zudem Hilfsverbände zur Unterstützung eigener Staatsbürger, die in gegnerischen Staaten gefangen waren. So wurde in Großbritannien unter der Schirmherrschaft des Prinzen von Wales (1894–1972) der 10 Schreiben vom 20. Juni, 3. Juli, 14. Juli und 4. August 1917 in: NA, FO 383/305. 11 NA 383/172 (Schreiben vom 21. Januar 1916). 12 NA, FO 383/172 (Memorandum vom 14. Februar 1916 und Brief vom 1. Februar 1916).

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British Emergency Relief Fund gebildet. Er sollte vor allem für britische Kriegsgefangene und Zivilinternierte sorgen, die in Deutschland und anderen „Mittelmächten“ festgehalten wurden.13 Darüber hinaus unterstützten regionale halboffizielle Hilfsverbände Briten, die in gegnerischen Ländern ihre Arbeit verloren hatten – so im Osmanischen Reich – und um ihr Überleben fürchten mussten.14 In jedem Fall musste die Fürsorge für den Gegner in den beiden Weltkriegen überzeugend utilitaristisch gerechtfertigt werden, denn es galt jeweils, die Nation zu verteidigen und für die eigenen Opfer zu sorgen. Karitative Verbände wurden in den kriegführenden Staaten deshalb umfassend in die Mobilisierung einbezogen. Aktivisten und Vereinigungen, die demgegenüber universellere Konzepte der Unterstützung von Opfern wie der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten vertraten, trafen nicht nur auf die Ablehnung der einzelnen Regierungen, die auf ihrer souveränen Kontrolle bestanden. Vielmehr mussten sie auch Vorbehalte der nationalen Hilfsverbände überwinden. Angesichts dieser Widerstände legitimierten die internationalen humanitären Organisationen ihr Engagement zwar durchaus moralisch und religiös. Dazu verwiesen sie besonders auf christliche Konzepte der Menschenwürde. Darüber hinaus bemühten sie sich aber, einen humanitären Umgang mit Feindstaatenangehörigen als nationale Mission zu definieren, um damit die öffentliche Meinung in ihren Ländern und den neutralen Staaten zu gewinnen. Nicht zuletzt sollte der Hinweis auf mögliche Rückwirkungen – in Form von Repressalien oder Erleichterungen – die Aktivitäten der grenzüberschreitend arbeitenden humanitären Aktivisten rechtfertigen. So versuchten sie, den völkerrechtlichen Schutz der Kriegsgefangenen auf die internierten Zivilisten auszudehnen.15

Die Rolle der neutralen Schutzmächte und des Vatikans: Initiativen und Zusammenarbeit mit humanitären Hilfsorganisationen und den kriegführenden Staaten Zwar unterstanden zivile Feindstaatenangehörige in beiden Weltkriegen grundsätzlich dem staatlichen Rechtsschutz. Wie dargestellt, wurden ihnen aber grundlegende Freiheitsrechte oft ungerechtfertigt entzogen. Überdies waren Internierte für ihren Lebensunterhalt auf eigene Mittel, vor allem aber Spenden und Lieferungen angewiesen, während gefangene Offiziere von der jeweiligen Gewahrsamsmacht weiterhin ihr reguläres Gehalt erhielten. So halfen Schutz13 Denness, Gender, S. 80. Zum British Emergency Relief Fund: Stibbe, Community, S. 91. 14 NA, FO 383/88 (Brief vom 21. Januar 1915). 15 Horne, Introduction, S. 7.

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mächte, auf die sich kriegführende Staaten jeweils bilateral geeinigt hatten, und humanitäre Organisationen wie das IKRK festgesetzten Zivilisten. Auch die Quäker und die Young Men’s Christian Association linderten die Not der internierten Feindstaatenangehörigen. Dabei reichte das Spektrum der Aktivitäten von der Kontrolle der Lebensbedingungen in den Internierungslagern über die Versorgung (vor allem mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Medikamenten) bis zur Regelung des Postverkehrs.16 Berichte von Zivilisten, die ab August 1914 aus Belgien und Nordfrankreich flohen, zeigten schon früh, dass humanitäre Unterstützung für die Opfer unabdingbar war. Großbritannien, Frankreich und Russland entsandten Ärzte nach Belgien, dessen Staatsbürger auch Hilfe aus den USA, Kanada, Guatemala, Australien und Südafrika erhielten. Im Kriegsverlauf linderten diese Staaten ebenso die Not in anderen Ländern wie Serbien, das von österreichischen und deutschen Truppen verwüstet worden war. Zudem setzten sich Schutzmächte für grundlegende Rechte ziviler Feindstaatenangehöriger ein. Diplomaten neutraler Länder inspizierten regelmäßig Kriegsgefangenen- und Internierungslager. Die Berichte wurden den Regierungen der Staaten, deren Angehörige jeweils betroffen waren, über die Botschaften zugeleitet und später veröffentlicht. Damit konnten sie Transparenz herstellen und wiederholt Repressalien verhindern.17 Dabei arbeiteten die Inspektoren der neutralen Mächte vor allem mit dem IKRK zusammen. Beispielsweise vermittelte in Österreich-Ungarn der Botschafter der amerikanischen Schutzmacht bis April 1917 und anschließend die diplomatische Vertretung Spaniens zwischen der Wiener und Londoner Regierung, u. a. hinsichtlich verschiedener Anträge und Beschwerden internierter Österreicher und Ungarn. Auch Hilfslieferungen und -zahlungen mussten abgewickelt werden. Darüber hinaus war das Vorgehen bei den Lagerbesuchen abzustimmen und die Publikation der Inspektionsberichte zu klären. Schließlich wurden mit Vermittlung der USA bilaterale Vereinbarungen zur konkreten Verbesserung der Situation in den Lagern und zur Freilassung einzelner Internierter geschlossen. Im Jahr 1916 ermöglichte ein solches Abkommen den Austausch von Zivilisten zwischen Großbritannien und Deutschland. Die Verhandlungen konn-

16 Rachamimov, Camp Domesticity, S. 296 f.; Little, State. 17 Vgl. United States, Embassy and Boylston A. Beal, Reports of Visits of Inspections made by Officials of the United States Embassy to Various Internment Camps in the United Kingdom, London 1916. Beispiele für einzelne Vorgänge in: LSF, TEMP MSS 6/3/5. Vgl. auch Branden Little, Humanitarian Relief in Europe and the Analogue of War, 1914–1918, in: Jennifer Keene (Hg.), Finding Common Ground. New Directions in First World War Studies, Leiden 2011, S. 139–158, hier: S. 140; ders., State; Gatrell, Refugees, S. 89.

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ten schließlich Anfang 1917 trotz erheblicher Schwierigkeiten – die Altersgrenze der einzubeziehenden Personen war bis zuletzt umstritten geblieben – abgeschlossen werden. Die Übereinkunft sah die beiderseitige Repatriierung aller Gefangenen unter 17 und über 51 Jahren vor. Außerdem sollten Kranke, Versehrte und über 45-Jährige, die nicht wehrdienstfähig waren, in ihre Heimat zurückgeführt werden. Eine ähnliche Übereinkunft zwischen der deutschen Reichsleitung und der französischen Regierung gelang nach schwierigen Verhandlungen erst im Juli 1918.18 Da die Abkommen zum bilateralen Austausch von Zivilisten wehrfähige Männer nicht erfassten, wurden diese nur in wenigen Fällen in ihre Heimat entlassen.19 Sogar die Repatriierung kranker und zum Wehrdienst unfähiger Zivilisten war im Einzelnen oft umstritten.20 Besonders die ärztlichen Untersuchungen, welche die Regierungen für diese Personengruppe anordneten, wurden zum Zankapfel für die kriegführenden Mächte. Auch Zivilisten, die dem Roten Kreuz angehörten, mussten z. T. in den Lagern verbleiben.21 Wenngleich die Beobachter oft getäuscht wurden, sorgten besonders die Inspektionen der neutralen Mächte für Transparenz und Öffentlichkeit, die auf die Politik der kriegführenden Staaten einwirkten. So prüften amerikanische Diplomaten 1915/16 kontinuierlich Berichte über eine schlechte Behandlung britischer Internierter in Deutschland, besonders in den Lagern in Hameln, Güstrow und in der Senne (bei Paderborn). Die Regierung des Vereinigten Königreiches hatte sich über die Vernachlässigung von Insassen des Camps beschwert, wo Wachmänner nach Berichten einzelner Repatriierter sogar gezielt Hunde auf Gefangene gehetzt hatten. Das Außenministerium bat US-Botschafter Hines um genaue Überprüfungen in Deutschland. Ebenso bemühte sich das Britische Rote Kreuz, das zusammen mit dem Johanniterorden (Order of St. John) zusammengeschlossen und ein Central Prisoners of War Committee gebildet hatte, u. a. um die beschleunigte Rückführung von Frauen, Kindern und Männern im Alter von unter 17 und über 55 Jahren. Als Repräsentant der Organisation sprach Arthur

18 NA, FO 383/5 (Schreiben vom 13. April 1915); FO 383/172 (Vermerk vom 6. und 21. Januar, 10. Februar sowie vom 16. März 1916; Schreiben vom 21. März, 20. Juli und 20. November 1916); FO 383/249 (Schreiben vom 5. und März 1917 sowie vom 27. August 1917); FO 383/366 (Schreiben vom 31. Mai, 1. Juni, 23. Juli und 6. September 1918). Vgl. auch Barton, Internment, S. 7; Nachtigal, Anzahl, S. 372. 19 NA, FO 383/26 (Briefe vom 30. Juli und 9. August 1915). 20 NA, FO 383/28 (Schreiben vom 29. Oktober 1915). Vgl. auch diverse Petitionen in: NA, FO 383/26 und FO 383/28 (Schreiben vom 20. Januar 1915). 21 NA, FO 383/27 (Vermerke vom 1., 5., 6., 13. und 24. September 1915; Briefe vom 8., 15., 18. September sowie vom 30. November 1915).

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Lawley (1860–1932) in der Schweiz mit dem Ehrenpräsidenten des Badischen Roten Kreuzes und des Weltbundes der CVJM, Max von Baden (1867–1929), über dieses Problem.22 Die amerikanischen Inspektoren griffen im Mai 1915 auch Nachrichten über Repressalien auf, die in drei Camps gegen französische Insassen verhängt worden waren, da Frankreich den Postverkehr mit deutschen Gefangenen in Nordafrika unterbrochen hatte. Jedoch behinderte die deutsche Reichsleitung wiederholt den Zugang zu Lagern. Die Einschränkungen konnten erst nach mühsamen Verhandlungen beseitigt werden. Umgekehrt weigerte sich die USRegierung im April 1917, die Schweiz als Schutzmacht der Angehörigen und Interessen des Deutschen Reiches in den Vereinigten Staaten anzuerkennen. Es bedurfte einer Intervention Wilsons, um den Widerstand zu überwinden und damit Lagerinspektionen durch eidgenössische Delegierte zu ermöglichen.23 Die USA waren als Schutzmacht in vielen kriegführenden Staaten geschätzt, vor allem wegen ihrer Durchsetzungsfähigkeit. In Großbritannien kam die kulturelle Nähe hinzu. Hier wandten sich Politiker und Beamte im Außenund Kriegsministerium deshalb 1916 entschieden gegen einen Vorschlag des IKRK, eine Inspektion von Lagern durch Vertreter neutraler Staaten einzurichten. Dieser Schritt wurde als Misstrauensvotum gegenüber den USA abgelehnt.24 Jedoch traf die Veröffentlichung von Inspektionsberichten, die eine schlechte Behandlung ziviler Feindstaatenangehörigen dokumentierten, im amerikanischen Außenministerium auch auf grundsätzliche Vorbehalte, denn das State Department befürchtete, damit in den kriegführenden Staaten ungewollt der Forderung radikaler Nationalisten und Militaristen nach Vergeltung Auftrieb zu verleihen.25 Nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten agierten die Niederlande als Schutzmacht, deren diplomatische Vertretung in Berlin beispielweise 1918 von der britischen Regierung gebeten wurde, für einen reibungslosen Postverkehr zwischen den Insassen des „Engländerlagers“ Ruhleben und für die Heimführung älterer Internierter zu sorgen. Holländische Diplomaten übermittelten auch Anträge einzelner britischer Internierter (so zur Einbürgerung). Die Repatriierung über die Niederlande wurde detailliert geregelt. Vorschriften bezogen

22 NA, FO 383/154 („Memorandum on Hameln Camp“; Notizen vom 9. und 13. Mai 1915 sowie vom 23. April 1916; Schreiben vom 12. Mai 1916). 23 Vgl. Vance, Protecting Power, S. 228. 24 NA, FO 383/157, Bl. 13, 169. 25 NA, FO 383/157 (Vermerk vom 25. Juli und 23. August 1916).

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sich vor allem auf die Routen, die Dauer der Reisen und die Kosten, die in der Regel von den Regierungen der Betroffenen übernommen wurden.26 Darüber hinaus waren die Niederlande vor allem ab 1917 eine Drehscheibe des Gefangenenaustausches. Die Kosten für den Transport der britischen Staatsbürger übernahm die Regierung des Vereinigten Königreiches, der die Betroffenen aber versichern mussten, die Auslagen später zu erstatten. Den Zivilisten, die in den Niederlanden interniert worden waren, halfen außer der britischen Heilsarmee besonders die Quäker und das IKRK. Das Britische Rote Kreuz und die YMCA sorgten u. a. für die Weiterbildung der Gefangenen. Um die britischen Kriegsopfer kümmerten sich das Prisoners of War Department im Außenministerium und die Admiralität, die Versorgungstransporte übernahm, Angehörige aber von Reisen zu Internierten abzuhalten suchten. Vor allem Frauen sollten nicht in die Niederlande gelassen werden, um Neid und Konflikte zwischen den gefangenen Zivilisten zu vermeiden. Die Regierung drängte humanitäre Einrichtungen wie das Central Prisoners of War Committee, ihre Politik gegenüber den Internierten zu unterstützen, auch hinsichtlich der Versendung von Mitteilungen und Päckchen in holländische Lager.27 Die Schweiz, die bereits im Krieg Preußens gegen Frankreich 1870/71 die Interessen des Königreiches Bayern und des Großherzogtums Baden wahrgenommen hatte, wurde vor allem nach dem Kriegseintritt der USA und vieler südamerikanischer Staaten 1917 eine wichtige Schutzmacht. So richteten Großbritannien und Deutschland wechselseitig Beschwerden über die Behandlung ihrer Zivilinternierten über die Gesandtschaften der Eidgenossenschaft. Dabei wurden u. a. Klagen über Gewalt, schlechte Ernährung, unzureichende Unterkünfte, unangemessene Strafen, Unterbrechungen im Postverkehr sowie Einschränkungen im Zugang zu den Schutzmächten und den humanitären Organisationen aufgenommen und der Gegenseite übermittelt. Nach Beschwerden inspizierten Diplomaten der Schweiz beispielsweise in den USA Lager wie Fort Oglethorpe und Fort Douglas, in denen vor allem deutsche enemy aliens gefangen gehalten wurden. Für österreichische und ungarische Internierte in dem nordamerikanischen Land war das schwedische Konsulat zuständig.28

26 NA, FO 383/427 (Denkschrift vom 20. März 1918, Schreiben vom 2. August und 15, September 1918; Listen vom 8. Mai 1918); FO 383/249 (Anlage zum Rundschreiben vom 1. Dezember 1916). 27 NA, FO 383/326 (Telegramm vom 29. September 1917; Schreiben vom 18. Oktober, 27. Oktober 1917, 12. November 1917 sowie vom 6. Dezember, 18. Dezember und 21. Dezember 1917; Formblatt „Communication with Prisoners of War Interned Abroad“). 28 Nagler, Control, S. 185. Vgl. auch die Schreiben vom 18. Juli 1917 und die Verbalnote vom 13. September 1917 in NA, FO 383/277; auch Briefe vom 15. Januar, 29. Januar und 30 September 1918 in: NA, FO 383/424, und Notiz vom 6. Februar 1916 in: NA, FO 383/152.

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Diplomaten der jeweiligen Schutzmächte – in der Regel die jeweiligen Botschafter – vermittelten auch Anfragen zur Zusammenführung von Familienangehörigen in einzelne Lager und zur Repatriierung von Zivilinternierten, vor allem von Frauen, Kindern und nicht wehrfähigen Männern.29 So wandte sich im August 1917 eine Gruppe von fünfzig Deutschen, die in Nigeria gefangen genommen und in das Lager Lofthouse Park gebracht worden waren, mit der Bitte an den Geschäftsträger der Eidgenossenschaft, in einen neutralen Staat überführt und dort interniert zu werden.30 Zudem setzten sich Schweizer Diplomaten wiederholt für die Repatriierung kranker Internierter ein. Dabei arbeiteten sie oft eng mit dem IKRK und den nationalen Rotkreuzgesellschaften zusammen, so dem British Red Cross und Order of St. John, das sich beispielsweise im Dezember 1915 für die Freilassung des deutschen Dichters Max Dauthendey (1867– 1918) einsetzte. Er war mit dem britischen Schriftsteller George Bernard Shaw befreundet, auf Java interniert und dort erkrankt. Das Foreign Office lehnte das Gesuch aber ebenso wie in ähnlichen Fällen ab, da die Beamten – z. T. nach medizinischen Untersuchungen – befürchteten, dass Freigelassene in Deutschland zum Wehrdienst einberufen werden könnten. Auch bei zivilen Feindstaatenangehörigen, die als radikale deutsche Nationalisten galten und deshalb nach Defence Regulation 14B festgesetzt worden waren, drängte die deutsche Regierung über das IKRK die britischen Behörden vergeblich, die Internierung aufzuheben.31 Oft waren von den humanitären Organisationen und Schutzmächten aber auch einfach nur Informationen über den Aufenthaltsort, zum Tod von Gefangenen und über Geldzahlungen an Angehörige zu übermitteln.32 Dazu wurden zwischen den kriegführenden Staaten mit Hilfe des Roten Kreuzes Namenlisten ausgetauscht.33 Diese Dienstleistungen übernahm nach dem Kriegseintritt der USA Spanien für viele kriegführende Staaten, so ab Sommer 1917 für Österreich-Ungarn und Großbritannien. Darüber hinaus schützte die Regierung des Landes beispielsweise die Interessen Frankreichs, Belgiens, Russlands und Italiens in Deutsch29 Beispiele in: NA, FO 383/424 (Schreiben vom 19. Januar 1918); FO 383/45 (Bericht vom 13. November 1915 mit Noten vom 15. und 24. November 1915). 30 Vgl. die Korrespondenz des britischen Außenministeriums mit dem Geschäftsträger, die Notiz und den Brief vom 5. Juli 1917 und den Vermerk vom 3. August 1917 in: NA, FO 383/305. 31 NA, FO 383/76 (Schreiben vom 25. November, 17. und 20. Dezember 1915; Verbalnote vom 5. September 1915); FO 383/307 (Schreiben vom 9. Mai und 4. Oktober 1917); FO 383/143 (Schreiben vom 30. und 31. Dezember 1915 sowie vom 14., 18. und 23. Februar 1916; Verbalnote vom 9. März 1916; Brief vom 30. März 1916; Tabelle „Freilassungsanträge“ vom 8. März 1916). 32 Beispiele in: NA, FO 383/76 (Verbalnoten vom 27. August 1915, 10. September und 13. Oktober 1915); FO 383/292 (Vermerke vom 11. Februar, 1. Mai und 25. Mai 1917); FO383/307 (Schreiben vom 23. Mai, 6. Juli 1917). 33 NA, FO 383/26 (Briefe vom 9., 10. und 26 März 1915).

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land. Ebenso vertrat Spanien Frankreich, Russland, Italien, Portugal und Rumänien im besetzten Belgien. Spanische Gesandte inspizierten im Auftrag ihres Königs Alfons XIII. und des IKRK auch in anderen Ländern Lager, und sie versorgten Gefangene mit verschiedenen Hilfsgütern, zum Beispiel Büchern. Die Regierung des Vereinigten Königreiches erkundigte sich über den spanischen Botschafter in Wien wiederholt nach einigen Briten, die in Lagern wie Katzenau interniert und gesundheitlich angeschlagen waren. Umgekehrt versuchte Spanien, die Freilassung erkrankter Österreicher in Großbritannien zu erwirken. Zudem vermittelte die Schutzmacht ein Abkommen zwischen den beiden Ländern, die sich 1918 auf eine beiderseitige Rückführung internierter Zivilisten einigten. Dazu war aber die Zustimmung der französischen Regierung zum Transport über das Territorium des Landes notwendig.34 Aber auch der Vatikan – an der Spitze Papst Benedikt XV. – bemühte sich, Kriegsgefangene und Zivilinternierte zu schützen. Allerdings erfolgte der Transport dieser Gruppen nicht über den Stadtstaat, der deshalb mit neutralen Ländern – besonders der Schweiz – zusammenarbeiten musste. Die Internierung von Gefangenen, die dauerhaft untauglich zum Wehrdienst waren, vollzog sich in der Eidgenossenschaft ab Frühjahr 1915 jedoch auf Initiative des Oberhauptes der Katholischen Kirche. Überdies drängte Benedikt XV. in einer Note an die kriegführenden Staaten im Sommer 1916 darauf, künftig grundsätzlich auf Repressalien gegen Gefangene zu verzichten. Der Papst setzte sich darüber hinaus bei der deutschen Reichsleitung für inhaftierte französische und belgische Widerstandskämpfer ein. Allerdings verdächtigten ihn die Staaten der Entente, für die „Mittelmächte“ Partei zu ergreifen, während ihn diese als Sympathisant Frankreichs und Großbritanniens beargwöhnten. Auch versuchte Benedikt XV., humanitäre Initiativen für sich zu vereinnahmen, deren Urheberschaft das IKRK beanspruchte. Damit geriet der Vatikan in Konflikt mit der Regierung der Schweiz, die das Rote Kreuz nachdrücklich unterstützte und selber versuchte, dieses eng an sich zu binden.35 In der Regel begrüßten die Regierungen der kriegführenden Staaten Interventionen der Schutzmächte zugunsten der eigenen Staatsbürger. Auch Unterstützung beim Transport von Versorgungspaketen und bei der Repatriierung 34 NA, FO 383/249 (Vermerke vom 30. Januar, 14. Februar und 22. August 1917; Brief vom 28. März 1917), FO 383/366 (Brief vom 18. Oktober 1918; Memorandum vom 11. April 1918; Briefe vom 20. Juni, 23. Juli, 6. August und 6. September 1918). Vgl. auch Leopold Kern, König Alphons XIII. von Spanien für die Kriegsgefangenen, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 313 f. 35 Cotter / Herrmann, Hilfe, S. 244; Leidinger / Moritz, Der Erste Weltkrieg, S. 54; Stibbe, Civilian Internment, S. 204. Vgl. auch Ernst Streeruwitz, Die Kriegsgefangenenfürsorge des Heiligen Stuhles, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, S. 275–277.

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von Internierten war willkommen. Allerdings blieben die gewährten Vergünstigungen nicht unumstritten. Vor allem um die Plätze auf den Listen für vereinbarte Austauschaktionen entbrannte nicht selten ein regelrechter Kampf, in dem Angehörige ihre Regierungen drängten, die Not internierter Verwandter zu berücksichtigen.36 Gelegentlich diente eine angebliche Internierung Bürgern sogar als Vorwand, um sich Vorteile – so die Befreiung vom Wehrdienst – zu erschleichen.37 Überdies wiesen die Regierungen der kriegführenden Mächte Anträge auf Entlassung, die ihnen Schutzmächte von den Kriegsgegnern übermittelten, vielfach ab. So sollten Internierte, die vom britischen Außen-, Kriegs- oder Kolonialministerium als Sicherheitsgefahr betrachtet wurden, in den Lagern verbleiben. Auch gefangene Zivilisten, die noch Wehrdienst leisten oder den Kriegsgegnern anderweitig nutzen konnten, wurden weiterhin festgehalten. Ebenso wenig konnten sich die Behörden durchweg zur Freilassung von enemy aliens entschließen, die offenkundig nicht wehrfähig waren. Oft wurden sogar Internierte, deren Kinder in der britischen Armee dienten, in den Camps belassen.38 Die kriegführenden Mächte bemühten sich in den Kontakten zu den Schutzmächten, ihrer repressiven Politik gegenüber Feindstaatenangehörigen einen humanitären Anstrich zu verleihen. Dadurch trugen sie zur Kriegspropaganda bei, die neutrale Staaten für sich zu gewinnen suchte. Gelegentlich traten sie aber auch Falschmeldungen entgegen, die ihrerseits oft propagandistisch motiviert waren. So bat das britische Außenministerium das IKRK im Februar 1915 dringend, die Behauptung, dass im Vereinigten Königreich Frauen und Kinder zumindest vorübergehend interniert worden seien, entschieden zurückzuweisen. Damit sollte das Internationale Komitee einen Bericht ihrer eigenen Inspektoren dementieren.39 Auch unterschieden viele Regierungen hinsichtlich des erlaubten humanitären Engagements zwischen unterschiedlichen Gruppen von Feindstaatenangehörigen. Während die deutschen Behörden karitative Hilfe besonders für Westeuropäer förderte, behandelten die Entente-Mächte vor allem Angehörige des Osmanischen Reiches deutlich nachsichtiger als Deutsche. So stellte der in Singapur amtierende Gouverneur der Straits Settlements (britische Kolonien an der Straße von Malakka) im Dezember 1914 fest: „Although the Christian, Jewish and Arabian inhabitants of the Ottoman Empire are technically our enemies at the present time, it is notorious that they have no sympathy with the Turks or

36 NA, FO 383/323 (Briefe vom 3. September und 18. Oktober 1917). 37 Beispiel in: NA, FO 383 (Schreiben vom 21. September 1917). 38 Einzelne Fälle u. a. dokumentiert in: NA, FO 383/143 (Vermerke vom 31. Dezember 1915, 20. und 31. Januar, 4. und 9. Februar sowie 4. und 6. April 1916). 39 NA, FO 383/106 (Telegramm vom 27. Februar 1915).

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with the war. Their position is not quite analogous to that of German subjects; and I see no serious objection to charitable assistance being given in exceptional cases through neutral Consuls.“40 Außer zivilisatorisch-rassistischen Kriterien begründeten vor allem Sicherheitswahrnehmungen und – damit verbunden – die Angst vor dem „inneren Feind“ die Differenzen im Umgang mit Feindstaatenangehörigen.

Proteste pazifistischer und humanitärer Organisationen gegen die Internierung und Hilfe für gefangene Zivilisten in Lagern Für die internierten Zivilisten setzten sich in allen Staaten regionale, nationale und internationale humanitäre Organisationen ein, die miteinander kooperierten, aber auch konkurrierten. Zudem waren die Strategie und das Vorgehen intern oft umstritten. So befürwortete die Society of Friends im Ersten Weltkrieg keineswegs einheitlich einen radikalen Pazifismus. Vielmehr leistete ein Viertel bis ein Drittel der britischen Mitglieder Wehrdienst. Auch diente der Präsident der Peace Society, der prominente Quäker Jack Pease (1860–1943), dem Kriegskabinett als Präsident des Erziehungsministeriums (Board of Education). Zugleich kooperierte er mit anderen humanitären Verbänden wie dem IKRK und dem 1908 in London gegründeten National Peace Council ebenso wie mit Friedensbüros in Stuttgart und Bern. Im Allgemeinen vertraten Pazifisten drei Ziele, die nur teilweise vereinbar waren: den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden zu beenden, Wehrdienstverweigerer zu unterstützen und eine bessere Nachkriegsordnung auf der Grundlage einer transparenten Außenpolitik vorzubereiten. Dennoch verbanden ihre Gruppen die Ablehnung des Krieges und das humanitäre Engagement für Opfer. So konnte sich das am 7. August 1914 von pazifistischen Quäkern gebildete Friends Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians, Hungarians and Turks in Distress (FEC) Ende 1915 auf eine Arbeitsteilung und Zusammenarbeit mit verschiedenen Organisationen einigen, auch in den anderen kriegführenden Staaten Europas. In Deutschland, wo die Generalkommandos dem Emergency Committee weitgehend ungehindert Zugang zu den Lagern erlaubten, arbeitete es außer mit größeren humanitären Vereinigungen u. a. mit einem Professor zusammen, der in einem Camp nahe Göttingen ein Büro unterhielt, um die Aktivitäten der Insassen zu fördern. Dabei standen Bildung und berufliche Qualifikation im Mittelpunkt.41 40 NA, FO 383/106 (Brief vom 3. Dezember 1914). 41 Braithwaite Thomas u. a. (Hg.), St. Stephen’s House, S. 22–24, 27, 55, 78, 149–151. Vgl. auch Searle, A New England?, S. 289, 764 f.; Panayi, Enemy, S. 272 f.; Proctor, Civilians, S. 182 f.;

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Kleinere Organisationen, die enemy aliens und ihren Angehörigen halfen, waren das Special War Distress Committee in Manchester und die International Co-operative Alliance, ein 1844 in Rochdale gebildeter Genossenschaftsverband. Seine Gründer hatten zunächst vor allem das Ziel verfolgt, Arbeiter mit bezahlbaren Bedarfsgütern zu versorgen. Auch einzelne Personen gründeten humanitäre Organisationen, die sich für internierte Zivilisten engagierten. So versorgte die Prisoners of War Relief Agency, die der 1889 in Großbritannien eingebürgerte deutsche Chemiker Karl Emil Markel (1860–1932) gegründet hatte, mit Zustimmung des Kriegsministeriums die Lager mit Bekleidungsartikeln, Büchern und Werkzeugen. Krankenabteilungen der Lager und Hospitäler für Kriegsgefangene und Zivilinternierte erhielten Medikamente und Prothesen. Diese Hilfsmittel und Waren erwarb die Agency vor allem mit Hilfe von Spenden. Der Board of Deputies of British Jews unterstützte britische Juden, die inhaftiert worden waren.42 Obwohl die Lebensbedingungen in den Camps der Zivilinternierten oft besser waren als in den Kriegsgefangenenlagern, widersprachen sie im Ersten Weltkrieg in nahezu allen kriegführenden Staaten grundlegenden humanitären Anforderungen. Zwar unterschied sich die Sterblichkeit von Land zu Land – so kamen von August 1914 bis Mai 1918 „nur“ rund 3,2 Prozent der im Kaiserreich festgehaltenen Feindstaatenausländer ums Leben –, aber das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, Organisationen wie der „Bund Neues Vaterland“ und auch einzelne Pazifisten wie Ludwig Quidde protestierten wiederholt gegen die unmenschliche Behandlung von Inhaftierten und bemühten sich um humanitäre Verbesserungen. Allerdings standen schon vor 1914 nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Staaten radikalen Pazifisten auch gemäßigtere Vertreter gegenüber, von denen einige nach dem deutschen Angriff auf Belgien und Frankreich sogar zu Kriegsbefürwortern wurden.43 Im Gegensatz zu den Pazifisten wandten sich die meisten humanitären Organisationen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht grundsätzlich gegen den Krieg. Vielmehr bemühten sie sich, bewaffnete Auseinandersetzungen zu regulieren, um die Folgen für die betroffenen Menschen zu mildern. Wie dargelegt, hatte das Völkerrecht dazu bereits im 19. Jahrhundert einzelne Regeln festgelegt, die in der Haager Landkriegsordnung systematisiert und erweitert Barnett, Empire, S. 81. Allgemein: Sebastian Conrad / Dominic Sachsenmaier (Hg.), Competing Visions of World Order: Global Moments and Movements, 1880–1930, New York 2007; Geyer / Paulmann (Hg.), Mechanics. 42 Panayi, Enemy, S. 272–275; Manz, „Enemy Aliens“, S. 127, Braithwaite Thomas, u. a. (Hg.), St. Stephen’s House, S. 57 f. Beispiel für Prothesen in: NA, FO 383/277 (Schreiben vom 30. Juli 1917). 43 Betts, Universalism, S. 52, 70; Weinke, Gewalt, S. 37.

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wurden. So schrieb die Konvention von 1907 allen kriegführenden Staaten vor, zu Beginn von bewaffneten Auseinandersetzungen Informationsbüros einzurichten, die Nachrichten über Gefangene sammeln und in ihre Heimatstaaten vermitteln sollten (Artikel 14). Außerdem musste Delegierten humanitärer Organisationen das Recht eingeräumt werden, Lager zu inspizieren und Hilfsleistungen für Gefangene zu koordinieren (Artikel 15). Allerdings konnten Regierungen von Staaten, die gegeneinander Krieg führten, die humanitäre Unterstützung mit dem Hinweis auf „militärische Notwendigkeiten“ (besonders Sicherheit) oder Verwaltungsvorschriften einschränken. Außerdem wurden erst mit dem Stockholmer Protokoll, das die in Ost- und Südosteuropa kriegführenden Mächte am 1. Dezember 1915 unterzeichneten, auch für die östliche Front die Bestimmungen zum Umgang mit Gefangenen präzisiert (z. B. zu deren Postverkehr). Die Regierungen Schwedens, Dänemarks und der Vereinigten Staaten vermittelten auch Sondervereinbarungen über die Aktivitäten einzelner humanitärer Organisationen auf dem östlichen Kriegsschauplatz, so zu den Hilfslieferungen der amerikanischen YMCA, zur Verteilung von Kleidungsstücken durch Elsa von Hannekens „Hilfsaktion für Kriegs- und Zivilgefangene“ in sibirischen Lagern und über Inspektionen von Schwestern des Roten Kreuzes in den Camps.44 Allerdings lehnte die britische Regierung weitergehende Regelungen ab, da sie dem Schutz der amerikanischen Schutzmacht stärker vertraute als der begrenzten Macht des IKRK.45

Das Rote Kreuz: institutionelle Grundlagen, Informationsvermittlung, Inspektionen und Hilfsleistungen Dennoch nahm das Rote Kreuz die führende Rolle bei den humanitären Aktionen im Ersten Weltkrieg ein. Besonders das Internationale Komitee der Organisation wurde zu einer moralischen Autorität, deren Beschlüsse und Appelle die einzelnen Regierungen immer weniger einfach ignorieren konnten. Obgleich die Mitglieder des 1863 gegründeten Komitees bis 1923 ausschließlich in Genf rekrutiert wurden, vertrat es den universalen Anspruch, für verwunderte Soldaten zu sorgen. Auch sollten Zivilisten und medizinisches Personal in Kriegszonen als Neutrale anerkannt und geschützt werden. Diese Ziele hatte 1864 die erste Haager Konvention bekräftigt, die damit die humanitäre Arbeit des IKRK legitimierte und unterstützte. In diesem Rahmen förderte das Internationale Ko44 Rachamimov, POWs, S. 74–78; ders., „Female Generals“, S. 29 f. 45 NA, FO 383/151 (Vermerke vom 7. und 8. Januar 1916; Schreiben vom 6. und 31. Januar 1916).

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mitee auch den Austausch unter Experten, um eine humane Behandlung von Kriegsgefangenen und internierten Zivilisten zu erreichen. Die Organisation war von Beginn an inhaltlich und personell eng mit der Schweizer Bundesregierung verflochten, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch die Erweiterung des humanitären Völkerrechts vorantrieb. So wurde der Präsident des IKRK, Gustave Ador, am 26. Juni 1917 in Personalunion zum Außenminister der Schweiz ernannt, nachdem sich sein Vorgänger Arthur Hoffmann (1857–1927) durch sein Engagement für einen Separatfrieden zwischen Deutschland und Russland kompromittiert hatte. Mit dem Roten Kreuz agierte zwar eine internationale Nichtregierungsorganisation, die letztlich nicht einer Übereinkunft staatlicher Akteure, sondern den Bemühungen gesellschaftlicher Aktivisten zu verdanken war. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb das IKRK aber noch eine kleine Vereinigung, deren Aktivitäten sich auf Genf konzentrierten.46 Anders als die Friedensbewegung strebte das Rote Kreuz nicht eine Ächtung des Krieges an, sondern es wollte vor allem die Leiden der Opfer lindern. Dazu rief das Komitee zu Kriegsbeginn alle beteiligten Staaten auf, die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1906 einzuhalten. Im Einzelnen zielte dieser Appell auf eine Anerkennung von Verwundeten, die auf den Schlachtfeldern von freiwilligen Helfern zu versorgen waren. Darüber hinaus sollte die Kriegsgewalt gebändigt werden. Zu diesen Zwecken arbeitete das Rote Kreuz mit den Regierungen und Militärführungen der einzelnen Staaten zusammen, deren Souveränität es jedoch respektierte. Dadurch war das IKRK auf die gleichberechtigte Mitarbeit der nationalen Sektionen angewiesen, die um 1880 in vielen Ländern eng an die jeweiligen Regierungen angebunden worden waren. Unter diesem staatlichen Einfluss hatte sich eine Militarisierung der Rotkreuzgesell46 Herrmann / Palmieri, International Committee of the Red Cross; Herrmann, Ador. Hierzu und zum Folgenden auch: Martha Finnemore, Rules of War and Wars of Rules: The International Red Cross and the Restraint of State Violence, in: John Boli / George M. Thomas (Hg.), Constructing World Culture. International Nongovernmental Organizations since 1875, Stanford 1999, S. 149–165, hier: S. 150, 157, 163 f.; Jean H. Quataert, Women’s Wartime Services under the Cross. Patriotic Communities in Germany, 1912–1918, in: Roger Chickering (Hg.), Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914–1918, Cambridge 2000, S. 453–483; Panayi, Germans, S. 3, 10, 24; ders., Prisoners, S. 41; Paulmann, Conjunctures, S. 224; Lieb, Völkerrecht, S. 90; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 188. Zum Roten Kreuz und Ador: Daniel-Erasmus Khan, Das Rote Kreuz. Geschichte einer humanitären Weltbewegung, München 2013, S. 21–23, 41 f., 47 f.; Matthias Schulz, Dilemmas of the ‚Geneva‘ Humanitarianism: The International Committee of the Red Cross and the Red Cross Movement, 1863–1918, in: Paulmann (Hg.), Dilemmas, S. 35–62, hier: S. 44–49, 52; Herren, Internationale Organisationen, S. 18, 23, 47, 93; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 76–90; Cotter / Herrmann, Hilfe, S. 242 f., 246, 249, 252 f., 262; Schneider, Diktatur der Bürokratie?, S. 63; Barnett, Empire, S. 79; Cohen, Epilogue, S. 409.

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schaften vollzogen, die oft von den jeweiligen Heeresleitungen beaufsichtigt wurden. Das Genfer Komitee akzeptierte diesen Prozess, obwohl er mit Einschränkungen der eigenen Arbeit verbunden war und die grundsätzlich humanitäre Ausrichtung in Frage stellte. Infolgedessen nahm das IKRK zunehmend nur noch eine vermittelnde Rolle ein. Auch später, im Zweiten Weltkrieg, kümmerten sich nationalen Sektionen nahezu ausschließlich um die jeweils eigenen Staatsangehörigen.47 Schon unmittelbar nach der Gründung des IKRK waren in zehn Staaten Rotkreuzgesellschaften gegründet worden, die oft auf lokale Traditionen des Humanitarismus und des freiwilligen Engagements aufbauen konnten. So griff die 1870 gebildete British National Society for Aid to the Sick and Wounded in War, die 1905 in British Red Cross Society umbenannt wurde, diskursiv auf den Kampf der London Social Sciences Association gegen die Sklaverei und für den Schutz von Kindern zurück. Von 1865 bis 1875 nahm die Zahl der nationalen Gesellschaften von elf auf 21 zu, und um 1900 hatten bereits 33 Verbände ihre Arbeit aufgenommen. Sie waren im Zuge des radikalen Nationalismus und Imperialismus des späten 19. Jahrhunderts jedoch noch umfassender von den Regierungen der einzelnen Staaten vereinnahmt und kontrolliert worden als in den 1870er Jahren. Die Nationalisierung des Roten Kreuzes hatte in den 1880er Jahren zuerst in Italien eingesetzt. Vor diesem Hintergrund wuchs in der Organisation vor 1914 die Spannung zwischen der nationalen Politik souveräner Staaten und dem humanitären Universalismus, dessen politische Wirkung letztlich eng begrenzt blieb. So konnte das IKRK das Leid der Insassen von Konzentrationslagern in Südafrika (darunter überwiegend Frauen und Kinder) kaum lindern. Der Gegensatz verschärfte sich im frühen 20. Jahrhundert mit der enormen Expansion des Roten Kreuzes, an deren zehnter Konferenz 1921 (fast sechzig Jahre nach der Gründung durch wenige Genfer Bürger) bereits Hunderte Delegierte nationaler Gesellschaften von sechs Kontinenten teilnahmen. Insgesamt setzte humanitäre Hilfe schon vor 1914 voraus, dass sich die daran beteiligten Organisationen auf die Interessen und Ziele der nationalen Regierungen einließen.48 Auch im Ersten Weltkrieg ließen sich die einzelnen nationalen Rotkreuz-Gesellschaften weitgehend von ihren Regierungen in Dienst nehmen. So entsandte 47 NA, FO 369/2547, Bl. 311; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 114, 189. Hierzu und zum Folgenden auch: Hutchinson, Champions, S. 346–348; Finnemore, Rules, S. 152, 164 f.; Durand, Sarajevo, S. 32. 48 Angaben nach: Dromi, Soldiers, S. 203. Geringfügig andere Zahlen in: Yoshiya Mikita, The Alchemy of Humanitarianism: the First World War, the Japanese Red Cross and the Creation of an International Public Health Order, in: First World War Studies 5 (2014), S. 117–129, hier: S. 118; von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 78–80. Vgl. auch Crossland, Britain, S. 20–24; Forsythe, Humanitarians, S. 20 f., 30; Moorehead, Dream, S. 208.

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das Amerikanische Rote Kreuz (American Red Cross, ARC) Ärzte nach Frankreich, Deutschland, Serbien, Österreich-Ungarn, Großbritannien und Russland, solange die USA neutral waren. Oft arbeitete das ARC dabei mit anderen humanitären Organisationen zusammen, so 1915 auf dem Balkan mit der 1903 gegründeten Rockefeller Foundation (RF). Nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten erhielten aber fast ausschließlich Angehörige der alliierten Staaten Hilfsleistungen. Der War Council des ARC propagierte die Fürsorge für US-Bürger gar als patriotische Pflicht und unterstützte die Mobilisierung von Rekruten für die Freiwilligenarmee. Die nationalen Rotkreuzgesellschaften trugen damit letztlich zur Mobilisierung in ihren Staaten bei. Der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten beendete auch das direkte Engagement amerikanischer Nichtregierungsorganisationen auf den europäischen Schlachtfeldern. Um die Verteilung von Hilfsgütern zu unterstützen, bildete die US-Administration unter Wilson 1917/18 die U. S. Food Administration und die ARA. Paradoxerweise stärkte die Hilfe für Kriegsopfer von 1914 bis 1918 nicht nur Nichtregierungsorganisationen, sondern auch die offizielle Politik der Regierungen.49 Die Aktivitäten des Roten Kreuzes spiegeln diese Ambivalenz wider. Nur Gesellschaften in Ländern, deren Eliten den bedeutenden Stellenwert einer humanitären Kriegführung erkannten und für die Legitimation ihrer Herrschaft nutzten, schufen sich ausreichend Handlungsspielraum, um Soldaten und internierten Zivilisten in gegnerischen Nationen wirksam zu unterstützen. So kontrollierte der Schweizer Delegierte des IKRK, Fritz Paravicini (1874–1944), regelmäßig die Behandlung dieser Kriegsopfer in Japan, wo das Heeresministerium ein „Informationsbüro für Kriegsgefangenenfragen“ eingerichtet hatte. Im Auftrag der Schweizer Gesandtschaft führte der Delegierte beispielsweise vom 30. Juni bis 16. Juli 1918 eine ausgedehnte Inspektionsreise in Japan durch. Darüber hinaus versorgte das Japanische Rote Kreuz Deutsche, Österreicher und Ungarn, die bei der Einnahme Tsingtaos im November 1914 gefangen genommen worden waren, großzügig mit Nahrungsmitteln, Kleidung und anderen unabdingbaren Gütern. Die Führung des nationalen Roten Kreuzes entschied Ende 1914 sogar, Hilfsverbände nach Russland, Frankreich und England zu entsenden, um dort die Not gefangener Feindstaatenangehöriger zu lindern. Ergänzt und unterstützt wurden die humanitären Aktivitäten des Genfer Komitees im japanischen Kaiserreich durch einen „Hilfsausschuß“, den das Unternehmen Sie-

49 Julia F. Irwin, Making the World Safe. The American Red Cross and a Nation’s Humanitarian Awakening, Oxford 2013, S. 55–104; Little, State; ders., Relief, S. 144 f.; ders., Commission for Relief in Belgium.

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mens-Schuckert gegründet hatte, und Geistliche wie den Schweizer Jakob Hunziker, die in den Lagern predigten.50 Das IKRK wuchs in den Jahren von 1914 bis 1918 rasant. So nahm die Zahl der Mitarbeiter von nur zehn im August 1914 auf 1.200 am Jahresende zu.51 Eine Schlüsselstellung in der Arbeit des Genfer Komitees nahmen seine Delegierten ein, die sich in den einzelnen Staaten in Zusammenarbeit mit den Regierungen und den nationalen Rotkreuz-Gesellschaften bemühten, konkrete Verbesserungen für Kriegsgefangene und Zivilinternierte zu erreichen. Diese Vertreter waren nicht fest angestellt, sondern wurden vom IKRK für einzelne, zeitlich befristete Missionen berufen. Im Allgemeinen hatten sie zuvor in bürgerlichen Berufen gearbeitet, vor allem als Mediziner oder Juristen. Darüber hinaus waren viele IKRK-Beauftragte fest im protestantischen Milieu der Schweiz – besonders in Genf – verwurzelt, und sie teilten eurozentrische, zivilisatorische und rassistische Überlegenheitsvorstellungen. Erstmals widmeten sie sich in den kriegführenden Ländern von 1914 bis 1918 aber gezielt und systematisch der Kriegsopferfürsorge, bei der Soldaten aber weiterhin im Mittelpunkt standen.52 In den Staaten, in die Repräsentanten des IKRK geschickt wurden, um den Umgang mit Kriegsopfern zu überprüfen, waren sie von der Genfer Zentrale kaum zu kontrollieren, zumal Standards und Kriterien professioneller Arbeit fehlten. Die Vertreter des Roten Kreuzes verfolgten deshalb auch eigene Ziele und ließen sich vor Ort mit Akteuren ein, die sie gewinnen wollten. Unter diesen Bedingungen war letztlich unvermeidlich, dass die Delegierten die humanitäre Arbeit unterschiedlich verstanden und definierten. Bemühungen des Genfer Komitees, die bürokratische Kontrolle der Aktivitäten zu erweitern, Abläufe zu rationalisieren, die Kommunikation zu verbessern, Zurechenbarkeit herzustellen und eine Spezialisierung zu erreichen, scheiterten im Ersten Weltkrieg weitgehend.53 Im Mittelpunkt der Arbeit des Internationalen Komitees stand die karitative Fürsorge zugunsten von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Dazu veröffentlichte es schon am 21. September 1914 einen Appell an die Regierungen aller kriegführenden Staaten, die darin zu einer strikten Einhaltung völkerrechtlicher Abkommen aufgerufen wurden. Ador berief sich dabei auf eine humanitäre Mis50 Checkland, Humanitarianism, S. 72–74, 76–78; Moorehead, Dream, S. 196; Krebs, Tsingtau, S. 20–22. Zu Paravicini: Kern, Das Internationale Komitee vom Roten Kreuze, S. 280. 51 Moorehead, Dream, S. 175; Herrmann / Palmieri, International Committee of the Red Cross. 52 Crossland, Britain, S. 24; Jones, A Missing Paradigm?, S. 182. 53 Dies galt sogar noch für die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Vgl. Francesca Piana, The Dangers of ‚Going Native‘: Georges Montandon in Siberia and the International Committee of the Red Cross, 1919–1922, in: Contemporary European History 25 (2016), S. 253–274, hier: S. 253 f., 256, 261, 273 f.

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sion, zu der sich schon zuvor auch die Regierung Frankreichs bekannt hatte. Allerdings erwiesen sich solche Bekenntnisse zur Humanität als wenig belastbar, denn bald beschuldigten sich die kriegführenden Staaten gegenseitig, vertrags- und gewohnheitsrechtliche Regelungen gebrochen zu haben. Den Teufelskreis von Protesten und Repressalien konnte auch das IKRK nur gelegentlich durchbrechen. Öffentlicher Proteste und die Aufforderung an die kriegführenden Staaten vom 12. Juli 1916, auf Rache an hilflosen Gefangenen grundsätzlich zu verzichten, blieben wirkungslos. Allerdings vermittelte das IKRK zwischen den Mächten, indem es von August 1914 bis Juli 1918 achtzig Vertragsbrüche der Haager und Genfer Konventionen von 1906/7 aufnahm und bearbeitete. Berichte über schlechte Lebensbedingungen in den Internierungslagern setzten die jeweils betroffenen Regierungen der kriegführenden Staaten politisch unter Druck. Nicht zuletzt gelang es dem Internationalen Komitee, über Kriegsgefangene hinaus auch für Zivilinternierte zu sorgen. Damit konnte zumindest implizit und inoffiziell eine Gleichbehandlung der beiden Gruppen durchgesetzt werden, die das IKRK den nationalen Rotkreuz-Gesellschaften bereits am 17. Oktober 1914 vorgeschlagen hatte. Indirekt stieß das Genfer Komitee damit eine Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechtes über die Haager Landkriegsordnung hinaus an.54 Die Gefangenenhilfe des IKRK gründete auf einem eigenen Informationsdienst. Nachdem die preußische Regierung die Habsburgermonarchie bereits im Krieg von 1866 über verwundete und erkrankte Kriegsgefangene benachrichtigt hatte, etablierte das Komitee 1870 in Basel eine internationale Auskunftsund Hilfsstelle, um Angehörige von Opfern des Krieges zwischen Frankreich und Preußen zu benachrichtigen. Zunächst sammelte und übermittelte das IKRK fast ausschließlich Informationen über Kriegsgefangene. Während des russisch-japanischen Krieges richteten beide kriegführenden Länder Informationsbüros ein, und während der Balkankriege führte das Rote Kreuz Belgrad Angaben über Kriegsgefangene zusammen. Im Anschluss daran wurde nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges mit Unterstützung Adors die Internationale Agentur für Kriegsgefangene etabliert. Sie war für Gefangene auf dem westlichen Kriegsschauplatz zuständig. Für die Ostfront richtete das Dänische Rote Kreuz in Kopenhagen eine ähnliche Auskunftsstelle ein.55 In der neuen Agence internationale des prisonniers de guerre (AIGP) arbeiteten überwiegend Freiwillige, darunter viele Frauen. Demgegenüber nahmen bis 54 Cotter / Herrmann, Hilfe, S. 244; Herrmann / Palmieri, International Committee of the Red Cross; Durand, Sarajevo, S. 48–50, 84; Moorehead, Dream, S. 199 f. 55 Jonathan F. Vance, Information Bureaus, in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 142 f., hier: S. 142; Wurzer, Die Gefangenen, S. 413; Stibbe, Civilian Internment, S. 54, 244; Herrmann, Ador.

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November 1918, als Renée-Marguerite Cramer (1887–1963) in das IKRK gewählt wurde, ausschließlich Männer die Führungspositionen im Komitee ein. Insgesamt beschäftigte die Agence im Verlauf des Krieges 3.000 Personen. Die Mitarbeiter erhielten von 1914 bis 1918 im Durchschnitt täglich 2.000 bis 3.000 Anfragen, am Ende des Ersten Weltkrieges sogar 15.000 bis 18.000. Während größerer Offensiven, als besonders viele Soldaten in die Hand der jeweiligen Kriegsgegner fielen, erreichte die Zahl der Briefe bis zu 30.000. Diese mussten mit Informationen abgeglichen werden, die der Genfer Agentur gleichfalls übermittelt worden waren. Dazu waren schon bis Dezember 1914 rund 60.000 Karteikarten angelegt worden. Dennoch blieb die Arbeit der Einrichtung zunächst von Improvisation gekennzeichnet, und der Postdienst war sogar in den ersten Kriegsmonaten, als täglich nur 300 Briefe von Kriegsgefangenen weitergeleitet wurden, unzureichend. Erst 1915 wurde mit einem systematischen Organisationsaufbau begonnen. Ab Januar 1916 veröffentlichte die AIGB sogar wöchentlich ein Nachrichtenblatt, die Nouvelles de l’Agence. Damit ging eine erhebliche Expansion einher, die in der letzten Phase des Krieges eine verstärkte Koordination der verschiedenen Initiativen erforderte. Insgesamt konnten bis zum 1. Januar 1919 von 275.000 Einzelfällen von Vermissten rund 60.000 geklärt werden. Die Datei der AIPG umfasste schließlich nahezu 4,9 Millionen Karteikarten, die laufend aktualisiert und ergänzt werden mussten.56 Grundlage der Arbeit waren Gefangenenlisten, die von den verschiedenen Informationsbüros der nationalen Rotkreuz-Gesellschaften in den kriegführenden Staaten zusammengestellt worden waren und der Agence übermittelt wurden. In den einzelnen Nationalstaaten agierten nach einem Beschluss der 9. Konferenz des IKRK von Washington (1912) spezielle Vermittlungsagenturen. In Großbritannien war dafür das Prisoners of War Bureau zuständig, in Berlin und Wien jeweils „Zentrale Nachweise-Bureaus“ und in Frankreich das Bureau de Renseignement sur les Prisonniers de Guerre. Für die Informationsarbeit der Büros, die im Allgemeinen den Kriegsministerien unterstanden, mussten Kommunikationsverbindungen und Transportwege offengehalten werden – im Ersten Weltkrieg eine beträchtliche Herausforderung, die aber weitestgehend bewältigt wurde. Allerdings bot die Genfer Agentur vergeblich an, Informationen über serbische Kriegsgefangene und Zivilinternierte an ihre Angehörigen zu übermitteln, denn Österreich-Ungarn, Deutschland und Bulgarien, die das Land Ende 56 Moorehead, Dream, S. 185; Herrmann / Palmieri, International Committee of the Red Cross; Cotter / Herrmann, Hilfe, S. 246, 249 f., 252; Barton, Internment, S. 15; Proctor, Civilians, S. 183; Khan, Das Rote Kreuz, S. 52, 63; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 192 f.; Schulz, Dilemmas, S. 49 f., 59; Durand, Sarajevo, S. 36–38, 42–44, 46; Jonathan F. Vance, Central POW Agency, in: ders.(Hg.), Encyclopedia, S. 42 f.; ders., Information Bureaus, S. 143. Vgl. auch Kern, Das Internationale Komitee vom Roten Kreuze, S. 279.

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1915 besetzt hatten, erkannten Serben nicht als Staatsbürger an. Außerdem tauschten die Regierungen der Doppelmonarchie und Italiens direkt Daten über die Insassen ihrer Lager und Konfinierte aus. Darüber hinaus delegierte das IKRK den Suchdienst an der Ostfront an das Dänische Rote Kreuz, das auch Hilfslieferungen an Gefangene im russischen Zarenreich vermittelte. Das Prinzip der Reziprozität, auf dem nicht nur die Arbeit der AIPG, sondern auch des Internationalen Komitees insgesamt beruhte, blieb jedoch gefährdet. So warnte das „Zentrale Nachweise-Bureau“ in Berlin die Agence schon am 24. September 1914, dass es die Versendung von Listen einstellen würde, wenn es nicht von anderen kriegführenden Ländern entsprechende Informationen erhielt.57 Dennoch war die Genfer Auskunfts- und Hilfsstelle, die von den Schweizer Unternehmen Nestlé und Alusuisse mit jeweils 50.000 und von Zürich Versicherungen mit 20.000 Franken unterstützt wurde, die wichtigste Agentur zur Information der Angehörigen von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Zudem veröffentlichte sie Berichte über Gefangenenlager, die von Kommissionen des Roten Kreuzes besichtigt worden waren. Darüber hinaus bemühte sich die Agence in engem Schulterschluss mit dem übergeordneten IKRK, Repressalien zu verhindern. Dabei nutzte sie häufig das Reziprozitätsprinzip. Die Hilfsbüros schickten den Kriegsgefangenen und Zivilinternierten auch Versorgungsgüter. Nicht zuletzt setzten sie sich unablässig für den Austausch von Zivilinternierten ein, die nicht im wehrfähigen Alter waren. Nachdem Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn grundsätzlich Einverständnis signalisierte hatten, beschloss das Genfer Komitee am 22. September 1914, für die „Heimschaffung“ ein zentrales Büro einzurichten. Bei allen diesen Aufgaben arbeitete die AIPG eng mit den Kommissionen für Kriegsgefangene in den nationalen Rotkreuzgesellschaften zusammen.58 Das Mandat und – damit verbunden – das Spektrum der Aufgaben des Genfer Komitees erweiterte sich trotz der Einschränkungen im Ersten Weltkrieg er57 NA, FO 383/106 (Bericht vom 23. Januar 1915); Jonathan F. Vance, Information Bureaus, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 142 f., hier: 142; Durand, Sarajewo, S. 39–41; Moorehead, Dream, S. 183 f., 223f.; Vance, Central POW Agency, S. 42; Trifunović, Prisoners of War. Dazu auch der Erlebnisbericht in: von Mihalotzy, Reise, S. 252. 58 NA, FO 383/158, Bl. 333; C. Ischer, Das Schweizer Rote Kreuz für die Kriegsgefangenen, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 307–310, hier: S. 307; Herrmann / Palmieri, International Committee of the Red Cross. Angaben nach: Brückner, Hilfe, S. 130. Vgl. auch Marc Spoerer, Zwangsarbeitsregimes im Vergleich: Deutschland und Japan im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Klaus Tenfelde / Hans-Christoph Seidel (Hg.), Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts. Bewältigung und vergleichende Aspekte, Essen 2007, S. 187–226; Doegen, Völker, S. 222; Segesser, Lager, S. 46; Kreis, Insel, S. 235; Becker, Oubliés, S. 171; Kramer, Kriegsrecht, S. 286; Jahr, Zivilisten, S. 315 f., 318; Hinz, Humanität im Krieg?, S. 216–236; Panayi, Prisoners, S. 65; Janz, 14, S. 126.

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heblich. Nicht nur die Angehörigen, sondern auch die Regierungen der kriegführenden Staaten waren besonders an Informationen über ihre gefangenen Bürger interessiert. Deshalb baten sie das IKRK, Nachrichten an sie weiterzuleiten. Auch unterstützten sie die Bemühungen des Genfer Komitees um den Postverkehr von Kriegsgefangenen und Internierten mit ihren Angehörigen in der Heimat. Ebenso schätzten sie grundsätzlich die Überwachung der Lager durch die Inspekteure, die das Genfer Komitee in die einzelnen Länder entsandte. Die Regierungen der kriegführenden Länder nutzten die Besichtigungen, um ihren Umgang mit Gefangenen als human darzustellen und Repressalien gegen ihre Staatsbürger, die sich in gegnerischen Staaten befanden, zu verhindern. Jedoch trafen die diplomatischen Missionen, mit denen das IKRK das Spektrum seiner Aktivitäten auszuweiten suchte, oft auf den erheblichen Widerstand einzelner Regierungen, die dafür Schutzmächte bevorzugten. Dennoch konnte das Rote Kreuz mit Hilfe seiner Delegationen, die in den einzelnen kriegführenden Ländern arbeiteten, Klagen gegen gegnerische Staaten übermitteln, darunter Beschwerden über die Behandlung von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Das Genfer Komitee nahm die einzelnen diplomatischen Noten auf, die ihm übermittelt wurden, und leitete sie an die jeweils zuständigen nationalen Rotkreuz-Gesellschaften weiter, die zwischen dem IKRK und den Regierungen vermitteln mussten. Die Kabinette verwiesen Einsprüche der kriegführenden Länder gegen die Behandlung ihrer gefangenen Bürger zurück an das Genfer Komitee. Dabei gelang es dem Roten Kreuz wiederholt, Repressalien abzuwenden und so zu einer Deeskalation beizutragen. Oft nutzte das Genfer Komitee geschickt den Grundsatz der Gegenseitigkeit.59 So bat das Ungarische Rote Kreuz das IKRK im Mai 1915, den Regierungen der gegnerischen Staaten einen positiven Bericht über die Behandlung von ziviler Feindstaatenangehöriger zuzuleiten, um nach dem Reziprozitätsprinzip und im Namen der Humanität eine gute Behandlung gefangener ungarischer Zivilisten zu erreichen. Zuvor hatte nämlich die österreichische Regierung Repressalien gegen britische Internierte verhängt, um das Vereinigte Königreich damit für angebliche Zwangsmaßnahmen gegen internierte Österreicher zu bestrafen.60 In Bulgarien, wo mit 37.647 Serben und 12.100 Griechen mehr Zivilisten als Soldaten dieser Staaten in mindestens 21 Lagern interniert waren, kritisierten Delegierte des IKRK im Juli 1917 in ihrem Inspektionsbericht, dass gefangene Frauen in den Camps zusammen mit Kriegsgefangenen untergebracht waren. Daraus 59 NA, FO 383/5 (Schreiben vom 22. Oktober 1914). Vgl. auch Piana, Dangers, S. 261; Wylie, Convention, S. 100; Stibbe, Civilian Internment, S. 141; Mytum, Tale, S. 39; Vance, International Committee of the Red Cross, S. 144; Crossland, Britain, S. 30 f. 60 NA, FO 383/5 (Bericht vom 6. Mai 1915; Schreiben vom 10. und 15. November 1914).

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hatten sich auch sexuelle Beziehungen ergeben, wie der Report beklagte. Die bulgarische Regierung ordnete ab 1917 deshalb an, Kriegsgefangene und Zivilinternierte getrennt unterzubringen. Damit sollten bürgerliche Normen des Zusammenlebens durchgesetzt werden. Dieser Prozess verlief aber schleppend, und auch die völlig unzureichende Versorgung der Lagerinsassen verbesserte sich hier bis zum Kriegsende nicht.61 Darüber hinaus besichtigten Vertreter des IKRK ab Januar 1915 erstmals Camps in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, um die dortigen Lebensbedingungen von Kriegsgefangenen zu untersuchen. Mit dem Besuch von Zivilisten in Internierungslagern betrat das Genfer Komitee Neuland. Die Inspektionen wurden im Allgemeinen zuvor angekündigt und umfassten Gespräche mit Vertretern der Internierten und den Lagerkommandanten, die ihre Vorbehalte gegen die (von ihnen oft als Kontrolle wahrgenommenen) Besichtigungen offen äußerten. Im Verlauf längerer Rundgänge wurden die Unterbringung, Hygiene, Ernährung und Kleidung ebenso detailliert dokumentiert wie das Strafreglement und die medizinische Versorgung. Die Untersuchungen konzentrierten sich zwar auf Kriegsgefangene; aber auch Zivilinternierte wurden einbezogen, nicht zuletzt im Hinblick auf ihre Repatriierung. Die Befunde zu den Lagern in Frankreich und Deutschland veröffentlichte das Rote Kreuz noch 1915.62 So fand der Inspektor des IKRK in Frankreich in den 17 Lagern, die er besucht hatte, insgesamt gute Verhältnisse vor. Er stellte sicher, dass Hilfspakete direkt den Empfängern übergeben wurden. Internierte Deutsche, Österreicher und Ungarn, die u. a. in vier Lagern auf Korsika festgehalten wurden, konnte ihre Beschwerden – beispielsweise über Zwangsarbeit – direkt übermitteln. Auch in Deutschland, wo im Januar 1915 über sechzig Lager bestanden, fand ein anderer Vertreter des Genfer Komitees die gefangenen Zivilisten in erträglichen Lebensbedingungen vor. Allerdings verwies er auf Probleme bei der Zustellung der Post von französischen Internierten in ihre Heimat, und er kritisierte die unklaren Zuständigkeiten im Deutschen Reich. Darüber hinaus forderte der Repräsentant des IKRK einen bilateralen Austausch von Frauen, Kindern und nicht wehrfähigen Männern. Außerdem waren französische Ärzte nicht mehr in die Camps zu entsenden.63 61 Cholakov, Prisoners of War, S. 12 f., 48. 62 Deutsche und französische Fassung in: https://de.scribd.com/document/231547881/Rapports-de-MM-Ed-Naville-et-V-van-Berchem-Dr-C-de-Marval-A-Eugster-sur-leurs-visites-auxcamps-de-prisonniers-en-Angleterre-France-et-Allemag; Zugriff am 14. September 2018). Vgl. auch Arthur Eugster, Bericht über Kriegsgefangenenlager in Deutschland und Frankreich zuhanden des internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf, Basel 1915. Zum Ablauf der Inspektionen: Vance, Protecting Power, S. 228 f. 63 NA, FO 383/106 (Berichte vom Februar 1915 und vom 23. Januar 1915).

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Mit den Lagerbesuchen der IKRK-Delegierten sollte die Einhaltung von Mindeststandards im Umgang mit den Gefangenen sichergestellt werden. So verbrachte der Repräsentant des Roten Kreuzes in Großbritannien, Édouard Naville (1844–1926), im Januar 1916 einige Stunden im Lager Knockaloe, um dort die Unterbringung von 22.000 Internierten zu überprüfen. Besonders bedrückende Bedingungen fand er im Lager Queensferry (einer ehemaligen Fabrik nahe Chester) vor, wo er auf 2.000 deprimierte Deutsche traf. Im Allgemeinen formulierten die Inspektoren Kritik in ihren Berichten aber zurückhaltend, um Repressalien und damit eine Eskalation von Gewalt gegenüber Zivilinternierten zu verhindern.64 Sukzessive bezog das Komitee auch andere Länder in die Inspektionen ein, so noch 1915 Österreich-Ungarn.65 Ab 1915 wurden Kriegsgefangene, die den „Mittelmächten“ angehörten, nach Sibirien und Turkestan gebracht. Dort trafen sie auf Zivilinternierte, die aus Ost- und Südosteuropa deportiert worden waren. In diese Transporte waren auch Minderheiten wie die Juden einbezogen worden, die von Regierung und Militärs im Zarenreich verdächtigt wurden, als „innere Feinde“ mit den Gegnern Russlands zusammenzuarbeiten. Das Rote Kreuz kümmerte sich auch um diese Gefangenen.66 Insgesamt besichtigten 41 Vertreter des IKRK im Ersten Weltkrieg in 54 Missionen 524 Kriegsgefangenen- und Internierungslager in europäischen Staaten, in der Türkei, in Afrika (Marokko, Tunesien, Ägypten und Algerien) und in Asien (Sibirien, Britisch-Indien, Burma und Japan).67 Außer der Unterbringung und Versorgung wurden auch die jeweiligen Angebote zur Beschäftigung und Weiterbildung geprüft, die der lähmenden Langeweile des Lageralltags entgegenwirken sollten. Darüber hinaus wurden die Gefangenen medizinisch versorgt. So arbeitete der Schweizer Chirurg Vischer u. a. in Lagern in Großbritannien und in der Türkei, wo er die „Stacheldrahtkrankheit“ diagnostizierte. Seine Befunde übermittelte das IKRK über die jeweiligen Schutzmächte zunächst den betroffenen Staaten, um sie anschließend zu veröffentlichen. Dabei kam es nicht selten zum Tauziehen mit den kriegführenden Staaten, die versuchten, ihre Internierungspolitik der globalen Öffentlichkeit 64 Forsythe, Humanitarians, S. 31–33; Moorehead, Dream, S. 187 f., 196 f. Zu Naville: Leopold Kern, Das Internationale Komitee vom Roten Kreuze in Genf und seine Tätigkeit für die Kriegsgefangenen, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, S. 277–280, hier: S. 278, 280. 65 Bericht in: https://de.scribd.com/document/231547879/Rapports-de-MM-G-Addor-Dr-F-Ferriere-et-Dr-de-Schulthess-Schindler-sur-leurs-visites-a-quelques-camps-de-prisonniers-enAutriche-Hongrie; Zugriff am 14. September 2018). 66 Piana, Dangers, S. 261. 67 Vgl. https://www.drk-suchdienst.de/de/ikrk-stellt-kriegsgefangenen-archiv-ins-internet (Zugriff am 14. September 2018); Durand, Sarajevo, S. 441; Crossland, Britain, S. 31.

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als besonders human zu vermitteln. Deshalb wurde die Publikation einzelner Berichte noch während des Ersten Weltkrieges eingestellt. Die Beobachtungen fasste das IKRK aber in 24 Übersichten zusammen, die von 1914 bis 1919 erschienen. Oft kooperierte das Internationale Komitee bei den Lagerbesuchen und den sich daraus ergebenden Aktivitäten mit nationalen Gesellschaften, beispielsweise in der Habsburgermonarchie mit dem Ungarischen Roten Kreuz. Diese waren aber an die Militärbehörden in den einzelnen kriegführenden Staaten gebunden, so dass sie gelegentlich nur unwillig mit dem zentralen Genfer Komitee zusammenarbeiteten. Zudem wies auch das Kontrollnetz des IKRK selber Lücken auf. So gewannen die Inspekteure des Komitees keinen Zugang zu Zwangsarbeitern in Kriegszonen, so dass diese Opfer schutzlos blieben.68 Der Waffenstillstand vom 11. November 1918 erleichterte schließlich den Zugang des IKRK zu den Camps. Auch konnten Staatsangehörige der EntenteMächte nun unverzüglich repatriiert werden. Dabei war das Genfer Komitee aber im Allgemeinen nicht direkt beteiligt. Demgegenüber engagierte es sich bei der Rückführung von gefangenen Soldaten und Zivilisten der unterlegenen „Mittelmächte“ in ihre Heimat. So befanden sich 1918 allein 800.000 Gefangene in der Hand der Alliierten. Diese Gruppe wurde erst nach der Unterzeichnung der Pariser Vorortverträge ab Sommer 1919 entlassen. Das IKRK unterstützte besonders die Repatriierung der deutschen und österreichisch-ungarischen Gefangenen, die sich in Russland befanden, und der Russen, die in die Hand der ehemaligen „Mittelmächte“ gefallen waren. Auch die Versorgung der verbliebenen Gefangenen wurde über 1918/19 hinausgeführt.69 Auf vielen Problemfeldern lehnten Regierungen aber Vorschläge des IKRK und ihrer nationalen Sektionen ab. Vor allem sollten direkte Gespräche zwischen einzelnen Rotkreuz-Gesellschaften vermieden werden. So übernahm der Präsident des Britischen Roten Kreuzes im September 1915 die Bedenken der Regierung gegen eine Unterredung, die nach dem Vorschlag Deutschlands zwischen Vertretern der Sektionen des Deutschen Kaiserreiches, Großbritanniens und einiger neutraler Staaten in Den Haag stattfinden sollte.70 Im März 1916 ver68 Cotter / Herrmann, Hilfe, S. 249; Herrmann / Palmieri, International Committee of the Red Cross; Forsythe, Humanitarians, S. 31; Ohry / Solomon, Dr Adolf Lukas Vischer, S. 17; Piana, Dangers, S. 270; Wilkinson, Prisoners of War, S. 61. Umfassende Dokumentation des IKRK in: https://grandeguerre.icrc.org/ und https://grandeguerre.icrc.org/en/Testimonials (Zugriff am 14. September 2018). Vgl. auch einzelne Fälle in: NA, FO 383/152 (Vermerke vom 1. und 6. Februar 1916). 69 Herrmann / Palmieri, International Committee of the Red Cross. Angabe nach: Brückner, Hilfe, S. 38. 70 NA, FO 383/110 (Schreiben vom 27. September 1915). Das Britische Rote Kreuz beschloss 1919, die im Oktober 1914 begonnene Kooperation mit dem Johanniterorden fortzusetzen.

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sicherte der britische Außenminister Grey zwar einem Vertreter des IKRK seine Wertschätzung; seinen Vorschlag, eine Zusammenkunft zwischen Repräsentanten des Deutschen und Britischen Roten Kreuzes anzuberaumen, lehnte er jedoch ab. Die britische Regierung bezweifelte die Unabhängigkeit des Deutschen Roten Kreuzes von der Politik der Reichsleitung. Zudem sollte der Eindruck vermieden werden, dass Großbritannien Friedensverhandlungen mit dem deutschen Kriegsgegner führte, wie Lord Newton gegenüber Charles Beresford schon am 3. März 1915 hervorhob.71 Demgegenüber gelangen andere Initiativen des IKRK. So wurden Ende 1914 in Frankreich und Deutschlands gemischte Kommissionen des Roten Kreuzes eingerichtet, denen Delegierte des Genfer Komitees, der beiden nationalen Gesellschaften und Diplomaten der Schutzmächte (USA und Spanien) angehörten. Die Gremien sollten Lager inspizieren und sich um die dringenden Bedürfnisse der Insassen kümmern. Gustave Ador schlug dem Britischen Roten Kreuz daraufhin vor, für Gefangene im Vereinigten Königreich und in Deutschland ein ähnliches Gremium zu etablieren. Ab 1915 prüfte das IKRK in beiden Ländern systematisch die Lebensverhältnisse der Internierten. Daran war die AIPG, die nach Adors Wahl in den Bundesrat der Schweiz am 28. Juni 1917 von Édouard Naville geleitet wurde, führend beteiligt. Alles in allem besichtigten Offizielle des Roten Kreuzes im Ersten Weltkrieg mehr als 500 Lager in 38 Ländern. Außer Versorgungsmängeln, Hunger und der Beschäftigungslosigkeit erregten besonders Krankheiten die Besorgnis der Inspektoren. In gemischten Kommissionen, die im Verlauf des Krieges gebildet wurden, entschieden Ärzte deshalb über die Entlassung kranker und verletzter Gefangener.72 Mit den Inspektionen war die karitative Fürsorge des IKRK eng verbunden. Zu diesem Zweck organisierte das Genfer Komitee Hilfsleistungen für Kriegsgefangene und Zivilinternierte, besonders Pakete – oft mit Lebensmitteln – und Geldspenden. Obwohl nach der Haager Landkriegsordnung die Staaten, in deren Hand Gefangene gefallen waren, für ihre Versorgung zuständig waren, bildete sich im Ersten Weltkrieg ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher Verbände und Vereine heraus, die für Opfer der Kämpfe und ihre Hinterbliebenen sorgte. 1912 hatte die 9. Rotkreuzkonferenz das IKRK ausdrücklich ermächtigt, Sendungen an Kriegsgefangene zu koordinieren. Dazu diente die Agence Internationale de secours et de renseignements en faveur des prisonniers. Nach Angaben der AIPG

Vgl. Hutchinson, Champions, S. 288; Moorehead, Dream, S. 209. Vgl. auch Jonathan F. Vance, St. John Ambulance, in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 261. 71 NA, FO 383/152 (Schreiben vom 10. März 1916); FO 383/172 (Schreiben vom 3. März 1915). 72 Schreiben vom 5. Januar 1915 in: NA, FO 383/106. Vgl. auch Durand, Sarajevo, S. 45; Vance, Mixed Medical Commissions, S. 190. Angaben nach: Pitzer, Night, S. 97.

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waren bis Dezember 1915 schon 15,85 Millionen Pakete zugestellt worden, auch Zivilinternierten. Allein auf Frankreich entfielen zwischen September 1914 und Dezember 1915 rund 14,3 Millionen Postpakete und Brotsendungen mit einem Gewicht von insgesamt 1.400 Tonnen. Viele wurden nach Deutschland geschickt. Hinzu kamen 106 Waggons mit Bekleidung und Lebensmitteln. Umgekehrt sorgte das IKRK für den Versand von Hilfspaketen in französische Lager. Insgesamt übermittelte die AIPG im Ersten Weltkrieg Kriegsgefangenen und Zivilinternierten rund 1,9 Millionen persönlich adressierte Pakete im Wert von 18 Millionen Schweizer Franken. Geldsendungen erreichten fast denselben Wert. Für den Transport von Hilfsgütern wurden 1.813 Eisenbahnwaggons eingesetzt.73 Zwar blieb die Aktivität des IKRK in Russland bis 1917 schwach. Erst in diesem Jahr konnte das Genfer Komitee hier mit Inspektionen beginnen. Jedoch hatten zuvor schon Schwestern nationaler Rotkreuz-Gesellschaften nicht nur Lager besucht, sondern in Kooperation mit neutralen Schutzmächten und den Behörden der jeweiligen Gewahrsamsstaaten auch Hilfslieferungen organisiert. Nach den geschlechterspezifischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts traute das IKRK besonders Frauen karitative Fürsorge zu. In der Regel schickten die Regierungen Deutschlands und Österreich-Ungarns Helferinnen adliger Herkunft in das Zarenreich, da sie als besonders loyal gegenüber ihren Heimatländern galten. Auch weil sie den jeweiligen nationalen Rotkreuz-Gesellschaften angehörten, verdächtigten sie die russischen Behörden vielerorts der Spionage.74 In Osteuropa kümmerten sich seit 1915 ebenso die Rotkreuzgesellschaften skandinavischer Länder um dort festgesetzte militärische und zivile Staatsangehörige der „Mittelmächte“ Deutschland und Österreich-Ungarn.75 Dabei engagierte sich besonders das Schwedische Rote Kreuz, dessen Hilfskomitee 1915 die Bitte des Zarenreiches aufnahm, in Deutschland russische Gefangene zu versorgen. Im Gegenzug durften sich österreichische und schwedische Schwestern um deutsche Gefangene in Russland kümmern. Das Abkommen zwischen diesem 73 Angaben nach: Durand, Sarajevo, S. 46; Riesenberger, Humanität, S. 68; Cotter / Herrmann, Hilfe, S. 250; Kern, Das Internationale Komitee vom Roten Kreuze, S. 279. Vgl. auch Giuseppi, Internment, S. 91–93, 98–106; Manz / Panayi / Stibbe, Internment, S. 9, 12 f.; Proctor, Civilians, S. 183 f.; Khan, Das Rote Kreuz, S. 52, 63; Kreis, Insel, S. 236; Vance, Central POW Agency, S. 43; Jones, A Missing Paradigm?, S. 36. 74 Alon Rachamimov, „Female Generals“ and „Siberian Angels“: Aristocratic Nurses and the Austro-Hungarian POW Relief, in: Nancy M. Wingfield / Maria Bucur (Hg.), Gender and War in Twentieth-Century Eastern Europe, Bloomington 2006, S. 23–46, hier: S. 25, 30, 38; Nachtigal, Rotkreuzdelegierten, S. 366. 75 Kern, Das Internationale Komitee, S. 278.

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Staat und den „Mittelmächten“, das die Missionen zuließ, ermöglichte auch Inspektionen von Lagern, an denen Rotkreuz-Schwestern der kriegführenden Mächte und neutraler Staaten teilnahmen. Sie wurden begleitet von offiziellen Vertretern der jeweiligen Regierungen oder Militärführungen. Da vor allem die österreichischen Helferinnen nahezu durchweg dem Adel entstammten, gewannen sie schnell und unmittelbar Zugang zu den Eliten des Zarenreiches. So erleichterte die gemeinsame Klassenzugehörigkeit ihren Einsatz in Russland. Überdies stellten die Schwestern mit ihrer gefährlichen Arbeit eingeschliffene Geschlechterhierarchien in Frage. Insgesamt war der Einsatz von Rotkreuzpersonal in Russland aus den Staaten, denen die Internierten angehörten, im Ersten Weltkrieg einzigartig. Zusammen mit dem Internationalen Komitee des YMCA vermittelten die Schwestern in Mitteleuropa auch Kenntnisse über die Lage der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten im russischen Zarenreich.76 Geleitet von der 1888 in St. Petersburg geborenen Rotkreuz-Aktivistin Elsa Brändström und unterstützt vom IKRK, verteilten schwedische Helferinnen zusammen mit österreichischen Schwestern nach schwierigen Verhandlungen mit der russischen Regierung während des Ersten Weltkrieges von 1915 bis 1917 Nahrungsmittel, Kleidung, Medizin und Geld an bis zu 700.000 Kriegsgefangene. Allein die Unterstützung mit Waren aus Österreich-Ungarn belief sich auf über 361,3 Millionen Kronen (120,5 Millionen Schwedische Kronen). Davon erhielten Zivilgefangene von August 1914 bis Mai 1918 allerdings lediglich 87.250 Kronen. Deutschland stellte für diese Gruppe gleichzeitig 193.200 Mark zur Verfügung. Die Helferinnen, die mit Protektion der Zarin zwei lange Rundreisen unternahmen, waren nicht beauftragt, die Internierten medizinisch zu versorgen. Vielmehr sollten sie in den Lagern Missstände abstellen, über die Lebensbedingungen der Gefangenen berichten und ihre Moral stärken. Die österreichischen Schwestern wurden von ihrer Regierung darüber hinaus beauftragt, die Loyalität ihrer internierten Landsleute gegenüber der Doppelmonarchie zu sichern. Im Rahmen der zweiten, überaus beschwerlichen Besichtigungstour konnte auch Kontakt zu 250.000 deutschen und 80.000 österreich-ungarischen Zivilinternierten in Sibirien aufgenommen werden.77

76 Hans-Graf Huyn, Einführung, in: Nora Gräfin Kinsky, Russisches Tagebuch 1916–1918, Stuttgart 1976, S. 8–18, hier: S. 11. Zusammenfassend: Rachamimov, „Female Generals“, S. 25; Stibbe, Civilian Internment, S. 244; Little, State. 77 Angaben nach: Elsa Brändström, Das Rote Kreuz in Rußland, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 282–288, hier: S. 287 f.; dies., Prisoners of War, S. 165, 172; Rachamimov, POWs, S. 165. Vgl. auch Rachamimov, „Female Generals“, S. 23–26, 30, 38; Nachtigal, Anzahl, S. 369. Glorifizierende Darstellungen in: Hans Weiland, Schwester Ella von Schack, in: ders. / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 242 f.; Heinrich von Raabl-Werner, Schwester Nora Kinsky,

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Die Schwestern, von denen neben Brändström besonders Nora Kinsky (1888–1923) und Anna Revertera prominent wurden, fanden in Lagern wie denjenigen in Tockoe (Militärbezirk Kazan), Rasdoloe (im Gebiet Primorsk), Omsk (Sibirien) und Spasskoje (bei Wladiwostok) teilweise erschreckende Zustände vor, über die sie dem IKRK berichteten. Hier hatten Überbelegung und sanitäre Mängel Krankheiten verursacht, denen Tausende Gefangene zum Opfer fielen. Außer den schwedischen und österreichischen halfen auch deutsche Rotkreuzschwestern wie Ella von Schack (1890–1936) Kriegsgefangenen und internierten Zivilisten. Obgleich die lokalen Militärbefehlshaber und Kommandanten der Camps die unliebsamen Inspekteurinnen wiederholt der Spionage und Aufwiegelung bezichtigten, um von eigenen Versäumnissen abzulenken, konnten die Frauen nicht nur gravierende Mängel beseitigen, sondern die Insassen von Lagern auch zur Selbsthilfe und zu verschiedenen Aktivitäten mobilisieren. So organisierten schwedische Rotkreuz-Schwestern 1916 im Lager Tockoe, wo zuvor Tausende Insassen einer Typhusepidemie zum Opfer gefallen waren, Sportwettkämpfe, und sie vergaben Werkzeuge, Bücher und dringend benötigte Medizin. Insgesamt verteilten in Russland bzw. in der Sowjetunion von 1915 bis 1920 77 Schwestern und andere Vertreter des Schwedischen Roten Kreuzes Hilfsleistungen an Gefangene der „Mittelmächte“. Nach der Revolution im Februar 1917 durfte Österreich-Ungarn im August in Moskau sogar eine permanente Vertretung etablieren.78 Das internationale Netzwerk des Roten Kreuzes unterstützte an der Ostfront auch den Austausch verletzter Kriegsgefangener. Im Sommer 1915 einigten sich die Regierungen des russischen Zarenreiches, Deutschlands und Österreich-Ungarns auf die beiderseitige Heimführung dieser Gruppe. Im Dezember 1916 schlossen das Osmanische Reich und Russland ein ähnliches Abkommen. Dabei engagierten sich vor allem die Gesellschaften in der Schweiz, in Dänemark, Norwegen und Schweden, wo allerdings die geplante Aufnahme russischer Soldaten und Offiziere Angst vor Spionage und ansteckenden Krankheiten ausgelöst hatte. Die dänische Rotkreuzgesellschaft, deren Vertreter insgesamt 163 Gefangenenlager im Zarenreich inspizierten, richtete eine Kriegsgefangenen-Abteilung ein und stellte zwei Lazarette und Internierungslager zur Verfügung. Dänische und schwedische Ärzte arbeiteten in den gemischten Kommissionen, die für den Austausch in Frage kommende Gefangene medizinisch untersuchten. eine Heldin der Pflicht, in: ebd., S. 243 f.; Anna Revertera, Als Rotkreuzschwester in Rußland und Sibirien, in: ebd., S. 244–251; Huyn, Einführung, S. 9. 78 Nachtigal, Rotkreuzdelegierten, S. 368 f.; ders., Seuchen, S. 369, 382; ders., Anzahl, S. 368 f. Vgl. auch: von Mihalotzy, Reise, S. 254 f. Zu den Vorwürfen der Spionage und der Aufwiegelung z. B. die Eintragungen Kinskys vom 9., 18. und 23. April 1917 in: Kinsky, Tagebuch, S. 142, 149, 153.

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Bis Ende 1917 konnten so allein 22.123 schwer verwundete Österreicher und Ungarn aus Russland zurückgeführt werden. An diesem Prozess wirkte auch das Rote Kreuz Norwegens mit, das dabei von seiner Regierung kräftig unterstützt wurde und auch Versorgungspakete nach Russland schickte. Weitere 1.226 teilweise versehrte und behinderte Staatsbürger der Doppelmonarchie wurden nach Dänemark und Norwegen gebracht und dort interniert. Zwischen August 1915 und Frühjahr 1918 entließen die russischen Behörden auch 3.529 deutsche Soldaten und 58 Offiziere. Allerdings war der Austausch weitgehend auf Angehörige des Militärs begrenzt; er umfasste darüber hinaus nur wenige Mediziner, Schwestern, Krankenpfleger und Apotheker. Zudem lagen den Beschlüssen der gemischten Ärztekommissionen keineswegs einheitliche Standards zu den Entlassungen zu Grunde. Vielmehr waren die Entscheidungen oft willkürlich.79 Das IKRK entsandte im Oktober 1915 zwei Delegierte in das russische Zarenreich, um dort die Lage der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten zu prüfen. Allerdings blieb die Koordination der Arbeit in Osteuropa zwischen dem Genfer Komitee und den nationalen Rotkreuzgesellschaften unzureichend. Die schwedische Sektion, die im Juni 1915 ein Hilfskomitee für Kriegsgefangene eingerichtet hatte und Gefangenen in Russland im Verlauf des Krieges allein 98.286 Bücher schenkte, trug mit aktiver Unterstützung des Königshauses maßgeblich zur Fürsorge für deutsche, österreichische, bulgarische und türkische Gefangene bei. Insgesamt kümmerten sich im Zarenreich rund achtzig schwedische Delegierte um diese Opfer des Krieges. Zwei Vertreter, die als Helfer in das Zarenreich gesandt worden waren und hier den Gefangenen Sach- und Geldspenden überbrachten, wurden aber der Spionage bezichtigt und exekutiert. Immerhin belief sich die Zahl der über Schweden zurückgeführten Invaliden auf 63.463.80 Zugleich aber behinderte die Rotkreuzgesellschaft des Landes mit nicht abgestimmten humanitären Initiativen die Arbeit des IKRK. So berief die schwedische Regierung 1917 eine Konferenz der nationalen Rotkreuz-Gesellschaften ein, ohne das Genfer Komitee darüber zu informieren. Als grundsätzliches und an79 NA, FO 383/244 (Schreiben vom 31. August 1916). Angaben nach: Rachamimov, POWs, S. 191; Brändström, Prisoners of War, S. 185, 203. Vgl. auch Zens Meinich, Die Hilfstätigkeit des Norwegischen Roten Kreuzes für die Kriegsgefangenen im Weltkriege 1917–1919, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 300–302; Brändström, Das Rote Kreuz, S. 284–286; Underberg (Übers.), Hilfe, S. 295–299; Stibbe, Civilian Internment, S. 244. 80 Angaben nach: Thorsten Wennerström, Die Tätigkeit des Schwedischen Roten Kreuzes für die Kriegsgefangenen, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, S. 191–295, hier: S. 291 f. Vgl. Rudolf Vögl, Die Ermordung des Mag.-Phil. Sven Hedbloms, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 265 f. Auch andere Berichte betonten im Rückblick die humanitäre Mission Schwedens. Vgl. Thorsten Wennerström, Das Schwedische Rote Kreuz in Rußland und Sibirien, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, S. 188–290; Prinz Carl Gustav von Schweden, in: ebd., S. 281 f.

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haltendes Problem erwies sich auch, dass die Sektionen des Roten Kreuzes in den kriegführenden Staaten die Propaganda und Politik ihrer Regierungen unterstützten. Das Deutsche Rote Kreuz, das im Ersten Weltkrieg über rund eine Million Mitglieder verfügte, beschuldigte sogar das IKRK, Kritik der EntenteMächte an der Behandlung von Gefangenen im Kaiserreich ungeprüft aufzunehmen und zu verbreiten.81 Über einen größeren Handlungsspielraum verfügte das britische Joint War Comittee (JWC), dem die Aufsicht über das British Red Cross and Order of St. John oblag. Das JWC, das zumindest formal nicht an die Regierung gebunden war, drängte im Frühjahr 1918 auf die Teilnahme an einer internationalen IKRKKonferenz, die am 30. April in Genf stattfinden sollte. Das Prisoners of War Department im britischen Außenministerium, namentlich Vansittart, lehnte dies ab, da es nicht daran interessiert war, bestehende Regelungen zur Repatriierung zu erweitern und Delegierte der gegnerischen Nationen zu treffen. Auf keinen Fall sollten Vereinbarungen zum Gefangenenaustausch oder sogar Friedensverhandlungen angebahnt werden. Dazu waren vielmehr direkte Gespräche mit den „Mittelmächten“ geplant. Letztlich betrachtete Vansittart das Genfer Komitee als schwach und seine vorangegangenen Tagungen in Kopenhagen, Genf, Bern und Stockholm als wenig effektiv. Demgegenüber galten die Schutzmächte als deutlich durchschlagskräftiger. Das Britische Rote Kreuz beugte sich letztlich der Entscheidung des Foreign Office, wenngleich unter Protest. Nach der Genfer Konvention mussten die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften in den Armeen der kriegführenden Mächte zudem den Einsatz der jeweiligen Sanitätsdienste unterstützen. In vielen Staaten waren die Helfer direkt den Militärabteilungen angeschlossen, die für die Versorgung von Verletzten zuständig waren. Auch daraus ergaben sich Auseinandersetzungen mit dem IKRK. So war die Russische Gesellschaft vom Roten Kreuz im Wesentlichen eine höhere Verwaltungsbehörde, die zwar von der Zarenfamilie unterstützt wurde, aber Gefangenen kaum half. Sogar die Fürsorge für eigene Staatsangehörige blieb begrenzt. Nach dem Umsturz der Bolschewiki fiel das Russische Rote Kreuz als nationale Hilfsorganisation vollends aus.82 Trotz dieser Schwierigkeiten hielt das Genfer Komitee unverdrossen an seinem humanitären Engagement fest, das nicht nur Kriegsgefangenen, sondern auch internierten Zivilisten zugutekam. Sie wurden in beiden Weltkriegen viel-

81 Brändström, Prisoners of War, S. 171, 186–189, 190 (Angabe), 191. Vgl. auch Cotter / Herrmann, Hilfe, S. 249; Moorehead, Dream, S. 202, 208, 231, 237, 243; Best, Humanity, S. 218. 82 NA, FO 383/473 (Schreiben vom 1., 8., 13. und 17. April 1915; Vermerk vom 18. April 1918); FO 383/157, Bl. 136. Vgl. auch Crossland, Britain, S. 31 f.; Wurzer, Die Kriegsgefangenen, S. 46; Little, State.

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fach als Geiseln missbraucht und waren als Gruppe heterogener als Kriegsgefangene, die zudem militärische Hierarchien kannten. Für Zivilinternierte richtete der Arzt Frédéric Ferrière (1848–1924) in der AIPG im Herbst 1914 eine gesonderte Abteilung ein. Dieses „Büro für Zivilgefangene“, das auf der Grundlage der Haager Konvention von 1907 etabliert wurde, leitete Briefe von Zivilinternierten weiter, übermittelte ihnen Unterlagen, erleichterte ihr Leben in den Lagern und ließ nach vermissten Personen suchen. Außerdem wirkte es an der Repatriierung gefangener Frauen, Kinder, Alter und Kranker mit. Die Abteilung konnte wesentliche Verbesserungen der Lebensverhältnisse durchsetzen, unter denen die Zivilinternierten besonders litten. Auch erleichterte sie bilaterale Abkommen, die zivile Feindstaatenangehörige betrafen. So unterzeichnete die deutsche Reichsregierung Abkommen mit Großbritannien und Frankreich, um Frauen, Kinder, Männer im Alter von 55 Jahren und Kranke in ihre Heimat zurückzuführen. Damit konnte rund 6.000 Personen geholfen werden. Auch einigten sich Deutschland, Österreich, Dänemark, Ungarn, Rumänien, Russland, Schweden, die Türkei und die Rotkreuzgesellschaften dieser Staaten in Kopenhagen auf Regelungen zur Internierung in neutralen Ländern, zur Repatriierung, Versorgung und Verpflegung. Ebenso wurden der Nachrichtenaustausch und das Besuchsrecht – besonders durch internationale Delegationen – vereinbart.83 Allerdings begann die Rückführung von Frauen, Kindern und nicht wehrdiensttauglichen Männern in ihre Heimat erst 1917, nachdem sich einzelne kriegführende Regierungen dazu in z. T. umfassenden Abkommen darüber verständigt hatten. Dabei wirkte das Büro zur Repatriierung von Zivilinternierten mit, das im September 1914 vom IKRK in Bern etabliert worden war. Seine Arbeit koordinierte das eidgenössische Militär, das 1917/18 auch für den Transport durch die Schweiz sorgte. Ador selber vermittelte bilaterale Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich, die sich in den beiden Berner Verträgen vom 15. März und 25. April 1918 grundsätzlich bereit erklärten, außer festgelegten Gruppen von Soldaten und Offizieren auch alle verwundeten und kranken Zivilinternierten freizulassen und in ihre Heimat zurückzuführen. Zuvor wurden sie in der Schweiz gepflegt. Das Abkommen untersagte darüber hinaus Deportationen von Bewohnern besetzter Gebiete und die Rekrutierung dieser Gruppen für Zwangsarbeit. Das Genfer Komitee erhob diese bilaterale Übereinkunft zu ei-

83 Brändström, Prisoners of War, S. 204 f. Hierzu und zum Folgenden auch: Riesenberger, Humanität, S. 71–76; Durand, Sarajevo, S. 45–48, 84, 87 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 198; Moorehead, Dream, S. 182, 253; Herrmann / Palmieri, International Committee of the Red Cross; Becker, Oubliés, S. 65, 255, 259; Hull, Destruction, S. 240 f.; Audoin-Rouzeau / Becker 14–18. Understanding the Great War, S. 77. Angabe nach: Janz, 14, 128.

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nem Vorbild für ähnliche Vereinbarungen zwischen den kriegführenden Staaten – zum Ärger der britischen Regierung, die dem französischen Bündnispartner vorwarf, sie übergangen zu haben. Schon im Frühjahr 1917 hatte in London auch der Beschluss der neuen Provisorischen Regierung Russlands, alle Zivilinternierten in ihre Heimatländer zu entlassen, Unverständnis und Kritik ausgelöst. Eine Rückführung von Zivilisten wurde im Ersten Weltkrieg aber nur noch zwischen Österreich-Ungarn und Italien vereinbart. Erst nach dem Vertrag von Brest-Litowsk konnten Deutschland und Österreich-Ungarn im besiegten Russland Fürsorgekommissionen einrichteten, die Gefangene auf ihre Repatriierung vorbereiteten. Auch diese Gremien unterstützten bevorzugt wohlhabende Feindstaatenangehörige mit relativ hohem gesellschaftlichem Status.84 Obwohl dieses Verfahren bereits die Haager Landkriegsordnung verboten hatte, verschleppte die deutsche Besatzungsverwaltung – wie dargestellt – 1916/17 allein 60.000 Belgier in das Kaiserreich, ohne die Appelle des IKRK zum Schutz der Bevölkerung in den besetzten Gebieten zu beachten.85 Weitere Bewohner wurden aus den okkupierten Ostgebieten zwangsverpflichtet. Der erzwungene Kriegseinsatz für den Feind erwies sich als physisch und psychisch besonders belastend. Zudem hatten die deutschen Behörden bereits bei Kriegsbeginn die polnischen Saisonarbeiter festgesetzt, die sich in den östlichen Provinzen Deutschlands aufhielten. Insgesamt verwiesen die Internierungen und Deportationen nicht nur auf die Grenzen humanitären Denkens und Handelns im totalen Ersten Weltkrieg, sondern auch auf den engen Spielraum für das zivilgesellschaftliche Engagement internationaler Hilfsorganisationen. Unter diesen Umständen gelang es dem IKRK keineswegs in allen Fällen, internierten Zivilisten zu helfen. So erhielten die belgischen Zwangsarbeiter in Deutschland bis Ende März 1917 vom Roten Kreuz keine Lebensmittelpakete. Angesichts des ungebrochenen Primats nationalstaatlicher Souveränität und der Abhängigkeit von den Machtverhältnissen im internationalen System blieb der Aktionsradius des IKRK im Ersten Weltkrieg begrenzt. Die nationalen Gesellschaften stellten ihre Regierungen weitgehend in den Dienst ihrer Kriegspolitik, auch in den westlichen Demokratien. In den USA wurde sogar ein Bürger verurteilt, der beschuldigt worden war, nicht genug für das ARC gespendet zu haben, dem 1916 aber nur 31.000 Mitglieder angehörten.86

84 NA, FO 383/472 („Manifeste relatif à l’accord sur le repatriement des prisonniers et des civils“ vom 15. Mai 1918); FEWVRC/MISSIONS/10/1/6/8 (Schreiben vom 15. März 1919). Vgl. auch Wurzer, Die Gefangenen, S. 497, 536 f.; Durand, Sarajevo, S. 86; Barton, Internment, S. 24, und die Eintragung vom 6. April 1917 in: Kinsky, Tagebuch, S. 140. 85 Janz, 14, S. 128. 86 Moorehead, Dream, S. 243.

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Angesichts der nationalistischen Propaganda in allen kriegführenden Staaten rechtfertigte das Genfer Komitee gegenüber den einzelnen Rotkreuz-Gesellschaften seine Aktivitäten keineswegs nur als universalistische humanitäre Mission, sondern auch als Beitrag zur Kriegführung der einzelnen Staaten. Dazu wurden mit den Schwestern auch Frauen eingesetzt, die mütterliche Fürsorge verkörpern sollten. Das Rote Kreuz nahm damit mittelbar an den Kämpfen teil und trug zumindest indirekt zur Militarisierung der Kriegsgesellschaften bei. Diese nationale Rahmung kennzeichnete die humanitäre Hilfe des Genfer Komitees und seiner einzelnen Gesellschaften. Andererseits linderte das Rote Kreuz, das im Ersten Weltkrieg insgesamt drei Millionen Franken für seine Leistungen ausgab, die Not und die Leiden der Gefangenen. Das humanitäre Engagement der internationalen Organisation für Kriegsopfer hielt nach 1918 an. So wurden Missionen von Delegierten und Mitgliedern zu den verbliebenen Gefangenen bis 1920 und Hilfsleistungen sogar bis 1922/23 fortgeführt.87

Die Society of Friends (Quäker) Als weitere humanitäre Nichtregierungsorganisation versuchten die Quäker, die Folgen des Krieges für Soldaten und Zivilisten zu mildern. Auch sie entschieden sich damit für eine pragmatische Politik, die auch eine bewaffnete Verteidigung nicht grundsätzlich und einheitlich ausschloss. Die Society of Friends war trotz des Pazifismus, der in den 1660er Jahren als ein Gründungsimpuls gedient hatte, hinsichtlich ihrer Einstellung zum Krieg gespalten. Mit der fortschreitenden Festigung der Organisation hatte vor allem im 19. Jahrhundert die Integration in die einzelnen nationalen Gesellschaften zugenommen, so in den USA und in Großbritannien. Im Vereinigten Königreich waren 1904 bereits 36 Quäker in das Unterhaus gewählt worden, und im Burenkrieg hatten einige Friends die britischen Truppen in Südafrika unterstützt. Demgegenüber waren andere unter dem Einfluss der Hinwendung zum Liberalismus nach der Konferenz von Manchester (1895) scharf gegen die britische Politik aufgetreten. Vor allem Emily Hobhouse hatte die Bedingungen in den Konzentrationslagern, in denen viele Buren starben, heftig und öffentlich kritisiert. Zudem war von ihr der liberale Oppositionsführer Henry Cambell-Bannermann informiert worden, der daraufhin das rücksichtslose Vorgehen der britischen Truppen in Südafrika in einer Rede am 14. Juni 1901 verdammte.88 87 Hutchinson, Champions, S. 350 f.; Cotter / Herrmann, Hilfe, S. 250; Forsythe, Humanitarians, S. 20 f. Angabe nach: Brückner, Hilfe, S. 131. 88 Hyslop, Invention, S. 252; Stibbe, Civilian Internment, S. 186–189; Kelly, Activity, S. 162.

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1914 schlossen sich in Großbritannien einige Quäker den Pazifisten in der Union of Democratic Control und der No-Conscription Fellowship an. Zudem gründeten sie Friedensgesellschaften wie die Fellowship of Reconciliation, die einen kompromisslosen Pazifismus vertrat. Dagegen rechtfertigten jedoch andere Friends den Krieg als legitime Reaktion auf den Überfall Deutschlands auf Belgien. Diese Quäker beriefen sich dabei auf ihr Gewissen nach der Lehre von der „inneren Erleuchtung“, die nach ihrer Auffassung mit einem grundsätzlichen Pazifismus unvereinbar war. Im Ersten Weltkrieg erreichte die patriotische Unterstützung des Krieges unter den Friends nach der Versenkung der Lusitania im Frühsommer 1915 ihren Höhepunkt. Viele von ihnen meldeten sich freiwillig zum Waffendienst. Andere unterstützten die neugebildete Friends’ Ambulance Unit, die an den Fronten Verwundete versorgte und dabei eng an das britische Militär gebunden war. Die Einführung der Wehrpflicht, die als staatlicher Zwang abgelehnt wurde, verlieh den Kriegsgegnern unter den Quäkern im darauffolgenden Jahr zwar kräftig Auftrieb, stärkte aber auch ihre Widersacher, die der Society of Friends pauschal Patriotismus absprachen.89 Damit ignorierten diese Kritiker, dass viele bekannte Quäker in ihren Einstellungen zum Krieg bis 1918 – und auch noch in den Jahren von 1939 bis 1945 – innerlich zerrissen blieben. Der Gegensatz zwischen den beiden Gruppen in der Society of Friends trennte sogar Familien wie die Schokoladendynastie Rowntree in York.90 Unumstritten war dagegen unter den Quäkern die Hilfe für Opfer von Kriegen. Bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert, als Napoleon die europäischen Großmächte in blutigen Schlachten besiegte, hatten die Friends Opfer von Kriegen unterstützt. Mit der Gründung des War Victims’ Relief Committee (VRC) zu Beginn des Ersten Weltkrieges setzten sie diese Tradition fort. Zugleich professionalisierte und systematisierte die neue Kommission die humanitäre Arbeit der Quäker. Darüber hinaus bildeten Pazifisten – besonders Sophia Sturge (1849–1936) und Stephen Hobhouse (1881–1961) – das Friends Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians, Hungarians and Turks in Distress, zunächst um die Neutralität Großbritanniens sicherzustellen. Die Organisation beruhte auf der Society of Friends of Foreigners in Distress, die bereits 89 David Rubinstein, Modern Warfare 1899–1945, in: ders., Essays, S. 95, 98, 102, 105–107, 110; ders., Quakers, S. 135, 143. 90 Während Benjamin Seebohm Rowntree dem Kriegskabinett unter Lloyd George im Munitions- und Wiederaufbauministerium diente, verbrachte Maurice 25 Monate im Gefängnis, weil er sich weigerte, seine Arbeit als Lehrer in einer Quäker-Siedlung zugunsten einer anderen Beschäftigung zu verlassen, welche die für ihn zuständige Wehrerfassungsstelle als kriegswichtiger eingestuft hatte. Vgl. David Rubinstein, The Rowntree Family and War 1914–1918, in: ders., Essays, S. 147–191, hier: S. 158 f., 188 f. Zu den Kontroversen über die Wehrpflicht auch: Kelly, Activity, S. 162 f.

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1806 etabliert worden war. Nach dem Eintritt des Vereinigten Königreiches in den Krieg sollte das FEC das Leben festgesetzter Feindstaatenausländer in Großbritannien erleichtern. Die Arbeit dieser Hilfskomitees wurde im Gebäude der Quäker in London, dem St. Stephen’s House, koordiniert. Bis zum Umzug der Friends in die Great Smith Street im September 1917 arbeiteten hier die verschiedenen Kommissionen. Auch trafen sich in dem Gebäude bedürftige Kriegsopfer, darunter stigmatisierte enemy aliens und Angehörige von bereits Internierten. Insgesamt entwickelte die karitative Fürsorge im Ersten Weltkrieg unter den Quäkern gerade angesichts der internen Konflikte eine beträchtliche Integrationskraft.91 Grundlegend für die Arbeit des FEC war eine humanitär-religiöse Motivation im Zeichen einer „consciousness of human fellowship“ und eines „spirit of love and helpfulness“.92 Daneben fällt in den öffentlichen Selbstdarstellungen eine Viktimisierung der Feindstaatenangehörigen auf, deren Opferrolle u. a. in den Jahresberichten des Komitees betont wurde. So hob das FEC im Sommer 1918 in einer religiös grundierten und metaphorischen Sprache hervor: „Our ‚alien enemies‘, outcasts, through no fault of their own, in the country where they had made their homes, have for over four years been tossed about like desolate wreckage upon the ocean of war.“93 Besonders entschieden wandte sich das Committee gegen den radikalen Ausschluss der oft dämonisierten Feindstaatenangehörigen aus der britischen Gesellschaft: „The enemy in our midst was more than ‚the enemy‘: he was ‚our enemy‘. The relationship existed, it remained for us to turn it to good account.“94 Jedoch verschärften die enormen Herausforderungen des Ersten Weltkrieges die Spannung zwischen individueller Hilfe (nach den Wünschen der Mäzene) und einer Konzentration der Mittel auf besonders bedürftige Gruppen und Nationen. Das FEC half grundsätzlich allen Feindstaatenangehörigen, die sich in Not befanden. Dem Exekutivkomitee der Organisation gehörten prominente Quäker wie Stephen Hobhouse, Ruth Fry (1878–1962) und Anna Braithwaite 91 Sixth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1918, S. 3, in: LSF, FEWVRC/ EME/4/1. Allgemein: Rubinstein, Quakers, S. 134; Kelly, Activity, S. 24, 163. 92 Seventh Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1919, S. 2, in: LSF, FEWVRC/ EME/4/1. 93 Sixth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1918, S. 1, in: LSF, FEWVRC/ EME/4/1. 94 Sixth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1918, S. 2, in: LSF, FEWVRC/ EME/4/1 (kursiv gesetzte Wörter im Original fett gedruckt).

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Thomas (1854–1947) an. Die Kommission, die bis Ende November 1914 Spenden in Höhe 5.570 Pfund und mehr als 2.800 Hilfsgesuche erhielt, unterstützte im Ersten Weltkrieg allein in London 6.800 enemy aliens. Schon bis Juni 1915 hatte das Komitee 3.250 Anträge auf Unterstützung bearbeitet, von denen die meisten bewilligt wurden. Außerhalb der britischen Hauptstadt nahmen 17 lokale Komitees, die u. a. in Liverpool, Manchester, Leeds und Birmingham arbeiteten, Hilfsgesuche auf. Ein Gebäude, das die Quäker im Norden Londons einrichteten, wurde zur Unterkunft für zivile Feindstaatenangehörige, denen ihre Vermieter unter dem gesellschaftlichen Druck der Kriegspropaganda gekündigt hatten. Ebenso protestierte das Emergency Committee im Schriftverkehr mit Regierungsvertretern wiederholt gegen willkürliche Verhaftungen ziviler enemy aliens, so 1915 und 1918 in London. Quäker untersuchten zudem kostenlos Feindstaatengehörige, die bei den Behörden beantragt hatten, sie aus medizinischen Gründen von der Internierung zu verschonen.95 Angesichts des Ausmaßes der Not musste die Hilfe der Quäker aber begrenzt und selektiv bleiben. Erst als der Druck auf die enemy aliens nach dem Waffenstillstand abnahm, ging die Zahl der Anträge auf Hilfsleistungen durch die Quäker schrittweise zurück. Das FEC bemühte sich nun verstärkt, die Entlassung der von den Siegermächten als Verhandlungsobjekte zurückgehaltenen Internierten zu erwirken. Zudem sollten die Härten der Zwangsrepatriierung für die Betroffenen gemildert werden. Auch durfte das Emergency Committee ab Mai 1919 mit Zustimmung des britischen Kriegsministeriums Versorgungspakete an Bedürftige in Mitteleuropa senden. Hier litten große Bevölkerungsgruppen unter dem allgemeinen Mangel, den die von der Regierung aufrecht erhaltene Blockade verstärkt hatte. Dieses neue Tätigkeitsfeld sollte die Arbeit der Quäker noch in den 1920er und 1930er Jahren nachhaltig prägen. Federführend wurde dabei das neue Friends’ Emergency and War Victims’ Relief Committee.96 Die rund 20.000 enemy aliens, die bis Juni 1915 in Großbritannien interniert worden waren, erhielten von den Quäkern u. a. Bücher, Musikinstrumente und Werkzeuge. Damit konnten in den Lagern die verschiedenen Komitees, mit de95 Third Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1915 (S. 2–8, 15); Fourth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1916 (S. 3) und Fifth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1917 (S. 3), alle in: LSF, FEWVRC/EME/4/1. Vgl. auch Kelly, Activity, S. 16, 163. 96 Seventh Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1919, S. 3 f., 8 f., 9–12, in: LSF, FEWVRC/EME/4/1. Zum Hintergrund: Kelly, Activity, S. 14.

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nen die Internierten ihre Aktivitäten organisierten, unterstützt werden.97 Für die Lagerbesuche musste die Society of Friends beim Kriegs- bzw. Innenministerium allerdings Inspektoren benennen. Dabei traten wiederholt Konflikt auf, da Ministerialbeamte im Prisoner of War Department des Kriegsministeriums die Besichtigungen als Kontrolle wahrnahmen und sie einzuschränken suchten. So sollten die Quäker im Herbst 1915 neue Ausweise beantragen, die ihre Vertreter nur noch zu wenigen Besuchen berechtigten. Das War Office bestrafte auch Regelverletzungen durch die Inspektoren, deren Rolle bei der Organisation von Fortbildungskursen und Vorlesungen ohnehin mit Argusargen beobachtet wurde. Die führenden Vertreter des FEC begründeten ihre humanitären Aktivitäten deshalb gleichfalls utilitaristisch. Zudem versuchten sie, die Regierungsbeamten einzubinden und sie mit pragmatischen Argumenten für die Arbeit der Organisation zu gewinnen.98 Obgleich die Inspektoren offiziell vorrangig zwischen den Internierten, ihren Familien und ihrem früheren Lebensumfeld vermitteln und Arbeit in den Lagern organisieren sollten, kritisierten sie schon ab 1915 auch die Lebensbedingungen in einzelnen Camps, besonders denjenigen in Lancaster und Newbury. Trotz der Einwände und Widerstände waren die Lagerbesichtigungen grundsätzlich unumstritten. Die Befunde wurden in z. T. ausführlichen Berichten und Photographien dokumentiert.99 Das Augenmerk der Inspektoren galt außer der Versorgung mit alltäglichen Bedarfsgütern, den hygienischen Bedingungen, der Sauberkeit und Krankheiten besonders dem Verhältnis zwischen den Gefangenen und den jeweiligen Kommandanten, der Stimmung unter den Internierten und den Reaktionen auf die eigenen Hilfsleistungen. Deutlich registrierten die Vertreter der Society of Friends die Hoffnung vieler Lagerinsassen auf Freilassung und Repatriierung. Auch die unterschiedlichen Einstellungen der einzelnen Kommandanten zu ihrer Arbeit im Verhältnis von Sicherheit und Freiheit und zu den Internierten wurden aufmerksam aufgezeichnet. Darüber hinaus unterstützten die inspizierenden Quäker die Aktivitäten anderer humanitärer Organisationen wie die Bildungs- und Erziehungsveranstaltungen, die in den Baracken des YMCA stattfanden, und das karitative Engagement der Markel-Komitees. Ebenso eingehend dokumentierten die Beobachter die Besuche von Diplomaten der eidgenössischen Schutzmacht für die deutschen Internierten.100 97 Dazu beispielhaft für Knockaloe: FO 383/163, Bl. 154. 98 Schreiben vom 8. Oktober, 24. November und 2. Dezember 1915 sowie vom 12. Januar 1916 in: LSF, FEWVRC/EME/6/1/2. Zu den Protesten u. a. die Schreiben vom 1. März 1915 und 9. April 1918 in: LSF, FEWVRC/EME/1/2/2. 99 Vgl. LSF, FEWVRC/EME/6/4/9; FEWVRC/PICS/10/5. 100 LSF, FEWVRC/EME/6/3/5 („Camp Visitors’ Reports“). Dazu viele Berichte in: LSF, FEWVRC/EME/6/3/1-12; FEWVRC/EME/6/4/4.

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Als Anfang 1915 deutlich wurde, dass die britische Regierung für die Internierten nur wenige Beschäftigungsangebote eingerichtet und damit zu der lähmenden Langeweile in den Lagern beigetragen hatte, förderte das FEC im Vereinigten Königreich nachhaltig ein breites Spektrum von Aktivitäten. So unterstützte der Verband die Arbeit der Handwerker unter den Internierten in den Industrial Committees und Ausstellungen der Waren, die Lagerinsassen hergestellt hatten. Dafür wurden mit Zustimmung des Kriegsministeriums Instrukteure (Industrial Advisers) abgestellt, die den Insassen der Camps spezielle Kenntnisse vermittelten, so zum Tischlern. Auch andere Beschäftigungsinitiativen, die im Allgemeinen von den Internierten selber ausgingen, wurden gefördert. Dazu werteten die Quäker Lagerzeitungen und andere Veröffentlichungen der Lagerinsassen wie Vorlesungsverzeichnisse von eigens eingerichteten Gefangenenuniversitäten und Jahresberichte literarisch-wissenschaftlicher Vereine aus.101 Die Spannbreite der geprüften und dokumentierten Aktivitäten zeigt exemplarisch ein Bericht über das Internierungslager im schottischen Stobs vom 5. Oktober 1916: The men in the Industrial Committee had got together a very creditable exhibition of things made in the Camps. […] The monotony of diet, especially for those with weak digestions is terrible […]. There are some classes held in the Y. M. C. A. hut but they are not able to have all there. […] The Commandant is very good in encouraging the keeping of pets, and the dogs, cats, rabbits, and birds help to while away many a weary hour.102

Die Inspekteure der Society of Friends dokumentierten und unterstützten diese diversen Aspekte des Lagerlebens nicht nur, sondern unterbreiteten der britischen Regierung auch konkrete Verbesserungsvorschläge, die vorrangig auf den Berichten basierten. Darüber hinaus nahm das FEC eine Vielzahl von Anfragen von Internierten und ihren Angehörigen auf, zu denen Case Papers angelegt wurden. Die Spannbreite reichte dabei von Nachrichten über Ereignisse des persönlichen Lebens über eine Unterstützung für Familienangehörige und die

101 LSF, FEWVRC/EME/6/4/2; FEWVRC/EME/6/4/5-7; FEWVRC/EME/6/3/5 („Camp Visitors’ Reports“, S. 1–3); NA, FO 383/106 (Schreiben vom 27. Februar 1915). Dazu auch: Third Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Half-Year Ending June 30th, 1915 (S. 10 f.) und der Fourth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1916, S. 5 f., beide in: LSF, FEWVRC/EME/4/1. 102 LSF, FEWVRC/EME/6/3/5 (Camp Visitors’ Reports, Stobs Camp, 5. Oktober 1916). Zu den Aktivitäten die Broschüren „The Work of the Friends’ Emergency Committee” und „A Day at St. Stephen’s House“ in LSF, FEWVRC/PAM/2/1 sowie „Die ‚Gesellschaft der Freunde‘“ in: FEWVRC/EME/1/2/4.

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Lieferung gewünschter Waren bis zu finanziellen Fragen wie Schuldentilgung und Darlehen.103 So besuchte ein Quäker im Januar 1917 im Lager Alexandra Palace den in Großbritannien eingebürgerten internierten Otto Wust, der sich um den Gesundheitszustand seiner Ehefrau sorgte. Daraufhin korrespondierte die Society of Friends mit dem Krankenhaus – auch noch über das Kriegsende hinaus – und der Botschaft der USA. Ebenso kümmerte sie sich um die finanziellen Angelegenheiten des Internierten. Otto Wust wurde gebeten, aufmunternde Briefe an seine Frau zu schreiben. Jedoch lehnte der Kommandant des Lagers Alexandra Palace seinen Antrag ab, seine Frau im Krankenhaus unter Bewachung durch eine Eskorte von Soldaten verlassen zu dürfen.104 Auch die Fürsorge für einen Deutschen, der im Lager Knockaloe auf der Insel Man festgehalten wurde und um Kontakt zu seinem früheren Vermieter bat, steht beispielhaft für das karitative Engagement der Quäker zugunsten bedürftiger Zivilinternierter und ihrer Angehörigen. Ebenso regelte das Komitee wirtschaftliche Beziehungen einzelner Gefangener, so ungeklärte Patente. Notverkäufe infolge der Internierung sollten verhindert werden.105 Außerhalb der Camps sorgte das FEC besonders für schwangere Frauen von inhaftierten Männern und junge Mütter. Dafür gewann sie Spenden wohltätiger Geldgeber, von denen einige auch für besondere Feste gaben, so sechs Pence bis einen Schilling pro Kopf, um in den Lagern kleine Weihnachtsfeiern zu ermöglichen. Besonders die deutschen Internierten konnten damit ihre emotionale Bindung an die Heimat stärken, denn Weihnachten symbolisierte für sie die deutsche „Kultur“, die sie allerdings oft einseitig positiv von der westlichen „Zivilisation“ abhoben. Damit reproduzierten sie letztlich die Kriegspropaganda des Kaiserreichs.106 Bei den Sammlungen suchte das Committee die Unterstützung von Bekannten und ehemaligen Arbeitgebern der betroffenen Internierten. Zudem kooperierte es oft mit anderen Hilfsorganisationen wie Markels Prisoners of War Relief Agency, der YMCA, dem Austro-Hungarian Relief Committee, der US-amerikani103 Vgl. dazu die Anfragen in LSF, FEWVRC/EME/4/1. Ebenso Fifth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1917, S. 8 f. (FEWVRC/EME/4/1). 104 Schreiben vom 24. Januar 1916 in: LSF, FEWVRC/EME/5/27/1 (Case Papers, Wust); Brief vom 14. September 1916 in: LSF, FEWVRC/EME/5/27/3 (Case Papers, Wust). 105 Vgl. die Briefe vom 10. Dezember 1914 und 7. Januar 1915 und das undatierte Schreiben des FEC in: LSF, FEWVRC/EME/5/26 (Case Papers, von Mumm). 106 Kewley Draskau, „Heimat“, S. 100; dies., Kulturkrieg, S. 208–217. Angaben nach: Braithwaite Thomas u. a. (Hg.), St. Stephen’s House, S. 12, 65. Vgl. auch Ormerod Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 165, 180, 215–218.

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schen Schutzmacht (bis April 1917) und den Local Government Boards (LGB), die in England und Wales bis 1919 für die Wohlfahrtsfürsorge zuständig waren.107 Die LGB unterstützten auch internierte Feindstaatenangehörige. Für sie hatten die Regierungen Deutschlands bzw. Österreich-Ungarns zu Beginn des Krieges 10.000 bzw. 5.000 Pfund bereitgestellt. Diese Summen waren aber völlig unzureichend, und die LGB kürzten deshalb laufend ihre Ausgaben für britische Frauen deutscher, österreichischer, ungarischer und türkischer Internierter. Angesichts der radikalen Agitation britischer Nationalisten sollte damit nicht zuletzt der Eindruck vermieden werden, dass die Regierung die enemy aliens begünstigte. Auch Aufträge an Frauen, die Uniformen für britische Soldaten herstellen konnten, linderten die Not der Hinterbliebenen kaum.108 Wichtig für die Society of Friends waren ebenso Gespräche mit der Regierung, besonders dem Innenministerium, und den Verwaltungsbehörden. So baten Vertreter der Quäker Minister des Kriegskabinetts wiederholt, für eine menschenwürdige Behandlung der Internierten zu sorgen und die Lebensbedingungen in den oft überbelegten Lagern zu verbessern. Dazu wurden gezielt einzelne Inspektionen durchgeführt, die aus der Sicht der Friends der Kontrolle, aber aus der Perspektive der Regierung vorrangig der Kriegspropaganda dienen sollten, in der die humanitäre Politik Großbritanniens betont wurde. Auch die Argumentation, dass die Besichtigungen Druck auf die Regierungen der gegnerischen Staaten ausüben und damit das Leiden britischer Internierter in diesen Ländern verringern würden, traf bei vielen Regierungspolitikern auf Resonanz.109 So konnten wiederholt Einschränkungen bei den Inspektionen gelockert oder aufgehoben werden. Zudem gelang es dem FEC, Erleichterungen für britische Ehefrauen von Internierten zu erwirken, vor allem im Austausch mit Vertretern der Local Government Boards, die für die Auszahlung von Unterstützungsleistungen an diese Gruppe zuständig waren, wenn der Ehemann vor der Internierung gearbeitet hatte. Demgegenüber erhielten deutsche Frauen bis 1917 über die US-Botschaft deutliche geringere Hilfsgelder.110 107 Third Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Half-Year Ending June 30th, 1915 (S. 9 f.), in: LSF, FEWVRC/EME/4/1; FEWVRC/EME/6/3/5 („Camp Visitors’ Reports“, S. 6). 108 Panayi, Enemy, S. 260 f. 109 LSF, FEWVRC/EME/6/3/5 („Camp Visitors’ Reports“). 110 Sie bekamen wöchentlich vom Staat fünf Schillinge, während britische Frauen, die mit Deutschen verheiratet waren, mit zwölf Schillingen unterstützt wurden. Vgl. den „Bericht der Herren Ed. Naville und B. van Berchem vom Internationalem Komitee vom Roten Kreuz in Genf über die Besichtigung von Gefangenenlagern in England“ vom Januar 1915 in: NA, FO 383/106. Dazu auch LSF, FEWVRC/EME/1/2/2 (Briefe vom 1. März und 9. April 1915); FEWVRC/EME/1/2/4

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Die britische Regierung lehnte zwar Vorschläge der Quäker ab, die festgenommen enemy aliens in Lager in der Nähe der Wohnorte ihrer Angehörigen zu verlegen. Jedoch war das Home Office an der karitativen Arbeit des Komitees interessiert, dessen Aktivitäten staatliche Behörden entlasten sollten. So forderte McKenna führende Repräsentanten des Friends Emergency Committee in Gesprächen schon Ende 1914 und Anfang 1915 auf, zusammen mit den Poor Law Guardians Bedürftigen Hilfsleistungen zur Verfügung stellten und für die Frauen und Kinder von Internierten zu sorgen. Darüber hinaus begrüßte das Innenministerium Initiativen der Quäker, die Lagerinsassen mit Arbeit zu versorgen und sie dafür anzulernen. Damit sollte in den Camps Unruhe vermieden werden. Insgesamt wurden in den offiziellen Unterredungen mit Regierungsvertretern gemeinsame Interessen gesucht, um einer zweckgebundenen Zusammenarbeit ein festes Fundament zu verleihen.111 Nicht zuletzt unterstützte das FEC Anträge auf Repatriierung, die in den ersten Kriegsmonaten auf freiwilliger Basis erfolgte. Erst anschließend begannen die Zwangsausweisungen ziviler Feindstaatenangehöriger, die noch nicht interniert worden waren. Dabei bemühte sich das FEC um Ausnahmen, so für in Deutschland geborene Frauen, die schon lange im Vereinigten Königreich lebten. Umgekehrt beantragten enemy aliens, die bereits in Lagern litten, mit Hilfe des Komitees eine Freilassung und Rückkehr in ihre Heimat. Nach dem Abkommen, das Deutschland und das Vereinigte Königreich im Juli 1917 in Den Haag abschlossen, wirkten die Friends an der Rückführung von Frauen, Kindern und älteren Männern mit, deren Repatriierung vereinbart worden war. Dabei waren erstmals auch psychisch kranke Lagerinsassen als zivile Kriegsopfer anerkannt. Aber auch Anträge verbliebener Internierter, die das Abkommen nicht erfasste, wurden aufgenommen. So befürworteten die Quäker im September 1918 das Gesuch eines Managers der Firma Siemens, der bis zum Ersten Weltkrieg in der Londoner Filiale des Unternehmens gearbeitet hatte und wegen seines schlechten Gesundheitszustands bat, ihn aus dem Lager Lofthouse Park zu entlassen

(Schreiben vom 20. Juli, 24. und 25. September 1915 sowie Interview vom 12. Oktober 1915); Fourth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1916, S. 2; Fifth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1917, S. 4, und Sixth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1918, S. 3, alle in: LSF, FEWVRC/EME/4/1. 111 LSF, FEWVRC/EME/6/1/1 (Protokolle von Gesprächen vom 18. November, 4. und 31. Dezember 1914 sowie vom 11 Januar, 19. und 28. Mai und 5. September 1915); LSF, FEWVRC/EME/ 6/1/4 (Protokoll vom 15. Oktober 1915 und Brief vom 25. September 1918); LSF, FEWVRC/EME/ 6/1/3 (Briefe vom 16. und 19. Februar sowie vom 3. Juli 1916).

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und nach Deutschland zurückzuführen. Nach dem Waffenstillstand forderte das FEC die britische Regierung schließlich – zunächst weitgehend erfolglos – auf, die Internierten unverzüglich zu entlassen oder ihnen zumindest Erleichterungen zu gewähren. Nicht zuletzt drängte das Emergency Committee auf den Schutz von Eigentum, das internierte oder ausgebürgerte Feindstaatenangehörige hinterlassen hatten.112 Die wirtschaftlichen Aktivitäten des FEC sind gesondert zu betrachten. Das Komitee richtete in den Lagern Werkstätten ein, um die Internierten zu beschäftigen und die belastende Langeweile zu überwinden. Ab 1915 stand dafür im Camp Knockaloe sogar eine eigene Friends’ Emergency Committee Hut zur Verfügung, in der drei Internierte arbeiteten. Außerdem stellten die Quäker Materialien wie Holz. Mit handwerklicher Arbeit sollte in den Lagern die Disziplin erhöht werden – ein Argument, das vor allem im Kriegsministerium durchaus auf Resonanz traf. Viele Erzeugnisse der Internierten wurden anderen Kriegsopfern zur Verfügung gestellt. So erhielt das Friends’ Committee for the Relief of War Victims allein vom März 1915 bis Juni 1916 2.647 Männerhosen und 5.230 Kleidungsstücke für Frauen und Kinder. Auch vermittelte das FEC regelmäßig Aufträge von Unternehmern und Privatpersonen, die aber wegen des gesellschaftlichen Drucks Internierte nur zurückhaltend mit Arbeit beauftragten. Dennoch konnten viele Erzeugnisse in Großbritannien verkauft werden. Bis 1917 stand auch der amerikanische Markt zur Verfügung. Anschließend fanden Produkte der Zivilinternierten vor allem in Schweden Käufer. Besonders nachdrücklich begrüßten Regierungsvertreter Initiativen der Quäker, wieder aufgebaute Häuser in zerstörten Regionen Frankreichs mit gespendeten Möbeln auszustatten, die in Internierungslagern angefertigt worden waren. Dagegen lehnte das Kriegsministerium einen Vorschlag des FEC ab, Produkte deutscher Internierter, die sich in britischem Gewahrsam befanden, im Kaiserreich zu verkaufen, und Erzeugnisse britischer Insassen deutscher Lager im Vereinigten Königreich zu veräußern.113 Dennoch war die ökonomische Unterstützung beträchtlich. Dafür

112 LSF, FEWVRC/EME/6/1/4 (Briefe vom 9. May und 24. Mai 1919); FEWVRC/EME/6/3/11 (Bericht über die Inspektion vom 2. September 1918); FEWVRC/EME/6/1/1 (Protokolle von Gesprächen am 19. und 28. Mai 1915); FEWVRC/EME/4/1 (Fifth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1917, S. 6). Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 214. 113 Angaben nach: LSF, FEWVRC/EME/4/1 (Fourth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1916, S. 8). Vgl. auch LSF, FEWVRC/EME/6/1/4 (Protokoll vom 16. November 1917); FEWVRC/EME/6/1/2 (Schreiben vom 12. Januar 1916); NA, HO 215/334 (Memorandum „Employment of Prisoners of War & Enemy Aliens“); Litschmann, Y. M. C.A, S. 320.

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dankten Kommandanten und Internierte den Quäkern in zahlreichen Briefen, die St. Stephen’s House erreichten.114 Die Zentrale, die für Aufträge an Zivilinternierte und die Verteilung ihrer Erzeugnisse zuständig war, beschaffte Rohstoffe, mit denen Lagerinsassen zunächst oft Proben anfertigten. Anschließend übernahmen Kommissionen in den Lagern – so das Arts and Handicrafts Committee in Alexandra Palace – Aufträge für Produkte wie Kleidungsstücke, Schuhe und Möbel. Im Lager Shrewsbury (Shropshire) stellten 411 Kriegsgefangene und sieben Zivilinternierte im März 1916 u. a. aus Holz Schachfiguren und Kästen her. Die Waren wurden im Auftrag der Quäker z. T. auf Bestellung (so von wohlhabenden Philanthropen wie dem deutsch-britischen Bankier Bruno von Schröder) hergestellt und meist direkt in den Lagern verkauft. Damit sollten Internierte beschäftigt werden, so dass die „Stacheldrahtkrankheit“ verhindert werden konnte. Darauf drängte im FEC vor allem dessen Geschäftsführer, William H. Hughes. Auch die finanzielle Abwicklung der Geschäfte lag in der Hand der Friends, die damit zugleich sicherstellen mussten, dass private Unternehmen nicht verdrängt wurden. In Ausstellungen, an deren Organisation vielerorts der YMCA mitwirkte, wurde das breite Spektrum von Erzeugnissen in den Lagern gezeigt. Der Handel war für die Beschäftigung der Internierten wichtig; sein Ausmaß blieb aber eng begrenzt, zumal der Absatz wiederholt stockte. Zudem erfolgten die Zahlungen des FEC an die Arbeitskommissionen, die sich in den Internierungslagern gebildet hatten, vielfach spät. Dennoch erregten die Geschäfte im Vereinigten Königreich den Zorn von Gewerkschaftern und Nationalisten. Sie warfen den Quäkern vor, die internierten enemy aliens zu verhätscheln. Dabei mobilisierten sie populistische Ressentiments gegen wohlhabende Eliten.115 Einzelne Gruppen des FEC stellten auch selber Waren für Gefangene her. So produzierte eine Unterkommission, die siebzig Frauen und 17 Männer beschäftigte, Kleidung für Kriegsopfer in Holland, Frankreich und Serbien. Überdies unterhielt das FEC Landheime für Kinder von enemy aliens, die ab August 1915 in einem Haus in Willesden (im Norden Londons) untergebracht wurden. Seit 1917 stand auch Müttern eine Erholungseinrichtung zur Verfügung. Eine Reiseabteilung beriet deutsche, österreichische und ungarische Frauen und Kinder, die in ihre Heimat zurückkehren wollten (und konnten). Ortsgruppen des FEC 114 LSF, FEWVRC/EME/6/2/1 (Brief vom 15. Januar 1918). Beispiele in: LSF, FEWVRC/EME/6/ 4/3. 115 LSF, FEWVRC/EME/6/1/2 (Briefe vom 8. Oktober und 10. November 1915; FEWVRC/EME/ 6/3/5 („Camp Visitors’ Reports“, S. 1 f.); United States, Embassy / Boylston A. Beal, Reports, S. 6. Vgl. auch die Korrespondenz des Lehrers und Predigers James Baily (LSF, FEWVRC/EME/ 6/2/1-5). Dazu ebenso Cresswell (Hg.), Living with the Wire, S. 23; Stibbe, Civilian Internment, S. 20.

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wurden in zahlreichen Städten gegründet. Wie dargelegt, unterstützten die Quäker die Rückführung von gefangenen Zivilisten in ihre Heimatländer, so 1916 den Transport von französischen Zivilisten über die Schweiz. Darüber hinaus wirkten die Friends bei der Repatriierung von Frauen und Kindern mit, nicht zuletzt um die Familienzusammenführung zu fördern. Dabei nutzte die Organisation ihr breites Netz von Kontaktpersonen im ganzen Land und ihre Unterlagen, die bis 1918 rund 6.000 einzelne Fälle umfassten. Zudem kooperierte das FEC eng mit dem britischen Innenministerium und den untergeordneten staatlichen Behörden, deren Kontrolle sie unterworfen war. Auch alle Publikationen mussten von der Zensurbehörde freigegeben werden.116 Wie bereits angedeutet, engagierten sich die Quäker im Ersten Weltkrieg keineswegs nur im Vereinigten Königreich für die Kriegsopfer, sondern auch in vielen anderen Staaten wie in den USA. Hier halfen sie u. a. Wehrdienstverweigerern, die sich nicht direkt am Kampf beteiligten Einheiten wie der Friends Ambulance Unit oder dem Friends War Victim Relief Committee (VRC) anschließen konnten. Das American Friends Service Committee (AFSC), das nach dem Eintritt der USA in den Krieg gegründet wurde, war zwar eng mit pazifistischen Verbänden verwoben, betonte aber seine praktische und technische Hilfe, um die Politik der US-Administration unter Präsident Woodrow Wilson auch im Krieg beeinflussen zu können. Es erreichte damit, dass der Kongress und die amerikanischen Militärs nach hartem Widerstand schließlich dem Einsatz von Angehörigen des AFSC für humanitäre Aufgaben an der Front in Frankreich und Belgien zustimmten.117 Schon im Oktober 1914 hatten die Society of Friends eine Ambulanzeinheit an die Front in Belgien und Frankreich entsandt, die unter den Quäkern wegen der Nähe zum Militär aber umstritten war. Sie arbeitete auf dem westeuropäischen Kriegsschauplatz eng mit dem Britischen Roten Kreuz zusammen. Auch schickten die Friends ab Juni 1915 Helfer in die Lager, die in den Niederlanden vor allem für geflohene Belgier eingerichtet worden waren.118 Dafür belebten die Quäker das War Victims Relief Committee, das schon im preußisch-französischen Krieg 1870/71 Kriegsopfern geholfen hatte. Vor allem die Generalsekretärin des VRC, Ruth Fry, setzte sich energisch für den Bau von Unterkünften für Belgier ein, die in die Niederlande geflohen waren ein. So entstanden hier „bel-

116 Dazu z. B. der Brief vom 7. Juli 1915 in: LSF, FEWVRC/EME/4/1. Vgl. auch Fourth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1916, S. 9 f. (LSF, FEWVRC/EME/4/1). 117 Lynch, Peace Movements, S. 204. 118 LSF, FEWVRC/MISSIONS/9/3/6 (Briefe vom 2. April 1915 und 4. Oktober 1916). Vgl. auch Wilson, Margins, S. 5 f.

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gische Dörfer“.119 Darüber hinaus sammelte das VRC Spenden, die gelegentlich auch in anderen Staaten (wie Frankreich und Dänemark) gebildete Hilfskomitees für den Wiederaufbau in Belgien überwiesen.120 Für die Verwaltung der Arbeit in Holland wurde ein Gebäude der ARA in Rotterdam gemietet, und die Rockefeller Foundation unterstützte das Programm bis 1916.121 Darüber hinaus engagierten sich die Quäker im russischen Zarenreich, wo sie sich schon 1891/92 und 1907 bemüht hatten, den akuten Hunger zu lindern. Sie leiteten die Sammlung von Spenden des British Relief Funds zugunsten der Notleidenden. Auch unterstützten die Quäker die 1890 gegründete amerikanisch-britische Society of Friends of Russian Freedom unter Leitung des Quäkers Robert Spence Watson (1837–1911) in Russland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die liberale Opposition. Darüber hinaus halfen sie der Religionsgemeinschaft der Duchoborzen, einer Sekte, die im Zarenreich ein spirituelles Christentum vertraten. Ebenso wie die Quäker traten die Duchoborzen für Gewissensfreiheit und Solidarität ein. 1895 verbrannten sie Waffen, um gegen die 1874 eingeführte Wehrpflicht zu demonstrieren. Zusammen mit Leo Tolstoi (1828–1910) initiierten die Quäker eine internationale Kampagne, die öffentliche Aufmerksamkeit für die Unterdrückung der Duchoborzen weckte. Außerdem wurden Spenden gesammelt, um deren Umsiedlung zu finanzieren. Hinter dem öffentlich bekundeten Selbstverständnis als „unpolitische“ Organisation verbarg sich nicht nur eine humanitäre Mission, sondern auch eine liberale Programmatik.122 Im Ersten Weltkrieg richteten die Quäker im Frühjahr 1916 im russischen Zarenreich eine Nothilfe für die Flüchtlinge ein, die während des Rückzuges der Armee im vorangegangenen Jahr vor den vordringenden deutschen und österreichischen Armeen geflohen waren. Sie hatte die russische Militärführung, die eine Strategie der „verbrannten Erde“ verfolgte, oft in weit entfernte Gebiete wie die Wolgaregion, Turkestan und Sibirien deportiert. Nach der Februarrevolution flankierten in Russland die staatlichen Behörden diese Unterstützung der Friends, die aber vor allem mit örtlichen Semstwa zusammenarbeiteten. So wies ihnen das Selbstverwaltungsorgan in Mogotovo (bei Smolensk) 1917 ein beschlagnahmtes Gebäude zu, in dem rund hundert weißrussische Flüchtlinge versorgt wurden. Dafür stellte der Semstvo jeweils Mittel bereit; außerdem sorg119 LSF, FEWVRC/MISSIONS/9/3/5/3 („Minutes of the General Meeting of the Belgian Repatriation Fund held at 49 Mount Street [by kind invitation of Lady Selbourne] on Thursday, December 2nd 1918“); Gatrell, Refugees, S. 89–91. 120 LSF, FEWVRC/MISSIONS/9/4/5/1 (Schreiben vom 12. März 1915); FEWVRC/MISSIONS/9/3/ 5/2 (Brief vom 17. September 1917). 121 Hier und zum Folgenden: Ormerod Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 185–212, 218. 122 Kelly, Activity, S. 2 f., 10, 21–23.

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te er für einen Lehrer, der die Kinder unterrichtete. In Buzuluk (Provinz Samara) kümmerte sich die Society of Friends um 26.000 Vertriebene, die hierher aus den westlichen Regionen des Russischen Reiches geflohen waren. Um Hunger zu vermeiden, wurden im Frühjahr 1917 30.000 Pfund als Soforthilfe benötigt, Dazu veröffentlichte der Friends War Victims Relief Fund im Januar 1918 einen dringenden Appell.123 In den Niederlanden, wo 6,3 Millionen Einwohner rund eine Million belgische Flüchtlinge aufnahmen, kümmerten sich die Quäker um die Zwangsmigranten, die sie provisorisch unterbrachten. Außerdem begleiteten und versorgten Vertreter der Society of Friends britische und deutsche Zivilisten, die ausgetauscht wurden. In dem Land sollten nach einem Abkommen, auf das sich Vertreter der beiden Staaten im Juli 1917 geeinigt hatten, 400 Briten, die aus dem Lager Ruhleben entlassen worden waren, untergebracht werden. Auf Bitte des Foreign Office empfingen Quäker freigesetzte Briten an der deutsch-niederländischen Grenze, und sie sorgten dort oder in Vlissingen für ärztliche Untersuchungen. Dabei arbeiteten sie mit kommunalen Verwaltungen zusammen. So wurde hier im Februar 1915 eine Gruppe von 67 entlassenen britischen Staatsangehörigen empfangen, von denen 17 im Lager Ruhleben interniert worden waren. Zwei Personen hielten die niederländischen Behörden in der Gemeinde Gennep zurück, da sie nicht über die erforderlichen provisorischen Ausweise verfügten. Kranke Entlassene wurden von Schwestern versorgt und separat mit einem Schiff nach England gebracht.124 Hilfsorganisationen wie das Ruhleben Prisoners’ Release Committee drängten das Britische Rote Kreuz, die Regierung Norwegens um die Internierung weiterer entlassener Zivilisten zu bitten, nachdem die Schweizer Behörden erklärt hatten, keine weiteren britischen Staatsbürger aufnehmen zu können. Im Rahmen dieses humanitären Lobbyismus erklärte sich das FEC bereit, die Kosten für den Transport nach Norwegen und besondere Bedürfnisse der entlassenen Internierten zu tragen.125 Seit 1915 halfen die Quäker – vor allem ihr War Victims Relief Committee – auch Zivilinternierten und Flüchtlingen in Osteuropa. Im Osmanischen Reich und in Serbien unterstützten sie diese Kriegsopfer mit Lieferungen. Ebenso leistete das WVC in Frankreich Aufbauhilfe, ab 1917 in Zusammenarbeit mit dem American Friends Service Committee. Hier waren schon Anfang 1915 rund 123 LSF, FEWVRC/PAM/1/2/1 (Bücher „In the Heart of Russia“ und „Relief Work in Russia“; Artikel vom 30. April 1917 und 12. April 1918; Aufruf vom Januar 1918). 124 LSF, FEWVRC/MISSIONS/9/4/5 (Vermerke „156739/15“, und „Exchange of Civilian Prisoners“; Bericht vom 8. November 1915). Angaben nach: Gatrell, Refugees, S. 83. 125 Schreiben vom 12. und 19. März 1918 in: NA, FO 383/472.

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450.000 Menschen geflohen oder evakuiert worden. Bis 1916 erreichte die Zahl der entwurzelten Franzosen 710.000 und im Januar 1918 mehr als eine Million. Zumindest einige dieser Kriegsopfer konnte die Society of Friends unterstützen. Insgesamt hatte das Londoner FEC schon bis Oktober 1914 rund 700 Familien von enemy aliens geholfen. Diese Zahl belief sich am Jahresende auf 2.650. Bis Juni 1916 wurden weitere 3.190 Familien mit Mitteln des FEC versorgt. Darüber hinaus transportierte die Organisation Häuser, die Zivilinternierte in britischen Lagern im Auftrag des FEC gefertigt hatten, in zerstörte Ortschaften in Nordfrankreich, um dort obdachlos gewordenen Bewohnern eine Unterkunft bereitzustellen.126 Ruth Fry, die u. a. Flüchtlingen in Polen half, drängte ihre Society of Friends, das Engagement in Osteuropa auszuweiten. Nicht zuletzt betrachtete vor allem Rotten in den ersten Nachkriegsmonaten humanitäre Hilfe für das Osmanische Reich als dringend erforderlich, wie sie am 3. Juni 1919 dem VRC schrieb: „… there can be no doubt that the Turkish people are probably suffering more deeply than any other through the war after the collapse.“ Sie schlug deshalb vor, eine eigene Hilfsstelle für diese Kriegsopfer zu gründen.127

Elisabeth Rottens „Auskunft- und Hilfstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland“ In Osteuropa kooperierten die Quäker besonders eng mit der „Auskunft- und Hilfstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland“, die von Elisabeth Rotten in Berlin geleitet wurde. Als Tochter Schweizer Eltern 1882 in der deutschen Hauptstadt geboren, hatte sie die Einrichtung kurz nach Kriegsbeginn gegründet. Unter den prominenten Fürsprechern war der ehemalige Botschafter Deutschlands in London, Karl Max von Lichnowsky (1860–1928). Rotten inspizierte u. a. das „Engländerlager“ Ruhleben, aber auch das Camp in Holzminden, wo viele Franzosen und Russen litten. Sie unterhielt grenzüberschreitend Kontakte zu diversen humanitären Organisationen und Friedensaktivistinnen wie Emily Hobhouse, die sie im Juni 1916 während ihres Besuches in Berlin traf.128

126 Cresswell (Hg.), Living with the Wire, S. 25. Angaben nach: Stibbe, Civilian Internment, S. 190; Gatrell, Refugees, S. 84. 127 LSF, FEWVRC/MISSIONS/10/1/6/9 (Brief vom 3. Juni 1919). 128 Crangle / Baylen, Peace Mission, S. 736; Stibbe, Civilian Internment, S. 189; Fourth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1916, S. 11–13 (LSF, FEWVRC/EME/4/1).

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Auch mit dem FEC in London arbeitete Rotten eng zusammen, vor allem um Verbindungen zwischen Internierten und ihren Angehörigen in gegnerischen Ländern herzustellen. Dazu nahm sie diverse Anfragen zu den Betroffenen auf und leitete Nachrichten weiter.129 Darüber hinaus bemühte sie sich, die Entlassung von Zivilinternierten zu erreichen und dazu Austauschabkommen zwischen den kriegführenden Staaten herbeizuführen. Dabei arbeitete sie mit dem „Internationalen Hilfskomitee für Zivilgefangene“ zusammen, das Charles Hartmann in Zürich leitete. Allerdings musste sich Rottens Organisation ebenso wie das „Internationale Hilfskomitee“, die „Hilfsstelle Geisel – Commission des otages“ (Basel) und das Oeuvre universitaire suisse des étudiants prisonniers de guerre (Bern) von pazifistischen Verbänden abgrenzen, um wirksam mit Regierungen verhandeln zu können. Damit half die „Auskunft- und Hilfstelle“ auch Deutschen, die in gegnerischen Ländern festgehalten, später aber freigelassen wurden und in ihre Heimat zurückkehrten. So erwartete Rotten im April 1918 in Berlin deutsche Frauen und Kinder aus Ostafrika, die sich in belgischer Gefangenschaft befunden hatten. Sie sollten in der Schweiz von der Ehefrau des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, Heinrich Schnee (1871–1949), empfangen werden.130 Darüber hinaus bemühte sich Rotten um Abkommen und Vereinbarungen, um das Leid der zivilen Feindstaatenangehörigen zu lindern. So stieß sie Ende 1917 Verhandlungen mit Belgien und den Niederlanden über die Rückkehr deutscher Internierter aus Ostafrika an. Daran war auch der Kolonialstaatssekretär Wilhelm Solf (1862–1936) beteiligt, der noch auf einen Verhandlungsfrieden hoffte. Auch setzte sich Rotten dafür ein, dass zwangsweise repatriierte Deutsche, die im Vereinigten Königreich Vermögen hinterlassen hatten und im Kaiserreich am Kriegsende Not litten, einen Teil ihres beschlagnahmten Geldes als Unterstützung erhielten. Nicht zuletzt sollten Feindstaatenangehörige besonders bedürftigen Familienmitgliedern, die in gegnerischen Ländern lebten, mit finanziellen Transfers helfen dürfen. Beide Initiativen wurden zwar in den Verhandlungen aufgenommen, die deutsche und britische Delegierte im Sommer 1918 in Den Haag führten. Dabei trat neben das Prinzip der Staatssouveränität der Grundsatz der Reziprozität. Rotten nutzte dies mit ihrer „Auskunft- und Hilfstelle“, die sie bewusst von ihrem pazifistischen Engagement – so im „Bund Neues Vaterland“ – trennte. Zum Erfolg ihrer humanitären Fürsorge trug auch

129 LSF, EME/2/2/2 (Briefe vom 3. März, 17. März und 22. Mai 1917). Vgl. auch Holmes, Knockaloe; Stibbe, Civilian Internment, S. 190 f. 130 LSF, FEWVRC/EME/2/1/19 (Briefe vom 8., 11., 16. und 23. April 1918); NA, FO 383/167 (Schreiben vom 8. Februar 1916). Ergänzend: Stibbe, Civilian Internment, S. 191 f., 196

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ihr grenzüberschreitendes Netzwerk bei, das Rotten Kontakte ermöglichte und Zugang zu Informationen verschaffte.131

Young Men’s Christian Association Zu den wichtigsten internationalen Organisationen, die außer den Kriegsgefangenen auch Zivilinternierten halfen, gehörte die Young Men’s Christian Association. Die erste Gruppe war im Juni 1844 in London durch den Handlungsgehilfen George Williams (1821–1905) gegründet worden, um unter dem Einfluss der Erweckungsbewegung jungen Männern in Städten Lebensorientierung zu vermitteln. Zweigorganisationen entstanden schon 1848 in Deutschland, 1852 in Frankreich und 1855 auch im fernen Neuseeland. In demselben Jahr war der YMCA ebenso in den USA und 1862 auch in Kanada vertreten. Der Verband sollte den evangelischen Glauben unter Jugendlichen in der Arbeiterschaft verbreiten. Angeregt von Henri Dunant (der später auch das IKRK gründete), hatten Delegierte in einer Konferenz in Paris schon 1855 beschlossen, ein Central International Committee zu gründen, das 1878 in Genf fest institutionalisiert und in World Alliance of YMCAs umbenannt wurde. Als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, bat der Generalsekretär dieses Dachverbandes, Christian Phildius (1853–1937), das amerikanische YMCA, die Federführung bei der Gefangenenhilfe zu übernehmen. Nachdem John Mott (1865–1955) als Repräsentant des Weltverbandes der jungen Christen Wilson versichert hatte, dass er Kriegsopfer aller Nationen unterstützen und damit die Neutralität der USA wahren würde, begrüßte und unterstützte der Präsident den Plan. Daraufhin wurde die War Prisoners’ Aid gegründet, und die World Alliance entsandte im Januar 1915 zwei Vertreter, Archibald Harte (1865–1946) und Carlisle Hibbard (1876–1954), nach Europa, um dort die Regierungen der kriegführenden Staaten zu bitten, Hilfsaktivitäten zuzulassen. Da der YMCA keinen diplomatischen Status hatte und auf die Zustimmung der jeweiligen staatlichen Behörden angewiesen war, nutzten Harte und Hibbard vor allem das Gegenseitigkeitsprinzip. Damit erreichten sie schließlich die Zulassung. 1915/16 konnte die WPA sukzessive erweitert werden, auch nach Osteuropa. Nur das Osmanische Reich blieb der YMCA bis 1918 verschlossen, da das Regime der Jungtürken eine Unterwanderung durch Christen befürchtete.132 131 LSF, FEWVRC/EME/2/7/2 (Schreiben vom 18. Februar 1918 und Übersetzung eines Briefes vom 20. Juli 1918). Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 189, 191–193, 195. 132 Kenneth A. Steuer, The American YMCA and War Work Service in Russia on World War I and the Russian Civil War, in: Jeffrey C. Copeland / Yan Xu (Hg.), The YMCA at War. Collabo-

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Die Organisation verstand sich offiziell nicht als Religion, Kirche oder Sekte, zielte aber darauf, Menschen für den christlichen Glauben zurückzugewinnen. Dabei war die YMCA nicht nur auf die Unterstützung der Regierungen angewiesen, sondern sie musste auch mit den Militärführungen kooperieren. Sie half Feldgeistlichen, so bei der Seelsorge, und festigte die Kriegsmoral, auch indem sie Soldaten, die in gegnerischen Ländern gefangen gehalten wurden, versorgte und half. Die humanitären Aktivitäten basierten auf Lagerinspektionen, bei denen sieben Vertreter des YMCA im Kriegsverlauf allein in Russland 68 Camps besichtigten. Nach der Kriegserklärung der USA 1917 übernahmen skandinavische Aktivisten der Organisation die Arbeit der amerikanischen Sektion. Jedoch profitierte die YMCA von dem engen Verhältnis zu den Heereskommandos, die den humanitären Verband u. a. mit Transportmitteln logistisch unterstützten. Darüber hinaus konnten mit der offiziellen Billigung der karitativen Aktivitäten im Ersten Weltkrieg leichter Spenden gewonnen werden. Die YMCA ist damit keineswegs eindeutig der – ohnehin schwachen – Zivilgesellschaft zuzuordnen, sondern sie war eng mit staatlichen Institutionen im Allgemeinen und dem Militär im Besonderen verflochten.133 Die Organisation linderte aber nicht nur die Not der Kriegsgefangenen, auf die sich die Arbeit konzentrierte. Vielmehr unterstützten sie und ihr WPA auch viele internierte Zivilisten, indem sie ihre religiösen Bedürfnisse aufnahmen, die Selbsthilfe in den Lagern stärkten und Aktivitäten in der Erziehung, Bildung und Freizeitgestaltung förderten. Dazu organisierte der Verband Klubs und Komitees, die den Internierten – ebenso wie den Kriegsgefangenen – eine Erweiterung ihrer Kenntnisse ermöglichten. Dafür wurden in den Camps Unterrichtsangebote für verschiedene Fächer eingerichtet. Diese Aktivitäten fanden in den Lagern – so in Lofthouse Park – oft in separaten Baracken statt, die von der YMCA finanziert wurden. Im Camp Frongoch (Nordwales) wurden im März 1916 beispielsweise allein 55 Kurse durchgeführt. Der Fortbildung der Internierten dienten auch Bücher, die vom YMCA für die Lagerbibliotheken gespendet wur-

ration and Conflict during the World Wars, Lanham 2018, S. 73–99, hier: S. 74 f.; Jonathan F. Vance, Young Men’s Christian Association (YMCA), in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 346–348, hier: S. 346; Detlef Siegfried, Art. „Youth organizations“, in: Iriye / Saunier (Hg.), Palgrave Dictionary of Transnational History, S. 1145–1147, hier: S. 1145; Ria Kennan, On the Triangle Trail: The New Zealand YMCA and the Great War, in: Crawford / McGibbon (Hg.), Great War, S. 354–363, hier: S. 354; W. Litschmann, Die Y. M. C. A. der Verein christlicher junger Männer der Vereinigten Staaten von Nordamerika und seine Hilfe für die Kriegsgefangenen, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 318–323, hier: S. 319; Steuer, Pursuit, S. 2 f., 27–31, 288, 291–316. 133 Angaben nach: Brändström, Prisoners of War, S. 192. Vgl. auch Kennan, Triangle Trail, S. 360, 362 f.

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den. Allerdings waren dem Hilfsverband nicht alle Camps zugänglich. So durften in Frankreich Zivilinternierte in den inneren Departements nicht besucht werden. Auch die Lager, die dem französischen Innenminister unterstanden, blieben der YMCA verschlossen. In Großbritannien unterstützte der Hilfsverband vor allem die Internierten in Alexandra Palace. Demgegenüber war sie im Camp Knockaloe (im Gegensatz zum Friends’ Emergency Committee) nicht vertreten. In Italien konzentrierte sich die YMCA auf die Lager auf Sardinien, wo Internierte relativ gut untergebracht waren.134 Dabei arbeiteten der Weltverband, nationale Organisationen und die Helfer in den Lagern jeweils eng zusammen. So sorgte die WPA für Jungen, die in Österreich in den Lagern Wieselburg und Hart vorgefunden wurden. In Deutschland wurden u. a. panamaische Studenten, die nach der Kriegserklärung ihres Landes an das Deutsche Kaiserreich am 7. April 1917 verhaftet worden waren, und russische Internierte im Lager Holzminden mit zusätzlichen Lebensmitteln versorgt. Auch Flüchtlinge, die aus dem Zarenreich stammten und zu Beginn des Krieges in Berlin von den deutschen Behörden festgesetzt worden waren, überlebten mit den Mitteln der YMCA, die im Oktober 1916 sogar einen gesonderten Fonds für diese Gruppe einrichtete. Bis zur Oktoberrevolution wurden insgesamt 44.800 Reichsmark an die Flüchtlinge und ihre Familien verteilt. Im katholischen Bayern gelang es dem Leiter der WPA in Deutschland, Conrad Hoffmann (1884–1958), nur mühsam, die Behörden mit dem Hinweis auf Gegenleistungen auf der Grundlage des Reziprozitätsprinzips vom Nutzen einer Kooperation zu überzeugen. In Großbritannien verbesserte der Verband u. a. die Unterbringung der Internierten in Lagern.135 Jedoch war davon die Insel Man ausgenommen, zumindest 1917/18.136 Auch waren einige Initiativen der YMCA nur teilweise erfolgreich. So erklärte sich die Organisation 1916 bereit, auf dem Gelände des Camps Alexandra Palace nach dem Vorbild des Lagers Ruhleben ein Gebäude für Lehr- und Studienzwecke zu errichten. Nachdem das Projekt zu Weihnachten 1917 schließlich vollendet war, schränkte der Kommandant die Zeiten, in denen das kleine Haus genutzt werden konnte, drastisch ein. Zudem mussten die US-Vertreter der 134 Fourth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1916, S. 5 (LSF, FEWVRC/EME/4/1); NA, FO 383/106 (Bericht „Wakefield Camp“); NA, FO 383/473 (Schreiben vom 4. September 1918); United States, Embassy / Boylston A. Beal, Reports, S. 9, 15, 27; Litschmann, Y. M. C. A., S. 319–321. 135 Panayi, Prisoners of War. 136 Sixth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1918, S. 7, in: LSF, FEWVRC/ EME/4/1.

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YMCA nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten abgezogen werden. Die Arbeit übernahmen die dänischen, schwedischen und norwegischen Sektionen des Verbandes. Nur Hoffmann durfte mit Billigung der Reichsregierung in Deutschland verbleiben; allerdings musste er für Lagerinspektionen jeweils die Erlaubnis der Militärbehörden einholen. Zudem geriet der Leiter der War Prisoners’ Aid in Großbritannien in Verdacht, Sympathien für Deutschland zu hegen. Auch Harte musste im Frühjahr 1918 gegenüber dem britischen Außenministerium die World Alliance of YMCAs und seine eigene Arbeit verteidigen. Dabei versicherte er Vansittart sogar, dass seine Organisation heimlich den Entente-Mächten zuneigte. Insgesamt gewann die War Prisoners’ Aid des YMCA im Ersten Weltkrieg aber trotz solcher Auseinandersetzungen eine Schlüsselstellung in der Gefangenenfürsorge, zumal sie wegen der organisatorischen Stärke auch Hilfsleistungen anderer internationaler Verbände wie des IKRK und nationaler Fonds verteilte.137 Eine Ankündigung der deutschen Reichsleitung, der YMCA weitere Lagerinspektionen zu verweigern und auch Hilfslieferungen der Organisation zu unterbinden, löste im Mai 1918 deshalb auf britischer Seite Besorgnis aus.138

Die karitative Hilfe von Frauenverbänden und geschlechterspezifische Rollenzuweisungen Ebenso halfen internationale Frauenorganisationen wie das International Women’s Relief Committee (IWRC) und die Women’s International League für Peace and Freedom (WILPF) zivilen Feindstaatenangehörigen. Nach eigenen Angaben unterstützte die WILPF in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 35.000 Deutsche und Österreicher, die in diversen Lagern interniert waren. Sie kümmerte sich besonders um die Zusammenführung von Familien und sorgte in den Camps für Beschäftigung. Energisch trat die Organisation der Agitation radikal nationalistischer und fremdenfeindlicher Vereinigungen wie der Anti-German League entgegen, die ihrerseits die Mitglieder der WILPF als Saboteure verunglimpften.139 Besonders die Hilfsverbände, die sich um Frauen kümmerten, verbreiteten aber geschlechterspezifische Zuschreibungen, indem sie an Vorstellungen eines „ritterlichen“ Schutzes durch Männer appellierten. Erschütternde Ereignisse 137 NA, FO 383/473 (Schreiben vom 5. April 1918, 3. 14., 24., 27. Mai 1918, 12. Juni 1918, 24. Juli 1918, 15. und 19. August 1918 sowie 2. Dezember 1918; Memorandum vom 25. September 1918); Steuer, Pursuit, S. 2 f., 20, 197 f., 204, 236 f., 242, 281, 284 f.; Rocker, Alexandra Palace, S. 17–19. 138 NA, FO 383/473 (Notiz vom 17. Mai 1918; Brief vom 5. Februar 1919). 139 Vgl. das Manifest der WILPF in: LSF, FEW/PAM/2/1; FEWVRC/EME/2/7/2.

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wie die Versenkung der Lusitania und die Exekution Edith Cavells setzten die geschlechterspezifischen Stereotype nur vorübergehend außer Kraft. Angesichts der aufgeheizten Stimmung sahen sich humanitäre Organisationen wie das IWRC, die WILPF und auch das FEC sogar außerstande, für unschuldige weibliche und junge Feindstaatenangehörige Spenden zu gewinnen. Abgesehen von diesen Situationen, in denen sich die Kriegspropaganda und der Nationalismus in eine extreme Feindschaft gegen Deutsche steigerte, wurden Humanität und Gerechtigkeit im öffentlichen Diskurs nahezu ausschließlich auf Frauen bezogen, wie ein parlamentarischer Bericht zu enemy aliens noch im Juli 1918 belegte. Daneben galt Kindern die besondere Fürsorge humanitärer Organisationen. So forderte William Cable, ein Aktivist der Society of Friends of Foreigners in Distress, 1915 in der hitzigen Debatte über die Unterstützung von Angehörigen internierter enemy aliens, die Kinder britischer Mütter staatlich zu alimentieren, um sie der Nation zu erhalten.140 Alles in allem bildete sich im Ersten Weltkrieg ein grenzüberschreitendes Netzwerk humanitärer Aktivisten heraus, unter denen sich auch zahlreiche Vorkämpferinnen für die Rechte der weiblichen Bevölkerung befanden. Vor allem in Großbritannien setzen sich die Suffragetten für Frauen und Kinder ein, die im Sommer 1914 als Angehörige von Feindstaatenangehörigen im Inselreich geblieben waren und hier nach dem Kriegsbeginn verdächtigt, isoliert oder festgenommen worden waren. Im Vereinigten Königreich fielen diese Kriegsopfer ansonsten der Armenfürsorge der Boards of Guardians oder den lokalen Committees for the Prevention and Relief of Distress anheim, deren Unterstützung aber gering ausfiel. Abhängige Angehörige britischer Zivilisten, die in Deutschland festgehalten wurden, erhielten nur ausnahmsweise öffentliche Unterstützungsleistungen.141 Organisationen wie das International Women’s Relief Committee (IWRC) halfen auch deutschen Frauen, die mit Briten verheiratet und im Kaiserreich interniert worden waren, so im Lager Ruhleben. Einen besonders wichtigen Stellenwert nahmen diese Verbände auch bei der Unterstützung für 500.000 Belgier – darunter viele Frauen und Kinder – ein, die nach Großbritannien oder in die neutralen Niederlande geflohen waren. So sammelte die London Society for Women’s Suffrage in England Spenden für diese Gruppen, und die Catholic Women’s League unterstützte geflohene Belgierinnen ebenso wie das IWRC und die Quäker. Zu den bereitwilligen Helfern zählte auch der Parlamentsabgeordnete 140 Denness, Gender, S. 76, 83, 93. Vgl. das Manifest der WILPF in: LSF, FEW/PAM/2/1; FEWVRC/EME/2/7/2. Zur Mythologisierung Cavells als Märtyrerin: Christine E. Hallett, Edith Cavell and her Legend, London 2019. 141 NA, FO 383/427 (Schreiben vom 1. April und 11. Juni 1918).

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T. Edmund Harvey (1875–1955). Die Society of Friends engagierte sich gleichfalls für viele der Belgier, die nach Holland geflüchtet waren. So etablierte sie Aufnahmestellen in Lagern wie demjenigen im niederländischen Gouda, in dem die Quäker die Lebensbedingungen der Internierten zu verbessern suchten. Auf Korsika sorgten sie u. a. für serbische Frauen und Kinder, auch in enger Zusammenarbeit mit dem Serbian Relief Fund (SRF). Ebenso unterstützten in Frankreich lokale Hilfsorganisationen die Serben. In Großbritannien half der SRF serbischen Kindern, die Schulen besuchten. In Italien wurden serbischen Flüchtlingen, die in Lagern untergebracht waren, Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt und Arbeiten für sie organisiert. Dabei halfen auch Rotkreuz-Schwestern und das American Red Cross, das u. a. Schiffe anmietete. Damit konnten die nach Brindisi (Italien) geflüchteten Serben mit Lebensmitteln versorgt werden.142 Der SRF, der mit dem Britischen Roten Kreuz verbunden war, konzentrierte seine humanitäre Hilfe aber auf den Balkan, wo auch „Slawenkomitees“, die im russischen Zarenreich gebildet worden waren, geflohene oder vertriebene Zivilisten unterstützten.143

Die Hilfe privater Vereine und die Rolle einzelner humanitärer Aktivisten Außer dem Roten Kreuz, der Society of Friends und dem YMCA sorgten im Ersten Weltkrieg kleinere humanitäre Organisationen für Opfer in spezifischen Regionen. Dabei waren amerikanische Hilfsorganisationen wie das American Committee for Syrian and Armenian Relief wichtig, das nach seiner Gründung 1915 zivile Kriegsopfer im Osmanischen Reich unterstützte. In Belgien und Nordfrankreich bemühte sich ein Hilfskomitee (Commission for Relief, CFR) des amerikanischen Bergbauingenieurs (und späteren US-Präsidenten) Herbert Hoover, die Not zu lindern, die Beschlagnahmen durch die deutschen Besatzungsbehörden und die britische Seeblockade ausgelöst hatten. Gegründet am 22. Oktober 1914, war die CRB eine neuartige philanthropische Organisation, die von internationalen Hilfsverbänden, aber auch US-Unternehmen unterstützt wurde. Im besetzten Belgien stellte der Verband, der von Bürgern neutraler Staaten (vor 142 Angabe nach: Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 74. Hierzu auch: Danilo Šaranec, Golgatha: the Retreat of the Serbian Amery and Civilians in 1915–16, in: Gatrell / Ljubov M. Žvanko (Hg.), Europe, S. 215–235, hier: S. 247–250, 252; Yarrow, Impact, S. 102–105, Storr, Excluded from the Record, S. 20, 24–26, 27–30, 172, 192; Becker, Oubliés, S. 171, 238; Jones, International or Transnational?, S. 704; Bird, Control, S. 160, 166 f.; Gullace, Friends, S. 357; Proctor, Civilians, S. 187 f. Aus der Perspektive der 1920er Jahre: Lehmann-Russbüldt, Kampf, S. 16 f., 63 f., 79, 168–181. Als Bericht einer Beteiligten: Wilson, Margins, S. 1–8, 15–25. 143 Gatrell, Refugees, S. 92 f.

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allem Spaniens und der USA) und im Ausland lebenden Belgiern ebenso finanziert wurde wie von der belgischen, britischen, französischen und amerikanischen Regierung, bereits Mitte Oktober 1914 zwei Drittel der benötigten Lebensmittel zur Verfügung. Die CRB ernährte täglich bis zu neun Millionen Belgier und Franzosen, die sich im deutschen Besatzungsgebiet aufhielten. Damit ermöglichte Hoovers Organisation in diesem Raum 9,2 Millionen Menschen das Überleben. Dabei war das CFR allerdings nicht nur auf die Kooperation der neutralen Länder Spanien, der Niederlande und (bis April 1917) der USA angewiesen, welche die Verwaltung des Versorgungsprogramms übernahmen, sondern auch auf die Zustimmung der kriegführenden Staaten und der neutralen Niederlande. Zudem erwies sich die Beteiligung von Verbänden in den besetzten Gebieten wie des Comité National de Secours et d’Alimentation und des Comité d’Alimentation du Nord de la France, die jeweils Lebensmittel verteilten, als unverzichtbar. Vor allem die Weigerung der britischen Regierung, die Seeblockade für Hilfslieferungen zu öffnen, aber auch der Verlust von Schiffen durch deutsche U-Boote und Minen konfrontierte alle karitativen Aktivitäten von Amerikanern für die leidenden Belgier mit nahezu unüberwindlichen Schwierigkeiten. Die Kriegserklärung der USA führte 1917 zum Rückzug der CFR aus Belgien und anderen Kriegsgebieten, aber nicht zum Abbruch der humanitären Hilfe, die nunmehr in den Vereinigten Staaten koordiniert wurde. Insgesamt war die Lieferung von Nahrungsmitteln in die besetzten Gebiete Westeuropas sowohl in den Entente-Mächten als auch in Deutschland überaus umstritten und damit ein eminent politisches Problem. So musste der Blockademinister Robert Cecil, der die Hilfslieferungen befürwortete, den Widerstand der Admiralität brechen, die es ablehnte, Schiffstonnage zur Versorgung bereitzustellen, und befürchtete, dass die deutsche Besatzungsverwaltung die Lebensmittel für ihre Zwecke requirieren könnte. Nach dem Waffenstillstand, als die USA die Seeblockade aufrechterhielten, versorgte die Relief Commission allein Deutschland bis 1920 mit 1,3 Millionen Tonnen Lebensmittel und auch mit Kleidung.144 144 Johan den Hertog, The Commission for Relief in Belgium and the Political Diplomatic History of the First World War, in: Diplomacy & Statecraft 21 (2010), S. 593–613, hier: S. 594, 597 f., 600, 609; Branden Little, Commission for Relief in Belgium (CRB), in: Ute Daniel u. a. (Hg.), 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, Berlin 2014-10-08 (doi:10.15463/ie1418.10071; Zugriff am 13. Mai 2020); Corni / Frizzera, Diskussion, S. 35; Hammack / Anheier, Institution, S. 66. Angaben nach: Little, State. Hierzu und zum Folgenden: Sophie De Schaepdrijver, La Belgique et la Premiére Guerre mondiale, Brüssel 2004; Clotilde Druelle, Feeding Occupied France during World War I: Herbert Hoover and the Blockade, Houndmills 2019; Little, Relief, S. 142 f., 145; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 191; Hull, Scrap of Paper, S. 96–116, 124–138; dies., Destruction, S. 230; Proctor, Civilians, S. 189–191; Geyer, Grenzüberschreitungen, S. 348, 352; Thiel, Zwangsarbeit, S. 130 f.; Oltmer, Arbeitszwang, S. 100.

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Zugleich mobilisierte das Comité Nationale de Secours et d’Alimentation zivilgesellschaftliche Vereine und Aktivisten wie Bürgermeister, Beamte in den Provinzverwaltungen und Vertreter karitativer Organisationen, um Mittel zu sammeln, damit die Versorgung der Belgier zu verbessern und ihr Überleben unter der deutschen Besatzung zu sichern. Das belgische Hilfskomitee kooperierte dabei wiederholt mit den deutschen Behörden im Generalgouvernement Belgien unter den Befehlshabern Colmar von der Goltz (1843–1916) und Moritz Ferdinand von Bissing (1844–1917), hielt aber auch engen Kontakt zu Widerstandsgruppen und bemühte sich, die Mobilisierung von Ressourcen für die Kriegführung Deutschlands zu unterbinden. Alles in allem waren diese Hilfsprogramme für die Belgier als humanitäre Initiativen durchaus effektiv, hilfreich und bemerkenswert. Allerdings konnten mit den begrenzten Mitteln keineswegs alle Bedürftigen unterstützt werden. Auch in Großbritannien sorgten außer den größeren humanitären Organisationen auch private Vereine für internierte Feindstaatenangehörige. Viele dieser Hilfsverbände hatten sich im Central Council of United Alien Relief Societies zusammengeschlossen, der bis 1920 für die Unterstützung Zehntausender Menschen insgesamt 153.870 Pfund ausgab. Eine Unterkommission, die von Schröder unterstützte, kümmerte sich um deutsche Frauen, die mit internierten Männern verheiratet waren, aber über die US-Botschaft in London keine Hilfe von der deutschen Reichsleitung erhielten. Auch andere eingebürgerte Deutsche wie Speyer und Cassel unterstützten die Arbeit des Council, dessen Verwaltung die Society of Friends of Foreigners in Distress (SFFD) übernahm.145 Ebenso war die Prisoners of War Relief Agency (PWRA) dem Engagement eines einzelnen humanitären Aktivisten geschuldet. Als Privatstiftung des Chemikers Karl Emil Markel, der in Deutschland geboren war, organisierte die PWRA Hilfslieferungen des Roten Kreuzes. Auch sammelte und erwarb sie in Großbritannien Kleidung, Musikinstrumente und andere nützliche Güter, die sie vor allem Zivilinternierten zukommen ließ. Außerdem wurde die Versorgung dieser Gefangenen mit Nahrungsmitteln in den Lagern aufgestockt. Die PWRA förderte auch die Bildung von Komitees zur Gefangenenselbsthilfe, die in den Lagern ein breites Spektrum von Aktivitäten organisierten, darunter Bildungsveranstaltungen und künstlerisches Schaffen. Damit wurde die Internierung erträglicher, so im Camp Wakefield in Yorkshire, so dass ein Inspekteur der US-Schutzmacht im März 1916 die Arbeit der Internierten und ihrer Gremien lobte. Allein im ersten Halbjahr 1916 wurden hier 79 Theaterstücke aufgeführt. Auch in deutlich

145 Angabe nach: Hull, Destruction, S. 263.

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größeren Lagern arbeiteten zahlreiche Komitees, die durch Markels philanthropische Fürsorge, aber auch vom Roten Kreuz unterstützt wurden.146 Bemerkenswert waren auch die Spenden Baron Schröders, der beispielsweise zu Weihnachten 1917 mit einem Scheck Verbesserungen und Aktivitäten im Lager Knockaloe unterstützte.147 Nicht zuletzt hingen auch viele humanitäre Organisationen wie die Society of Friends von privater Unterstützung ab.148 So wurden für den Aliens’ Relief Fund, den das FEC einrichtete, von Oktober 1914 bis Juli 1918 insgesamt rund 60.126 Pfund gespendet, davon allein vom 1. Juli 1915 bis zum 30. Juni 1916 mehr als 17.261 Pfund. Außer Baron Schröder steuerten besonders Mitglieder der bekannten Quäker-Familien Rowntree und Cadbury relativ hohe Beträge in Höhe von jeweils bis 500 Pfund bei. Die deutliche Mehrzahl der Spenden bestanden aber aus geringeren Summen, und das FEC erhielt von Quäkern in anderen Staaten wie den USA, der Schweiz, Neuseeland und Südafrika ebenfalls finanzielle Unterstützung.149 Private Organisationen waren auch in anderen kriegführenden Staaten wie Österreich-Ungarn aktiv, wo die „Israelitische Allianz“ Kriegsopfern half. In der Regel arbeiteten sie mit staatlichen Behörden zusammen, besonders in einzelnen Gemeinden. Hier kooperierten sie mit Bürgermeistern und den örtlichen Verwaltungen. Zudem erhielten sie von wohlhabenden Bürgern Spenden, so der Wiener „Verein soziale Hilfsgemeinschaft“, der für Flüchtlinge Unterkunft, Verpflegung und Beschäftigung besorgte. Auch global tätige Hilfsverbände wie die Religious Society of Friends und das US-amerikanische Jewish Joint Distribution Committee (JDC) unterstützten die örtlichen Hilfsverbände, auch noch nach dem Waffenstillstand. Allerdings erwies sich die Zusammenarbeit mit Behörden und regionalen Organisationen als schwierig, weil diese vielfach ausschließlich 146 NA, FO 383/163, Bl. 18–21, 390 f. Dazu auch die Inspektionsberichte in: United States, Embassy / Boylston A. Beal, Reports, S. 9 f., 12, 15, 20, 23, 25, 27, 30, 35. Vgl. auch Fourth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1916, S. 5, in: LSF, FEWVRC/EME/4/1. Darüber hinaus: Manz / Panayi, Enemies, S. 133–136, 292. 147 LSF, FEWVRC/EME/6/3/9 (Berichte über Lagerbesuche am 3./4. Januar und 1. Februar 1918). 148 In einem Flugblatt des FEC hieß es dazu: „We are not a Government Committee, but entirely dependent for our funds upon voluntary contributions“ (LSF, FEWVRC/PAM/2/1). 149 Third Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Half-Year Ending June 30th, 1915 (S. 14); in: LSF, FEWVRC/EME/4/1; Fourth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1916, S. 15–30, und Seventh Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Half-Year Ending June 30th, 1919, S. 14 (LSF, FEWVRC/EME/4/1).

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Angehörigen einzelner Volksgruppen – beispielsweise geflohenen Galiziern – oder Konfessionen halfen. Gruppierungen wie die Quäker, der Hoover Relief Fund und das Amerikanische Rote Kreuz, die ihr humanitäres Programm in Österreich-Ungarn bis 1922 fortsetzten, verstanden ihre Hilfe in der Doppelmonarchie vielfach als Zivilisierungsmission.150 In den größeren humanitären Organisationen setzten sich im Ersten Weltkrieg einzelne Personen besonders aktiv für Kriegsgefangene und Internierte ein. So organisierte die Rotkreuzschwester Elsa Brändström zahlreiche Hilfsaktionen, besonders für deutsche, österreichische und ungarische Zivilinternierte in Russland. In enger Abstimmung mit dem IKRK und der nationalen Rotkreuzgesellschaft, die in Petrograd eine Auskunftsstelle eingerichtet hatte, organisierte sie im ersten Kriegsjahr zunächst den Austausch von schwer verwundeten Soldaten zwischen Deutschland und dem russischen Zarenreich. Ab Winter 1915/16 engagierte sie sich stark für Gefangene, die in Sibirien festgehalten wurden. Obwohl auch sie Vorurteile gegenüber „den Russen“ hegte, wurde Brändström, die als „Engel von Sibirien“ galt, zu einer wichtigen Vermittlerin zwischen den Behörden des Zarenreiches und Organisationen wie der YMCA und den US-amerikanischen, schwedischen und dänischen Sektionen des Roten Kreuzes. Diese schickten jeweils Güter und Postsendungen aus den „Mittelmächten“ für Angehörige dieser Staaten nach Russland, besuchten dort Lager und bemühten sich um konkrete Verbesserungen. Auch Diplomaten der US-Botschaft in Petrograd unterstützten besonders die Zivilinternierten, indem sie Hilfsaktionen erleichtern und in Berichten über Inspektionen die russischen Behörden auf Missstände hinwiesen.151 Dazu trug außer Brändström bis Mai 1918 auch die „Hilfsaktion für Kriegsund Zivilgefangene“ bei, ein Komitee für deutsche und österreichisch-ungarische Gefangene, das Elsa von Hanneken im Herbst 1914 im chinesischen Tientsin gegründet hatte. Die Organisation half besonders vielen der rund 330.000 Angehörigen der „Mittelmächte“, die sich bei Kriegsbeginn in Russland aufgehalten hatten und anschließend nach Sibirien und an die Pazifikküste Russlands gebracht worden waren. Dafür stellten die Regierungen Deutschlands und der Habsburgermonarchie im Kriegsverlauf rund 1,1 bzw. 3,1 Millionen Dollar zur Verfügung. Ebenso sammelten Deutschamerikaner für Hannekens „Hilfsaktion“ Güter, die von einer Zentralstelle in San Francisco nach Sibirien 150 Thorpe, Empire, S. 113 f.; Little, State. 151 Hans Weiland, Elsa Brändström. Caritas inter arma, in: ders. / Kern, Feindeshand, Bd. 1, S. 238–240, hier: S. 239; Brändström, Prisoners of War, S. 6. Vgl. auch Alon Rachamimov, Brändström, Elsa (1888–1948), in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 31; Wurzer, Die Kriegsgefangenen, S. 46.

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gebracht wurden. Hanneken, die schon während des Boxeraufstandes in China humanitäre Hilfe organisiert hatte, gelang es 1917 nach mehrmonatigen Bemühungen, Kriegsgefangene und Internierte im Fernen Osten Russland mit Kleidung zu versorgen. Nach eigenen Angaben half Hanneken damit 60.000 Menschen in 110 Lagern. Nachdem China Deutschland am 14. August 1917 den Krieg erklärt hatte, wandte sich ihre „Hilfsaktion“ auch Gefangenen in diesem Land zu. Allerdings unterband die chinesische Regierung unter dem Druck der Entente-Mächte 1918 die Aktivitäten Hannekens, die im November 1918 sogar wegen Spionageverdachts interniert wurde. Wichtig blieben aber die Zuwendungen des schwedischen Hilfswerkes, des IKRK und US-Organisationen. So erhielten die Gefangenen im Zarenreich von der amerikanischen YMCA, die in Lagern auch Gottesdienste für die Insassen durchführte, wertvolle Unterstützung. Allerdings musste die Organisation ihre humanitäre Hilfe für Gefangene im April 1917 aufgeben, weil die deutsche Reichsregierung nach dem Kriegseintritt der USA auf diesen Schritt bestand.152

Humanitäre Hilfe und Staat: das Beispiel der belgischen Flüchtlinge im Vereinigten Königreich Einen besonderen Stellenwert nahmen Flüchtlinge, Evakuierte und Deportierte in der humanitären Arbeit von Regierungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen ein. Während staatliche Behörden und führende Politiker in den Entente-Mächten Feindstaatenangehörige lediglich sporadisch unterstützten, halfen sie Zivilisten, die vor den Kämpfen oder Übergriffen in ihren Heimatländern vor gegnerischen Truppen geflohen waren, so den mehr als eine Million Belgiern, die im Spätsommer und Herbst 1914 ihre Heimat verließen. 250.000 von ihnen suchten auch Zuflucht in Frankreich. Hier und in Großbritannien symbolisierten die Flüchtlinge den deutschen Feind, dem eine barbarische Kriegführung vorgeworfen wurde. Die Aufnahme der Belgier in den beiden Ländern stärkte deshalb die emotionalen Bindungen und den Zusammenhalt in den je152 Wurzer, Die Gefangenen, S. 434. Als zeitgenössische Berichte und Erinnerungen: Brändström, Prisoners of War, S. 158–173, 192–195, 187 (Angabe). Vgl. auch Elsa von Hanneken, Die Tientsiner Hilfsaktion. Eine Hilfsaktion für Kriegs- und Zivilgefangene in Tientsin, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 266–268, hier: S. 267; Olga Fischer-Togo, Erinnerungen an Tientsin, in: ebd., S. 268 f.; Leopold Kern, Deutsche Hilfe im fernen Osten. Die Tientsiner Hilfsaktion für Kriegsgefangene in Sibirien und Rußland, in: ebd., S. 270–274; ders., Die Hilfe der Deutschamerikaner, in: ebd., S. 316–318, hier: S. 317. Abgewogen: Rachamimov, POWs, S. 168– 170; Nachtigal, Anzahl, S. 378 f; Moorehead, Dream, S. 193–195; Overmans, „Hunnen“, S. 347, 352.

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weiligen Kriegsgesellschaften. So wählte Agatha Christie (1890–1976) für ihre Kriminalgeschichten mit Hercule Poirot bewusst einen (fiktiven) belgischen Detektiv. Um diese zivilen Opfer des Ersten Weltkrieges kümmerten sich gezielt einzelne Gruppen und Organisationen, in Großbritannien besonders das War Refugees Committee (WRC), das im August 1914 von der Journalistin und Schriftstellerin Flora Shaw (Lady Lugard, 1852–1929) gegründet worden war. In Frankreich half die Sécours National, die gleichfalls bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn ihre Arbeit aufgenommen hatte, im Zeichen der nationalen Einheit (Union Sacrée), die karitative Unterstützung von Kriegsopfern zentral zu lenken und zu koordinieren. Die hohe Zahl der Flüchtlinge im Vereinigten Königreich überforderte die Hilfsorganisationen aber schon in den ersten Wochen. Die Gründerinnen des WRC – darunter auch Elizabeth Cadburg (1858–1951) in Birmingham – vereinbarten deshalb mit der Regierung, dass der Local Government Board die Verwaltung übernahm und das Schatzamt (Treasury) Finanzmittel bereitstellte. Damit konnte das WRC den geflohenen Belgiern Güter (vor allem Nahrung und Kleidung), aber auch Geld zur Verfügung stellen. Das Spektrum des humanitären Engagements umfasste auch die Gesundheitsfürsorge und das Erziehungswesen, die besonders den Kindern der Geflohenen zugutekommen sollten.153 Allerdings misstrauten vor allem das Kriegsministerium – und in diesem besonders die Geheimdienstabteilung – und die Admiralität den Flüchtlingen, die sie als Gefahr für die militärische Sicherheit wahrnahmen. Sie bemühten sich deshalb, die Kompetenzen des WRC einzuschränken und seine Arbeit zu behindern. Dazu dienten vor allem der Defence of the Realm Act und die Aliens Restriction Order. Das Innenministerium nahm in den Konflikten eine vermittelnde Position ein, denn es war einerseits für die innere Sicherheit zuständig, teilte aber auch die Sorgen des LGB. Als das auch in Großbritannien weithin erhoffte baldige Kriegsende illusorisch wurde, erlegte die Regierung den belgischen Flüchtlingen in zwei Ergänzungen der Aliens Restriction Order im November 1914 bzw. im April 1915 auf, sich auf Polizeistationen registrieren zu lassen und beim Betreten militärisch geschützter Zonen Ausweise zu präsentieren. Ebenso wie die Anarchisten und die osteuropäischen Juden, deren Einwanderung der 1905 erlassene Aliens Act eindämmen sollte, galten die belgischen Flüchtlinge nunmehr als „unerwünscht“ (undesirable). Die WRC traf damit auf eine Fremdenfeindlichkeit, die sich vor 1914 verschärft hatte und im Ersten Weltkrieg geschürt wurde, als die Zahl der Gefallenen wuchs und auch ansonsten die Belastungen an der „Heimatfront“ zunahmen. Unter den betroffenen 153 Cahalan, Belgian Refugee Relief, S. 329–349; Purseigle, Reception, S. 73–75, 79; Gatrell, Refugees, S. 83 f., 91, 104.

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Belgiern trafen die restriktiven Bestimmungen aber auf heftige Kritik. Wegen der gewachsenen Ablehnung kehrten die belgischen Flüchtlinge nach dem Waffenstillstand überwiegend rasch in ihre Heimat zurück.154 Obwohl sie während des Krieges auch einigen Einschränkungen unterworfen waren, die alle Ausländer betrafen (so der Meldepflicht für Reisen und dem Verbot, in militärisch wichtigen Zonen zu wohnen), galten die Flüchtlinge aus Belgien aber ebenso wie 1940, als erneut Soldaten und Zivilisten aus dem Land nach Großbritannien flohen, letztlich als Kriegsverbündete. Nachdem im Herbst 1914 Berichte über Kriegsgräuel deutscher Soldaten gegen belgische Zivilisten veröffentlicht worden waren, stilisierte sie die britische Kriegspropaganda zu Kämpfern gegen die „barbarischen“ Deutschen. Deshalb gründeten Aktivisten des War Refugees Committee in vielen britischen Gemeinden Hilfskomitees für die Flüchtlinge, so in Manchester den Belgian Relief Fund.155 Allein in England, Wales und auf den Kanalinseln wurden rund 2.500 dieser Organisationen gebildet, von denen sich viele zum War Relief Committee zusammenschlossen. Hochschulen wie die University of Cambridge nahmen belgische Studierende auf. Die Unterstützung der Geflohenen galt als nationale Mission und Beleg politisch-moralischer Überlegenheit, vor allem gegenüber den USA. Lloyd George sprach im Mai 1919 im Rückblick sogar von einem „act of humanity“. Dennoch verschärfte er sogar noch nach dem Kriegsende die restriktiven Gesetze gegen andere Ausländer weiter. Dem vom Premierminister verbreiteten Selbstbild Großbritanniens als Hort der Toleranz und Humanität widersprach auch die ab 1916 zunehmende Feindseligkeit gegen die belgischen Flüchtlinge und deren zügige Repatriierung nach Kriegsende, die der Präsident des LGB, Herbert Samuel, bereits im Herbst 1914 angekündigt hatte. Die Regierung überging dabei das WRC. 1919 befanden sich nur noch wenige belgische Flüchtlinge in Großbritannien.156 Ab 1915 hatte sich das Verhältnis zwischen der humanitären Philanthropie und dem Staat verändert, wie der zunehmende Einfluss der britischen Regierung auf die WRC exemplarisch zeigt. Da unter den wachsenden Opfern des Krieges Solidarität abnahm und auch die Einkommen der Mittelschichten fortschreitend schrumpften, ging das Spendenaufkommen, das die Arbeit der humanitären Organisationen zu Kriegsbeginn ermöglicht hatte, im zweiten Kriegs154 Cahalan, Belgian Refugee Relief, S. 357–403; Purseigle, Reception, S. 78–81; Gatrell, Refugees, S. 91 f, 102. 155 Kushner / Knox, Refugees, S. 47 f. 156 Cahalan, Belgian Refuge Relief; Kushner, Heroes, S. 1 f., 4, 6 (Zahlenangaben), 25 (Zitat); ders., Remembering, S. 16 f.; Ewence, Gap, S. 90 f., 93, 95, 98, 107; Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 72, 74. Zur Aufnahme von Studierenden in Cambridge: Sonja Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929, Göttingen 2006, S. 185.

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jahr deutlich zurück. Damit wurden die Verbände von staatlichen Institutionen abhängig, die einspringen mussten. In Großbritannien nutzte der LGB seine wachsende Macht, um die Arbeit der Hilfsorganisationen, die sich für geflohene oder internierte Zivilisten engagierten, zu kontrollieren und zu reglementieren. Die Einflussnahme der Behörden blieb aber verdeckt, um Spendende nicht zu entmutigen. Zugleich sollten auch die liberalen Fürsprecher philanthropischer Hilfe und gesellschaftlichen Engagements beruhigt werden. Nicht zuletzt drängten die großen Hilfsorganisationen (so der National Relief Fund und das British Red Cross, das im Ersten Weltkrieg 21 Millionen Pfund sammelte) auf Maßnahmen gegen kleinere Fürsorgeverbände, von denen sich einige als unfähig erwiesen hatten, Betrug und die Veruntreuung von Geld zu verhindern. Am 23. August 1916 verabschiedete das Kriegskabinett daraufhin den War Charities Act, der zwar nur eine indirekte Kontrolle der Stiftungen und der von ihnen finanzierten humanitären Organisationen vorsah, den Einfluss des Staates auf diese aber maßgeblich stärkte. So mussten Stiftungen ein Komitee als Aufsichtsgremium einsetzen. Zudem wurden sie zur Aktenführung verpflichtet. Rechnungsbücher und Protokolle sollten Transparenz gewährleisten. Zur Ausweitung der Staatskontrolle über philanthropische Aktivität trug auch die Einrichtung neuer Ministerien zur Versorgung (u. a. für Ernährung im Dezember 1916) bei, die nach dem Vorbild des 1915 etablierten Ministry of Munitions eingerichtet wurden.157 Insgesamt hatten die Initiativen zur Unterstützung der geflohenen Belgier in Frankreich und Großbritannien, aber auch in neutralen Staaten wie den USA zwar zunächst die Zivilgesellschaften aktiviert. Jedoch gingen staatliche Institutionen schon mittelfristig gestärkt aus diesem Mobilisierungsprozess hervor. Die Verstaatlichung, Bürokratisierung und Professionalisierung der humanitären Hilfe blieben im Ersten Weltkrieg zwar noch begrenzt. Jedoch vollzog sich in den kriegführenden Staaten langsam und in unterschiedlichem Ausmaß ein Wandel von philanthropischer Fürsorge zu Ansätzen einer deutlich anonymeren staatlichen Sozialarbeit. So wurden in Großbritannien nur Stiftungen und Verbände, deren Hilfsleistungen sich auf den Krieg bezogen, reglementiert. Die Regierung, die mit der Kontrolle der humanitären Organisationen überfordert war, sah zunächst aber von weiteren Eingriffen ab, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die liberalen Traditionen in der britischen Philanthropie. Noch schwächer blieb die staatliche Flüchtlingshilfe in Italien, wo gesellschaftliche Vereinigungen – besonders der Sozialisten und Katholiken – ihre Leistungen aber professionalisierten. Dazu etablierten sie einen bürokratischen Apparat, in dem arbeitsteilig gearbeitet wurde. Nur die Vielzahl lokaler Komitees, die in den wich157 Cahalan, Belgian Refugee Relief, S. 404–511 (Angabe S. 452); Kelly, Activity, S. 203.

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tigsten Städten gegründet wurden, ermöglichte den Flüchtlingen zu überleben. In Italien trug auch das Amerikanische Rote Kreuz maßgeblich zur Unterstützung von Vertriebenen und Evakuierten bei.158

Die globale Dimension des humanitären Engagements: die Dominions und die USA In den Dominions halfen den enemy aliens zahlreiche humanitäre Organisationen. So erhielt das IKRK Berichte des Deutschen Roten Kreuzes über die unzureichende Unterbringung von Internierten im Lager Amherst in der kanadischen Provinz Nova Scotia. In dem Land unterstützten ebenso Kirchen, Parteimitglieder des sozialdemokratischen Co-operative Commonwealth und viele einzelne Bürger die Gefangenen, die hier – wie dargestellt – zur Arbeit gezwungen wurden. Zudem lieferten internationale Hilfsorganisationen wie die YMCA Pakete, um Lagerinsassen ihr Leben hinter Stacheldraht zu erleichtern. Darüber hinaus versorgten Vereine wie das Austrian Philanthropic Committee, das in Montreal eine Suppenküche einrichtete, einzelne Gruppen von Feindstaatenangehörigen, die entweder bereits interniert oder noch in Freiheit waren.159 In Kanada, aber auch in anderen Dominions inspizierten Beobachter der Schweiz und Schwedens die Camps, um damit die Interessen der kriegführenden Länder in gegnerischen Staaten zu vertreten. So forderte der Schweizer Konsul für die Provinzen British Columbia und Alberta in seinem Bericht über das Lager Morrissey im September 1917 regelmäßige Inspektionen, da sich Insassen über die schlechte Behandlung beschwert hatten. Auch die YMCA erreichten Beschwerden von Gefangenen, die Staatsbürger Österreich-Ungarns waren und mit Bezug auf „Humanität“ forderten, die schwedische Schutzmacht zu informieren.160 Bis 1917 überwachten die USA in Staaten wie Großbritannien und Deutschland ebenfalls den Umgang mit zivilen Gefangenen. US-Diplomaten gingen Beschwerden von Lagerinsassen nach, die über zu harte Disziplin, Repressalien, Versorgungsmängel, fehlende Vorsorge für Unglücke oder Arbeitszwang klagten. Dabei arbeiteten sie eng mit den Außenministerien der beiden Länder zusammen. So informierte der amerikanische Botschafter in Berlin, James Gerard, das britische Foreign Office laufend über die Bedingungen in den

158 Ermacora, Assistance, S. 452 f.; Mondini / Frizzera, Borders, S. 182; Purseigle, Reception, S. 78; Little, State. 159 Manz / Panayi, Internment, S. 28; Kordan, Man, S. 65 f. 160 Luciuk, Fear, S. 26–28.

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Lagern in Deutschland. Dabei bemühte er sich, eine Eskalation von Repressalien zu vermeiden. Seine Berichte waren deshalb im Allgemeinen ausgewogen.161 Daneben wurden in den Dominions lokale Hilfsvereine gegründet. So unterstützen in der Südafrikanischen Union, wo die burische Bevölkerung mit Deutschland sympathisierte, diverse Organisationen deutsche Internierte und ihre Angehörigen, aber auch Österreicher, Ungarn, Türken und Bulgaren. Darunter ragten der „Deutsche Hülfs-Verein und Allgemeiner Unterstützungs-Verein“ (Johannesburg) heraus. Er kooperierte eng mit dem „Hilfsausschuss für die Deutschen in Britisch-Südafrika“, der in Berlin für die internierten Deutschen und ihre Angehörigen Spenden sammelte. In Südafrika war die staatliche Unterstützung für Ehefrauen und Kinder von Männern, die in Lagern gefangen gehalten wurden, zu gering, wie auch Schweizer Diplomaten dem britischen Generalgouverneur Südafrikas wiederholt mitteilten. Die Leistungen der Hilfsvereine, die u. a. auch in Durban und Pietermaritzburg arbeiteten, waren deshalb dringend notwendig. Ebenso wurde südafrikanischen Frauen geholfen, die mit Angehörigen der „Mittelmächte“ verheiratet waren.162 Humanitäre Organisationen, die in den Vereinigten Staaten arbeiteten, begünstigte zunächst die Neutralität des Landes, und US-Amerikaner spendeten bis 1917 großzügig.163 In den USA bildeten Aktivisten des 1906 gegründeten American Jewish Committee angesichts der Vertreibung von Juden in ÖsterreichUngarn und im Russischen Zarenreich im Oktober 1914 das Central Committee for the Relief of Jews Suffering through the War. Es handelte sich dabei um einen Zusammenschluss orthodoxer Juden, der Spenden an leidende osteuropäische Juden überwies. Breiter war die Zusammensetzung des ebenfalls im Herbst 1914 konstituierten American Jewish Relief Committee, während sich jüdische Sozialisten in einem People’s Relief Committee zusammenschlossen, das sie im August 1915 konstituierten. Als Dachorganisation fungierte das JDC, das nach einem dringenden Hilfegesuch von Juden im Osmanischen Reich an den US-Botschafter in Konstantinopel, Henry Morgenthau, schon 1914 eingesetzt worden war und auch jüdische Wohlfahrtsverbände in Ostmitteleuropa wie die Jewish Aid Society in Russia unterstützte. Bis Ende 1918 sammelte das JDC insgesamt mehr als 16,5 Millionen Dollar. Im besetzten Polen arbeitete darüber hinaus besonders der „Hilfsverein der deutschen Juden“. Alles in allem blieb die karitative Hilfe, die jüdische Organisationen im Ersten Weltkrieg vor allem in den drei

161 NA, FO 383/163, Bl. 44–47. Vgl. auch Smith, Japanese Canadians, S. 107; Reinecke, Grenzen, S. 252; Stibbe, Civilian Internment, S. 140; Vandenberg, Gerard, S. 110. 162 Dazu NA, FO 383/305 (Brief vom 30. August 1917 und Rundschreiben vom Juli 1917); FO 383/472 (Schreiben vom 5. Juni 1918). 163 Churchwell, America, S. 43.

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großen multiethnischen Imperien Ostmittel- und Osteuropa bereitstellten, aber zersplittert. Die Trennung spiegelte letztlich die Kluft zwischen liberalen, orthodoxen und zionistischen Juden wider.164 Darüber hinaus wurde in den USA mit dem National Civil Liberties Bureau (aus dem 1920 die American Civil Liberties Union hervorgehen sollte) eine Organisation gegründet, die sich der Überwachung von Feindstaatenangehörigen oder Bürgern ausländischer Herkunft widersetzte und Verletzungen der Menschenrechte dieser Gruppen entschieden verurteilte. Auch pazifistische und sozialistische Gruppen und Verbände wie die IWW in den Vereinigten Staaten stemmten sich der Fremdenfeindlichkeit entgegen.165 Allerdings waren die Pazifisten und Sozialisten in gemäßigte und radikalere Gruppen getrennt, wie schon die Konferenz zeigte, die vom 5. bis 8. September 1915 im eidgenössischen Zimmerwald stattfand. Die Sozialistische Partei Frankreichs nahm ohnehin nicht an der Tagung teil, da sie die Union sacrée unterstützte. Auch die britischen Sozialisten der Independent Labour Party reisten nicht in die Schweiz, da ihnen die Regierung des Vereinigten Königreiches Pässe verweigert hatte. Unter den Sozialisten, die zu den Beratungen in Zimmerwald beitrugen, blieb die Priorität von Frieden oder Revolution umstritten. Die Konferenz konnte deshalb zwar internationale Verbindungen zwischen den sozialistischen Kriegsgegnern herstellen, aber das Ziel, einen Waffenstillstand zu erzwingen, nicht erreichen.166 Internationale humanitäre Hilfsaktionen gingen nicht zuletzt von philanthropischen Organisationen wie der RF und dem 1910 konstituierten Carnegie Endowment for International Peace aus. Inspiriert von Andrew Carnegies Konzept des „scientific giving“, strebten die großen amerikanischen Stiftungen im Ersten Weltkrieg neben der Linderung akuter Not an, humanitäre Probleme von vornherein zu verhindern. Diesem Zweck diente beispielsweise die War Relief Commission der RF. Die Stiftung gewährte u. a. in Frankreich humanitäre Hilfe und bekämpfte dort ab 1917 die Tuberkulose. Ihre Aktivitäten beschränkten sich aber weitgehend auf Nothilfe, die zudem sogar intern umstritten war. So wies die Rockefeller Foundation 1915 ihre Vertreter in Mitteleuropa in die Schranken, da diese mit Verhandlungen über die Bildung einer Kommission zur Unterstützung für Polen ihre Kompetenzen überschritten hatten. Außerdem behinderten bürokratische Vorschriften und diplomatische Regeln die humanitäre Hilfe amerikanischer Nichtregierungsorganisationen in Europa. Am schwierigsten er164 Yehuda Bauer, My Brother’s Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929–1939, Philadelphia 1974, S. 6–8, 15 (Angabe: S. 8); Gatrell, Refugees, S. 92. Zur Gründung des JDC auch Angelika Königseder / Juliane Wetzel, Waiting for Hope: Jewish Displaced in post-World War II Germany, Evanston 2001, S. 55. 165 Nagler, Victims, S. 194; Trommler, Lusitania Effect, S. 248. 166 Lademacher, Illusion, S. 313, 318, 320, 337 f., 360, 385.

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wies sich aber die Herausforderung, die Nothilfe mit den Zielen der kriegführenden Staaten zu vereinbaren. So rechtfertigten die CRB, das ARC und die RF ihre Unterstützung utilitaristisch, indem sie die entlastende Wirkung und damit den militärischen Wert der Leistungen herausstellten.167

Zivilgesellschaftliche Gefangenenhilfe in Deutschland und Russland Darüber hinaus setzten sich im Ersten Weltkrieg innerhalb der einzelnen kriegführenden Staaten zivilgesellschaftliche Organisationen für eine humane Behandlung von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten ein. Viele dieser Verbände waren zugleich pazifistisch wie der „Bund Neues Vaterland“. Andere sorgten für einzelne Gruppen, so der „Hilfsverein der deutschen Juden“, der im Herbst 1914 offiziell als „harmlos“ geltende Russen in das Zarenreich zurückbrachte. Allerdings erfüllte er diese Aufgabe im Auftrag des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, um das „Russenlager Ruhleben“ räumen und dort britische Zivilisten unterbringen zu können. Zudem sollte damit das deutsche Transport- und Versorgungssystem entlastet werden. Ähnlich auf die nationalen Kriegsanstrengungen orientiert waren zivilgesellschaftliche Vereinigungen in Frankreich. Hier schloss sich beispielsweise die Ligue des Droits de l’Homme der Union des Grandes Associations contre la Propagande Ennemie an, die nachhaltig zur Koordination der Kriegspropaganda beitrug und 1917/18 gegen einen Verhandlungsfrieden agitierte. Die Ligue des Droits de l’Homme hielt damit bis zum Kriegsende an ihrer Unterstützung der Union sacrée fest.168 Ambivalent blieb auch die Rolle humanitärer Hilfsorganisationen in Russland im Ersten Weltkrieg. Die Gesellschaft des späten Zarenreiches war zwar weitgehend eine „staatliche Veranstaltung“.169 So nahmen die Regierung und Behörden hier vielerorts gesellschaftliche Verbände für ihre Entwicklungspro167 Little, Explosion, S. 3, 8; ders., Relief, S. 144, 147; Herren, Internationale Organisationen, S. 47. Dazu auch: Andrew Carnegie, The Gospel of Wealth, Cambridge/Mass. 1962 (11889); Judith Syga-Dubois, Wissenschaftliche Philanthropie und transatlantischer Austausch in der Zwischenkriegszeit. Die sozialwissenschaftlichen Förderprogramme der Rockefeller Stiftungen in Deutschland, Köln 2019, S. 230; Judith Sealander, Curing Evils at their Source: The Arrival of Scientific Giving, in: Lawrence Jacob Friedman / Mark D. McGarvie (Hg.), Charity, Philanthropy and Civility in American History, Cambridge 2003, S. 217–239; Thomas Adam, Philanthropy, in: Iriye / Saunier (Hg.), Palgrave Dictionary of Transnational History, S. 832–834. 168 Ingram, The War Guilt Problem, S. 17, 20, 31; Horne, Remobilizing for ‚Total War‘, S. 199; Jahr / Thiel, Colour, S. 44 f. 169 So Dietrich Geyer, „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaats im 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 14 (1966), S. 21–50. Ähnlich auch: Dietrich Geyer, Rußland in den Epochen des zwan-

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jekte in Dienst. Von 1914 bis 1918 unterstützten die lokalen Selbstverwaltungsorgane und Vereine der Semstwa, die seit 1864 in den Provinzen gebildet worden waren, die Mobilisierung in Russland und die Kriegsanstrengungen des Zarenreiches. Obwohl eine Zusammenarbeit der Organe über die Grenzen der Gebietskörperschaften hinweg noch in den 1890 erlassenen Statuten verboten worden war, hatten die Semstwa zunehmend auch staatliche Aufgaben übernommen. Damit weckten sie auf dem Lande zwar zunächst das Misstrauen der Bauern, die Eingriffe und Requisitionen befürchteten. Jedoch trieben die Selbstverwaltungsorgane die Professionalisierung voran, auch in der Landwirtschaft. Zudem unterstützten die Semstwa in den Gemeinden den Ausbau der Infrastruktur, und sie förderten den Austausch zwischen den gebildeten Schichten und Bauern, die damit in die russische Gesellschaft integriert wurden. Die Selbstverwaltungsorgane, die sich nach dem Krieg gegen Japan und der Revolution von 1905 zu einer Union zusammenschließen konnten, wurden maßgeblich von Angestellten getragen. Sie verstanden sich neben den Staatsbeamten in den Provinzen und den adligen Abgeordneten als „Drittes Element“.170 Im Ersten Weltkrieg engagierten sich die Semstwa vor allem für die Verwundeten- und Gefangenenfürsorge. Dabei halfen sie auch zivilen Feindstaatenangehörigen. Ebenso bemühten sich andere zivilgesellschaftliche Akteure, das Alltagsleben dieser Gruppe in Russland zu erleichtern. Sie arbeiteten auf der Grundlage des Vereinsrechtes. Bereits 1785 war unter dem Einfluss der Aufklärung mit der „Freien Ökonomischen Gesellschaft“ in St. Petersburg die erste Assoziation gebildet worden. Die Gründung weiterer gesellschaftlicher Organisationen erfolgte im Zuge der Reformpolitik Zar Alexanders II. in den 1860er Jahren. Nachdem der rechtliche Stellenwert und politische Rahmen von Vereinen zigsten Jahrhunderts. Eine zeitgeschichtliche Problemskizze, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 258–294. 170 Manfred Hildermeier, Rußland oder Wie weit kam die Zivilgesellschaft?, in: ders. / Jürgen Kocka / Christoph Conrad (Hg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt/M. 2000, S. 113–148, bes. S. 119–132; ders., Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 53 f.; Kirsten Bönker, Akteure der Zivilgesellschaft vor Ort? Presse, Lokalpolitik und die Konstruktion von „Gesellschaft“ im Gouvernement Saratov, 1890–1917, in: Bauerkämper (Hg.), Praxis, S. 77–103, bes. S. 89; Guido Hausmann, Die wohlhabenden Odessaer Kaufleute und Unternehmer. Zur Herausbildung bürgerlicher Identitäten im ausgehenden Zarenreich, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48 (2000), S. 41–65, bes. S. 58 f., 64 f.; Katja Bruisch, Als das Dorf noch Zukunft war. Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion, Köln 2014, S. 39, 50, 70; Holquist, „In Accord with State Interests and the People’s Wishes“, S. 158–161; Siobhan Peeling, Union of Zemstvos and Towns (http://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/union_of_zemstvos_and_towns; Zugriff am 28. Januar 2016); Long, From Privileged to Dispossessed, S. 160–169; Moorehead, Dream, S. 232 f.

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lange unsicher geblieben war und die Behörden bis zum 19. Jahrhundert nur gelehrte Gesellschaften zugelassen hatten, nahm nach der Hungersnot und den Choleraepidemien von 1891/92 besonders die Zahl karitativer Organisationen sprunghaft zu. So wurden in den 1890er Jahren mehr als 2.200 dieser Verbände gegründet, im Allgemeinen als freiwillige Vereine. Ihre Aktivitäten zielten nicht nur darauf ab, drückende Not lindern, sondern auch grundsätzlich die schlechten Lebensbedingungen in den schnell wachsenden russischen Städten zu verbessern. Diese Assoziationen, die oft soziale Gegensätze überbrückten, strebten nicht mehr vorrangig eine Stärkung der Monarchie und des russischen Staates an, sondern eine gesellschaftliche Selbstorganisation und öffentliches Engagement für das Gemeinwohl. Sie vertraten Werte und Ideale wie individuelle Initiative, Autonomie, Toleranz, gegenseitigen Respekt, Rationalität, Fortschrittsoptimismus und Professionalität. Die Vereine wurden auch nicht länger vorwiegend von hohen Beamten und örtlichen Honoratioren getragen. Vielmehr gingen sie vor allem in den Städten auf die Initiative von Unternehmern, der Intelligenz und Angehörigen der neuen freien Berufe zurück. Die Behörden des Zarenreiches reagierten auf die Gründungswelle, indem sie 1897 Musterstatuten erließen, so für Assoziationen zur Armenhilfe oder zur Unterstützung bedürftiger Studenten.171 Im Krieg gegen Japan (1904/05) übernahmen die Semstwa den Transport und die Behandlung von rund 50.000 verwundeten Soldaten des Zarenreiches. Das Manifest, mit dem Zar Nikolaus II. am 17. Oktober 1905 eine Verfassung, bürgerliche Freiheiten und ein Parlament (die Duma) bewilligte, verlieh der politischen und publizistischen Öffentlichkeit weitere kräftige Impulse. Unter dem Leitbild der Gesellschaftlichkeit (obstschestwennost) sollten verantwortungsbewusste, am Gemeinwohl interessierte Bürger Russland selbständig modernisieren. Dazu trug auch das Engagement zugunsten einer systematischeren karitativen Hilfe für Arme bei. Sie löste sich von den überkommenden Leitbildern der Barmherzigkeit und religiöser Fürsorge. Darüber hinaus initiierten besonders die Semstwa nach der Revolution von 1905 zahlreiche Programme zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung, zur Entwicklung der dörflichen Infrastruktur und zur Erziehung. Ebenso trieben sie mit Unterstützung von Lehrern und Angehörigen von Professionen wie Ärzten, Agronomen und Statistikern, deren Zahl im späten 19. und 20. Jahrhundert zunahm, die Erwachsenenbildung voran. Zögernd unterstützte auch die Staatsverwaltung diese Bemühungen. Insge171 Adele Lindenmeyr, Poverty Is Not a Vice. Charity, Society, and the State in Imperial Russia, Princeton 1996, S. 196–232 (Angabe: S. 198); Joseph Bradley, Subjects to Citizens: Societies, Civil Society, and Autocracy in Tsarist Russia, in: American Historical Review 107 (2002), S. 1094–1123, hier: S. 1096, 1107, 1114.

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samt hatten sich mit der „gelehrten Gesellschaft“ (obstschestwo) der neuen Professionen, den Vereinen, den Semstwa und einer stadtbürgerlichen Öffentlichkeit vor 1914 Konturen einer Zivilgesellschaft herausgebildet. Allerdings war dieser Prozess mit einer nationalen Mobilisierung einhergegangen, die eine repressive Politik gegenüber „Feinden“ begünstigte. Überdies scheiterte 1905/06 eine Erweiterung der provinzialen Selbstverwaltung auf die Bezirke und Kreise. Interpretationen, die allgemein von einer „reaktionären“ Entwicklung der Semstwa nach 1905 ausgehen, sind aber zu undifferenziert. Vielmehr öffnete sich zwischen großen gesellschaftlichen Gruppen und den neuen politischen Parteien einerseits und der autokratischen Zarenherrschaft andererseits eine immer breitete Kluft.172 So bildeten sich in Russland vor dem Ersten Weltkrieg zumindest Ansätze einer Zivilgesellschaft heraus, wenngleich deren rechtliche und institutionelle Grundlage schwach blieb. Mit ihren vielfältigen Aktivitäten trugen besonders Vereine trotz der widersprüchlichen Politik der politischen Eliten und der begrenzten Ressourcen zu einer gesellschaftlichen Mobilisierung bei, die sich im späten Zarenreich auch unabhängig von der Regierung und staatlichen Institutionen vollzog. Als selbstbestimmte und -organisierte Organe förderten diverse Vereinigungen und Selbstverwaltungsorgane Eigeninitiative, Autonomie, Selbstverantwortlichkeit, Unternehmersinn, Rationalität, Fortschrittsorientierung und Philanthropie. Damit entstand zugleich ein öffentlicher Raum, besonders in den Städten. Hier entzogen sich die Assoziationen oft obrigkeitlicher Kontrolle. Sie zielten überwiegend auf Reformen und waren auf die Entwicklung des Zarenreiches orientiert, dem sie loyal zu dienen suchten. Jedoch konfrontierte der Kriegsausbruch Russland mit gewaltigen Herausforderungen. Deshalb stimmte der Ministerrat im August 1914 der Bildung eines „Allrussischen Semstwo-Bundes“ und des „Allrussischen Stadtbundes“ als Sammelorganisationen zu. Der Erste Weltkrieg schien damit Chancen für ein stärkeres staatsbürgerliches Bewusstsein und eine nationale Mobilisierung zu bieten, die aber in dem multiethnischen Reich von vornherein schwierig und zweideutig war. So sollte der Zusammenschluss der Selbstverwaltungsorgane und Städte vorrangig verwundete russische Soldaten von der Front evakuieren und in Lazaretten versorgen. Ein kaiserliches Dekret vom 28. August unterstellte den „All172 Thomas Earl Porter, The Emergence of Civil Society in Late Imperial Russia. The Impact of the Russo-Japanese and First World Wars on Russia, in: War and Society 23 (2005), S. 41–60, hier: S. 42, 44–48; David Wartenweiler, Civil Society and Academic Debate in Russia, 1905– 1914, Oxford 1999, S. 114–118; Scott J. Seregny, Zemstvos, Peasants and Citizenship: The Russian Adult Education Movement and World War I, in: Slavic Review 59 (2000), S. 290–315, hier: S. 290–293; Holquist, War, S. 13; Lindenmeyr, Poverty, S. 95 f., 140, 165, 225, 230; Stadelmann, Revolution, S. 36.

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russischen Semstwo-Bund“ dem Roten Kreuz Russlands, das 1914 über 500 Krankenhäuser und Sanatorien verfügte. Auch arbeiten 8.000 Ärzte und Krankenschwestern sowie 4.500 Nonnen für die Zentrale des nationalen Roten Kreuzes in Petrograd. Diese Helfer waren damit ebenso wie die Semstwa zwar in der Zivilgesellschaft verankert, zugleich aber auch an die Politik der Regierung gebunden. Ein universalistisches humanitäres Engagement entwickelte sich daraus kaum.173 Nach den ersten militärischen Niederlagen 1915 und weiteren Rückschlägen, die Zar Nikolaus II. als Oberbefehlshaber der Streitkräfte (seit September 1915) angelastet wurden und zu einer Legitimitätskrise der Monarchie führten, durften die beiden Vereinigungen der Semstwa und der Städte schließlich ein gemeinsames Komitee (Semgor) bilden. Zugleich bemühten sich die Selbstverwaltungsorgane jedoch um Distanz zum Staat und zum Militär, das Assoziationen oft gezielt nutzte, um sich der Fürsorge für Flüchtlinge und Deportierte zu entledigen. Die Semstwa gründeten eigene Verbände des Roten Kreuzes und stellten weiterhin Ärzte und Krankenschwestern an, die verwundete Soldaten medizinisch versorgten. Schon im November 1914 unterstanden dem „Allrussischen Semstwo-Bund“ 1.667 Hospitäler. 1915 verfügte die Organisation, die erhebliche staatliche Zuschüsse erhielt, über fünfzig Versorgungszüge, die in allen europäischen Provinzen des Zarenreiches zusammen 16.000 Verwundete oder Kranke aufnehmen konnten. Bis zum Kriegsende wurden so mehr als vier Millionen Soldaten von der Front abtransportiert. Poster und andere Druckmedien unterstützten die karitative Arbeit der Semstwa und des Roten Kreuzes, indem sie zu Spenden aufriefen. Zudem halfen die Selbstverwaltungsorgane den rund sechs Millionen Flüchtlingen, die 1917 im Zarenreich fünf Prozent der Bevölkerung stellten. In einzelnen Städten wie Samara erreichte ihr Anteil an der Einwohnerschaft sogar dreißig Prozent.174 173 Angaben nach: Moorehead, Dream, S. 232. Vgl. auch Joseph Bradley, Voluntary Associations in Tsarist Russia. Science, Patriotism and Civil Society, Cambridge/Mass. 2009, S. 17–37, 254–265; ders., Subjects, S. 1105, 1110, 1120 f.; William Gleason, The All-Russian Union of Zemstvos and World War I, in: Terence Emmons / Wayne S. Vucinich (Hg.), The Zemstvo in Russia. An Experiment in Local Self-Government, Cambridge 1982, S. 365–382, bes. S. 366, 376; Thomas Porter / William Gleason, The Democratization of the Zemstvo During the First World War, in: Mary Schaeffer Conroy (Hg.), Emerging Democracy in Late Imperial Russia. Case Studies on Self-Government (the Zemstvos), State Duma Elections, the Tsarist Government, and the State Council Before and During World War I, Niwot 1998, S. 228–242; Porter, Emergence, S. 51 f.; Holquist, War, S. 13, 284; Seregny, Zemstvos, S. 293, 302, 307 f., 313; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 211; Sanborn, Empire, S. 315; Fedjuk, Kampf, S. 111; Leidinger / Moritz, Flüchtlingslager, S. 192; Chickering, Das Deutsche Reich, S. 236. 174 Jahn, Culture, S. 63, 68, 176; Gatrell, Refugees, S. 93; Holquist, Forms, S. 340–342; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 211 f.; Stevenson, 1914–1918, S. 348.

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Weitere Bürgerkomitees kümmerten sich um einzelne Opfergruppen, so Muslime und Armenier. Die größte karitative Organisation für Flüchtlinge wurde aber das am 14. September 1914 gegründete „Tatjana-Komitee“, das allein bis Ende 1915 staatliche Zuschüsse in Höhe von 15 Millionen Rubel erhielt, u. a. Unterkünfte besorgte und 1916 die Russen mit einer Sonderausstellung über die Not der Flüchtlinge informierte. Das Komitee, das nach der Tochter des Zaren, Großfürstin Tatjana, benannt wurde, sammelte Spenden, erhielt aber auch staatliche Zuschüsse. Die Organisation, deren Mitglieder überwiegend dem Wirtschaftsund Bildungsbürgertum, den freien Berufen, dem Klerus und der Beamtenschaft entstammten, richtete in vielen Orten schon bis 1915 Hilfsstellen ein, die Flüchtlinge und Internierte u. a. mit Nahrungs- und Arzneimitteln versorgten. Auch den Semstwa und Vereinen gehörten vielerorts Ingenieure und Angehörige von Funktionseliten an, die der fremdenfeindlichen Kampagne tendenziell skeptischer gegenüberstanden als viele Arbeiter und Unternehmer. Vor allem aber schränkten sie die autokratische Herrschaft des Zarenhofes ein. Dabei begünstigten die Selbstverwaltungsorgane die Weite des Landes und die enormen Distanzen im russischen Reich. Zugleich konnten sich die Semstwa als Repräsentanten eines sozialen Patriotismus empfehlen. Sie grenzten sich damit vom aggressiven Militarismus der Regierung ab, beanspruchten aber, zur gesellschaftlichen Mobilisierung für den Krieg beizutragen und seine Folgen durch humanitäre Hilfe abzufedern. Damit sollten sogar die Funktionsmängel staatlicher Institutionen und die Schwächen der Zarenherrschaft ausgeglichen werden.175 Alles in allem konnten sich die Vereine und Verbände zwar um Kriegsopfer wie die internierten Feindstaatenangehörigen kümmern, jedoch die staatliche Kontrolle keineswegs abschütteln. Vielmehr alimentierte die Regierung die Komitees sogar. Allerdings vollzog sich unter dem Druck des Ersten Weltkrieges, in dem der Ministerrat nach der Niederlage in der Schlacht von Gorlice-Tarnów alle verfügbaren Ressourcen einsetzen musste, eine verstärkte gesellschaftliche Mobilisierung, zunächst überwiegend noch im Zeichen des Reichspatriotismus. So konnten die Semstwa die Bauern für Bildung gewinnen, indem sie ihr Interesse am Kriegsverlauf aufnahm. Dabei wurden auf dem Lande in Bibliotheken nicht nur die Buchbestände – besonders zur Geschichte und Geographie – aufgestockt, sondern auch Vorträge und Diskussionen angeboten. Ebenso setzten andere wohltätige Assoziationen ihre Tätigkeit oft fort, indem sie besonders rus-

175 Dmytro Myeshkov, Art. „Tatjana-Komitee“, in: Detlef Brandes / Holm Sundhaussen / Stefan Troebst (Hg.), Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien 2010, S. 637 f.; Belova, ‚Human Waves‘, S. 90, 93, 97; Gatrell, Refugees, S. 93, 104 f.; Holquist, Forms, S. 340–342; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 212; Little, State.

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sische Opfer unterstützten. So sammelten Unterhaltungskünstler für Soldaten und Kriegsbeschädigte. Einige Vereinigungen halfen aber auch Ausländern. Christliche Wohltätigkeitsorganisationen wie das „Komitee des St. Petersburger evangelischen Feldlazaretts“ bedachten bedürftige Kriegsgefangene und zivile Angehörige von Feindstaaten mit Spenden. Damit setzen sie sich aber dem Verdacht der Unterwanderung aus. In Dorpat leiteten die Behörden beispielsweise im Februar 1917 Ermittlungen gegen ein deutsch-baltisches „Komitee“ ein, das die Behörden beschuldigten, illegal Spenden zu sammeln. Insgesamt gelang den Semstwa und den zivilgesellschaftlichen Vereinen bis Anfang 1917 eine begrenzte Mobilisierung der Heimatfront. Der Ministerrat und die staatliche Verwaltung beobachteten diesen Prozess zwar mit Argusaugen, unterstützten ihn aber letztlich, da sie damit die Hoffnung verbanden, den Krieg trotz der erheblichen militärischen Rückschläge gewinnen zu können.176 Die Rolle der Verbände selber war aber im Ersten Weltkrieg ambivalent, denn die Selbstverwaltungsorgane und die in ihnen arbeitende technokratische Elite der Spezialisten blieben dem Leitbild des Dienstes für das Vaterland verhaftet. Diesem fühlte sich auch die gebildete Intelligenz verpflichtet. Die Angehörigen der neuen Professionen und die mit ihnen verbundenen Assoziationen teilten im Ersten Weltkrieg die nationale Euphorie. Ebenso strebte der Vorsitzender des „Allrussischen Semstwo-Bundes“, Georgi Jewgenjewitsch Lwow, vorrangig den Sieg Russlands an. Der Bund beteiligte sich deshalb an den Bemühungen der Militärbehörden, die Kampfmoral der russischen Truppen zu steigern. Er half vorrangig russischen Kriegsopfern und Flüchtlingen. Demgegenüber nahmen Semstwa vielerorts die Zwangsaussiedlung von Deutschen hin. Ihr Verhältnis zum zarischen Staat blieb damit alles in allem ambivalent. Das Ziel, die Kriegsanstrengungen auszuweiten, lag auch den Aktivitäten des ebenfalls im August 1914 gegründeten Städtebundes und des Semgor zu Grunde, welches die Versorgung der Armee zentral koordinieren sollte und dafür staatliche Zuschüsse erhielt. Auch diese Organe unterhielten z. T. eigene Gruppen des Roten Kreuzes. Letztlich erwies sich das Zarenregime trotz der Beteiligung von Genossenschaften, lokalen Flüchtlingskomitees und Semstwa in einzelnen Bereichen wie der Getreideversorgung als unfähig und unwillig, zivilgesellschaftliche Assoziationen effektiv in die Kriegsorganisation und -führung einzubinden. Die gezielte Verbreitung der Germanophobie und der Internierung

176 Dönninghaus, Deutschen, S. 498–501; Jahn, Culture, S. 176; Seregny, Zemstvos, S. 304 f., 312–315.

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von Deutschen ist deshalb sogar als Ersatzhandlung der regierenden Eliten interpretiert worden, um von diesen Defiziten abzulenken.177 Viele liberale Politiker und gesellschaftliche Vereinigungen unterstützten gleichfalls Opfer des Krieges. Soziale Organisationen wie die Pirogow-Gesellschaft russischer Ärzte sorgten auch für die Ernährung und Betreuung von Kriegsgefangenen, Flüchtlingen und Deportierten. Damit übernahmen sie wichtige Aufgaben staatlicher Behörden, die den neuen organisatorischen Herausforderungen im Krieg nicht gewachsen waren. Sie sorgten aber ebenso wie andere Verbände und Gruppen vorrangig oder sogar ausschließlich für spezifische Volksgruppen, vor allem Russen. So verpflichteten sich an vielen Universitäten (so derjenigen in Jurew) Bedienstete und Studierende zwar allgemein zur Flüchtlingshilfe und zur Pflege von Verwundeten. Jedoch wurden vorrangig verletzte russische Soldaten und Vertriebene versorgt. Für sie führten Angehörige von Hochschulen auch Benefizveranstaltungen durch. Die russische Zivilgesellschaft blieb damit nicht nur schwach, sondern sie war auch ethnisch gespalten. Die soziale Mobilisierung ging mit einer Nationalisierung einher, die sich im Zarenreich letztlich gegen Minderheiten und Feindstaatenangehörige richtete. Dabei traf der Reichspatriotismus auf den Nationalismus der einzelnen Völker, so der Polen. Zudem standen einer umfassenden gesellschaftlichen Mobilisierung die Interessen und Ziele lokaler Honoratioren entgegen.178 So schlossen sich die Aktivisten der öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Sphäre (obstschestwennost) 1914/15 in Petrograd und Moskau der fremdenfeindlichen Kampagne an, die der Ministerrat zur Mobilisierung aller Ressourcen für eine effektive Kriegführung initiiert hatte. Mancherorts entzogen auch SemstwoVersammlungen – so diejenige des Kreises Nowgorod – und Stadtdumen (z. B. in Jaroslawl und Rostow) den Deutschen ihr Eigentum und die Freizügigkeit. Damit unterwarfen sie sich erneut der obrigkeitlichen Kontrolle, die sie erst durch ihre Hilfsaktionen nach der Hungersnot von 1891 und der Choleraepidemie im darauffolgenden Jahr z. T. abgeschüttelt hatten. Im Ersten Weltkrieg trugen auch gelehrte Gesellschaften wie die Russische Technische Vereinigung und die Pirogow-Gesellschaft zur nationalistischen Mobilisierung bei. Einzelne gebildete Spezialisten des „Dritten Elements“ wirkten sogar an der Zwangsver177 Interpretation nach: Sergeev, Wahrnehmung, S. 107. Vgl. auch Maurer, Integration, S. 186–188, 191; Aust, Russische Revolution, S. 20, 26, 86; Belova, ‚Human Waves‘, S. 93–95, 97; Holquist, War, S. 14; Porter, Emergence, S. 50–54; Fuller, Foe, S. 200; von Hagen, Great War, S. 46; Sanborn, Imperial Apocalypse, S. 91, 100, 155 f., 164–166, 168; Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 56 f.; ders., Geschichte Russlands, S. 1061 f.; Neutatz, Träume, S. 142; Hutchinson, Champions, S. 220, 256; Lohr, War, S. 667; Gatrell, War, S. 678. 178 Maurer, Integration, S. 186–188, 191; Fedjuk, Kampf, S. 108; Korowina, Munition, S. 256; Proctor, Civilians, S. 199; Seregny, Zemstvos, S. 293.

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schleppung der Deutschen mit. Damit sollte auch das Bündnis mit Großbritannien gestärkt und den Slawen, die außerhalb des Zarenreiches lebten, die Solidarität Russlands bekundet werden. Dabei wurde das zunächst dominierende Sicherheitsinteresse der Militärs ab 1915 zunehmend von dem Motiv verdrängt, die deportierten oder in Geiselhaft genommenen Deutschen und Juden zu berauben. Indem das wankende Zarenregime an den Nationalismus der Vereine appellierte und die Bildung neuer patriotischer Assoziationen herbeiführte, förderte es die Nationalisierung der Politik und ethnische Abgrenzungen. Damit trugen die Machthaber letztlich zum Zerfall des Imperiums bei. Auch die Aktivität der Vereine, die sich ab 1915 zusehends gegen die Politik des Ministerrates wandte, spiegelt die Ambivalenz der obstschestwennost im Ersten Weltkrieg wider. Alles in allem trug das zivilgesellschaftliche Engagement zwar dazu bei, dass Russland im Ersten Weltkrieg mehr als drei Jahre durchhielt. Allerdings gelang dies nur mit Hilfe einer Fundamentalnationalisierung, die letztlich die politische Integrationskraft des multiethnischen Zarenreiches unterhöhlte.179 Widersprüchlich war auch die Rolle der Orthodoxen Kirche im Ersten Weltkrieg. Einerseits nahm sie viele Laienverbände auf, so dass die Geistlichen stärker in die Gesellschaft integriert wurden. Andererseits blieben die Netzwerke, die auch Semstwa und Verbände des Roten Kreuzes umfassten, weitgehend dem russischen Nationalismus verhaftet. Ebenso halfen Kleriker der Orthodoxen Kirche vorrangig den Gläubigen in ihren Gemeinden, so den Frauen und Kindern von Soldaten und Gefallenen. Dabei kooperierten sie vielerorts mit Laienverbänden. Demgegenüber unterstützten die Geistlichen internierte Deutsche und Österreicher offenbar kaum. Alles in allem dämmten zivilgesellschaftliche Kräfte in Russland die Fremdenfeindlichkeit und die daraus oft resultierende Gewalt gegen „Feinde“ im Ersten Weltkrieg kaum ein.180

179 Anastasiya Tumanova, Voluntary Associations in Moscow and Petrograd and Their Role in Patriotic Campaigns During World War I (1914 – February 1917), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62 (2014), S. 345–370, 348, 354, 358; Joseph Bradley, Voluntary Associations in Tsarist Russia. Science, Patriotism and Civil Society, Cambridge/Mass. 2009, S. 258–264; Fuller, Foe, S. 183. Aus zeitgenössischer Perspektive: Lindemann, Kolonisten, S. 110 f. Zum Kontext: Manfred Hildermeier, Traditionen „aufgeklärter“ Politik in Rußland, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 75–94. 180 Daniel Scarborough, Faith without Works is Dead: Sacred Space and Civil Society in Late Imperial Moscow and Tver, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62 (2015), S. 207–232, hier: S. 207–210, 223–225, 228 f.; Porter, Emergence, S. 41, 59; Chickering, Das Deutsche Reich, S. 236. Kritik an einer Fixierung auf den Zerfall des Zarenreiches („declensionism“) in: Bradley, Subjects, S. 1105.

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Gewinne und Grenzen der Kooperation zwischen humanitären Organisationen und Regierungen: die Quäker als Beispiel Trotz der nationalen Feindschaften und der professionellen Konkurrenz kooperierten humanitäre Verbände grenzüberschreitend miteinander. Sie beobachteten sich und lernten sogar voneinander. So arbeitete das IKRK bei der Fürsorge für die Internierten eng mit anderen ähnlichen Organisationen wie Elisabeth Rottens „Auskunft- und Hilfstelle“ in Berlin und dem 1908 in London gegründeten National Peace Council zusammen. Besonders eng stimmte sich das FEC mit Rotten und ihren Mitarbeiter ab, mit denen es seit November 1914 kooperierte. Beide Verbände koordinierten die Unterstützung britischer Staatsbürger, die in Deutschland lebten und vom Emergency Committee der Quäker nicht unterstützt werden konnten. Vor allem Frauen, die oft die behördliche Armenhilfe ablehnten, bedurften der Fürsorge.181 Beide Organisationen unterhielten darüber hinaus Kontakte zu Friedensbüros in Stuttgart und Bern, die als humanitäre Relaisstationen Post der Internierten weiterleiteten, ihnen Informationen vermittelten und sich für ihre Rückführung in die jeweiligen Heimatländer einsetzten.182 Zu dem Netzwerk gehörten auch Hartmanns Komitee und regionale Verbände wie die „Badische Gefangenenfürsorge“, die ihrerseits mit den Quäkern in London (so Charles Hobhouse) korrespondierte. Mehrfachmitgliedschaften einzelner Aktivisten erleichterte die Kooperation. So gehörte die Quäkerin Ruth Fry über das FEC hinaus auch anderen Organisationen an. Nach dem Ersten Weltkrieg sollte sie sich für den Russian Famine Relief Fund und den Save the Children Fund engagieren, der für notleidende Kinder sorgte. Ralph Fox (1900–1936), der gleichfalls für das VRC arbeitete, zählte zu den Gründungsmitgliedern der CPGB.183 Allerdings waren trotz der grundsätzlich ähnlichen Tätigkeitsfelder Unterschiede und Konflikte zwischen den humanitären Hilfsorganisationen unübersehbar. So bemühte sich die „Auskunft- und Hilfstelle“ vorrangig, Hilfsbedürftigen in Deutschland den Zugang zu staatlichen Unterstützungsleistungen zu eröffnen. Demgegenüber verfügte die Society of Friends wegen der stärkeren Tradition privaten Stiftens und Spendens in Großbritannien über deutlich höhere Eigenmittel. Nationale Eigenheiten philanthropischen Engagements wirkten 181 NA, FO 383/151 (Schreiben vom 7. und 22. Dezember 1915). Vgl. auch Stibbe, Civilian Internment, S. 171. 182 Vgl. das Informationsblatt des Bureau International de Paix (Berlin) in: LSF, FEWVRC/ EME/2/1/4. Dazu auch: Fourth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1916, S. 11, 13 (LSF, FEWVRC/EME/4/1). 183 Kelly, Activity, S. 16, 174 f.

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sich damit auf die Praxis der humanitären Hilfe für Kriegsopfer – darunter auch zivile Feindstaatenangehörige – aus.184 Ebenso wie das FEC unterstützte Rotten mit ihrem Verband über Internierte hinaus Personen, die in Freiheit verblieben waren. So half sie Familien und Frauen, die ihre Männer im Lager Ruhleben besuchten. Zudem sorgte sie dafür, dass Tausende von Kindern, die zu Beginn des Krieges in Belgien und Nordfrankreich von ihren Familien getrennt worden waren, in ihre Heimat zurückgeführt wurden.185 Dies nährte die Hoffnung auf einen humanen Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen in den kriegführenden Staaten nach dem Reziprozitätsprinzip. Die „Auskunft- und Hilfstelle“ unterstützte grenzüberschreitend verschiedene Institutionen und Personen, so die Religious Society of Friends der Quäker und ihr Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress in London, das IKRK, die ökumenische Bewegung in Europa und einzelne Philanthropen wie der Bankier Aby Warburg (1866–1929). Mit der YMCA kooperierte Rotten vor allem bei der Betreuung von Zivilinternierten. Im Gegensatz zum Roten Kreuz, das auch diplomatische Aktivitäten betrieb, beschränkte sich der christliche Jungmännerverband strikt auf humanitäre Nothilfe. Die Organisation durfte deshalb ebenso wie das FEC z. T. Lager besichtigen, die für das IKRK vor allem in Russland und Deutschland unzugänglich blieben. Auch dabei arbeiteten die englischen Quäker seit November 1914 eng mit ihrer „Auskunft- und Hilfstelle“ zusammen, die Rotten Ende 1919 in die „Deutsche Wohlfahrtsstelle“ umwandelte, um den Bedürfnissen der Nachkriegszeit Rechnung zu tragen. So musste in Deutschland, wo die Bevölkerung weiterhin unter der anhaltenden britischen Seeblockade litt, die Versorgung mit Lebensmitteln (besonders Milch) und Arzneimitteln dringend verbessert werden, um den akuten Mangel zu lindern. Dazu trugen auch neue Organisationen wie die American Relief Administration und die Save the Children Fund International Union (SCFIU), aber auch die Society of Friends und das IKRK bei. Dabei wurden auch die Staaten, gegen die Großbritannien und die USA im

184 LSF, FEWVRC/EME/1/2/2 (Brief vom 3. März 1915); LSF, FEWVRC/EME/2/1/4 (Schreiben vom 2. Oktober 1915); FEWVRC/EME/4/1 (Fifth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1917, S. 7). 185 Matthew Stibbe, Elisabeth Rotten and the ‚Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland 1914–1919‘, in: Alison S. Fell / Ingrid Sharp (Hg.), The Women’s Movement in Wartime. International Perspectives, 1914–19, Basingstoke 2007, S. 194–210; ders., Phänomen, S. 173 f.; ders., Internees, S. 185; ders., Internment of Civilians, S. 14; Ormerod Greenwod, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 214–217; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 190 f.; Proctor, Civilians, S. 188. Bericht Rottens vom 9. August 1915 in: LehmannRussbüldt, Kampf, S. 168–181.

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Ersten Weltkrieg gefochten hatten oder nach 1918 kämpften, einbezogen. So kümmerte sich der Quäker James Baily (1876–1957), der während des Krieges deutsche Internierte im Lager Knockaloe besucht und versorgt hatte, mit Unterstützung des „Bundes der Auslandsdeutschen“ um Zwangsrepatriierte aus Großbritannien. Besonders akut war die Not in Russland, wo der Bürgerkrieg Millionen Todesopfer forderte. Hier verhinderte besonders Hoovers ARA mit ihrer Hungerhilfe in vielen Regionen ein Massensterben.186 Die Quäker arbeiteten zwar mit amerikanischen Organisationen zusammen, mit denen sie auch die Dilemmata der notwendigen Kooperation mit den Bolschewiki teilten. Jedoch distanzierten sie sich von der Ausrichtung der ARA auf Handel und Geschäfte. Sie entschieden sich deshalb für eine eigenständige Hilfskampagne im Rahmen des IKRK. Während Hoovers Verband von der amerikanischen Regierung finanziert wurde, stützten sich die Friends auf private Spenden. Auch trennten sie ihre Hilfe räumlich von der ARA. Dabei konnten die Quäker auf die Kapazitäten ihres War Victims Relief Committee in Buzuluk 1916/ 17 zurückgreifen. Im Gegensatz zu Hoovers Verband, der Veteranen der US-Armee rekrutierte, betrieben die Hungerhilfe der Friends Pazifisten und Internationalisten, die auch professionelle Fähigkeiten aufwiesen. Aktivisten wie Francesca Wilson (1888–1981) hatten zudem während des Ersten Weltkrieges wertvolle Erfahrungen in der humanitären Opferhilfe gewonnen. Andererseits nahm der Personalaustausch zwischen den Organisationen zu. Ebenso verband alle diese Vereinigungen das Bekenntnis zur „human pity“ und „humanity“ im „war behind the lines“, zunehmend aber auch fachlicher Austausch, da der Stellenwert von Qualifikation wuchs. Nicht zuletzt bemühten sich die humanitären Organisationen zusehends, Überschneidungen in ihrer Arbeit zu beseitigen. So stimmte sich das VRC der Quäker 1921/22 hinsichtlich ihrer Öffentlichkeitsarbeit ab. Diese Koordination war wichtig, weil die Werbung mit Angaben zum Umfang und zu den Formen der humanitären Unterstützung integraler Bestandteil des Professionalisierungsprozesses war, den die Opferhilfe – darunter auch für internierte Feindstaatenangehörige – im Ersten Weltkrieg herbeigeführt hatte. Alles in allem war damit ein erkennbares und wachsendes Feld humanitärer Hilfe entstanden, in dem verschiedene Organisationen zugleich miteinander kooperierten und konkurrierten. Im weiteren Verlauf der 186 Vgl. LSF, FEWVRC/EME/4/1 (Sixth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Year Ending June 30th, 1918, S. 8f); FEWVRC/MISSIONS/10/1/6/8 (Schreiben vom 2. März, 15. März, 17. März, 23. März und 24. Mai 1919) und die Korrespondenz in LSF, FEWVRC/MISSIONS/10/1/6/9. Zu Bailys Engagement auch: Panayi / Manz, Rise, S. 107; Mytum, Tale, S. 44. Zusammenfassend: Ormerod Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 272; Little, State; Durand, Sarajevo, S. 49 f., 162– 166; Betts, Universalism, S. 57.

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1920er Jahre setzten sie ihre Arbeit z. T. im Rahmen des Völkerbundes fort, in dessen Satzung das Rote Kreuz sogar explizit erwähnt wurde. Die Aktivitäten anderer Organisationen wie der SCFIU, die aus dem Anfang 1919 gebildeten Famine Council hervorgegangen war, förderten auch Deklarationen des Völkerbundes wie die 1924 von der Versammlung angenommene Erklärung zu den Rechten von Kindern. Sie trafen dabei allerdings auf den Widerstand von Antikommunisten und Gegnern der Internationalisten.187 In allen Ländern, in denen das War Victims Relief Committee arbeitete, sprachen sich seine führenden Vertreter eng mit der Prisoners Aid Section der amerikanischen YMCA ab. In Großbritannien kooperierten die Quäker bei der Hilfe für die Internierten auch eng mit Markels Prisoners of War Agency. Jedoch war das Verhältnis zwischen den einzelnen Organisationen und Gruppen in und zwischen den einzelnen Staaten keineswegs ausschließlich harmonisch. Rotten selber verwies im April 1918 gegenüber dem Friends Emergency Committee in London auf „kleine Auseinandersetzungen wegen der ‚Kompetenzen‘ der einzelnen Hilfsstellen …“188 Die Hilfe für die Kriegsgefangenen und Internierten beeinträchtigten Konkurrenz und Neid zwischen den daran beteiligten Organisationen. In ihrem Engagement für die humanitäre Hilfe für Kriegsopfer überschnitten sich außerdem ihre Aktivitäten, wie Regierungen und staatliche Behörden wiederholt beklagten. So lehnte das britische Außenministerium im Sommer 1918 den Vorschlag des Dänischen Roten Kreuzes ab, an britische Gefangene in Deutschland Versorgungsgüter zu verteilen, die das Vereinigte Königreich liefern sollte.189 Offenkundig war die Kooperation zwischen den humanitären Organisationen nicht durchweg erfolgreich und gewinnbringend, sondern sie führte wiederholt auch Überschneidungen und Reibungsverluste herbei. Im Herbst 1915 kamen wichtige Hilfsorganisationen in Großbritannien deshalb überein, die Kompetenzen klarer abzugrenzen. Während Markels philanthropische Vereinigung Güter ausschließlich für den Gebrauch der Gefangenen bereitstellen sollte, war das FEC für den Kontakt zu den Angehörigen der Internierten zuständig. Dem Prisoners of War Department der englischen YMCA oblag nach der Absprache die Sorge 187 Kelly, Activity, S. 165–168, 173–175, 179, 181–184, 197–199, 211. Zit. nach (in dieser Reihenfolge): Third Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for the Half-Year Ending June 30th, 1915, S. 16, und Fourth Report of the Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Report for Year Ending June 30th, 1917, S. 11, 9, beide in: LSF, FEWVRC/EME/4/1. Zum IKRK in der Satzung des Völkerbundes: Wöbse, „To cultivate the international mind“, S. 854. 188 LSF, FEWVRC/EME/2/1/19 (Brief vom 16. April 1918). 189 NA, FO 383/473 (Schreiben vom 23. August 1918).

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um die sozialen und religiösen Bedürfnisse der Lagerinsassen. Ebenso sollte sich der Verband um die Freizeitgestaltung kümmern.190

Motive und nationale Rahmung humanitären Engagements Die Aktivität vieler humanitärer Organisationen folgte im Ersten Weltkrieg keineswegs ausschließlich altruistischen Motiven. Wie schon zuvor in den Kolonien zeigten sich beispielsweise die Quäker an Technologien der Sozialkontrolle, des Bevölkerungsmanagements und der Gesundheitspflege interessiert. Mit dem Glauben an ein umfassendes social engineering gingen paternalistische Einstellungen einher, die auf die „Zivilisierung“ der nicht-westlichen Welt zielten. Die humanitäre Hilfe in den Jahren von 1914 bis 1918 brachte schließlich neue Experten hervor, die Unterstützung mit Sozialdisziplinierung verknüpften. Aus dieser Perspektive diente die Einweisung in Lager auch der Erziehung und sanitär-gesundheitlichen Verbesserung von Bevölkerungsgruppen, die als unterentwickelt galten. Vagabundierende sollten zudem angesiedelt werden. So behauptete der ehemalige Sekretär des Gouverneurs von Bombay, Claude Hill (1886–1934), nach dem Ersten Weltkrieg, dass die Hungersnot in Sowjetrussland nomadische Bevölkerungsgruppen verwurzeln und Müßige zur Arbeit zwingen würde. Hill gründete in Indien den Verband des Roten Kreuzes, bevor er 1921 Generaldirektor der Liga des Roten Kreuzes wurde.191 Wie diese Beispiele zeigen, verfolgten humanitäre Organisationen und zivilgesellschaftliche Verbände mit ihren Aktivitäten durchaus partikulare Ziele und auch nationale Interessen. Wie gezeigt, waren in den einzelnen Staaten vor allem die jeweiligen Gesellschaften des Roten Kreuzes auf die Unterstützung des jeweiligen Landes ausgerichtet worden. Auch in neutralen Staaten wie in den Niederlanden hatten sich nationale Sektionen des Roten Kreuzes jeweils eng an staatliche Institutionen gebunden. Damit wurde karitative Hilfe für Kriegsopfer zum Gegenstand nationalpolitischer Konflikte und Auseinandersetzungen zwi190 LSF, FEWVRC/EME/6/1/4 („Proposed Relationships and Division of Work for Co-Operation between the Prisoners of War Relief Agency, the Friends’ Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians & Hungarians in Distress & the Prisoners of War Department of the English National Council of the Young Men’s Christian Association“). Vgl. auch Brief vom 24. November 1915 in: LSF, EWVRC/EME/6/1/2; Schreiben vom 1. Juli 1915 in: LSF, FEWVRC/ EME/5/28; Schreiben 5., 10. und 12. Januar 1917 sowie undatierter Brief an den Secretary des Prisoners of War Information Bureau in: LSF, FEWVRC/EME/5/27/3. Daneben: LSF, FEWVRC/ EME/4/1 (Brief vom 24. September 1915); Protokoll des Gesprächs vom 19. November 1914 in: LSF, FEWVRC/EME/6/1/1. 191 Forth, Barbed-Wire Imperialism, S. 101, 224.

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schen Angehörigen ethnischer Minderheiten. So standen sich in Brasilien deutschstämmige Angehörige der alliierten Mächte gegenüber. Nach der Kriegserklärung der USA sammelten die verfeindeten Gruppen Spenden für amerikanische bzw. deutsche Kriegsopfer. Amerikanische Stiftungen waren mit ihren humanitären Aktivitäten in Südamerika nicht zuletzt dem Ziel verpflichtet, den weltweiten Einfluss der USA zu steigern. Viele Hilfsverbände dienten ihren jeweiligen Regierungen sogar noch direkter. So erleichterten zahlreiche nationale Sektionen des Roten Kreuzes und die Young Men’s Christian Association, die amerikanischen und britischen Soldaten Erholung und Entspannung bot, mit ihren Hilfsdiensten zumindest indirekt die Weiterführung des Krieges. Hier tritt erneut die Spannung zwischen den universalistischen und partikularen Merkmalen der humanitären Opferhilfe hervor.192 Auch die Hilfsorganisationen für gefangene eigene Zivilisten und ausgebürgerte Staatsbürger waren national gerahmt. So kümmerte sich im Deutschen Kaiserreich der 1916 gegründete „Ausschuss für vertriebene Reichsdeutsche aus Großbritannien, Irland und den britischen Kolonien“ ausschließlich um deutsche Staatsbürger, die im Vereinigten Königreich und im Empire ausgebürgert worden waren. Die „Reichszentralstelle für Kriegs- und Zivilgefangene“ sorgte umfassender für Deutsche, die in gegnerischen Ländern gefangen gehalten wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg unterstützten die „Hilfsstelle für Auslandsdeutsche“ und der „Volksbund zum Schutze der deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen“ deutsche Opfer. Dabei arbeitete der „Volksbund“ eng mit der „Reichsvereinigung ehemaliger Kriegsgefangener“ zusammen.193 Im Allgemeinen mobilisierten humanitäre Organisationen und zivilgesellschaftliche Vereine oft nicht nur unentbehrliche Ressourcen, sondern sie agitierten auch gegen „innere Feinde“. Dabei gingen nationalistische Ressentiments mit einem Militarismus einher, der humanitäres Engagement einschränkte oder sogar erstickte. Nach dem Ersten Weltkrieg war das IKRK deshalb zwar aufgrund der enormen Ausweitung der Hilfsleistungen oberflächlich erheblich gestärkt, zugleich aber aufgrund der Konflikte zwischen den nationalen Gesellschaften auch nachhaltig geschwächt. Ebenso hatten Reformbewegungen wie die 1903 in Manchester gegründete Women’s Social and Political Union, die vor dem Ersten Weltkrieg für soziale Verbesserungen und das Frauenwahlrecht eingetreten war, die Kriegführung ihrer jeweiligen Staaten unterstützt. Zugleich war humanitären Organisationen – besonders dem IKRK – von Pazifisten vorgeworfen worden, mit ihrer Unterstützung für Kriegsopfer letztlich erst die Fortset-

192 Luebke, Germans, S. 125, 193; Betts, Universalism, S. 56. 193 Manz, „Enemy Aliens“, S. 131.

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zung des Krieges zu ermöglichen. Insgesamt trennten in den Jahren von 1914 bis 1918 viele Konflikte humanitäre Aktivisten, Pazifisten und Nationalisten.194

Das ambivalente Verhältnis zum Staat Im Ersten Weltkrieg übernahmen humanitäre Verbände und Aktivisten zusehends Aufgaben des Staates, dessen Institutionen in den multiethnischen Imperien ab 1915 zusehends zerfielen. So wirkten zivilgesellschaftliche Vereinigungen bei der Lebensmittelversorgung mit, die mit zunehmender Kriegsdauer immer schwieriger wurde. Dabei traten gerade die sozialen Gruppen, welche die Semstwa, der Städtebund und Kriegsindustriekomitees (ab Mai 1915) trugen, für eine verschärfte staatliche Regulierung und Kontrolle ein. Gesellschaftliche Initiativen verquickten sich mit der Kriegsmobilisierung, so dass parastaatliche Strukturen entstanden. So stimmten in Russland die Selbstverwaltungsorgane, die Regierung und die ihr untergeordneten Behörden bei der Lebensmittelversorgung darin überein, Händler (die oft pauschal mit Juden assoziiert wurden) auszuschalten. Stattdessen sollten staatliche Einrichtungen die Erzeugung und den Verbrauch regulieren, so durch die Festsetzung von Höchstpreisen. Die gesellschaftlichen Akteure und die monarchische Elite trennte damit ein Konflikt über die Rolle und Funktionen des Staates, nicht dessen Berechtigung an sich. Eine unabhängige Zivilgesellschaft konnte sich damit kaum herausbilden. Vielmehr beanspruchten im russischen Zarenreich die Gebildeten, Unternehmer und Spezialisten in den neuen Professionen sogar, mit ihrer Integration in ein korporatives Gefüge das Entwicklungsstadium einer vom Staat getrennten Zivilgesellschaft überspringen zu können. Damit nahmen aber die Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den Produzenten – Arbeitern und Bauern – deutlich zu. Letztlich überlagerte der staatlich-zivilgesellschaftliche Komplex im Ersten Weltkrieg lediglich die traditionalen sozialen Strukturen und Mentalitäten, ohne sie zu ersetzten.195 Im großen Ganzen orientierten sich zivilgesellschaftliche Organisationen vor allem in autokratischen Regimes wie im russischen Zarenreich, dem kaiserlichen Deutschland und der Habsburgermonarchie an den jeweils Herrschenden und den staatlichen Behörden. So wurde das „Zentralkomitee der deut194 Vgl. Jones, Eine technologische Revolution?, S. 128–130; Proctor, Civilians, S. 79, 141, 185; Kramer, Prisoners, S. 86; Little, State. 195 Alfred J. Rieber, The Sedimentary Society, in: Edith W. Clowes / Samuel Kassow / James L. West (Hg.), Between Tsar and People: Educated Society and the Quest for Public Identity in Late Imperial Russia, Princeton 1991, S. 343–366, bes. S. 362; Holquist, War, S. 14 f., 21, 26, 35, 44–46, 284 f.; Bradley, Subjects, S. 1101 f., 1121 f.

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schen Vereine vom Roten Kreuz“ im Januar 1915 vom Preußischen Kriegsministerium zugelassen und in Dienst genommen. Es wirkte u. a. bei der Sammlung kriegswichtiger Rohstoffe mit. Außerdem kooperierte das Rote Kreuz in Deutschland eng mit den nationalstaatlich ausgerichteten Assoziationen, so den Vaterländischen Frauenverbänden bei der „Volksspende für die deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen“, für welche die Kaiserin Auguste Viktoria (1858– 1921) im Juli 1916 die Schirmherrschaft übernahm. Die in demselben Jahr etablierte „Volksspende“ unterstützten unter dem Ehrenpräsidenten Bethmann Hollweg hohe Ministerialbeamte und als korporative Mitglieder diverse „vaterländische“ Organisationen wie der „Ausschuß für kriegsgefangene Deutsche“ und der „Hilfsverein deutscher Juden“. Ebenso sorgte der „Deutsche Verband für Frauenstimmrecht“ ausschließlich für Kriegsopfer des Kaiserreiches.196 Insgesamt war das Verhältnis zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und Assoziationen einerseits und den Regierungen und staatlichen Institutionen damit widersprüchlich, besonders in autokratischen Herrschaftssystemen. Hier blieben Zivilgesellschaft und Staat gerade angesichts der Belastungen im Ersten Weltkrieg aufeinander angewiesen. Aber auch in parlamentarisch regierten Ländern stellten staatliche Institutionen Ressourcen bereit (so Rechtssicherheit), die soziale Akteure nicht mobilisieren konnten. Karitative Hilfe für Zivilinternierte und Kriegsgefangene wurde weitgehend von nationalstaatlichen Behörden gelenkt, die damit ihr Ordnungsmonopol behaupteten.197

Widerstände gegen humanitäre Hilfe für Gefangene: das Beispiel Großbritannien In den kriegführenden Staaten verfolgten große Bevölkerungsgruppen und Regierungen argwöhnisch die Mobilisierung karitativer Unterstützung für Feindstaatenausländer, auch in Demokratien. Vor allem der Widerstand radikaler Nationalisten und Militaristen behinderte die Arbeit der humanitären Organisationen. So war im Vereinigten Königreich die Unterstützung der internierten „Hunnen“ unpopulär. Den Quäkern wurde oft vorgeworfen, die Feinde in einer Zeit zu verwöhnen, in der Tausende Briten an der Front fielen. Jedoch unterstützten einflussreiche Geistliche wie die Erzbischöfe von Canterbury die Fri196 Feltman, Stigma, S. 80–82; Stibbe, Civilian Internment, S. 167 f.; Welch, Germany, S. 139, 157. 197 Grundsätzlich dazu: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Freiheit, Staat, Frankfurt/M. 1991, S. 112; Hauke Brunkhorst, Demokratie als Solidarität unter Fremden. Universalismus, Kommunitarismus, Liberalismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/96, 30. August 1996, S. 21–28, hier: S. 25, 28.

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ends. Zudem erkannte die britische Regierung das FEC 1916 mit der Aufnahme in den War Charities Act auch offiziell an. Dennoch wurden die Quäker wegen ihrer Hilfe für internierte Feindstaatenangehörige weiterhin z. T. heftig angegriffen. Gerade ihr grenzüberschreitendes Netzwerk weckte im Ersten Weltkrieg den Verdacht der radikalen Nationalisten.198 Im Vereinigten Königreich trafen sogar Hilfsaktionen für geflohenen Frauen und Kinder in England auf Widerstand, da die Regierung Spione unter den Flüchtlingen vermutete. Auch dem Friends’ Ambulance Unit und dem WVC der Quäker, die Feindstaatenangehörige unterstützten, wurde mangelnder Patriotismus vorgeworfen. Angesichts des wachsenden Drucks bemühte sich die SFFD 1916, alle Hilfsorganisationen in Großbritannien zu sammeln. Daraus ging ein neuer Dachverband, der Central Council of United Alien Relief Societies (CCUARS) hervor, dem sich auch das Destitute Aliens Committee anschloss. Das CCUARS erhielt Zuwendungen in Höhe von insgesamt 154.000 Pfund, überwiegend von fünf wohlhabenden deutschen Geldgebern. Über die Regierungen hinaus löste humanitäres Engagement zugunsten fremder Gefangenen in den Gesellschaften Argwohn, Kritik und Proteste aus. In allen kriegführenden Staaten wandten sich vor allem nationalistische Presseorgane gegen humanitäres Engagement für Feindstaatenangehörige. So denunzierte die nationalistische Daily Mail am 26. April 1916 das Beschäftigungsprogramm für internierte Deutsche unter dem Titel „Huns for Hire“, und auch die Wochenzeitung The Outlook verteufelte am 5. Mai 1917 in einem Artikel über „Coddling the Enemy“ die karitativen Aktivitäten der Quäker, die sie sogar auf eine Verschwörung reicher britischer Unternehmer zurückführte. Demgegenüber verteidigte der Manchester Guardian und der in Glasgow publizierte Herald die humanitäre Hilfe, auch mit dem Hinweis auf das Gegenseitigkeitsprinzip, das britische Internierte in den „Mittelmächten“ schützte. In der britischen Regierung überwog diese Ansicht, wenngleich die Beteiligung humanitärer Organisationen in den Ministerien wiederholt auf Ablehnung traf.199 Das Reziprozitätsprinzip und die damit verbundenen Warnungen vor Repressalien gegen britische Staatsbürger, die sich unter der Kontrolle der „Mittelmächte“ befanden, halfen humanitären Hilfsorganisationen, sich gegenüber ih198 Ben Holmes, Knockaloe, 1914–1918: Civilian Internment in Wartime, in: Fabian Klose u. a. (Hg.), Online Atlas on the History of Humanitarianism and Human Rights, 2017-06 (urn:nbn: de:0159-2017071042 [2018-08-08]; Zugriff am 8. August 2018). Aus zeitgenössischer Sicht: Braithwaite Thomas (Hg.), St. Stephen’s House, S. 39. 199 Dazu das Protokoll eines Gesprächs vom 5. September 1915 in: LSF, FEWVRC/EME/6/1/1. Vgl. auch LSF, FEWVRC/EME/6/4/8 (Artikel vom 30. September 1916, 26. April und 9. Mai 1917 sowie 27. April 1918); FEWVRC/EME/3/1/1-3 (Alexandra Palace); FEWVRC/EME/6/3/2 (Bericht vom 8. März 1916); Cresswell (Hg.), Living with the Wire, S. 19.

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ren nationalistischen Kritikern, die ausschließlich eine Unterstützung britischer Opfer verlangten, zu behaupten. So beanspruchten die Quäker, Patriotismus mit einer humanitären Mission zu verbinden. Diese Kombination war aber ein permanenter, schwieriger Balanceakt. Letztlich hielt die Society of Friends an ihrer Strategie fest, die Fürsorge zugunsten feindlicher Staatsangehöriger eng mit der britischen Regierung abzustimmen. Ihr überließ sie auch durchweg die Auswahl von Zivilisten und Kriegsgefangenen, die ausgetauscht oder freigelassen werden sollten. Damit konnte sie Vorwürfen der Begünstigung entgehen.200 Zwar ließ in Großbritannien der War Charities Act die humanitäre Arbeit explizit zu, und das FEC sorgte ebenso für britische Kriegsgefangene, Soldatenfamilien, Kriegsinvaliden, Witwen und Waisen wie auch das War Service Committee. Außerdem rechtfertigte die Führung der Society of Friends – besonders der Vorsitzende Stephen Hobhause (1881–1961) – ihr Engagement als Bestandteil der britischen Kriegsmobilisierung. Damit drohte letztlich der Einsatz für den Frieden, der viele Mitglieder motivierte, kompromittiert zu werden. Dennoch denunzierten nationalistische Politiker und Zeitungen wie die Daily Mail die Hilfe der Quäker und anderer humanitärer Verbände als „Hun-coddling“. So erhielt das FEC eine Vielzahl feindseliger Briefe. Sowohl auf den britischen Inseln als auch in den USA konnten die Friends die Ressentiments gegen die Feindstaatenangehörigen nicht ignorieren. Vielmehr waren sie zu einem schwierigen Spagat zwischen dem Bekenntnis zu universellen Menschenrechten und dem Pazifismus einerseits und der Anpassung an die Anforderungen nationaler Regierungen im Krieg andererseits gezwungen.201

Bilanz und Ausblick Insgesamt trieben die spezifischen Herausforderungen des Ersten Weltkrieges in Europa die z. T. grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Friedensgesellschaften und humanitären Organisationen voran, die schon vor 1914 für die Bewahrung des Friedens eingetreten waren. Im Zuge der transnationalen Aktivitäten bildeten sich Netzwerke von Akteuren heraus, die sich für die Unterstützung der Zivilinternierten, aber auch der Kriegsgefangenen engagierten.202 Sie setzen sich für die Kultur einer gemeinsamen Sicherheit ein und wurden sogar von ein200 LSF, FEWVRC/EME/2/2/2 (Schreiben vom 14. April 1917); FEWVRC/EME/2/2/1 (Vermerk zu Gaebler). Vgl. auch Maul, Quakers, S. 72, 75–77, 80–83, 86 f.; Panayi, Enemy, S. 266–272; Holmes, Knockaloe. Aus zeitgenössischer Sicht: Braithwaite Thomas u. a. (Hg.), St. Stephen’s House, S. 14, 20, 74, 79; Wilson, Margins, S. 9. Angabe nach: Yarrow, Impact, S. 106. 201 Kelly, Activity, S. 203. 202 Becker, Oubliés, S. 255, 382.

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zelnen offiziellen Repräsentanten der kriegführenden Staaten unterstützt. Die Hilfe grenzüberschreitend arbeitender zivilgesellschaftlicher Verbände erleichterte das Leben der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Auch übten die Organisationen moralischen Druck auf die kriegführenden Staaten aus, soweit dies die Zensurbestimmungen jeweils zuließen. Überhaupt wurde der Schutz von Zivilisten, der vor 1914 nur einen geringen Wert in der Kriegspolitik und -planung der Regierungen eingenommen hatte, offiziell als Ziel anerkannt. Außerdem erreichte besonders das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, dass psychische Krankheiten, die eine Folge des eintönigen und perspektivenlosen Lageralltags waren, zusehends von Medizinern und Regierungen anerkannt wurden. Damit konnten diese Opfer schrittweise sozialpolitische Leistungen beanspruchen. Nicht zuletzt erwirkten sogar einzelne Personen wie Pastoren gelegentlich die Freilassung von Internierten und Kriegsgefangenen. Insgesamt stärkte besonders das humanitäre Engagement europäischer und amerikanischer Organisationen die Entwicklung von Einrichtungen, die sich für universelle Rechte von Zivilisten in bewaffneten Auseinandersetzungen einsetzten.203 Nach dem Ersten Weltkrieg setzten viele humanitäre Organisationen nicht nur ihre Hilfe für Flüchtlinge fort, sondern sie trugen darüber hinaus auch zu einem erweiterten Sicherheitsverständnis bei. So entwickelte die am 5. Mai 1919 gegründete Liga der Rotkreuz-Gesellschaften (League of Red Cross Societies, LRCS) neue Programme zur Verbesserung der Gesundheit, vor allem in Afrika und Asien. Damit wurde der koloniale Paternalismus allerdings lediglich fortgeschrieben, wie die japanische Sektion des Roten Kreuzes schon 1922 auf einer Konferenz der LRCS in Bangkok erfahren musste. Die Tagung zeigte und verfestigte erneut die Vorherrschaft der Weißen im IKRK. Zudem bildeten sich nach 1918 Spannungen zwischen der Liga und dem Genfer Komitee. Auch kam es zwischen dem IKRK und der SCFIU, die mit sieben anderen nationalen Rotkreuz-Gesellschaften assoziiert war, wiederholt zu Auseinandersetzungen. Die Bildung einer gemeinsamen Kommission der Liga und des IKRK 1921 legte die akuten Konflikte zwar bei, beseitigte aber nicht Überschneidungen in den Hilfsaktivitäten. Auch der Zusammenschluss von Staaten in der International Relief Union im Rahmen des Völkerbundes trug dazu nur eingeschränkt bei, denn die neue Organisation sollte sich besonders der Nothilfe bei Naturkatastrophen widmen. Die Spaltung der Rotkreuz-Bewegung überwand schließlich erst eine Vereinbarung zwischen den Präsidenten des IKRK und der Liga, Max Huber und Paul Draudt (1877–1944). Sie beschlossen 1928 eine Arbeitsteilung, nach der das Genfer Komitee die Aktivitäten des Roten Kreuzes in Kriegen und die Liga in der Zeit des Friedens koordinieren sollte.204 203 Little, Relief, S. 146, 158.

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Alles in allem blieb die Durchsetzungsfähigkeit der humanitären Organisationen im Ersten Weltkrieg gegenüber dem Prinzip staatlicher Souveränität und der nationalen Aufladung der Sicherheitskulturen eng begrenzt. Zivilgesellschaftliche Organisationen mussten permanent zwischen dem Gebot der Neutralität und ihrer humanitären Mission vermitteln. Letztlich erreichten sie nicht, dass die Regierungen der kriegführenden Länder sämtliche Regeln einhielten, zu denen sie sich in völkerrechtlichen Abkommen verpflichtet hatten. So wurden Kriegsgefangene und Zivilinternierte durchweg verbotenen Repressalien ausgesetzt, die in den jeweiligen Feindstaaten wiederum Gegenmaßnahmen auslösten. Nicht zuletzt diese Eskalation der Gewalt gegenüber kriegsgefangenen Soldaten und internierten Zivilisten verlieh dem Ersten Weltkrieg seinen totalen Charakter und seine spezifische Brutalität. Zwischen den kriegführenden Staaten vollzog sich ein Prozess „wechselseitiger Radikalisierung“.205 Damit verknüpft, erweiterten die Regierungen ihre Sicherheitsapparate erheblich, sowohl personell als auch hinsichtlich ihrer Kompetenzen. Bedenken gegenüber dieser Entwicklung blieben weitgehend einflusslos, auch in den westlichen Demokratien. So ist mit Bezug auf Großbritannien allgemein in Abrede gestellt worden, dass „public opinion is a notably steadfast barrier against political policing even when it is known about, so long as that policing is directed against what are seen as dangers from outside.“ Vielmehr zeigt besonders die Repression der Feindstaatenangehörigen in Großbritannien und in den USA das fremdenfeindliche Potential, das auch in Demokratien bestand.206 Sogar die Rolle der internationalen Organisationen selber war im Ersten Weltkrieg ambivalent. Indem sie Leiden linderten, trugen sie ungewollt auch dazu bei, die „Kriegsfähigkeit der Staaten aufrechtzuerhalten“.207 Die nationalen Sektionen des IKRK ließen sich auf das Ziel festlegen, den Krieg ihrer jeweiligen Staaten zu unterstützen. Zudem weigerten sie sich im Allgemeinen, untereinander bindende Verpflichtungen einzugehen. Sie drängten ihre jeweiligen Regierungen nur vereinzelt, die rigorose Kontrolle und Internierung von Feindstaatenausländern zumindest zu mildern. Dabei wiesen sie in ihrer Argumentation jeweils durchweg auf nationale Interessen hin. Zwar trugen sie zu Abkommen zwischen kriegführenden Staaten bei, um Repressalien gegenüber Kriegs204 Wylie, Convention, S. 99; Mikita, Alchemy, S. 117 f., 122–126; Durand, Sarajevo, S. 166– 168, 172–174; Dromi, Soldiers, S. 203. Hierzu und zum Folgenden auch: Deperchin, Laws, S. 633; Jones, International or Transnational?, S. 697–699, 703, 706 f., 709. Zu kritisch das Urteil über die Auswirkungen der transnationalen Internierten- und Gefangenenhilfe in: Stibbe, Internment of Civilians, S. 15; ders., Phänomen, S. 173f. 205 Jahr, Feriengäste, S. 233, 240. 206 Porter, Orgins, S. 187; Holmes, A Tolerant Country? S. 109. 207 Riesenberger, Humanität, S. 81.

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gefangenen und Zivilinternierten einzudämmen. So einigten sich Deutschland und Österreich-Ungarn mit Russland auf Inspektionen von Lagern durch Delegationen des Roten Kreuzes, das auch in England außer Kriegsgefangenen Zivilinternierte besuchte. Für das Vereinigte Königreich war vor allem Édouard Naville zuständig, der zusammen mit Carle de Marval (1872–1939) und Arthur Eugster (1863–1922) auch Camps in Frankreich und Deutschland überprüfte. Jedoch konnten (und wollten) sich Offizielle und Schwestern dieses karitativen Verbandes letztlich nur bedingt gegen die jeweiligen Machthaber durchsetzen, die Internierte vielfach als Geiseln hielten und für eigene Zwecke (z. B. Propaganda und Zwangsarbeit) nutzten.208 Humanitäre Organisationen, die sich im Ersten Weltkrieg für Zivilinternierte einsetzten, spiegelten mit ihrer Arbeit den Übergang vom überlieferten karitativem Engagement des 19. Jahrhunderts zur humanitären Hilfe professioneller Organisationen wider, die komplexere Aufgaben erfüllten. Sie wirkten zwar als Nichtregierungsorganisationen, agierten aber keineswegs losgelöst von der Politik der staatlichen Eliten. Vielmehr nahmen Verbände wie das IKRK und die Society of Friends auf die Interessen und Zielen der kriegführenden Regierungen, deren Souveränität unumstritten blieb, durchweg Rücksicht. Das Genfer Komitee veröffentlichte zwar Berichte über Verletzungen des Kriegsvölkerrechtes im Bulletin International des Sociétés de la Croix Rouge. Die dort dokumentierten Vorfälle wurden aber im Allgemeinen nicht kommentiert. Auch Beobachter hielten sich in ihren Inspektionsberichten zurück, denn Kritik verärgerte nicht nur die jeweils verantwortlichen Regierungen, sondern sie konnte auch Proteste oder sogar Repressalien gegen Internierte in den gegnerischen Staaten auslösen. Machthaber behinderten wiederholt die Arbeit der Inspektoren, um Missstände bewusst zu verdecken. Vor allem die kleineren Lager waren oft unerreichbar, so dass vorrangig größere Camps wie Knockaloe in Großbritannien und Ruhleben in Deutschland besucht wurden. Alles in allem vermitteln viele Berichte deshalb trotz Einwänden im Einzelnen einen grundsätzlich positiven Eindruck. In der Regel prangerte das IKRK nur besonders eklatante Verstöße gegen völkerrechtliche Bestimmungen wie Deportation von Belgiern zur Zwangsarbeit in Deutschland öffentlich an.209 208 NA, FO 383/106 (Berichte vom Februar 1915 und vom 23. Januar 1915); FRUS, 1915, Supplement, S. 998 f.; Hutchinson, Champions, S. 280, 282; Hull, Scrap of Paper, S. 322–325; Jones, Prisoners of War, S. 274; Stibbe, Anglophobia, S. 17; Davis, Red Cross Societies, S. 34, S. 37, S. 41 f., S. 46; Becker, Paradoxien, S. 30. Zu den genannten Personen und weiteren Inspektoren des IKRK die Übersicht in: Kern, Das Internationale Komitee vom Roten Kreuze, S. 280. 209 Bericht in: Spiropoulus, Ausweisung, S. 137–141. Insgesamt vgl. ders., Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 189–191; Rachamimov, „Female Generals“, S. 41; Holmes, Knockaloe.

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Vielfach wurden die Helfer des Roten Kreuzes sogar von der allgemeinen nationalistischen Militarisierung erfasst, die sich in den einzelnen Staaten vollzog. Überdies blieben internationale Organisationen, die sich für die Rechte der Zivilinternierten einsetzten, an das Prinzip der Gegenseitigkeit gebunden, welches das Verhältnis zwischen den Staaten bestimmte. Es ließ Konzessionen nur zu, wenn damit Vorteile für die jeweiligen Regierungen verbunden waren. Außerdem konnten mit dem Grundsatz der Reziprozität jeweils leicht Repressalien gerechtfertigt werden. Dazu trug auch eine Presseberichterstattung bei, die Repressionen der jeweiligen Kriegsgegner gegen eigene zivile Staatsangehörige übertrieb und damit Vertrauen zerstörte. So wurde in Deutschland Vergeltung gefordert, als sich hier im November 1914 Meldungen über die Internierung von deutschen Zivilisten in Großbritannien verbreiteten. Vor allem aber fehlte eine Instanz zur Überwachung der getroffenen Vereinbarungen. Nichtstaatliche Organisationen konnten dieses „Kontrollvakuum“ letztlich nicht füllen. Sogar das IKRK musste sich weitgehend auf die Koordination, Vermittlung und Verteilung von Hilfsleistungen und Informationen über Zivilinternierte und Kriegsgefangene beschränken. Insgesamt verhinderte vor allem die Angst vor Restriktionen gegen die eigenen Staatsbürger eine ungebremste Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen gegen zivile Feindstaatenangehörige, auch deren Internierung. So fürchtete das britische War Office im September 1915, dass Übergriffe eines Lagerkommandanten gegen deutsche Gefangene im Kaiserreich Repressalien auslösten. Das Kriegsministerium drängte deshalb, Missstände in den eigenen Camps zu beseitigen. Alles in allem reagierten die kriegführenden Mächte im Ersten Weltkrieg durchweg aufeinander. Dabei folgten sie trotz der verzerrten Wahrnehmungen, die sich aus der Feindpropaganda ergaben, noch einem rationalen Kalkül. Dies traf auch auf das kaiserliche Deutschland zu. Demgegenüber sollte der Umgang mit „inneren Feinden“ und Ausländern im „Dritten Reich“ einer radikalen rassistischen Vernichtungsideologie folgen, in der das Gegenseitigkeitsprinzip allenfalls noch in der Imagination der NS-Führung bestand.210 Ebenso öffneten humanitäre Organisationen wie die YMCA wiederholt Kommunikationskanäle zwischen den verfeindeten Regierungen. Auch das Rote Kreuz vermittelte zwischen den kriegführenden Mächten. Diese griffen keineswegs ausschließlich zu Repressalien, um die Not ihrer Staatsangehörigen zu lin210 Demgegenüber die zu positive Interpretation in: Riesenberger, Humanität, S. 79. Vgl. auch Matthew Stibbe, Elsa Brändström and the Reintegration of Returning Prisoners of War and Their Families in Post-War Germany and Austria, in: ders. / Ingrid Sharp (Hg.), Aftermaths of War. Women’s Movements and Female Activists, 1918–1923, Leiden 2011, S. 333–359, hier: S. 334 f., 346; Proctor, Civilians, S. 200; Feltman, Stigma, S. 81, 96; Reinecke, Grenzen, S. 252– 254.

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dern, die sich im Gewahrsam der jeweiligen Kriegsgegner befanden. Wie dargelegt, einigten sie sich vielmehr in Verhandlungen mehrfach auf einen Austausch oder eine Überführung in neutrale Staaten. Dabei bestanden sie durchweg auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit, so dass ein Ausgleich der unterschiedlichen Interessen – nicht zuletzt angesichts der ungleichen Zahlen der Zivilinternierten in den einzelnen Ländern – im Allgemeinen schwierig war. Überdies konzentrierten sich die Regierungen auf Kriegsgefangene. Demgegenüber wurden Zivilinternierte vernachlässigt, auch weil sie nicht aktiv für ihr Land gekämpft hatten. Einzelne bilaterale Vereinbarungen über Ausnahmen von der Internierung – so zwischen Deutschland und Großbritannien schon Ende 1914 – demonstrierten aber, dass humanitäre Grundsätze im Umgang mit Angehörigen der jeweiligen Kriegsgegner ihre Geltungskraft nicht vollständig eingebüßt hatten. Zudem wurden nach dem Gegenseitigkeitsprinzip Hilfslieferungen zugelassen, welche die Zivilinternierten zwar weiter entmündigten, aber die von den Lagerinsassen ersehnten Verbindungen mit der Außenwelt und den Angehörigen herstellten.211 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs setzten internationale Hilfsorganisationen ihre Arbeit fort. Da die Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, die den „Mittelmächten“ angehört hatten, in den westlichen Staaten bis in die frühen 1920er Jahre nur schrittweise entlassen wurden, bedurften diese Gruppen weiterhin der Hilfe. Darüber hinaus bemühten sich die humanitären Aktivisten der Society of Friends, die ihr FEC mit dem VRC zusammenschlossen, in der Nachkriegszeit, die anhaltende (und vielerorts sogar noch zunehmende) Not zu lindern.212 Der YMCA kümmerte sich besonders um junge Männer, die ungeduldig auf die Rückkehr in ihre Heimatländer warteten, sich gegen ihre Gefangenschaft auflehnten und z. T. der Trunksucht verfielen. Auch Mitarbeiter des Roten Kreuzes betreuten deutsche, österreichische und türkische Kriegsgefangene und Zivilinternierte. Darüber hinaus inspizierten sie Lager. Nicht zuletzt betreuten karitative Verbände Angehörige aller Kriegsopfer. So konnten sich zwischen 1919 und 1921 mehr als 2.000 österreichische Kinder in der Schweiz erholen. Daneben milderten aber auch ausländische Regierungen in den Verliererstaaten des Ersten Weltkrieges die Not. So unterstützte die US-Administration die American Relief Administration, die Kinder mit Kleidung, Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgte. Obgleich sie auch dabei nicht völlig unparteilich blie-

211 FRUS, 1915, Supplement, S. 997 f., 1016–1049; Speed, Prisoners, S. 42; Feltman, Stigma, S. 81, 83. 212 LDF, FEWVRC/MISSIONS/12/8/4 („F:C:R:A. Post-war Enquiry. Final Analysis of Preferences“).

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ben, bot dieses Engagement doch „evidence of continuing idealism in the face of the devastation of war.“213 Jedoch blieb der nationale Rahmen für die humanitären Hilfsaktivitäten der transnationalen Organisationen in den 1920er Jahren wichtig. Zwar hatte der Vorsitzende des War Council im ARC, Henry P. Davison (1867–1922), unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg auf eine umfassende organisatorische Reform des Roten Kreuzes gedrängt, um die Kompetenzen und Macht des IKRK zu stärken. Angeregt durch die Arbeit der Rockefeller-Stiftung zur Beseitigung der Ursachen von Not und Epidemien, forderte Davison darüber hinaus, die karitative Arbeit des Genfer Komitees auszuweiten und sie damit an die Anforderungen der Nachkriegszeit anzupassen. Dieses Ziel lag der neuen LRCS zu Grunde. Jedoch war das Projekt schon im ARC umstritten, und andere nationale Sektionen weigerten sich, der neuen League Geld zur Verfügung zu stellen. Die angestrebte Professionalisierung der Organisation, die vorrangig auf die Mitarbeit von Freiwilligen setzte, traf ebenfalls auf Widerstand. Das IKRK, das Davisons Initiative offiziell begrüßte, aber im Beratungsprozess verzögerte, lehnte besonders eine Ausweitung des humanitären Auftrages über die unmittelbaren Kriegsopfer hinaus ab. Letztlich setzte sie sich damit durch, zumal auch die nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes eine mächtige zentrale Organisation ablehnten.214 Andererseits war das IKRK aber erheblich gestärkt aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen. 1914 noch eine kleine Organisation, wurde das Genfer Komitee in den darauffolgenden Jahren zu einem wichtigen Akteur, der in der internationalen Politik über ein erhebliches Ansehen verfügte, nicht zuletzt weil dem IKRK 1917 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Die Konferenz der Rotkreuz-Gesellschaften neutraler Länder in Genf im September 1917 zeigte den gewachsenen Einfluss. Vertreter des IKRK wie Naville forderten ein generelles Verbot, Zivilisten in Lagern festzuhalten. Alternativ wurde zumindest eine völkerrechtliche Gleichstellung von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten verlangt. Außerdem waren Deportationen einzuschränken und erzwungene Arbeitseinsätze von Zivilisten zu untersagen. Die zwölfte Konferenz des IKRK, die im Oktober 1925 stattfand, verabschiedete schließlich den Gleichstellungsgrundsatz. Allerdings war der Beschluss für die Regierungen der Nationalstaaten nicht bindend. Überdies wurden Zivilinternierte in der Genfer Konvention von 1929 nicht erwähnt. Darüber hinaus verhinderten nationale Interessen und Konflikte zwischen neutralen Staaten in den 1920er Jahren eine umfassende Übereinkunft über wichtige Probleme – so die Repatriierung von Soldaten und 213 Proctor, Civilians, S. 202. 214 Hutchinson, Champions, S. 285–319; Moorehead, Dream, S. 241.

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Zivilisten – und eine Einigung der Regierungen über ein Internierungsverbot für eigene Staatsbürger. Darüber hinaus erwiesen sich rassistische und soziale Vorurteile im IKRK als zählebig. Sie blockierten ein universalistisches humanitäres Engagement, da das Genfer Komitee weiterhin nicht-weiße Gruppen und Unterschichten benachteiligte. Dennoch sollte der Einfluss des IKRK im Zweiten Weltkrieg erneut wachsen. Dies galt auch für die übergreifenden Trends in der humanitären Kriegsopferhilfe, die professionalisiert und bürokratisiert wurde. Nichtregierungsorganisationen schlossen mit ihrer Arbeit und ihren Leistungen nicht nur Lücken, die staatliche Institutionen gelassen hatten. Vielmehr verschwammen auch die Grenzen zwischen regierungsoffizieller und privater Hilfe.215 Insgesamt konnte das humanitäre Engagement im Ersten Weltkrieg das Leid der Opfer im Allgemeinen und der zivilen Feindstaatenangehörigen im Besonderen durchaus lindern. Die Unterstützung wurde systematischer und professioneller, auch unter dem Einfluss des Übergangs zu einer wissenschaftlichen (systematischen und vorbeugenden) Philanthropie seit der Jahrhundertwende. Jedoch mussten alle Hilfsorganisationen die militärischen Interessen der kriegführenden Staaten berücksichtigen, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Auch dem Nationalismus und Militarismus konnten (oder wollten) sich die Verbände, ihre führenden Vertreter und die Mitglieder nicht entziehen. Zudem waren sie selber keineswegs durchweg universalistisch geprägt. Vielmehr prägten Vorurteile über Geschlechter, Rassen und Klassen ihre Arbeit und ihren Internationalismus, der auf Europa fixiert blieb. Auch war das Verhältnis zum Staat im Ersten Weltkrieg komplex, so dass die humanitären Hilfsorganisationen nicht einfach der – ohnehin schwachen – Zivilgesellschaft zuzurechnen sind. Nach 1918 trug die humanitäre Kriegshilfe zur schrittweisen Ausweitung der staatlichen Sozialpolitik bei.216

215 Little, State; Moorehead, Dream., S. 257; Stibbe, Civilian Internment, S. 197–203, 294 f.; Herrmann, Ador. 216 Stibbe, Civilian Internment, S. 183–186.

6 Der „innere Feind“: Propaganda, Mobilisierung und Politik im Zweiten Weltkrieg 6.1 Großbritannien Voraussetzungen und Überblick Nach den Unruhen, die das Vereinigte Königreich als Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges bis 1926 erschüttert hatten, wuchs unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise, der damit zunehmenden politischen Konflikte und gesellschaftlicher Umwälzungen die Unterstützung für faschistische und kommunistische Parteien und Verbände. Ihre Agitation spiegelte die zunehmende politische Polarisierung wider, die das parlamentarische Regierungssystem letztlich zwar nicht nachhaltig erschütterte, aber von den Eliten – einschließlich der Regierung – in den 1930er Jahren doch als bedrohlich wahrgenommen wurde. Mit der Festigung der faschistischen Diktatur Mussolinis (1925) und der Machtübertragung der Nationalsozialisten wuchsen zugleich äußere Herausforderungen. Dazu trug auch die Durchsetzung des stalinistischen Regimes in der Sowjetunion in den späten zwanziger Jahren bei. Vor diesem Hintergrund wurden nicht nur die in Großbritannien lebenden Angehörigen dieser Staaten – vor allem die überzeugten Faschisten und Nationalsozialisten –, sondern auch ihre britischen Anhänger und die Kommunisten als (zumindest potentielle) „innere Feinde“ wahrgenommen. Mit fremdenfeindlichen und antisemitischen Vorurteilen waren sogar die Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ konfrontiert.1 Da die Politik und das gesellschaftliche Verhalten gegenüber diesen Gruppen das Vorgehen gegenüber den Feindstaatenangehörigen im Zweiten Weltkrieg prägten, müssen sie vorab dargelegt werden.

Innere Sicherheit und Freiheit in den 1930er Jahren: die Herausforderungen durch die Faschisten und Kommunisten Die britische Regierung nahm die Faschisten nach der Gründung der British Union of Fascists (BUF) durch Sir Oswald Mosley (1896–1980) zunehmend als Si1 Zur Regierungspolitik gegenüber diesen Gruppen umfassend: Gerald D. Anderson, Fascists, Communists, and the National Government. Civil Liberties in Great Britain, 1931–1937, Columbia 1983; Christina Bussfeld, „Democracy versus Dictatorship“: Die Herausforderung des Faschismus und Kommunismus in Großbritannien 1932–1937, Paderborn 2001. https://doi.org/10.1515/9783110529951-006

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cherheitsrisiko wahr. Nachdem Personalmangel im MI5 zunächst eine Überwachung der BUF verhindert hatte, berichtete der Inlandsgeheimdienst Innenminister Sir John Gilmour (1876–1940) nach dem Beschluss einer Konferenz, die am 23. November 1933 Vertreter des Innenministeriums und des Special Branch, den Metropolitan Police Commissioner, Offiziere des MI5 zusammenführte, ab 1934 regelmäßig über die neue Partei. Zwar lehnte Gilmour 1934 und 1936 eine Kontrolle der Post Mosleys ab; jedoch forderten er, der Commissioner (Befehlshaber) der Metropolitan Police, Lord Hugh Trenchard (1931–1935) und dessen Nachfolger Sir Philip Game (1935–1945) ein Verbot der schwarzen Uniformen der BUF. Während in den unteren Rängen der Polizei die BUF z. T. durchaus als Truppe zur Herstellung der öffentlichen Ordnung angesehen wurde, musste nach Auffassung ihrer Vorgesetzten das Gewaltmonopol des Staates verteidigt werden. Die Polizeibefehlshaber trafen damit aber im Innenministerium auf Widerstand, der zwar pragmatisch motiviert war, aber vor allem auf die Stärke der liberalen Traditionen in Großbritannien abhob. Im Home Office lehnte besonders der einflussreiche Beamte Frank Newsam (1893–1964) eine deutliche Einschränkung der individuellen Freiheitsrechte durch staatliche Behörden ab. Ohnehin schienen sich die Faschisten durch ihr gewalttätiges Vorgehen gegen Widersacher bei einer spektakulären Massenversammlung in der Londoner Olympia Hall am 7. Juni 1934 selber zu diskreditieren.2 Obgleich die BUF vorübergehend noch Mitglieder und Anhänger gewann, widersprach politische Gewalt aus der Sicht von Politikern der dominierenden Parteien den (idealisierten) „britischen Traditionen“. In einer Debatte im Unterhaus verteidigten deshalb am 14. Juni 1934 nur vier konservative Abgeordnete die Methoden der Faschisten. Lediglich radikale Tories, die das vorindustrielle Großbritannien verherrlichten und die Revolutionen von 1688/89 (in England) und 1789 (in Frankreich) ablehnten, sahen die BUF bei den Versuchen, Störungen von Versammlungen gewaltsam zu unterbinden, im Recht. Viele von ihnen waren mit der gemäßigt konservativen Politik ihres Parteivorsitzenden Stanley Baldwin unzufrieden und standen dem parlamentarischen Regierungssystem skeptisch gegenüber. Einige dieser Kritiker, die in Zeitungen und Zeitschriften wie der Saturday Review und der English Review publizierten, bewunderten 2 Paul Cohen, The Police, the Home Office and Surveillance of the British Union of Fascists, in: Intelligence and National Security 1 (1986), S. 416–434, hier: S. 416–425; Richard C. Thurlow, British Fascism and State Surveillance, 1934–45, in: Intelligence and National Security 3 (1988), S. 77–99, hier: S. 78–80; ders., The ‚Mosley Papers‘ and the Secret History of British Fascism 1939–1940, in: Kushner / Lunn (Hg.), Traditions, S. 173–195, hier: S. 174; ders., State Management, S. 35 f.; Andrew Moore, Sir Philipp Game’s „other life“: the Making of the 1936 Public Order Act in Britain, in: Australian Journal of Politics and History 36 (1990), Nr. 1, S. 62–72, hier: S. 66, 68; Lebzelter, Anti-Semitism, S. 113–115.

6.1 Großbritannien



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auch Benito Mussolini und sein faschistisches Regime in Italien. Dagegen distanzierte sich der Pressezar Lord Rothermere (1868–1940), der die BUF im Januar 1934 in seiner Daily Mail mit dem Ruf „Hurrah for the Blackshirts“ bejubelte hatte, im Sommer von der BUF.3 Die Gewalt der Faschisten galt weithin als „unenglisch“, gerade in konservativen Kreisen. Sie widersprach aus dieser Sicht Werten wie fair play und gentlemanly behaviour, die als spezifisch englisches Erbe galten. Auch die Uniformen der BUF wurden als „fremde“ Importe abgelehnt. Die Ideologie eines „nationalen Charakters“ und die damit verbundenen Traditionskonstruktionen eines vermeintlich ausschließlich „friedlichen“ Vereinigten Königreiches (die damit Gewalt im Empire ausblendeten) waren bei der Abwehr des britischen Faschismus wichtiger als die parlamentarisch-demokratischen Traditionen selber. Demgegenüber blieben Bemühungen Mosleys vergeblich, die BUF zu einer Kraft der Ordnung zu stilisieren und ihre Gegner als Vertreter des „Chaos“ zu stigmatisieren. Anders als in der deutschen Weimarer Republik konnte sich die extreme Rechte im Vereinigten Königreich nicht als Sachverwalterin „nationaler“ Interessen stilisieren. Die Sicherheitsbehörden, die den Faschismus 1933/34 durchaus als politische Gefahr wahrgenommen hatten, waren erst angesichts der zunehmenden Ausschreitungen im Ostteil Londons erneut über die BUF alarmiert. 1938/39 steigerte die wachsende Kriegsgefahr die Sorge vor der Unterwanderung des Landes durch Mosleys Partei. Jedoch lehnte das Innenministerium Anträge des MI5 zur Überwachung der Korrespondenz führender britischer Faschisten noch kurz vor Kriegsbeginn ab, da Belege für Kontakte zu deutschen Agenten fehlten. Im Home Office herrschte bis Anfang 1940 zudem die Auffassung vor, dass die BUF die öffentliche Ordnung gefährdete, nicht aber die Sicherheit des Landes. Zuständig schien damit die Polizei.4 3 David S. Lewis, Illusions of Grandeur. Mosley, Fascism and British Society, 1931–81, Manchester 1987, S. 114–180; Anderson, Fascists, S. 63–123; Bussfeld, „Democracy versus Dictatorship“, S. 209–234, 301; Nick J. Crowson, Facing Fascism. The Conservative Party and the European Dictators, 1935–1940, London 1997, S. 19–48, 198–204; John Stevenson, Conservatism and the Failure of Fascism in Interwar Britain, in: Martin Blinkhorn (Hg.), Fascists and Conservatives. The Radical Right and the Establishment in Twentieth-Century Europe, London 1990, S. 264–282, hier: S. 273 f., 277; Andrzej Olechnowicz, Introduction: Historians and the Study of Anti-Fascism in Britain, in: ders. / Nigel Copsey (Hg.), Varieties of Anti-Fascism. Britain in the Inter-War Period, Basingstoke 2010, S. 1–27, hier: S. 15; Janet Dack, ‚It certainly isn’t Cricket‘: Media Responses to Mosley and the BUF, in: Olechnowichz / Copsey (Hg.), Varieties, S. 140–161, hier: S. 154 f.; Barnes / Barnes, Nazis, S. 144; Lebzelter, Anti-Semitism, S. 119; Lawrence, Fascist Violence, S. 238 f., 245, 250 f., 254, 266; Townshed, Peace, S. 106–108; Luff, Operations, S. 743. 4 Jennifer Grant, The Role of MI5 in the Internment of British Fascists During the Second World War, in: Intelligence and National Security 24 (2009), S. 499–528, hier: S. 503 f.; Thurlow, ‚Mos-

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Mitte der 1930er Jahre konzentrierten die Sicherheitsbehörden ihre Aufmerksamkeit aber auf die CPGB, deren revolutionäre Politik sie als fundamentale Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und der Freiheit betrachteten. Deshalb legte die Regierung dem Parlament im April 1934 die Incitement to Disaffection Bill vor, welche die britischen Streitkräfte gegenüber kommunistischer Propaganda abschirmen sollte. Mit dem Gesetz reagierte die britische Regierung insbesondere auf eine Meuterei britischer Seeleute auf Kriegsschiffen in der schottischen Hafenstadt Invergordon im September 1931, aber auch auf den Generalstreik von 1926 und Hungermärsche beschäftigungsloser Arbeiter, die von der Arbeitslosenbewegung National Unemployed Workers’ Movement organisiert wurden und 1934 im National Hunger March gipfelten. Die Incitement to Disaffection Bill traf auf den entschiedenen Widerstand der Kommunisten und der NUWM; aber auch die Labour Party und Bürgerrechtsorganisationen opponierten. So befürchtete der NCCL, der sich seit seiner erneuten Gründung 1934 dem Schutz individueller Freiheitsrechte und der Kontrolle von Polizeieinsätzen verschrieben hatte, eine folgenreiche Ausweitung von Befugnissen der Sicherheitsorgane in dem Incitement to Disaffection Bill. Das Gesetz, das im November vom Parlament verabschiedet wurde, ermächtigte die Polizei beispielsweise, Wohnungen zu durchsuchen, wenn der Verdacht bestand, dass sich in ihnen aufrührerische Literatur befand. Dem NCCL gelang es schließlich, die Incitement to Disaffection Bill als „fremd“ (d. h. Ausdruck eines kontinentaleuropäischen Polizeistaates) zu stigmatisieren und durch einige Ergänzungen zu entschärfen. Auch in den darauffolgenden Jahren verteidigte der Verband, den die Befehlshaber der Metropolitan Police, Trenchard und Game, wiederholt als kommunistische Vorfeldorganisation verdächtigten und stigmatisierten, in der Debatte über die Sicherheit des Vereinigten Königreiches bürgerliche Freiheiten. Damit wurde die „öffentliche Sicherheit“ erneut zu einem heftig umstrittenen Feld der politischen Auseinandersetzung.5

ley Papers‘, S. 175. Zum Verhältnis der britischen Konservativen zum Faschismus: Bernhard Dietz, Neo-Tories: Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne 1929–1939, München 2012; ders., The Neo-Tories and Europe: A Transnational History of British Radical Conservatism in the 1930s, in: Journal of Modern European History 15 (2017), S. 85–108; Daniel Tilles, Narratives of Violence: Fascists and Jews in 1930s Britain, in: Passmore / Millington (Hg.), Political Violence, S. 173–199, bes. S. 176, 185, 190; Bussfeld, „Democracy versus Dictatorship“, S. 183 f., 205 f., 218, 232, 236 f., 308; Gregory, Peculiarities, S. 54–57; Coleman, The Conservative Party, S. 64 f. 5 Richard Thurlow, The Security Service, the Communist Party of Great Britain and British Fascism, 1932–51, in: Nigel Copsey / David Renton (Hg.), British Fascism, the Labour Movement and the State, London 2005, S. 27–45. Vgl. Clark, Sincere and Reasonable Men?, S. 534–536; Luff, Operations, S. 744 f.; Townshed, Peace, S. 102. Hierzu und zum Folgenden: Channing,

6.1 Großbritannien 

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Da die Polizei aber weiterhin gegen Antifaschisten besonders hart vorging, wurde sie ab Mitte der dreißiger Jahre zunehmend der Parteilichkeit bezichtigt, besonders von Sozialisten und Kommunisten. Auch über diese Gruppen und Parteien hinaus richtete sich das Misstrauen gegen die Sicherheitsdienste, vor allem den MI5, der 1931 aus einer Neuorganisation hervorgegangen war. Die Kritiker wandten sich gegen die Deutung der Sicherheitsbehörden und des Innenministeriums, die eine wechselseitige Eskalation politischer Gewalt durch die extreme Linke und Rechte befürchteten. Allerdings war für diese Politik weniger eine Parteinahme zugunsten der Faschisten als die Unsicherheit über die Interpretation und Anwendung von Gesetzen bei konkreten Zwischenfällen in den Städten und Gemeinden verantwortlich. Mit der Hinwendung der BUF zum Antisemitismus eskalierten die Konflikte aber deutlich, vor allem im East End, wo viele jüdische Einwanderer lebten. Da hier zusehends die öffentliche Ordnung bedroht war, verlangten Politiker eine Verschärfung der Gesetze. Demgegenüber versuchte Innenminister Sir John Simon in der Abwägung von Sicherheitspostulaten und individueller Freiheit zunächst noch, eine weitere Einschränkung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung zu verhindern. Die Forderung nach Eingriffen in die Meinungs- und Versammlungsrechte setzte sich zunächst nicht durch, da auch Politiker, die den britischen Faschismus als fundamentale Herausforderung der Demokratie verstanden, eine weitreichende und generelle Einschränkung individueller Freiheiten befürchteten.6 Erst nachdem die antisemitische Agitation der BUF im Osten Londons am 4. Oktober 1936 zu gewalttätigen Ausschreitungen in der Cable Street geführt hatte, griff die Regierung gegen die britischen Faschisten durch. Damit sollte verhindert werden, dass das East End nach der Jahrhundertwende erneut zu einem Sicherheitsproblem wurde. Im Innenministerium wurde der Public Order Act vorbereitet, der am 1. Januar 1937 in Kraft trat und Mitgliedern politischer Parteien verbot, Uniformen zu tragen. Außerdem wurden die Behörden ermächtigt, paramilitärische Organisationen zu verbieten und Aufmärsche vorab zu unterbinden. Obgleich diese Bestimmungen, die der seit Mai 1937 amtierende Innenminister Samuel Hoare (1880–1959) für das East End bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wiederholt verlängerte, vorrangig gegen die britischen Faschisten gerichtet waren, schränkten sie auch die Aktivitäten anderer Verbände wie der NUWM ein. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die (wie der NCCL) auf den Schutz von Grundrechten der Bürger gegenüber der Sicherheitspolitik der Re-

Police, S. 125; Andrew, Secret Service, S. 372; Lawrence, Fascist Violence, S. 262; Lebzelter, Anti-Semitism, S. 165–169. 6 John Stevenson, The BUF, the Metropolitan Police and Public Order, in: Lunn / Thurlow (Hg.), British Fascism, S. 135–149; Channing, Police, S. 79 f.

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gierung bestanden, äußerten deshalb Vorbehalte gegen die Public Order Bill. Auch einzelne Labour-Politiker wie der Parlamentsabgeordnete George Buchanan (1890–1955) und William Gallacher, der die CPGB im Unterhaus vertrat, lehnten das Gesetz ab.7 Allerdings war die Opposition deutlich schwächer als der Widerstand gegen die Incitement to Disaffection Bill. Das Innenministerium und die Polizeibehörden rechtfertigten ihre Bemühungen, die öffentliche Ordnung zu bewahren, durchaus wirkungsvoll mit dem Hinweis auf ihr Ziel, damit letztlich grundlegende Freiheitsrechte zu schützen. Überdies waren die Mehrheit der Labour Party und auch Vertreter des NCCL nunmehr bereit, zum Schutz der Demokratie eine Einschränkung grundlegender Freiheiten zu akzeptieren, zumal sich die Public Order Bill offensichtlich vorrangig gegen Mosleys Faschisten richtete. Sie erschwerte Demonstrationen der BUF im East End, bot dem Innenminister aber auch die Gelegenheit, hier bis Mitte 1938 ein generelles Verbot politischer Aufmärsche zu erlassen. Damit wurden nicht nur Kundgebungen der britischen Faschisten, sondern auch Veranstaltungen anderer Gruppen und Parteien unterdrückt, so der sozialreformerischen Social Credit Party. Anders als die Liberalen verstand sie ebenso wie die britischen Faschisten wirtschaftliche Sicherheit als Grundlage der Freiheit.8 Soziale Rechte forderten auch die britischen Kommunisten, die in den 1930er Jahren aber politisch marginal blieben. Die CPGB wurde weiterhin vom MI5 überwacht, da die Partei als verlängerter Arm der sowjetischen Bolschewiki galt. Noch genauer verfolgte der Geheimdienst für Spionageabwehr die Aktivitäten kommunistischer Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich wie des Wirt7 John A. Cross, Sir Samuel Hoare: A Political Biography, London 1977, S. 281–283. Zur Battle of Cable Street: Thomas P. Lineham, Fascist Perceptions of Cable Street, in: Tony Kushner / Nadia Valman (Hg.), Remembering Cable Street: Fascism and Anti-Fascism in British Society, London 2000, S. 23–30; Moore, Sir Philipp Game’s „other life“, S. 67; Endelman, Jews, S. 203 f. Rückblicke von Aktivisten in: Phil Piratin, Our Flag Stays Red, ND London 1978 (11948), S. 15– 25; Joe Jacobs, Out of the Ghetto. My Youth in the East End. Communism and Fascism 1913– 1939, London 1978, S. 235–258; Lebzelter, Anti-Semitism, S. 125–135. 8 Richard Thurlow, Blaming the Blackshirts: the Authorities and the Anti-Jewish Disturbances in the 1930s, in: Panikos Panayi (Hg.), Racial Violence in Britain, Leicester 1993, S. 112–129; ders., State Management, S. 49; ders., Secret State, 173–213; Stephen M. Cullen, Political Violence: The Case of the British Fascists, in: Journal of Contemporary History 28 (1993), S. 245– 267; Cohen, Police, S. 426–432; Lawrence, Fascist Violence, S. 263; Ewing / Gearty, Struggle, S. 275–330; Sykes, Radical Right, S. 81; Channing, Police, S. 86 f., 91; Anderson, Fascists, S. 159–202; Olechnowicz, Introduction, S. 13 f. Zu den Bedenken des NCCL: Mark Lilly, The National Council for Civil Liberties. The First Fifty Years, London 1984, S. 10–19; Husbands, East End Racism, S. 12–14; Holmes, A Tolerant Country? S. 76; Clark, Sincere and Reasonable Men?, S. 535 f.

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schaftswissenschaftlers und -historikers Jürgen Kuczynski (1904–1997) und des Politikers Wilhelm Koenen (1886–1963). Dabei deckte der MI5 im Anschluss an die Festnahme des wichtigsten Organisators der CPGB, Percy Glading (1893– 1970), 1938 zwar Fälle von Geheimnisverrat an die Sowjetunion in der Rüstungsfabrik Woolwich (im Südosten Londons) und im Außenministerium auf. Jedoch ignorierte sie die Sicherheitsrisiken, die von nicht an die CPGB gebundenen Studenten der Universität Cambridge ausgingen, obwohl Sozialisten und Kommunisten auch im Zweiten Weltkrieg und in darauffolgenden Jahren weiterhin als subversive Kräfte galten und kontrolliert wurden. Ebenso misstraute die Führung des MI5 um Vernon Kell aus Deutschland oder Österreich geflohenen Pazifisten wie dem Gründer des Bundes Neues Vaterland, Otto Lehmann-Russbüldt, der im November 1933 Großbritannien erreicht hatte. Hier fand er Helfer wie den Präsidenten der League of Nations Union, Lord Robert Cecil, und den prominenten Journalisten Wickham Steed (1871–1956) vor, die schon früh vor der Aufrüstung im „Dritten Reich“ warnten, was von der Regierung aber als übertrieben angesehen wurde. Die britischen Freunde Lehmann-Russbüldts wurden aber vor allem überwacht, weil die Sicherheitsbehörden die Loyalität der Pazifisten gegenüber Großbritannien bezweifelten und deutsche Subversion befürchteten. Demgegenüber schenkten die Polizei und Geheimdienste den Aktivitäten der Nationalsozialisten erst ab 1935 Aufmerksamkeit, als der MI5 begann, eine Liste britischer Anhänger anzulegen.9 Die Ausweitung der staatlichen Kontrolle traf in den 1920er und 1930er Jahren aber auf Widerspruch, zumal das Innenministerium Kommunisten und Faschisten als „Extremisten“ weitgehend gleichsetzte. Polizeioffiziere gingen sogar von einer wechselseitigen Eskalation der Gewalt auf beiden Seiten aus. Kritiker wie der Gründer des National Council for Civil Liberties (NCCL), Ronald Kidd (1889–1942), wandten angesichts der umfassenden Vollmachten, die besonders der Public Order Act und der Special Powers Act den Sicherheitsbehörden gewährte, noch im Rückblick ein, dass das Gesetz der Regierung Nordirlands de facto „dictatorial powers“ verliehen habe. Der NCCL, der 1934 nach Übergriffen der Polizei gegen Demonstranten der National Unemployed Workers’ Movement neu gegründet worden war, wandte sich gegen eine Verschärfung der staatlichen Sicherheitspolitik. Im Kontext des wachsenden politischen Extremismus und der sozioökonomischen Krise in Großbritannien, aber auch des 9 Charmian Brinson / Richard Dove, A Matter of Intelligence. MI5 and the Surveillance of antiNazi Refugees, 1933–50, Manchester 2014, S. 26, 55–62, 79, 84–88; Richard Thurlow, Soviet Spies and British Counter-Intelligence in the 1930s: Espionage in the Woolwich Arsenal and the Foreign Office Communications Department, in: Intelligence and National Security 19 (2004), S. 610–631, bes. S. 615–617, 629; ders., Security Service, S. 37; Pistol, Internment, S. 17; West (Hg.), Guy Liddell Diaries, S. 2.

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Aufstiegs faschistischer Bewegungen in anderen europäischen Ländern – vor allem in Italien und Deutschland – trafen die Bemühungen des NCCL um den Schutz der Bürgerrechte auf erhebliche Unterstützung. So bildeten Aktivisten in den 1930er Jahren antifaschistische Allianzen, die Sozialisten und Liberale zusammenführten. Damit reagierte besonders Kidd, der über eine erhebliche integrative Anziehungskraft verfügte, nicht zuletzt auf die schrittweise Beseitigung von Freiheitsrechten im „Dritten Reich“ im Anschluss an die „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933. Zugleich wandte er sich gegen den im gleichen Jahr vom Parlament angenommenen Metropolitan Police Act, der den Beitritt von Polizisten zu ihrer Berufsorganisation, der Police Federation, einschränkte und eine separate Schule für die Ausbildung von Polizeioffizieren anvisierte. Darin sah Kidd nicht nur eine Einschränkung der Verantwortlichkeit für Polizeiaktionen, sondern auch eine Gefahr für die freiheitliche Grundlage der britischen Demokratie.10 Gegen den Special Powers Act wurden auch im Parlament Nordirlands (das 1972 aufgelöst wurde) wiederholt Einwände laut, die sich auf die „liberty of the citizen and the right of free speech“ bezogen. Die bürgerlichen Freiheits- und Grundrechte der irischen Nationalisten schränkte der am 28. Juli 1939 verabschiedete Prevention of Violence (Temporary Provisions) Act besonders erheblich ein. Angesichts des drohenden Krieges begründete die Regierung das Gesetz mit dem Verdacht, dass die militant nationalistische Irish Republican Party Anschläge geplant habe und von ausländischen (d. h. deutschen) Organisationen beeinflusst werde. Noch weit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wichtige Rechte in Nordirland im Namen der staatlichen und öffentlichen Sicherheit suspendiert. So ordnete die britische Regierung 1971 an, des Terrorismus verdächtigte IRA-Mitglieder ohne Gerichtsverfahren zu internieren. Im darauffolgenden Jahr belief sich die Zahl der Betroffenen bereits auf 2.447.11 Ebenso hatte der nordirische Innenminister schon 1948 argumentiert, dass Freiheiten keinesfalls Personen eingeräumt werden könnten, die anstrebten, 10 Christopher Moores, From Civil Liberties to Human Rights? British Civil Liberties Activism and Universal Human Rights, in: Contemporary European History 21 (2012), S. 169–192, hier: S. 171 f.; Thurlow, State Management, S. 40. Zur Gründung und Politik des NCCL im Kontext der Jahre 1933/34: Janet Clark, Sincere and Reasonable Men? The Origins of the National Council for Civil Liberties, in: Twentieth Century British History 40 (2009), S. 513–537, hier: S. 515, 529– 536. 11 Angabe nach: Bennett, Detention, S. 191. Vgl. auch Robert J. Art / Louise Richardson, Conclusion, in: dies. (Hg.), Democracy and Counterterrorism. Lessons from the Past, Washington 2007, S. 563–601. Zitat: Ronald Kidd, British Liberty in Danger. An Introduction to the Study of Civil Rights, London 1940, S. 57 f. Zur Gründung und zur Politik des NCCL: Janet Clark, Sincere and Reasonable Men? The Origins of the National Council for Civil Liberties, in: Twentieth Century British History 40 (2009), S. 513–537, hier: S. 515, 534, 536.

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den Staat zu beseitigen. Auch Kritiker wie der Labour-Politiker Stafford Cripps (1889–1952), der 1937 seine Socialist League aufgelöst hatte, warnten vor einer Verabsolutierung der Sicherheit (safety first) als politischem Ziel. Demgegenüber definierte Innenminister John Simon die Balance zwischen Freiheit und Sekurität ganz anders. Aus seiner Sicht beinhaltete Liberalität „not only the rights of those who wish to demonstrate or protest, but also the rights of the general public, who have their interests in being protected from suffering from serious and illegitimate disturbance.“12 Da die Arbeit der Sicherheitsorgane – besonders des Special Branch und des MI5 – zudem weitgehend vor der Öffentlichkeit abgeschirmt blieb, war die Wirkung der Proteste von Bürgerrechtsorganisationen wie dem NCCL in den 1920er und 1930er Jahren geringer als in den USA. Nachdem die britische Regierung noch drei weitere Jahrzehnte lang die Folter von verdächtigten Terroristen mit dem Hinweis auf Sekurität gerechtfertigt hatte, entschied sie sich 1972 angesichts des Scheiterns ihrer Internierungspolitik gegen den Widerstand der Polizeikräfte – besonders des Special Branch – für eine Strategie der Deeskalation. Sie löste damit nicht nur in Nordirland, sondern in Großbritannien insgesamt eine Entsicherheitlichung aus.13

Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gegenüber Flüchtlingen aus dem „Dritten Reich“ Die Fremdenfeindlichkeit, die in Großbritannien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zugenommen hatte, wuchs in den dreißiger Jahren erneut, als eine aktive Bevölkerungspolitik wiederum die physische Leistungsfähigkeit der Briten erhöhen sollte.14 Dabei wurden nur selten eugenische Maßnahmen gefordert, und auch eine bedingungslose Unterordnung der einzelnen Menschen unter die Bedürfnisse mit einem Pflichtdienst traf überwiegend auf Widerstand. Jedoch hielt die Regierung an einer restriktiven Immigrationspolitik fest, die weiterhin auf den Einschränkungen des Aliens Restrictions Act von 1919 basierte. Einwanderer galten im Allgemeinen als verdächtige Fremde, die von breiten Bevölkerungsgruppen als unerwünschte Konkurrenten beargwöhnt wurden. Als nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ Verfolgte aus Deutschland 12 Zitat: Townshend, Peace, S. 111. 13 Zitat: Donohue, Regulating Northern Ireland, S. 1101. Vgl. auch Luff, Operations, S. 745, Bennett, Detention, S. 193, 195, 198 f., und den Artikel „civil liberties“ in: Ramsdem (Hg.), Oxford Companion to Twentieth-Century British Politics, S. 122 f. 14 Anna Maria Lemcke, „Proving the superiority of democracy“. Die „National Fitness Campaign“ der britischen Regierung (1937–1939) im transnationalen Zusammenhang, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), S. 543–570.

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flohen, setzte die Regierung am 5. April ein Committee on Aliens Restrictions ein, das die Zuwanderung von Juden beobachten und Erleichterungen empfehlen sollte. Bei der Durchsetzung der Politik arbeitete das Innenministerium eng mit jüdischen Hilfsverbänden zusammen, besonders mit dem im Frühjahr 1933 gegründeten Jewish Refugees Committee, das von Otto Schiff (1875–1952) geleitet wurde. Allerdings maßen die politischen Eliten der Verfolgung und der daraus resultierenden Flucht von Juden aus dem „Dritten Reich“ lange nur einen untergeordneten Stellenwert in ihrer Politik bei. So lehnte der britische Botschafter in Berlin, Horace Rumbold (1869–1941), den Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten zwar ab. Zugleich aber hegte er Ressentiments gegen Juden, die er als unerwünschte Fremde betrachtete.15 Jüdischen Flüchtlingen, gegen die keine politischen, strafrechtlichen oder medizinischen Bedenken erhoben wurden, sollte im normalen Einwanderungsverfahren eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden. Allerdings fürchtete die Regierung eine unkontrollierte Zuwanderung mittelloser Juden (vorrangig aus Deutschland), wie Innenminister John Gilmour schon am 7. April 1933 im Kabinett hervorhob. Deshalb bestand die Regierung auf einer Übernahme der Kosten durch die jüdischen Organisationen, die auch die Einwanderung begrenzen sollten. Besonders die jüdische Elite im Board of Deputies trug diese Einigung mit, lehnte eine – von anderen jüdischen Verbänden verlangte – offensive Immigrationspolitik aber ab. Bis April 1934 erreichten das Vereinigte Königreich letztlich nur 2.000 bis 3.000 und bis Ende 1937 lediglich 5.500 der insgesamt 155.000 Flüchtlinge, welche die Nationalsozialisten seit 1933 aus Deutschland vertrieben hatten. Insgesamt nahm Großbritannien bis 1937 rund 11.000 Einwanderer auf.16 Die Regierung erwartete, dass viele von ihnen weiterwandern würden, besonders in die USA. Etablierte jüdische Organisationen befürchteten eine Zunahme des Antisemitismus in Großbritannien. Besonders der Board of Deputies of British Jews blieb zurückhaltend. Der MI5 warnte im Frühjahr 1938 sogar explizit vor Bemühungen der nationalsozialistischen Machthaber, mit den jüdischen Flüchtlingen Spione in Großbritannien einzuschleusen. Die Jewish Agency und die Zionisten im Central British Fund für German Jewry forderten deutsche Juden zur Emigration nach Palästina und der 1936 etablierte Council for German Jewry zur Flucht in andere Länder auf. Die Politik der britischen Regierung, die auch die Einwanderung in den Nahen Osten zu kanalisieren suchte, 15 Tony Kushner, Beyond the Pale? British Reactions to Nazi Anti-Semitism, 1933–39, in: Kushner / Lunn (Hg.), Politics, S. 143–160, hier: S. 146 f.; London, Whitehall, S. 25, 27. 16 Marion Berghahn, Continental Britons. German-Jewish Refugees from Nazi Germany, Oxford 1984, S. 75; Pistol, Internment, S. 13; Endelman, Jews, S. 213 f.

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um die Unruhe unter den dort lebenden Arabern zu ersticken, blieb letztlich defensiv und von Eigeninteressen geprägt, denn es sollten vorrangig Flüchtlinge aufgenommen werden, die im Vereinigten Königreich benötigt wurden. Damit war die Tradition, politischen Verfolgten Asyl zu gewähren, zwar noch keineswegs vollends gebrochen. So wurden einzelne Verfolgte wie der Völkerrechtler Georg Schwarzenberger (1908–1991) schon in den ersten Monaten nach der NS„Machtergreifung“ aufgenommen. Jedoch suchte die britische Regierung die Aufnahme von Flüchtlingen auf der Grundlage der Übereinkunft mit den jüdischen Organisationen vom April 1933 strikt zu begrenzen. Zudem sollten die Beziehungen zu Deutschland nicht irreparabel belastet werden. Die Verfolgung im „Dritten Reich“ wurde deshalb öffentlich nur selten kritisiert, wie die Entscheidung zeigt, im Dezember 1935 im Norden Londons (wo viele Juden lebten) ein Fußballländerspiel gegen Deutschland auszurichten. Insgesamt nahm Großbritannien bis 1937 rund 11.000 Einwanderer auf.17 Nach der Annexion Österreichs im März 1938 und der Reichspogromnacht am 9. November verstärkte sich aber die Flucht von Juden aus dem „Dritten Reich“. Allein aus Österreich, wo beim „Anschluss“ des Landes rund 200.000 Juden lebten, emigrierten bis Frühjahr 1939 über 90.000 von ihnen. Von den 100.000 bis 150.000 Flüchtlingen, die in dieser Phase aus Deutschland vertrieben wurden, durften 40.000 nach Großbritannien kommen, darunter viele Kinder. Eine parteienübergreifende Kommission von Unterhausabgeordneten um Victor Cazelet (Konservative Partei; 1896–1943), der Quäkerin Eleanor Rathbone (Labour Party; 1872–1946) und Josiah Wedgwood (Liberale Partei) setzte sich für eine Aufnahme deutscher Verfolgter und eine Unterstützung dieser Gruppe mit öffentlichen Mitteln ein. Allerdings verstand die Regierung Großbritannien nur als Transit- und nicht als Einwanderungsland. Die Flüchtlinge aus Mitteleuropa sollten deshalb in andere Länder weiterreisen. Dies forderten auch jüdische Organisationen, die mit den notwendigen Hilfsleistungen für die Immigranten überfordert waren. Das regierungsamtliche Central Committee for Refugees, das George Rublee (1868–1957) und anschließend Herbert Emerson (1881– 1962) leitete, bemühte sich in Verhandlungen mit Deutschland und den USA bis August 1939 um eine Lösung. Dabei wurde auch eine verstärkte Einwanderung 17 Ronald Stent, A Bespattered Page? The Internment of His Majesty’s ‚most loyal enemy aliens‘, London 1980, S. 18–20; Stephanie Steinle, Völkerrecht und Machtpolitik. Georg Schwarzenberger (1908–1991), Baden-Baden 2002, S. 81 f.; Gerhard Hirschfeld, „A High Tradition of Eagerness …“ British Non-Jewish Organisations in Support of Refugees, in: Mosse (Hg.), Second Chance, S. 599–610, hier: S. 599, 610; London, Whitehall, S. 26–40, 60, 96; Marrus, The Unwanted, S. 131–135, 149–153; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 53; Alter, Refugees, S. 73. Angaben nach: J. M. Ritchie, German Refuges from Nazism, in: Panayi (Hg.), Germans, S. 147–169, hier: S. 147; Brinson / Dove, Matter, S. 22.

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von Juden nach Palästina und Neuguinea diskutiert. Allerdings erreichte nur die Emigration in den Nahen Osten ein signifikantes Ausmaß. Großbritannien ließ 1938/39 allein 47.000 jüdische Flüchtlinge zu, davon 44.000 von November 1938 bis September 1939. Hinzu kamen 9.354 Kinder, die in gesonderten Transporten nach England kamen und von Quäkern und Juden unterstützt wurden. Rund neunzig Prozent der Juden, die aus Mitteleuropa flohen, erreichten das Vereinigte Königreich erst von November 1938 bis August 1939.18 Insgesamt konnten von 1933 bis 1939 rund 50.000 deutsche und österreichische Juden nach Großbritannien fliehen, darunter 2.200 verfolgte Wissenschaftler. Weitere 6.000 jüdische Flüchtlinge kamen aus der Tschechoslowakei, die mit der Annexion des Sudetengebietes im September 1938 und dem deutschen Einmarsch in Prag im März 1939 als Staat zerfiel. Die Flüchtlinge wurden von jüdischen Organisationen wie dem Board of Deputies of British Jews, dem Council for German Jewry und dem Jewish Refugees Committee unterstützt, das von 1933 bis 1938 rund 233.000 Pfund für jüdische Flüchtlinge in Großbritannien bereitstellte. Diese Verbände erledigten ebenso wie das Germany Emergency Committee der Quäker und der Academic Assistance Council auch organisatorische Arbeit. Zudem sammelte die Heilsarmee Spenden, wenn auch nicht nur für jüdische Flüchtlinge. Damit entlasteten diese Organisationen die Regierung. Nur diese Hilfe ermöglichte den deutschen Juden nach dem restriktiven Aliens Order von 1920 die Einreise nach Großbritannien. Einige diese Flüchtlinge konnten auch nach dem British Nationality and Status of Aliens Act von 1914 eingebürgert werden. Zusammen mit den seit dem 17. Jahrhundert und im späten 19. Jahrhundert aus Osteuropa eingewanderten Juden verfügte die jüdische Gemeinde in Großbritannien 1939 über 370.000 Mitglieder. Dagegen nahmen die Dominions in den dreißiger Jahren nur wenige jüdische Flüchtlinge auf, so Südafrika 6.000 bis 7.000 und Kanada weniger als 5.000.19 Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit war in den 1930er Jahren der Druck, die Aufnahme einzuschränken, aber erheblich. So warnten einflussreiche Zeitungen wie der Daily Express und die Daily Mail vor der Einwanderung weiterer 18 Angaben nach: Birte Kundrus, „Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg“. Krieg und Holocaust, München 2018, S. 4 f.; Alter, Refugees, S. 72; Ritche, Refugees, S. 147; Berghahn, Britons, S. 75; Endelman, Jews, S. 215. 19 Angaben nach: Maxine Schwartz Seller, We Built up Our Lives. Education and Community among Jewish Refugees Interned by Britain in World War II, Westport 2001, S. 48; Panayi, Immigrants, S. 201; Marrus, The Unwanted, S. 153; London, Whitehall, S. 45, 48. Vgl. auch Brinson / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 13; Berghahn, Britons, S. 78 f.; Alter, Refugees, S. 77; A. J. Sherman, Island Refuge. Britain and Refugees from the Third Reich 1933–1939, London 1973, S. 166–258; Colin Holmes, Enemy Aliens? Foreign Internees in Britain during World War II, in: History Today 40 (1990), S. 25–31, hier: S. 26; ders., Immigrants, S. 15.

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Fremder, die in Großbritannien auch in der Bevölkerung weithin auf Misstrauen trafen. Der Verdacht, dass vor allem die Juden das Vereinigte Königreich in einen Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland ziehen könnten, traf auch außerhalb des engen Kreises der britischen Faschisten, radikalen Nationalisten und sektiererischen Antisemiten wie den Mitgliedern der 1928 von Arnold Leese (1878–1956) gegründeten Imperial Fascist League (IFL) auf Zustimmung. So warnte Lord Beaverbrooks Daily Express im August 1938 in einer Artikelserie vor umherwandernden Juden. Angesichts der deutlichen Fremdenfeindlichkeit warnte sogar der Board of Deputies vor einer Überfremdung. Er positionierte sich damit besonders gegen die osteuropäischen Juden, die von dem 1934 gegründeten Jewish Labour Council against anti-Semitism and Fascism und dem zwei Jahre später gebildeten Jewish People’s Council (JPC) unterstützt wurden. Der JPC trat für eine radikale Kampagne gegen die antisemitische Agitation der BUF ein und wurde dabei von der CPGB unterstützt. Vor allem die jüdische Arbeiterschaft in den östlichen Stadtvierteln Londons misstraute dem etablierten Board, der über enge Kontakte zum Innenministerium und zum Metropolitan Police Commissioner verfügte und einen offenen Kampf gegen die britischen Faschisten ablehnte.20 Wegen der Wirtschaftskrise wurden Arbeitsgenehmigungen noch in den späten 1930er Jahren selten erteilt. So verhinderte der Berufsverband der British Medical Association, dass bis Mai 1937 mehr als 78 Zahnärzten und 183 Medizinern, die aus Deutschland geflohen waren, erlaubt wurde, in Großbritannien zu praktizieren. In den Ressentiments gegen die 20.000 Jüdinnen, die aus dem „Dritten Reich“ geflohen waren und in Großbritannien z. T. als Hausangestellte beschäftigt wurden, verbanden sich antisemitische Ressentiments und Vorurteile gegen Frauen, die von der BUF verbreitet wurden und auch in der Arbeiterschaft auf Resonanz trafen. Ebenso trafen Krankenschwestern auf Widerstand, nicht zuletzt unter Gewerkschaftern, die befürchteten, dass die Flüchtlinge das Lohnniveau senken und die Arbeitsbedingungen verschlechtern würden. Erst am 17. November 1939 hob die Regierung vorübergehend das Arbeitsverbot für Flüchtlinge auf. Bis Mai 1940 konnten damit 17.000 dieser Emigranten eine Beschäftigung aufnehmen, oft unter Vermittlung von Hilfsorganisationen. Aber noch im Juli waren in Großbritannien insgesamt nur 460 Ausländer als allgemein praktizierende Ärzte zugelassen worden.21 20 Vgl. Lebzelter, Anti-Semitism, S. 43, 68–85, 140–145, 151–154, 156–164; Endelman, Jews, S. 209–213; Panayi, Immigration, S. 113. Zur IFL auch: Colin Holmes, The Ritual Murder Accusation in Britain, in: Ethnic and Racialist Studies 4 (1981), S. 265–288, hier: S. 272, 277. Hinweis auf den Daily Express in: Pearle, Dunera Scandal, S. 1. 21 Angaben nach: Yvonne Kapp / Margaret Mynatt, British Policy and the Refugees 1933–1941, London 1997, S. 80; London, Whitehall, S. 52; Berghahn, Britons, S. 85. Zu den weiblichen

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Unter dem Druck der wachsenden Fremdenfeindlichkeit standen in vielen jüdischen Gemeinden schon lange in Großbritannien ansässige Juden, die auf eine rasche Assimilation drängten und vor allem im Board of Deputies organisiert waren, Aktivisten gegenüber, die offen und aggressiv gegen Antisemitismus und Verfolgung protestierten. So unterstützten jüdische Verbände wie das Jewish Defence Committee Publikationen, um fremdenfeindlichen und antisemitischen Vorurteilen zu begegnen. Die Spannungen gingen erst nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zurück, zumal die Regierung im Dezember 1938 beschloss, die Hälfte der Kosten zu übernehmen, die für den Unterhalt der Flüchtlinge benötigt wurden. Das Kabinett bestand aber gegenüber internationalen Organisationen wie dem Völkerbund und dem 1938 auf Initiative Roosevelts gegründeten Intergovernmental Committee on Refugees durchweg auf ihrer souveränen Entscheidung über die Aufnahme von Flüchtlingen. Es bemühte sich bei der Ratifikation von Konventionen des Völkerbundes deshalb, Verpflichtungen zu begrenzen, die sich u. a. gegenüber dem 1933 eingesetzten Hohen Kommissar für Flüchtlinge aus Deutschland ergaben. Humanitäre Hilfe wurde weitgehend zivilgesellschaftlichen Verbänden überlassen. Freiwilligen Aktivisten, die – wie der Geistliche James Parkes (1896–1981) – auf der humanitären Pflicht zur Aufnahme verfolgter Juden bestanden, blieben weitgehend isoliert. Obgleich die Regierung durchaus erkannte, dass die insgesamt 90.000 jüdischen Flüchtlinge, die in Großbritannien aufgenommen wurden, die Sicherheit des Landes nicht bedrohten, sah sie nur eine vorübergehende Aufnahme vertriebener deutscher Juden vor. Sie sollten vor allen in die Vereinigten Staaten weiterwandern.22

Hausangestellten und Krankenschwestern: Tony Kushner, Politics and Race, Gender and Class: Refugees, Fascists and Domestic Service in Britain, 1933–1940, in: ders. / Lunn (Hg.), Politics of Marginality, S. 49–58; ders., An Alien Occupation – Jewish Refugees and Domestic Service in Britain, 1933–148, in: Mosse u. a. (Hg.), Second Chance, S. 553–578; ders., Asylum or Servitude? Refugee Domestics in Britain, 1933–1945, in: Bulletin of the Society for the Study of Labour History 53 (1988), Nr. 3, S. 19–27; Kushner / Knox, Refugees, S. 157–160. 22 Elaine Smith, Jewish Responses to Political anti-Semitism and Fascism in the East End of London, 1920–1939, in: Kushner / Lunn (Hg.), Traditions, S. 53–71; Neil Barrettt, The Threat of the British Union of Fascists in Manchester, in: Kushner / Valman (Hg.), Cable Street, S. 56–73; Vivian Lipman, Anglo-Jewish Attitudes to the Refugees from Central Europe, 1933–1939, in: Mosse u. a. (Hg.), Second Chance, S. 519–531, hier: S. 522, 524–526; David Rosenberg, Facing Up to Antisemitism. How Jews in Britain Countered the Threats of the 1930s, London 1985, bes. S. 46–68; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 56; Sherman, Island Refuge, S. 175–184, 217 f.; Kushner, Remembering, S. 41–43; Cesarani, An Alien Concept?, S. 42–44; Lebzelter, AntiSemitism, S. 145–148; Seyfert, Niemandsland, S. 20; Wasserstein, Regierungen, S. 50. Angabe nach: Wendy Ugolini, Experiencing War as the „Enemy Other“. Italian-Scottish Experience in World War II, Manchester 2011, S. 92.

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Angesichts der Bedrohung durch das NS-Regime und der anhaltenden Agitation gegen die Juden – besonders im Osten Londons – bildete sich in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion und Auseinandersetzung aber ein neues Verständnis der Meinungsfreiheit heraus, die nunmehr offen antisemitische Aufwiegelung ausschließen sollte. So lehnte der Board of Deputies die Aufrufe des im September 1933 gebildeten Jewish Representative Council for the Boycott of German Goods and Services zu einem umfassenden Boykott deutscher Waren zwar ab. Auch die Hinwendung zum Zionismus, mit der viele englische Juden auf die Hilflosigkeit gegenüber der Verfolgung im „Dritten Reich“ reagierten, blieb umstritten. Die jüdischen Organisationen in Großbritannien einte aber die scharfe Ablehnung des Nationalsozialismus und des britischen Faschismus.23 In den späten 1930er Jahren forderten auch Verbände wie der Board of Deputies und der NCCL, die zunächst an dem überlieferten rechtlichen Instrument der aufrührerischen Verleumdung im Common Law festgehalten und ein separates Gesetz gegen politische Aufwiegelung abgelehnt hatten, eine neue legislative Initiative, mit der die Freiheit gerade durch gezielte Einschränkungen bewahrt werden sollte.24 Zudem wandten sich die humanitären Hilfsorganisationen 1938 gegen die Neuregelung der Einreise deutscher und österreichischer Flüchtlinge durch das Home Office, dessen Aliens Department seit Mai auf Visa für deutsche und österreichische Flüchtlinge bestand. Die Dokumente mussten von den diplomatischen Vertretungen Großbritannien vor der Einreise ausgestellt werden. Obwohl das Innenministerium Flüchtlingsverbände einbezog, konfrontierte dieses Verfahren Geflohene mit neuen Barrieren. Zudem überlastete es die britischen Konsulate so stark und anhaltend, dass sich Klagen über Willkür und Verzögerungen häuften. So kritisierte Mary Ormerod, eine Quäkerin, die dem Koordinationskomitee des Home Office angehörte, unhöfliches Auftreten gegenüber Antragstellern. Da die Gefahr vor allem für die deutschen Juden 1938/39 wuchs und unabweisbar war, nahm der Druck zur Liberalisierung der Immigrationspolitik zu. Die britische Regierung erklärte sich daraufhin bereit, aus humanitären Gründen mehr Verfolgte aufzunehmen. So wurde die Visumspflicht für unbegleitete Kinder bis 17 Jahren aufgehoben. Auch ließen die Behörden Ausnahmen für Auszubildende und Berufsgruppen zu, die im Vereinigten Königreich benö23 Sharon Gewirtz, Anglo-Jewish Responses to Nazi Germany 1933–39: The Anti-nazi Boycott and the Board of Deputies of British Jews, in: Journal of Contemporary History 26 (1991), S. 255– 276. 24 Ein Verbot rassistischer Aufwiegelung wurde aber erst in dem 1965 vom Parlament verabschiedeten Race Relations Act verankert. Vgl. Christopher Hilliard, Words That Disturb the State: Hate Speech and the Lessons of Fascism in Britain, 1930–1960s, in: Journal of Modern History 88 (2016), S. 764–796, bes. S. 765–767, 771–773.

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tigt wurden. So konnten Hausbedienstete einreisen. Darüber hinaus wurde offiziell die Ansiedlung von Unternehmen in Regionen gefördert, in denen die wirtschaftliche Krise besonders ausgeprägt war (wie in Wales und in Nordengland). Insgesamt gründeten Ausländer bis 1939 mehr als 400 Unternehmen.25 Jedoch suchte das Kabinett die Immigration weiterhin zu begrenzen und die Einreise von Flüchtlingen streng zu kontrollieren. Vor allem jüdische Einwanderer waren offiziell unerwünscht. Überkommene Vorurteile, die Furcht vor einem Aufleben des Antisemitismus, eine begrenzte Bereitschaft zu humanitärer Hilfe und das weiterhin einflussreiche Leitbild eines ethnisch homogenen Nationalstaates verhinderten eine großzügige Politik der Regierung, die Flüchtlingen aber gleichwohl half. So erteilte sie Zehntausenden von bedrohten Juden Visa und ermöglichte damit ihre Flucht aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei. Letztlich war die Einwanderungspolitik der Regierung in den letzten Monaten vor dem Zweiten Weltkrieg allerdings widersprüchlich, und sie überlastete die beteiligten Behörden und Konsulate.26 Anfang 1939 lebten mehr als 50.000 Deutsche, Österreicher und Italiener in Großbritannien. Insgesamt wurden bis zum Kriegsausbruch 80.000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und den besetzten tschechischen Gebieten aufgenommen. Im September 1939 hielten sich im Vereinigten Königreich allein 76.000 Deutsche und Österreicher auf, von denen 85 Prozent Flüchtlinge waren. Viele von ihnen litten zunächst unter Armut und Einsamkeit, da sich das Einleben in Großbritannien vor allem für die Älteren als schwierig und langwierig erwies. Außer der Sprachbarriere erschwerten die zunehmenden politischen Spannungen, die gesetzlichen Einschränkungen, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus den Neuanfang in Großbritannien.27 Zwar zweifelten die Behörden in den letzten Jahren vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges kaum an der Loyalität dieser Gruppe gegenüber Großbritannien. Die Internierung von Feindstaatenangehörigen, die nach Auffassung des Innenministeriums die Sicherheit des Landes gefährdeten, war aber schon 25 Anthony Grenville, Continental Britons. Jewish Refugees from Nazi Europe, London 2002, S. 6. Nach dem Zweiten Weltkrieg war diese Zahl auf 1.000 gewachsen, die insgesamt 250.000 Personen Beschäftigung boten. Vgl. Berghahn, Britons, S. 108. 26 London, Whitehall, S. 63–70, 83, 273–284; Berghahn, Britons, S. 77; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 48; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 33. 27 Angaben nach: Colin Holmes, „British Justice at Work“: Internment in the Second World War, in: Panayi (Hg.), Minorities, S. 150–165, hier: S. 151; ders., Enemy Aliens?, S. 26; Paula J. Draper, The ‚Camp Boys‘: Interned Refugees from Nazism, in: Franca Iacovetta / Roberto Perin / Angelo Principe (Hg.), Enemies Within. Italian and Other Internees in Canada and Abroad, Toronto 2000, S. 171–192, hier: S. 171; Pistol, Internment, S. 15; Berghahn, Britons, S. 75; Grenville, Britons, S. 6. Vgl. auch Julie V. Gottlieb, Civilian Internees – World War II – Britain, in: Vance (Hg.), S. 52–54, hier: S. 52.

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seit den frühen 1930er Jahren vorbereitet worden.28 Im Mai 1931 hatte das War Establishments Committee im Kriegsministerium die Personen, die interniert werden sollten, nach dem Ausmaß der vermutlich von ihnen ausgehenden Sicherheitsgefahr in zwei Gruppen („A“ und „B“) aufgegliedert. In den folgenden Jahren stellten das Kriegsministerium und der MI5 eine Liste geeigneter Lagerstandorte und Gebäude zusammen, die mit dem Beginn der Mobilisierung zur Aufnahme verhafteter Zivilisten bereitstehen mussten. Gefängnisse sollten ausdrücklich nicht genutzt werden. Als Wachmannschaften waren zunächst reguläre Soldaten vorgesehen, die aber baldmöglichst von Angehörigen der Territorialarmee abgelöst werden sollten.29 1931 war der Bedarf an Wachpersonal in den zehn Internierungslagern, die in England und Schottland in drei Militärbezirken eingerichtet werden sollten, mit 170 Männern für insgesamt 600 Internierte veranschlagt worden.30 Die Vorbereitungen verliefen aber schleppend, so dass eine Unterkommission des Committee of Imperial Defence, das zur Kontrolle von Ausländern im Krieg eingerichtet worden war, dem Kriegsministerium im Februar 1939 endlich empfahl, Quartiere zur Unterbringung von 18.000 enemy aliens vorzubereiten. Eine Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger wurde für ein frühes Stadium eines künftigen Krieges angekündigt und am 6. April 1939 beschlossen. Jedoch hatte der MI5 festgestellt, dass lediglich von 415 Feindstaatenausländern eine direkte Bedrohung der Sicherheit ausging. Für diese Personen und die britischen Faschisten war im War Book vom Juli 1937 auf Druck des Geheimdienstes festgelegt worden, sie im Kriegsfall im Namen der Sicherheit festzunehmen und ohne Verfahren zu internieren. Im Vereinigten Königreich legten gesonderte Instruktionen die Aufgaben der Polizei bei der Verhaftung von Feindstaatenangehörigen und die Organisation der Internierungslager fest, die dem Kriegsministerium zugeordnet wurden.31

28 Dazu als Übersicht das Register in: NA, KV 4/362. 29 NA, KV 4/362 (Briefe vom 25. und 26. August 1931, 10. Januar und 4. Februar 1932 sowie vom 14. April und 14. Mai 1936). 30 NA, KV 4/362 (Briefe vom 25. und 26. August 1931, 10. Januar und 4. Februar 1932 sowie vom 14. April und 14. Mai 1936). 31 NA, CO 323/1666/1 (Vermerk vom 24. April 1939). Angabe nach: Louise London, Whitehall and the Jews, 1933–1948: British Immigration Policy, Jewish Refugees, and the Holocaust, Cambridge 2003, S. 11. Vgl. auch Charmian Brinson, „In the Exile of Internment“ or „Von Versuchen, aus einer Not eine Tugend zu machen“: German-Speaking Women Interned by the British during the Second World War, in: William Niven / James Jordan (Hg.), Politics and Culture in Twentieth-Century Germany, Rochester 2003, S. 63–87, hier: S. 63 f.; dies. / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 13; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 32; Berghahn, Britons, S. 111; Hemming, Maxwell Knight, S. 196 f.

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Die Politik gegenüber Feindstaatenausländern 1939: Ausnahmegesetze und erste Maßnahmen Als im Sommer 1939 ein neuer Krieg drohte, wurden viele Flüchtlinge ohne Gerichtsverfahren und Anklage ihrer Freiheit beraubt. Die Fixierung des Kabinetts auf die Sicherheit des Landes ging über humanitäre Grundsätze weitgehend hinweg. Wie schon 1914 präsentierte die Regierung dem Parlament ein Notstandsgesetz, das – ebenso wie im Ersten Weltkrieg – auf dem Rechtsmittel der Königlichen Prärogative (Royal Prerogative) beruhte. Der von Hoare eingebrachte Emergency Powers (Defence) Act, dem das Unterhaus am 24. August zustimmte, ermächtigte das Kabinett unter Premierminister Neville Chamberlain, Verordnungen (Defence Regulations) zu erlassen, die ihm unabdingbar schienen, um Großbritannien zu verteidigen, die Sicherheit des Vereinigten Königreiches zu gewährleisten und die öffentliche Ordnung zu bewahren. Auch sollte mit diesen außerordentlichen Maßnahmen eine effektive Kriegführung ermöglicht werden. So war die Versorgung der Briten mit notwendigen Gütern und Dienstleistungen zu gewährleisten.32 Die Regierung setzte die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung mit dem leitenden Konzept der Sicherheit gleich. Dazu wurde außer den neuen Gesetzen auch die 1920 erlassene Aliens Order genutzt, die u. a. Ausgangssperren und wirtschaftliche Einschränkungen gegen Ausländer erlaubte. Noch 1943 rechtfertigte das britische Innenministerium auch die Internierung mit dem Hinweis, dass sie notwendig „for securing the public safety“ sei.33 Demgegenüber sah der Labour-Abgeordnete Wedgwood Benn (1877–1960) Großbritanniens parlamentarische Demokratie in Gefahr, für deren Verteidigung der Krieg aber letztlich geführt wurde. Die Kritik des Unabhängigen Progressiven und Quäkers Edmund Harvey (1875–1955), der im House of Commons die englischen Universitäten vertrat, fiel noch entschiedener aus: „…we must not, for the sake of winning a victory, lose the very cause for which we are struggling.“34 Angesichts der Furcht vor Verrat, Subversion und Aufruhr setzten sich 1939 aber die Befürworter einer umfassenden und strikten Sicherheitspolitik ebenso durch wie schon 1914. Dabei galten besonders Feindstaatenangehörige als po32 Peter Gilman / Leni Gilman, „Collar the Lot!“ How Britain Interned and Expelled its Wartime Refugees, London 1980, S. 120; Neil Stammers, Civil Liberties in Britain during the Second World War. A Political Study, London 1983, S. 34; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 55–66; Stent, A Bespattered Page?, S. 23 f.; Holmes, Immigrants, S. 16; Townshend, Peace, S. 112 f.; Krammer, Process, S. 19; Seyfert, Niemandsland, S. 22 f.; ders., „His Majesty’s Most Loyal Internees“, S. 157 f. 33 NA, HO 215/105 (Brief von J. F. Moylan [Home Office] an Rodolphe Haccius, IKRK). 34 Zitat: Townshend, Peace, S. 114, 118.

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tentielle „fünfte Kolonne“ (ein Ausdruck, den General Emilio Mola Vidal im Spanischen Bürgerkrieg 1936 geprägt hatte). Schon ab 1937 hatten die britischen Sicherheitsbehörden vor der Gefahr gewarnt, die aus ihrer Sicht von Anhängern des Nationalsozialismus in Großbritannien ausging. Angesichts des drohenden Krieges wies das Innenministerium die Polizeidienststellen schließlich am 25. August 1939 an, bei Kriegsausbruch verhaftete Feindstaatenangehörige in zwei Gruppen aufzuteilen. Flüchtlinge sollten getrennt von den anderen Internierten untergebracht werden, aber ebenso wie diese in den Lagern zunächst der Militärverwaltung unterstellt werden. Nach dem deutschen Angriff auf Polen übersandte das Home Office in Abstimmung mit dem MI5 den einzelnen Polizeichefs eine Liste mit den Namen von 880 enemy aliens, die nach einem weiteren Befehl festzunehmen waren.35 Mit der Kriegserklärung Großbritanniens am 3. September 1939 verloren die Visa von Deutschen ihre Gültigkeit. Sie durften zwar noch bis zum 9. September ausreisen, wurden aber zu Feindstaatenangehörigen. Die Regierung griff dabei auf die Unterlagen zu den enemy aliens im Ersten Weltkrieg zurück, und das Innenministerium ordnete an, alle in Großbritannien lebenden Deutschen und Österreicher zu überprüfen. Die Behandlung dieser Feindstaatenangehörigen folgte zunächst jedoch nicht dem Grundsatz der Abstammung. Vielmehr war die Einstellung gegenüber dem Vereinigten Königreich das wichtigste Kriterium, denn das Innenministerium lehnte eine unterschiedslose Internierung aller Deutschen und Österreicher ab. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg befanden sich unter ihnen viele Flüchtlinge, deren Internierung ungerechtfertigt war, zumal der MI5 von ihnen nur wenige als Spione des NS-Regimes enttarnte. Allerdings fürchteten Militärs und Vertreter der Sicherheitsbehörden, dass die Machthaber des „Dritten Reiches“ Juden, die Angehörige in Deutschland zurückgelassen hatten und deshalb erpressbar waren, in Großbritannien zu subversiven Zwecken missbrauchen könnten. So wurden hier auch schon Anfang September jüdische Gegner des NS-Regimes wie der ehemalige stellvertretende Polizeivizepräsident von Berlin, Bernhard Weiß (1880–1951), den Goebbels wegen seiner jüdischen Herkunft als „Isidor“ verunglimpft hatte, verhaftet, interniert und zusammen mit Nationalsozialisten eingesperrt.36 Festgesetzte Zivilisten waren nach einer Entscheidung der britischen Regierung vom April 1936 im Kriegsfall aber nicht schlechter zu behandeln als gefan-

35 Stent, A Bespattered Page?, S. 25 f.; Thurlow, State Management, S. 47; Barnes / Barnes, Nazis, S. 251. 36 NA, ADM 116/4466 („Draft Memorandum for the Cabinet by the Secretary of State for Foreign Affairs“; Telegramme vom 17. Januar und 17. Mai 1940); Barnes / Barnes, Nazis, S. 251.

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gene Soldaten.37 Damit sollten nicht zuletzt Repressalien gegen eigene Staatsbürger verhindert werden, die sich in der Hand von Gegnern befanden. Indirekt akzeptierte Großbritannien mit dieser Selbstverpflichtung die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 auch für zivile Feindstaatenangehörige. Dies ließ eine britische Politik erwarten, die humanitären Grundsätzen entsprach. Allerdings war damit keine bindende Verpflichtung einhergegangen, die Konvention auf die Kolonien anzuwenden.38 So lehnte der Minister für Indien, Lawrence Dundas (Marquess of Zetland, 1876–1961), eine Anwendung ohne ausführliche Diskussion über die Weitergabe der persönlichen Daten von Internierten ab, um die Aufmerksamkeit der deutschen Regierung nicht auf ihre Spione oder Gegner zu lenken.39 Diese Bedenken teilten auch Minister in London, die dem NS-Regime zusagten, dass die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 grundsätzlich auch den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen in Indien regelten. Dies galt vor allem Hinblick auf das Verbot von Zwangsarbeit und die Pflicht, freiwillige Leistungen von Internierten angemessen zu vergüten. Im Vereinigten Königreich wurden die Kommandanten der Lager angewiesen, bei Disziplinarstrafen die Artikel 45 bis 59 zu beachten. Bei Gerichtsverfahren war mit deutschen enemy aliens auf der Grundlage des Gegenseitigkeitsprinzips nach den Artikeln 60 bis 67 der Genfer Konvention vorzugehen. Diese Regelungen wurden dem Auswärtigen Amt des „Dritten Reiches“ wiederholt übermittelt. Dennoch blieb die Behandlung der zivilen Feindstaatenangehörigen zwischen den beiden Staaten kontrovers.40 Noch umstrittener war die Gefangennahme ziviler Feindstaatenangehöriger auf Handelsschiffen, die neutralen Staaten angehörten. Grundsätzlich sollten außer Soldaten, Offizieren und Reservisten, die als Kriegsgefangene zu behandeln waren, auch potentielle Spione, Verräter und andere Gruppen, die für die Kriegführung Deutschlands wichtig waren, an der Ausreise gehindert und festgesetzt werden: hochqualifizierte Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker. Diese Personen waren auch auf Schiffen neutraler Staaten festzunehmen und 37 NA, KV 4/362 (Schreiben vom 14. April 1936). 38 NA, FO 369/2569 (Vermerke vom 2. April und 2. Mai 1940; Brief vom 22. April 1940); HO 215/ 452 (Letter from the War Organisation of the British Red Cross Society and Order of St. John of Jerusalem to Sir Ernest Holderness, Home Office); NA, CO 968/34/5 (Schreiben vom 24. Februar 1941); LSF, FCRA/15 (Meeting of the German Emergency Committee, Aliens Section, 19. Oktober 1939, S. 2). Vgl. auch Lafitte, Internment, S. 91, 123; Pistol, Internment, S. 16; Brinson / MüllerHärlin / Winckler, Internee, S. 25; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 15. 39 NA, FO 369/2569 (Schreiben vom 22. April 1940). 40 NA, HO 215/462 (Vermerk vom 27. August 1943; Brief vom 25. September 1943); HO 215/452 (Protokoll vom 4. September 1940).

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anschließend zu internieren. Nach Auffassung der britischen Admiralität erlaubte die Prisenordnung auf See die Festnahme von enemy aliens, die im wehrfähigen Alter waren. Schwieriger erschien der Umgang mit Reservisten. Vor allem sollten die Regierungen der neutralen Staaten USA und Italien nicht gegen Großbritannien aufgebracht werden. Besonders Übergriffe der Royal Navy gegen US-Schiffe 1939/40 berührten unmittelbar das Verhältnis zu einem Staat, den das Vereinigte Königreich als Verbündeten zu gewinnen suchte. Zudem sollte Italien nicht provoziert und damit veranlasst werden, an der Seite des „Dritten Reiches“ in den Krieg einzutreten. Die britische Regierung wies die Kriegsflotte Anfang Oktober 1939 deshalb an, zivile Feindstaatenangehörige nur an Kontrollstellen für Schmuggelware und ausschließlich auf neutralen Handelsschiffen zu ergreifen, die in europäische Häfen einliefen. Durchsuchungen im westlichen Atlantik und im östlichen Pazifik – den wichtigsten Seegebieten der amerikanischen Handelsflotte – bedurften einer Sondergenehmigung der britischen Admiralität. Von dieser Einschränkung waren lediglich Personen ausgenommen, die als feindliche Spione verdächtigt wurden. Damit sollten besonders die britischen Stützpunkte in Gibraltar und auf Malta geschützt werden. Die Botschafter in Washington und Rom, Philip Kerr (Lord Lothian, 1882–1940) bzw. Percy Loraine (1880–1961), wurden gebeten, das zurückhaltende Vorgehen gegenüber den jeweiligen Regierungen besonders hervorzuheben, aber den festgelegten Personenkreis gar nicht erst auf Schiffe zu lassen. Die Regierungen der Dominions sollten der britischen Politik ebenso folgen wie die Gouverneure der Kolonien.41 Die Zahl der Feindstaatenangehörigen, welche die Sicherheit Großbritanniens gefährdeten, veranschlagte die Regierung Anfang September 1939 mit rund 9.000, ohne dass allerdings genaue Informationen vorlagen.42 Mit ihrer grundsätzlichen Entscheidung, nur diese Personen festzusetzen, distanzierte sich das Kriegskabinett nicht nur von der Masseninternierung, die im Ersten Weltkrieg 1915 durchgesetzt worden war. Vielmehr wandte sie sich auch gegen viel weitergehende Forderungen des MI5 und die rigorose Politik der französischen Regierung, die auch Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ und Gegner des NS-Regimes in Lager einwies. Zur Festnahme derjenigen Feindstaatenangehöri41 NA, ADM 116/4466 (Entwurf eines Memorandums vom 7. September 1939; geheime Mitteilungen vom 8. September und 9. November 1939; Entwurf einer Anweisung an die britische Flotte vom 7. Oktober 1939; verschlüsselte Telegramme vom 11. Oktober sowie vom 9., 10., 11. und 16. November 1939, vom 17. Januar 1940, 10. und 17. Mai 1940 sowie vom 24. Februar und 9. Juli 1941; „Extracts from Conclusions of a Meeting of the War Cabinet held on Wednesday, 27 September 1939“). 42 NA, ADM 116/4466 („Draft Memorandum for the Cabinet by the Secretary of State for Foreign Affairs“).

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gen, denen eine feindselige Haltung und eine Gefährdung der „öffentlichen Sicherheit“ zugeschrieben wurde, nutzten die Behörden in Großbritannien besonders die Royal Prerogative. Dagegen erfolgte die Verhaftung von Briten, die als Gefahr für die „öffentliche Sicherheit“ galten, auf der Grundlage der Defence Regulation 18B, die am 1. September 1939 in Kraft trat. Das Gesetz erlaubte eine Internierung auch ohne vorangegangene Gerichtsbeschlüsse. Es galt für alle Personen, welche die Sicherheit des Vereinigten Königreiches gefährdeten.43 Damit wurden verdächtige Deutsche wie der ehemalige Auslandspressechef der NSDAP, Ernst Hanfstaengel (1887–1975), der 1937 über die Schweiz nach Großbritannien geflohen war, noch vor der Kriegserklärung des Vereinigten Königreiches an Deutschland (3. Dezember 1939) vom Special Branch verhaftet. Der MI5 untersuchte seine Londoner Wohnung und persönlichen Dokumente, um ihn für die britische Propaganda einzusetzen. Hanfstaengel weigerte sich aber und wurde in Lagern in Clacton-on-Sea, Seaton-on-the-Sea und Lingfield interniert. Die Agenten hielten ihn für ein Sicherheitsrisiko, so dass er nicht freigelassen und im Juni 1940 sogar nach Kanada gebracht wurde.44 Insgesamt blieb das Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit in der Defence Regulation 18B aber unbestimmt, sodass die Verordung von den Institutionen, die an der Umsetzung beteiligt waren, unterschiedlich interpretiert wurden. Die Sicherheitsorgane – besonders der MI5 – forderten eine vorbeugende Internierung aller Faschisten, die sie als potentielle „fünfte Kolonne“ und damit als akute Gefahr betrachteten. Zudem entband eine pauschale Festnahme den Geheimdienst und die Polizei von der Aufgabe, einzelne Fälle zu überprüfen. Demgegenüber trat der Advisory Council, der das Innenministerium beriet, nachdrücklicher für die Rechte der Betroffenen ein. Die Beamten des Home Office bemühten sich um Vermittlung, waren aber auch dem Druck divergierender politischer Interessen und Positionen im Parlament ausgesetzt.45 Obwohl die britische Regierung an ihren Kompetenzen gegenüber der Exekutive festhielt, stärkte der Kriegsbeginn die Macht der Sicherheitsbehörden erheblich. Dazu trug auch der Trading with the Enemy Act bei, den das Parlament am 5. September 1939 erließ. Das Gesetz erfasste das Vermögen von Feindstaa43 Julie V. Gottlieb, Defence Regulation 18B, in: Vance, Encyclopedia, S. 75; Pistol, Internment, S. 135. Zielgruppen waren Personen und Vereinigungen, die „acts prejudicial to the public safety or the Defence of the Realm“ verübt hatten oder einen „hostile origin“ aufwiesen. Vgl. Gillman / Gillman, „Collar the Lot!“, S. 121. 44 Heike B. Görtemaker, Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach, München 2019, S. 424 f. In seinen (apologetischen) Erinnerungen erwähnte Hanfstaengl die Internierung nur kurz. Vgl. Ernst Hanfstaengl, 15 Jahre mit Hitler. Zwischen Weißem und Braunem Haus, München 21980, S. 376–378. 45 Grant, Role, S. 499 f., 507, 521, 526.

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tenangehörigen und fror es ein. Alle Auszahlungen von mehr als 100 Pfund und Verkäufe von Waren, deren Wert diesen Betrag übertraf, waren verboten. Personen, die Geld transferierten, mussten schriftlich versichern, dass sie damit gegnerische Nationen oder ihre Angehörigen nicht begünstigten.46 Allerdings sollten Guthaben, die Feindstaatenangehörigen gehörten, nicht mit Bezug auf das Gesetz vom 5. September 1939 an Treuhänder übergeben werden, da die britische Regierung unsicher war, inwiefern die Krone an den Act gebunden war. Stattdessen wurde die Anwaltschaft angewiesen, sich bei der Beschlagnahme auf die Kompetenzen des Schatzamtes zu berufen. Als „enemies“ galten Personen, die in Deutschland, Österreich oder in der Tschechoslowakei lebten. Ausgenommen von der Requisition von Guthaben waren Bewohner Polens und der Stadt Danzig.47 Überdies hatten die Polizeibehörden bis zum Kriegsbeginn 71.600 Feindstaatenangehörige verzeichnet, und vom MI5 war eine Liste von fast 400 Personen vorbereitet worden, die interniert werden sollten. Allerdings wurden bis Frühjahr 1940 nur wenige offene Anhänger der Nationalsozialisten und Faschisten verhaftet, obwohl sie sich in den ersten Kriegsmonaten weiterhin zu Besprechungen trafen, die den Verdacht von Offizieren des Geheimdienstes für Gegenspionage erregten. Jedoch verfügte der MI5 nur über wenige konkrete Informationen, da die Überwachung der britischen Faschisten und potentiellen Kollaborateure schwach geblieben war.48 Auch darüber hinaus war die Internierungspolitik des britischen Home Office zunächst zurückhaltend. Zwar befürworteten der seit 1938 amtierende Innenminister John Anderson (1882–1958) und hohe Beamte wie Frank Newsam nach dem Kriegsbeginn grundsätzlich Einschränkungen der überlieferten Freiheitsrechte zugunsten der nationalen Sicherheit. So wurden Feindstaatenangehörigen – darunter auch Flüchtlingen aus dem „Dritten Reich“ – Autos, Motorräder, Kameras und Radios entzogen. Überdies mussten sie ihre Wohnorte ver46 „We hereby declare that we are not an enemy within the meaning of the Trading with the Enemy Act 1939, and that the within written transfer is not made by us on behalf of or for the benefit of an enemy“ (NA, WO 204/12708: General Correspondence Branch vom 13. November 1939). Dazu auch die Vermerke vom 5. September 1939 und über „Trading with the Enemy Act 1939“ in: NA, NSC 12/76. 47 NA, NSC 12/76 (Schreiben vom 13. und 15. November 1939). 48 Andrew, Defence of the Realm, S. 222. Angaben nach: Nigel West, MI5. British Security Service Operations 1909–1945, London 1981, S. 111. Der Agentenführer im MI5, Guy Liddell, drängte die Leitung der britischen Spionageabwehr schon im September 1939, Oswald Mosley zu einer klaren Erklärung seiner Absichten im soeben begonnenen Krieg zu zwingen. Dazu die Eintragung vom 25. September 1939 in: West (Hg.), Guy Liddell Diaries, S. 26 f. Vgl. auch Brinson / Dove, Matter, S. 102 f.; Thurlow, ‚Mosley Papers‘, S. 187–190; Holmes, Enemy Aliens?, S. 26.

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lassen, wenn sie in der Nähe militärischer Einrichtungen oder in den zuvor festgelegten Küstenregionen lagen, die als besonders bedroht galten. Eine Masseninternierung – wie 1915 – sollte aber unbedingt vermieden werden, zumal sich im Vereinigten Königreich viele Flüchtlinge befanden, die nur staatsrechtlich enemy aliens waren. Anderson bestand auf der Unterscheidung zwischen Nationalsozialisten und ihren nach Großbritannien geflohenen Gegnern, so in seiner Erklärung im Unterhaus am 4. September 1939. Er berief sich dabei ausdrücklich auf die liberalen Traditionen Großbritanniens. Deshalb wurden zunächst vorrangig Mitglieder der NSDAP festgenommen, die sich überwiegend in der Landesgruppe der Partei in London zusammengefunden hatten.49 Auch andere „suspicious characters“, zu denen der MI5 über Informationen verfügte, sollten verhaftet werden. Allerdings lagen den Polizeibehörden dazu nur die Daten der Volkszählung vom März 1938 vor, so dass viele Flüchtlinge, die Großbritannien nach dem Münchener Abkommen und der Reichspogromnacht erreicht hatten, noch nicht verzeichnet waren. Auch verfügte die Regierung nur über wenige klare Informationen zu den in Großbritannien lebenden Anhängern der italienischen Faschisten, die ab 1923 in Städten wie London und Edinburgh Auslandsgruppen (fasci all’estero) gebildet hatten, und den anderen Italienern, die gleichfalls seit 1927 von einem Büro des Außenministeriums kontrolliert wurden. Die Meinungsführerschaft von Faschisten in vielen Siedlungsgemeinschaften der Italiener war aber deutlich. Unsicher über die Loyalität der zivilen Feindstaatenangehörigen, verpflichtete das britische Innenministerium nach dem Kriegsbeginn schließlich alle Ausländer, sich bei der Polizei registrieren zu lassen.50 Um die Personen zu identifizieren, welche die Sicherheit Großbritannien gefährdeten, und überzeugte Nationalsozialisten von den Flüchtlingen unter den enemy aliens zu trennen, richtete die Regierung nach Kriegsbeginn auch Tribunale ein, an deren Besetzung erfahrene Richter mitwirkten. Den Vorsitz des zentralen Gremiums übernahm der Rechtsanwalt und konservative Politiker Walter Monckton (1891–1965). Die Tribunale sollten im Rahmen eines vereinfachten Verfahrens, das kein ordentlicher Prozess war, über die Internierung entscheiden. Dazu reichten schriftliche Unterlagen (so der humanitären Hilfsorganisationen) aus, und Beweise im rechtlichen Sinn waren nicht erforderlich. Zudem musste beschlossen werden, ob und inwiefern Feindstaatenangehörige, die sich

49 Kushner / Knox, Refugees, S. 172 f.; Gillman / Gillman, „Collar the Lot!“, S. 92; Pearle, Dunera Scandal, S. 2; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 66. 50 NA, LCO 2/1377 (Schreiben vom 2. September 1939). Zu den Italienern: Luca Caprariis, ‚Fascism for Export‘? The Rise and Eclipse of the Fasci Italiani all’Estero, in: Journal of Contemporary History 35 (2000), S. 151–183; Ugolini, Memory, S. 432.

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in Großbritannien aufhielten, Einschränkungen nach der Aliens Order von 1920 unterworfen werden sollten. In Zweifelsfällen war nach den Plänen des Home Office eine Internierung anzuordnen. Vor der Entscheidung zugunsten einer Festnahme waren die betroffenen Personen anzuhören. Sie konnten Zeugen hinzuziehen, traten aber ohne Rechtsbeistand vor die Tribunale. Auch mussten sie Gründe für ihre Freistellung angeben oder ihren Status als Flüchtlinge belegen. Tschechen und Slowaken waren grundsätzlich von der Internierung ausgenommen. Beschlüsse der Tribunale hatten ihre Vorsitzenden dem Aliens Department des Innenministeriums zu übermitteln. Insgesamt sollten damit im Vereinigten Königreich Sicherheitsrisiken beseitigt werden.51 Das Innenministerium stellte vorübergehend Unterlagen zu den jeweils geladenen Feindstaatenangehörigen zur Verfügung. Von Oktober 1939 bis Januar 1940 hörten 112 Sondergerichte, die im September etabliert worden waren, 73.000 Deutsche und Österreicher an, um ihre Loyalität gegenüber Großbritannien zu überprüfen. Die Tribunale, die administrative Gremien – keineswegs aber ordentliche Gerichte – waren, berieten nicht öffentlich. Zudem durften Personen, die vorgeladen wurden, zwar Freunde und Bekannte, aber keine Rechtsanwälte hinzuziehen. Die Gremien teilten die Deutschen nach dem relativen Sicherheitsrisiko in drei Gruppen ein (Kategorie A: „high security risks“, Kategorie B: „doubtful cases“ und Kategorie C: „no security risks“). Bis Anfang Dezember 1939 wurden mit 569 enemy aliens, von denen nach den Entscheidungen der Tribunale ein hohes Sicherheitsrisiko ausging, nur 2,5 Prozent der registrierten Deutschen und Österreicher interniert (Gruppe A) und 6.800 (10,8 Prozent) von ihnen Einschränkungen ihrer Freiheit auferlegt (Gruppe B). 64.000 (86,7 Prozent) blieben unangetastet (Gruppe C). Im Januar 1940 waren 578 enemy aliens (ein Prozent aller Feindstaatenangehörigen) in Lager eingewiesen worden, da von ihnen ein hohes Sicherheitsrisiko auszugehen schien. Weitere 8.356 unterlagen polizeilicher Überwachung, während 64.200 noch in Freiheit waren.52 51 NA, LCO 2/1377 (Briefe vom 4. und 6. September 1939; „Tribunals [Enemy Aliens]: Instructions to Police“; „Tribunals [Enemy Alien]: Instructions to Tribunals“; „Tribunals [Enemy Aliens]: Memorandum for the Guidance of persons appointed by the Secretary of State to review cases of Enemy Aliens“). Vgl. auch Barnes / Barnes, Nazis, S. 252. 52 Angaben nach: John Wheeler-Bennett, John Anderson, Viscount Waverley, London 1962, S. 239; Charmian Brinson, ‚Loyal to the Reich‘: National Socialists and Others in the Rushen Women’s Internment Camp, in: Dove (Hg.), Totally Un-English?, S. 101–119, hier: S. 102; dies. / Dove, Matter, S. 103 f.; dies. / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 14; Connery Chappell, Island of Barbed Wire, London 1984, S. 26; Andrew, Defence of the Realm, S. 222; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 33; Stent, A Bespattered Page?, S. 36 f.; Holmes, Enemy Aliens?, S. 27. Geringfügig andere Angaben in: Kapp / Mynatt, British Policy, S. 90; Gottlieb, Civilian Internees, S. 55. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Stent, A Bespattered Page?, S. 39;

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Allerdings folgten nicht alle Sondergerichte den Anweisungen zur Einteilung in die drei Gruppen. Zudem waren viele Vorsitzende der Tribunale vor allem hinsichtlich der Eingruppierung in die Kategorie „B“ unsicher. Einzelne Richter, die den Gremien vorstanden, äußerten sich sogar offen gegen Ausländer, besonders Flüchtlinge. Die Zuordnung blieb deshalb unterschiedlich. So war die Eingruppierung der Personen, die als „high security risks“ galten, oft zweifelhaft. Deutsche Gegner des Nationalsozialismus wurden falsch der Gruppe „A“ zugeordnet und – wie der Journalist Sebastian Haffner (1907–1999) im Februar 1940 – in Lager gebracht. Noch während seiner Internierung erschien das Buch „Germany: Jekyll & Hyde“, in der der Autor eindringlich vor der NSDiktatur warnte. Churchill soll seinen Ministern die Lektüre des Buches empfohlen haben. Der Historiker Francis L. Carsten (1911–1998), der erstmals 1936 in das Vereinigte Königreich gekommen war, wurde in Warth Mills bei Manchester und später auf der Insel Man für drei Monate interniert, obgleich ihn eine Untersuchungskommission im März 1940 der Gruppe C zugeordnet hatte. Ebenso verdächtigten das Innenministerium und das MI5 den jüdischen Archäologen Paul Jacobsthal (1880–1957), weil er noch nach der Flucht aus dem „Dritten Reich“ Kontakte zu seinen Kollegen in Deutschland unterhielt. Einem vorübergehenden Zwangsaufenthalt im Lager entgingen auch Industrielle und Ingenieure wie Mac Goldsmith (Max Goldschmidt, 1902–1983) nicht. Sogar der Staatsekretär im Kriegsministerium, John Lyttelton (Lord Cobham, 1881–1949), gab schon im Oktober 1939 im Unterhaus zu, dass die Tribunale keineswegs nach einheitlichen Kriterien entschieden. Da die Vorgaben der Regierung unklar blieben, mussten die Tribunale selber Maßstäbe entwickeln, so dass die Beschlüsse z. T. willkürlich waren.53 Zwar durften Ausländer, die in Großbritannien vor dem 3. September 1939 eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatten, ab 27. November 1939

Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 67; Panayi, Immigrants, S. 205; ders., Immigration, S. 108; Steinle, Völkerrecht, S. 83; Kempner, Enemy Alien Problem, S. 446; Seyfert, Niemandsland, S. 22–26; ders., „His Majesty’s Most Loyal Internees“, S. 157–159. Aus zeitgenössischer Sicht: Koessler, Internment, S. 102 53 Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 67; Kapp / Mynatt, British Policy, S. 89 f.; Lafitte, Internment, S. 79; Koessler, Internment, S. 103 f. Vgl. auch Sebastian Haffner, Germany: Jekyll & Hyde. 1939 – Deutschland von innen betrachtet, Berlin 1996. Zu Carsten, Goldsmith und Haffner, der ab 1942 ein einflußreicher Journalist der Wochenzeitung Observer wurde: Volker Berghahn, Francis L. Carsten (1911–1998), in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 504– 510, hier: S. 506; Katharina Ulmschneider / Sally Crawford, Writing and Experiencing Internment: Rethinking Paul Jacobsthal’s Internment Report in the Light of New Discoveries, in: Mytum / Carr (Hg.), Prisoners of War, S. 223–236, bes. S. 226, 234; Alter, Refugees, S. 79–81, 83–87.

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nur noch mit Zustimmung des Innenministers arbeiten.54 Die Forderung nach einer pauschalen Internierung aller enemy aliens konnte sich in Großbritannien aber zunächst nicht durchsetzen. Sie wurde vor allem vom MI5 vertreten, dessen Direktor Kell sich dabei zum Fürsprecher der „nationalen Sicherheit“ aufschwang. Diese sah er durch langwierige (und mit einer hohen Arbeitsbelastung verbundene) Einzelfallprüfungen gefährdet. Jedoch traf Kell im Innenministerium zunächst auf entschiedenen Widerstand, wo mit einer zurückhaltenden Internierungspolitik die USA für das Vereinigte Königreich gewonnen und Repressalien gegen britische Staatsbürger im „Dritten Reich“ verhindert werden sollten. Da die Spionageabwehr nur Beweise vorlegen und Druck ausüben konnte, Innenminister Anderson jedoch die Entscheidungen über die innere Sicherheit traf, veränderte sich die Internierungspolitik bis zum Frühjahr 1940 kaum, auch wenn der MI5 unter dem Eindruck des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 24. August 1939 die Internierung kommunistischer Flüchtlinge wie Jürgen Kuczynski durchsetzen konnte. Dieser wurde aber schon nach vier Monaten Lagerhaft gegen den erbitterten Widerstand des Geheimdienstes im April 1940 entlassen, nachdem sich nicht nur britische Kommunisten, sondern auch der liberale Unterhausabgeordnete Geoffrey Mander (1882–1962) die Labour-Parlamentarier Harold Laski (1893–1950) und George Strauss (1901–1993) für ihn eingesetzt hatten.55 Einzelnen Deutschen erlaubte die Regierung bis April 1940 sogar noch die Ausreise.56

Vorübergehende Entspannung im Frühjahr 1940 und der Übergang zur Masseninternierung im Mai und Juni Obwohl Anfang 1940 auch die Furcht vor deutschen Spionen zurückgegangen war, überprüften neue Tribunale im Frühjahr die Eingruppierung derjenigen Ausländer, die den Kategorien „B“ und „C“ zugeordnet worden waren. Zudem waren 200 Flüchtlinge in den Protected Areas gefangen, die auf der Grundlage einer Anordnung vom 29. März 1940 an der Ost- und Südküste Englands und um wichtige Militärstandorte herum eingerichtet worden waren. Damit hatte die Regierung signalisiert, dass potentiell alle Feindstaatenangehörigen die Sicherheit des Landes bedrohten.57 Darüber hinaus schürten weiterhin Journalis54 Statutory Rules and Orders 1939, No. 1660, in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures). 55 Grant, Role, S. 510, 516; Kushner, Clubland, S. 83 f.; Kushner / Cesarani, Alien Internment, S. 14; Brinson / Dove, Matter, S. 104–106; Wheeler-Bennett, John Anderson, S. 239 f. 56 NA, HO 213/488 (Schreiben vom 6. Dezember 1941). 57 Kushner / Knox, Refugees, S. 173 f.

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ten – vor allem des Sunday Express und des Daily Sketch – und Politiker die Angst vor Sabotage und Subversion. So verdächtigte der konservative Parlamentsabgeordnete Henry Walter Burton (1876–1947) Ende März 1940 offen die Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“, indem er behauptete: „nobody knows how many spies have come over with the refugees.“ Auch wurde bereits im April 1940 über die Internierung einiger verdächtiger Feindstaatenangehöriger diskutiert, die in die Kategorie C eingruppiert worden waren. Diese Pläne rechtfertigte sogar der Jewish Chronicle als „step taken in the interests of national security“. Zudem kündigte der Parlamentsabgeordnete und Parlamentarische Staatssekretär im Innenministerium, Osbert Peake (1897–1966), am 23. April im Unterhaus an, in Großbritannien lebenden Deutschen und Österreichern aufzuerlegen, Gründe gegen ihre Internierung vorzubringen und damit die Beweislast umzukehren. Darüber hinaus übernahmen die britischen Stabschefs am 4. Mai die Einschätzung des Joint Intelligence Committee (JIC), dass die britischen Faschisten, die IRA, die Kommunisten und besonders Ausländer die Sicherheit Großbritanniens gefährdeten.58 Aber erst unter dem Eindruck des unerwartet schnellen Sieges der deutschen Truppen in Frankreich, Belgien und in den Niederlanden erweiterte die neue Regierung unter Premierminister Winston Churchill im Mai und Juni 1940 die Notstandsgesetze erheblich. Schon unmittelbar nach dem Angriff der Wehrmacht in Westeuropa am 10. Mai 1940 hatten der MI5 und die Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte (Chiefs of Staff) auf die Internierung der britischen Faschisten gedrängt. Die Spionageabwehr war dabei aber im Home Office zunächst weiterhin auf Widerstand getroffen. Auch das Außenministerium strebte unmittelbar nach dem Angriff der Wehrmacht in Westeuropa noch keine Masseninternierung an. Jedoch mussten sich ab dem 12. Mai alle männlichen Ausländer (unabhängig von ihrer Staatszugehörigkeit), die im Alter von 16 bis 70 Jahren waren und in den Protected Areas (im Osten und Südosten Englands) lebten, täglich bei der Polizei melden. Aus den Küstenabschnitten, die unmittelbar von einer befürchteten deutschen Invasion bedroht schienen, wurden sie zwangsweise evakuiert. Für die Deutschen galten außerdem Reisebeschränkungen und eine nächtliche Ausgangssperre.59 Aber erst als sich die militärische Lage in Frankreich drastisch verschlechterte, entschloss sich das Kriegskabinett zu einer umfassenden Internierung. Nachdem Churchill im Kriegskabinett am 15. Mai die Verhaftung aller verdächti58 Zitat: Miriam Kochan, Britain’s Internees in the Second World War, London 1983, S. 19. Angabe nach: Kapp / Mynatt, British Policy, S. 94. Vgl. auch Koessler, Internment, S. 104; Pearle, Dunera Scandal, S. 6. 59 Kushner / Knox, Refugees, S. 175; Gottlieb, Civilian Internees, S. 53.

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gen Feindstaatenangehörigen angeordnet hatte, wies das Innenministerium die Polizei am 16. Mai an, 2.500 Männer, die von den Tribunalen der Kategorie „B“ zugeordnet worden waren, unverzüglich festzunehmen. Daraufhin wurden 2.174 enemy aliens verhaftet, davon allein 1.362 in London.60 Zwei Tage später verlangte das JIC, das die Geheimdienstarbeit koordinierte, sogar, alle zivilen Feindstaatenangehörigen im Alter von 16 bis 70 Jahren zu internieren. Politiker wie der bevollmächtige Minister für die Niederlande, Sir Nevile Bland (1886– 1972), der den schnellen Zusammenbruch Hollands im Mai 1940 auf die Unterwanderung durch Deutsche zurückführte, warnten vor einer „fünften Kolonne“ auch in Großbritannien. Bland forderte, alle enemy aliens unverzüglich zu internieren. In einer Sendung des BBC drängte er am 30. Mai: „… today we can’t afford to take risks“. Populäre Spionageromane wie Dennis Wheatleys The Scarlet Imposter und Filme – zum Beispiel „Miss Grant goes to the Door“ – riefen die Briten zu Wachsamkeit gegenüber einer „fünften Kolonne“ auf, die angeblich eine Invasion deutscher Truppen vorbereiteten.61 Ähnlich agitierten auch Presseorgane wie die Daily Mail, welche die Regierung zu einem rigorosen Vorgehen gegen enemy aliens aufforderte. Diese wurden mit allen „Fremden“ gleichgesetzt. In der Zeitung rief der bekannte Journalist George Ward Price (1886–1961), der in den 1930er Jahren mehrfach den „Führer“ der NSDAP und (ab 30. Januar) Reichskanzler Adolf Hitler interviewt und Mosleys BUF gelobt hatte, am 24. Mai zur Internierung aller Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei auf. Diese Forderung vertrat im Sunday Chronicle auch der Schriftsteller und Journalist Beverley Nichols (1898–1983), der vor dem Krieg den Antisemitismus im „Dritten Reich“ gerechtfertigt und ebenfalls Mosley unterstützt hatte. In die Kampagne schaltete sich mit dem Direktor des 1918 gebildeten Department of Propaganda in Enemy Countries, Sir Campbell Stuart (1885–1972), im Mai 1940 zudem ein hoher Vertreter der Regierung ein. In einer Denkschrift behauptete er, dass deutsche Fall60 NA, HO 213/1427 (Liste: „Summary of returns from Police Forces showing the number of male enemy aliens classified under category ‚B‘ who have been interned“). Zu Churchills Anweisung vom 15. Mai: Lucio Sponza, Divided Loyalties. Italians in Britain during the Second World War, Bern 2000, S. 95. Vgl. auch Chappell, Island, S. 27. 61 Zitat: Gillman / Gillman, „Collar the Lot!“, S. 111. Vgl. auch Francis Harry Hinsley, British Intelligence in the First World War. Its Influence on Strategy and Operations, Bd. 1, London 1979, S. 167; Charmian Brinson, The Anglican Bishop, the Methodist Minister and the Women of Rushen: George Bell, J. Benson Harrison and their Work for Women Internees, in: Humanitas 7 (2006), Nr. 2, S. 111–128, hier: S. 112; Pattinson, Twilight War, S. 76; Stent, A Bespattered Page?, S. 53–58; Andrew, Defence of the Realm, S. 223; ders., Secret Service, S. 477; Pearle, Dunera Scandal, S. 4 f.; Kochan, Internees, S. 23; Brinson / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 14 f.; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 57; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 69; Gottlieb, Civilian Internees, S. 53. Angabe nach: Kapp / Mynatt, Policy, S. 103.

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schirmjäger in den Niederlanden in Kooperation mit deutschen Verrätern 35.000 bis 40.000 holländische Soldaten getötet hätten. Nur wenige Journalisten wie G. R. Strauss, der für die Wochenmagazine New Statesman und die Nation schrieb, widersprachen der übertriebenen Darstellung Blands, der daraufhin offenbar eine Klage erwog. Unter dem Eindruck der – weitestgehend unbegründeten – Spionagehysterie wurden ab 27. Mai auch 3.500 weibliche Feindstaatenangehörige der Kategorie „B“ verhaftet und in Lager eingewiesen. Die Internierung dieser Gruppen rechtfertigte die Regierung nicht nur mit dem Hinweis auf die „nationale Sicherheit“, sondern auch mit dem Argument, dass die enemy aliens selber vor der aufgewiegelten Bevölkerung geschützt werden müssten. Dies war aber nur ein Vorwand, der eingeschliffene Überlegenheitsansprüche widerspiegelte.62 Vor allem wurde der Hinweis auf angeblich übergeordnete Sicherheitserfordernisse im Machtkampf in der britischen Regierung als Mittel eingesetzt, um Institutionen und Akteure zu schwächen, die auf einer humanitären Behandlung von Feindstaatenangehörigen beharrten. Die Weigerung des Home Office, der Internierung aller enemy aliens zuzustimmen, traf Anfang 1940 vor allem im MI5 auf Unverständnis. Überfordert mit einer Vielzahl von Anfragen zu möglichen Gefahren, die von einzelnen Personen ausgingen, drängte der Inlandsgeheimdienst die Regierung, Deutsche und Österreicher zu verhaften, um die Spionage- und Sabotagegefahr zu reduzieren. Dies verlangte auch das Kriegsministerium. Pragmatische Überlegungen motivierten die Forderungen nach erhöhter Sicherheit ebenso wie überkommene Vorurteile, Rücksichtnahmen auf den wachsenden Druck der Presse und das Streben nach Macht.63 Den Befürwortern einer nahezu uneingeschränkten Sicherheitspolitik verlieh Ende Mai ein Fall von Hochverrat entscheidenden Einfluss. Ein für die Dechiffrierung zuständiger Angestellter der US-Botschaft in London, Tyler Kent (1911–1988), der eine Intervention seines Landes in den Zweiten Weltkrieg ab62 Kushner, Clubland, S. 87; Brinson / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 14; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 57, 73 (Angabe); Edelman, Jews, S. 224; Sykes, Radical Right, S. 92; Holmes, John Bull’s Island, S. 187 f.; Seyfert, „His Majesty’s Most Loyal Internees“, S. 161; Chappell, Island, S. 31. Angabe nach: Kapp / Mynatt, Policy, S. 103. Aus zeitgenössischer Sicht: Koessler, Internment, S. 105. 63 Dazu die Eintragung Guy Liddels vom 19. Dezember 1940 in: West (Hg.), Guy Liddell Diaries, S. 116. Vgl. auch Richard Thurlow, The Evolution of the Mythical British Fifth Column, 1930–46, in: Twentieth Century British History 10 (1999), S. 477–498; ders., Secret State, S. 237– 257; A. W. Brian Simpson, In the Highest Degree Odious. Detention without Trial in Wartime Britain, Oxford 1992, S. 115–171, 273–296; Bernard Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, 1939–1945, Oxford 1979, S. 89; Francis Harry Hinsley, British Intelligence in the Second World War. Its Influence on Strategy and Operations, Bd. 4, London 1990, S. 48, 280; Pearle, Dunera Scandal, S. 7 f.; Gillman / Gillman, „Collar the Lot!“, S. 101–114.

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lehnte, hatte Anna Wolkoff (1902–1973), die dem rechtsextremen, deutschfreundlichen Right Club angehörte, geheime Telegramme übergeben, in denen sich Churchill und der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt noch während der Neutralität der USA über die Kriegslage und Hilfslieferungen für Großbritannien ausgetauscht hatten. Wolkoff hatte die Telegramme dem Gründer und führenden Politiker des Right Club, Archibald Maule Ramsay (1894– 1955), einem konservativen Parlamentsabgeordneten, gezeigt. Der Spionageabwehrdienst MI5, dessen Agenten den deutschfreundlichen und extrem isolationistischen Verband überwachten, fürchtete einen bevorstehenden Geheimnisverrat, zumal Wolkoff offenbar über eine Verbindung zur Botschaft des faschistischen Italiens in Rom verfügte. Am 19. Mai wurde beschlossen, gegen Kent und Wolkoff vorzugehen. Am darauffolgenden Tag wurden sie festgenommen. Nachdem auch Ramsays Immunität aufgehoben und er ebenfalls verhaftet worden war, informierte Anderson das Kriegskabinett.64 Zwar lehnte der Innenminister noch am 21. Mai die vom MI5 nachdrücklich geforderte Festnahme aller führenden britischen Faschisten weiterhin ab. Kriegsminister Anthony Eden (1897–1977) und die Spionageabwehr, die mit der Einzelfallprüfung überfordert war, verlangten aber eine generelle Internierung, die auch die männlichen Feindstaatenangehörigen umfassen sollte. Den absoluten Vorrang der Sicherheitspolitik, den der MI5 im Frühsommer 1940 gegenüber dem Innenministerium vertrat, notierte der Agentenführer Guy Liddell (1892–1958) am 25. Mai 1940 unmissverständlich in seinem Tagebuch: „… in my view the reluctance of the Home Office to act came from an old-fashioned liberalism which seemed to prevail in all sections. The liberty of the subject, freedom 64 Warren F. Kimball / Bruce Bartlett, Roosevelt and Prewar Commitments to Churchill: The Tyler Kent Affair, in: Diplomatic History 5 (1981), S. 291–311; Dave Renton, Fascism, Anti-Fascism and Britain in the 1940s, London 2000, S. 146–159; Ray Bearse / Anthony Read, Conspirator. The Untold Story of Churchill, Roosevelt and Tyler Kent, London 1991, bes. S. 137–178, 277–297; James Leutze, The Secret of the Churchill-Roosevelt Correspondence: September 1939 – May 1940, in: Journal of Contemporary History 10 (1975), S. 465–491; Paul Addison, The Road to 1945. British Politics and the Second World War, London 1977 (11975), S. 81 f.; Allason, Branch, S. 113 f.; West (Hg.), Guy Liddell Diaries, S. 80. Dokumente in: Warren F. Kimball (Hg.), Churchill and Roosevelt. The Complete Correspondence, Bd. 1: Assistance Emerging. October 1933 – November 1942, Princeton 1984, S. 23–41; John Lukacs, Five Days in London. May 1940, New Haven 1999, S. 74; Andrew, Defence of the Realm, S. 221, 224 f.; West, MI5, 124– 126; Hemming, Maxwell Knight, S. 242 f., 264–290. Dazu die Aufzeichnung von Churchills Privatsekretär: John Colville, Downing Street Tagebücher 1939–1945, Berlin 1988, S. 106. Vgl. auch Brinson / Dove, Matter, S. 106; Thurlow, ‚Mosley Papers‘, S. 190 f. Bericht der Agentin in: Joan Miller, One Girl’s War. Personal Exploits in MI5’s Most Secret Station, Dingle 1986, S. 21–37. Dieses Buch musste nach einem Einspruch der britischen Regierung in Irland veröffentlicht werden. Vgl. West (Hg.), Guy Liddell Diaries, S. 9.

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of speech etc. were all very well in peace-time but were no use in fighting the Nazis. There seemed to be a complete failure to realise the power of the totalitarian state and the energy with which the Germans were fighting in a total war.“ Am 22. Mai musste sich das Innenministerium dem Druck der Spionageabwehr und des Kriegsministeriums beugen, die schon in den 1930er Jahren nachdrücklich eine verschärfte Sicherheitspolitik gegenüber den Kommunisten und Faschisten verlangt hatten. Angesichts des schnellen Vorstoßes der Wehrmacht auf die nordfranzösische Hafenstadt Dünkirchen war Eden über Andersons wiederholte Hinweise auf den Wert individueller Freiheit so verärgert, dass er die weitreichenden sicherheitspolitischen Forderungen der Spionageabwehr nachdrücklich unterstützte. Mit der Verabsolutierung des Sicherheitsdenkens einhergehend, schirmte sich der MI5 in den darauffolgenden Wochen weitgehend gegenüber externer Kontrolle ab. Sein Vorgehen gegen „Feinde“ war deshalb intransparent, und gravierende Fehler bei der hastigen Internierung und Deportation wurden erst ab Spätsommer 1940 korrigiert. Die Beweislast wurde nunmehr erneut dem MI5 aufgebürdet, das auch auf seine beratende Rolle gegenüber Innenministerium zurückfiel.65 Aber auch die Chiefs of Staff hatten auf einschneidende Maßnahmen gedrängt. Der Chef des Imperialen Generalstabes (Imperial General Staff), Feldmarschall Edmund Ironside (1880–1959), lehnte sogar eine Kontrolle ziviler Regierungsinstanzen ab. Alle Sicherheitsbehörden übertrieben im Frühsommer 1940 die Gefahr, die von deutschen Spionen oder britischen Anhängern des Nationalsozialismus bzw. des Faschismus für die Sicherheit des Landes ausging. Zwar gelang es der deutschen Abwehr im Mai 1940 erstmals, einen Agenten in den MI5 einzuschleusen; letztlich war die britische Spionage gegenüber dem „Dritten Reich“ im Zweiten Weltkrieg aber erheblich wirksamer, zumal gelungen war, fast alle deutschen Agenten zu Beginn des Krieges zu verhaften und weitere für den britischen Geheimdienst einzuspannen. Die Obsession der Sicherheitsorgane über die „fünfte Kolonne“ der Deutschen im Sommer 1940 erwies sich weitgehend als Trugbild. Demgegenüber wurde die Spionage durch die Sowjetunion im Kriegsverlauf vernachlässigt.66

65 Zitat: West (Hg.), Guy Liddell Diaries, S. 83. Vgl. auch Grant, Role, S. 504, 513, 524, 527; Kushner / Cesarani, Alien Internment, S. 15; Kushner / Knox, Refugees, S. 175; Hemming, Maxwell Knight, S. 238–241. 66 Dazu die Notiz Ironsides in seinem Tagebuch in: Roderick Macleod / Denis Kelly (Hg.), Time Unguarded. The Ironside Diaries 1937–1940, London 1962, S. 343. Vgl. auch Daniel Todman, Britain’s War, Into Battle, 1937–1941, Harmondsworth 2017, S. 37 f.; Hinsley, Intelligence, Bd. 4, S. 50, 54; Andrew, Defence of the Realm, S. 230, 241–282; Stammers, Civil Liberties, S. 39–41, 58;

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Angesichts der akuten Gefahr einer Invasion leitete das mit Kriegsbeginn gebildete Informationsministerium der Regierung ab 18. Mai 1940 täglich aktuelle Stimmungsberichte zu, die in der Abteilung Home Intelligence verfasst wurden. Vier Tage später richtete das Kabinett darüber hinaus ein Home Morale Emergency Committee ein, das der Regierung u. a. Vorschläge zur Informationspolitik unterbreiten sollte. Damit sollten vor allem Gerüchte eingedämmt werden, die Angst verbreiteten und Panik schürten. So wurden vielerorts Fallschirmjäger und Nonnen gemeldet, die als Verräter galten. Verstärkt durch wilde Verdächtigungen, verbreitete sich Ende Mai zunehmend Unsicherheit. In der Krise, als Großbritannien auf der anderen Seite des Kanals mit der siegreichen Wehrmacht konfrontiert war, drohte ein Zusammenbruch des Vertrauens in die Durchhaltefähigkeit des Landes. Das weit verbreitete Bedrohungsgefühl drückte der Schriftsteller George Orwell (1903-1950) im ersten Satz seines Romans „The Lion and the Unicorn“ aus, als er schrieb: „As I write highly civilised human beings are flying overhead, trying to kill me.“ Die Zukunft schienen nicht mehr Vernunft und Fortschritt zu prägen, sondern Gewalt und ein unwiderstehlicher Totalitarismus.67 Die Invasionsfurcht schürte die Boulevardpresse, vor allem die Zeitungen Lord Rothermeres (Daily Mail und Daily Dispatch), die vor „Quislings“ – und damit vor Verrätern – warnten. Angst vor „Fremden“ verbreiteten aber auch die Times und die fremdenfeindliche Zeitschrift Truth, die der einflussreiche Konservative und frühere MI5-Mitarbeiter Joseph Ball (1885–1961) leitete. Zudem untergruben die Propagandasendungen, die der ehemalige britische Faschist William Joyce („Lord Haw-Haw“, 1906–1946) von Berlin aus für den deutschen Rundfunk verbreitete, im Sommer 1940 offenbar zumindest zeitweise das Sicherheitsgefühl. Vor diesem Hintergrund zeigten Meinungsumfragen der Mass Observation schon Mitte Mai eine breite Unterstützung für die Internierung aller Feindstaatenangehörigen. Diese wurden pauschal der Spionage und Zersetzung bezichtigt. Die Angst vor einer Unterwanderung richtete sich vorrangig gegen zivile Feindstaatenangehörige, besonders Deutsche. Angesichts der Bestürzung über die unerwartete Niederlage Belgiens, Frankreichs und der Niederlande, deren schneller Zusammenbruch nur als Verschwörung verständlich schien, wurden sogar Flüchtlinge aus diesen Ländern als „fünfte Kolonne“ der Deutschen verdächtigt. Ihnen wurde unterstellt, vom NS-Regime als Agenten in das Vereinigte Königreich geschleust worden zu sein. Ein Meinungsbericht des Home

67 Hans-Christoph Schröder, George Orwell. Eine intellektuelle Biographie, München 1988, S. 181–201; Lukacs, Days, S. 99 f., 133. Zitat: Holmes, Enemy Aliens?, S. 26.

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Office an das Informationsministerium stellte am 7. Juni alarmiert fest: „Fifth column hysteria is reaching dangerous proportions.“ 68 Im Juni 1940 forderten 43 Prozent der Briten, alle Ausländer ausnahmslos festzunehmen. Außer Deutschen und Österreichern wurden auch die 35.000 Italiener verdächtigt, die im Vereinigten Königreich lebten. Fremdenfeindliche Ressentiments richteten sich ebenso gegen andere Minderheiten wie Bürger Japans, wo im Juli 1940 Briten verhaftet wurden. Nicht zuletzt registrierten die Informanden der Home Intelligence, die im Sommer 1940 der Schnüffelei für die Regierung bezichtigt wurde, eine Zunahme des Antisemitismus. Argwohn erregten Juden vor allem in den östlichen Stadtvierteln Londons, wo Mosleys BUF in den späten 1930er Jahren agitiert hatte und deutsche Bombenangriffe ab August 1940 Tausende Opfer forderten und erhebliche Schäden hinterließen. In der Krise des Landes traten illiberale Traditionen und eine Intoleranz hervor, die dem oft beschworenen Leitbild einer friedlichen und humanen Englishness widersprachen.69 Vor diesem Hintergrund drängte der Sicherheitsapparat die Regierung, alle „inneren Feinde“, die als „fünfte Kolonne“ Deutschlands und Italiens verdächtigt wurden, zu identifizieren und auszuschalten. Dazu war am 10. Mai 1940 die Home Defence (Security) Executive unter Lord Swinton (1884–1972) etabliert worden, die von Churchill beauftragt wurde, die Arbeit der – als ineffizient kritisierten – Geheimdienste zu koordinieren und Gerüchte über die Aktivitäten von „Verrätern“ in Großbritannien zu überprüfen. Nach der Entlassung Vernon Kells (10. Juni) übernahm die Kommission auch formell die Verantwortung über den MI5, dessen neue Führung Swintons Interventionen zwar ablehnte. Das Home Defence (Security) Executive entschied aber unbeirrt über die Internierung, ohne sich dem Parlament und dem Kabinett (und damit auch dem Innenminister) gegenüber verantworten zu müssen. Damit verfügte das Komitee über nahezu uneingeschränkte Macht über die Internierten, obwohl im Sommer 1940 auch der liberale Parlamentsabgeordnete Isaac Foot (1880–1960) aufgenommen wurde, um die Kritiker zu besänftigen. Allerdings war damit die fremdenfeindliche Politik, die auch das Joint Intelligence Committee unter dem Diplomaten Vic68 Ian McLaine, Ministry of Morale. Home Front Morale and the Ministry of Information in World War II, London 1979, S. 74. Zu den Gerüchten und der damit verbundenen Fremdenfeindlichkeit im Frühjahr und Sommer 1940 die Berichte in: Paul Addison / Jeremy A. Crang (Hg.), Listening to Britain. Home Intelligence Reports on Britain’s Finest Hour May to September 1940, London 2010, bes. S. 2, 8, 12–14, 16 f., 19–21, 24, 27–30, 33–36, 41–48, 50–53, 54 f., 57 f., 61, 65–67, 70 f., 95, 149, 277, 282, 286–289, 196 f., 402 f., 445. Vgl. auch: Andrew, Defence of the Realm, S. 223; Webster, Enemies, S. 65, 67; Ugolini, Experiencing War, S. 92; Cresswell (Hg.), Living with the Wire, S. 39. 69 Kushner, Clubland, S. 79 f.; Pistol, Internment, S. 19; Lukacs, Days, S. 99 f.

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tor Cavendish-Bentinck (1897–1990) vertrat, keineswegs gebrochen.70 Alles in allem stärkte die grassierende Fremdenfeindlichkeit die Vertreter einer umfassenden Sicherheitspolitik im Kriegsministerium, dem MI5 und im militärischen Oberkommando. Allein die Sektion, die der Agentenführer in der Spionageabwehr, Maxwell Knight, leitete, wuchs 1940/41 von einem Beamten auf zwölf Offiziere. Zudem unterlag die Macht des MI5 keiner gesetzlichen Kontrolle.71 Unter dem Eindruck des unerwartet rapiden Zusammenbruchs Frankreichs verlor vielmehr das Innenministerium im Frühsommer die Kontrolle über die Ausländerpolitik und damit auch über den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen. Das Home Office gab der fremdenfeindlichen Stimmung nach, die radikal nationalistische Politiker und Presseorgane schürten. Zugleich verschärfte das Kriegskabinett seine Sicherheitspolitik, gegen die nur noch wenige Liberale humanitäre Bedenken erhoben. Die rigorose Internierung war aber nicht nur Ausdruck der Invasionspanik und Fremdenfeindlichkeit, sondern sollte auch die Entschlossenheit der Regierung Churchills zeigen, den Krieg nach der unerwartet erfolgreichen Evakuierung Dünkirchens weiterzuführen. Der Premierminister hatte sich damit gegen Kritiker wie Außenminister Lord Halifax (1881– 1959) und den britischen Botschafter in Washington, Lord Lothian, aber auch den ehemaligen Premierminister Lloyd George durchgesetzt, die Ende Mai von der Unabwendbarkeit einer Niederlage Großbritanniens überzeugt waren und deshalb zumindest zeitweilig Verhandlungen mit der siegreichen deutschen Führung erwogen hatten. Die Entscheidung, keine Friedensfühler zum „Dritten Reich“ über Italien auszustrecken, stärkte auch die Sicherheitsbehörden, die auf eine umfassende Internierung drängten. Sie konnten durchsetzen, dass ab dem 22. Juni 1940 (als Frankreich den Waffenstillstand mit Deutschland unterzeichnen musste) die Internierung aller politischen Flüchtlinge begann, die von den Tribunalen der Kategorie „C“ zugeordnet und damit als ungefährlich eingestuft worden waren. Im Institutionengefüge der britischen Regierung schien die Position der Sicherheitsbehörden unanfechtbar.72 70 Vgl. John A. Cross, Lord Swinton, Oxford 1982, S. 223–228; Louise Burletson, The State, Internment and Public Criticism in the Second World War, in: Cesarani / Kushner (Hg.), Internment, S. 102–124, hier: S. 112, 117; Stent, A Bespattered Page?, S. 42–52; Gillman / Gillman, „Collar the Lot!“, S. 141, 145; Kushner, Clubland, S. 91 f.; Andrew, Defence of the Realm, S. 228 f.; Wasserstein, Britain, S. 90; Townshend, Peace, S. 125; Andrew, Secret Service, S. 477–479; Allason, Branch, S. 112 f.; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 68; Seyfert, „His Majesty’s Most Loyal Internees“, S. 161–163; West (Hg.), Guy Liddell Diaries, S. 8. 71 Angabe nach: Hemming, Maxwell Knight, S. 303. 72 David Reynolds, Churchill and the British ‚Decision‘ to Fight on in 1940: Right Policy, Wrong Reasons, in: Richard Longthorne (Hg.), Diplomacy and Intelligence During the Second World War. Essays in Honour of F. H. Hinsley, Cambridge 1985, S. 147–167, 297–303; Lukacs, Days, S. 89 f., 112–124, 146–152; Lothar Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutsch-

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Zudem begrüßten sie ausdrücklich Maßnahmen gegen die britischen Faschisten, die als mögliche Helfer der „Achsenmächte“ galten. So stimmte Innenminister Anderson in einer Sitzung des Kriegskabinetts am 22. Mai einer Ergänzung der Defence Regulation 18B zu. Nach der neuen Verordnung waren alle Personen, die mit dem Feind sympathisierenden Organisationen angehörten, unverzüglich zu verhaften. Zwei Tage ließ der Innenminister mit breiter Zustimmung der Bevölkerung und der einflussreichsten Presseorgane nahezu alle führenden britischen Faschisten – und auch viele Mitglieder ihrer Parteien und Verbände – festnehmen. Insgesamt internierte die Polizei damit 1.826 Personen, darunter 747 Mitglieder der British Union of Fascists. Darunter waren 100 Frauen, die überwiegend nach in das Londoner Gefängnis Holloway gebracht wurden. Während im Mai 1940 lediglich 73 Verhaftungen nach der Defence Regulation 18 B vorgenommen worden waren, stieg die Zahl der Arreste im Juni auf 826. Im darauffolgenden Monat wurden weitere 436 Personen festgenommen. Auf dem Höhepunkt der Internierung nach der Direktive befanden sich im August 1940 1.428 Verdächtige in Gewahrsam. Liberale Politiker und Aktivisten stimmten der Internierung von Faschisten und anderen potentiellen Kollaborateuren der Nationalsozialisten zwar grundsätzlich zu; sie äußerten aber Bedenken gegen die restriktiven Bestimmungen, die eine unbefristete Festsetzung ohne Anklage erlaubten und damit gegen die Prinzipien des Habeas Corpus verstießen.73 Auch im Rückblick ist umstritten geblieben, inwiefern die Internierung britischer Fachisten 1940 eine akute Sicherheitsgefahr beseitigte.74 landplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 1989, S. 68–83; Bernd Martin, Friedensinitiativen und Machtpolitik im Zweiten Weltkrieg 1939– 1942, Düsseldorf 1974, S. 234–267; Martin Gilbert, Winston S. Churchill, Bd. 6: Finest Hour, 1939–1941, London 1983, S. 402–421; Andrew Roberts, ‚The Holy Fox‘. A Biography of Lord Halifax, London 1991, S. 215, 220, 224, 228; Paul Addison, Lloyd George and Compromise Peace in the Second World War, in: A. J. P. Taylor (Hg.), Lloyd George. Twelve Essays, London 1971, S. 361–384; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 69; Kapp / Mynatt, Policy, S. 103, 109; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 57. Zeitgenössisch: Koessler, Internment, S. 106. 73 Pistol, Internment, S. 135; Gottlieb, Defence Regulation 18B, S. 75; Lukacs, Days, S. 78 f. Darüber hinaus: Wheeler-Bennett, Anderson, S. 244; Todman, Britain’s War, S. 377; Kushner, Clubland, S. 87–91; Renton, Fascism, S. 159–162; Stent, A Bespattered Page?, S. 58–60; Holmes, Enemy Aliens?, S. 27, 29; Thurlow, ‚Mosley Papers‘, S. 191; Andrew, Defence of the Realm, S. 226 f.; West, MI5, S. 127–129; Chappel, Island, S. 125–159. Angaben nach: Julie V. Gottlieb, Holloway Prison, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 132 f., hier: S. 132. Zu den Reaktionen auf die Festnahme der britischen Faschisten: Addison / Crang (Hg.), Listening to Britain, S. 2 f., 22, 25 f., 35, 41 f. 74 Dazu gegensätzliche Deutungen in: Aaron L. Goldman, Defence Regulation 18B: Emergency Internment of Aliens and Political Dissenters in Great Britain During World War II, in: Journal of British Studies 12 (1972/73), Nr. 2, S. 120–136, hier: S. 120; Grant, Role, S. 501, 514.

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Darüber hinaus beschloss die Regierung am 22. Juni, die Verhaftung ziviler Feindstaatenangehöriger auszuweiten und sogar männliche Flüchtlinge der Kategorie „C“ festzunehmen, die offiziell als Opfer der NS-Herrschaft galten. Zwei Tage wurden sie verhaftet. Demgegenüber schonte das Innenministerium Frauen dieser Gruppe, offenbar weil sie nach den vorherrschen geschlechterspezifischen Vorurteilen als ungefährlich galten. Internierte Ehepaare wurden auf der Insel Man zusammen in separaten Häusern untergebracht.75 Männer mit über siebzig Jahren waren von der Internierung grundsätzlich ausgenommen. Damit blieben humanitäre Gesichtspunkte auch angesichts der akuten Bedrohung der Sicherheit des Landes im Sommer 1940 wirksam. Insgesamt wurden im Zweiten Weltkrieg jedoch nicht weniger als rund 30.000 enemy aliens verhaftet. Davon brachten die Behörden 23.000 Deutsche und Österreicher, darunter 4.000 Frauen, in Lager. Zudem wurden 4.000 italienische Männer und 16 Frauen interniert.76 Schon bis Ende Mai 1940 waren rund 9.000 als gefährlich eingestufte Feindstaatenangehörige (davon 1.500 Frauen) in Lager eingewiesen worden. Nachdem das Innenministerium die leitenden Polizeioffiziere am 31. Mai angewiesen hatte, auch alle deutschen und österreichischen Staatsangehörigen der Kategorie „C“ („no security risks“) zu verhaften, belief sich die Zahl der Internierten am 13. Juni auf 10.869. Anfang Juli waren nahezu 27.000 Deutsche und Österreicher festgesetzt worden. Auch harmlose Studierende fanden sich im Internierungslager wieder, so George Grun, der nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich den Aufbau des Instituts für Internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science vorantreiben sollte. Einige von ihnen wurden sogar nach Kanada deportiert. In den Camps litten alle Internierten unter der Beschäftigungslosigkeit, den vor allem 1940/41 unzureichenden sanitären Bedingungen und der Enge in den Lagern. Auch der Verlust der Freiheit, Einsamkeit und Ängste um die zurückgelassenen Familienmitglieder in Großbritannien oder (bei vielen Flüchtlingen) im „Dritten Reich“ belasteten das Leben in den Camps, deren Insassen ihre Lage oft mit den Bedingungen in anderen Lagern verglichen. Dabei verbreiteten Internierte offenbar auch Gerüchte. Demgegenüber entwickelten einige – so der Rechtsanwalt und Maler Fred (Manfred) Uhlman (1901–1985) – ihre Talente weiter und schrieben Tagebücher, um die oft traumatische Erfahrung der Festnahme und des Lebens in Camps zu verarbeiten und zu dokumentieren.77 75 NA, CO 968/34/5 (Telegramm vom 15. Juli 1941). 76 Angaben nach: Brinson, „In the Exile of Internment“, S. 63; dies., Bishop, S. 111; Gottlieb, Civilian Internees, S. 53. Vgl. auch Todman, Britain’s War, S. 377. 77 Zu dem Gerüchten der Brief vom 1. März 1943 in: NA, HO 215/39. Vgl. auch Brinson / MüllerHärlin / Winckler, Internee, S. 49–74; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 92–109. Angaben nach: Cesarani, An Alien Concept?, S. 45; Krammer, Process, S. 21; Kempner, Enemy Alien

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Unter den Lagerinsassen waren auch rund 4.000 Frauen, die zunächst überwiegend und oft willkürlich in die Kategorie B („doubtful cases“) eingruppiert worden waren. Das Joint Intelligence Committee hatte bereits am 16. Mai die Internierung aller männlichen und weiblichen Feindstaatenangehörigen im Alter von 16 bis siebzig Jahren verlangt. Eine Woche vertrat auch der konservative Abgeordnete Thomas Moore (1886–1971) im Parlament diese Forderung. Aber erst ab 27. Mai verhaftete die Polizei in ganz Großbritannien rund 3.500 Frauen, davon 1.500 im Großraum London. Ende Mai waren 3.200 von ihnen bereits interniert, überwiegend auf der Insel Man.78 Insgesamt hatte sich damit der MI5 vorübergehend gegen das Innenministerium durchgesetzt, auch weil der Geheimdienst zusammen mit den Polizeibehörden ein umfassendes Sicherheitsverständnis definieren und den Kreis der zu erfassenden enemy aliens ausweiten konnte. Humanitäre Gesichtspunkte und die Rechte der Verdächtigten erschienen angesichts der akuten Bedrohung des Vereinigten Königreiches letztlich marginal. Insgesamt wurden in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg aber nur 115 deutsche Agenten identifiziert und verhaftet. Davon verurteilten Gerichte 17 in 14 Verfahren zum Tode. Es handelte sich überwiegend um Ausländer.79 Zur Vorherrschaft der Sicherheitspolitik und der mit ihrer Durchsetzung beauftragten Organe im Frühsommer 1940 trug auch Mussolinis Kriegserklärung an Großbritannien und Frankreich am 10. Juni bei. Die britische Regierung hatte diesen Schritt erwartet und die Abteilung für Ausländer (Department of Aliens) im Innenministerium schon Ende April angewiesen, die Internierung von Italienern vorzubereiten. Der Gendarmerie waren daraufhin Instruktionen zur Verhaftung aller italienischen Männer im Alter von 16 bis sechzig Jahren, die seit weniger als zwanzig Jahren in Großbritannien lebten, übermittelt worden. Außerdem hatten die örtlichen Polizeichefs eine vom MI5 vorbereitete Liste von 1.500 Mitgliedern der faschistischen Partei (Partito Nazionale Fascista) erhalten, die nach dem erwarteten Kriegseintritt Italiens unverzüglich festzunehmen waProblem, S. 456; Chappell, Island S. 27; Seyfert, Niemandsland, S. 30; Brinson / Dove, Matter, S. 108 f. Vgl. auch Louise Burletson, The State, Internment and Public Criticism in the Second World War, in: Cesarani / Kushner (Hg.), Internment, S. 102–124, hier: S. 112, 117; Gillman / Gillman, „Collar the Lot!“, S. 141, 145; Wasserstein, Britain, S. 90; Townshend, Peace, S. 125; Andrew, Secret Service, S. 477–479; Allason, Branch, S. 112 f.; Seyfert, „His Majesty’s Most Loyal Internees“, S. 161–163; Panayi, Immigration, S. 108; Kushner / Knox, Refugees, S. 164 f. 78 Brinson, „In the Exile of Internment“, S. 65; dies. / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 13; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 84. 79 Pattinson, Twilight War, S. 77 (Angaben); Kushner, Clubland, S. 93. Der Beschluss zur forcierten Internierung Ende Mai 1940 kann nicht einfach als Verschwörung der Sicherheitsdienste gegen das Innenministerium interpretiert werden. Vgl. demgegenüber Gillman / Gillman, „Collar the Lot!“, S. 116, 121, 126.

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ren. Insgesamt umfasste die Gruppe der zu Verhafteten rund 4.300 von insgesamt 20.000 Italienern. Etwa 600 eingebürgerte Italiener wurden auf der Grundlage der Defence Regulation 18B interniert. Im Gegensatz zu den anderen Feindstaatenangehörigen waren alle Betroffenen nicht individuell überprüft und nach dem Grad der potentiellen Gefahr klassifiziert worden, die von Ihnen ausging, obgleich der MI5 die faschistischen Parteigruppen (Fasci) seit 1936 überwacht und auch das Innenministerium die Italiener als Sicherheitsrisiko eingestuft hatte.80 Um Mussolini nicht zum Kriegseintritt zu ermuntern, hatte das britische Innenministerium Italienern in Großbritannien in den ersten Kriegsmonaten ihre Freiheit gelassen. Der britische Kolonialminister Malcolm MacDonald (1901– 1981) wies die Gouverneure der abhängigen Gebiete des Empire an, diese Regelung zu übernehmen, allerdings unter der Bedingung, dass damit nicht die Sicherheit gefährdet würde. Erst unmittelbar nach Mussolinis Kriegserklärung vom 10. Juni 1940 wurden die zuvor verzeichneten Mitglieder faschistischer Organisationen interniert, davon in London achtzig schon innerhalb von zwei Stunden. Nur einzelne Clubs der italienischen Faschisten bestanden bis Sommer 1940 weiter. Darüber hinaus ordnete Churchill in einer Sitzung des Kriegskabinetts am 10. Juni mit den Worten „Collar the Lot“ die Internierung aller italienischen Männer an, die ab 1919 eingewandert waren. Innenminister Anderson stimmte diesem Vorgehen ausdrücklich zu.81 Gefördert durch Presseberichte, die Vorurteile über Italiener verbreiteten, beschädigten empörte Briten nach Mussolinis Kriegserklärung schon am 10. und 11. Juni vor allem im Londoner Stadtteil Soho, im Nordosten Englands, in Südwales und Schottland – hier besonders in Edinburgh, Glasgow und Clydebank – zahlreiche Geschäfte von Italienern. Die Ausschreitungen waren zwar auch auf die weit verbreitete Unsicherheit angesichts der unmittelbaren Bedrohung durch die deutsche Wehrmacht zurückzuführen; jedoch verweist die Beteiligung vieler Nachbarn und Bekannten der betroffenen Italiener an den Zerstörungen auf den Einfluss fremdenfeindlicher Vorurteile gegen eine Minder80 NA, CO 968/64/13 („Summary of Home Office policy in relation to internment of Italians“ vom 2. September 1943); NA, ADM 116/4466 (Telegramm vom 10. Mai 1940). Hierzu und zum folgenden auch: Lucio Sponza, The Internment of Italians 1940–1945, in: Dove (Hg.), Totally Un-English?, S. 153–163, bes. S. 153–156; ders., The Internment of Italians in Britain, in: Iacovetta / Perin / Principe (Hg.), Enemies Within, S. 256–279, hier: S. 256–259; ders. Loyalties, S. 78, 84 f., 88, 95, 97 f.; Ugoloni, Experiencing War, S. 93–95; dies., Stories, S. 86 f.; dies., Memory, S. 422, 432; Panayi, Immigrants, S. 204; ders., Immigration, S. 111, 119, 124; Webster, Enemies, S. 68; Kapp / Mynatt, Policy, S. 101. Angabe nach: Colpi, Italian Factor, S. 104, 109. 81 NA, ADM 116/4466 („Circular Telegram from the Secretary of State for the Colonies to all Colonies and North Borneo and Sarawak“).

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heit, die als illoyal und betrügerisch galt. Offenbar spielten auch antikatholische Vorurteile in Schottland eine Rolle. Zudem konzentrierte sich die Gewalt auf Wohnviertel, in denen wirtschaftliche Not und gesellschaftliche Konflikte weit verbreitet waren. Hier wurden italienische Geschäftsleute oft auch boykottiert. Die Polizeibehörden schritten gegen die Gewalt vielerorts nicht energisch ein, verhafteten aber bis zum 22. Juni rund 3.100 Italiener, die noch nicht mehr als 19 Jahre in Großbritannien gelebt hatten. Sie wurden überwiegend in Lagern in Douglas auf der Insel Man gebracht. Das Home Office begründete ihre Internierung mit der Behauptung, dass sie ein Sicherheitsrisiko darstellten, nicht nur wegen vermeintlicher Illoyalität, sondern auch aufgrund der ihnen oft pauschal zugeschriebenen Kriminalität. Ansonsten richtete sich die Gewalt zwar überwiegend nicht gegen die in Freiheit verbliebenen Italiener, sondern ihre Geschäfte. Die Ausschreitungen hinterließen bei den betroffenen Opfern aber oft Traumata.82 Die Feindstaatenangehörigen reagierten überwiegend mit Loyalitätsbekundungen oder Passivität auf die Kriegserklärung Mussolinis; nur wenige ergriffen offen für das faschistische Regime Partei. Der MI5 unter dem neuen Direktor Allen Harker (Kells Nachfolger, 1886–1968) weigerte sich aber beharrlich, diesen italienischen Faschisten die Ausreise zu erlauben, die das Außenministerium vor allem für das diplomatische Personal vorbereitete. Wegen des anhalten Widerstands der Spionageabwehr wurden in der Liste der 730 Italiener, die zunächst Großbritannien verlassen sollten, 39 entfernt. Am 20. Juni verließen schließlich 629 Italiener mit einem Schiff den Hafen von Glasgow. Im Gegenzug lief an demselben Tag ein italienischer Kreuzfahrtdampfer mit britischen Diplomaten und Staatsangehörigen des Vereinigten Königreiches aus Pescara aus. Dagegen scheiterte eine Initiative des Kriegskabinetts vom 29. Mai, dem italienischen Außenminister Galeazzo Ciano (1903–1944) den Austausch aller rund 2.000 Briten auf der Apenninhalbinsel und der 18.000 Italiener in Großbritannien vorzuschlagen, wegen akuter Sicherheitsbedenken und der ungleichen Anzahl. Reziprozität konnte unter diesen Umständen die britische Politik gegenüber Italienern im Vereinigten Königreich kaum beeinflussen. Auch der Vorschlag des Außenministers Halifax, die Mehrheit der britischen Italiener einseitig auszuweisen, scheiterte nach der Kriegserklärung Mussolinis angesichts der Gefahr einer deutschen Invasion.83 82 NA, CO 968/64/13 („Summary of Home Office policy in relation to internment of Italians“ vom 2. September 1943); Kapp / Mynatt, Policy, S. 104; Colpi, Italian Factor, S. 105, 108; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 70–73. 83 Lucio Sponza, The British Government and the Internment of Italians, in: Cesarani / Kushner (Hg.), Internment, S. 125–144, hier: S. 125 f., 128 f.; ders., Loyalties, S. 96, 99 f.; ders., The Internment of Italians in Britain, S. 260; Colpi, Italian Factor, S. 109 f.

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In der Hektik des Sommers 1940 wurde mit rund 27.000 Flüchtlingen rund die Hälfte der politisch und rassisch Verfolgten interniert, die in Großbritannien aufgenommen worden waren.84 Aber auch andere Minderheiten, die allenfalls formal als enemy aliens bezeichnet werden konnten, brachte die Polizei in Lager. So ließ das Innenministerium sogar Galizier verhaften, die schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Großbritannien gekommen, hier aber nicht eingebürgert worden waren. Ungefährlich waren auch die Finnen, deren Land zwar ab Juni 1941 auf der Seite Deutschlands kämpfte. Ihre Zahl war aber gering, und sie wurden in einem gesonderten Lager auf der Insel Man interniert. Hier waren die Beziehungen zwischen unterschiedlichen politischen Gruppen zumindest Anfang 1944 gespannt.85 Alles in allem wurden im Vereinigten Königreich – im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg – nur 2,5 Prozent der Feindstaatenangehörigen interniert. So wiesen die Behörden trotz des Rassismus, der sich gegen Asiaten richtete, lediglich 114 verhaftete Japaner in Lager ein, überwiegend Diplomaten, Journalisten, Seeleute und Personen, die der MI5 des Verrats verdächtigte. Damit wurden weniger als zehn Prozent der in Großbritannien lebenden Angehörigen des ostasiatischen Inselreiches ihrer Freiheit beraubt. Insgesamt war die Internierung im Vereinigten Königreich und im Empire im Zweiten Weltkrieg zurückhaltender als im ersten globalen Konflikt. Dennoch warf die NS-Führung der britischen Regierung vor, „Reichsdeutsche“ im Vereinigten Königreich inhuman zu behandeln. Diese pauschale Kritik berücksichtigte aber nicht, dass die britische Regierung den Internierten keineswegs alle Freiheiten nahm. So durften sie persönliche Gegenstände und Güter wie Decken auf die Insel Man mitnehmen oder dorthin bringen lassen. Auch ist in Rechnung zu stellen, dass viele Zivilinternierte – im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg – schon ab Ende 1940 entlassen wurden.86

Das Verfahren: Verhaftung, Internierung und erzwungener Lageraufenthalt Obwohl sie sich als Staatsbürger des Vereinigten Königreiches klar von den Feindstaatenangehörigen unterschieden, wurden die britischen Faschisten als 84 Kushner / Knox, Refugees, S. 173. 85 Dazu der Bericht „Camp ‚F‘, Ile de Man. Visité par M. John Wirth le 12 février 1944“, in: NA, HO 215/92. 86 NA, CUST 106/855 (Schreiben 9. Juni 1943). Angaben nach: Ugolini, Expierencing War, S. 103. Zu den internierten Japanern auch: Brinson / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 30. Vgl. Renton, Fascism, S. 162–171; Krammer, Process, S. 17, 21; Steyn, Guantanamo Bay, S. 4; Townshend, Peace, S. 119; Stent, A Bespattered Page?, S. 69 f., 73; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 32, 34. Die Interpretation folgt: Panayi, A Marginalized Subject?, S. 17.

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vermeintliche „fünfte Kolonne“ vielerorts eng mit den enemy aliens (darunter auch Flüchtlingen) assoziiert oder sogar gleichgesetzt. Polizisten verhafteten beide Gruppen deshalb vielerorts nach Denunziationen von Nachbarn. Die Betroffenen wurden zunächst provisorisch in Transitlagern wie demjenigen in Ascot (das Winterquartier eines Zirkus), Huyton (bei Liverpool) und in Warth Mills (Bury in Lancashire) untergebracht, wo die Lebensbedingungen besonders bedrückend waren. Auch Zeltlager und Ställe für Rennpferde (so in Kempton Park und Lingfield, Surrey) dienten der provisorischen Unterbringung von verhafteten Feindstaatenangehörigen.87 Anschließend erfolgte der Transport in feste Camps, deren Nutzung allerdings variierte. Ebenso wie in den Jahren von 1914 bis 1918 befanden sich viele dieser Lager auf der Insel Man, so in Douglas, Mooragh (Ramsay), Onchan und Peel. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg nutzte die Regierung für die Internierung aber überwiegend bestehende Gebäude, besonders Hotels und Pensionen. In Onchan wurden bis Juli 1941 deutsche und italienische Zivilisten untergebracht. Vorübergehend geschlossen, hielt die Regierung hier von September 1941 bis November 1944 ausschließlich Italiener gefangen. Schon am 27. Mai 1940 hatte die Internierung in Mooragh begonnen, wo bis zum 2. August 1945 Deutsche, Italiener und Finnen hinter Stacheldraht leben mussten. Dagegen wurde das Camp in Granville, wo bis zu 750 Internierte litten, schon 1941 wieder geschlossen. In Peel, wo viele Mitglieder der BUF und Anhänger der italienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten festgesetzt wurden, betrachteten die Einheimischen die Internierten besonders misstrauisch.88 Zu einem der größten Lager auf der Insel Man, wo viele Pensionen nach dem Abbruch des Fremdenverkehrs zu Kriegsbeginn frei geworden waren, avancierte das Camp Hutchinson, das am 13. Juli 1940 eröffnet wurde und schon bis Monatsende 1.000 (überwiegend jüdische) Internierte aufnahm. Darunter waren auch Künstler wie Kurt Schwitters (1887–1948) und Ernst Müller-Blensdorf (1896–1976).89 Die britische Regierung sorgte zwar für eine menschenwürdige Unterkunft in den mit Stacheldraht abgeschlossenen Bereichen. Mit Unterstützung verschiedener privater Hilfsorganisationen wurden auch Freizeit- und Bildungsveranstaltungen, Beschäftigungsprogramme und andere Aktivitäten angeboten. Ebenso war die Lebensmittelversorgung weitgehend gesichert, obwohl 87 Brinson / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 15, 18; Kushner / Knox, Refugees, S. 174; Pistol, Internment, S. 35–46, 135; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 19, 61–70; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 79 f., 88–92. Aus zeitgenössischer Perspektive: Lafitte, Internment, S. 101–120. 88 Cresswell (Hg.), Living with the Wire, S. 44–50; Gottlieb, Isle of Man, S. 152; Mytum, Tale, S. 33 f., 45. 89 Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 53.

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rationierte Waren nicht vom britischen Festland zu den Internierungslagern transportiert werden durften. Vor allem aber führte das Zusammenleben von Hunderten Internierten auf engem Raum unweigerlich zu Spannungen und Konflikten. Inspektoren registrierten im Verlauf des Krieges zunehmende Reizbarkeit, Antriebslosigkeit und sogar Apathie, die auf das monotone Leben in den Lagern zurückgeführt wurden. Als Lösung galten verstärkte Anreize zur Erwerbsarbeit außerhalb der Lager und zur Selbstorganisation in ihnen. Dazu sollten u. a. die verschiedenen Arbeitsgruppen belebt und die Bücherbestände, die im November 1942 bereits 1.500 Bände umfassten, weiter aufgestockt werden.90 Auch im Internierungskomplex in Mooragh, wo einzelne Camps für Deutsche, Italiener und Finnen errichtet wurden, verbesserten sich die Bedingungen im Kriegsverlauf. Im Sommer 1944 erregten aber verschärfte Sicherheitsmaßnahmen den Ärger deutscher Internierter, denn der Kommandeur des Lagers hatte aus Sicherheitsgründen den Zugang zum Freizeitbereich eingeschränkt, um das Camp damit gegenüber der Außenwelt stärker zu isolieren. Das Innenministerium fürchtete daraufhin einen Aufstand der Internierten. Diese beklagten sich gegenüber dem IKRK und der diplomatischen Vertretung der Schweiz im September 1944 über die Verhältnisse in dem Lager, so über das Unverständnis der verschiedenen Kommandanten. Mit Hinweis auf die Genfer Konvention von 1929 und einem Appell an „Humanität“ forderten sie ihre zügige Repatriierung. Der Lagerkommandant verteidigte seine Sicherheitsmaßnahmen, warf den Insassen mangelnde Disziplin vor und führte deren Unzufriedenheit auf enttäuschte Hoffnungen auf eine baldige Rückführung in die Heimat zurück. 91 Im Lager Peveril, wo sich vor allem Faschisten befanden, fiel Mitte September 1941 ein Aufstand von Insassen sogar mit einem Besuch Osbert Peakes zusammen. Nachdem dieser Vertreter der gefangenen Faschisten empfangen hatte, um ihre Beschwerden zu erfahren, kritisierten ihn Presseorgane wie der News Chronicle heftig.92 In Peveril waren aber auch Norweger und Niederländer interniert, die aus ihren Heimatländern geflohen waren und in Großbritannien als Spione des NS-Regimes verdächtigt wurden.93 90 NA, HO 215/75 (Bericht „Camp L, Isle of Man“; „Report by the World’s Alliance of the Young Men’s Associations, War Prisoners’ Aid“: „Visit to Camp ‚L‘“); HO 215/227 (Brief vom18. Juli 1941) 91 NA, HO 215/50 (Vermerk vom 23. August 1944; Schreiben vom 14. August und 30. September 1944). 92 „Memorandum as to the treatment of civilian internees in internment camps in Great Britain“, in: NA, CO 968/34/5; Kushner, Clubland, S. 93; Cresswell (Hg.), Living with the Wire, S. 50. 93 Die rechtliche Grundlage dafür war Artikel 12 (5A) der 1920 erlassenen Aliens Order. Vgl. Cresswell (Hg.), Living with the Wire, S. 50.

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Unter den internierten Männern waren darüber hinaus viele Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“, so jüdische Wissenschaftler wie Georg Schwarzenberger, der Soziologe Norbert Elias (1897–1990) und der Historiker Hans Rothfels (1891–1976). Auch Uhlman gehörte zu den internierten Flüchtlingen. Er hatte 1936 die Tochter des radikal-nationalistischen Politikers Henry Page Croft geheiratet, der 1940 geadelt und zum Staatssekretär (Under-Secretarary of State) im Kriegsministerium ernannt wurde. Der einflussreiche Politiker setzte sich nur halbherzig für seinen Schwiegersohn ein, da er Deutsche verachtete und nachdrücklich die Internierung von enemy aliens forderte. Zu den Festgenommenen gehörten auch Hunderte wenig prominente deutsche Juden wie Martin Kaczynski, der 1938/39 im Konzentrationslager Sachsenhausen gelitten hatte, bevor er 15. Juli 1939 mit seiner Ehefrau und zwei Söhnen Großbritannien erreichte. Ein offener Protest jüdischer Organisationen gegen die Internierung der Geflohenen blieb im Sommer 1940 aus; allerdings setzte sich der Board of Deputies ab Herbst für eine zügige Freilassung ein, besonders der betroffenen Juden. Die Politik gegenüber den Flüchtlingen war auf Sicherheitsängste zurückzuführen, hinter der sich fremdenfeindliche Ressentiments verbargen, wie Crofts Stellungnahmen zeigen. Dagegen wandte er sich gegen die Festnahme der britischen Faschisten, die er als britische Patrioten betrachtete.94 Der Umgang mit dem erst zwanzigjährigen Flüchtling Roland Hill (1920– 2014), der nach dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien ein bekannter Journalist werden sollte, zeigt exemplarisch die Härten der Internierung. Als Jude war der am 2. Dezember 1920 als Roland Johannes Hess geborene Hill 1934 mit seinen Eltern aus Hamburg nach Prag geflohen, bevor die Familie nach Wien und nach dem „Anschluss“ Österreichs nach Mailand flüchtete. Am 1. Juli kam Roland Hill, der inzwischen zum katholischen Glauben konvertiert war, schließlich mit einem Studentenvisum nach Großbritannien, wo er als junger Journalist für verschiedene Presseorgane schrieb und auch als Assistent des Londoner Korrespondenten der „Neuen Zürcher Zeitung“ arbeitete. Zunächst von einem Tribunal als ungefährlicher „friendly alien“ (Kategorie „A“) eingestuft, wurde Hill im Mai 1940 an einem Sonntagmorgen in Cambridge verhaftet und am nächsten Tag über Liverpool auf die Insel Man gebracht. Im Sommer 1940 deportierte ihn die britische Regierung nach Kanada, wo er erneut interniert wur-

94 Endelman, Jews, S. 224 f. Kaczynskis Sohn William, der als Dreijähriger nach England kam, stellte später eine umfangreiche Sammlung von Briefen, Dokumenten und anderen Reiseunterlagen zusammen. Vgl. Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 16 f.; Kushner / Knox, Refugees, S. 148 Zu den anderen hier erwähnten Internierten: Steinle, Völkerrecht, S. 84 f. Zu Uhlman und Croft: Bd. 1, S. 234 und Brinson / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 9, 41–44, 56, 117–120; Kushner / Knox, Refugees, S. 173

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de. Erst Hills freiwillige Meldung für den Dienst im Pioneer Corps beendete Ende 1940 seine Odyssee und die Internierung.95 Die Verbindung zu engen Angehörigen war in der Internierung kaum aufrechtzuerhalten. Auch Ehepaare konnten allenfalls schriftlich miteinander kommunizieren, wie der Briefwechsel zwischen Charlotte Bondy (1907–1986) und ihrem Mann Peter Paul (1900–1980) zeigt, der am 26. Juni im Londoner Stadtteil Chelsea festgenommen, in das Auffanglager Kempton Park gebracht und am darauffolgenden Tag im Camp Huyton interniert wurde. Beide waren 1935 vor der Verfolgung durch die Gestapo aus Deutschland über die Schweiz nach Großbritannien geflohen, wo sie 1936 geheiratet hatten. Charlotte Bondy empfing Briefe ihres Ehemannes im zentralen Gebäude der Flüchtlingshilfsorganisationen im Londoner Bloomsbury House, wo sie auch eine karge finanzielle Unterstützung erhielt. Dennoch zehrte die ungerechtfertigte Internierung an den beiden Bondys, die sich im Vereinigen Königreich als unerwünschte Gäste wahrnahmen. Nur mit Hilfe seiner Frau, die beharrlich entlastende Dokumente für ihren Ehemann zusammenstellte, konnte Paul Bondy im Dezember 1940 schließlich seine Freiheit wiedererlangen.96 Die Lebensbedingungen in Transitlagern wie den Camps in Warth Mills (bei Manchester) und Huyton, wo sich nach der Ankunft der ersten Internierten am 17. Mai schon Anfang Juni 1940 rund 2.500 Männer (darunter viele Kranke) aufhielten, widersprachen grundlegenden humanitären Anforderungen. Die Lagerordnungen unterwarfen die zivilen Insassen einem rigiden Regiment. Sie forderten von den Kommandanten und Wachmannschaften zwar korrektes Verhalten gegenüber den Internierten, deren Tagesablauf allerdings militärisch strukturiert war. Ungewöhnliche Vorfälle waren unverzüglich zu melden, und die Postzensur schränkte Kontakte zur Außenwelt ebenso ein wie die begrenzte Zeit für Besuche. Auch bei besonderen familiären Anlässen (wie dem Tod von Angehörigen) durften die Insassen Lager nur ausnahmsweise verlassen. Fluchtversuche wurden streng bestraft.97 Ebenso löste das enge Zusammenleben von Faschisten und Flüchtlingen in vielen Lagern scharfe Konflikte aus. Hilfslieferungen des Roten Kreuzes, der Quäker und jüdischer Organisationen, die beispielsweise Bücher schickten, lin95 Roland Hill, A Time out of Joint. A Journey from Nazi Germany to Post-War Britain, London 2008 (12007), bes. S. 118–123. 96 Jo Bondy / Jennifer Taylor (Hg.), Escaping the Crooked Cross. Internment Correspondence between Paul and Charlotte Bondy, Peterborough 2014, S. XIII, XV f., 1, 23, 28 f., 35, 75, 140. Übersicht zur Gestapo in: Vasilis Vourkoutiotis, Gestapo, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 110 f. 97 Dazu die „Orders for Internment Camp Staff“, in: NA, CO 323/1666/1. Angabe nach: Kochan, Internees, S. 68.

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derten die Not der Internierten zunächst nur geringfügig. Wirrwarr und Willkür bei der Festnahme der italienischen Feindstaatenangehörigen und ihrer Unterbringung in den Lagern ist aber weniger auf eine gezielte Repression als auf die Panik angesichts der Invasionsgefahr zurückzuführen, die den Sicherheitsdiensten gegenüber den Außen- und Innenministerium vorübergehend eine zunächst kaum angefochtene Dominanz sicherte. In den Lagern nahmen Faschisten vielerorts Führungspositionen ein. Zahlreiche nationalistische (aber nicht notwendigerweise faschistische) Internierte waren hinsichtlich ihrer Loyalitäten gegenüber Italien und Großbritannien letztlich gespalten. Entgegen Churchills allgemeiner Anweisung wurden aber nur 4.500 von 18.000 Italienern (rund ein Viertel) interniert, die im Frühjahr 1940 in Großbritannien lebten. Darunter waren 19 Frauen und 600 Italiener, die im Vereinigten Königreich geboren oder hier eingebürgert worden waren. Viele Söhne italienischer Einwanderer wurden wegen ihres Engagements in der faschistischen Jugendorganisation Balilla oder ihrer Teilnahme an Reisen nach Italien festgenommen, die Mussolinis Regime angeordnet hatte.98 Zahlreiche internierte Flüchtlinge reagierten offenbar zwar mit Enttäuschung, aber nicht mit Verbitterung auf ihre Festnahme und das erzwungene Leben in den Lagern. Vielmehr stellten sie der erfahrenen Unterdrückung das idealisierte Bild eines viktorianischen England gegenüber, das sie mit Freiheit assoziierten. Offenbar erleichterten Traditionsrekurse in den Lagern die Entstehung neuer Identitäten, die sich auch um die imperiale Macht Großbritanniens und seine Demokratie drehten. Gelegentlich bezogen sich Artikel in den Lagerzeitungen und Selbstzeugnissen der Internierten überdies auf eine idealisierte ancient constitution. Mit ihr hatte im 17. Jahrhundert die Opposition gegen die Politik Karls I. dem monarchischen Absolutismus, der zentralistischen Herrschaft und der Berufung auf die Staatsräson eine idealisierte mittelalterliche, naturrechtliche Verfassung gegenübergestellt. Demgegenüber hatte der StuartKönig versucht, das Parlament zu entmachten sowie in England und Schottland eine einheitliche Kirchenverfassung einzuführen.99 Für deutsche und italienische Frauen, die nach ihrer Festnahme oft angepöbelt und bespuckt wurden, richtete das Innenministerium separate Camps ein, so auf der Insel Man in Mooragh sowie in den Seebädern Port Erin und Port St. Mary (Camp Rushen). Diese Orte wurden zu einer „geschützten Zone“ (Protected 98 Rachel Pistol, Enemy Alien and Refugee: Conflicting Identities in Great Britain during the Second World War, in: University of Sussex Journal of Contemporary History 16 (2015), S. 37– 52, hier: S. 38 f., 45; Sponza, Loyalties, S. 103, 123–151, 153–163; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 57–60. Angaben nach: Ugolini, Experiencing War, S. 103. 99 Gusejnova, Gegen Deutsches K. Z. Paradies, bes. S. 4, 14 f.

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Area) erklärt, die Ausländer nicht ohne Sondererlaubnis betreten durften. Zur Unterbringung der Internierten nutzte die Inselverwaltung im Allgemeinen Hotels und Pensionen, die aber nicht von den Eigentümern geräumt wurden. Die Räume waren deshalb zur Unterbringung der weiblichen Internierten allenfalls bedingt geeignet, und die Besitzer kontrollierten das Leben in den Wohnungen. Auch wegen der räumlichen Enge kam es zu Reibungen und z. T. heftigen Konflikten mit den gefangenen Frauen. Außer der mangelnden Privatsphäre belastete die Insassinnen auch die Trennung von ihren Männern und Familien.100 Nicht zuletzt ließ die autoritäre Leitung des Lagers Rushen durch die Kommandantin, Joanna Cruickshank (1875–1958), den weiblichen Internierten weniger Freiheiten als sie die männlichen Insassen der anderen Camps hatten. Vor allem im Lager Rushen bildeten sich auch erhebliche Spannungen und akute Konflikte zwischen nationalsozialistischen Frauen und ihren Gegnerinnen heraus, die in den Quartieren oft eng zusammenlebten. Verhandlungen über eine Repatriierung zwischen Deutschland und Großbritannien vertieften 1942 die Gegensätze, als sich viele Frauen zu „Reichsdeutschen“ erklärten. Diese Auseinandersetzungen hielten bis 1944 an.101 Obwohl einzelne Parlamentsabgeordnete – so Sir Annesley Somerville (1858–1942) am 6. Juni 1940 – den „Luxus“ in den Frauenlagern kritisierten, waren die Lebensbedingungen der weiblichen Internierten bedrückend. Die Probleme, die besonders im Camp Rushen entstanden, ergaben sich aber auch aus der willkürlichen Festnahme ohne Recht auf Einspruch, der unzureichenden Ausstattung mit lebensnotwendigen Gütern und der Trennung von den Familien. In ihren Berichten wiesen die Behörden überdies auf die drückende Langeweile und vermeintlich weibliche Eigenschaften wie eine Neigung zu Streit hin. Geschlechterspezifische Vorurteile spiegelten sich auch in der relativ geringen Zahl weiblicher Internierter. Offenbar hielt das Innenministerium, denen die Frauenlager – im Gegensatz zu den Camps für Männer – durchweg unterstanden, weibliche Feindstaatengehörige für weniger gefährlich als männliche.102 100 NA, HO 215/74 („Bericht Camp W, Ile de Man. Visité par M. John Wirth le 16 février 1944“). Vgl. auch den „Report on Visit to the Women’s Internment Camp in the Isle of Man“ vom Januar 1941 in: LSF, FCRA/25/38 und die „Protected Areas (Port St. Mary Internment Camp) Order 1941 Order“ vom 5. Mai 1941 in: NA, CO 968/34/5. Überblick in: Cresswell (Hg.), Living with the Wire, S. 51. 101 NA, HO 215/74 (Bericht „Camp ‚W‘, Isle of Man“, besucht am 24. Januar 1942; Bericht „Camp W, Ile de Man. Visité par M. John Wirth le 16 février 1944“).Vgl. auch Cresswell (Hg.), Living with the Wire, S. 52. 102 NA, CO 968/34/5 (Vermerke vom 26. und 29. Mai 1941). Vgl. auch Miriam Kochan, Women’s Experience of Internment, in: Cesarani / Kushner (Hg.) Internment, S. 147–166, bes.

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Weitere 15 Lager unterhielt das Home Office auf dem britischen Festland. Zunächst wurden Gegner und Anhänger der Nationalsozialisten (darunter auch zahlreiche Frauen) vielerorts zusammen interniert, oft sogar in denselben Baracken. Erst allmählich trennten die Behörden die beiden Gruppen voneinander, obwohl ein Leserbrief in der Times, Unterhausabgeordnete und Hilfsorganisationen bereits im Sommer 1940 auf den Missstand hingewiesen hatten. Noch im Juni 1941 waren aber beispielweise im Lager Peveril fünf und im Camp Peel drei Juden auf der Grundlage der Defence Regulation 18B zusammen mit britischen Faschisten und Anhängern des NS-Regimes zusammen interniert. Alarmiert durch Berichte der Kommandanten, ordnete das Innenministerium eine beschleunigte Trennung der beiden Gruppen an.103 Die Einrichtung gesonderter „arischer“ Baracken für überzeugte Nationalsozialisten stärkte deren Einfluss aber noch. In vielen Lagern gelang es diesen Anhängern des NS-Regimes, andere deutsche Internierte mit Drohungen und Belohnungen für sich zu gewinnen. Dazu trugen Geldtransfers der Schweizer Legation bei, die als Schutzmacht der Deutschen in Großbritannien Überweisungen aus dem „Dritten Reich“ ermöglichte. Erst nach der Entlassung der deutsch-jüdischen Internierten 1941/42 ging der Einfluss der zunehmend isolierten Nationalsozialisten zurück.104 Drohungen mit Repressalien zeigten, dass das Reziprozitätsprinzip auch im Zweiten Weltkrieg die Behandlung von Feindstaatenangehörigen beeinflusste. Nachdem die britische Regierung im Sommer 1940 ein Angebot der nationalsozialistischen Machthaber zum Austausch internierter Frauen abgelehnt hatte, wies das Home Office im Mai 1941 die Forderung der Leiterin des Lagers Rushen zurück, eine aktive Nationalsozialistin aus ihrem Camp zu entfernen und in das Gefängnis Holloway zu bringen. Diese Entscheidung ist auf eine Information des IKRK über die Verbesserung der Situation englischer Frauen zurückzuführen, die sich in deutscher Hand befanden. Im Sommer 1944 konnte schließlich S. 147–150, 152 f., 158 f.; dies., Internees, S. 76–83; Rinella Cere, Women, Internment and World War Two, in: Kirkham / Thoms (Hg.), War Culture, S. 219–228, hier: S. 222 f.; Brinson, „In the Exile of Internment“, S. 67, 75, 81. Zu den Konflikte zwischen den unterschiedlichen Gruppen: Charmian Brinson, ‚Loyal to the Camp‘, in: Dove (Hg.), Totally un-English?, S. 85–103. Zum Gefängnis Holloway, in das vor dem Ersten Weltkrieg Aktivistinnen für das Frauenwahlrecht eingeliefert worden waren, vgl. Gottlieb, Holloway Prison, S. 132. 103 Angaben nach dem Vermerk vom 11. Juni 1941 und dem Brief vom 10. Juni 1941 in: NA, HO 215/169. 104 Brinson, ‚Loyal to the Reich‘, S. 101, 105–107; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 19, 60–62, 73–76; Holmes, Enemy Aliens?, S. 30 f.; Panayi, Immigration, S. 108. Als Erlebnisbericht auch: Erna Nelki, Eingesperrt im englischen Frauenlager, in: Walter Zadek (Hg.), Sie flohen vor dem Hakenkreuz. Selbstzeugnisse deutscher Emigranten. Ein Lesebuch für Deutsche, Reinbek 1983, S. 120–126, hier: S. 121 f.

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zwischen Großbritannien und Deutschland der Austausch weiblicher Zivilinternierter vereinbart werden. Sie wurden über Lissabon und Göteborg in ihre jeweiligen Heimatländer gebracht.105

Die Frauen und Kinder der Internierten Die Frauen der Internierten mussten den Lebensunterhalt der Familien sichern. Wie eine Fallstudie zu Edinburgh gezeigt hat, erwies sich die italienische Minderheit in Großbritannien angesichts der akuten Bedrohung, der daraus resultierenden Verunsicherung und der nationalistischen Mobilisierung als überaus verletzlich. Die zurückgebliebenen Angehörigen der Internierten wurden von den Behörden kaum unterstützt und von der Polizei oft entwürdigend behandelt. Frauen italienischer Ladeninhaber erhielten keine Entschädigung für die Zerstörungen, die sie erlitten hatten. Unterstützt von Organisationen wie dem Italian Internees Aid Committee, bemühten sie sich, der permanent drohenden Armut zu entgehen. Als Vertreter der Schutzmacht der Italiener appellierten auch brasilianische Diplomaten, den zurückgebliebenen Angehörigen der Internierten Erleichterungen zu gewährten. Jedoch wurden ihnen Mieten nicht erlassen. Überdies versuchten Frauen, ihren internierten Männern in den Lagern Versorgungsgüter zukommen zu lassen, z. T. indem sie Wachmänner bestachen. Für zahlreiche Kinder internierter Italiener war die Festnahme ihrer Väter eine traumatische Erfahrung. Auch die Ablehnung und Fremdenfeindlichkeit vieler Nachbarn und Bekannte entfremdeten die Italiener von der britischen Gesellschaft. Demgegenüber führten die Übergriffe und die Internierung zu einer Rückbesinnung auf die italienische Herkunft.106 Die jungen Internierten unter 18 Jahren wurden nach einer Anordnung des Home Defence (Security) Executive schon im August 1940 ohne weitere Überprüfung freigesetzt. Die älteren Italiener konnten mit dem Beitritt zum Pioneer Corps, das seit 1939 zur Kriegführung beitrug, ihre Loyalität gegenüber dem Vereinigten Königreich zeigen und damit ihre Entlassung erwirken. Auch die Mehrheit der anderen Italiener, die im Juni in Lager eingewiesen worden waren, entließen die Behörden bereits nach wenigen Monaten und nicht erst ab 13. Oktober 1943, als die neue Regierung unter Ministerpräsident Pietro Badoglio (1871–1956) Deutschland den Krieg erklärte. Ende 1943 befand sich nur noch weniger als ein Viertel der Italiener, die im Sommer 1940 interniert worden waren, in den Lagern. Alles in allem war die Fremdenfeindlichkeit gegenüber den 105 Brinson, ‚Loyal to the Reich‘, S. 105 f., 113. 106 Ugolini, Experiencing War, S. 104, 118, 120–132; Cere, Women, S. 223.

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italienischen Internierten – wie auch den Kriegsgefangenen – in Großbritannien geringer als gegenüber den Deutschen. Jedoch waren damit keineswegs alle Vorbehalte gegenüber den Italienern beseitigt. Noch nach der Kriegserklärung Italiens an das Deutsche Reich am 13. Oktober 1943 blieb die Regierung zurückhaltend. So gab das Londoner Kolonialministerium im Juli 1944 die Auffassung Außenminister Edens folgendermaßen wieder: „… any requests from the Italian Government for the repatriation of an Italian civilian, whether interned or not, should be examined in the light of security and transport considerations and if there were no security objections and if the services which such Italians could render in Italy appear to warrant transport being made available the request should be granted.“107

Deportation von enemy aliens in die Dominions Insgesamt verhafteten die britischen Behörden im Sommer 1940 rund 27.000 Feindstaatenangehörige, darunter 22.000 Deutsche bzw. Österreicher und 4.200 Italiener, von denen 600 in Großbritannien geboren waren. Die Betroffenen wurden ohne Anklage und Gerichtsverfahren interniert. Zudem verlief der Prozess improvisiert und vielerorts unter chaotischen Umständen. Vor allem in London konnten sich deshalb viele Italiener der Festnahme entziehen. Diejenigen enemy aliens, welche die Sicherheitsbehörden als besonders gefährlich eingestuft hatten, wurden auf der Grundlage der 1920 erlassenen Aliens Order z. T. nach Übersee deportiert. So entschied das Kriegskabinett am 11. Juni, Deutsche und Italiener, die der MI5 für besonders gefährlich hielt, in die Dominions zu verschiffen. Anschließend richtete die britische Regierung Anfragen an die Premierminister Australiens und Kanadas, die der Aufnahme trotz Bedenken zustimmten, nachdem ihnen versichert worden war, dass es sich um Nationalsozialisten und italienische Faschisten handeln würde. Vier Schiffe transportierten vom 21. Juni bis 10. Juli aber auch viele Flüchtlinge nach Australien und Kanada, dessen Regierung eingewilligt hatte, 4.000 zivile Feindstaatenangehörige aus dem Vereinigten Königreich aufzunehmen. Churchill und sein Stellvertreter, der Vorsitzende der Labour Party und Lordsiegelbewahrer Clement Attlee (1883–1967),

107 NA, FCO 141/2715 (Brief des Kolonialministeriums an den Staatssekretär im Ministerium für die Dominions vom 3. Juli 1944; Anlage zum Rund Telegramm vom 11. November 1943). Vgl. auch Bob Moore, Perceptions of Axis Captives in the British Isles, 1939–1948, in: Anne-Marie Pathé / Fabien Théofilakis (Hg.), Wartime Captivity in the 20th Century: Archives, Stories, Memories, New York 2016, S. 141–152, hier: S. 147.

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rechtfertigten die Deportation mit dem Hinweis auf die „nationale Sicherheit“.108 Bei der Auswahl der Passagiere unterliefen dem Kriegsministerium und dem MI5 allerdings schwere Fehler. So befanden sich schon unter den Passagieren der Duchess of York, die am 21. Juli nach Kanada auslief, nicht nur – wie geplant – Internierte der Kategorie „A“ (d. h. gefährliche Feindstaatenangehörige), sondern auch Personen, die der den Gruppen „B“ und „C“ zugeordnet worden waren. Darunter waren sechzehnjährige Jugendliche. Von den Passagieren der Ettrick, die am 3. Juli Liverpool verließ, gehörte die Hälfte den Kategorien „B“ und „C“ an. Die Sobieski, die am darauffolgenden Tag ihre Reise nach Kanada begann, hatte von den insgesamt 1.500 Internierten rund 1.000 aufgenommen, die nach den Urteilen der Tribunale die Sicherheit des Vereinigten Königreiches nicht unmittelbar gefährdeten.109 Das vierte Schiff, die Arandora Star, wurde am 2. Juli von einem deutschen U-Boot auf dem Seeweg nach Kanada torpediert. Dabei starben von den insgesamt 1.190 Passagieren außer 37 Wachsoldaten und 55 Besatzungsmitgliedern 174 Deutsche und Österreicher sowie 446 bis 486 Italiener, die zuvor im Vereinigten Königreich interniert worden waren. Unter den Opfern waren auch entschiedene Gegner der Diktaturen Hitlers und Mussolinis, so der Sekretär der italienischen Sektion der Menschenrechtsliga, Decio Anzani (1882–1940). Nur 530 Passagiere wurden gerettet. Der Manchester Guardian berichtete schon am 5. Juli über die Versenkung, und wenige Tage später erreichten Gerüchte sogar Internierte in den Lagern.110 Jedoch behauptete Kriegsminister Eden noch am 17. 108 Vgl. Terri Colpi, The Impact of the Second World War on the British Italian Community, in: Cesarani / Kushner (Hg.), Internment, S. 167–187, hier: S. 176; ders., Italian Factor, S. 109, 112 f.; Ugolini, Experiencing War, S. 224 f., 233; dies., Stories, S. 87; Pistol, ‚I can’t remember a more depressing time but I don’t blame anyone for that‘, S. 42; Panayi, Immigration, S. 107; Sponza, The Internment of Italians in Britain, S. 259 f.; Pearle, Dunera Scandal, S. 9, 13. Insgesamt hatten sich die Regierungen Kanadas und Australiens bereit erklärt, 6.000 bis 7.000 bzw. 10.000 Kriegsgefangene und Zivilinternierte aus Großbritannien zu übernehmen. Vgl. Kapp / Mynatt, Policy, S. 112. 109 Vgl. die Beschwerde vom 6. Juni 1941 in NA, HO 215/169. Im Allgemeinen auch Pearle, Dunera Scandal, S. 14 f., 18–44; Pistol, Internment, S. 47; dies., ‚I can’t remember a more depressing time but I don’t blame anyone for that‘, S. 46; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 77 f.; Moorehead, Dream, S. 401; Gottlieb, Civilian Internees, S. 53. 110 Dazu die Eintragung des deutschen Flüchtlings H. W. Arndt vom 10. Juli 1940: „This morning I heard in a fairly authentic form a rumour of which I heard the first traces some days ago, namely that a previous ship with internees and prisoners of war which left England Thursday last (‚Arandora Star‘) was torpedoed off the coast of Ireland and sunk with the loss of 3000 men – only 700 odd being saved. It is an appalling thought.“ („Extracts from a Diary of an Interned German Refugee Covering the Period from July 3rd to July 17th“, in: LSF, FCRA/25/39). Vgl. auch Ugolini, Stories, S. 87; Todman, Britain’s War, S. 377.

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Juli, dass auf dem Schiff ausschließlich gefährliche Faschisten und Nationalsozialisten transportiert worden seien. Als sich diese Aussage als falsch herausstellte, bemühte sich das Innenministerium hektisch um die Passagierliste. Auch das IKRK forderte Informationen über die Opfer und Überlebenden an. Angehörige blieben aber im Ungewissen. Sie konnten in der allgemeinen Verwirrung lediglich über das Konsulat Brasiliens verlässliche Nachrichten erhalten. Überlebende des Untergangs der Arandora Star ließ das Innenministerium in das Lager Peel bringen, wo sie als Flüchtlinge aus Deutschland oder Italien mit Nationalsozialisten und Faschisten zusammenleben mussten. Andere wurden auf der Dunera nach Australien deportiert.111 Dieses Schiff brach am 11. Juli mit 2.542 Passagieren (darunter 200 Überlebenden der Arandora Star) nach Australien auf. Auf dem ehemaligen Truppentransporter kam es zu heftigen Konflikten zwischen Anhängern und Gegnern der Faschisten bzw. Nationalsozialisten. Zudem wurden Passagiere – darunter verhaftete Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ – von Besatzungsmitgliedern misshandelt, bestohlen und ausgeraubt. Politiker und Organisationen wie das Italian Internees’ Aid Committee kritisierten die Regierung scharf, weil die Sicherheitsbehörden auch nur nominelle Mitglieder der NSDAP und der faschistischen Partei Italiens (Partito Nazionale Fascista, PNF) auf die Schiffe gezwungen hatten.112 Zumindest viele Italiener waren irrtümlich in die Dominions verbracht wurden. So hatte die Polizei von den 1.500 angeblich fanatischen Faschisten, die der Geheimdienst vor der Kriegserklärung Mussolinis in Listen aufgenommen hatte, nur 750 eindeutig identifizieren und festnehmen können. Diese Italiener hatten die Wahrnehmung der gesamten Minderheit im MI5 und im Kriegsministerium geprägt, die – im Gegensatz zum Innen- und Außenministerium – eine bloße Mitgliedschaft in der PNF als ausreichenden Grund für eine Internierung der betreffenden Personen betrachteten. Damit hatten sie auch auf die frühe Gründung einer faschistischen Parteigruppe in London 1921 und die Aktivitäten 111 NA, HO 215/452 („S. S. Arandora Star. Analysis of Embarkation List [Italians Excepted])“; HO 215/455 (Schreiben vom 5. Dezember 1940). Hierzu und zum Folgenden: Burletson, State, S. 102–124; Simpson, In the Highest Degree Odious, S. 333–352; Kapp / Mynatt, Policy, S. 113 f.; Ugolini, Stories, S. 92; Cesarani, An Alien Concept?, S. 45; Holmes, Immigrants, S. 27–29; Pistol, Internment, S. 46–48; Andrew, Secret Service, S. 480; Holmes, John Bull’s Island, S. 189; Seyfert, „His Majesty’s Most Loyal Internees“, S. 168–171; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 77 f. 112 Überblick in: Burletson, State, S. 102–124; Simpson, In the Highest Degree Odious, S. 333– 352; Cesarani, An Alien Concept?, S. 45; Holmes, Immigrants, S. 27–29; Pistol, Internment, S. 46–48; Andrew, Secret Service, S. 480; Holmes, John Bull’s Island, S. 189; Seyfert, „His Majesty’s Most Loyal Internees“, S. 168–171; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 78.

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des italienischen Botschafters in Großbritannien, Dino Grandi (1895–1988), von 1932 bis 1939, reagiert. Allerdings hatte sich der Geheimdienst lange kaum für die italienischen Faschisten interessiert. Zudem ignorierten er und das Kriegsministerium 1940 den Unterschied zwischen den fanatischen Faschisten und denjenigen Italienern, die sich der Partei wegen ihrer Loyalität zur Nation oder unter pragmatischen Gesichtspunkten opportunistisch angeschlossen hatten. Da die Quote der vorab verzeichneten 1.500 Faschisten aber erfüllt werden sollte, wurden weitere 750 Italiener, deren Deportation das War Office vorgeschlagen hatte, ungeprüft auf die Schiffe – darunter den Ozeandampfer Arandora Star – geschickt. Viele der Passagiere waren einfache Mitglieder der faschistischen Partei und einzelne sogar Gegner Mussolinis.113 Beamte des Foreign Office hatten intern schon am 22. Juni auf die Unkenntnis des MI5 über die als gefährlich betrachteten italienischen Faschisten hingewiesen, und im Juli waren die gravierenden Fehler bei der Auswahl der zu Deportierenden auch im Home Office bekannt. Schon bevor Innenminister Anderson das fahrlässige Vorgehen der Sicherheitsbehörden öffentlich eingestand, hatte die Regierung entschieden, den Transport ziviler Feindstaatenangehöriger nach Übersee vollständig einzustellen. Noch weitergehenden Forderungen der britischen Militärführung, die vorübergehend sogar verlangt hatte, alle Deutschen und Österreicher nach Kanada zu transportierten, war damit die Grundlage entzogen worden. Angesichts der nur schwer nachvollziehbaren Versäumnisse der Sicherheitsbehörden waren einige Pazifisten und Sozialisten aber von einer Verschwörung „reaktionärer“ Gruppen in der britischen Regierung überzeugt.114 Insgesamt wurden letztlich rund 11.400 enemy aliens deportiert, davon 7.000 nach Kanada und die anderen nach Australien. In dem nordamerikanischen Land ging die Zahl der Internierten rasch von 1.200 (Ende 1940) auf 780 (Mitte 1941) und 411 (Ende 1942) zurück. Damit verlief die Entlassung hier ähnlich wie in Großbritannien selber.115 Hier waren im August 1942 noch 1.686 italienische Staatsbürger interniert, davon drei Frauen. Es handelte sich um Personen, die nach Auffassung des Innenministeriums die Sicherheit gefährdeten. Andere italienische Internierte hatte das Home Office nach der Veröffentlichung 113 Sponza, Government, S. 125–127; ders., The Internment of Italians in Britain, S. 258 f.; Colpi, Impact, S. 169–173, 176. 114 Diese Interpretation ist vereinzelt auch in der Historiographie aufgenommen worden. Vgl. Kapp / Mynatt, Policy, S. 102. Vgl. zum gesamten Prozess auch Colpi, Impact, S. 176; ders., Italian Factor, S. 110–113; Sponza, Government, S. 127; Kushner / Cesarani, Alien Internment, S. 9. 115 Angaben nach: Cesarani, An Alien Concept?, S. 45; Andrew, Secret Service, S. 480; ders., Defence of the Realm, S. 227; Holmes, John Bull’s Island, S. 188; ders., Enemy Aliens?, S. 27; Panayi, Immigrants, S. 205; Chappell, Island, S. 34.

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von „Weißbüchern“ im Sommer und Herbst 1940 entlassen. Sie sollten in der Kriegswirtschaft beschäftigt werden, um hier den Arbeitskräftemangel zu verringern.116

Der Widerstand gegen die Internierung, humanitäre Hilfe und die Entlassung von Betroffenen Schon im März 1940 war ein Beratungsgremium (Advisory Committee) gebildet worden, das unter der Leitung des Juristen und Politikers Norman Birkett (1883–1962) dem Innenminister Empfehlungen zu den Einsprüchen von Internierten – darunter auch zahlreichen deutschen Juden – unterbreitete. Dabei folgte die Kommission einerseits nicht einfach den Bekenntnissen der Betroffenen – darunter den britischen Faschisten –, die ihren Patriotismus herausstrichen. Andererseits vermied sie aber auch pauschale Feindbilder und Verschwörungsvorstellungen, die in den Sicherheitsorganen – vor allem im MI5 – weit verbreitet waren. Am 27. Juni kündigte Anderson im Unterhaus die Entlassung einzelner Internierter an, die Großbritannien erwiesenermaßen loyal gegenüberstanden. Am 4. Juli wurden auch einzelne Gruppen – so Jugendliche unter 18 Jahren, Gebrechliche und Kranke – von der Internierung ausgenommen. Anderson musste im Parlament gegenüber dem Labour-Abgeordneten Sydney Silverman (1895–1968) zugestehen, dass Internierte der Kategorie C überwiegend den Nationalsozialismus ebenso ablehnten wie die britische Regierung.117 Dennoch vollzogen sich Entlassungen im Frühsommer 1940 nur langsam. Angesichts des Untergangs der Arandora Star und der Vorfälle auf der Dunera im Juli wandten sich im Spätsommer 1940 aber bekannte Intellektuelle offen gegen die Internierung. Der Schriftsteller Edward M. Forster (1879–1970) und der Komponist Ralph Vaughan Williams (1872–1958) setzten sich in Leserbriefen in der Times für die inhaftierten Zivilisten ein, und Herbert George Wells protestierte in der Reynolds News unter der Überschrift „J’accuse“ gegen die Internierung.118 Auch Sir Norman Angell, der 1933 den Friedensnobelpreis erhalten hatte, verlangte, die festgesetzten Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich unverzüglich freizulassen. Der Journalist (und spätere Vorsitzende der Labour 116 NA, FO 916/293 (Schreiben des Innenministeriums an den Staatssekretär im Außenministerium vom 28. August 1942); NA, CO 968/64/13 („Summary of Home Office policy in relation to internment of Italians“ vom 2. September 1943). 117 Kochan, Internees, S. 84, 87 f. 118 Damit bezog er sich auf den Leserbrief des Schriftstellers Émile Zola, in dem er am 13. Januar 1898 in der Zeitung L’Aurore die Regierung wegen der Inhaftierung des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus des Antisemitismus bezichtigt hatte.

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Party) Michael Foot (1913–2010) forderte am 17. Juli im Evening Standard, alle Feindstaatenangehörigen, die ihre Gegnerschaft zum Nationalsozialismus belegen konnten, als Verbündete zu behandeln.119 Obwohl einzelne Politiker wie der konservative Unterhausabgeordnete Edward Turnour (Earl Winterton, 1883–1962) die Masseninternierung auch noch im August verteidigten, trafen die Warnungen skeptischer Politiker und Vertreter des öffentlichen Lebens im Spätsommer auf eine wachsende Resonanz. Schon am 10. Juni 1940 hatte der Bischof von Chichester, George Bell (1883– 1958), betont, dass die Regierung mit der Internierung von Flüchtlingen aus dem „Dritten Reich“ gerade Gegner des NS-Regimes bestrafe. In seinen Reden im Oberhaus verwies er auch auf den moralisch-politischen Überlegenheitsanspruch der britischen Eliten und Gesellschaft gegenüber den Kriegsgegnern. Daraus leitete er die Forderung ab, die Repressionspolitik der Diktaturen nicht zu imitieren. Auch das Parlament befasste sich ab Juli 1940 so intensiv mit dem Umgang mit den zivilen Feindstaatenangehörigen, dass enemy aliens bis zum Jahresende nur in vier Sitzungen nicht erwähnt wurden.120 In einer Debatte des Unterhauses wandten sich schon am 10. Juli Parlamentsabgeordnete wie Eleanor Rathbone, Josiah Wedgwood, Victor Cazelet und George Strauss scharf gegen die Politik des Kriegskabinettes. Daneben verlangten im House of Commons Sydney Silverman, Reginald Sorensen (1891–1971), Ellen Wilkonson (1891–1947), Rhys Davies (1877–1954) und Philip Noel-Baker (1889–1982) die pauschale Internierung zu überprüfen. Besonders scharf wurde die Behandlung politischer Flüchtlinge kritisiert, so von dem liberalen Abgeordneten Wilfrid Roberts (1900–1991), der feststellte: „… the regeneration of Europe depends upon people who have still, in Germany and in other countries, democratic and reasonable sentiments. These beliefs are being shattered by the treatment of refugees in the last few weeks …“. Alles in allem argumentieren diejenigen Akteure und Organisationen, die sich für die internierten Flüchtlinge einsetzten, dass diese kein Sicherheitsrisiko für das Vereinigte Königreich darstellten, sondern umgekehrt bei einem deutschen Angriff auf das Inselreich selber bedroht seien. Zudem galt die unterschiedslose Lagerhaft als Verletzung der liberalen Traditionen, welche die Kritiker der Regierungspolitik als Kern eines (idealisierten) englischen Nationalcharakters verstanden.121 Viele dieser Fürsprecher – so Rathbone – unterstützten die Internierten auch direkt. In der Diskussion verteidigten nur noch wenige Parlamentarier die 119 Brinson / Müller-Härlin / Winkler, Internee, S. 15; Pitzer, Night, S. 233. Zeitzeugenberichte Betroffener in: Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 81 f. 120 Pearle, Dunera Scandal, S. 45, 48. 121 Gusejnova, Gegen Deutsches K. Z. Paradies, S. 7.

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pauschale Internierung mit dem Hinweis auf die „nationale Sicherheit“. Demgegenüber kritisierten zahlreiche Abgeordnete das Chaos, das sich auch aus Überschneidungen in den Zuständigkeiten des Innen- und Kriegsministeriums ergeben hatte. Benn drängte Churchill am Monatsende im Unterhaus zu der Versicherung, geflohene deutsche Juden unter keinen Umständen – auch nicht bei einer Invasion – an das „Dritte Reich“ auszuliefern. Ebenfalls am 10. Juli trat im Oberhaus besonders der Viscount Cecil of Chelwood (1864–1958) der Behauptung Lord Crofts entgegen, dass die Masseninternierung militärisch notwendig gewesen sei. Chelwood betonte demgegenüber, dass Feindstaatenangehörige bei den Angriffen der deutschen Wehrmacht auf Belgien und Norwegen keineswegs als „fünfte Kolonne“ hervorgetreten seien. Zudem wies er auf den rechtsstaatlichen Grundsatz der Unschuldsvermutung hin, und er pries Großbritanniens Einsatz für Gerechtigkeit als wichtige Legitimationsgrundlage der Kriegführung seines Landes.122 Ebenso brandmarkte Wedgwood am 22. August 1940 erneut die Internierung von Flüchtlingen. Demgegenüber hob er die Sicherheitsgefahr hervor, die von Nationalsozialisten und Faschisten ausging. Rathbone wurde schließlich zur Vorsitzenden einer neu gebildeten Parlamentskommission ernannt, die sich um die internierten Zivilisten kümmerte. Ebenso kritisierten Bürgerrechtsbewegungen und einzelne Zeitungen wie der Manchester Guardian die pauschalen Restriktionen der Regierung als Gefahr für die bürgerlichen Freiheiten und individuellen Rechte. In einem Brief an die Times forderten sechs Professoren der Universität Oxford: „… we should administer our camps with common sense and with such humanity as is possible in war-time, remembering that the vast majority of the human beings they house are not our enemies but our friends.“ Der Schriftsteller H. G. Wells führte den Beschluss zugunsten der Masseninternierung sogar auf Verrat von Feinden Großbritanniens zurück.123 Die Kritik verstärkten im Sommer und Herbst 1940 Berichte über die z. T. unmenschlichen Lebensbedingungen in den Lagern. Auch im August 1940 gebildete Beratungsgremien, deren Etablierung Anderson am 23. Juli als Reaktion auf die Kritik der Internierungspolitik ankündigte, gewannen erst langsam den Überblick. Zudem konnten beide Kommissionen, von denen eine von dem hochrangigen Richter Cyril Asquith (1890-1954) und die andere von Lord Lytton 122 Hansard, House of Lords Debates, Bd. 116, 10. Juli 1940, Sp. 874–880 („Enemy Aliens“); http://hansard.millbanksystems.com/lords/1940/jul/10/enemy-aliens (Zugriff am 14. Januar 2016). Zitat: Kapp / Mynatt, Policy, S. 127. Vgl. auch Brinson, Bishop, 113 f., 118; dies., „In the Exile of Internment“, S. 75; dies. / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 15 f.; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 85; Pearle, Dunera Scandal, S. 9, 45–50. 123 Zitat: Kochan, Internees, S. 120. Vgl. auch Kushner / Cesarani, Alien Internment, S. 415. Zu Wedgwoods Rede: Koessler, Internment, S. 106.

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(1876–1947) geleitet wurden, die zuständigen Minister lediglich beraten. Während Lyttons Komitee dem Kriegsministerium Vorschläge zur Fürsorge für die Internierten unterbreitete, leitete das von Asquith geführte Gremium dem Home Office Empfehlungen für Entlassungen zu. Dabei war die „nationale Sicherheit“ das entscheidende Kriterium, besonders für das Asquith-Komitee, das jegliches Risiko zu vermeiden trachtete. Letztlich konnten sich aber beide Kommissionen in Konflikten und Machtkämpfen kaum durchsetzen, vor allem gegen den Widerstand des MI5. Ebenso wenig waren zunächst Beschwerden internationaler humanitärer Organisationen wie der Young Men’s Christian Association und der Society of Friends durchgedrungen. Sie traten der restriktiven Internierungspolitik offen entgegen.124 Ebenfalls besorgt war im Sommer 1940 das Board of Deputies of British Jews. So erkundigte sich Nathan Laski (1863–1941), der in der Organisation eine führende Position einnahm, im August 1940 bei Churchill nach der Politik des neuen Kriegskabinetts gegenüber jüdischen Flüchtlingen. Er berief sich dabei auf kritische Stimmen unter Parlamentsabgeordneten und warnte vor negativen Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in den USA. Laski warf dem Kriegsund Innenministerium vor, dass sie die Entlassung kranker Internierter verzögerten, die Flüchtlingskonvention von 1938 ignorierten und Personen, die über eine Arbeitserlaubnis verfügten oder sich freiwillig für das militärische Pionierkorps gemeldet hatten, in den Lagern beließen. Ebenso bezweifelte er, dass die Asquith-Kommission die Vielzahl der einzelnen Internierungsfälle prüfen konnte. Der Privatsekretär des Premierministers teilte Laski daraufhin für Churchill mit, dass die undifferenzierte Internierung nur vorübergehend erfolgt und der Notlage angesichts der Invasionsgefahr geschuldet sei. Er verwies dabei ausdrücklich auf Sicherheitsgefahren in der Krisenlage im Sommer 1940. In dieser Lage konnte nach Churchills Auffassung nicht angenommen werden, dass Gegner des NS-Regimes notwendigerweise loyal die Kriegführung des Vereinigten Königreiches unterstützten. Jedoch unterstrich der Premierminister gegenüber Laski die Absicht der Regierung, in Großbritannien zwischen den deutschen Nationalsozialisten und ihren jüdischen Opfern zu unterscheiden. Anschließend zeigte sich Laski beruhigt, zumal der Premierminister der Veröffentlichung seines Briefes an den Vertreter des Board of Deputies zustimmte.125 Auch kritische Intellektuelle wie der Schriftsteller und junge Sozialpolitiker François Lafitte wandten sich gegen die offizielle Begründung, dass „military 124 Vgl. auch Ritche, Refugees, S. 166; Kapp / Mynatt, Policy, S. 130 f.; Sponza, Internment of Aliens in Britain, S. 263; Kushner / Knox, Refugees, S. 177; Kochan, Internees, S. 121 f. Aus zeitgenössischer Perspektive: Koessler, Internment, S. 107–110. 125 NA, PREM 4/39/2 (Briefe vom 9., 22., 23., 25. 27. und 30. August 1940).

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necessity“ im Sommer 1940 eine Masseninternierung erzwungen habe. In seinem Buch „The Internment of Aliens“, das der Autor unter dem Eindruck der Versenkung der „Arandora Star“ im September 1940 verfasste und zwei Monate später im populären Penguin-Verlag veröffentlichte, wies er Hinweise der Regierung auf Gefahren, die angeblich auch von Flüchtlingen aus dem „Dritten Reich“ ausgingen, scharf zurück. Vielmehr bezeichnete er die Zeit von Juni bis August 1940 als „three months of panic, muddle and lack of responsibility“. Nach Lafitte gingen die repressiven Maßnahmen, die im Sommer 1940 Nationalsozialisten, Faschisten und ihre Gegner gleichermaßen trafen, soweit über die Anforderungen der „national security“ hinaus, dass sie die Glaubwürdigkeit Großbritanniens als Ordnungsmacht nach dem Krieg beeinträchtigten.126 Er brandmarkte besonders die Internierung von Flüchtlingen, von denen viele zuvor in deutschen Konzentrationslagern gelitten hätten: „The plain fact is that thousands of innocent people have been treated like cattle in the name of national security.“127 Obwohl zunächst nur wenige Organisationen und Personen die britische Internierungspolitik offen in Frage stellten, blieb der anschwellende Protest keineswegs völlig wirkungslos, wie die Unterhausdebatten am 23. Juli und 10. Dezember 1940 zeigten. Auch einzelne Oberhausabgeordnete äußerten schon im Sommer ihre Empörung über die Durchführung der Internierungspolitik. Sie bezeichnete Lord Chelwood am 6. August 1940 im Oberhaus als „one of the most discreditable incidents in the whole history of this country.“ Auch Lord Faringdon (1902–1977) kritisierte den rücksichtslosen Umgang mit den Feindstaatenangehörigen, besonders mit den Gegnern der Nationalsozialisten und den Flüchtlingen. Gegenüber den Verfechtern einer umfassenden Sicherheitspolitik wie dem Herzog von Devonshire (1895–1950) wies er besonders darauf hin, dass Großbritannien mit der unterschiedslosen Internierung der Deutschen den Anspruch auf Humanität aufgegeben und damit auch seinen Ruf und damit seine Legitimität im Krieg beschädigt hätte. Anhand einzelner Internierter demonstrierte er, dass die aus ihrer Heimat vertriebenen Deutschen nicht als enemy aliens, sondern als Verbündete des Vereinigten Königreiches betrachtet und behandelt werden sollten. Er verlangte deshalb eine schnelle Korrektur der Politik, die er auf den Druck des Militärs im Mai und Juni 1940 zurückführte. Dieser Forderung schloss sich der Bischof von Chichester an, der besonders auf Sebas-

126 Zit. nach (in dieser Reihenfolge): François Lafitte, The Internment of Aliens, London 1988 (Harmondsworth 11940), S. 71, 94, 75. Zu Lafitte: Gusejnova, Gegen Deutsches K. Z. Paradies, S. 7 f. 127 Lafitte, Internment, S. 143. Vgl. auch Brinson / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 16, 77; Auger, Prisoners, S. 23; Ugolini, Stories, S. 87.

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tian Haffner hinwies. In der Debatte des Oberhauses am 15. August wiederholten die Kritiker, die den Übergang der Verantwortung für die Lager vom Kriegszum Innenministerium begrüßten, ihre Einwände gegen die weit gespannte Internierungspolitik, indem sie moralisch, aber vor allem utilitaristisch argumentierten und dabei auf den Stellenwert von Humanität und Liberalität gegenüber dem Sicherheitspostulat abhoben. Unter dem Eindruck der Berichte über die Auswirkungen der pauschalen Internierung von enemy aliens trat sogar Churchill, der im Sommer 1940 die Verhaftung entschieden befürwortet hatte, für eine differenziertere Politik ein.128 Intern kritisierte auch der Lordkanzler Thomas Inskip (Viscount Caldecote, 1876–1947), welcher den Regierungen unter Churchill und seinem Nachfolger Attlee von 1940 bis 1946 als Lord Chief Justice von England und Wales diente, den Umgang der Behörden mit den Internierten, die er für überwiegend unschuldig hielt. Auch Bischof Bell (1883–1958) betonte im Sommer 1940 deutlich den Unterschied zwischen Anhängern und Gegnern des Nationalsozialismus in den Lagern, traf damit in der Presse aber noch auf harte Kritik. Jedoch verbesserten sich die Lebensbedingungen in den Camps, von denen – wie schon im Ersten Weltkrieg – viele auf der Insel Man lagen. Dazu trug auch der Übergang in der Verwaltung der Lager vom Kriegs- zum Innenministerium am 5. August 1940 bei. Allerdings stellte das War Office weiterhin die Wachen in den Internierungslagern. Nur für die Frauenlager war ausschließlich das Home Office zuständig.129 Am 24. Juli wurde die Masseninternierung schließlich eingestellt. Damit reagierte Innenminister Anderson auf die Kritik an der Politik der Regierung, die nach der Versenkung der Arandora Star und den Übergriffen auf der Dunera politisch in die Defensive geraten war. Allerdings hatte sich schon zuvor herausgestellt, dass für die festgenommenen enemy aliens Unterkünfte fehlten.130 Im Herbst 1940 wuchsen aber auch die Zweifel an der rechtlichen Grundlage der Internierung. Grundsätzlich konnte Innenminister Anderson Personen 128 Hansard, House of Lords Debates, Bd. 117, 6. August 1940, Sp. 107–139 („Internment of Aliens“); http://hansard.millbanksystems.com/lords/1940/aug/06/internment-of-aliens (Zugriff am 14. Januar 2016); Hansard, House of Lords Debates, Bd. 117, 15. August 1940, Sp. 247–268 („Internment of Aliens“); http://hansard.millbanksystems.com/lords/1940/aug/ 15/internment-of-aliens (Zugriff am 14. Januar 2016). Vgl. auch Stammers, Civil Liberties, S. 42, 47 f., 53, 68, 76, 82; Holmes, Enemy Aliens?, S. 30. Zitat: Sponza, Internment of Italians in Britain, S. 261; ders., Loyalties, S. 112. 129 Schreiben vom 24. Februar 1941, in: NA, CO 968/34/5. Vgl. auch Gottlieb, Civilian Internees, S. 53. 130 Sponza, Internment of Italians in Britain, S. 262, 266, 274; Kapp / Mynatt, Policy, S. 121. Schon zuvor hatte das Home Office die Frauenlager verwaltet. Vgl. Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 84; Lafitte, Internment, S. 93 f.

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festnehmen lassen, sobald dafür eine „nachvollziehbare Begründung“ (reasonable cause) vorlag. Diese vage Klausel in der Defence Regulation 18B wurde schon während des Zweiten Weltkrieges wiederholt kritisiert, denn sie bot einen weiten Interpretationsspielraum. Die Polizei und Sicherheitsdienste waren berechtigt, mit dem Hinweis auf die national security verdächtigen Personen ihre grundlegenden Menschenrechte auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit zu entziehen. Daneben richtete sich die Kritik besonders gegen die umfassenden Vollmachten für staatliche Behörden und die Einrichtung außerordentlicher Organe wie der Sondertribunale, die nach einer Gesetzesvorlage (der Emergency Powers Bill) vom 16. Juli 1940 die ordentliche Gerichtsbarkeit in militärisch bedrohten Gebieten ersetzen sollten. Angeklagten konnten dabei das Recht auf Revision genommen werden. Im Unterhaus brandmarkten Abgeordnete wie Silverman und der Liberale Leslie Hore-Belisha (1893–1957, Kriegsminister von 1937 bis 1940) die Vorlage als Standrecht. Der liberale Unterhausabgeordnete Kingsley Griffith (1889–1962) sah sogar Grundlagen des politischen Systems in Gefahr, da das Innenministerium bestrebt sei, die Gewaltenteilung auszuhebeln. Auch das Exekutivkomitee des NCCL prangerte im Juli 1942 die Verletzung des rechtsstaatlichen Grundsatzes an, dass niemand ohne Gerichtsverfahren inhaftiert werden darf. Demgegenüber beharrten Verteidiger der Regierungspolitik auf der Notwendigkeit, Großbritannien angesichts der akuten Bedrohung durch die deutsche Wehrmacht zu verteidigen. Dabei verwiesen sie auch auf Subversion, die aus dieser Sicht die schnelle Unterwerfung Hollands und Norwegens verursacht habe. So betonte der Labour-Politiker, Ökonom und Politikwissenschaftler Harold Laski: „a state which is not fully armed against its Quislings is already on the high road to defeat.“ Letztlich konnte das Dilemma während des Krieges zwar entschärft, aber nicht grundsätzlich gelöst werden.131 Dabei gefährdete auch die mangelhafte Kontrolle des Unterhauses über das Innenministerium bürgerliche Freiheiten. Einzelne Parlamentsabgeordneten wie die Liberalen Richard Acland (1906–1990), Geoffrey Mander und Graham White (1880–1965) und die Labour-Politikerin und Staatssekretärin für Innere Sicherheit, Ellen Wilkinson, wandten sich deshalb gegen die außerordentliche Macht der Exekutive. Ihnen und Josiah Wedgwood, der im Februar 1941 eine unverzügliche Untersuchung der Vorfälle auf der Dunera verlangte, und Denis Noel Pritt (1887–1972), der wegen seiner Verteidigung des sowjetischen Angriffes auf Finnland 1940 aus der Labour Party ausgeschlossen wurde, sowie Konservativen wie Oliver Locker-Lampson (1880–1954) und Cazelet gelang es zumindest, besonders gravierende Einschränkungen der Bürgerrechte zu verhin131 Zitat: Townshend, Peace, S. 124. Vgl. auch Goldman, Defence Regulation 18B, S. 129 f.; Hinsley, Intelligence, Bd. 4, S. 47; Wheeler-Bennett, Anderson, S. 246.

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dern. Ebenso unterstützten die Religious Society of Friends (Quäker), Hilfsorganisationen, Exilverbände – so die Free German League of Culture („Freier Deutscher Kulturbund in Großbritannien“) – und etablierte Institutionen wie der British Council die internierten Feindstaatenausländer. Diese Einrichtungen und Helfer, die sich besonders für deutsche und österreichische Flüchtlinge einsetzten, wurden vom MI5 bestenfalls der Naivität, aber vielfach auch der Illoyalität gegenüber Großbritannien bezichtigt.132 Im Kern konzentrierte sich die Diskussion auf das Verhältnis zwischen dem Imperativ der „nationalen“ bzw. „öffentlichen Sicherheit“ einerseits und den Rechten der Gruppe, die festgenommen waren oder interniert werden sollten, andererseits. So argumentierten Kritiker der restriktiven Regierungspolitik, dass die Sekurität und Integrität Großbritanniens nur bewahrt werden könnten, wenn die Behörden die Freiheits- und Bürgerrechte beachteten, für deren Schutz der Krieg letztlich geführt werde. Rechtswissenschaftler stigmatisierten die pauschale Internierung als Verstoß gegen die Magna Charta und die Grundsätze des Habeas Corpus. Sie kritisierten, dass die Regierung auch Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und dem Sudetenland als enemy aliens behandelte, obgleich diese vertrieben und oft zuvor sogar ausgebürgert worden waren. Die Internierung war deshalb unberechtigt und galt als „unbritisch“. Einige Bürgerrechtsaktivisten – so die Führung und Mitglieder des NCCL – bezeichneten die im Sommer 1940 ausufernde Sicherheitspolitik sogar als „Frankenstein“. Auch der Erzbischof von Canterbury und einzelne Intellektuelle wie der Altphilologe Gilbert Murray (1866–1957) kritisierten die pauschale Internierung verdächtigter Gruppen, zumal die repressive Politik die Fremdenfeindlichkeit und den Antisemitismus nährte. Die politische Linke befürwortete aber die Festnahme von Faschisten und Sympathisanten des nationalsozialistischen Deutschlands. Dagegen verdächtigten Konservative Pazifisten, Sozialisten und Kommunisten des (potentiellen) nationalen Verrats. Aber auch Befürworter der Internierungspolitik wie der Bischof von Chichester, der den Primat „nationaler Sicherheit“ verteidigte, beriefen sich auf „britische Werte“, indem sie die staatliche Politik gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen als fair und ausgewogen lobten, so der Bischof noch in der Debatte im Oberhaus am 17. Dezember 1941. Dies bestritten scharfe Kritiker wie Wedgwood. Insgesamt prägten Rekurse auf Traditionen die Debatten, die jeweils interessengeleitet konstruiert und für unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Ziele in Anspruch genommen wurden.133 132 Vgl. Brinson / Dove, Matter, S. 173–182; Stammers, Civil Liberties, S. 59, 63, 75, 82 f.; Seyfert, „His Majesty’s Most Loyal Internees“, S. 172 f.; Kapp / Mynatt, Policy, S. 120. 133 Zur zeitgenössischen Diskussion über die Balance von Grundrechte und Sicherheitsargumenten: Lafitte, Internment, S. 73, 88, 132, 142–144, 161, 164, 167, 181, 184–186, 189; Kempner,

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Nachdem in Dorset ein bekannter Gegner des Krieges festgenommen worden war, warnte aber sogar das Innenministerium vor einer pauschalen Internierung von Gewerkschaftern, Wehrdienstverweigerern, Kommunisten und Pazifisten. Damit nahm die Regierung Bürgerrechtsorganisationen wie dem NCCL zumindest teilweise die Wirkung. Der Verband wurde ab 1940 überdies der Sympathie mit dem Pazifismus und dem Kommunismus bezichtigt. Tatsächlich intensivierten führende Vertreter des Verbandes ab den frühen 1940er Jahren die Beziehungen zur CPGB. Der Tod Kidds beraubte den NCCL 1942 überdies einer Persönlichkeit, die unterschiedliche politische Gruppen eingebunden hatte.134 Die Sicherheitsapparate hatten damit im Sommer 1940 ihre sicherheitspolitischen Ziele nahezu uneingeschränkt durchsetzen können, aber nur vorübergehend. Angesichts der wachsenden Kritik verteidigten sich hohe Beamte des Innenministeriums wie Staatssekretär Peake mit dem Hinweis auf die umfassenden Schutzmaßnahmen gegenüber den zivilen Feindstaatenangehörigen. Auch gestand Peake am 10. Juli 1940 vor dem Oberhaus zerknirscht ein: „I can only say, on behalf of the Home Secretary and myself, that I wish we knew half as much about many of the neutral aliens and many British subjects as we know about the enemy aliens now in this country.“ Insgesamt setzte mit der kritischen Bestandsaufnahme der Internierungspolitik im Vereinigten Königreich eine schrittweise Entsicherheitlichung ein, die sich aber nicht linear vollzog.135 Damit einhergehend, besannen sich viele Politiker wieder auf die starken humanitären Traditionen Großbritanniens als Hort individueller Freiheitsrechte, nachdem die Royal Air Force die deutschen Angriffe in der Luftschlacht über England abgewehrt hatte und die unmittelbare Invasionsfurcht zurückgegangen war. So verlangt im Unterhaus der konservative Abgeordnete Roundell Cecil Palmer (Viscount Wolmer, 1887–1971), der den Entschluss zur Internierung im Sommer 1940 verteidigt hatte, im Herbst, Internierte, welche die Sicherheit des Landes nicht bedrohten, unverzüglich freizulassen. Auch Churchill zeigte sich im Spätsommer 1940 an der Rekrutierung loyaler Feindstaatenangehöriger für die britischen Streitkräfte interessiert. Bereits am 22. Juli hatte die Regierung unter dem Druck der Kritik an der ausufernden Internierungspraxis beschlossen, einen Ausschuss zu bilden, der dem Innenminister Entlassungen auf der Grundlage von 18 Kategorien vorschlagen konnte. Dieses Advisory Committee on Enemy Alien Problem, S. 448. Vgl. auch „Judex“ (Herbert Delauney Hughes), Anderson’s Prisoners, London 1940, S. 12; Carleton Kemp Allen, Regulation 18B and Reasonable Cause, in: The Law Quarterly Review 58 (1942), S. 232–242; Cohn, Aspects, S. 202, 206 f.; Seyfert, Niemandsland, S. 31; Townshend, Peace, S. 125. 134 Gillman / Gillman, „Collar the Lot!“, S. 128 f.; Wasserstein, Britain, S. 94 f. 135 Zitat: Stammers, Civil Liberties, S. 39.

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Aliens empfahl Anderson daraufhin, Internierte freizusetzen, die sich im Kampf gegen den Nationalsozialismus und Faschismus engagiert hatten. Nach zwei „Weißbüchern“ (White Papers), die das Kabinett im August 1940 erließ, durften enemy aliens, die sich an den Kriegsanstrengungen Großbritanniens beteiligten, die Lager verlassen. Kritiker bezeichneten die Entlassungspolitik daraufhin als ausschließlich utilitaristisch, zumal die beiden White Papers Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ und dem faschistischen Italien nicht in die 18 Kategorien aufgenommen hatten.136 Jedoch wurden auch kriegsbeschädigte und behinderte Internierte freigesetzt. Darüber hinaus erlaubte ein weiteres, im Oktober veröffentlichtes White Paper den Lagerkommandanten, aus Deutschland und Italien geflohene und dennoch verhaftete Künstler und Intellektuelle zu entlassen. Damit durften politische Gegner der Regimes Hitlers und Mussolinis die Lager verlassen, allerdings nur, wenn sie sich öffentlich gegen die Diktaturen ausgesprochen hatten. Widerstand im Untergrund konnte aber kaum eindeutig belegt werden. Klarer war die Festlegung im dritten „Weißbuch“, Internierte freizusetzen, die sich zum Dienst in den Arbeitsbrigaden des Pionierkorps (Pioneer Corps), eines militärischen Hilfsdienstes, gemeldet hatten. Allerdings verwies das Innenministerium Ende 1940 weiterhin auf den Vorrang der „national security“ gegenüber einer humanitären Rücksichtnahme.137 Inzwischen hatte die Regierung auch für die italienischen Internierten ein Beratungskomitee (Advisory Commission) eingesetzt, das dem Innenministerium angegliedert war und von Sir Percy Loraine (dem ehemaligen Botschafter Großbritanniens in Rom) geleitet wurde. Die Kommission konnte dem Innenministerium Entlassungen allerdings nur empfehlen. Auch musste sie mit zahlreichen anderen Regierungsstellen zusammenarbeiten, die jeweils eigene Interessen und Ziele vertraten. Loraine weigerte sich, alle Mitglieder der PNF pauschal als gefährlich einzustufen. Darin wurde er vom britischen Außenministerium unterstützt, während die Leitung des MI5 entschieden widersprach und das Home Office zu vermitteln suchte. Loraine drohte deshalb wiederholt mit Rücktritt.138 Jedoch begünstigte die Lockerung der Internierungspolitik, die nach den Presseberichten über die Versenkung der Arandora Star und den Übergriffen auf der Dunera einsetzte, auch die italienischen Internierten. Ihre Zahl halbierte sich 136 So Lafitte, Internment, S. 157, 202. Vgl. auch Kushner / Knox, Refugees, S. 177; Pearle, Dunera Scandal, S. 50. 137 Kapp / Mynatt, Policy, S. 131–134; Ugolini, Experiencing War, S. 98; Panayi, Immigration, S. 108; Brinson / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 16. Zitat: Broschüre „Civilian Internees of Enemy Nationality“ (S. 6) des Home Office, in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures). 138 Sponza, Internment of Italians in Britain, S. 263.

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vom Herbst 1940 bis Januar 1942 von mehr als 4.000 auf rund 2.000. In den Camps konnten sich Italiener auch zur britischen Armee oder zum Pioneer Corps melden. Die italienische Kriegspropaganda unterstützten darüber hinaus Journalisten in der BBC-Abteilung „Radio London“ (Radio Londra), die zwar schon 1938 gegründet worden war, aber ab 1941 erheblich gestärkt wurde. Zunächst wurden vor allem Italiener der zweiten Generation entlassen. Im Sommer 1942 scheiterte zudem ein Vorstoß des britischen Außenministeriums, das dem Home Office vorschlug, den italienischen Internierten Zugeständnisse wie den Besitz von Radios zu entziehen, um damit Druck auf Mussolinis faschistisches Regime auszuüben und die Lebensbedingungen gefangener britischer Zivilisten in Italien zu verbessern. Im Anschluss an die Aufkündigung des Bündnisses mit dem „Dritten Reich“ und dem Waffenstillstand gegenüber den Alliierten vom 8. September 1943 konnten in den darauffolgenden 15 Monaten weitere 1.000 internierte Italiener zu ihren Familien zurückkehren. Insgesamt ging die Zahl der Insassen in den Internierungslagern bis zum Kriegsende auf 573 deutlich zurück. Davon waren 371 Seeleute, die als Kriegsgefangene behandelt wurden.139 Eine Sonderkategorie bildeten die politischen Gefangenen, die nach der Regulation 18B festgenommen worden waren. Ihre Zahl fiel von 1.450 im August 1940 auf 762 im Juli 1941 und 529 ein Jahr später. Ende 1942 waren noch 486 Personen auf der Grundlage der Verordnung interniert. Bis zum Abschluss der kommenden beiden Jahre ging die Zahl der Lagerinsassen auf 266 (1943) und 65 (1944) zurück. Bei vielen Entlassenen – darunter auch Frauen – handelte es sich um britische Faschisten, die im Camp Peel, im Internierungslager Latchmere House (in Richmond) und im Londoner Gefängnis Holloway untergebracht worden waren. In Latchmere House, wo sich auch eine Verhörzentrale des MI5 befand, erwiesen sich Klagen über eine zu harte Behandlung der Insassen und willkürliche Strafen bei einer Inspektion durch einen Ministerialbeamten des Innenministeriums als unbegründet.140 Im Gefängnis Holloway lösten Kritik am Verhalten des Kommandanten und Beschwerden über das rigorose Vorgehen der Wachmannschaften schon im Sommer 1941 eine Untersuchung der Haftbedingungen aus. Daran war auch Eleonor Rathbone beteiligt. Obgleich die Prüfung Korrekturen und Verbesserungen herbeiführte, klagten schwangere Frauen noch zwei Jahre später über Nahrungsmittelmangel. Offenbar sollte mit der Kritik, die nur teilweise berechtigt war, nicht zuletzt die zuständigen britischen Be-

139 Brinson / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 30; Colpi, Impact, S. 183; Ugolini, Memory, S. 422. Angaben nach: Sponza, Loyalties, S. 120 f., 146, 154, 164; ders., Internment of Italians in Britain, S. 264; Gottlieb, Civilian Internees, S. 54. 140 NA, HO 45/26011 (Brief vom 23. September 1940 und „Report of conditions prevailing at ‚Latchmere House‘“).

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hörden diskreditiert werden. Dennoch setzte die Regierung die britischen Faschisten sukzessive frei, als eine Invasion des Vereinigten Königreiches unwahrscheinlich geworden war. Dies begünstigte von 1940 bis 1943 besonders Internierte, die sich bei ihrer Anhörung vor der Advisory Commission klar von der BUF distanzierten oder offenkundig nach ihrer Freilassung eine erneute Festnahme befürchteten. Mosley wurde im November 1943 aus gesundheitlichen Gründen zusammen mit seiner Ehefrau entlassen. Er blieb aber bis zum Kriegsende unter Hausarrest. Der MI5 und die Polizeibehörden lehnten eine Entlassungswelle kategorisch ab, da ihnen die Gewährleistung der Sicherheit Großbritanniens oblag und die Beschneidung von Freiheitsrechten vergleichsweise gering schien. Zudem sollte Arbeit vermieden werden, die mit der Überwachung freigesetzter Internierter verbunden war. Ranghohe Beamte des Inlandsgeheimdienstes wie der spätere Generaldirektor Roger Hollis (1905–1973) gestanden aber zu, dass die politische Entscheidung ausschließlich das Innenministerium traf.141 Im Herbst 1940 wurden darüber hinaus die Standgerichte, deren Bildung das Kabinett im Sommer 1940 im Fall eines deutschen Angriffs auf das Vereinigte Königreich angekündigt hatte, zusehends abgelehnt. Damit waren die Fremdenfeindlichkeit und der Antisemitismus zwar keineswegs gebrochen. Angesichts der anhaltenden schweren Luftangriffe auf britische Städte wurden zudem weiterhin Repressalien gegen deutsche Zivilisten verlangt, die in Großbritannien lebten. Tendenziell vollzog sich seit Sommer 1940 aber eine Entsicherheitlichung. Nachdem bis Oktober schon 2.000 Internierte ihre Freiheit wiedergewonnen hatten, wurde bis Ende 1940 ein Drittel der internierten enemy aliens entlassen. Der MI5 und das Kriegsministerium bemühten sich zwar, den Prozess zu verzögern, konnten aber nicht verhindern, dass das Innen- und das Außenministerium die Internierungspolitik zusehends beeinflussten. Damit gewannen liberalere Kräfte erneut die Oberhand, so dass Anfang 1941 weitere Gruppen von Internierten freigelassen wurden, insbesondere Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ und Italiener. Einigen Entlassenen erlaubte die Regierung sogar die Ausreise in andere Länder. Allerdings durften sie dabei ihr Eigentum nicht mitführen. Internierten, die repatriiert wurden, gestanden die Behörden lediglich zu, ihre persönliche Lebensausstattung mitzuführen. Vor der Entlassung aus den Camps wurden sie von Polizisten gründlich untersucht, vor allem um ihnen Wertgegenstände und Geld zu entziehen.142

141 NA, HO 45/23653 (Schreiben vom 10. August und 10. November 1941 sowie vom 17. und 24. Februar 1943); LSF, FCRA/15 (Sitzung des Germany Emergency Committee, Aliens Section, vom 14. Januar 1941); Grant, Role, S. 506, 519, 521–524. 142 NA, CUST 106/855 (Schreiben vom 27. Januar 1941, 6. August 1943 und 23. September 1943); HO 215/459 (Memorandum vom 8. Juni 1944). Hierzu und zum Folgenden auch Kushner,

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Schon im November 1940 war die Zahl der Lagerinsassen um 7.000 zurückgegangen. Bis zum 8. Februar 1941 konnten insgesamt 9.081 deutsche und österreichische Männer und 1.031 Frauen die Lager verlassen. Bis März ging die Zahl der Internierten um insgesamt 12.500 und bis August um 17.745 zurück. Im Sommer 1941 mussten nur noch 1.300 Flüchtlinge in Internierungslagern leben. Im Oktober hatten 95 Prozent der Feindstaatenangehörigen, die in die Kategorien B und C eingruppiert worden waren, ihre Freiheit wiedergewonnen. Die Belegstärke der fünf Lager auf der Insel Man ging bis zum 1. September 1942 auf 575 Männer, 846 Frauen und 93 Kinder zurück. Die meisten Internierten waren in den Camps Hutchinson und Port Erin (hier besonders viele Frauen) untergebracht. Weitere Insassen wurden 1943/44 mit dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland gegen britische Gefangene ausgetauscht, so dass im April 1944 nur noch 25 Italiener interniert waren. Demgegenüber wurden deutlich mehr Deutsche zurückgehalten. Nachdem am 1. Mai 1943 noch 1.457 deutsche Internierte gezählt worden waren, ging diese Zahl bis zum 1. Januar 1944 auf 1.215 und bis zum 1. Mai 1945 auf 572 zurück. Die meisten deutschen Insassen wurden jeweils in den Lagern Hutchinson, Mooragh and Port Erin auf der Insel Man gezählt, wo die Moral der Internierten in den letzten Monaten des Krieges deutlich zurückging. Sie forderten ihre Freilassung und Repatriierung. Nur noch mühsam konnten die Kommandanten die Lagerinsassen der militärischen Disziplin unterwerfen. An der Freilassung, die nach dem Gegenseitigkeitsprinzip über Lissabon und Barcelona erfolgte, waren der Johanniterorden, mehrere nationale Sektionen des Roten Kreuzes und die Schweiz als Schutzmacht beteiligt. Allein im September 1944 wurden 600 internierte Zivilisten ausgetauscht, darunter auch Bürger der Dominions. Umgekehrt ging hier die Zahl der festgehaltenen Feindstaatenangehörigen bis Juni 1944 zurück, als noch 200 Deutsche und Österreicher in Australien und 180 in Kanada interniert waren.143

Clubland, S. 94 f.; Webster, Enemies, S. 72, 86; Holmes, Enemy Aliens?, S. 28; Sponza, Loyalties, S. 113 f.; Kochan, Internees, S. 121–123; Kapp / Mynatt, Policy, S. 137 f. 143 NA, HO 215/107 („Report on Aliens Internment Camps, Isle of Man“; P. G. Cambray / G. G. Briggs, Red Cross & St. John. The Official Record of the Humanitarian Services of the War Organisation of the British Red Cross Society and Order of St. John of Jerusalem 1939–1947, London 1949, S. 294–297 (Angabe: S. 297), 366 f. Angaben nach: NA, HO 215/456 (Tabellen für April 1943, Dezember 1943 und April 1945); FO 916/906 (Tabelle „Statement of German Internees“); Brinson / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 17; Panayi, Immigrants, S. 205; Seyfert, Niemandsland, S. 35; Andrew, Defence of the Realm, S. 230, 235; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 34; Brinson / Dove, Matter, S. 109 f.; Stammers, Civil Liberties, S. 67.

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Reaktionen auf die Entlassung von Internierten In der Bevölkerung traf die Rücknahme der rigorosen und pauschalen Internierung im Spätsommer auf erhebliche Unterstützung. Auch weil die Invasionsgefahr und die damit verbundenen Ängste allmählich zurückgingen, vollzog sich schrittweise eine Rückbesinnung auf freiheitliche und humanitäre Werte, die im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien zu einer Tradition der „Fairness“ in Großbritannien überhöht wurden. Der Stimmungswandel spiegelte sich in den Berichten des Informationsministeriums wider, dessen Abteilung für Home Intelligence schon am 29. Juli aus London meldete: „Sense of injustice reported among British citizens among districts where Italians ran small businesses at summary internment of people they had known for many years. Many are looking after Italian children whose parents had been interned without tribunal.“ Insgesamt wurden die italienischen Zivilisten rücksichtsvoller behandelt als die deutschen, deren (tatsächliche oder unterstellte) Bindung an den Nationalsozialismus als gefährlich galt. Ebenso einflussreich waren Vorurteile über Italiener, denen u. a. eine leichte Lebensart und geringe Kampfbereitschaft zugeschrieben wurden.144 Besonders gegen die Entscheidung des Innenministers Herbert Morrison (1889–1965), die Internierung Mosleys aufzuheben, demonstrierten viele Londoner vor dem Home Office. Nicht zuletzt schwächten die internen Konflikte über die Freilassung Mosleys aus der Internierung Ende 1943 die Bürgerrechtsorganisationen. Entgegen der langjährigen Opposition gegen die Eingriffe in grundlegende Freiheitsrechte lehnte der NCCL die Freisetzung des britischen Faschistenführers offiziell ab. Dagegen protestierten Liberale wie Dingle Foot (1905– 1978). Sie traten aus dem Verband aus, dessen Führung sie eine unkritische Unterstützung des Kommunismus vorwarfen. Der zunehmenden Hinwendung zu universellen Menschenrechten, die im NCCL die lange ausschließlich auf Großbritannien bezogene Orientierung an Bürgerrechten überlagerte, fehlte deshalb die organisatorische Basis.145 Noch entschiedener lehnte die CPGB die Entlassung des ehemaligen „Führers“ der BUF kategorisch ab. Ihr National Jewish Comittee, das im April 1943 gebildet worden war, organisierte vor allem in den östlichen Stadtvierteln eine Kampagne, die auch auf den linken Flügel der Labour Party ausstrahlte.146 144 Zitat: Addison / Crang (Hg.), Listening to Britain, S. 282. Vgl. auch Moore / Fedorowich, Prisoners of War, S. 8, 10. 145 Clark, Sincere and Reasonable Men?, S. 533 f.; Lilly, National Council for Civil Liberties, S. 48–55; Kidd, Liberty, S. 193, 251; Goldman, Defence Regulation18B, S. 134. 146 Henry Srebrnik, The British Communist Party’s National Jewish Committee and the Fight Against Anti-Semitism During the Second World War, in: Kushner / Lunn (Hg.), Politics, S. 82–

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Einzelne Parlamentsabgeordnete der Arbeiterpartei wie Pritt äußerten offen Vorbehalte gegen die Entscheidung ihres Innenministers, Mosley in Hausarrest zu überführen. Dabei argumentierten sie ebenso wie die führenden Vertreter des NCCL, dass Feinden der Demokratie keine demokratischen Freiheiten gelassen werden dürften. Das Exekutivkomitee der Labour Party lehnte die Freilassung des führenden britischen Faschisten ebenso ab wie der Dachverband der Gewerkschaften, der Trades Union Congress. Vorübergehend drohte sogar eine Regierungskrise, weil Arbeitsminister Ernest Bevin (1881–1951) mit seinem Rücktritt drohte, wenn Mosley dauerhaft aus der Haft entlassen würde. Zwar stimmten im Dezember 1943 im Unterhaus letztlich 327 Angeordnete (darunter Vizepremier Attlee, Anderson und Wilkinson) – bei 26 Gegenstimmen – für den Beschluss der Regierung. Auch der ehemalige Premierminister Lloyd George unterstützte Morrisons Entscheidung. Nicht zuletzt wegen des „Antifaschismus“ blieb die Mobilisierungskraft des Menschenrechtsdiskurses im Inselreich deshalb begrenzt, auch nach dem Zweiten Weltkrieg. So konnte die von Victor Gollancz (1893–1967), George Orwell und Arthur Koestler (1905–1983) gebildete League for the Freedom and Dignity of Man, deren linksliberale Aktivisten sich 1950/51 mit dem ehemaligen Direktor der Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union trafen, der Menschenrechtsdebatte kaum Impulse verleihen.147

Bilanz und Ausblick: die Beharrungskraft des Antisemitismus, der Fremdenfeindlichkeit und des Sicherheitsparadigmas Die Grenzen des Einflusses der Organisationen, die gegenüber der Sicherheitspolitik der Regierung auf einer Behandlung von Feindstaatenangehörigen und Minderheiten bestanden, zeigt auch die anhaltende Fremdenfeindlichkeit im 96, hier: S. 85–88; Aaron Goldman, The Resurgence of Antisemitism in Britain during World War II, in: Jewish Social Studies 40 (1984), Nr. 1, S. 37–50, hier: S. 40 f.; Gillman / Gillman, „Collar the Lot!“, S. 128 f.; Wasserstein, Britain, S. 94 f. Zum NCCL: Clark, Sincere and Reasonable Men?, S. 533 f.; Lilly, National Council for Civil Liberties, S. 48–55; Kidd, Liberty, S. 193, 251. Vgl. auch das Flugblatt der CPGB „Put Mosley Back in Prison“ (Wiener Library, London, 01b; 251/0508). 147 Moores, Civil Liberties, S. 169–171, 173–178, 184; Stammers, Civil Liberties, S. 79; Goldman, Defence Regulation 18B, S. 134 f. Zu Lloyd George die Eintragung vom 1. Dezember 1943 in: Colin Cross (Hg.), Life with Lloyd George. The Diary of A. J. Sylvester, London 1975, S. 320. Zur Regierungskrise die Eintragungen im Tagebuch des Handelsministers Hugh Dalton in: Ben Pimlott (Hg.), The Second World War Diary of High Dalton 1940–45, London 1986, S. 674–677. Vgl. auch Keith Harris, Attlee, London 1982, S. 228; Betty D. Vernon, Ellen Wilkinson, 1891–1947, London 1982, S. 191 f.

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Zweiten Weltkrieg. Iren wurden oft als „fünfte Kolonne“ der Deutschen betrachtet, obwohl die Republik neutral war. Ihre Regierung weigerte sich deshalb, Großbritannien die Häfen des Landes als Basen für die Schiffstransporte über den Atlantik zur Verfügung zu stellen. Als vier Jahre später Staatschef Éamon de Valera (1882–1975) auch die Forderung des britischen Kriegskabinetts zurückwies, die deutschen und japanischen Diplomaten aus Dublin auszuweisen, wuchsen im Vereinigten Königreich die Ressentiments gegen die hier lebenden Iren erneut. Diese wurden auch bezichtigt, die Sendungen von William Joyce zu hören, der vor 1922 in Galway gelebt hatte und seit 1940 für das NS-Regime in Berlin für den Reichsrundfunk arbeitete.148 Noch anhaltender war der Antisemitismus, der in Großbritannien auch während des Krieges gegen das nationalsozialistische Deutschland und nach der Internierung vieler Faschisten im Sommer 1940 keineswegs abbrach. Vor allem in den östlichen Stadtvierteln Londons hielten sich hartnäckig Ressentiments gegen Juden. Der Tod von Soldaten und Zivilisten, die Ängste während der deutschen Angriffe auf Großbritannien, die Evakuierung der Innenstädte und materieller Mangel infolge der Bewirtschaftungspolitik verliehen eingeschliffenen antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung so kräftig Auftrieb, dass sich der Board of Deputies im April 1942 besorgt zeigte. Er lehnte in Gesprächen mit der Leitung der BBC aber eine konzentrierte Kampagne gegen den Antisemitismus ab. Vielmehr sollte im Radioprogramm des Senders der Beitrag einzelner Juden zur Kriegführung Großbritanniens herausgestellt werden. Anhaltende Spannungen in der Kriegsgesellschaft nährten weiterhin antisemitische Vorurteile, die wiederholt offen aufflammten. Angeblich scheuten Juden die Gefahren des Wehrdienstes. Auch wurde ihnen schon seit dem Ersten Weltkrieg eine Neigung zu schreckhaftem, unkontrolliertem Verhalten unterstellt. So galten sie als verantwortlich für die Panik, bei der im März 1943 nach einem deutschen Luftangriff bei der U-Bahnstation Bethnal Green in London 173 Menschen ums Leben kamen. Die Sicherheitskräfte standen dieser Diskriminierung der jüdischen Minderheit weitgehend hilflos gegenüber.149 148 Webster, Enemies, S. 65, 71, 73, 77. Zu Joyce: Holmes, Lord Haw-Haw, S. 53, 182–198, 275– 290, und Dokumente in: Peter Martland, Lord Haw. The English Voice of Nazi Germany, Guildford 2003, S. 106–302. 149 Hierzu ausführlich: Tony Kushner, The Persistence of Prejudice. Antisemitism in British Society during the Second World War, Manchester 1989, bes. S. 48–77, 106–133, 188–202; ders., The Paradox of Prejudice: The Impact of Organised Antisemitism in Britain during an Anti-Nazi War, in: Kushner / Lunn (Hg.), Traditions, S. 72–90, hier: S. 78–87; Tony Kushner, Horns and Dilemmas. Jewish Evacuees in Britain During the Second World War, in: Immigrants and Minorities 7 (1988), Nr. 3, S. 273–291. Vgl. auch Webster, Enemies, S. 76; Ugolini, Experiencing War, S. 93. Angabe nach: Goldman, Resurgence, S. 42.

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Alles in allem blieb der Rekurs auf die „nationale Sicherheit“ in den Jahren von 1939 bis 1945 dominant. Noch unmittelbar nach dem Kriegsende betonte ein Oberst der britischen Armee: „Internment was affected on grounds of military security. Internment is not considered punishment, therefore an explanation to an internee is not incumbent upon the interning authority.“150 Als Maßnahme im Ausnahmezustand des totalen Zweiten Weltkrieges musste die Internierung damit nicht gesondert begründet werden. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg wurden auch einige Frauen und Kinder in Lager eingewiesen, besonders 1940.151 Zwar ließen Gerichte rechtliche Einsprüche zu; diese scheiterten aber ausnahmslos. So lehnte ein Revisionsausschuss des Oberhauses im November 1941 den Einspruch eines der Spionage verdächtigten britisch-jüdischen Geschäftsmannes, Robert Liversidge (1904–1994), eindeutig ab. Sie überließen dem Innenminister die Interpretation über die Klausel von den „nachvollziehbaren Gründen“ in der Defence Regulation 18B. Die Grundlage der Internierung war damit einer Überprüfung durch eine andere Instanz entzogen. Die Mehrheit der Lords folgte hinsichtlich der Entscheidung über die Maßnahmen, die sie zur Aufrechterhaltung der „nationalen Sicherheit“ für notwendig hielten, der Wahrnehmung des Home Secretary. Dagegen opponierte im Ausschuss des Oberhauses nur Lord Atkin (1867–1944), der argumentierte, dass der Rekurs auf den guten Glauben des Innenministers diesem eine präzedenzlose absolute Macht gewähren würde. Demgegenüber insistierte er in seinem abweichenden Votum auf der Gewaltenteilung und den Schutz bürgerlicher Freiheiten. Er verlangte von Innenminister Anderson objektive Belege für seine Gefahrenwahrnehmung. In seiner Kritik wurde Atkin unterstützt von einzelnen Juristen wie Sir Carleton Allen (1887–1966), der in der Ballung exekutiver Macht im Home Office eine Gefahr für die Bewahrung fundamentaler Bürgerrechte sah.152 Zwar wurde die Mehrheit der „inneren Feinde“ im Zweiten Weltkrieg – im Gegensatz zu den Jahren von 1914 bis 1918 – lediglich vorübergehend interniert. Im April 1944 waren in Großbritannien nur noch 25 Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich in Lagern. Auch blieben die Internierten wegen der Unterbringung in umgewidmeten Hotels und Pensionen näher am gesellschaftlichen Leben als im Ersten Weltkrieg. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der Wider-

150 NA, WO 204/12708 (Vermerk „Conditions in ‚R‘ Civilian Internee Camp“). 151 Mytum, Tale, S. 47. 152 Townshend, Peace, S. 125–127. Noch 1977 sprachen einflussreiche britische Richter wie Lord Alfred Denning ausschließlich dem Innenminister die Kompetenz zu, jeweils die Balance zwischen „nationaler Sicherheit“ und individueller Freiheit zu bestimmen. Vgl. Steyn, Guantanamo Bay, S. 4.

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spruch gegen die Unterdrückung von enemy aliens von 1914 bis 1918 deutlich geringer war als in den Jahren ab 1940.153 Dennoch verletzte die Internierung gravierend humanitäre Grundsätze und Freiheitsrechte der Betroffenen. So blieb der Haftbefehl gegen den Pazifisten Ben Greene (1901–1978), der sich der faschistischen British People’s Party angeschlossen und NS-Propaganda verbreitet hatte, in Kraft, obwohl er auf der Falschaussage eines MI5-Agenten beruhte. Auch waren 1945 noch 29.000 Deutsche und 12.000 Österreicher in ihrer Freiheit eingeschränkt. Insgesamt waren die Restriktionen, denen Feindstaatenausländer im Zweiten Weltkrieg in Großbritannien unterworfen wurden, aber weniger einschneidend als in dem vorangegangenen globalen Konflikt. So hatten 1944 42.597 Deutsche und Österreicher ein begrenztes und 14.138 ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht erhalten. Auch hob die Regierung die Notstandsgesetze nach dem Kriegsende auf. Dennoch ist die Sicherheitspolitik der britischen Regierung im Rückblick überwiegend kritisch beurteilt worden. Der Geheimdienst und das Kriegsministerium hatten die Gefahr einer „fünften Kolonne“ in Großbritannien im Sommer 1940 eindeutig übertrieben. Ronald Stent hat deshalb festgehalten: „…the internment of some thirty thousand Germans and Austrians, of whom the majority were Jews, victims of Nazi persecution, passionate enemies of Hitler and all he stood for, was unnecessary, wasteful, counterproductive and a blot on a page of history.“ Inzwischen erinnern in Großbritannien vielerorts Mahn- und Denkmäler an die Internierung. Jedoch hat sich die Regierung bislang nicht offiziell bei den Opfern des Untergangs der Arandora Star entschuldigt. 154 Zudem vollzog sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs eine umfassende Entsicherheitlichung. Vielmehr blieben einige Restriktionen in Kraft. Auch die Internierung von Verdächtigen ohne Gerichtsverfahren während der beiden Golfkriege (1991 bzw. 2003) und im „Krieg gegen den Terror“ seit 2001 weist deutliche Kontinuitäten zu ähnlichen repressiven Praktiken während der beiden Weltkriege auf. Nach den Anschlägen in den USA 2001 und in Großbritannien 2005 wurden im Vereinigten Königreich aber auch neue Gesetze erlassen, die so weitreichend waren, dass sie z. T. vom Oberhaus und Obersten Gericht zurückgewiesen worden sind.155

153 Mytum, Tale, S. 47–49. 154 Pistol, Enemy Alien, S. 51 f. Zitat: Stent, A Bespattered Page?, S. 261. Angaben nach: Ritchie, Refugees, S. 168. 155 Ewing / Gearty, Struggle, S. 396 f., 400–402, 410 f., 414 f.; Panayi, A Marginalized Subject?, S. 23. Angabe nach: Wasserstein, Britain, S. 108.

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6.2 Deutschland Das Notstandsrecht als Instrument zur Errichtung der NS-Diktatur Im Rückblick bereitete das Denken in Kategorien des Notstands in Deutschland einem Ordnungs- und Sicherheitsdenken den Weg, der letztlich in die Machtübertragung an die Nationalsozialisten mündete. Die Semantik „nationalen Verrats“ und die Feindbilder, die sich angesichts der „totalen“ Kriegführung von 1914 bis 1918 verbreitet hatten, wurden nach dem Ersten Weltkrieg über die paramilitärischen Verbände (besonders die Freikorps) hinaus von breiten gesellschaftlichen Gruppen fortgeschrieben und verfestigt. Die Nationalsozialisten griffen die Verteufelung „innere Feinde“ begierig auf und radikalisierten sie weiter. Sie wandten sich damit gegen die Weimarer Republik, die auch die Gegenüberstellung von „Herrschaftsordnung“ und „Volksordnung“ diskreditieren und ihrer Legitimität berauben sollte. Am 30. Januar 1933 hatte die NS-Führung mit Unterstützung ihrer konservativen Bündnispartner dieses Ziel erreicht.156 Die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ („Reichstagsbrandverordnung“), die am 28. Februar 1933 Grundrechte im Namen der Sicherheit und mit Hinweis auf einen Notstand suspendierte, ist schon von zeitgenössischen Beobachtern wie dem Juristen und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel (1898–1975) als heimliche Verfassung des „Dritten Reiches“ bezeichnet worden.157 Indem sie die Entscheidung über den Ausnahmezustand der neuen Regierung übertrug, wurde sie zum „Einfalltor zur Diktatur“.158 Die „Reichstagsbrandverordnung“, welche die Weimarer Reichsverfassung aushöhlte, aber formal nicht beseitigte, diente offiziell der „Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“. Sie ermächtigte die Sicherheitsbehörden aber zu direkter politischer Unterdrückung von Oppositionellen. So konnte die Polizei gegen Regimegegner ohne Bezug zu einem konkreten Tatbestand eine „Schutzhaft“ verhängen, die sich richterlicher Kontrolle entzog. Zudem hatten die Verhafteten kein Recht auf anwaltlichen Beistand.159 Darüber hinaus wurde 156 Diesen Gegensatz konstruierte vor allem der Staatsrechtler Ernst Forsthoff. Vgl. zusammenfassend Wolfgang Benz, Der Aufbruch in die Moderne. Das 20. Jahrhundert (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 18), Stuttgart 2010, S. 1–169, hier: S. 60 f. 157 Zu Fraenkels Deutung der „Reichstagsbrandverordnung“ als „constitutional charter of the Third Reich“: Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat. Recht und Justiz im Dritten Reich, Frankfurt/M. 1974, S. 3. 158 Hans-Ulrich Thamer, Adolf Hitler, Biographie eines Diktators, München 2018, S. 169. Vgl. auch Wachsmann, KL, S. 43; Longerich, Hitler, S. 305. 159 Zitat: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Beseitigung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, München 1983,

6.2 Deutschland 

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die „Gleichschaltung“ der Länder im März und April mit dem Hinweis auf anhaltende Unsicherheit gerechtfertigt, so die Einsetzung des Nationalsozialisten Franz Ritter von Epp (1868–1947) als Generalstaatskommissar in Bayern am 9. März. Nach der offiziellen Begründung waren die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ gefährdet.160 Mit einem Notstand rechtfertigte die NS-Führung auch die Aufhebung der Gewaltenteilung im „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März 1933.161 Die „Schutz-“ und „Vorbeugungshaft“ war nicht nur im Ausnahmezustand und im Polizeirecht verwurzelt, sondern auch in Bemühungen um eine Strafrechtsreform, die seit dem späten 19. Jahrhundert auf eine Erweiterung des Sicherheitsverständnisses zielte. Damit ging ein Wandel „von der Vergeltung vergangenen Unrechts hin zur Abwehr künftiger Gefahren“ einher. Diese Verschiebung, zu der die Reichstagsbrandverordnung kräftig beitrug, zielte auf eine präventive Verbrechensbekämpfung. Dazu wurden Randgruppen wie Zuhälter nicht nur als „Asoziale“, sondern auch als „Berufsverbrecher“ bestraft.162

Repressionspolitik und Konzentrationslager bis 1939 Damit einhergehend, wurden im Frühjahr 1933 unter dem Vorwand der Sicherheit rund siebzig Lager für rund 30.000 Gefangene eingerichtet. Sie wandelten sich im „Dritten Reich“ zwar erheblich, denn im Gegensatz zu den Jahren ab 1938 nahmen sie nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ zunächst vorrangig politische Gegner, aber nur wenige Juden auf. Jedoch hatte sich der Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft seit dem späten 19. Jahrhundert verbreitet. Er war nationalistisch, sozialdarwinistisch oder rassistisch begründet, mit dem traditionalen, vorrangig religiös motivierten Antijudaismus aber verbunden, vor allem durch das pauschale Feindbild „des Juden“.163 S. 107. S. 107. Vgl. auch Peter Longerich, Hitler. Biographie, München 2017, S. 308, 215; Martin H. Geyer, What Crisis? Speculation, Corruption, and the State of Emergency during the Great Depression, in: Bulletin of the German Historical Institute 55 (2014), S. 9–35, hier: S. 12, 24 f., 28 f., 34; Müller, Soldaten, S. 44, 50; Longerich, Hitler, S. 315. Vergleichend: Tim Müller / Adam Tooze (Hg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburg 2015. 160 Falk Wiesemann, Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern 1932/33, Berlin 1975. Zitat: Longerich, Hitler, S. 308. 161 Raphael, Gewalt, S. 191. 162 Julia Hörath, Zuhälter im Visier der Kriminalpolizei. „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ im Reich und in Bremen 1933 bis 1938, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 68 (2020), S. 375–406, hier: S. 376 (Zitat), 377 f., 391, 402–404. 163 Wachsmann, KL, S. 31 f., 205, Herbert, Geschichte, S. 324, 340; Longerich, Hitler, S. 315; Manz / Panayi, Enemies, S. 39. Zum Verhältnis von Antijudaismus und Antisemitismus: Kümmerle, Holocaust, S. 24–27.

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In den frühen 1930er Jahren hatten die Nationalsozialisten ihre antisemitische Propaganda zwar zurückgenommen, um auch Bevölkerungsgruppen zu gewinnen, die den Hass auf die Juden nicht teilten. Dennoch erwarteten viele Anhänger der NSDAP ein entschiedenes Vorgehen gegen die rund eine halbe Million deutschen Juden, die dies ihrerseits auch befürchteten. Bis 1935 beschränkten sich die nationalsozialistischen Machthaber aber auf einzelne Maßnahmen, so den Boykott jüdischer Geschäfte, Arztpraxen, Banken und Kanzleien am 1. April 1933 und das „Berufsbeamtengesetz“, das sechs Tage später veröffentlicht wurde und die Entlassung jüdischer Beamter (mit Ausnahmen von „Frontkämpfern“ des Erden Weltkrieges) ermöglichte.164 Ein Gesetz vom 14. Juli 1933 legalisierte die Ausbürgerung von NS-Gegnern, die ins Ausland geflohen waren. Ab Sommer wurden rund 30.000 Emigranten die deutsche Staatangehörigkeit entzogen. Die Behörden im „Dritten Reich“ widerriefen darüber hinaus Einbürgerungen.165 Jedoch war die Politik der Nationalsozialisten vor allem gegenüber den deutschen Juden zunächst widersprüchlich und inkonsistent. So wurde der „Judenboykott“ im Frühjahr 1933 vor allem angesichts der Proteste im Ausland und auch der Missbilligung vieler Deutscher schon innerhalb weniger Stunden abgebrochen. Jedoch gingen NS-Aktivisten in den einzelnen Gemeinden weiterhin oft spontan gewaltsam gegen Juden vor, so im Frühjahr 1935 in Berlin auf dem Kurfürstendamm. Dabei teilten sie das übergeordnete Ziel der NS-Führung, die jüdische Minderheit aus Deutschland zu vertreiben. Wiederholt befeuerten oder bremsten Eingriffe zentraler Instanzen die Dynamik der Übergriffe. Bis in die Mitte der 1930er Jahre hatten die NS-Machthaber zudem mit dem Netz der Konzentrationslager einen dauerhaften Internierungsapparat errichtet, der nicht der Rechtsprechung unterlag. Freilassungen bedrohten aus der Sicht Heinrich Himmlers (1900–1945), der am 17. Juni 1936 zum Chef der Deutschen Polizei ernannt werden sollte, die Sicherheit des Reiches. Um die zentrale Kontrolle zu stärken, wurden nach der Beseitigung der politischen Opposition neue, angeblich unsichtbare „Feinde“ wie Juden, Bolschewisten, Homosexuelle, Priester und Freimaurer konstruiert, um die Verfolgung dieser Gruppen durch eine „kämpferische“ Polizei zu rechtfertigen, die nicht mehr an gesetzliche Beschränkungen gebunden war und im permanenten Ausnahmezustand

164 Angabe nach: Kümmerle, Holocaust, S. 32. Vgl. auch Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2010, S. 175, 192, 252–257; Herbert, Geschichte, S. 324–327. 165 Longerich, Hitler, S. 335, 346.

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agierte. „Sicherheit“ war damit ein Vorwand zur Legitimation polizeilicher Willkür und letztlich der rassistischen Politik des NS-Regimes.166 Das „Wechselspiel zwischen Radikalisierung an der Basis, anschließender Mäßigung durch Partei- oder Regierungsstellen und nachfolgender Legalisierung“, das die nationalsozialistische Judenpolitik im Allgemeinen bis in die späten dreißiger Jahre kennzeichnete, erreichte mit den „Nürnberger Gesetzen“ ihren vorläufigen Höhepunkt.167 Sie wurden auf dem Reichsparteitag der NSDAP am 15. September 1935 erlassen und entzogen den Juden im „Reichsbürgergesetz“ die staatsbürgerliche Gleichstellung, die ihnen in Preußen mit einem Edikt vom 11. März 1812 und im neugegründeten Deutschen Reich mit der Verfassung vom 16. April 1871 gewährt worden war. Demgegenüber waren ab September 1935 nur noch „deutschblütige“ Menschen „Reichsbürger“. Auch das Verbot von „Mischehen“ und Strafen bei Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und Juden diskriminierten offen die Minderheit, deren Pässe zudem mit einem besonderen Stempel versehen wurden. Auch wenn der Umgang mit Angehörigen von „Mischehen“ bis zum Ende des „Dritten Reiches“ unklar blieb, hatte das NS-Regime die Juden mit dem Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt. Schon in den ersten Jahren der NS-Diktatur ging die Unterdrückung „innerer Feinde“ mit der Integration der „Volksgenossen“ einher.168 Obgleich die NS-Führung im Sommer 1936 ihre antisemitische Politik zumindest oberflächlich entschärft hatte, um negative Publizität während der Olympischen Spiele in Berlin zu vermeiden, trieb es die Diskriminierung der Juden weiter voran. Die Minderheit, deren Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und Räumen schrittweise eingeschränkt wurde, lebte in der deutschen Gesellschaft deshalb schon vor der Reichspogromnacht zusehends isoliert. Auch wurde sie seit 1936 beschleunigt ihres Eigentums beraubt. Die „Entjudung“ der deutschen Wirtschaft mündete schließlich in die „Arisierung“ des jüdischen Vermögens. Diesen Prozess beschleunigten Parteistellen und staatliche Behörden nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938, mit dem die Machthaber des „Dritten Reiches“ weitere 201.000 bis 214.000 Juden (nach der Definition 166 Robert Gerwarth, Reinhard Heydrich. Biographie, München 2013, S. 113–117; Longerich, Himmler, S. 189, 201–210, 217; Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2007, S. 423–434; Wachsmann, KL, S. 113, 117. 167 Herbert, Geschichte, S. 327. 168 Kümmerle, Holocaust, S. 33–35; Kushner / Knox, Refugees, S. 132; Longerich, Hitler, S. 455. Umfassend hierzu die Beiträge zu Frank Bajohr / Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2009, sowie Yfaat Weiss, Staatsbürgerschaft und Ethnizität. Deutsche und polnische Juden am Vorabend des Holocaust, München 2000, bes. S. 11, 34–45.

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der „Nürnberger Gesetze“) kontrollierten, und der Reichspogromnacht vom 9. zum 10. November 1938. Zudem löste die Zerstörung von rund 7.500 Geschäften, die Juden gehörten, ihrer Wohnungen und 267 Synagogen oder Gemeindehäuser eine weitere Fluchtwelle aus, nachdem schon bis Ende 1937 rund 125.000 Juden (ein Viertel der Minderheit) Deutschland verlassen hatten. Die rund 80.000 weiteren Auswanderer, die in den Monaten zwischen der Reichspogromnacht und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges flohen, mussten eine „Reichsfluchtsteuer“ entrichten.169 Bei der erzwungenen Angliederung des Sudetenlandes berief sich das NSRegime auf den Grundsatz einer humanitären Intervention zugunsten der deutschen Minderheit, deren Sicherheit hergestellt werden sollte.170 Nach dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938 und der Annexion der „RestTschechei“ im März 1939 erfasste die Vertreibungs- und Enteignungspolitik der Nationalsozialisten große Bevölkerungsgruppen, darunter auch weitere Zehntausende von Juden. Überdies war am 11. Februar 1939 die „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ gegründet worden. Hitler hatte den Vertreibungsdruck mit einer Reichstagsrede am 30. Januar 1939 erhöht, in der er den Juden im Falle eines neuen Weltkrieges ihre „Vernichtung“ angedroht hatte.171 Nachdem die jüdischen Flüchtlinge in den ersten Monaten nach der „Machtergreifung“ noch auf eine Rückkehr in ihre Heimat gehofft und deshalb vorwiegend in den Nachbarländern Zuflucht gesucht hatten, bemühten sie sich in den späten 1930er Jahren auch zunehmend um Aufnahme in Ländern, die weiter von Deutschland entfernt waren. Allerdings erhöhten Staaten wie Großbritannien und die USA die Barrieren gegen die Immigranten, die wegen der Ausplünderung im „Dritten Reich“ zudem weitgehend mittellos waren. Auch die Juden, die in Deutschland zurückblieben, litten unter Armut und Isolation. 1939 waren 75 Prozent von ihnen älter als vierzig Jahre. Alles in allem bestätigten sie damit ungewollt die antisemitischen Vorurteile, die von den NS-Machthabern verbreitet wurden.172

169 Angaben nach: Kümmerle, Holocaust, S. 35; Herbert, Geschichte, S. 328, 384 f. 170 Swatek-Evenstein, History, S. 177 f. 171 Auf diese Erklärung sollte Hitler im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wiederholt Bezug nehmen, so in seinen Reden am 30. Januar, 8. November und 12. Dezember 1941 sowie am 30. Januar 1942. Vgl. Longerich, Hitler, S. 634–636, 680, 757 f., 828, 892. 172 Kümmerle, Holocaust, S. 36, 122–125; Herbert, Geschichte, S. 384–386; Kundrus, „Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg“, S. 57.

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Die Verfolgung „innerer Feinde“ im Zweiten Weltkrieg Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges verstärkte das NS-Regime seine Repressionspolitik im Namen der Sicherheit. Das Kriegsstrafrecht wurde mit dem Ausnahmezustand gerechtfertigt. Am 3. September 1939, als Großbritannien und Frankreich dem nationalsozialistischen Deutschland den Krieg erklärten, drohte Hitler „Volksschädlingen“, welche angeblich die „Heimatfront“ schwächten, offen mit Vernichtung. Er wies Himmler an, die Sicherheit im Deutschen Reich zu bewahren. Dazu waren ausdrücklich alle Mittel anzuwenden. So ermächtige die Verordnung gegen „Volksschädlinge“ vom 5. September 1939 Richter, Höchststrafen erheblich zu verschärfen. Nach einem Erlass zur Sicherheit des Reiches vom 9. September 1939 waren alle Personen zu verhaften und zu internieren, welche die Kampfbereitschaft der Bevölkerung untergruben. Vor allem das am 27. September 1939 gegründete Reichssicherheitshauptamt (RSHA), dem unter Reinhard Heydrich (1904–1942) die Sicherheitspolizei und der Sicherheitsdienst der NSDAP unterstellt wurde, sollte einen neuen „Dolchstoß“ verhindern, der aus der Sicht der NS-Machthaber, aber auch vieler konservativer Eliten die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg verursacht hatte. Als „Staatsschutzkorps“ konzipiert, wuchs das RSHA im Krieg so schnell, dass es schließlich 3.000 Beschäftigte umfasste. Sie sollten als „politische Kämpfer“ die unablässig beschworenen Gefahren beseitigen und „Feinde“ präventiv ausschalten. Innere und äußere Sicherheit waren in der nationalsozialistischen Weltanschauung und Propaganda eng miteinander verschränkt.173 Vor allem gegen Juden richtete sich diese innere Kriegserklärung. Sie wurden in den späten dreißiger Jahren weiterhin ausgewiesen, aber auch deportiert. Nach dem Angriff auf Polen stigmatisierte eine Richtlinie zum Erlass Hitlers zur „Festigung deutschen Volkstums“ vor allem die jüdische Minderheit erneut zu einem Sicherheitsrisiko. Sie verlangte die „Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten.“174 Zur Ermordung dieser „Feinde“ wurden in Polen gesonderte „Einsatzgruppen“ der SS und der Sicherheitsdienste eingesetzt. Nachdem im Oktober 1939 erstmals Män173 Wachsmann, KL, S. 235, 256; Gerwarth, Heydrich, S. 202, 207 (Angabe); Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 309; Longerich, Himmler, S. 211–261; ders., Hitler, S. 689; Hörath, Zuhälter, S. 404–406. Zum prägenden Einfluss der Dolchstoßlegende im Militär exemplarisch: Johannes Hürter, Einführung, in: ders. (Hg.), Notizen aus dem Vernichtungskrieg. Die Ostfront 1941/42 in den Aufzeichnungen des Generals Heinrici, Darmstadt 2016, S. 7–21, hier: S. 12 f. 174 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 3: Deutsches Reich und Protektorat September 1939 – September 1941, Berlin 2012, S. 116. Zitat: Kümmerle, Holocaust, S. 41.

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ner aus Wien, Mährisch-Ostrau und Kattowitz nach Nisko am San verschleppt worden waren, setzten im Februar 1940 Deportationen aus dem „Altreich“ ein. Diese wurden in anderen Staaten aufmerksam verfolgt. So wurde im britischen Oberhaus schon Anfang 1940 eine Zwangsumsiedlung von Deutschen nach dem Ende des Krieges gefordert. Auch der „Madagaskar-Plan“, den das Referates D III des Auswärtigen Amtes im Sommer 1940 vorlegte, zeigt die Absicht der NS-Führung, die Juden zu isolieren und damit die (rassistisch bestimmte) Sicherheit der „Volksgemeinschaft“ zu gewährleisten. Letztlich scheiterte eine Deportation auf die ostafrikanische Insel aber. Dafür wurden die deutschen Juden vorrangig in das „Generalgouvernement“ verschleppt, das im Herbst 1939 im besetzten Polen eingerichtet worden war. Viele dieser Opfer wurden erschossen oder – ab 1941 – vergast. Exekutionen vollzogen sich aber auch in den baltischen Staaten, besonders in Lettland und Litauen.175 Ab September 1941 mussten die deutschen Juden einen diskriminierenden Stern tragen, zumal sie der Unterstützung der Kriegsgegner verdächtigt wurden. In Polen, wo nach dem deutschen Angriff nahezu zwei Millionen Juden unter die Herrschaft der Nationalsozialisten geraten waren, und in anderen Regionen Ostmitteleuropas wie der Slowakei begann die Masseninternierung der Juden, zunächst in Ghettos und anschließend in Konzentrationslagern (KZ). So befanden sich im Warschauer Ghetto im März bereits 450.000 Juden. Die schnelle Eroberung weiter Gebiete in der westlichen Sowjetunion nach dem deutschen Angriff, der am 22. Juni 1941 begann und offiziell der „Sicherheit des Reiches“ diente, schien der NS-Führung die Möglichkeit zu eröffnen, die Juden in diesen Raum zu verschleppen.176 Führende Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels (1897–1945) rechtfertigten die Deportationen, die ab 1941 sprunghaft zunahmen, als Schutzmaßnahme gegen die gebetsmühlenartig beschworene „jüdische Weltverschwörung“.177 Der Übergang zum Holocaust (als systematische Ermordung) wurde offenbar zwischen September und Mitte Dezember 1941 beschlossen, als der „Blitzkrieg“ gegen die Sowjetunion scheiterte, im besetzten Polen Vernichtungslager eingerichtet wurden und die Kriegserklärung an die USA erfolgte. Überdies verbot das NS-Regime im Oktober 1941 die Auswanderung von Juden. Die „11. Ver-

175 Vgl. Seev Goschen, Eichmann und die Nisko-Aktion im Oktober 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 74–96; Kundrus, „Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg“, S. 77 f., 85 f., 102; Longerich, Hitler, S. 699. Zusammenfassend auch: Kümmerle, Holocaust, S. 42–45. 176 So General Fedor von Bock am 9. November 1941, zit. nach Kundrus, „Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg“, S. 142. 177 Peter Longerich, Joseph Goebbels. Biographie, München 2012, S. 488 f., 498.

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ordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 25. November 1941 entzog Geflohenen schließlich ihre deutsche Staatsangehörigkeit. Juden, andere Minderheiten und Oppositionelle galten als „innere Feinde“, die den gegnerischen Mächten gleichgestellt wurden, obwohl sie sich nicht wehren und kaum schützen konnten. Diese Politik erstreckte sich zusehends auch auf die besetzten Gebiete der Sowjetunion, mit deren „polizeiliche[n] Sicherung“ Hitler am 17. Juli 1941 Himmler beauftragt hatte.178 Hier radikalisierten die Wehrmacht und die Waffen-SS zusehends ihren Kampf gegen sowjetische Soldaten und Zivilisten, die oft pauschal als Partisanen, Verräter und kommunistische Kommissare galten. Die NS-Propaganda steigerte gezielt den Hass auf „Feinde“, zu denen Juden ebenso wie andere Zivilisten zählten. Die extreme Gewalt war aber nicht nur der nationalsozialistischen Rassenideologie geschuldet, sondern auch der Angst vor einer Niederlage und dem Zeitdruck, der sich aus der militärischen Planung ergab. Überdies trug die rücksichtslose Kriegführung der Roten Armee zu der Eskalationsdynamik bei. Nicht zuletzt beeinflussten Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und der anschließenden Bürgerkriege das Ziel der deutschen Militärs, in den besetzten Gebieten der UdSSR „Sicherheit“ herzustellen, und das damit verbundene brutale Vorgehen der Truppen und Polizeieinheiten gegen die Zivilbevölkerung.179 Der Massenmord an den Juden, die als besonders gefährliche Feinde verteufelt wurden, war mit der Steigerung der Gewalt an der Front und in den besetzen Gebieten der Sowjetunion verflochten. Der Holocaust resultierte auch aus dem Druck in den Deportationsgebieten, wo regionale Machthaber – besonders Hans Frank (1900–1946) im „Generalgouvernement“ – eine Abschiebung zugewiesener Juden forderten. In ganz Europa wurde ein System von Durchgangslagern etabliert. Im März 1942 setzten schließlich die Massendeportationen nach Auschwitz ein. Hitler erklärte am 22. Mai 1942, dass Deutschland im Osten „nationale Sicherheit“ finden werde. Der Übergang zum Genozid wurde in anderen Ländern nur schrittweise bewusst, da Konzentrationslager grundsätzlich schon

178 Führer-Erlasse 1939–1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, zusammengestellt und eingeleitet von Martin Moll, Stuttgart 1997, Nr. 100, zit. nach: Longerich, Hitler, S. 799. Vgl. auch Kümmerle, Holocaust, S. 58–61; Kundrus, „Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg“, S. 213. 179 Mark Edele / Michael Geyer, States of Exception. The Nazi-Soviet War as a System of Violence 1939–1945, in: Sheila Fitzpatrick / Michael Geyer (Hg.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, New York 2009, S. 345–395, bes. S. 348, 352–356, 365, 367, 373 f., 377, 394.

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seit der Jahrhundertwende bekannt und die neue Qualität der Vernichtungslager zunächst verborgen blieb.180

Ausbürgerung, Internierung und Ermordung Im Gegensatz zur Reichsleitung im Ersten Weltkrieg betrachtete das NS-Regime Deutsche, die ausgewandert oder geflohen waren, nicht mehr als Reichsbürger. Die Verbindung zwischen Herkunft und Nation wurde damit ebenso gelöst wie der Zusammenhang von Bürgerschaft und Zugehörigkeit zur Menschheit. Der Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel hat diesen Prozess auf den Aufstieg des „Maßnahmenstaates“ zurückgeführt, der den überlieferten Normenstaat bereits seit 1933 überlagert hatte und im Zweiten Weltkrieg beschleunigt durchgesetzt wurde.181 Die Repressionspolitik und der Ausschluss der verfemten Minderheiten aus der „Volksgemeinschaft“ beeinflussten auch das Staatsbürgerschaftsrecht der Länder, in denen Verfolgte zumindest vorübergehend Zuflucht fanden. So galten jüdische Flüchtlinge hier weiterhin als deutsche Bürgerinnen und Bürger, denn die „Nürnberger Gesetze“ waren staatsrechtlich keine Ausbürgerung. Damit wurden viele Geflohene nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges in Ländern, die gegen das Deutsche Reich kämpften, als Feindstaatenangehörige interniert. Besonders westliche Staaten wie Großbritannien und die USA erkannten auch die Verordnung zur Ausbürgerung vom 25. November 1941 nicht an. Die britischen Kronjuristen gestanden zwar zu, dass ausgebürgerte Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ mit der Verordnung praktisch staatenlos geworden waren; sie argumentierten aber, dass diese Vertriebenen rechtlich weiterhin als enemy aliens gelten könnten. So teilte Herbert Morrison dem Foreign Office noch am 6. Juli 1942 mit, dass auch geflohene Deutsche weiterhin interniert werden könnten. Diese Auffassung teilte das Kolonialministerium, das die Flüchtlinge

180 Zitat: Longerich, Hitler, S. 860. Vgl. auch Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt/M. 2006; Kümmerle, Holocaust, S. 37–61; Wachsmann, KL, S. 271–279, 342–359, 342 (Angabe: S. 277); Pitzer, Night, S. 254; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 17; Ther, Seite, S. 164 f. Zum militärgeschichtlichen Hintergrund der Überblick in: Schreiber, Der Zweite Weltkrieg, S. 25–29, 55–76. 181 Dazu Fraenkel, Dual State, S. XIII: „By the Prerogative State we mean that governmental system which exercises unlimited arbitrariness and violence unchecked by any legal guarantees, and by the Normative State an administrative body endowed with elaborate powers for safeguarding the legal order as expressed in statutes, decisions of the courts, and activities of the administrative agencies.“ Vgl. zum Ausnahmezustand allgemein auch Giorgio Agamben, Homo Sacer: Sovereign Power and Bare Life, Stanford 1998, S. 126, 130 f.

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ausdrücklich nicht als Staatenlose einstufte und die Gouverneure der Kolonien deshalb am 22. Juli anwies, die Verordnung des NS-Regimes zum Reichsbürgergesetz zu ignorieren und grundsätzlich an der Internierungspolitik festzuhalten. Allerdings sollten in den Kolonien – ebenso wie im Vereinigten Königreich – vor allem deutsche und österreichische Flüchtlinge aus Lagern entlassen werden, wenn sie in Überprüfungen vom Verdacht der Illoyalität, Spionage und Subversion entlastet worden waren.182 Wie hier deutlich wird, wirkte sich die Unterdrückung im „Dritten Reich“ auch auf die Internierungspolitik der Regierungen von Staaten aus, die im Zweiten Weltkrieg nicht vom nationalsozialistischen Deutschland besetzt wurden. Noch enger waren Unterdrückung und Internierung im NS-Staat miteinander verflochten, wo Joseph Goebbels nach seiner Ernennung zum „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“ (am 13. März 1933) die Indoktrination erheblich verstärkt und erweitert hatte. Mit den „Nürnberger Gesetzen“ war die deutsche Staatsbürgerschaft auch offiziell an die Zugehörigkeit zur „arischen“ Rasse gebunden. Damit einhergehend, nahm die Dämonisierung von „Fremdrassigen“ zu. Ende 1938 erhielt Goebbels nach einer Vereinbarung mit dem neuen Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel (1882–1946), auch weitreichende Kompetenzen in der militärischen Propaganda. Noch rasanter war der Aufstieg Heinrich Himmlers, der nach der Ernennung zum „Reichsführer SS“ und „Chef der deutschen Polizei“ (am 17. Juni 1936) gebetsmühlenartig die Sicherheit des Reiches gegenüber „Feinden“ beschwor. Zur präventiven Verbrechensbekämpfung wurde verstärkt willkürlich „Schutzhaft“ verhängt. Auf dieser Grundlage verstärkte Himmler ab 1939 die Militarisierung der „Volksgemeinschaft“, die im Vernichtungskrieg vollends rassistisch verstanden und gefasst wurde. Demgegenüber war die Ordnungs- und Sicherheitsfunktion des Militärs deutlich schwächer als noch in den Jahren von 1914 bis 1918.183 In diesem politisch-institutionellen Rahmen mussten sich zivile Feindstaatenangehörige – so Briten und Franzosen – nach dem Kriegsbeginn zunächst von den Ortspolizeibehörden registrieren lassen. Sie waren verpflichtet, sich dort regelmäßig zu melden. Eine Verordnung vom 5. September 1939, die den Umgang mit Ausländern regelte, schränkte auch ihre Mobilität ein. Vor allem jedoch ermächtigte der Erlass die Kreispolizeibehörden, Feindstaatenangehörige zu verhaften und in Konzentrationslagern (KZ) zu internieren. Gegen diese Maßnahme hatten die Betroffenen kein Widerspruchsrecht. Kreispolizeibehör182 NA, FO 383/430 (Schreiben vom 6. Juli, 22. Juli und 23. Dezember 1942); CO 968/64/11 (Vermerk vom 4. Mai 1942). Umfassend: Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 265. 183 Deist, Militär, S. 386–388; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 265–270; Longerich, Hitler, S. 474 f.

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den durften ohne Rechtsgrundlage die Internierung von Feindstaatenangehörigen anordnen. Insgesamt wurden 1939/40 vor allem Polen in die KZ eingeliefert. Hier entstanden ab 1941 im „Generalgouvernement“ die qualitativ neuen Vernichtungslager, zunächst Chełmno (bei Lódz), Sobibor und Treblinka, bevor sukzessive der große Lagerkomplex in Auschwitz erweitert wurde. Hier wurden außer den Juden 1943/44 auch Sinti und Roma ermordet. Die Häftlinge starben nicht nur in den Gaskammern, sondern auch bei Menschenversuchen. Einzelne Insassen überlebten nur vorübergehend, weil die SS und deutsche Unternehmen – so IG Farben im Konzentrationslager Auschwitz III-Monowitz – sie rücksichtslos als Arbeitskräfte ausbeuteten.184 Demgegenüber erfasste die Internierung zunächst nur wenige Hunderte Briten und Franzosen. Jedoch wurden einzelne englische Frauen, die das Nachrichtenprogramm der BBC gehört oder in ihren Äußerungen für Großbritannien Partei ergriffen hatten, in das KZ Ravensbrück eingewiesen. Andere britische Zivilisten internierte das NS-Regime in drei Lagern in Baden und Württemberg, die regelmäßig vom IKRK inspiziert wurden. Das Komitee strebte zumindest einen Besuch jährlich an. Die Insassen – überwiegend Briten – wurden mit Hilfsleistungen des Roten Kreuzes versorgt, das dazu schwedische Schiffe einsetzte. Ein Vorschlag, die alliierten Staaten um den Transport zu bitten, wurde 1944 abgelehnt.185 Nach Wurzach und Biberach (Württemberg) wurden 1942 rund 2.200 Bewohner der besetzten britischen Kanalinseln verschleppt. Ledige Männer internierten die Behörden in einem Camp im bayerischen Laufen, wo sie zusammen mit US-Amerikanern untergebracht wurden. Einige ledige Frauen, die auf den Kanalinseln gelebt hatten, transportierten die NS-Machthaber im weiteren Verlauf des Krieges zu einem Schloß in der württembergischen Gemeinde Liebenau (nahe Tettnang). Hier trafen sie auf Gefangene diverser anderer Nationen. Die Internierung der Briten hatte Hitler bereits im vorangegangenen Jahr als Vergeltung für die Deportation von 800 Deutschen aus Persien nach Australien befohlen. Die Anordnung des „Führers“ war im „Dritten Reich“ allerdings monatelang im Kompetenzwirrwarr der Verwaltung stecken geblieben. Im Januar 1943 lebten in den Lagern Wurzach und Biberach, die zunächst von der Wehrmacht und ab Dezember 1942 direkt vom RSHA beaufsichtigt wurden, 596 und im Oktober 1944 noch 574 zivile Feindstaatenangehörige. Darunter waren allein 563

184 McGibbon, Germany, S. 16; Cambray / Briggs, Red Cross, S. 372 f., 382 f.; Jonathan F. Vance, Extermination Camps, in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 90 f.; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 310–338. 185 NA, FO 916/938 (Telegramm vom 28. Juni 1944 und Protokoll des Gesprächs im britischen Kriegsministerium am 11. Dezember 1944).

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Briten, davon 187 Männer, 201 Frauen und 175 Kinder, von denen die Mehrheit regelmäßig den Schulunterricht besuchte. Obwohl sie die deutsche Lagerleitung grundsätzlich akzeptierten, klagten die Internierten 1943 über ihre abrupte Verhaftung ohne Vorbereitungszeit, den Mangel an warmer Kleidung und die stockende Übermittlung von Post an Angehörige, die in anderen Internierungslagern im „Dritten Reich“ festgehalten wurden. 1944 hoffen sie, bald in ihre Heimat zurückkehren zu können. Zudem litten sie unter der Kälte, da der Transport von Kohle stockte. Außer dem Vertreter der eidgenössischen Schutzmacht besichtigten auch Inspektoren des IKRK und des YMCA das Lager, in dem die Internierten sich im engeren umzäunten Raum mit verschiedenen Aktivitäten wie Konzerten zu beschäftigen und mit persönlichen Gegenständen wie Möbeln einzurichten versuchten. Der Blick auf die umliegende Landschaft durch den Stacheldraht weckte bei ihnen Assoziationen mit der Heimat.186 Am 20. September 1942 kamen die von Jersey und Guernsey Deportierten in Biberach an. Hier zählte die Verwaltung in einer ehemaligen Kaserne, die ab 1940 als Gefangenenlager genutzt worden war, im Oktober 1942 817 Internierte, die fast ausnahmslos von der Kanalinsel Jersey verschleppt worden waren. Im Januar 1943 belief sich die Zahl der Insassen auf 1.011 und im September 1944 auf 1.124. Die sanitären Anlagen waren hier zunächst unzureichend, und die Ausstattung mit Kleidung blieb ebenso wie die Versorgung mit Medikamenten weit hinter den Anforderungen zurück. Außerdem war der Postverkehr unregelmäßig. Nachdem das Innenministerium die Kontrolle von der Armee übernommen hatte, sanken hier auch die Lebensmittelrationen deutlich. Nur Lieferungen des IKRK, des Schwedischen und des Britischen Roten Kreuzes, das vor allem Staatsangehörige des Vereinigten Königreiches versorgte, linderten den Mangel. Darüber hinaus kümmerte sich das YMCA um die Internierten, besonders die Kinder. Obgleich die materielle Ausstattung mit Hilfe der humanitären Organisationen erheblich verbessert werden konnte und auch die Gebäude in gutem Zustand waren, warteten im Oktober 1944 noch 1.088 Internierte (darunter 1.064 Briten, Kanadier und Australier) ungeduldig auf ihre Heimführung. Dafür waren medizinische Untersuchungen erforderlich, und einige Insassen fürchteten, dass die Repatriierung Familien trennen könnte. Noch deutlich schlechter waren die Lebensbedingungen der jüdischen Häftlinge, die am Ende des Krieges vom Konzentrationslager Bergen-Belsen nach Biberach verschleppt 186 Angaben nach den Berichten über die Besuche vom 15. Januar 1943 und 13. Oktober 1944 in: NA, HO 215/96. Vgl auch Gilly Carr, „My Home Was the Area Around My Bed“: Experiencing and Negotiating Space in Civilian Internment Camps in Germany, 1942–1945, in: Mytum / Carr (Hg.), Prisoners of War, S. 189–204, hier: S. 193–202; Gisela Rothenhäusler / Reinhold Adler, A Tale of Two Towns: Heritage and Memory of Civilian Internment in Baden-Württemberg, Germany, 1942, in: Mytum / Carr (Hg.), Prisoners, S. 205–221, hier: S. 205 f., 219.

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wurden, wo sie separat als Geiseln gehalten wurden. Der geplante Austausch mit den USA über Marseille und die Schweiz unterblieb letztlich. Nach der Rückführung der internierten Briten im Juni 1945 wurden im Lager Biberach schließlich bis 1951 deutsche Vertriebene untergebracht.187 In Wurzach hatten die NS-Machthaber in einem Schloss ein katholisches Internat geschlossen und das Gebäude für die Wehrmacht beschlagnahmt. Hier wurden zunächst französische Offiziere untergebracht, von denen viele auf Korsika geboren waren. Nach der Umwidmung zum Internierungslager ließ das NSRegime hierher von Wurzach rund 600 Engländer transportieren, die von Jersey deportiert worden waren. Mit dem Transfer reagierten die deutschen Behörden auf die Kritik Schweizer Diplomaten, welche die schlechten Zustände im überfüllten Lager Biberach kritisiert hatten. Die Polizisten, die zur Bewachung der Internierten im Schloss Wurzach eingesetzt waren, ließen den Insassen Freiheiten, und zu einigen Bewohnern der Kleinstadt entwickelten sich sogar Kontakte. Dagegen standen viele Jugendliche, die in einem angrenzenden Wehrertüchtigungslager der Hitlerjugend untergebracht wurden, den internierten Briten offen feindselig gegenüber. Nach der Repatrierung der britischen Internierten (Juni 1945) wurde das Lager Wurzach vorübergehend zur Unterbringung ehemaliger Zwangsarbeiter, Kriegsgefangener, Konzentrationslagerhäftlinge und Osteuropäer genutzt, die nach Kriegsbeginn entweder freiwillig in Deutschland eine Arbeit aufgenommen hatten, dazu gezwungen worden oder vor der sowjetischen Armee geflohen waren (Displaced Persons, DPs).188 In Liebenau (bei Meckenbeuren) litten von 1940 bis 1945 u. a. zivile Staatsangehörige westlicher Nationen, die den Nationalsozialisten in den besetzten Gebieten in die Hand gefallen waren, unter der Internierung in einem Schloss und vier gegenüberliegenden Gebäuden. Hierher wurden schon 1939/40 rund 300 britische Zivilisten gebracht, die in Polen gefangen genommen waren. Am 15. Oktober 1942 war das Lager noch mit 315 Briten belegt.189 1942 waren hier auch Belgier, Niederländer, Griechen und Angehörige anderer Staaten aufgenommen worden, die Truppen des NS-Regimes besetzt hatten. In den bayerischen Gemeinden Laufen und Tittmoning verwaltete die deutsche Armee Internierungslager, in denen sich außer US-Amerikanern Bewohner der britischen Kanalinseln befanden. 1943 wurden Jungen, deren Eltern in Biberach oder Wurzach interniert waren, von Laufen dorthin verschleppt. Der Kommandant

187 NA, HO 215/91 (Berichte „Ilag Biberach“; Telegramm vom 28. Dezember 1943). Vgl. auch Rothenhäusler / Adler, Tale, S. 207–211. 188 Ebd. 189 NA, FO 916/906 (Schreiben vom 19. Dezember 1942).

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hatte die Kinder der Ortpolizei übergeben.190 Das Wachpersonal bestand in allen Lagern aus älteren Soldaten, die nicht mehr an der Front eingesetzt werden konnten. Generell wurden die internierten Zivilisten aus westlichen Staaten und den britischen Dominions – darunter auch Neuseeländer – nach den Grundsätzen behandelt, die in der Haager Landkriegsordnung 1907 und der Genfer Konvention 1929 festgelegt worden waren.191 Die Lebensbedingungen in den deutschen Internierungslagern waren offenbar unterschiedlich. Im Allgemeinen wurden die gefangenen Zivilisten deutlich besser behandelt als die Insassen der Konzentrationslager. In Laufen, wo im Januar 1943 427 Bewohner der Kanalinseln und 199 Amerikaner untergebracht waren, gewannen Beobachter des IKRK einen guten Eindruck. Bis Juli 1943 stieg die Zahl der Internierten auf 704 (davon 500 Briten) und bis Oktober 1944 auf 842. Darunter befanden sich 461 Briten, die überwiegend auf Guernsey und Jersey gelebt hatten, und 381 Bürger verschiedener amerikanischer Staaten. Das Lager war damit überbelegt, zumal alle Internierten aus dem aufgelösten Camp Tittmoning hierher überführt worden waren. Daraufhin wurden 62 US-Zivilisten und 52 britische Internierte in das Lager Spittal-Drau im österreichischen Kärnten abtransportiert. Außerdem verschoben die deutschen Militärbehörden vier britische Lehrer, die im Lager das beliebte Sprachprogramm getragen hatten, zum französischen Camp Vittel. Diese Transfers werfen ein Schlaglicht auf die enorme Zwangsmobilität, der Zivilinternierte im „Dritten Reich“ unterworfen waren. Trotz der offenbar relativ humanen Behandlung durch den Lagerkommandanten litten die Insassen unter der unberechenbaren Fluktuation und dem Mangel an Schuhen, die sie vor der Kälte schützen konnten. 192 In Tittmoning wurden bis zur Auflösung des Lagers 1944 nur wenige Klagen registriert, die sich auf den Postverkehr und den häufigen Wechsel der Wachen bezogen.193 Demgegenüber stellten Inspekteure des IKRK in Spittal, wohin bis Juli 1941 Internierte des Lagers Laufen gebracht worden waren, schlechte Bedingungen fest. Die Insassen beschwerten sich besonders über die mangelhaften Latrinen und die brutale Behandlung der Juden. Nachdem in Spittal vorübergehend Unteroffiziere gefangen gehalten worden waren, wurde das Lager 1944/45 zur Internierung von Zivilisten genutzt. Hier lebten 63 Bürger der USA und ver190 NA, HO 215/99 („Ilag Laufen, Date of visit: April 14, 1943“). 191 Hierzu und zum Folgenden: Forsythe, Humanitarians, S. 42; Marrus, The Unwanted, S. 148; Kempner, Enemy Alien Problem, S. 452 f.; Koessler, Internment, S. 122. 192 NA, HO 215/99 (Bericht vom 21. Oktober und „Report on Activities in ILAG VII [Laufen] during the period from June 21st 1943 to Easter 1944“) und Telegramm vom 10. August 1943). Vgl. auch Pitzer, Night, S. 224. 193 NA 215/99 (Berichte zu den Besuchen vom 17. Januar und 14. April 1943 sowie vom 26. August 1944).

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schiedener lateinamerikanischer Staaten sowie 63 Briten, die wiederum aus dem Camp in Laufen überführt worden waren. Den Internierten fehlten 1944 Schuhe und Kleidung. Auch klagten sie über Einschränkungen bei der Versorgung mit Päckchen des Roten Kreuzes. Diese Restriktionen wurden von den Behörden mit dem Hinweis auf „Sicherheit“ begründet, denn die Insassen des Lagers sollten keine Lebensmittelvorräte anlegen, die sie für Fluchten nutzen konnten. Insgesamt demonstrierte die Entwicklung des Lagers in Spittal im Allgemeinen die Multifunktionalität von Camps, die wiederholt umgenutzt wurden.194 In Biberach, wo die deutschen Behörden im Januar 1944 1.220 Briten untergebracht hatten (darunter auch Juden, die aus Bergen-Belsen hierher gebracht worden waren), herrschte in den letzten Kriegsmonaten akuter Mangel. In dem Bericht über seinen Besuch vom 2. Juni 1944 kritisierte ein Inspekteur des IKRK aber auch die britische Lagerverwaltung.195 Das Lager Wurzach litt im September 1944, als hier 561 Briten (davon 185 Männer, 201 Frauen, 72 Jungen und 103 Mädchen) interniert waren, vor allem an der akuten Überbelegung.196 Jedoch müssen alle Berichte vorsichtig interpretiert werden, denn sie erfassten die Situation der Internierten allenfalls punktuell, so dass sie lediglich Momentaufnahmen waren. Zudem sind die – kaum zu erfassenden – Interessen und Überzeugen der jeweiligen Inspektoren in Rechnung zu stellen. Deutlich ist jedoch, dass die Überlebensbedingungen für Angehörige der westlichen Staaten im Deutschen Reich erheblich besser waren als für Slawen und Juden. Ebenso wurden Internierte in den Lagern im Reich deutlich besser versorgt als in den eroberten Gebieten Polens, Frankreichs und der Niederlande, wo die deutschen Besatzer ebenfalls Camps errichteten, aber weitaus rigoroser gegen zivile Feindstaatenangehörige vorgingen. In den Nachbarländern Deutschlands vollzog sich die Internierung schon in den ersten Kriegsmonaten im Schatten der nationalsozialistischen Terrorund Vernichtungspolitik, die mit den Übergriffen der Waffen-SS und der Wehrmacht gegenüber Zivilisten in Polen im Herbst 1939 begann. In den darauffolgenden Jahren verübten deutsche Soldaten auch in den anderen besetzten Staaten gezielt Massaker an der Zivilbevölkerung, so 1942 in der tschechischen Gemeinde Lidice und 1944 in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom (Italien) und in Oradour-sur-Glane im Süden Frankreichs. Die Exektution unschuldiger Zivilisten wurde oft als Vergeltung für Anschläge von Partisanen gerechtfertigt. Entge-

194 NA, HO 215/123 (Vermerk vom 16. Juli 1941 und Bericht vom 6. Dezember 1944). 195 NA, HO 215/91 (Bericht zu einem Besuch am 2. Juni 1944 und Telegramm vom 23. Februar 1945). 196 NA, HO 215/96 (Übersetzung des Berichtes zum Besuch am 7. September 1944 und Telegramm der Inspektion am 7. September 1944).

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gen den relevanten Bestimmungen des Völkerrechtes wurden sie aber ohne vorherige Suche nach Tätern ermordet. Außerdem widersprachen die Erschießungen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Von diesen Verbrechen hob sich besonders der Völkermord an den Juden quantitativ und qualitativ ab. Besonders das Konzentrationslager Auschwitz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Symbol eines Völkermordes, der sich aufgrund seiner institutionellen Wurzeln, der rassenideologischen Vernichtungsideologie der Täter und der systematischen Durchführung mit modernen Technologien scharf von der Internierungspolitik unterschied.197

Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“, 1939–1945: das Beispiel der Polen Im Zweiten Weltkrieg arbeiteten insgesamt rund 8,5 Millionen ausländische Zivilarbeiter für das NS-Regime. Auf dem Höhepunkt der Zwangsarbeit hielten sich vom Mai bis September 1944 allein im „Dritten Reich“ rund 5,7 Millionen Ausländer auf, die zur Arbeit gezwungen wurden. Hinzu kamen etwa zwei Millionen Kriegsgefangene. Von den insgesamt 7,7 Millionen ausländischen Arbeitskräften waren 2,8 Millionen aus der Sowjetunion, 1,7 Millionen aus Polen und 1,3 Millionen aus Frankreich deportiert worden. Der Anteil der Ausländer an den im „Dritten Reich“ Beschäftigten nahm von 1939 bis 1944 deutlich zu. Während sie zu Beginn des Krieges rund sieben Prozent der Arbeitskräfte stellten, war diese Quote bis zum vorletzten Kriegsjahr auf ein Viertel gewachsen. Im August 1944 arbeiteten fast 1,7 Millionen Polen in Deutschland, davon 1.659.764 als Zivilisten. Bis Ende Juni 1944 hatten die deutschen Behörden allein 1,2 Millionen polnische Zwangsarbeiter aus dem Generalgouvernement in das Deutsche Reich verschleppt. Die Kriegsgefangenen, die aus Polen stammten, waren in einen zivilen Status überführt worden, um völkerrechtliche Schutzvorschriften außer Kraft zu setzen. 66,7 Prozent aller Polen arbeiteten in der Landwirtschaft. Frauen, die im Durchschnitt unter zwanzig Jahre alt waren, stellten mehr als die Hälfte der insgesamt knapp 2,2 Millionen Polen, die im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter in das „Dritte Reich“ verbracht wurden. Insgesamt hielten sich während des Zweiten Weltkrieges mindestens drei Millionen polnische Zivilarbeiter im „Großdeutschen Reich“ auf.198 197 Victoria C. Belco, Ardeatine Caves Massacre, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 13 f.; Jonathan F. Vance, Oradour-sur-Glane Massacre, in: Vance (Hg.), Enyclopedia, S. 211 f. Stone, Concentration Camps, S. 30, 79; David Ray, Lidice Massacre, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 175; Belco, Reprisals, S. 251 f. 198 Angaben nach: Ulrich Herbert, Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ und das Problem der Entschädigung, in: Dieter Stiefel (Hg.), Die politische Ökonomie des Holocaust. Zur wirtschaft-

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Nicht zuletzt wegen dieser hohen Zahl war die Vermittlung der damit verbundenen Erfahrungen in Polen nach dem Kriegsende wenig spektakulär. Überdies hatte erzwungene Arbeit auch im besetzten Land die Erfahrung von Millionen Menschen geprägt, die für die deutsche Kriegswirtschaft eingesetzt worden waren. Vor allem aber ließen sich die Erinnerungen der zurückgekehrten Zwangsarbeiter – im Gegensatz zu den ehemaligen KZ-Häftlingen, die sich von ihnen abgrenzten, – nicht in die dominante heroisch-martyrologische Gedächtnispolitik integrieren, wie vor allem Piotr Filipkowski herausgearbeitet hat. Dennoch bemühten sich die Verbände, die Erinnerungen der Zwangsarbeiter auf das heroische Erinnerungsnarrativ zu beziehen, denn nur mit diesem Verfahren konnten sie die Politik der kommunistischen Machthaber beeinflussen.199 Im „Dritten Reich“ waren die Polen deutlich schlechter als die westeuropäischen Zwangsarbeiter gestellt. Ihre Verschleppung hatte bereits im Oktober 1939 eingesetzt. Die deutsche Arbeitsverwaltung erfasste in Razzien Polen. Kinder unterlagen zwar bis 1941 Jugendschutzbestimmungen, wurden aber oft schon zuvor bei der Zwangsrekrutierung erfasst und deportiert. Nachdem Fritz lichen Logik von Verfolgung und „Wiedergutmachung“, Wien 2001, S. 203–238, hier: S. 210f.; Günter Saathoff, Entschädigung für Zwangsarbeiter? Entstehung und Leistungen der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ im Kontext der Debatte um die „vergessenen Opfer“, in: Hans Günter Hockerts / Christiane Kuller (Hg.), Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland?, Göttingen 2003, S. 241–273, hier: S. 241. Vgl. auch Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939– 1945, Stuttgart 2001, S. 45, 48–50, 222; Johannes-Dieter Steinert, Deportation und Zwangsarbeit. Polnische und sowjetische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und im besetzten Osteuropa 1939–1945, Essen 2013, S. 50; Christian Hartz, Ökonomie und Entschädigung nationalsozialistischer Zwangsarbeit, in: Sozialgeschichte Online 15 (2015), S. 8–34, hier: S. 19. 199 Piotr Filipkowski, Biographische Narrative polnischer Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Eine Lektüre im Kontext des Entschädigungsdiskurses, in: Constantin Goschler (Hg.), Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts, Bd. 3: Nationale Selbstbilder, Opferdiskurse und Verwaltungshandeln. Das Auszahlungsprogramm in Ostmitteleuropa, Göttingen 2012, S. 158–214, hier: S. 161 f. Vgl. auch Katrin Schröder, Der Opferstatus der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter in den Debatten zu den Leistungsgesetzen für NS-Opfer der 1990er Jahre in Tschechien und Polen, in: K. Erik Franzen / Martin Schulze Wessel (Hg.), Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012, S. 127–150, hier: S. 127; Joanna Wawrzyniak, On the Making of Second World War Myths. War Veterans, Victims and the Communist State in Poland, 1945– 1969, in: Natali Stegmann (Hg.), Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte. Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, Prag 2009, S. 189–209, hier: S. 194; Włodzimierz Borodziej, Abschied von der Martyrologie in Polen?, in: Martin Sabrow / Ralph Jessen / Klaus Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Zeitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 288–305, bes. S. 290.

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Sauckel (1894–1946) zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz geworden war, wurde im Mai 1942 eine „Dienstpflichtverordnung“ verabschiedet, mit der ein Arbeitsplatzwechsel erzwungen werden konnte (auch im Deutschen Reich). Gemeindeverwaltungen mussten ihnen auferlegte Kontingente polnischer Zwangsarbeiter erfüllen. Diese wurden im Deutschen Reich gering entlohnt, da sie die „Polen-Abgabe“ zahlen mussten, die ihre Löhne um zehn Prozent reduzierte. Ab 1942 arbeiteten auch polnische Juden, die in den Konzentrationslagern einsaßen, vor allem in der Rüstungsindustrie. Die Unterbringung und Versorgung der polnischen Zwangsarbeiter waren besonders in den Außenlagern völlig unzureichend. Jedoch wurde diese Gruppe auf dem Lande, wo die polnischen Zwangsarbeiter im Allgemeinen bei Bauern untergebracht waren, im Großen und Ganzen besser verpflegt und behandelt als in den Städten und in der Industrie. Hier waren die Lebens- und Arbeitsbedingungen besonders in den Großbetrieben schlecht.200 Insgesamt unterlagen die polnischen Arbeitskräfte vielfach Misshandlungen, willkürlicher Gewalt und Exekutionen. Sie waren „Sonderbehandlungen“ ausgesetzt, die auf den „Polenerlassen“ und der „Polenstrafrechtsverordnung“ basierten. Nach diesen wurden z. B. Zwangsarbeiter, die intime Kontakte zu deutschen Frauen aufgenommen hatten, im Allgemeinen mit dem Tode bestraft. Auch Bombenangriffe bedrohten besonders ab 1943 nahezu täglich das Leben der oft unter unwürdigen Bedingungen arbeiteten zivilen Fremdstaatenangehörigen. Die Initiative für die Beschäftigung von Zwangsarbeitern ging in der Regel nicht von den Behörden des NS-Staates, sondern von den Betrieben selber aus, die aufgrund der Rekrutierung vieler Beschäftigter für die deutsche Wehrmacht und Waffen-SS unter einem zunehmend akuten Arbeitskräftemangel litten. Dieser Engpass bedrohte letztlich die Gewinne, welche die Betriebe aus der Rüstungsproduktion bezogen. Die Unternehmen wurden damit – entgegen nachträglichen Behauptungen, so im I. G.-Farben-Prozess, – keineswegs von den nationalsozialistischen Machthabern gezwungen, aus Osteuropa deportierte Arbeiter anzunehmen und zu beschäftigen.201

200 Spoerer, Zwangsarbeit, S. 235f.; Herbert, Zwangsarbeiter, S. 204–208, 214–220; Steinert, Deportation, S. 36, 48–51. 201 Spoerer, Zwangsarbeit, S. 234, 237–240. Überaus kritisch zu den apologetischen Behauptungen der Unternehmer: Rolf Surmann, Trugbild. Die deutsche Entschädigungsverweigerung gegenüber den NS-Opfern, in: Ulrike Winkler (Hg.), Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte, Köln 2000, S. 186–204, hier: S. 194.

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6.3 Frankreich Sicherheitsängste und Flüchtlinge vor 1939 Auch in Frankreich beeinflussten die Diskurse und Maßnahmen, die im Ersten Weltkrieg Ängste um die „nationale Sicherheit“ ausgelöst hatten, die Politik in der Zwischenkriegszeit. Schon mit der einseitigen Wiedereinführung der Wehrpflicht im „Dritten Reich“ 1935 waren Deutsche zumindest zu potentiellen Feindstaatenangehörigen geworden, deren Überwachung vorbereitet wurde. Der neue Ministerpräsident Pierre Laval (1883–1945), der am 7. Juni 1935 ernannt wurde, erhielt außerordentliche Vollmachten, um mit Dekreten zu regieren. Ein Gesetz vom 8. August 1935 ermächtigte die Präfekten, im Kriegsfall „feindliche Ausländer“ zu verhaften. Diese Vollmacht richtete sich vorrangig gegen die 45.000 Deutschen, die sich zu dieser Zeit in Frankreich aufhielten. Sechzig Prozent von ihnen waren politische oder jüdische Flüchtlinge, die dem Primat der Sicherheitspolitik unterworfen wurden. Zwar beeinflusste die Agitation rechtradikaler und faschistischer Bewegungen wie der Action française, welche die Einwanderer pauschal als „fünfte Kolonne“ der Deutschen verteufelten, die öffentliche Meinung nur begrenzt. Die Sorge vor einer umfassenden Unterwanderung des Landes war aber weit verbreitet. Dennoch hielt Premierminister Léon Blum (1872–1950) in seiner „Volksfront“-Regierung zunächst an einer liberalen Einwanderungspolitik fest. So löste er die im Mai 1933 von Premierminister Édouard Daladier (1884–1970) gebildete Interministerielle Kommission für deutsche Flüchtlinge auf. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in das entmilitarisierte Rheinland am 7. März konnte eine humanitäre Flüchtlingspolitik aber kaum noch aufrechterhalten werden. Die französische Rechte diffamierte „Verräter“, zu denen weiterhin Dreyfus, aber auch Blum gezählt wurde. Noch im Anschluss an den Zusammenbruch der „Volksfront“ nährten besonders der scharfe Antikommunismus und der (damit verbundene) Antisemitismus die Ablehnung von Migranten und – damit verbunden – die Furcht vor „inneren Feinden“. Zugleich trug der Pazifismus, den auch Menschenrechtsorganisationen wie die Ligue des Droits de l’Homme vertraten, zur Beschwichtigungspolitik der französischen Regierung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime bei.202

202 Timothy Maga, Closing the Door: The French Government and Refugee Policy, 1933–1939, in: French Historical Studies 12 (1982), S. 424–442, hier: S. 428–433; Pierre Birnbaum, AntiSemitism in France. A Political History from Léon Blum to the Present, Oxford 1992, S. 267– 272; Winock, Nationalism, S. 111–122, 128; Ingram, War Guilt Problem, S. 265–267. Angaben nach: Christian Eggers, Unerwünschte Ausländer. Juden aus Deutschland und Mitteleuropa in französischen Internierungslagern 1940–1942, Berlin 2002, S. 22.

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Vor diesem Hintergrund betrachtete Daladier, der nach dem Zerfall der „Volksfront“-Koalition am 10. April 1938 erneut zum Premierminister ernannt wurde, die Zuwanderung von vertriebenen Ausländern vorrangig als Bedrohung, die aus der Sicht der neuen Regierung eine verschärfte Sicherheitspolitik im Rahmen eines autoritären Regiments erforderte. Diesem Zweck diente ein Gesetz vom 13. April 1938, das dem Kabinett erlaubte, Notverordnungen mit Gesetzeskraft (décret-lois) zu erlassen. Unter den Flüchtlingen vermutete Daladier ebenso wie die Polizeiführung in der Sûreté Nationale Spione und subversive Kräfte. Außerdem befürchtete er, dass jüdische Vertriebene in Frankreich antisemitische Ressentiments verschärfen könnten. Letztlich basierte seine Innenpolitik auf Angst vor Überfremdung, wie schon ein am 2. Mai 1938 erlassenes Dekret zeigt. Es bestätigte einerseits das Aufenthaltsrecht derjenigen Flüchtlinge, die bis in die 1920er Jahre nach Frankreich gekommen waren. Andererseits wurde die Ausstellung von Genehmigungen für einen Wohnsitz in Frankreich für Neuankömmlinge – vor allem deutsche und spanische Exilanten – erschwert. Darüber hinaus sollten Zuwanderer, die sich im Land befanden, nach der Reichspogromnacht strikt kontrolliert werden. Der Innenminister und die Präfekten der Departements an der Ostgrenze Frankreichs sollten Ausländer, die nach ihrer Auffassung die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung gefährdeten, unverzüglich abschieben. Außerdem wies der Premierminister am 12. November 1938 die Ministerien des Innern und der Kolonien an, verdächtige Ausländer in „Spezialzentren“ (Centres spécials de rassemblement) zu überführen. Dafür nutze er einen 1935 reaktivierten Artikel der französischen Strafprozessordnung, der den Präfekten erlaubte, bei Verbrechen, die sich gegen die innere und äußere Sicherheit Frankreichs richteten, auch ohne gerichtlichen Haftbefehl Festnahmen anzuordnen. Letztlich erklärte sich die Regierung auf Drängen der Alliance Israélite Universelle aber bereit, bis zu 1.000 jüdische Kinder aus dem nationalsozialistischen Deutschland aufzunehmen. Sie sollten allerdings nicht in Paris verbleiben, sondern auf Heime in den Provinzen verteilt werden.203

Der Umgang mit den Flüchtlingen aus Spanien Im Verlauf des Spanischen Bürgerkrieges verschärfte Franco die Verfolgung von Gegnern der Nationalisten, die als Bolschewisten, zumindest aber als in Spanien „fremde Elemente“ verteufelt wurden. Bis 1939 waren 277.103 Männer 203 Vicki Caron, Uneasy Asylum. France and the Jewish Refugee Crisis, 1933–1942, Stanford 1999, S. 213; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 234 f.

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unter die Kontrolle einer Kommission für Konzentrationslager geraten. Von ihnen mussten rund 90.000 Zwangsarbeit verrichten.204 Die harte Unterdrückung und das Vordringen von Francos Truppen, die ab Dezember 1938 innerhalb von fünf Wochen Katalonien eroberten, beschleunigte die Flucht der Republikaner. Anfang 1939 wurden das Kabinett und die Bevölkerung jedoch mit rund 500.000 Spaniern konfrontiert, nachdem Frankreich seit dem Beginn des Bürgerkrieges im Sommer 1936 schon drei Flüchtlingswellen aus dem südlichen Nachbarland erreicht hatten. Die französische Politik sah Hilfsmaßnahmen für rückkehrwillige Spanier und die Unterbringung der übrigen geflohenen Republikaner in grenzfernen Regionen vor. Die spanischen Flüchtlinge wurden provisorisch in Lagern im Süden des Landes untergebracht. Das erste „Aufnahmezentrum“ (Centre d’accueil) wurde im Januar 1939 in Argelès-sur-Mer errichtet. Nachdem die Regierung am 28. Januar die südliche Grenze geöffnet hatte, kamen allein vom 5. bis 9. Februar täglich 50.000 geflohene Spanier nach Frankreich. Sie brachte das Innenministerium in den Centres d’accueil unter, die Polizei, Verwaltung und Presse aber bald als „Konzentrationslager“ (camps de concentration) bezeichneten. Diesen Begriff nahm im Februar 1939 sogar Premierminister Albert Sarraut (1872–1962) mit Bezug auf das neu errichtete Lager Argèles auf. Ebenso wurden Camps wie diejenigen in Saint-Cyprien und Le Vernet hastig und improvisiert gebaut, so dass die Unterbringung und Verpflegung der spanischen Flüchtlinge katastrophal waren.205 Auch nachdem die Armee im Februar 1939 die Kontrolle übernommen hatte, besserten sich die Zustände nur langsam. Dazu trugen Hilfsorganisationen wie die Society of Friends bei, die Kleidung und Lebensmittel bereitstellten, 204 Sven Reichardt, National Socialist Assessments of Global Fascist Warfare (1935–1938), in: Alonso / Kramer / Rodrigo (Hg.), Fascist Warfare, S. 51–72, hier: S. 52 f. Angaben nach: Manz / Panayi, Enemies, S. 39. 205 Angabe nach: Eggers, Ausländer, S. 35. Vgl. auch Jean-François Berdah, The Devil in France. The Tragedy of Spanish Republicans and French Policy after the Civil War, in: Guðmundur Hálfdanarson (Hg.), Discrimination and Tolerance in Historical Perspective, Boston 2008, S. 301–318; hier: S. 302–314; Regina M. Delacor, From Potential Friends to Potential Enemies: The Internment of ‚Hostile Foreigners‘ in France at the Beginning of the Second World War, in: Journal of Contemporary History 35 (2000), S. 361–368, hier: S. 361 f.; Hans-Albert Walter, Das Pariser KPD-Sekretariat, der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag und die Internierung deutscher Emigranten in Frankreich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), S. 483–528, hier: S. 487 f.; Melanie Krob, Imprisoned in Paradise. Antifascist Germans in the French Wartime Internment Camps, in: Journal of European Studies 38 (2008), S. 53–72, hier: S. 54; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 235–239. Vgl. auch Véronique Moulinié, The Oher Point of View…. The Ethnologist. The Internment of Spanish Republicans in French Camps: the Ethnologist Caught in the Net of Memory, in: Pathé / Théofilakis (Hg.), Captivity, S. 127–135, bes. S. 129, 132–134.

6.3 Frankreich



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aber in den Lagern auch künstlerische und intellektuelle Arbeiten unterstützten. Vor allem aber ging die Zahl der Insassen der Lager, die für geflohene Spanier eingerichtet wurden, deutlich zurück. Nach der Niederlage gegen das „Dritte Reich“ brachte das neu installierte Vichy-Regime entlassene spanische Flüchtlinge schließlich in die Lager zurück. Zwar waren in Argèles im Juli 1940 nur noch 15.000 von 77.000 Internierten (Stand vom März 1939) und in SaintCyprien lediglich 5.000 von 90.000 Insassen geblieben. Letztlich verweist der Umgang mit den Opfern des Bürgerkrieges in Spanien aber auf die Kontinuität der Fremdenfeindlichkeit in Frankreich über die Zäsur von 1940 hinweg.206

Übergang und widersprüchliche Politik von Januar bis August 1939 Anfang 1939 stand Daladier, der im Januar der Bildung eines koordinierenden Comité Central des Réfugiérs zustimmte, unter dem Druck gegensätzlicher Kräfte. Angesichts des Scheiterns der zuvor verabschiedeten Dekretgesetze, die keine vollständige Kontrolle der Zuwanderung ermöglicht hatten, verlangten Flüchtlingsorganisationen eine offenere Politik. Ihre Intervention war humanitär, aber auch pragmatisch motiviert. So argumentierten Liberale einerseits, dass Frankreich durch eine Unterdrückung der verfolgten Einwanderer zum Helfershelfer der Verfolgerstaaten – besonders des „Dritten Reiches“ würde. Andererseits sollten Immigranten aus Deutschland, Österreich und der (im März 1939 zerschlagenen) Tschechoslowakei in Frankreich angesiedelt werden, um damit den Rückgang der Bevölkerung – vor allem auf dem Lande – zu verringern. Auf dem Ziel, die Einwanderer wirtschaftlich und gesellschaftlich zu integrieren, basierte auch die Forderung, ihnen zu erlauben, eine berufliche Tätigkeit in Branchen aufzunehmen, in denen Beschäftigte fehlten. So erlaubten Gesetze vom 19. und 21. April Arbeitgebern, Flüchtlinge einzustellen. Sie sollten vor allem in der französischen Rüstungsindustrie einberufene Soldaten ersetzen. Allerdings suchten die Handelskammer und einzelne Berufsorganisationen (besonders der Ärzte) die Arbeitsaufnahme der unerwünschten Konkurrenten zu verzögern. Dazu mobilisierten sie Ängste vor einer „fünften Kolonne“ von Spionen unter den Zuwanderern. Demgegenüber drängten liberale Politiker und zivilgesellschaftliche Gruppen auf die Rekrutierung von Flüchtlingen zur Verteidigung Frankreichs. Ein Dekret, das am 12. April erlassen worden war, berechtigte geflohene und staatenlose Personen im Alter von zwanzig bis 48 Jahren schließlich, sich freiwillig für den Dienst bei den französischen Streitkräften zu melden, wenn sie ihren Wohnsitz in Frankreich hatten. Alternativ konnten 206 Angaben nach: Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 243.

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sie sich zum Dienst in zivilen Einheiten verpflichten, die gleichfalls die Landesverteidigung stärken sollten (prestation). Am 27. Mai wurde die Bildung gesonderter „Ausländereinheiten“ (Compagnies des travailleurs étrangers, CTE) in der französischen Armee angeordnet. Daraufhin riefen jüdische Organisationen zu freiwilligen Meldungen auf, so dass bis Kriegsbeginn rund 30.000 Juden für den Verteidigungsdienst rekrutiert werden konnten. Im Juli 1939 setzte die Regierung außerdem Untersuchungskommissionen zur „Siebung“ (criblage) der Flüchtlinge ein, und sie unterwarf diese einer polizeilichen Meldepflicht. Jedoch hatte Justizminister Paul Marchandeau (1882–1968) mit einem Gesetz vom 21. April religiöse und rassistische Diffamierungen in der Presse untersagt. Auch begrüßten die meisten Flüchtlingsorganisationen die Angebote der Regierung, da sie das gemeinsame Interesse am Kampf gegen den Nationalsozialismus aufnahmen.207 Im Sommer 1939 schien ein Kompromiss zwischen den Befürwortern und Gegnern der Zuwanderung von Flüchtlingen zumindest erreichbar. Im August hielten sich nur noch 385 Immigranten in fünf „Spezialzentren“ auf. 79 „Ausländereinheiten“ umfassten 20.000 Spanier. Weitere 79.000 dieser Flüchtlinge aus dem südlichen Nachbarland lebten in Lagern, vielerorts unter miserablen Bedingungen.208 Alles in allem war die Liberalisierung der Sicherheits- und Migrationspolitik halbherzig geblieben, denn die Ansätze zur Integration der Ausländer wurden von rechtskonservativen Parteien, faschistischen Bewegungen wie der Action française und gesellschaftlichen Interessenorganisationen sabotiert. Da die Politik der Regierung letztlich keine Gruppe und Partei befriedigte, konnte ein einschneidendes Ereignis – der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 – die Balance zwischen Sicherheit und Humanität in Frankreich grundlegend verändern. Der Nichtangriffsvertrag zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion (mit dem damals nicht bekannten geheimen Zusatzabkommen über die Abgrenzung der Machtsphären) schockierte die französische Öffentlichkeit. Er stellte die Loyalität aller Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ grundlegend in Frage und stärkte nicht nur den Antikommunismus, sondern die Fremdenfeindlichkeit, besonders gegenüber den jüdischen Flüchtlingen. Sie wurden in den Medien – vor allem in der Presse – nun pauschal als Sicherheitsrisiko denunziert. Auch die Geheimdienste, die Polizei und das Militär forderten restriktive Maßnahmen gegen Geflohene. Da der Hitler-Stalin-Pakt unter den konservativen Eliten Frankreichs Erinnerungen an die „Volksfront“Regierung weckte und den ohnehin weit verbreiteten Antikommunismus ver207 Caron, Asylum, S. 214–240, 264; Eggers, Ausländer, S. 44–48, 58 (Angabe); Delacor, Friends, S. 362–365; Auger, Prisoners, S. 17; Walter, KPD-Sekretariat, S. 484. 208 Caron, Asylum, S. 218; Eggers, Ausländer, S. 45.

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stärkte, wurden besonders deutsche und französische Kommunisten als „fünfte Kolonne“ ihrer Heimatländer verdächtigt. So verbot Daladier schon am 26. August die wichtigsten Publikationen der Kommunistischen Parteien (Parti communiste français, PCF), L’Humanité und Ce Soir. Angst vor Spionage und Unterwanderung durch „innere Feinde“ kennzeichnete die französische Innenpolitik im Spätsommer 1939.209 Die daraus resultierende Sicherheitspolitik war zwar z. T. berechtigt, da die Komintern tatsächlich zur Sabotage der Kriegsanstrengungen aufrief und auch einige Agenten unter den Flüchtlingen enttarnt wurden. Jedoch bekannte sich die PCF ausdrücklich zu einer „nationalen“ Politik, und das von Franz Dahlem (1892–1981) geleitete KPD-Sekretariat forderte die deutschen Kommunisten in Frankreich auf, sich bei der Polizei zu melden, um damit ihre Loyalität zu demonstrieren. Diese Anweisung erleichterte die Internierung, welche die Präfekten nach einem Dekret vom 18. November 1939 für besonders gefährlich erscheinende Personen ohne richterliche Entscheidung anordnen durften. Akute Sicherheitsängste hatten damit auch in Frankreich maßgeblich zur Stärkung der Exekutive beigetragen. Allerdings war der Argwohn gegenüber Kommunisten hier der spezifischen innenpolitischen Konstellation in den 1930er Jahren geschuldet. Sie trug auch zu der Entscheidung bei, „unerwünschte Männer“ – französische Staatsangehörige, die von Zivilinternierten unterschieden wurden – in das Straflager Le Vernet (in den Pyrenäen) einzuliefern.210 Demgegenüber kehrten bis Ende 1939 zwischen 150.000 und 200.000 spanische Flüchtlinge in ihr Heimatland zurück, davon die meisten in den Monaten nach Kriegsbeginn. Am Jahresende befanden sich nur noch etwa 140.000 Spanier in Frankreich.211

Internierung von September 1939 bis Mai 1940 Die Masseninternierung von „unerwünschten“ Franzosen und Ausländern, denen eine Verordnung vom 22. Juli 1939 eine Meldepflicht auferlegt hatte, begann erst nach der Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland vom 3. September. Schon zwei Tage zuvor waren alle Deutschen zu Feindstaatenangehörigen (sujets ennemis) erklärt worden. Am 4. September Tag forderte die Regierung deutsche und österreichische Männer im Alter zwischen 17 und fünfzig Jahren 209 Delacor, Friends, S. 365 f. 210 Walter, KPD-Sekretariat, S. 499, 514, 520, 522, 524–527; Eggers, Ausländer, S. 53 f.; Koessler, Internment, S. 115. 211 Eggers, Ausländer, S. 44, 53 f.

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auf, sich in ausgewiesenen Lagern einzufinden. Ab 14. September erstreckte sich diese Anordnung auch auf fünfzig- bis 65-Jährige. Ältere und jüngere Männer und alle Frauen mussten sich bei den Polizeibehörden zur Kontrolle ihrer Ausweise melden. Die Internierung, die nach einem Runderlass des Innenministeriums vom 17. September 1939 die Sichtungskommissionen kontrollieren sollten, wurde offiziell mit einer akuten Gefahr für die Sicherheit Frankreichs begründet. Nach Angaben der Hilfsorganisation Comité d’assistance aux réfugiés (CAR) befanden sich unmittelbar nach Kriegsbeginn 16.000 bis 18.000 feindliche Ausländer in Lagern. Darüber hinaus konnte Eingebürgerten ab 9. September die französische Staatsbürgerschaft rückwirkend (ab 2. September) aberkannt werden. Der ausdrückliche Hinweis auf die „Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ traf in Frankreich nach Kriegsbeginn kaum noch auf Widerspruch. So ermächtigte ein Gesetz vom 17. September die Polizei, verdächtige Ausländer zu verhaften und sie entweder abzuschieben oder in ein Internierungslager einzuweisen. Marchandeau verteidigte zwar weiterhin Frankreichs humanitäre Traditionen, billigte aber zugleich die Einrichtung von Internierungslagern für Zuwanderer, auch für politisch Verfolgte. Am 20. September verkündete der Justizminister schließlich den Beschluss der Regierung, alle männlichen deutschen Flüchtlinge im Alter von bis zu fünfzig Jahren in Internierungslager einzuweisen. Darunter waren auch Personen, die schon lange keinen Kontakt mehr zu ihrem Heimatland unterhalten hatten. Die 18.000 Internierten – davon 13.000 Deutsche und 5.000 Österreicher – wurden auf die Lager verteilt, die überall im Land eingerichtet worden waren. Bereits im November 1937 hatte der französische Generalstab entschieden, im Kriegsfall in jedem militärischen Unterbezirk ein Lager zu etablieren, in das wehrfähige Zivilisten gegnerischer Staaten eingewiesen werden sollten. Das größte Camp wurde im Herbst 1939 in Les Milles in Südfrankreich (bei Aix-en-Provence) eröffnet.212 Zwar einigte sich die französische Regierung mit dem NS-Regime, die Genfer Konvention von 1929 auch im Umgang mit Zivilisten zu beachten. Außerdem verlief die Kooperation mit der schwedischen Schutzmacht für die Deutschen und Österreicher reibungslos. Darüber hinaus unterschieden die Behörden offiziell zwischen nominellen Feindstaatenangehörigen einerseits und Anhängern des italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus andererseits. Jedoch differenzierten die Sicherheitskräfte keineswegs konsequent zwischen

212 Angaben nach: Caron, Asylum, S. 243; Eggers, Ausländer, S. 50. Vgl. auch Barbara Vormeier, Die Lage der deutschen Flüchtlinge in Frankreich. September 1939 – Juli 1942, in: Jacques Grandjonc / Theresia Grundtner (Hg.), Zone der Ungewißheit. Exil und Internierung in Südfrankreich 1933–1944, Reinbek 1990, S. 210–235, hier: S. 224–227; Eggers, Ausländer, S. 48 f.; Maga, Door, S. 440.

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den beiden Gruppen. Schon am Abend des 1. September (d. h. vor der Kriegserklärung Frankreichs gegenüber Deutschland) hatte in Paris die Garde Mobile – eine Einheit der französischen Gendarmerie mit Zuständigkeit für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit – die Wohnungen deutscher und österreichischer Flüchtlinge untersucht.213 Im Herbst 1939 wurden auch viele von ihnen festgesetzt, so der Schriftsteller Walter Benjamin (1892–1940) im Lager Vernuche (bei Nevers). Nachdem der sozialistische Parlamentsabgeordnete Marius Moutet (1876–1968) am 17. November 1939 die Einweisung vieler aus dem „Dritten Reich“ Vertriebener in der Zeitschrift La Lumière scharf kritisiert hatte, diskutierte die Abgeordnetenkammer am 8. Dezember 1939 über die Internierung. Moutet und sein Fraktionskollege Salomon Grumbach (1884–1952) riefen die Regierung auf, präzise über die Lage der Internierten zu berichten. Moutet verwies zudem auf die Gefahr, dass die Insassen der Camps ihre Situation mit der Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland vergleichen könnten, so dass Frankreichs politische Reputation leiden würde. Nach Angaben des sozialistischen Innenministers Sarraut, der in der Debatte die Politik der Regierung verteidigte, waren seit Kriegsbeginn rund 15.000 Deutsche und Österreicher in etwa sechzig Lager (camps de rassemblement) verbracht worden. Davon hatten die Behörden aber 7.000 wieder entlassen, nachdem schon im Herbst einzelne Internierte überprüft worden waren. Die Untersuchungen verliefen allerdings überaus schleppend. Zwar sollten Feindstaatenangehörige offiziell nur noch festgesetzt werden, wenn sie die „nationale Sicherheit“ gefährdeten. Bis Februar 1940 wurden jedoch 200 Internierungslager eingerichtet. Demgegenüber mussten die Flüchtlingsorganisationen ihre Arbeit einstellen. Verhaftete Feindstaatenangehörige konnten nur entlassen werden, wenn sie entlastet worden waren oder sich freiwillig für die Fremdenlegion meldeten. Zwar gelang es Sarraut, die criblage zu beschleunigen. Im Wesentlichen konnten Insassen den Lagern aber nur entkommen, wenn sie sich zum Dienst in der Armee, der Fremdenlegion oder für die prestation meldeten.214 Alles in allem sank die Zahl der Internierten bis Frühjahr 1940. Im Februar befanden sich in den insgesamt 29 Camps nur noch 6.428 Insassen. Zu dem Rückgang hatte auch die Entscheidung der Regierung beigetragen, die männlichen Deutschen im Alter zwischen zwanzig und 48 Jahren nach einem Dekret 213 NA, HO 215/452 („Letter from the War Organisation of the British Red Cross Society and Order of St. John of Jerusalem to Sir Ernest Holderness“, Home Office). Zu Schweden: Vormeier, Lage, S. 213. 214 Caron, Asylum, S. 249 f., 252 f.; Koessler, Internment, S. 116–118; Eggers, Ausländer, S. 54 f. Angabe nach: Walter, KPD-Sekretariat, S. 524; Kapp / Mynatt, Policy, S. 108. Das CSR ging Ende 1939 von 16.000 bis 18.000 seit Kriegsbeginn internierten zivilen Feindstaatenangehörigen aus. Vgl. Eggers, Ausländer, S. 50

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vom 13. Januar 1940 zu zwingen, sich zum Dienst in den CTE zu melden. Wenn sie sich weigerten, waren sie dauerhaft zu internieren. Alles in allem löste sich die Abgrenzung zwischen den äußeren Gegnern (besonders Deutschland) und dem „innere Feind“ (vor allem die Flüchtlinge) in dieser Phase zusehends auf.215 Der Angriff Deutschlands auf Frankreich am 10. Mai 1940 löste schließlich eine panische Flucht aus, so dass die Regierung die Überprüfungen und Freilassungen einstellte. Zugleich weitete sie den Kreis der festgesetzten oder überwachten Personen erheblich aus. Nunmehr wurden alle Deutschstämmigen über 16 Jahre – auch Frauen – interniert. Der Nachfolger Sarrauts als Innenminister, Georges Mandel (1885–1944), ordnete an, auch Flüchtlinge zu internieren. Damit folgte er einer Einschätzung der Sûreté Nationale, dessen Direktor unmittelbar vor Mandels Amtsübernahme behauptet hatte, dass Deutsche und Kommunisten gezielt Defätismus verbreitet hatten. Die Festnahmen begannen am 14. Mai in der Präfektur Seine. In Paris hatte der Militärgouverneur, Pierre Héring (1874–1963), schon am vorangegangenen Tag die Internierung aller Angehöriger „Großdeutschlands“ im Alter zwischen 17 und 55 Jahren angeordnet. Bald erstreckten sich die Verhaftungen auf das gesamte Land. Auch Saarländer galten als Feindstaatenangehörige. Ebenso wurden rund 10.000 Deutsche, Österreicher festgenommen, die aus Belgien, Luxemburg und den Niederlanden nach Frankreich geflohen waren. Sogar Rumänen und Polen wurden in Lager eingewiesen. Die Presse – so die Tageszeitung Le Figaro – begrüßte die Internierung von Deutschen und Österreichern als Beitrag im Kampf gegen die „fünfte Kolonne“. Demgegenüber beließ Mandel Italiener zunächst in Freiheit. Mit der Masseninternierung „feindlicher Ausländer“ ging die Flucht deutscher und österreichischer Antifaschisten vor den deutschen Truppen einher. Angesichts des schnellen Vormarsches der deutschen Truppen vollzog sich die Internierung dieser Gruppe, die überwiegend in die südfranzösischen Lager Gurs und Les Milles eingewiesen wurden, oft spontan, kopflos und chaotisch. Die panische Angst vor Spionen und Verrätern verstärkte das Durcheinander und beschleunigte die Auflösung der militärischen und zivilen Ordnung. Feindstaatenangehörige aus dem „Dritten Reich“ wurden beschleunigt in den Westen und Süden des Landes evakuiert. Hier litten sie unter unerträglichen Bedingungen. Insgesamt internierten die Behörden in den Wochen vom deutschen Angriff bis zum Waffenstillstand rund 20.000 Personen. Ihre Hoffnung behielten sie auch in den kommenden Wochen nur, indem sie sich an die republikanischen Traditio-

215 Caron, Asylum, S. 254; Eggers, Ausländer, S. 50, 52–54.

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nen Frankreichs als Folge der Revolution des Jahres 1789 klammerten und das Land als Hort der Aufklärung idealisierten.216

Internierung ab Juni 1940 Mit der Niederlage Frankreichs, die der Waffenstillstandsvertrag mit dem „Dritten Reich“ am 22. Juni besiegelte, wurden die Angehörigen der neuen Kriegsgegner – besonders Briten – zu Opfern der Internierung. So registrierten die Behörden im Lager Vittel (Vogesen) am 15. Oktober 1942 1.521 Zivilinternierte, die dem Vereinigten Königreich angehörten. In St. Denis (nahe Paris) eröffnete die Regierung im Juni 1940 ein neues Lager, das schon Anfang 1942 mit über 1.000 und am 15. Oktober mit 1.535 britischen Zivilisten belegt war. Im Juni 1943 belief sich die Zahl der Insassen sogar auf 1.931, da im März 268 Briten aus der unbesetzten Zone Frankreichs hierher verschoben worden waren. Wegen der Überbelegung, die mit einem Mangel an Kleidung und einer unzureichenden Versorgung einherging, sollten 300 Internierte in das Lager Clermont verlegt werden. Im Gegensatz zu den Staatsangehörigen der westlichen Alliierten verhafteten die französischen Behörden nach der Kriegserklärung Mussolinis am 10. Juni 1940 nur wenige Italiener, die sie der Spionage oder Subversion verdächtigten. Den Behörden fehlte im militärischen Zusammenbruch auch die Zeit für eine Sicherheitspolitik, die auf die neue Bedrohung reagierte.217 Vor allem die Lager in Südfrankreich wurden vor der Besetzung durch die Wehrmacht vorübergehend zu einem Zufluchtsort. Einigen Internierten wie Hannah Arendt (1906–1975), die im Herbst 1933 über Prag und Genf nach Paris gekommen war und 1937 die deutsche Staatsbürgerschaft verloren hatte, gelang vor der Übernahme der Camps durch deutsche Truppen die Flucht aus Lagern wie Gurs, wo sich aber noch am Tag des Waffenstillstands 9.771 Frauen (7.112 Deutsche und 2.171 Österreicherinnen) befanden, darunter viele deutsche Regimegegner. Hier litten die Insassen unter der Enge und mangelnden Versorgung. In Les Milles, wo viele deutsche und österreichische Künstler und Intellektuelle wie Lion Feuchtwanger (1884–1958) und Golo Mann (1909–1994) fest-

216 Krob, Paradise, S. 54, 58 f., 63; Caron, Asylum, S. 259–261; Eggers, Ausländer, S. 64–68, 234 (Angabe). Vgl. daneben Vormeier, Lage, S. 214; Koessler, Internment, S. 119–121; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 244–247. 217 NA, FO 916/906 (Schreiben vom 19. Dezember 1942). Vgl. auch Jonathan F. Vance, Civilian Internees – World War II, in: ders. (Hg.), Encyclopedia, S. 51 f., hier; S. 51.

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gehalten wurden, stieg die Zahl der Insassen nach dem deutschen Angriff bis Mitte Juni 1942 um das Vierfache.218 Noch schlechter waren die Lebensbedingungen im Lager Rivesaltes, das im Ersten Weltkrieg als Durchgangslager für Kolonialtruppen gedient hatte und 1938 erneut eröffnet worden war. Hier lebten besonders viele Kindern, denen Nahrungsmittel und sanitäre Einrichtungen fehlten. Das Konzept des Innenministeriums im Vichy-Regime, den Lageraufenthalt durch Schulunterricht, Betreuungsangebote und Kurse zur Ausbildung zu humanisieren, scheiterte deshalb schon am zunehmenden Hunger der jungen Insassen. Im Juli 1941 waren die Kinder, die in Rivesaltes litten, vom Tode bedroht. Damit war auch Plänen des Hilfsverbandes Organisation-Reconstruction Travail, jüdische Jugendliche auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten, die Grundlage entzogen. Von August bis November 1942 (als es aufgelöst wurde) diente das Camp schließlich nur noch als Sammellager für Deportationen von Juden nach Osteuropa.219 In Les Milles initiierten die Insassen zumindest ein beeindruckendes Spektrum kultureller und intellektueller Aktivitäten. Hier wie auch in den anderen vielerorts improvisierten Lagern verschlechterten sich jedoch die – ohnehin schon angespannten – Lebensbedingungen im Frühsommer 1940 angesichts des Zusammenbruchs Frankreichs nochmals drastisch. Während die französischen Militärbehörden darauf abzielten, zivile Feindstaatenangehörige dem Zugriff der immer schneller heranrückenden deutschen Truppen zu entziehen, baten die Flüchtlinge unter den Internierten die Lagerkommandanten, sie freizulassen und ihnen damit den rettenden Weg nach Spanien zu eröffnen. Überstürzte Evakuierungen durch Züge führten zu planlosen Verlegungen und ziellosen Fahrten, die das Leiden der Insassen verschlimmerten. In allen Camps litten die Insassen 1940 unter der unzureichenden Versorgung, der schlechten Unterbringung, der mangelnden Hygiene, den daraus resultierenden Krankheiten und der lähmenden Langeweile. Vielerorts waren Gegner des NS-Regimes gezwungen, eng mit Nationalsozialisten zusammenzuleben. „Unerwünschte“ Franzosen und festgesetzte Spanier schob das Vichy-Regime auch nach Nordafrika ab, wo sie zusammen mit Kommunisten aus Algerien und Marokko interniert wurden.220 218 Angaben nach: Eggers, Ausländer, S. 68 f. Zu Arendt: Thomas Meyer, Von „Wir Flüchtlinge“ zu „Es gibt nur ein wirkliches Menschenrecht“. Hannah Arendts Denk- und Lebensweg von Berlin nach New York, in: Dorlis Blume / Monika Boll / Raphael Gross (Hg.), Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert, München 32020, S. 39–48, hier: S. 40 f. 219 Eggers, Ausländer, S. 92–104. 220 Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 256; Kundrus, „Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg“, S. 121; Eggers, Ausländer, S. 69–71, 202–212, 218, 242–245. Vgl. auch den Bericht in: Zadek (Hg.), Sie flohen vor dem Hakenkreuz, S. 63 f.

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Die verbliebenen Lagerinsassen behandelte das Innenministerium, das im November 1940 die Kontrolle der Camps vom Verteidigungsministerium übernahm, als Internierte, obwohl die zuständigen Präfekturen für die Betroffenen keine Anordnungen zur Festsetzung erlassen hatten. Allerdings konnten viele Lagerinsassen auch entweichen, in vielen Fällen mit Unterstützung von Flüchtlingshilfsorganisationen und der Präfekturen, die 1941 unklare und wechselnde Direktiven des Vichy-Regimes oft ausnutzten, um Entlassungen anzuordnen. Diejenigen Internierten, denen die Flucht nicht gelang, wurden vom autoritären Vichy-Regime unter Philippe Pétain (1856-1951) festgesetzt, dem das Lagersystem auch zur Inhaftierung „unerwünschter“ Franzosen diente. Dabei wirkten die Präfekten aktiv mit. Dagegen ging die Zahl der Camps für Ausländer von 27 im Herbst 1940 auf elf im Frühjahr 1941 zurück. Vom Juli dieses Jahres bis zum Beginn der systematischen Deportationen im Sommer 1942 nahm die Zahl der ausländischen Lagerinsassen von 23.150 (darunter 12.150 Juden) auf 11.452 (davon 6.965 Juden) ab. Die Internierten wurden überwiegend zur Zwangsarbeit rekrutiert. Viele von ihnen bezogen die französischen Behörden schließlich in die Deportationen ein, die sie zwar auf Befehl der deutschen Besatzungsverwaltung durchführten, aber mit eigenen Zielen und Initiativen verknüpften. So lieferte das Vichy-Regime im August 1942 die Juden, die in der unbesetzten Zone entweder in Camps oder noch in Freiheit lebten, den deutschen Verfolgern aus. Präfekturen, Lagerverwaltungen, die Bereitschaftspolizei (Groupes mobiles de réserve) und Kommissionen, die mit der criblage beauftragt waren, wirkten aktiv und gezielt an der Sammlung und am Abtransport von inhaftierten Flüchtlingen in die Konzentrationslager mit.221 Viele Verfolgte der NS-Diktatur, die nicht über Marseille oder Portugal mit Visa in die USA gelangten, wurden in Spanien erneut interniert. Hier waren die Bedingungen im Lager Miranda de Ebro besonders miserabel, bevor das Britische Rote Kreuz Anfang 1941 Hilfsleistungen aufnahm. In dem Camp fristeten im Oktober 600 Gefangene ihr Leben. Nachdem Ende 1942 auch Vichy-Frankreich von deutschen Truppen besetzt worden war, verschlechterte sich die Situation aber erneut, da weitere Verfolgte nach Spanien flohen. Nun mussten im Lager Miranda, das für 1.000 Insassen ausgelegt war, 3.500 Internierte versorgt werden.222

221 Eggers, Ausländer, S. 90, 130, 167–185, 232, 234; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 250 f. 222 Cambray / Briggs, Red Cross, S. 373 f. (Angabe: S. 378); de Syon / Ericson, Neutral Internees, S. 204. Angaben nach: Kempner, Enemy Alien Problem, S. 450 f.; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 43, 45 f.; Eggers, Ausländer, S. 63.

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Auslieferung von Flüchtlingen und der Holocaust Viele der verbliebenen deutschen und österreichischen Flüchtlinge lieferte die Vichy-Regierung nach Artikel 19 des Waffenstillstandsvertrages aus, den Frankreich am 22. Juni 1940 in Compiègne mit Deutschland abgeschlossen hatte. Pétains Regime war seinerseits besonders an der Freilassung von rund zwei Millionen Kriegsgefangenen interessiert, die 1940 in die Hand der deutschen Truppen gefallen waren und ab November in Berlin von einer diplomatischen Mission in Berlin unter Georges Scapini (1893–1976) vertreten wurden. Die NS-Führung signalisierte Entgegenkommen, zwang den État français aber zur Auslieferung von Regimegegnern, die auf einer „schwarzen Liste“ verzeichnet worden waren. Daraufhin inspizierte eine Kommission, der u. a. Vertreter des Reichssicherheitshauptamtes und des Oberkommandos der Wehrmacht angehörten, unter Federführung des Leiters des „Referates Kult E“ im Auswärtigen Amt, Ernst Kundt (1883–1974), die Lager in Frankreich, um hier versteckte Regimegegner und Juden zu identifizieren und zu verhaften. Zudem sollten erwünschte „Reichsdeutsche“ in das „Dritte Reich“ zurückgeführt werden. Auch viele Kritiker des Nationalsozialismus wie der Sozialdemokrat Rudolf Hilferding (1877– 1941) und der Stahlunternehmer Fritz Thyssen (1873–1951) wurden ausgeliefert. Der Stahlindustrielle hatte die NSDAP zunächst finanziell unterstützt, war aber 1934 wegen seines ständischen Wirtschaftsprogramms bei den Machthabern in Ungnade gefallen und über die Schweiz nach Südfrankreich geflohen. Hier aufgegriffen, wurde er nach der Einlieferung in ein Sanatorium in Neubabelsberg (bei Potsdam) in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau verschleppt, bevor er kurz vor Kriegsende in Südtirol wieder die Freiheit erlangte. In Südfrankreich konnten demgegenüber viele gefährdete Flüchtlinge trotz des Fahndungsdrucks der deutschen Behörden erneut fliehen, da diverse Hilfskomitees die (illegale) Ausreise, in der Regel nach Spanien oder Portugal, ermöglichten. Zudem konkurrierten bei der Registrierung und Auslieferung von Internierten Institutionen des „Dritten Reiches“, besonders das Auswärtige Amt, das Reichssicherheitshauptamt und die Militärverwaltung in Paris. Konflikte zwischen diesen Institutionen führten zu Reibungsverlusten und Verzögerungen, so dass zumindest einzelne Verfolgte entkommen konnten.223 Auf der Grundlage eines Dekretes vom 4. Oktober 1940 wurden Juden – darunter auch 6.500 aus Baden und der Pfalz abgeschobene – in den südfranzösi223 Vormeier, Lage, S. 218–221 (Angabe: S. 221); Krob, Paradise, S. 62; Kundrus, „Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg“, S. 119; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 248. Zur Ämterkonkurrenz der deutschen Verfolger: Eggers, Ausländer, S. 248–252, 333–358. Zu Thyssen: Henry A. Turner, Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985, S. 177, 180, 403 f.

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schen Lagern (besonders in Gurs) konzentriert, für die ab 17. Dezember nicht mehr (wie zuvor) die Armee, sondern das Innenministerium des Vichy-Regimes zuständig war. Als diese Behörde im November 1941 auf Druck der Gestapo die Erteilung von Ausreisevisen weiter einschränkte, waren in der unbesetzten Zone Frankreichs noch 14.500 Ausländer interniert, darunter über 5.000 deutsche Juden. In insgesamt zehn Hauptlagern – darunter Les Milles, Rieucros, Gurs und Saint-Cyprien – litten auch andere Zivilisten. Drei weitere Camps – Noé, Récébédou und Rivesaltes – hatten besonders Kranke, Gebrechliche, Alte und Frauen mit Kindern aufgenommen. Nach dem Beginn des Holocaust wurden die Insassen kleiner Lager (wie Rivesaltes und Noé) überwiegend zunächst nach Gurs verlegt, bevor sie ab Juli 1942 in die Vernichtungslager im besetzten Polen deportiert und dort ermordet wurden. Zudem ließ das Vichy-Regime jüdische Internierte der Camps, die im Raum Toulouse eingerichtet worden waren, nach Nordfrankreich und anschließend in die Vernichtungslager abtransportieren. Allein vom Centre national de rassemblement des Israélites in Riveslates verbrachte die französische Polizei auf Druck der NS-Führung 2.300 Juden vorübergehend in das das Sammellager Drancy (nahe Paris), das die Vichy-Regierung im August 1941 eingerichtet hatte, um hier Ausländer festzusetzen. Insgesamt durchliefen von den 77.000 Juden, die aus Frankreich deportiert wurden, 67.000 Drancy. Nur drei Prozent von ihnen überlebten den Holocaust. Zu den Insassen des Camps gehörten aber auch „unerwünschte“ Franzosen (indésirables) wie Sinti, Roma und Homosexuelle. Bürger der alliierten Staaten blieben aber überwiegend interniert, so in den Lagern Gurs und Le Vernet. Auch in einem Camp in Besançon litten u. a. britische Frauen, die vor allem im Raum Paris verhaftet worden waren. Insgesamt erfasste die Internierung von Zivilisten in Frankreich auch im Zweiten Weltkrieg verschiedene Gruppen von „Feinden“. Dabei überschnitten sich nationale und soziale Exklusion. Davon hebt sich qualitativ der Holocaust ab, dem 76.000 Juden – darunter mehr als 7.000 deutsche – zum Opfer fielen.224 Der gezielte Massenmord, der mit der Deportation von 1.112 Personen aus dem Lager Compiègne bei Paris am 27. März 1942 begann, bezog nach der Besetzung durch deutsche Truppen im November 1942 ab Februar 1943 die Juden im Süden Frankreichs ein, sowohl Staatsbürger des Landes als auch Ausländer. Andere Franzosen wurden zur Arbeit im „Dritten Reich“ gezwungen. Demge224 NA, HO 215/110 (Bericht vom 15. Oktober 1943). Angabe nach: Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 262. Vgl. auch Sarah Fishman, Vichy France, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 302 f., hier: S. 302; Thénault, Internment, S. 193, 196 f.; Vormeier, Lage, S. 216, 218, 223 (Angabe); Pitzer, Night, S. 246 f.; Krob, Paradise, S. 70; Koessler, Internment, S. 118, 123 f.; Eggers, Ausländer, S. 254 f.

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genüber privilegierten die deutschen Besatzer ehemalige französische Minister wie Paul Reynaud (1878–1966) und Éduard Daladier bei der Internierung. Der frühere Botschafter in Berlin, André François-Poncet (1887–1978), wurde sogar erst im August 1943 verhaftet und verhört. Die deutschen Behörden internierten den prominenten Gefangenen in einem Schloss bei Kitzbühel und anschließend in einem Luxushotel im Kleinwalsertal.225

Befreiung Nach der Landung alliierter Truppen in der Normandie am 6. Juni 1944 wurden in den darauffolgenden Monaten die Insassen aller Lager befreit. In Vittel befanden sich im Oktober noch 1.864 Internierte, darunter 185 im Alter von unter sechs Jahren. 1.417 gehörten Großbritannien und dem Commonwealth, 255 den USA und 78 der Sowjetunion an. Viele der Insassen waren 1941 aus dem Lager Besançon nach Vittel gebracht worden. Unmittelbar nach der Befreiung des Camps evakuierte die 6. US-Armeegruppe die rund 2.000 britischen und amerikanischen Insassen nach Paris, andere Wohnorte in Frankreich oder in ihre Heimatländer. Die alliierte Militärführung setzte sich damit über eine Empfehlung des Vertreters des IKRK hinweg, der vorgeschlagen hatte, die Internierten vor allem wegen des Wohnraummangels in Frankreich zunächst im Lager zu belassen. Vertreter des Roten Kreuzes besuchten das Camp in Vittel auch während seiner Auflösung regelmäßig. Die verbliebenen Insassen anderer Lager wurden beschleunigt in ihre Heimat zurückgeführt. Zunächst entließ das Oberkommando der Alliierten im Allgemeinen gefangene Zivilisten, die sich selber versorgen konnten und bis 1940 in Paris gewohnt hatten. Die britische Regierung führte ihre Staatsbürger über Marseille in das Vereinigte Königreich zurück, wenn sie nicht in Frankreich bleiben wollten.226

225 Dazu: André François-Poncet, Tagebuch eines Gefangenen. Erinnerungen eines Jahrhundertzeugen, München 2015. Vgl. auch Eggers, Ausländer, S. 320–330; Fishman, Vichy France, S. 303; Longerich, Hitler, S. 911. 226 NA, WO 219/1366 (Schreiben vom 3. Oktober 1944 und Memorandum vom 13. Oktober 1944) und Angaben nach der Nachricht der 6. Armeegruppe an das Hauptquartier der alliierten Truppen vom 12. Oktober 1944, in: NA, WO 219/1366.

6.4 Sowjetunion



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6.4 Sowjetunion Autonomiebestrebungen der Minderheiten, Sicherheitspolitik und die Verfolgung von „Volksfeinden“ in der stalinistischen Diktatur vor 1941 Die im Ersten Weltkrieg eingesetzten Instrumente zur Mobilisierung der Ressourcen – so zur Erfassung der Getreideernte und -vorräte – nutzten die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution für ihre revolutionäre Politik. Zunächst ließ die sowjetische Führung den nationalen Minderheiten auch an der Westgrenze Freiheiten. So bekräftigte ein Beschluss des Politbüros ihre Rechte. Damit sollten vor allem Polen, Finnen und Ukrainer nicht nur fest in die Sowjetunion integriert werden, sondern auch Angehörige ihrer Volksgruppen in den angrenzenden westlichen Staaten anziehen. Ebenso bemühte sich das Politbüro um die Rückkehr von Gruppen, die nach der Oktoberrevolution geflohen waren, so vieler Wolgadeutscher. Die erhoffte Magnetwirkung trat aber nur begrenzt ein. Proteste von Minderheiten und Konflikte an der West- und Ostgrenze (so zwischen Russen und Koreanern im Fernen Osten) nährten im Kreml sogar die Sorge um die Sicherheit des Landes. Im Besonderen befürchtete die sowjetische Führung Interventionen anderer Staaten, so Deutschlands zugunsten der rund 1,2 Millionen Sowjetbürger deutscher Nationalität (0,8 Prozent der Gesamtbevölkerung), die 1926 in dem neuen multiethnischen Reich lebten. Angesichts dieser Gefahrenwahrnehmung wurden die ethnischen Minderheiten an der Westgrenze des Reiches wiederholt der Illoyalität verdächtigt und bezichtigt. Die daraus resultierenden repressiven Sicherheitsmaßnahmen konterkarierten aber das noch aufrechterhaltende Angebot kultureller Autonomie. Den Widerspruch konnten die Machthaber in den 1920er Jahren letztlich nicht auflösen.227 Im Zuge der Stalinisierung verbreiteten die Moskauer Machthaber in den dreißiger Jahren eine Spionagehysterie. Dabei schürten sie das Misstrauen gegen „innere Feinde“. Dazu zählten nicht nur „Kulaken“, „Bürgerliche“ und andere „Klassengegner“, sondern auch Deutsche und Russlanddeutsche, so diejenigen in Wolhynien. Mit ihrer Repressionspolitik knüpften die Behörden z. T. an die Propaganda an, mit der die Minderheiten im Ersten Weltkrieg diffamiert und dämonisiert worden waren. Ebenso griff Stalin auf die überkommene Politik der Russifizierung zurück, die im Ersten Weltkrieg erheblich radikalisiert

227 Martin, Origins, S. 829–833. Angabe nach: Ingeborg Fleischhauer, „Unternehmen Barbarossa“ und die Zwangsumsiedlung der Deutschen in der UdSSR, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 30 (1982), S. 299–321, hier: S. 302.

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worden war. Sie mündete letztlich in eine „sowjetische Xenophobie“, in der sich ethnische, politische und geostrategische Kategorien überlagerten.228 Im Gegensatz zum Zarenreich war die Fremdenfeindlichkeit in den 1930er Jahren aber vorrangig ideologisch motiviert. Vor allem im Zuge der Kollektivierung und Entkulakisierung wurden „Volksfeinde“ diffamiert, die oft unter den Angehörigen von Minderheiten vermutet wurden. Die ideologisch aufgeladene Kritik an Rückständen bei der Erfassung von Getreide und anderer landwirtschaftlicher Erzeugnisse 1932 löste im darauffolgenden Jahr ein Massensterben aus, das sich von 1935 bis 1938 mit dem „Großen Terror“ gegen (tatsächliche oder vermeintliche) Regimegegner verquickte. Insgesamt fielen in diesen Jahren mindestens neun Volksgruppen „ethnischen Säuberungen“ zum Opfer.229 In diesen Prozessen wurde auch die deutsche Bevölkerungsgruppe schrittweise verdrängt. Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft, die Stalin 1929 angeordnet hatten, diffamierten nicht nur Funktionäre, sondern auch große Bevölkerungsgruppen die deutsche Minderheit als „Kulaken“. Im September 1929 versammelten sich Deutsche in Moskau, um hier Ausreisegenehmigungen zu fordern. Sie wurden in Deutschland von der Organisation „Brüder in Not“ unterstützt, deren Arbeit Reichspräsident Paul von Hindenburg mit persönlichen Spenden in Höhe von 200.000 Reichsmark förderte. Besorgt um die Sicherheit der Grenzen, begann die sowjetische Führung in den frühen 1930er Jahren mit Deportationen. Zudem wurden die Deutschen – wie auch andere Minderheiten – bei der Besetzung hoher Positionen benachteiligt. 1933 stellten sie sogar in der Wolgarepublik, wo sie rund zwei Drittel der Bevölkerung umfassten, lediglich 39,2 Prozent der Spitzenfunktionäre. Auf der mittleren und unteren Ebene der Parteiorgane und Staatsverwaltung betrug ihr Anteil 56,3 bzw. 71,0 Prozent.230 Die Zwangsevakuierung von Deutschen wurde nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und dem Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrages 1933/34 verstärkt. Zugleich erhöhte eine erneute Kampagne des Verbandes „Brüder in Not“ die Sorgen der sowjetischen Führung um die Loyalität der in der Sowjetunion lebenden Deutschen, zumal das NS-Regime die Hilfsaktion in den Dienst ihrer aggressiven Außenpolitik stellte. Ein Erlass des Politbüros vom 5. November 1934 zum Kampf gegen „konterrevolutionäre“ Kräfte in 228 Zitat: Martin, Origins, S. 860. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 108–134; Seth Bernstein, Burying the Alliance: Internment, Repatriation and the Politics of the Sacred in Occupied Germany, in: Journal of Contemporary History 53 (2017), S. 710–730, hier: S. 723. 229 Martin, Origins, S. 815, 838–858, 860 f. 230 Angaben nach: Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 87 f. Vgl. auch Martin, Origins, S. 836 f.; Dönninghaus, „Trojanisches Pferd“ für Stalin?, S. 59–62 (Zitat: S. 61).

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den deutschen Siedlungsgebieten löste in der Ukraine, in Zentralrussland und in Sibirien Verhaftungen und Schauprozesse aus. Angesichts der Furcht vor einem Krieg, der aus der Sicht der Machthaber strenge Sicherheitsmaßnahmen erforderte, ließ das Volkskommissariat des Innern (NKWD) zudem schon Ende 1934 Deutsche in Listen verzeichnen, um sie im Notfall schneller internieren zu können. Damit einhergehend, wurden in der Westukraine 1935 die Bewohner deutscher Gemeinden aus einem hundert Kilometer breiten Grenzstreifen zwangsevakuiert. Ab 1936 ging das NKWD auch verstärkt gegen deutsche Emigranten vor, und in den folgenden zwei Jahren wurden viele Deutsche Opfer der Massenexekutionen, die den „Großen Terror“ kennzeichneten. Im Zuge der Aktion gegen Deutsche entstammten 76 Prozent der Betroffenen dieser Volksgruppe. Die anderen Opfer dieser Kampagne wurden wahllos als „Volksfeinde“ ermordet.231 Minderheiten, die offiziell als unzuverlässig galten, evakuierte das Regime erneut zwangsweise aus den Grenzgebieten. Darunter waren auch viele deutschstämmige Landwirte, besonders in der Wolgaregion. Darüber hinaus drängte der Geheimdienst (die OGPU bzw. das NKWD) die Partei- und Staatsführung in Moskau, gegen Sowjetdeutsche als „Spione“ vorzugehen. Diese „inneren Feinden“ waren aus Sicht des Partei- und Staatsapparates ein Sicherheitsrisiko. Ab 1932 wurden wolgadeutsche Intellektuelle wegen „Pangermanismus“ zu Gefängnis und Verbannung verurteilt. Ihnen war auch vorgeworfen worden, „konterrevolutionäre Ziele“ zu verfolgen. Der Kampf gegen den nationalen „Separatismus“ erreichte von 1936 bis 1939 in der UdSSR einen ersten Höhepunkt. Nach dem Nichtangriffspakt mit dem nationalsozialistischen Deutschland beschuldigte Stalin 1939/40 andere Minderheiten wie die Polen, Letten und Finnen, die Kollektivierung und die Verdrängung der „Kulaken“ zu sabotieren, in den Grenzgebieten andere Staaten zu unterstützen und damit die Sowjetmacht zu bedrohen.232

Die Deportation von Feindstaatenangehörigen 1941 Damit verengte sich in allen Bereichen des Lebens der Spielraum der Deutschen, die nach dem Angriff des nationalsozialistischen Deutschlands auf die

231 Martin, Origins, S. 847, 853, 856 f.; Fleischhauer, „Unternehmen Barbarossa“, S. 304, 319, 321. 232 Krieger, Bundesbürger, S. 7–20; Brandes, Die Deutschen in Russland, S. 127; Long, From Privileged to Dispossessed, S. 252; Holquist, To Count, to Extract, and to Exterminate, S. 132 f.; Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 89 f.

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Sowjetunion schließlich deportiert wurden. Schon am 22. Juni 1941 übertrug eine Anordnung Militärgerichten die Rechtsprechung bei allen Verbrechen, die sich gegen die Sicherheit des Staates, die Verteidigung und die öffentliche Ordnung richteten. Zugleich bereitete die sowjetische Geheimpolizei, das NKWD, die Verhaftung und Internierung deutscher Staatsangehöriger in der Staat Moskau und dem umliegenden Gebiet vor. Überdies ordnete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR an demselben Tag an, als gefährlich eingestufte Deutsche aus den Gebieten zu deportieren, über die der Kriegszustand verhängt worden war. Die katastrophalen Niederlagen der sowjetischen Armee in den ersten Monaten des Krieges verschärften den Handlungsdruck der Moskauer Führung, in der Stalins Macht vorübergehend abnahm. Den Deutschen und Russlanddeutschen wurde vor diesem Hintergrund „Spionage“ und „Diversion“ vorgeworfen. Als „fünfte Kolonne“ der zunächst rasch vordringenden deutschen Truppen verdächtigt und denunziert, begann am 15. August mit der Zwangsaussiedlung von 53.000 Krimdeutschen in den Nordkaukasus die Verschleppung der pauschal verfemten Minderheit. Zudem wurden von Juli bis Oktober rund 100.000 Deutsche aus der Ukraine nach Kasachstan, Kirgisien oder Tadschikistan deportiert.233 Angesichts des schnellen deutschen Vorstoßes betrachtete die sowjetische Partei- und Staatsführung unter Stalin vor allem die Deutschstämmigen an der Wolga als Sicherheitsrisiko. Schon im Juli 1941 wies das NKWD die Bewohner der Hauptstadt der Wolgarepublik Engels (Pokrowsk) aus, und Mitte August 1941 inszenierte es Aktionen, bei denen angebliche deutsche Agenten festgenommen wurden. Am 28. August verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjets schließlich nach einem vorangegangenen Beschluss des Zentralkomitees der kommunistischen Partei eine Verfügung, welche die Deportation der Wolgadeutschen anordnete. Dazu erließ das Staatliche Verteidigungskomitee der UdSSR am 6. September 1941 eine Sonderverordnung. Sie nahm die Vorstellung vom „inneren Feind“ auf, indem sie die Deutschen als „Diversanten und Spione[n]“ bezeichnete. Ein Erlass zur Auflösung der Wolgadeutschen Republik folgte am nächsten Tag. Daraufhin wurden von September bis November rund 650.000 bis 700.000 Deutsche nach Sibirien, Kasachstan und Zentralasien verbracht.234

233 Vgl. Krieger, Kolonisten, S. 116 f.; ders., Bundesbürger, S. 26–28, 62, 152–158, 195; Brandes, Die Deutschen in Russland, S. 129. Angaben nach: Dönninghaus, Deutschen, S. 518, 529; ders., Politik, S. 593–596; Levine, Frontiers, S. 105; Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 306. 234 Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 308; Fleischhauer, „Unternehmen Barbarossa“, S. 311–313 (Zitat: S. 312), 315, 318 (Angabe); Ther, Seite, S. 135.

6.4 Sowjetunion 

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Ihnen folgten Deutsche aus dem Nordkaukasus, den transkaukasischen Republiken, der Ukraine, Leningrad und Moskau. Die Aktion erfasste zunächst vor allem die Städte. So waren von den 5.500 Deutschen, die das NKWD in Moskau aufgespürt hatte, bereits am 19. September 1941 in drei Zügen 3.524 deportiert worden. Auch die Dörfer der Wolgadeutschen wurden von Truppen abgeriegelt. Den Bewohnern wurden haltlose Zusagen auf Unterstützung in den neuen östlichen Siedlungsgebieten gegebenen, so dass der Abtransport weitgehend geordnet verlief. Nur wenige russische Nachbarn halfen den Deportierten und solidarisierten sich mit ihnen. Alles in allem wurden 1941 rund 794.000 und im folgenden Jahr nochmals 50.000 Menschen entwurzelt. Insgesamt waren von den Deportationen während des Zweiten Weltkrieges 900.000 bis 1,2 Millionen Sowjetbürger deutscher Abstammung betroffen. Davon hatten rund 480.000 zuvor in der Wolgaregion gelebt. Die NS-Führung – so der neue Minister für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg (1893–1946) – reagierte auf die Zwangsevakuierung der Deutschen, indem sie den Hass auf die Juden schürte und die Mordaktionen der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes gegen diese Gruppe und Kommunisten (vor allem „Kommissare“) verstärkte. Aus der Sicht der Nationalsozialisten war diese radikale Kriegführung gegen „Feinde“ und Partisanen im Hinterland eine „Kriegsnotwendigkeit“. Da die NS-Führung die Niederlage von 1918 als Folge einer Schwäche der „Heimatfront“ infolge Mangels und der Agitation „innerer Feinde“ deutete, wurden im Zweiten Weltkrieg die besetzten Gebiete rücksichtslos ausgebeutet. Rohstoffe und Arbeitskräfte sollten ab 1941 ausschließlich die Fähigkeit zur Verteidigung der „Festung Europa“ steigern. Auch die Massengewalt gegen Zivilisten – besonders Partisanen – war nicht zuletzt dem hypertrophen rassistischen und antisemitischen Sicherheitsverständnis der Machthaber des „Dritten Reiches“ geschuldet, in dem sich die NS-Ideologie mit einer Eskalation der Kampfführung an der Ostfront verband. Mit dem Verlust der militärischen Initiative ging überdies die systematische Ermordung der Juden einher. So forderte Rosenberg am 11. September 1941 deren Deportation aus Mitteleuropa. Hitler lehnte dies zwar noch ab, ordnete aber an, die verfemte Minderheit baldmöglichst aus Deutschland zu entfernen. Humanitäre Gesichtspunkte wies er dabei entschieden zurück.235 235 Angaben nach: Brandes, Die Deutschen in Russland, S. 129; Martin, Origins, S. 820. Vgl. auch Longerich, Hitler, S. 812 f.; Dieckmann / Quinkert, „Kriegsnotwendigkeiten“, S. 10, 12 f., 20, 24, 26, 28 f.; Edele / Geyer, States of Exception, S. 352–356, 365, 373; Ther, Seite, S. 135; Kundrus, „Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg“, S. 210 f.; Alonso / Kramer / Rodrigo, Introduction, S. 16 f. Kershaw, Höllensturz, S. 561. Von 640.000 bis Ende 1941 nach Sibirien und Zentralasien deportierten Deutschen wird ausgegangen in: Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 311. Zu den Reaktionen der Nationalsozialisten: Jürgen Matthäus

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Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg im Rahmen der „Operation Barbarossa“, der den totalen Krieg zwischen Gesellschaften mit dem nationalsozialistischen Rassismus und Sozialdarwinismus verschmolz, trug letztlich maßgeblich zur Radikalisierung der sowjetischen Politik gegenüber „Feinden“ bei. Die Zwangsaussiedlung, die 1942 in der UdSSR auch Sowjetbürger finnischer, rumänischer, ungarischer und italienischer Abstammung erfasste, verstärkte Feindbilder, die der Kriegsmobilisierung dienen sollten. Die Verschleppung der Deutschen, Russlanddeutschen und anderer Minderheiten lenkte auch von den gravierenden Fehlern ab, die vorrangig für die militärischen Niederlagen bis Herbst 1941 verantwortlich waren. Diesem Ziel diente auch der Ausschluss von Deutschstämmigen aus der Roten Armee. Die demobilisierten Soldaten fasste das NKWD zu „Arbeitsarmeen“ (trudovaja armija) zusammen, die beim Bau von Infrastrukturprojekten und in der Industrie eingesetzt wurden. In diesen Einheiten mussten auch die deportierten deutschen Männer zwischen 17 und fünfzig Jahren unter haftähnlichen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten. Viele von ihnen starben infolge der enormen Belastungen, denen sie vor allem in Bergwerken ausgesetzt waren.236

Lagerhaft, Zwangsarbeit und die Opfer Deutsche und Russlanddeutsche kamen 1941 und 1942 überwiegend nach Sibirien und Kasachstan, wo sie notdürftig in „Sondersiedlungen“ untergebracht wurden. Hier mussten sie unter Aufsicht des NKWD harte Zwangsarbeit leisten. Angesichts der kritischen Lage an der Front vor Stalingrad befahl das Staatliche Verteidigungskomitee mit Stalin Ende 1942, die erzwungene Rekrutierung von Deutschen auszuweiten. Insgesamt wurden im Zweiten Weltkrieg rund 440.000 Russlanddeutsche entwurzelt, darunter 250.000 „Administrativumsiedler“, die als russische Staatsbürger in den von Deutschland besetzten Gebieten gelebt hatten. 350.000 Verschleppte mussten in Sibirien oder Zentralasien für die Sowjetunion arbeiten. In den Lagern, die oft in lebensfeindlichen Regionen eingerichtet wurden, hatten sie in Kolonien zur Land- und Industriearbeit, Zwangsarbeits- und Repressionslagern „korrektive Arbeit“ zu leisten. 70.000 von ihnen fielen der enormen Belastung zum Opfer. Nach begründeten Schätzungen star-

/ Frank Bajohr (Hg.), Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, Frankfurt/M. 2015, S. 408 f.; Fleischhauer, „Unternehmen Barbarossa“, S. 314 f. 236 Piskorski, Die Verjagten, S. 140; Dalos, Geschichte, S. 172–185, 190–207; Krieger, Kolonisten, S. 116, 119; ders., Bundesbürger, S. 31, 197; Fleischhauer, „Unternehmen Barbarossa“, S. 310. Zum NS-Krieg: Rutherford, German War, S. 223, 228–231, 235.

6.4 Sowjetunion 

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ben von den 970.000 Deutschen, die deportiert wurden, rund 300.000 (30 Prozent). Insgesamt blieben von den rund 1,5 Millionen Deutschen, die Anfang 1941 in der Sowjetunion ansässig waren, nur 1,2 bis 1,3 Millionen am Leben.237 Allein 1943 starben nach offiziellen Angaben 6,6 Prozent der deutschen Zwangsarbeiter. Weitere Minderheiten – so die 496.460 Tschetschenen und Inguschen, 189.000 Krimtataren, 15.000 Griechen, 13.400 Bulgaren und fast 10.000 Armenier – wurden 1944 verschleppt. Noch 1953 stellten Deutsche mit rund 1,2 Millionen Personen 43,4 Prozent der Sondersiedler, gefolgt von 316.700 Tschetschenen (11,2 Prozent). Das Eigentum und Vermögen der Verschleppten in den früheren Siedlungsgebieten wurden beschlagnahmt. Auch plünderten russische Nachbarn verlassene Häuser, und sie raubten vielerorts zurückgelassene Habseligkeiten. Armeeangehörige deutscher Herkunft durften nach einem Beschluss des Staatlichen Verteidigungskomitees ausschließlich in Bautruppen in Militärbezirken eingesetzt werden, die in Zentralrussland lagen. Insgesamt war die Repression der deutschen Minderheit, die offiziell erneut mit dem sicherheitspolitischen Ziel des Schutzes vor „Verrat“ „Spionage“ und „Diversion“ begründet wurde, deutlich härter als im Ersten Weltkrieg. Vor allem die Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen resultierte aus der radikalen stalinistischen Russifizierungspolitik und Terrorherrschaft.238 Die Zwangsumsiedlung von 1,2 Millionen Deutschen, Finnen und Griechen war letztlich auf das Konzept der „fließenden Völker“ zurückzuführen, die im Sowjetreich aufgehen sollten. Auch andere Minderheiten – Tschetschenen, Inguschen, Kalmücken und Krimtataren – wurden deportiert. Die (Russland-) Deutschen unterlagen damit keineswegs allein der Russifizierung und Repression. Auch waren sie nicht ausschließlich Opfer, sondern – so im Bürgerkrieg – auch handelnde Akteure.239

Schrittweise Rehabilitierung Der neue Partei- und Staatschef Nikita Chruschtschow überging den Umgang mit der deutschen Minderheit in seiner Geheimrede, in der er auf dem XX. Par237 Krieger, Bundesbürger, S. 49–55, 199; Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 314 f., 318; Fleischhauer, „Unternehmen Barbarossa“, S. 310. 238 Dahlmann, Deportationen, S. 103, 113, 110–112; Brandes, Die Deutschen in Russland, S. 130–134; Ther, Seite, S. 136 f.; Krieger, Bundesbürger, S. 69, 165; Pinkus / Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, S. 316. Angaben nach: Dönninghaus, Politik, S. 596; Ther, Seite, S. 136; Krieger, Kolonisten, S. 129, 136; ders., Bundesbürger, S. 203. 239 Dies wird vor allem in der älteren Literatur, in der die Opferperspektive eindeutig vorherrscht, weitgehend ignoriert. Vgl. z. B. Long, From Privileged to Dispossessed, S. 246.

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teitag der KPdSU am 25. Februar 1956 mit Stalins Terrorherrschaft – vor allem den Personenkult um den Diktator – abrechnete. Erst 1964 wurden die Deutschen teilweise rehabilitiert. Ab 1972 durften sie wieder in ihre früheren Siedlungen zurückkehren. Die Unterdrückung und Deportation der Minderheit, über deren Verschleppung bis in die achtziger Jahre nicht öffentlich gesprochen werden durfte, belastete von 1949 bis 1990/91 anhaltend das Verhältnis zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik. Dabei ist allerdings oft nicht beachtet worden, dass die Sowjetbürger deutscher Nationalität nicht nur Opfer des stalinistischen Terrors, sondern auch der deutschen Expansionspolitik geworden waren, die in dem Angriff auf die Sowjetunion gipfelte.240

6.5 Italien Grundlagen, Internierung und Lagertypen, September 1939 – Oktober 1943 Im Gegensatz zu den Nationalsozialisten etablierte die faschistische Führung Italiens vor 1939 kein Lagersystem. Allerdings wurden nach dem Überfall der italienischen Streitkräfte auf Abessinien ab Oktober 1935 Camps angelegt, um die rassistisch stigmatisierte einheimische Bevölkerung zu kontrollieren und vom Kampf abzuhalten. Dabei starben allein im Lager Danane 3.175 Insassen.241 In Italien selber wurden Oppositionelle im Allgemeinen an entlegene Orte – besonders in abgelegene Bergdörfer oder auf süditalienische Inseln wie Ponza – verbannt, wo sie bleiben mussten. Bereits seit 1863 hatten Regierungen (vor allem diejenigen Francesco Crispis von 1887 bis 1896) dazu das domicilio coatto genutzt. Es erlaubte der Polizei, Personen auf einem bestimmten Gebiet festzuhalten. Mit diesem Instrument wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wiederholt politische Opposition unterdrückt. Nachdem Mussolini 1925 seine faschistische Diktatur etabliert hatte, erließen die Machthaber im darauffolgenden Jahr die „Rechtsordnung für die Öffentliche Sicherheit“ (Testo Unico di Pubblica Sicurezza). Sie ersetzte das domicilio coatto durch die polizeiliche Verbannung (confino di polizia), die das Regime neben der Gefängnishaft gegen Oppositionelle verhängte. Bis zur Errichtung des ersten Konzentrationslagers in Pisticci 1939 wurden insgesamt 12.330 Personen verbannt. Zur Verhaftung nutz-

240 Vgl. Alfred Eisfeld / Victor Herdt, Einführung, in: dies. (Hg.), Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee: Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956, Köln 1996, S. 9–22, hier: S. 9 f., 14, 17 f.; Fleischhauer, „Unternehmen Barbarossa“, S. 301. 241 Osti Guerrazzi, Cultures of Total Annihilation?, S. 125.

6.5 Italien



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te die Polizeiführung unter ihrem Chef Arturo Bocchini (1880–1940) Verzeichnisse, die seit 1892 angelegt, aber seit 1925 auf der Grundlage des neuen Gesetzes Nr. 969 zur „Organisation der Nation“ erheblich erweitert worden waren.242 Über das confino di polizia hinausgehend, bereitete das Kriegsministerium seit 1930 die Internierung ausländischer Staatsangehöriger vor. Fremde sollten im Kriegsfall unverzüglich verhaftet und festgehalten werden. Im Rahmen der „Gesetze für Krieg und Neutralität“, die der italienische König Vittorio Emanuele III. am 8. Juli 1938 erließ, ermächtigte die Rechtsordnung Nr. 1415 in ihrem Artikel 284 das Innenministerium und die Präfekten, wehrfähige Angehörige gegnerischer Staaten zu internieren. Dies galt ebenfalls für Personen, welche die Sicherheit Italiens gefährdeten, beispielweise durch Spionage und Unterwanderung. Im Frieden durften nach dem Dekret auch politische Gegner und „asoziale“ Gruppen wie Sinti und Roma interniert werden. Allerdings fehlten Lager, in denen die Verhafteten untergebracht werden konnten. Die Eröffnung des Camps in der Gemeinde Pisticci (Materna) im Frühjahr 1939 war deshalb ein wichtiger Einschnitt. Es sollte der Erziehung von Regimegegnern zur Arbeit und zugleich der Landerschließung dienen. Die Bewachung der Insassen übernahmen Polizeikräfte und faschistische Milizionäre.243 Als der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 begann, ordnete das italienische Innenministerium an, 1.679 Ausländer auszuweisen sowie 296 Italiener und 2.431 Angehörige anderer Staaten dem confino zu unterwerfen. Weitere 458 Italiener sowie 1.451 andere Staatsangehörige sollten interniert werden. 1939/40 wurden aber zunächst nur Personen in Lager eingewiesen, welche die Polizeibehörden für gefährlich hielten. Dazu zählten nicht nur Feindstaatenangehörige, sondern auch Juden, die neutralen oder befreundeten Staaten angehörten oder in den letzten beiden Jahrzehnten in Italien eingebürgert worden waren. Im Frühjahr 1940 bereitete das Regime die Internierung von Feindstaatenangehörigen konkreter vor. Am 21. Mai erließ es ein Gesetz, das die „Organisation der Nation im Krieg“ in Kraft setzte. Nach einem Rundschreiben des Innenministeriums vom 1. Juni waren nach einem Eintritt Italiens in den Krieg alle eigenen Staatsangehörigen und Ausländer festzunehmen, die nach Auffassung der Sicherheitskräfte die öffentliche Ordnung gefährden konnten, sei es durch Spionage, Sabotage oder andere subversive Aktivitäten. Diese Anweisung erhielten

242 Amadeo Osti Guerrazzi / Constantino di Sante, Die Geschichte der Konzentrationslager im faschistischen Italien, in: Armin Nolzen / Sven Reichardt (Hg.), Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen 2005, S. 176–200, hier: S. 179 f. 243 Ebd., S. 180–182.

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am 8. Juni 1940 alle italienischen Präfekten und das Polizeipräsidium von Rom als Telegramm.244 Diese Personen wurden mit Italiens Kriegseintritt am 10. Juni 1940 festgenommen, offiziell zu ihrem „Schutz“. In seinem Dekret vom 4. September ordnete Mussolini darüber hinaus an, zivile Feindstaatenangehörige in Konzentrationslager einzuweisen oder in bestimmten Gemeinden festzuhalten. Im November 1940 waren insgesamt 5.500 Ausländer und Italiener interniert, davon über 3.000 in Lagern. Die anderen Betroffenen waren verbannt worden. Damit genossen sie zwar mehr Freiheiten als Internierte. Allerdings waren sie oft an entlegenen Orten Mittel- und Süditaliens isoliert, und auch ihr schwacher völkerrechtlicher Status erschwerte Hilfsleistungen durch humanitäre Organisationen. Ähnlich wie im Ersten Weltkrieg unterschied die italienische Regierung damit zwischen Internierung und Konfinierung. Ende 1940 belief sich die Zahl der festgesetzten Personen auf insgesamt 10.356; davon waren 3.000 bis 4.000 in Lagern interniert. Viele von ihnen wurden in bereits bestehenden Gebäuden eingerichtet. Dazu gehörte Casacalenda (in der Provinz Campobasso), wo ausländische Frauen untergebracht wurden. Hier litten am 2. Mai 1943 noch 25 weibliche Häftlinge, darunter 14 staatenlose Jüdinnen, drei andere Frauen ohne Staatsangehörigkeit sowie jeweils zwei Polinnen und Engländerinnen. Andere Lager wie Le Fraschette (in der Provinz Frosinone) waren neu gebaut worden. Ab 1941 brachten die faschistischen Besatzungsbehörden Juden und Slowenen auf der dalmatischen Insel Rab (Arbe) unter, um sie dem Zugriff der Deutschen und der kroatischen Ustascha-Faschisten zu entziehen, die im Konzentrationslager Jasenovac von 1941 bis 1945 mehr als 83.000 Insassen ermordeten. Aber auch auf Rab waren die Lebensbedingungen vor allem infolge der mangelhaften Unterbringung und der unzureichenden Versorgung mit Lebensmitteln so schlecht, dass 19 Prozent der internierten Slawen starben. Andere Lager waren nur locker bewacht. Nachdem am 8. September 1943 der Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten bekannt gegeben worden war, verließen die Wachmannschaften fluchtartig die Camps.245 244 Susanna Schrafstetter, Zwischen Skylla und Charybdis? Münchner Juden in Italien 1933 bis 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 66 (2018), S. 576–617, hier: S. 599; Guerrazzi / di Sante, Geschichte, S. 184 f., 195. 245 Cambray / Briggs, Red Cross, S. 368. Angaben nach: Lovro Kralj, The Evolution of Ustasha Mass Violence: Nation-Statism, Paramilitarism, Structure, and Agency in the Independent State of Croatia, 1941, in: Alonso / Kramer / Rodrigo (Hg.), Fascist Warfare, S. 241–268, hier: S. 260; Osti Guerrazzi / di Sante, Geschichte, S. 189, 191; Pitzer, Night, S. 235; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 216 f. Hierzu und zum Folgenden: James Walston, History and Memory of the Italian Concentration Camps, in: Historical Journal 40 (1997), S. 169–183, hier: S. 169–178. Vgl. auch Koessler, Internment, S. 125 f.; Schrafstetter, Skylla, S. 604.

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Die Gesetze für Krieg und zur Neutralität vom 8. Juli 1938 hatten eine humane Behandlung festgelegt und die Behörden verpflichtet, auf die individuelle Lage der Betreffenden Rücksicht zu nehmen. Zudem war zwischen dem faschistischen Regime und der britischen Regierung vor dem Kriegsbeginn eine Vereinbarung abgeschlossen worden, Listen mit Informationen zu den Internierten auszutauschen. Im Oktober 1940 wies das britische Innenministerium eindringlich auf die Gefahr von Repressalien hin, falls die Angaben zurückgehalten würden: The Italian Government have complied with the request of His Majesty’s Government and it is therefore important that His Majesty’s Government should reciprocate by furnishing to the Italian authorities the lists for which they have asked. Not to do so, apart from any other consideration, might reflect unfavourably on British subjects in Italy who are estimated by the United States Embassy in Rome to number thirteen hundred.

Insgesamt internierten die italienischen Faschisten zivile Angehörige westlicher Staaten nur zurückhaltend. So befanden sich im Oktober 1940 von rund 10.000 Ausländern, die nach den Gesetzen zu verhaften waren, lediglich 2.396 (d. h. weniger als ein Viertel) in Lagern. Weitere 1.855 waren an andere Orte verschleppt worden.246 Eine zweite Kategorie von Camps diente der Repression von Zivilisten, die als Partisanen und Saboteure bezichtigt wurden. Zugleich ist die Internierung dieser Gruppe auf den italienischen Rassismus gegenüber Schwarzen und Slawen zurückzuführen. Ihm verliehen die Rassengesetze, die das faschistische Regime im September 1938 erließ, kräftig Auftrieb. Schon zuvor hatten die italienischen Kolonisatoren Libyer und Äthiopier in Lager eingewiesen. Dieser Prozess erfasste allein in der Kyrenaika 90.000 bis 100.000 Bewohner, die verdächtigt wurden, sich der italienischen Kolonialherrschaft zu widersetzen. Im Zweiten Weltkrieg wurden ab Frühjahr 1941 auch Griechen, Kroaten, Slowenen, Albaner und Montenegriner interniert. Diese Gruppen nahm die italienische Armee vorrangig in ihrem Kampf gegen Partisanen oft pauschal fest, um den Widerstand gegen die Besatzer zu brechen. Dazu wurden außer wehrfähigen Männern auch Frauen und Kinder verschleppt, die in Lagern wie denjenigen in Gonars (nahe Triest) und auf der Insel Molat zunächst überaus schlechte Lebensbedingungen vorfanden. Im Lager auf Rab starben bis zu fünfzig Prozent der Insassen. Im April 1943 litten allein rund 43.000 Slowenen in Camps, darunter 5.444 Frauen und 2.380 Kinder. Insgesamt wurden von den italienischen Militär- und Zivilbehörden 40.000 bis 100.000 Südslawen (besonders Kroaten und Slowenen) als 246 NA, HO 215/452 (Brief vom 7. Oktober 1940). Angaben nach: Guerrazzi / di Sante, Geschichte, S. 199. Vgl. auch Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 215 f.

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Geiseln interniert. 4.000 Zivilisten starben infolge von Hunger, Krankheiten und Geiselerschießungen.247 Allerdings waren die Grenzen zu den 51 Konzentrationslagern, die bis Mitte 1943 zum Zweck der Unterdrückung eingerichtet wurden, fließend, wie das Camp Ferramonti in Kalabrien zeigt. Hier waren zunächst Gegner Mussolinis inhaftiert, bevor es im Zweiten Weltkrieg der Internierung von Juden diente, von denen insgesamt 400 (und damit eine deutlich über dem Bevölkerungsanteil liegende Zahl) interniert wurden. Von September 1940 bis August 1943 wuchs die Zahl der Lagerinsassen in Ferramonti von 700 auf mehr als 2.000. Auch Sinti, Roma, politische Oppositionelle und Personen, die gegen die „öffentliche Sicherheit“ verstoßen hatten, hielt das Regime in dem Camp fest. Das Leben war in allen Lagern durch Mangel und Monotonie gekennzeichnet, auch wenn sich die Bedingungen im Norden Italiens positiv von der akuten Not im Süden abhoben. Andererseits waren die 3.682 ausländischen und 141 italienischen Juden, die das Camp Ferramonti von 1940 bis 1943 durchliefen, zumindest vorübergehend vor der Auslieferung an das NS-Regime geschützt. Die Doppelfunktion kennzeichnete auch die Internierungspraxis im besetzten Jugoslawien, obwohl hier das Ziel vorherrschte, die Partisanen zu unterdrücken und die Zivilbevölkerung abzuschrecken. Insgesamt waren nach (späteren) offiziellen Angaben der jugoslawischen Regierung im Herbst 1942 im italienischen Besatzungsgebiet 89.488 und im Juli 1943 noch mehr als 50.000 Personen interniert. Auch in Griechenland sollte die Deportation von Zivilisten in Lager den Partisanen Unterstützung entziehen. Sie war aber auch Ausdruck des rassistischen Überlegenheitsgefühls der italienischen Besatzer, die „Slawen“ als minderwertig betrachteten.248

Deportation und Internierung, Oktober 1943 – Mai 1945 Nachdem Mussolini im September 1943 die „Italienische Sozialrepublik“ (Repubblica Sociale Italiana, RSI) gegründet, Italien am 13. Oktober 1943 Deutschland den Krieg erklärt und sich die Regierung unter dem neuen Ministerpräsidenten Pietro Badoglio den Alliierten angeschlossen hatten, deportierten die 247 Karlo Ruzicic-Kessler, Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941– 1943, Berlin 2017, S. 2; Osti Guerrazzi / di Sante, Geschichte, S. 189; Osti Guerrazzi, Cultures of Total Annihilation?, S. 125; Caglioti, Enemy Aliens, S. 140; Manz / Panayi / Stibbe, Internment, S. 14 f. 248 Pitzer, Night, S. 235; Schrafstetter, Skylla, S. 606. Angaben nach: Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 220; Guerrazzi / di Sante, Geschichte, S. 196; Schrafstetter, Skylla, S. 600; Walston, History, S. 173, 176.

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Deutschen Juden aus den noch von ihnen kontrollierten Gebieten der Apenninhalbinsel und den zuvor von Italien besetzen Gebieten, so der Dodekanes-Inselgruppe. Am 30. November 1943 ordnete der Innenminister der RSI, Guido Buffarini Guidi (1895–1945) an, alle Juden zu internieren. Nur Schwerstkranke und Alte (von über siebzig Jahren) waren ausgenommen. Von 1.022 Deportierten, die bei der ersten großen Razzia in Rom im Oktober erfasst worden waren, überlebten nur 17. In Fossoli (Provinz Modena) richteten die deutschen Besatzer ein großes Konzentrationslager ein, und über Durchgangslager in Südtirol und San Sabba (bei Triest) wurden Juden ab Januar 1944 in die Vernichtungslager in Ostmitteleuropa (besonders Auschwitz) deportiert. 1944 verschlechterten sich die Lebensbedingungen in den insgesamt 21 Lagern in Italien rapide. Alles in allem starben infolge der Verfolgung in Italien 322 Juden, von denen viele denunziert wurden. Die Deportationen erfassten 2.444 ausländische und 4.148 italienische Juden. Davon kehrten insgesamt 837 nach Italien zurück. Über 4.200 Juden war die Flucht in die Schweiz gelungen. Die Zahl der Sinti und Roma, die in die Lager Agnone (Provinz Isernia) und Tossica (Provinz Teramo) verschleppt wurden, übertraf offenbar nie 250.249 Die amerikanischen und britischen Militärbehörden brachten in den befreiten Gebieten Italiens u. a. ehemalige Gefangene in den Lagern unter. Dafür diente beispielsweise das Camp Ferramonti. Außerdem sammelten sie in Kooperation mit den Vorsitzenden der eingerichteten italienischen Tribunale Faschisten, die der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland bezichtigt wurden. Auch für die Verwahrung der verbliebenen überzeugten Anhänger Mussolinis wurden Internierungslager genutzt, die das faschistische Regime errichtet hatte, oder neue Camps gebaut. Die gefangenen Beschuldigten galten als „threat to security“.250 Dies galt besonders für Personen, die beschuldigt wurden, Gegner der Diktatur Mussolinis verfolgt oder denunziert zu haben. Internierte, die als besonders gefährlich galten, durften keine Besucher empfangen und sollten nur nach einer strengen Überprüfung freigelassen werden. Noch 1944/45 wurden vor allem in Norditalien in einzelnen Lagern jeweils rund 2.000 Zivilisten festgehalten, darunter viele Deutsche und Frauen. Die Insassen klagten besonders über unzureichende Heizung und Versorgungsmängel, besonders bei speziellen Arzneimitteln, Makkaroni und Gemüse. Andererseits verwiesen Kommandanten auf eine unzureichende Ausstattung mit Wachpersonal, so dass Fluchten ein249 Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 221 f.; Schrafstetter, Skylla, S. 613 f.; Guerrazzi / di Sante, Geschichte, S. 199 f. 250 Brief des Alliierten Hauptquartiers an den Kommandanten des Internierugslagers „A“ vom 24. Februar 1945, in: NA, WO 204/12707. Vgl. auch Longerich, Hitler, S. 924 f.

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zelner Internierter nicht verhindert worden waren. Ausdrücklich betonten sie Sicherheitsgefahren, um ein striktes Reglement in den Lagern zu rechtfertigen.251 Die amerikanischen und britischen Militärbehörden nutzten die Internierungslager auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weiter, um Faschisten und Attentäter, die Gegner Mussolinis getötet hatten, zu identifizieren und zu bestrafen. Damit vollendete sich ein Funktionswandel, der 1943 eingesetzt hatte. Die Internierung diente nunmehr der Beseitigung des Faschismus und dem demokratischen Neuaufbau, den allerdings die schlechten Lebensbedingungen in den Camps – wie demjenigen in Terni (Umbrien) – zu diskreditieren drohten. Die Verhöre wurden deshalb beschleunigt fortgesetzt, um besonders Frauen und Kinder freilassen zu können. Das IKRK drängte die USA und das Vereinigte Königreich 1946/47 auch, junge und alle Männer freizugeben.252

6.6 Vereinigte Staaten von Amerika Folgen der Unterdrückung von Feindstaatenangehörigen im Ersten Weltkrieg: Fremdenfeindlichkeit, Antikommunismus und Rassenpolitik in den 1920er und 1930er Jahren Im Ersten Weltkrieg war das Zusammenleben von Amerikanern und deutschen Einwanderern weitgehend zusammengebrochen. Die Repression – vor allem die Internierung – hatten Vorstellungen „innerer Feinde“ erheblich gestärkt und den Assimilationsdruck so massiv erhöht, dass viele Deutsche bei der Volkszählung von 1920 ihre Abstammung verschwiegen. Der Verdacht nationaler Illoyalität begründete auch in den folgenden Jahren Forderungen nach Überwachung, die sich schon unmittelbar nach der russischen Oktoberrevolution auch gegen Kommunisten richtete. In einem Einwanderungsgesetz vom Februar 1918 war die Abwehr von Fremden fortgeschrieben worden, die dieser Immigration Act mit Anarchismus, Verbrechen und Unterwanderung assoziiert hatte. 1919 begründeten Unruhen am Maifeiertag erneut Rufe nach einem one hundred percent Americanism. Zugleich steigerte die Bildung der Kommunistischen Partei die Furcht vor einem Umsturz. Im Zuge seiner Kampagne ließ Palmer allein im Winter 1919/20 rund 10.000 angebliche Anarchisten verhaften. 500 von ihnen wurden ausgebürgert, überwiegend in die Sowjetunion. Dabei berief sich der 251 NA, WO 204/12707 (Schreiben vom 11. und 20. Oktober 1944, 27. November 1944 und vom 5. Februar sowie 14. März 1945). Vgl. auch Guerrazzi / di Sante, Geschichte, S. 199. 252 NA, WO 204/12709 (Brief vom 9. Februar 1946).

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Justizminister auf den Espionage Act und den Sedition Act, die 1917/18 erlassen worden waren. Die Palmer Raids gingen einher mit einer neuen Welle gewalttätiger Übergriffe gegen Schwarze, auch in den Nordstaaten. Von 1918 bis 1922 wurden in den USA mindestens 28 Personen öffentlich verbrannt. Alles in allem war der Red Scare und die damit einhergehende Repression in den USA weitaus intensiver als in anderen demokratischen Ländern wie Großbritannien, obwohl der Gewerkschaftsdachverband American Federation of Labor die Oktoberrevolution der Bolschewiki in den frühen 1920er Jahren deutlich entschiedener ablehnte als der TUC im Vereinigten Königreich. Dagegen warnte der konkurrierende Congress of Industrial Organizations vor dem undifferenzierten Antikommunismus, der sich sowohl gegen die Sowjetunion als auch gegen amerikanische Sympathisanten richtete.253 Der gewalttätige nativism, dem die Agitation gegen Deutsche in den vorangegangenen Jahren kräftig Auftrieb verliehen hatte, spiegelte die wachsende Unsicherheit wider, als die Hochkonjunktur 1920 in eine Rezession überging. Die Krise verlieh dem Ku-Klux-Klan Auftrieb und mündete 1921 in ein neues Einwanderungsgesetz, das die Immigration in die USA auf jährlich 350.000 Personen begrenzte. Nach dem 1924 verabschiedeten National Origins Act (JohnsonReed Act), der ein Quotensystem für die Einwanderung einführte und erst 1965 ersetzt wurde, durften sogar nur noch 150.000 Immigranten pro Jahr aufgenommen werden. Diese Obergrenze entsprach weniger als 15 Prozent der Einwanderer, die vor dem Ersten Weltkrieg zugelassen worden waren. Beide Gesetze führten zu einem Ausbau der Grenzsicherung und kriminalisierten Immigranten, die sich illegal in den Vereinigten Staaten aufhielten. Diese Gruppe galt als Sicherheitsrisiko und wurde deshalb ausgewiesen. Die Zahl der davon betroffenen Immigranten stieg von 2.762 im Jahr 1920 auf 9.495 1925 und 38.795 fünf Jahre später. Zudem differenzierten die Gesetze zwischen erwünschten und abgelehnten Einwanderern. So waren Juden, Slawen und Italiener unerwünscht. Aber auch Deutsche wurden – abgesehen von benötigten Gruppen wie technischen Spezialisten – nicht mehr in den USA aufgenommen. Offener Rassismus richtete sich besonders gegen Mexikaner. Asiaten war die Immigration sogar grundsätzlich untersagt. Dagegen wurden „nordländische“ Europäer und Kana253 Churchwell, America, S. 92, 116 f.; Nagler, Antikommunismus, S. 210–213. Vgl. auch Anne Schenderlein, German Jewish „Enemy Aliens“ in the United States during the Second World War, in: Bulletin of the German Historical Institute 60 (2017), S. 101–116; Jennifer Luff, Labor Anticommunism in the United States of American and the United Kingdom, 1920–49, in: Journal of Contemporary History 53 (2018), S. 109–133, hier: S. 118 f.; dies., Operations, S. 737; Ellis / Panayi, German Minorities, S. 241 f.; Blaschke, ‚Deutsch-Amerika‘, S. 179; Stibbe, Enemy Aliens and Internment; Welskopp, Ernüchterung, S. 49. Angaben nach: Ngai, Career, S. 74; Kusber, Furcht, S. 38.

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dier zugelassen. Insgesamt sollte die Einschränkung der Immigration die Vorherrschaft der weißen, protestantischen Mehrheit in den USA sichern. Nicht zufällig verbreiteten sich in der Mitte der 1920er Jahre eugenische Konzepte einer Auslese, die eine gezielte Steuerung der Reproduktion durch Ausmerze und Förderung positiver Erbanlagen vorsahen. Mit Albert Johnson (1869–1957) wirkte ein Kongressabgeordneter am Johnson-Reed Act mit, der die Eugenics Research Association leitete und dem Ku-Klux-Klan nahestand. Diese Organisation verfügte in der Mitte der 1920er Jahre über drei bis sechs Millionen Mitglieder und sorgte für die Wahl fremdenfeindlicher und rassistischer Gouverneure, Senatoren und Kongressabgeordneter.254 Zwar hatte das Justizministerium im Februar 1919 die Freiwilligen der American Protective League entlassen. Die Fremdenfeindlichkeit erleichterte jedoch ab 1918 die Überwachung und Repression von Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, Arbeiterführer und Bürgerrechtler. Diese Gruppen wurden schon in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Ziele einer emotional gefärbten Propagandakampagne, in der Sicherheitsargumente Kontrollen und Repressionen rechtfertigen sollten. Unter dem Banner der national security verfolgten die gesellschaftlichen Aktivisten auch dabei handfeste Eigeninteressen. So wandten sich Unternehmer gegen eine kollektive Interessenvertretung durch Gewerkschaften und deren Forderungen nach höheren Löhnen und verkürzten Arbeitszeiten. Angehörige der politischen Eliten wie Palmer, der von 1919 bis 1921 mit fremdenfeindlichen Aufrufen hervortrat, bemühten sich, mit der Agitation gegen Kommunisten, Anarchisten, Sozialisten und darüber hinaus alle „Fremden“ eine politische Integration herbeizuführen und die Opposition zu diskreditieren. Auch die Military Intelligence Division entging mit der Konstruktion neuer „Feinde“ in den frühen 1920er Jahren der Auflösung. Im Kampf gegen den Kommunismus konnte die MID sogar Freiwilligenverbände wie die American Legion in Dienst nehmen. Ab 1921 führte die Abteilung G-2 im Kriegsministerium die paramilitärischen Aktivitäten fort. Damit hatte die Furcht vor Sozialisten und Kommunisten den „nationalen Sicherheitsstaat“, der im Ersten Weltkrieg erweitert worden war, noch gestärkt.255 Zu der Angst vor dem Kommunismus, die erst Mitte der 1920er Jahre wich, hatten im April 1919 spektakuläre Anschläge auf hochrangige Repräsentanten des amerikanischen Staates beigetragen. Die Angriffe knüpften an vorangegan254 Ngai, Career, S. 70–72, 75, 77 (Angaben), 80, 102; Schenderlein, „Enemy Aliens“, S. 101– 116; Churchwell, America, S. 154–158, 288. 255 Richard Bach Jensen, The Battle against Anarchist Terrorism. An International History, 1878–1934, Cambridge 2014, S. 185, 359 f.; Jensen, Army Surveillance, S. 178–202; Greiner, Made in U. S. A., S. 138–140, 145, 152 f.; Deflem, Policing World Society, S. 118 f., 121; Nagler, Antikommunismus, S. 216 f.

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gene Attacken der Anarchisten an, die sich nach 1900 von Europa auch auf die USA ausgeweitet hatten. Justizminister Palmer ernannte im BOI J. Edgar Hoover (1895–1972) zum Leiter der neuen General Intelligence Division und beauftragte ihn mit dem Kampf gegen „Radikale“ und „subversive“ Aktivitäten. Daraufhin reaktivierte der junge Mitarbeiter die APL, deren Angehörige Informationen sammeln und „feindliche“ Gruppen infiltrieren sollten. Auf der Grundlage einer Liste, die das Bureau of Investigation vorbereitet hatte, wurden allein Anfang Januar 1920 rund 60.000 im Ausland geborene „Radikale“ überprüft. Gegen diese Gruppe ließ Palmer 6.000 Haftbefehle ausstellen, um damit – so die Begründung – die „nationale Sicherheit“ gegenüber dem Kommunismus zu gewährleisten. Weitere Verhaftungen, die besonders nach der aufsehenerregenden Bombenexplosion in der Wall Street am 16. September 1920 (mit 38 Toten) erfolgten, führten oft zur Ausweisung der Betroffenen nach dem 1918 vom Kongress verabschiedeten Aliens Act. Die Krisenrhetorik und die gezielt geschürte Angst mündeten – wie schon während des Ersten Weltkrieges – in weit gespannte Sicherheitsversprechen, die nicht erfüllbare Erwartungen weckten. Die weiterhin bestehenden Ungewissheiten verliehen sogar neuen Befürchtungen erst Nahrung.256 Auch in den USA blieb der Ausnahmezustand, mit dem die Diskriminierung von Feindstaatenangehörigen untrennbar verbunden war, keineswegs auf den Ersten Weltkrieg begrenzt. Vielmehr stärkte er letztlich auch darüber hinaus die Macht des Präsidenten und der Zentralregierung. Damit waren die Gewaltenteilung und das föderale Prinzip in der amerikanischen Verfassung vorerst relativiert worden. Ebenso brach 1918 die fremdenfeindlich gesellschaftliche Mobilisierung keineswegs ab, wie die Aktivitäten des im November 1919 gegründeten Veteranenverbandes American Legion gegen „Subversion“ und für die „nationale Sicherheit“ demonstrierten. Die amtliche Überwachung griff sogar Praktiken auf, die auf den Philippinen erprobt worden waren und nun in den USA von den Polizeibehörden genutzt wurden. Jedoch durchbrachen in den 1920er Jahren gegenläufige Entwicklungen die Eskalationsspirale in der amerikanischen Innenpolitik. So löste die Sicherheitsparanoia auch Opposition aus, die sich in der Gründung der American Civil Liberties Union (ACLU) 1920 niederschlug.257 Dieser Verband widersetzte sich der Fremdenfeindlichkeit ebenso wie der antikommunistischen und fremdenfeindlichen Agitation. Zusammen mit ande256 Arnold Krammer, Die internierten Deutschen. Feindliche Ausländer in den USA, 1941– 1947, Tübingen 1999, S. 8, 23; Tedsuden Kashima, Judgment without Trial. Japanese American Imprisonment during World War II, Seattle 2003, S. 17 f. 257 Diese gegenläufige Tendenz wird nur angedeutet in: Greiner, Made in U. S. A., S. 154; Preston, Monsters, S. 486. Demgegenüber: Keene, A ‚Brutalizing‘ War?, S. 89–99. Zur American Legion: Greiner, Angstunternehmer, S. 30 f. Zur ACLU: Nagler, Antikommunismus, S. 207.

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ren Organisationen konnte die ACLU 1920 eine Verlängerung des Sedition Act verhindern. Der stellvertretende Direktor der Organisation, Albert DeSilver (1888–1924), kritisierte, dass das BOI und die MID Zivilisten ausspionierten. Überdies setzte die American Civil Liberties Union 1924 eine Untersuchung des Kongresses durch. Daraufhin wurden zahlreiche Fälle von Machtmissbrauch (so die Bespitzelung von Politikern) aufgedeckt. Präsident Calvin Coolidge (1872– 1933) ernannte J. Edgar Hoover 1924 zum neuen Direktor des Bureau of Investigation, das umfassend reformiert wurde. Zudem blockierte der Kongress in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Überwachung von Kommunisten und Faschisten durch die Bundespolizei. Hoover ließ aber die ACLU kontrollieren, weil er die Loyalität der Organisation gegenüber den USA bezweifelte. Zudem wurden starke lokale Polizeieinheiten eingesetzt, vor allem gegen Proteste der Afroamerikaner in den Südstaaten, aber auch gegen Demonstrationen von Veteranen der US-Armee wie den Bonus March 1931. Nicht zuletzt betrachteten die Sicherheitsbehörden deutsche und japanische Einwanderer als Risiko. Alles in allem schwächte die amerikanische Regierung jedoch in der Zwischenkriegszeit die Polizei- und Geheimdienstapparate, auch weil sich die Furcht vor einer kommunistischen Machtübernahme schon in den zwanziger Jahren als unbegründet erwiesen hatte. Vielmehr waren vor allem die Gewerkschaften und konservative Nationalisten wie der einflussreiche Verleger William Randolph Hearst (1863–1951) feste Bastionen des amerikanischen Antikommunismus.258 Überwachungsmaßnahmen, die sich auch in den 1930er Jahren vorrangig gegen Kommunisten richteten, waren oft offenkundig und wurden überwiegend breit diskutiert. Damit hob sich die US-Sicherheitspolitik deutlich von der nur wenig eingeschränkten staatlichen Repressionspolitik in Großbritannien ab, wo der MI5 und der Special Branch weitestgehend geheim und ohne öffentliche Kontrolle operierte. Als in den USA in der Mitte der 1930er Jahre der Verdacht, dass NS-Spione das Land infiltrierten, ebenso wuchs wie die Furcht vor einem Krieg, wurde die innere Sicherheit zusehends auch auf die Gefahr einer Unterwanderung durch Faschisten und Nationalsozialisten bezogen. So bildete der Kongressabgeordnete Sam Dickstein (1885–1954), der Hoovers stetige Warnungen vor „inneren Feinden“ bekräftigte, 1934 einen Sonderausschuss zur Untersuchung der NS-Propaganda in den USA. Vier Jahre später zog das neu gegründete House Un-American Activities Committee, das der Abgeordnete Martin Dies (1901–1972) bildete, wichtige Sicherheitskompetenzen an sich. Andere Überwachungsmaßnahmen blieben aber geheim. So konnte das FBI bis 1938 Listen mit 258 Hierzu und zum Folgenden: Luff, Operations, S. 737–742; Jensen, Army Surveillance, S. 184, 200, 203–207, 211–217, 229; Nagler, Antikommunismus, S. 214; Kashima, Judgment, S. 15.

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insgesamt 2.500 Personen anlegen, die er kommunistischer und faschistischer Aktivitäten oder der Spionage für andere Staaten verdächtigte. Zudem verstärkte sich die Kooperation des Federal Bureau mit dem MI5, vor allem dessen Agentenführer Guy Liddell und dem Ersten Sekretär der US-Botschaft in London, Herschel Johnson (1894–1966).259 Jedoch ging aus dem Ersten Weltkrieg andererseits auch eine Tradition friedlichen Protestes hervor, welche die Forderung nach einem wirtschaftlichen Ausgleich für benachteiligte Gruppen stärkte und letztlich dem New Deal des neuen Präsidenten Franklin D. Roosevelt wichtige Unterstützung verlieh. Er ließ sich 1933 außerordentliche Vollmachte vom Kongress übertragen, so dass Politikwissenschaftler wie Karl Loewenstein (1891–1973) und Clinton Rossiter schon in den späten dreißiger Jahren bzw. kurz nach dem Tod des Präsidenten (12. April 1945) eine „militant“, „authoritarian“ und „disciplined democracy“ bzw. eine „constitutional dictatorship“ diskutierten.260 So hatte Roosevelt bereits im März 1933 auch den 1917 verabschiedeten Trading with the Enemy Act verschärft. Er verbot es Amerikanern nicht nur im Krieg, sondern auch in einem gleichzeitig erklärten Notstand, Gold zu horten und Transaktionen in ausländischer Währung zu vollziehen. Im darauffolgenden Jahr ordnete Roosevelt zudem an, die amerikanischen Anhänger des Nationalsozialismus zu überwachen, die sich dennoch 1936 zum German American Bund („Amerikadeutscher Volksbund“) zusammenschlossen. Der Organisation gehörten auch einzelne frühere Alldeutsche wie Ernst Goerner an. Allerdings blieb das FBI bis zu den späten 1930er Jahren schwach, da es nach 1918 exekutive Kompetenzen eingebüßt hatte. So misstraute die britische Regierung, die im Ersten Weltkrieg eine Geheimdienststelle in New York eingerichtet hatte, bis 1939 dem relativ ineffizienten amerikanischen Sicherheitsapparat. Der MI5 arbeitete deshalb in dieser Phase kaum mit dem FBI zusammen.261

Sicherheitspolitik und Verhaftungen von Feindstaatenausländern 1939 – 1941 Erst unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg griff die US-Administration erneut zu Maßnahmen, mit denen die „nationale Sicherheit“ gewährleistet werden 259 West (Hg.), Guy Liddell Diaries, S. 2; Krammer, Die internierten Deutschen, S. 8 f.; Pistol, Internment, S. 26; Nagler, Antikommunismus, S. 214. Angabe nach: Kashima, Judgment, S. 21. 260 Rossiter, Dictatorship, S. 255–264. Andere Akzentuierung in: Karl Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights, in: American Political Science Review 31 (1937), S. 638– 658, bes. S. 640, 643, 657. 261 Deflem, Policing World Society, S. 197; Bierkoch, Alldeutsche, S. 235; Luff, Operations, S. 737, 752; Kashima, Judgment, S. 19.

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sollte. Roosevelt und das Federal Bureau of Investigation sahen die Sekurität Amerikas in einem künftigen Konflikt gefährdet. Am 5. Mai 1939 billigte der Kongress eine Gesetzesvorlage des Abgeordneten Sam Hobbs (1887–1952), die den Behörden eine Festnahme verdächtiger Ausländer erlaubte. Das Arbeitsministerium (Department of Labor) sollte diese Personen in Internierungslager einweisen, die Gegner des Gesetzes aber als „unamerikanisch“ bezeichneten. Bis 1941 beschwor Roosevelt in zahlreichen Reden die „nationale Sicherheit“, so in einer Rede vor dem Kongress am 16. Mai 1940, in der er zur Kriegsbereitschaft aufrief. Dazu entwickelte er eine weit gespannte Doktrin, die den Amerikanern Schutz vor inneren und äußeren „Feinden“ zusagte. Roosevelts umfassendes Verständnis der home defense stützte sich auf geostrategische und außenpolitische Konzeptionen, die Wissenschaftler wie Albert K. Weinberg (Johns Hopkins University) und Edward Mead Earle (Institute for Advanced Study in Princeton) in den 1930er Jahren ausgearbeitet hatten. Wegen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939 galten besonders Angehörige „totalitärer“ Staaten als potentielle Gegner. Gegen sie war das Emergency Detention Program gerichtet, das Roosevelt am 9. September 1939 anordnete. Nach diesem Notstandsprogramm waren Personen zu verhaften, die im Falle eines Krieges, einer Invasion und eines Aufstandes die innere Sicherheit der USA gefährden konnten. Ansonsten aber hielt sich der Präsident mit konkreten Initiativen und Maßnahmen zur Heimatverteidigung zurück, auch um seine Wiederwahl Ende 1940 nicht zu gefährden. Er nahm nicht nur Rücksicht auf die Gegner einer USIntervention in den Krieg in Europa, sondern auch auf die liberalen Anhänger einer Reformpolitik, die auf soziale und humanitäre Sicherheit im Innern setzten und eine Fixierung auf militärische Verteidigung gegen äußere Gefahren ablehnten.262 Mit dem Beginn des Krieges gegen Deutschland und Italien setzte die Regierung der Vereinigten Staaten 1939/40 zunächst vor allem deutsche Seeleute fest, die im Frühjahr 1941 in das Lager Fort Lincoln (bei Bismarck in North Dakota) gebracht wurden. Da Italien im Mai 1939 mit dem „Dritten Reich“ den „Stahlpakt“ abgeschlossen hatte, verweigerte die amerikanische Regierung auch italienischen Schiffen und ihren Besatzungen die Ausreise. Die Matrosen wurden in das Lager Fort Missoula (Montana) verschleppt. Hier durften sie aber Kontakte zu den amerikanischen Bewohnern der umliegenden Dörfer aufnehmen. Das Justizministerium bezichtigte die verhafteten Seeleute der bewussten Beschädigung ihrer Schiffe (und damit der Sabotage). Der Immigration and Na262 Matthew Dallek, Defenseless Under the Night. The Roosevelt Years, Civil Defense, and the Origins of Homeland Security, Oxford 2016, S. 69, 73, 259, 263; Preston, Monsters, S. 492–497; Krammer, Die internierten Deutschen, S. 17 f.

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turalization Service (INS), der 1933 im Arbeitsministerium gegründet worden war und seit 1940 beim Justizministerium ressortierte, beschuldigte die Feindstaatenangehörigen außerdem, die erlaubte Aufenthaltsdauer von sechzig Tagen überschritten zu haben. Dieser Verstoß war aber erst der angeordneten Festnahme geschuldet.263 Zudem hatte Roosevelt das FBI bereits am 6. September (drei Tage nach der Kriegserklärung Großbritanniens und Deutschlands an das „Dritte Reich“) mit allen polizeilichen Untersuchungen zu Verletzungen der Neutralitätsgesetze, Spionage und Sabotage beauftragt. Der Direktor der Bundespolizei, J. Edgar Hoover, der selber mit Nationalsozialisten Kontakte unterhalten hatte, vermutete vor allem unter den Deutschen eine „fünfte Kolonne“ von Verrätern. Er ordnete an, die Minderheit zu kontrollieren, und nutzte zur Überwachung dieser Gruppe seit 1940 eine geheime Kartei, den Custodial Detention Index, in dem alle Personen verzeichnet waren, die bei Kriegsausbruch kontrolliert oder interniert werden sollten. Eine ähnliche Liste hatte die Special Defense Unit des Justizministeriums angelegt.264 Der Verdacht richtete sich nicht nur gegen einzelne Deutsche und Verbände, die – wie der German American Bund und die Friends of the New Germany (Freunde des Neuen Deutschland) – in den USA offen nationalsozialistische Propaganda verbreiteten, sondern auch gegen Organisationen wie die Association of German Nationals und die German-American Vocational League (Deutsch-Amerikanische Berufsgemeinschaft). Verbände, die für das NS-Regime eintraten, und rassistische Organisationen wie der Ku-Klux-Klan wandten sich vor allem gegen jüdische Einwanderer, die aus dem „Dritten Reich“ in die USA geflohen waren und auch von der Regierung argwöhnisch beobachtet wurden. Besonders der Bund, der über rund 10.000 Mitglieder verfügte, erregte mit z. T. spektakulären Veranstaltungen wie einer Massenversammlung im New Yorker Madison Square Garden am 20. Februar 1939 erhebliches Aufsehen. Der Chef der Organisation, Fritz Kuhn (1896–1951), traf 1939 sogar Hitler in Berlin. Auch das America First Committee, dem sich der populäre Flieger Charles Lindbergh (1902–1974) anschloss, forderte, an der isolationistischen Außenpolitik der USA festzuhalten. Dabei berief sich die Organisation ebenso wie die offenen Anhän263 Carol Van Valkenburg, Axis Nation ‚Detainees‘ and Japanese Enemy Aliens in the West during World War II, in: Montana: The Magazine of Western History 61 (2011), Nr. 1, S. 20–39, hier: S. 22 f., 27. Zum INS auch: Ngai, Career, S. 102. 264 John Christgau, „Enemies“. World War II Alien Internment, Ames 1985, S. 7–10; Olaf Stieglitz, Bilder der Rosenbergs. Die Visualisierung von Verrat in den USA im frühen Kalten Krieg, in: Krischer (Hg.), Verräter, S. 315–330, hier: S. 323; Culley, Enemy Alien Control, S. 139; Kashima, Judgment, S. 21 f.; Krammer, Die internierten Deutschen, S. 19 f.; Pistol, Internment, S. 26.

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ger Hitlers und Mussolinis auf einen amerikanischen Exzeptionalismus, der sich gegen Flüchtlinge richtete. Daneben stufte das US-Justizministerium japanische Verbände wie die „Gesellschaft des Schwarzen Adlers“ und die „Vaterlandgesellschaft“ (Sokoku Kai) als Sicherheitsgefahren ein. Gegenüber den fremdenfeindlichen Vereinigungen waren Organisationen wie das Coordinating Committee for Aid to Refugees und das American Friends Committee der Quäker in der Defensive und betonten den Flüchtlingsstatus der Immigranten, deren deutsch-jüdische Identität sie allenfalls beiläufig erwähnten.265 Insgesamt blieb die Heimatverteidigung der USA aber bis zum Sommer 1940 schwach und ineffizient. Sie litt vor allem unter fehlender Koordination, da sich Roosevelt weigerte, die politische Führung zu übernehmen und zentrale Direktiven herauszugeben. Enttäuscht von der Passivität des Weißen Hauses, bereiteten der Bürgermeister von New York, Fiorello La Guardia (1882–1947), und andere Stadtoberhäupter konkrete Maßnahmen zum Schutz der urbanen Zentren vor, so die Räumung der oberen zehn Stockwerke von Hochhäusern bei Luftangriffen. Der schnelle Sieg der Wehrmacht über Frankreich steigerte in den USA die Sicherheitsängste, und der Druck auf Roosevelts Administration wuchs. Die unerwartete Niederlage des westeuropäischen Landes schien auf Verrat „innerer Feinde“ hinzudeuten. Die Furcht vor einer „fünften Kolonne“ und Invasionsängste verbreiteten sich in höchsten Regierungskreisen. So warnte der Koordinator der Wirtschafts- und Kulturbeziehungen zwischen den amerikanischen Staaten, Nelson Rockefeller (1908–1979), vor dem deutschen Einfluss in Peru. Präsident Roosevelt verlieh im Juni 1940 dem Misstrauen gegen deutsche – vor allem jüdische – Flüchtlinge neue Nahrung, indem er im Rahmen einer Pressekonferenz erklärte: „…the refugee has got to be checked because unfortunately, among the refugees there are some spies, as has been found on other countries. And not all of them are voluntary spies – it is rather a horrible story but in some of the other countries that refugees out of Germany have gone to, especially Jewish refugees, they have found a number of definitely proven spies.“ Im Sommer 1940 berichtete auch die New York Times über nationalsozialistische Spione in den USA, und renommierte Journalisten wie Walter Lippmann (1889–1974) warnten vor einem Angriff auf den amerikanischen Kontinent. Propagandafilme – so Confessions of a Nazi Spy (1939) – schürten den Hass auf Deutschland, der auch auf die Ausschreitungen gegen enemy aliens am Ende des Ersten Weltkrieges zurückgriff. Im Juni erreichten Roosevelt Berichte über spontane Ausschreitungen von US-Bürgern gegen Deutsche, und in 265 Schenderlein, „Enemy Aliens“, S. 103 f., 107; Churchwell, America, S. 229, 232, 237, 251 f., 275–280; Kashima, Judgment, S. 30–32. Angabe nach: Krammer, Die internierten Deutschen, S. 12.

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einer Meinungsumfrage des Gallup-Institutes traten 95 Prozent der befragten US-Amerikaner für die Registrierung ausländischer Staatsangehöriger ein. Im August hielten 42 Prozent der Bevölkerung die Vereinigten Staaten im Falle eines deutschen Sieges über Großbritannien für höchst gefährdet.266 Auch unter dem Druck La Guardias und anderer Demokraten, die auf eine intensivere Kriegsvorbereitung drängten, zeigte sich Roosevelt zunehmend bereit, schrittweise zu einer zentralen Koordination der Zivilverteidigung überzugehen. Nach dem am 27. Juni 1940 verabschiedeten Alien Registration Act (Smith Act) mussten sich alle Personen, die in anderen Staaten geboren worden waren und (noch) nicht die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben hatten, beim nächstgelegenen Postamt melden. Hier wurden sie verzeichnet, fotografiert und ihre Fingerabdrücke abgenommen. Insgesamt meldeten sich 314.104 Deutsche und mehr als 690.000 Italiener, von denen viele erst im späten und frühen 20. Jahrhundert (vor dem Einwanderungsgesetz von 1924) in die USA gekommen waren. Auch lebten im Sommer 1940 fast 240.000 Japaner und aus Japan Stammende in den USA, davon rund 113.000 an der Westküste. 77.000 waren amerikanische Staatsbürger. Ergänzend erfassten Fragebögen bis Ende Dezember 1940 Daten zu fast fünf Millionen Ausländern, die jeweils mit Fingerabdruck auf Lochkarten verzeichnet waren. Außerdem konnten alle Mitglieder von Organisationen bestraft werden, die versuchten, die amerikanische Regierung zu stürzen. Gerichte verurteilten auf dieser Grundlage vor allem Trotzkisten, die in der Gewerkschaft der Lkw-Fahrer organisiert waren. Schon im März 1941 beschlagnahmte der INS aber auch 65 deutsche, italienische und dänische Schiffe. Außerdem einigten sich das Kriegs- und Justizministerium, in einem bewaffneten Konflikt Sperrzonen einzurichten, die Ausländer nicht betreten durften. Das Justice Department sollte verdächtige Personen durch das FBI verhaften und Kommissionen einrichten, welche die festgenommenen Personen anzuhören hatten. Da ihm auch der Immigration and Naturalization Service (INS) unterstand, kontrollierte das Ministerium darüber hinaus die Immigration und Einbürgerung. Damit hatte es 1940/41 eine Schlüsselstellung in der Politik gegenüber Ausländern gewonnen.267 266 Zitat: Richard Breitman / Alan M. Kraut, American Refugee Policy and European Jewry, 1933–1945, Bloomington 1987, S. 212 f. Vgl. auch Dallek, Defenseles Unter the Night, S. 71, 79; Krammer, Die internierten Deutschen, S. 14–18, 37 (Angabe). 267 Hierzu und zum Folgenden: Rose D. Scherini, When Italian Americans Were ‚Enemy Aliens‘, in: Iacovetta / Perin / Principe (Hg.), Enemies Within, S. 280–303, hier: S. 280 f.; Culley, Enemy Alien Control, S. 139, 151; Schenderlein, „Enemy Aliens“, S. 108; Krammer, Process, S. 23, 37, 45 f.; Dallek, Defenseles Unter the Night, S. 82; Luff, Operations, S. 752; Christgau, „Enemies“, S. 10 f., 14 f., 35; Van Valkenburg, ‚Detainees‘, S. 29. Angaben nach: Krammer, S. 89; Kashima, Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 432; Judgment, S. 22, 24, 27–38; Arnold C.

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Dazu war in dem Ministerium schon im Mai 1940 eine gesonderte Abteilung, die Special Defense Unit, eingerichtet worden, das einzelne Organisationen und Personen untersuchte und in drei Gefahrengruppen („A“ bis „C“) eingruppierte. Dem Kriegsministerium wurde die Verantwortung für die Internierten (mit Ausnahme von Frauen und Kindern) übertragen. Auch war es für die Verhaftung und Internierung von Feindstaatenangehörigen in Alaska, in der Zone um den Panama-Kanal, auf Hawaii, den Philippinen und in Puerto Rico zuständig. In den USA aufgegriffene Feindstaatenausländer galten rechtlich als illegale Einwanderer. Diese enemy aliens waren als Kriegsgefangene zu behandeln. Damit konnten verfassungsrechtliche Bestimmungen außer Kraft gesetzt werden, die in den Vereinigten Staaten auch Ausländer schützten. Die Zahl der Personen, die nach einem Kriegsbeginn festzusetzen waren, hatte das FBI schon im Juli 1940 mit mindestens 18.500 veranschlagt. Ein Jahr später wurden geeignete Gebäude und Anlagen zu Lagern umgebaut. Bei der Vorbereitung der Internierung war auch das Marineministerium beteiligt, vor allem dessen Office of Naval Intelligence, das ebenso wie das Justizministerium Listen von Personen anlegte, die bei Kriegsbeginn zu verhaften waren. Sogar die Japanese Americans Citizens League (JACL), die als Vertretungsorgan der Nisei aus der American Loyalty League (in San Francisco) und der Progressive Citizens’ League (Seattle) hervorgegangen war, wirkte bei der Zusammenstellung der Listen mit. Auf dieser Grundlage einigten sich das Justiz- und Kriegsministerium am 18. Juli 1941 auf einen konkreten Plan zur Festnahme und Internierung von enemy aliens im Kriegsfall.268

Der Angriff auf Pearl Harbor, Roosevelts Proklamationen gegen die Japaner und die Festnahme von Feindstaatenangehörigen 1941/42 Nachdem langwierige Verhandlungen über die japanische Expansionspolitik in Südostasien und ein amerikanisches Wirtschaftsembargo gescheitert waren, griff das Inselreich am 7. Dezember 1941 vor allem auf Druck der Marineführung die US-Flotte in Pearl Harbor (Hawaii) an. Im Anschluss an den Überfall und der darauffolgenden Kriegserklärung der Vereinigten Staaten traten in der Heimatverteidigung des Landes sozialreformerische Sicherheitskonzepte, die u. a. Roosevelts Ehefrau Eleanor (1884–1962) vertreten hatte, endgültig zugunsten militärischer Vorbereitungen zurück, an denen neben der Armee und KriegsmaKrammer, Civilian Internees – World War II – North America, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 54–57, hier: S. 55. 268 Pistol, Internment, S. 26 f.; Culley, Enemy Alien Control, S. 140.

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rine vor allem die Bundespolizei und die Geheimdienste mitwirkten. Anstelle von Brot, Butter und Bürgerrechten bestimmten letztlich Kanonen das Sicherheitsverständnis. Schon am Tag vor der Kriegserklärung der USA gegen Japan am 8. Dezember 1941 waren 1.717 Japaner, Deutschen und Italiener – darunter auch in den Vereinigten Staaten Geborene – vom FBI festgenommen und dem Justizministerium zur Internierung übergeben worden. 1.212 Verhaftete waren japanischer Abstammung.269 Roosevelt bezeichnete am 7. Dezember 1941 in seiner Proklamation 2525, die auf den Alien Enemies Act von 1798 zurückgriff, alle Japaner und aus Japan stammenden Amerikaner als „fremde Feinde“ (alien enemies), die zu verhaften waren. Die Proklamationen 2626 und 2627 des Präsidenten ordneten kurz darauf dasselbe Verfahren für Deutsche und Italiener an. Demgegenüber blieben Österreicher und Koreaner ausgenommen. Das Kriegsministerium stellte daraufhin die Rekrutierung von Soldaten aus den „fremden Feinden“ ein. Obwohl keine Belege für Spionage und Subversion vorlagen, bedrohten diese Personen angeblich die „nationale Sicherheit“. Die Regierung durfte sie ohne genaue Begründung verhaften und ihr Eigentum beschlagnahmen. Allerdings war die Internierungspolitik der Regierung nicht eindeutig und konsistent, da es zwischen der Vielzahl der beteiligten Behörden zu erheblichen Reibungsverlusten und Spannungen kam. Bemühungen, das Vorgehen gegen zivile Feindstaatenangehörige zu koordinieren, trafen auf die Eigeninteressen, die von den Leitungen der einzelnen Institutionen oft entschieden verteidigt wurden.270 Nach einer Anweisung des Justizministers (Attorney General) Francis Biddle (1886–1968) inhaftierte das FBI daraufhin zuerst 736 führende Vertreter der japanischen Minderheit, obgleich amerikanische Staatsbürger die Mehrheit der Personen stellten, welche die Bundespolizei in ihren Listen verzeichnet hatten. Am 17. Dezember 1941 ordnete der Präsident auch die Festnahme deutscher Staatsbürger an, darunter eingebürgerter und sogar in Amerika geborener Personen, die als Gefahr für die nationale Sicherheit galten. Am 11. Dezember waren 1.002 und am 16. Februar 1942 bereits 1.393 Deutsche in Haft. Hinzu kamen 264 Italiener und 2.129 Japaner, die überwiegend an der amerikanischen Westküste festgenommen wurden. Am 9. März hatte das FBI dem Justizministerium mehr als 4.000 alien enemies zur Internierung übergeben. Im November 1942 belief sich die Zahl der Verhaftungen bei den Japanern und aus Japan stammen269 Angaben nach: Culley, Enemy Alien Control, S. 141. Andere Angabe in: Pitzer, Night, S. 242; Gentry, Hoover, S. 278. Zum Luftangriff auf Pearl Harbor: Takuma Melber, Pearl Harbor. Japans Angriff und der Kriegseintritt der USA, München 2016, S. 11–89, 128–165. 270 Pozzetta, Alien Enemies or Loyal Americans?, S. 80–82, 273 (Anm. 2); Culley, Enemy Alien Control, S. 141. Zum sicherheitspolitischen Kontext: Dallek, Defenseless Under the Night, S. 259, 263.

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den Amerikanern auf 5.534, bei den Deutschen auf 4.769 und 2.262 bei den Italienern. Alle anderen Feindstaatenangehörigen mussten sich polizeilich registrieren lassen. Außerdem wurden sie gezwungen, sich Durchsuchungen und Einschränkungen ihrer Mobilität zu unterwerfen.271 Den Custodial Detention Index nutzend, nahmen die Sicherheitsbehörden allein 1942 9.405 feindliche Ausländer fest, darunter 3.120 Deutsche, 4.764 Japaner und 1.521 Italiener. Die Behörden verhafteten Personen, welche (vermeintlich) die Sicherheit des Staates und die öffentliche Ordnung gefährdeten, unbefristet, vielfach ohne eindeutige Beweise und oft sogar ohne Haftbefehle. Insgesamt erfasste die Internierung 10.905 Deutsche und 3.278 Italiener, die sich in den USA aufhielten. Zu einer Masseninternierung dieser Gruppen kam es – im Gegensatz zu den Japanern – jedoch nicht, weil die hohe Zahl von 314.104 Deutschen und mehr als 690.000 Italienern von den Sicherheitsbehörden kaum bewältigt werden konnte. Zudem waren viele dieser Feindstaatenangehörigen in der amerikanischen Gesellschaft weitgehend assimiliert und in der Rüstungsindustrie beschäftigt. Nicht zuletzt richtete sich der Rassismus weniger gegen Deutsche und Italiener als gegen die Japaner. Jedoch unterschied die Alien Enemy Control Unit (AECU), die im Justizministerium von Edward J. Ennis (1908–1990) geleitet wurde und das Vorgehen gegen Feindstaatenangehörige koordinieren sollte, auch zwischen deutschen und italienischen enemy aliens. Die Abteilung hatte als gefährlich eingestufte Feindstaatenangehörige zu identifizieren, um die „nationale Sicherheit“ zu gewährleisten. Die anderen sollten lediglich kontrolliert werden. Dazu richtete Ennis 93 Tribunale (Civilian Alien Enemy Hearing Boards) in 86 Gerichtsbezirken ein, denen jeweils Bundesbeamte und angesehene Bürger in den einzelnen Gemeinden angehörten. Sie befragten die einzelnen Betroffenen und übermittelten der AECU eine Empfehlung. Allerdings variierten dabei die Beurteilungskriterien erheblich. Obwohl die Alien Enemy Control Unit der Einschätzung der Tribunale im Allgemeinen folgte, entschied letztlich das Justizministerium über die Internierung, die aber selektiv blieb. So waren bis Mitte 1942 nur 8.000 Feindstaatenangehörige verhaftet worden, darunter 4.611 Japaner, 2.869 Deutsche und 1.364 Italiener. Insgesamt wurden 31.275 zivile Feindstaatenangehörige festgenommen, davon 16.849 Japaner (ohne Zwangsumgesiedelte), 10.905 Deutsche, 3.728 Italiener, 52 Ungarn, 25 Rumänen und fünf Bulgaren. Mehr als 6.000 Internierte waren aus lateinamerika271 Robinson, Tragedy, S. 60; Culley, Enemy Alien Control, S. 141; Jensen, Army Surveillance, S. 223 f.; Schenderlein, „Enemy Aliens“, S. 109, 112 f., 115; Pistol, Internment, S. 27; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 434; Scherini, Italian Americans, S. 281–283; Deflem, Policing World Society, S. 197; Krammer, Process, S. 32, 34; ders., Die internierten Deutschen, S. 45 f.; Holmes, A Tolerant Country? S. 107; Kashima, Judgment, S. 46–52, 56 f.; Van Valkenburg, ‚Detainees‘, S. 29.

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nischen Staaten wie Honduras, Bolivien oder Kolumbien deportiert worden. Sie wurden überwiegend im Lager Crystal City in Texas festgesetzt.272 Zwar mussten im Frühjahr auch Tausende Deutsche und Italiener ihre Wohnorte an der Westküste verlassen. Im Gegensatz zu den Nisei und Issei wurden sie aber nicht pauschal, sondern zumindest formal auf der Grundlage von Einzelfallentscheidungen interniert. Dazu etablierte das Kriegsministerium am 19. August 1942 das Individual Exclusion Program. Damit sollten vor allem aus den Sperrzonen an der Westküste Feindstaatenangehörige verhaftet werden, die als Gefahr für die „nationale Sicherheit“ galten. Das Programm erfasste aber nur 563 Personen. Auch darüber hinaus kam es in den USA zu keiner Masseninternierung von Deutschen und Italienern. So wurden im Zweiten Weltkrieg insgesamt nur rund 4.000 Italiener verhaftet und 3.503 von ihnen in Lager verschleppt. Lediglich 112 stufte das Justizministerium als so gefährlich ein, dass sie mehrere Jahre in den Camps verbringen mussten. Diese nachsichtige Politik war offenbar von weit verbreiteten Vorurteilen gegenüber Italienern beeinflusst worden, die nach Meinungsumfragen als ebenso schwach wie harmlos galten. Die frühen militärischen Niederlagen Italiens 1940/41 hatten diese Meinung noch bestärkt. Zudem waren einzelne aus Italien stammende Italiener wie der Baseballspieler Joe DiMaggio (1914–1999) und New Yorks Bürgermeister Fiorello La Guardia prominent und überaus beliebt. Schon am 12. Oktober 1942 (Columbus Day) unterzeichnete Roosevelt deshalb eine Anordnung, mit der alle Italiener in den Listen der enemy aliens gestrichen wurden. Internierten Deutschen und Italienern wurden zudem in den Lagern Anhörungen gewährt. Vorwürfen, dass sie die Feindstaatenangehörigen zu milde behandelten, begegneten die Behörden oft mit dem Hinweis auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen, beson-

272 Angaben nach: Arnold Krammer, Feinde ohne Uniform. Deutsche Zivilinternierte in den USA während des Zweiten Weltkriegs, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), S. 581– 603, hier: S. 589, 593, 603; ders, Die internierten Deutschen, S. 47, 65, 90 f.; ders., Civilian Internees, S. 55; Jan Jarboe Russell, The Train to Crystal City. FDR’s Secret Prisoner Exchange Program and America’s Only Family Internment Camp During World War II, New York 2015, S. 77; Pozzetta, Alien Enemies or Loyal Americans?, S. 83, 85; Pitzer, Night, S. 242 f. Jörg Nagler ist von nur 2.300 internierten Deutschen ausgegangen. Vgl. Jörg Nagler, Internment of German Enemy Aliens in the United States during the First and Second World Wars, in: Saunders / Daniels (Hg.), Justice, S. 78; Culley, Enemy Alien Control, S. 142; Krammer, Civilian Internees, S. 55. Übersicht zu den Zahlenangaben in: Max Paul Friedman, Nazis and Good Neighbors. The United States Campaign against the Germans of Latin America in World War II, Cambridge 2003, S. 270. Instruktive Dokumente in: Arthur D. Jacobs / Joseph Fallon (Hg.), German-Americans in the World War, Bd. 4: The World War Two Experience. The Internment of GermanAmericans, München 1995. Vgl. zum AECU und zu den Anhörungen auch: Christgau, „Enemies“, S. 33; Van Valkenburg, ‚Detainees‘, S. 32.

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ders das Genfer Protokoll von 1929, an dem die US-Regierung offiziell festhielt.273

Weitere Maßnahmen gegen enemy aliens: Zwangsverpflichtung, Überwachung, Prozesse und Enteignung Jedoch wurden 4.000 Ausländer gegen die Bestimmungen der Haager Konvention von 1907 dienstverpflichtet. Auch mussten sich viele Deutsche, die aus dem „Dritten Reich“ geflohen waren, strenger Überwachung oder sogar vorübergehender Haft unterwerfen, darunter Arnold Bergstraesser (1896–1964). Er war 1929 an der Universität Heidelberg auf einen Lehrstuhl für Auslandskunde berufen worden und hatte dort 1932 an der Entlassung des jüdischen pazifistischen Mathematikers Emil Julius Gumbel (1891–1966) mitgewirkt. 1937 wegen seiner jüdischen Vorfahren zur Emigration aus Deutschland gezwungen, wurde Bergstraesser im Dezember 1941 und im Herbst 1942 am Scripps College, Claremont, wo er lehrte, vom FBI verhaftet und jeweils wenige Monate interniert. Obgleich die Vorwürfe wegen seine Beteiligung an der Entlassung Gumbels in den letzten Jahren der Weimarer Republik und wegen seiner Unterstützung des NSRegimes in den polizeilichen Untersuchungen keineswegs entkräftet worden waren, konnte Bergstraesser 1944 an die Universität Chicago wechseln, wo er einen Lehrstuhl für deutsche Kulturgeschichte übernahm. Wie das Vorgehen gegen den deutschen Wissenschaftler zeigt, beeinflusste vor allem die – über die Medien vermittelte – Kriegslage die Politik gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen. So ließ das Justizministerium am 29. Juni 1942 in New York nach gefährlichen Ausländern fahnden, nachdem am vorangegangenen Tag berichtet worden war, dass acht deutsche Saboteure von einem U-Boot an der Ostküste der USA abgesetzt worden und verhaftet worden waren.274 Unter dem Eindruck dieser Nachricht drängte das Kriegsministerium das Justizministerium zu immer weitergehenden Sicherheitsmaßnahmen. Das FBI weitete die illegale Überwachung diplomatischer Vertretungen aus, und Hoover übermittelte Roosevelt z. T. falsche Informationen über die Verhaftung der acht Deutschen, um seine Polizeikräfte als schlagkräftiges Sicherheitsorgan zu prä273 Scherini, Italian Americans, S. 290–298; Pozzetta, Alien Enemies or Loyal Americans?, S. 84–87; Valkenburg, ‚Detainees‘, S. 37; Culley, Enemy Alien Control, S. 150. 274 Michael Dobbs, Saboteurs. The Nazi Raid on America, New York 2004, S. 15–186; ClausDieter Krohn, Der Fall Bergstraesser in Amerika, in: Exilforschung 4 (1986), S. 254–275. Vgl. auch Wilma u. Georg Iggers, Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht aus unruhigen Zeiten, Göttingen 2002, S. 47–50, 82 f., 90; Krammer, Die internierten Deutschen, S. 92–94; Gentry, Hoover, S. 287–290.

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sentieren. Der Präsident ordnete am 2. Juli schließlich an, die Verhafteten Militärtribunalen zu überstellen, die mit den Gerichtsverfahren betraut wurden. Biddle stimmte dem Todesurteil des Standgerichtes zu. Der Oberste Gerichtshof wies einen Einspruch der Angeklagten, die einen ordentlichen Prozess verlangten, einstimmig zurück. Dabei verwies es auf den Auftrag des Kongresses an die Militärkommissionen, Verstöße gegen Kriegsgesetze zu ahnden. Daraufhin wurden alle Beschuldigten bis zum 8. August 1942 verurteilt, sechs von ihnen zum Tode. Nach der Exekution bestätigte der Oberste Gerichtshof den Richterspruch, indem er argumentierte, dass individuelle Rechte von Beschuldigten nicht die Fähigkeit der Nation zur Kriegführung einschränken dürften. Damit bekräftigte er den Primat der Sicherheit in der US-Politik.275 Prozesse erstreckten sich in den USA im Zweiten Weltkrieg auch auf (angebliche) Helfer und Sympathisanten des nationalsozialistischen Deutschlands und Japans. Anklagen richteten sich vor allem gegen Isolationisten, Antisemiten, Faschisten und Angehörige des German-American Bund, der unter Führung Fritz Kuhns das NS-Regime unterstützte. Im Januar 1944 begann das Verfahren gegen diese Personen, die der Verschwörung angeklagt wurden. Die Beweise in diesem Great Sedition Trial waren aber unzureichend. Nachdem der Vorsitzende Richter im November 1944 verstorben war, stellte sein Nachfolger Bolitha Laws (1891–1958) den Prozess wegen schwerer Rechtsfehler ein. Einige Dutzend Internierte mussten auch entlassen werden, nachdem Bezirksgerichte ihre Berufung auf den in der US-Verfassung kodifizierten Grundsatz des Habeas Corpus anerkannt hatten. Der amerikanische Rechtsstaat erwies sich als durchaus korrekturfähig, zumal Phasen intensiver und zurückgehender Sicherheitsängste einander abwechselten. Zudem wurden die in den USA lebenden Deutschen und Italiener offenbar als geringes Risiko eingestuft, wenn sie nicht der nationalsozialistischen oder faschistischen Partei angehörten. Die Zahl dieser enemy aliens, die interniert wurden, blieb deshalb begrenzt. Im Zweiten Weltkrieg bestimmte die wahrgenommene und imaginierte Bedrohungslage die Maßnahmen der amerikanischen Regierung zur inneren Sicherheit.276 Roosevelts Proklamationen 2526 und 2527 ermächtigten die Regierung außerdem, Feindstaatenangehörigen ihr Eigentum zu entziehen. An der Westküste ordnete das Militär zunächst eine „freiwillige“ Umsiedlung der Japaner und aus Japan stammenden Amerikaner an. Daraufhin mussten aber Zehntausende Nisei

275 Louis Fisher, Nazi Saboteurs on Trial. A Military Tribunal and American Law, Lawrence 2003; Steyn, Guantanamo Bay, S. 3; Jensen, Army Surveillance, S. 224 f.; Dobbs, Saboteurs, S. 207–265; Gentry, Hoover, S. 287, 291 f. 276 Richard W. Steele, Free Speech in the Good War, New York 1999; Panayi, Societies, S. 9; FAZ, Nr. 99 / 29. April 2015, Seite N 3.

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und Issei ihr Eigentum verkaufen – oft zu Schleuderpreisen – oder sogar zurücklassen. Dazu trug auch die Bedrohung durch Plünderer bei. Da sich Finanzminister Henry Morgenthau der Einsetzung eines Treuhänders verweigerte, versuchte die US-Staatsbank (Federal Reserve Bank), die Japaner und aus Japan stammende Amerikaner bei der Liquidation ihres Eigentums zu unterstützen, ohne damit katastrophale Verluste vermeiden zu können. Die wirtschaftlichen Verluste der Nisei und Issei durch die Zwangsumsiedlung sind mit 67 bis 116 Millionen Dollar (nach dem Preisniveau von 1945) veranschlagt worden.277

Die Zwangsumsiedlung und Internierung von Japanern und US-Amerikanern japanischer Herkunft Während der Alien Registration Act an ähnliche Gesetze anknüpfte, die während des Ersten Weltkrieges erlassen worden waren, muss die Masseninternierung der Amerikaner japanischer Herkunft als präzedenzlos gelten. Sie hob sich auch von der Einzelfallprüfung ab, welche das US-Justizministerium europäischen enemy aliens gewährte. Japanern, die in den USA weithin als „gelbe Gefahr“ galten, war schon im späten 19. Jahrhundert die Einwanderung erschwert worden. Das 1870 verabschiedete Einbürgerungsgesetz hatte die Staatsbürgerschaft auf „white persons and persons of African descent“ eingeschränkt. Vor allem Bauern und Fischer beneideten die Japaner wegen ihrer wirtschaftlichen Erfolge und verlangten gesetzliche Einschränkungen gegen die unerwünschte Minderheit. 1913 konnten sie das Alien Land Law durchsetzen, das Japanern in Kalifornien Landbesitz untersagte. 1919 lehnte die US-Delegation, die unter dem Vorsitz Wilsons in Versailles an der Ausarbeitung des Friedensvertrage beteiligt war, eine von Japan geforderte Klausel ab, in der sich der geplante Völkerbund in seiner Gründungsakte zur Gleichheit aller Rassen bekennen sollte. Der amerikanische Präsident und die Entente-Mächte versuchten, Japans Regierung zu besänftigen, indem sie den Delegationen des halbsouveränen Chinas und des seit 1910 von Japan besetzten Koreas die politische Gleichberechtigung verweigerten, die diese im Namen des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ verlangt hatten. Nach dem 1924 vom Kongress verabschiedeten Einwanderungsgesetz durften Japaner und Chinesen überhaupt nicht mehr in die Vereinigten Staaten, die bis 1929 auch Quoten für Immigranten verhängten.278 277 Robinson, Tragedy, S. 124. 278 Zitat: Van Valkenburg, ‚Detainees‘, S. 29. Vgl. auch Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007, S. 182; ders., Dawn, S. 134–139; Pistol, Internment, S. 21 f., 50.

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Die atemberaubenden militärischen Anfangserfolge Japans und die damit verbundenen Ängste der Amerikaner führten Anfang 1942 zu einer Panik und einer fremdenfeindlichen Hysterie. Marineminister Frank Knox (1874–1944) und der Befehlshaber der Armee auf Hawaii, Walter C. Short (1880–1949), behaupteten, dass eine „fünfte Kolonne“ von Helfern auf der Inselgruppe den japanischen Überfall auf Pearl Harbor ermöglicht habe. Diese Vermutung stützte ein Bericht, den ein Richter im Obersten Gerichtshof, Owen Roberts (1875–1955), vorlegte. Die Kommission, die im Dezember 1941 zur Untersuchung des japanischen Angriffs eingesetzt worden war, ging ebenfalls von japanischen Spionen auf Hawaii aus, die Japans Militärregime über das Konsulat in Honolulu mit militärisch wichtigen Informationen versorgt hätten. Militant-nationalistische Gruppen griffen diese haltlosen Vorwürfe auf und agitierten gegen den „Verrat“ von Japanern in den USA. Einzelne Gruppen des Roten Kreuzes lehnten sogar Hilfsangebote und Spenden durch aus Japan stammende Amerikaner ab. So änderte der Rotkreuz-Verband in San Francisco erst nach einer Intervention Eleanor Roosevelt seine Verweigerungshaltung. Demgegenüber verteidigte das Weiße Haus die Japaner nicht. Sie wurden ebenso wie die anderen enemy aliens einer nächtlichen Ausgangssperre unterworfen und mussten Fotoapparate und Kurzwellenradios abgeben.279 Vor allem Hoover ging von Verrat durch Japaner aus, obwohl Meldungen seiner Polizisten keine Indizien dafür enthielten. Auch der von Roosevelt ernannte Sonderberichterstatter, der Chicagoer Geschäftsmann Curtis Munson, wies im November 1941 die schon kursierenden Verschwörungstheorien zurück und betonte die Loyalität der überwältigen Mehrheit der in den USA lebenden Japaner. Ebenso beruhigend war im Januar 1942 der Bericht des Inspektors des Marinegeheimdienstes Office of Naval Intelligence, Kenneth Ringle, der die weit verbreiteten rassistischen Einstellungen gegenüber den Japanern verurteilte. Diese identifizierte er als wichtige Ursache der übertriebenen Gefahrenwahrnehmung. Die politischen Einstellungen zu den Japanern und aus Japan stammenden Amerikaner waren zunächst aber durchaus unterschiedlich, wie Ringles Einspruch dokumentierte. Dennoch empfahl Hoover Roosevelt sein FBI als geeignete Institution, um enemy aliens festzusetzen. Tatsächlich erklärte Justizminister Biddle am 4. Februar 1942 eine Zone von 30 bis 150 Meilen an der Küste Kaliforniens zum Sperrgebiet. Er widersetzte sich aber ebenso wie Biddle zunächst einer Masseninternierung und beugte sich erst am 17. Februar dem Druck des Kriegsministeri279 Knox bemerkte auf einer Pressekonferenz am 15. Dezember 1941: „I think the most effective ‚fifth column‘ work of the entire war was done in Hawaii, with the possible exception of Norway.“ Zitat: Kashima, Judgment, S. 75. Vgl. auch Robinson, Tragedy, S. 63 f., 79–81; Melber, Pearl Harbor, S. 105 f., 112.

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ums. Unterstützt von republikanischen Kongressabgeordneten wie Martin Dies und getragen von einer populistischen Mobilisierung durch die Boulevardpresse – aber auch von seriösen Journalisten wie Walter Lippmann – und nationalistischen Verbänden, hatten im War Department der Kommandeur der Militärpolizei (Provost Marshal), General Allen W. Gullion (1880–1946), und sein Mitarbeiter, Hauptmann Karl Robin Bendetsen (1907–1989), auf die Internierung aller Japaner und aus Japan stammenden Amerikaner gedrängt. Diese radikale Maßnahme war auch von dem Kommandeur des westlichen Militärbezirks, General John L. DeWitt (1880–1962), verlangt worden. Auch gedrängt von seinem Unterstaatssekretär John McCloy (1895–1989), nahm der zunächst zögernde Kriegsminister Henry L. Stimson (1867–1950) diese Forderung schließlich auf und rechtfertigte sie gegenüber Roosevelt als „militärische Notwendigkeit“.280 Diese Begründung teilte auch der Präsident, der zudem selber Vorurteile gegenüber Japanern und aus Japan stammenden Amerikanern (Nikkei) hegte. Seine Executive Order 9066 vom 19. Februar ermächtigte die Regierung nicht nur, weitere Zonen festzulegen, in denen sich Feindstaatenangehörige nicht mehr aufhalten durften, sondern auch, sie zu deportieren und zu internieren. Die Anordnung war zwar zurückhaltend formuliert. Obwohl der Befehl Roosevelts die Zielgruppen nicht ausdrücklich erwähnt hatte, wurden nach der Executive Order Japaner der Issei und Nisei, die an der Pazifikküste lebten, jedoch festgenommen und zwangsweise umgesiedelt. Darüber hinaus weckten Kibei das Misstrauen der US-Behörden, da sie in Japan ihre Erziehung absolviert hatten und deshalb als indoktriniert galten. Sie wurden fast durchweg interniert. Gegen andere Ausländer und Amerikaner, die aus gegnerischen Staaten stammten, konnten Ausgangssperren verhängt werden. Darüber hinaus wurden sie zur „freiwilligen“ Umsiedlung gedrängt. Die Executive Order 9006 löste damit eine Masseninternierung – vorrangig der Japaner und aus Japan stammenden US-Bürger – aus. Allerdings vollzog sich der Prozess wegen der Kompetenzkonflikte zwischen dem Justiz- und Kriegsministerium (und zwischen den diesem unterstellten Kommandeuren in den drei betroffenen Militärbezirken) vor allem in den ersten Monaten nach dem Kriegseintritt der USA ungeordnet. So preschte der Kommandeur des westlichen Verteidigungsbezirks der USA, Generalleutnant John L. DeWitt, im März 1942 mit Unterstützung von Kongressabgeordneten vor, indem er anordnete, alle enemy aliens aus eine Zone zu evakuieren, welche die Küste Kaliforniens, Washingtons und Oregons und die südlichen Grenzgebiete Kaliforniens und Arizonas (an der Grenze zu Mexiko) umfasste. Es 280 Kashima, Judgment, S. 130 f.; Robinson, Tragedy, S. 62 f., 67–74, 79–85, 87–90; Van Valkenburg, ‚Detainees‘, S. 29; Pitzer, Night, S. 251 f.; Scherini, Italian Americans, S. 288; Culley, Enemy Alien Control, S. 142.

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handelte sich dabei nahezu ausschließlich um Japaner und US-Amerikaner japanischer Herkunft. Davon waren 43.000 Immigranten und 70.000 aus Japan stammende US-Amerikaner.281 Der Kongress wurde dabei weitgehend übergangen. Hier fand keine öffentliche Debatte über das Internierungsprogramm statt, und als eine Kommission des Repräsentantenhauses unter Vorsitz des kalifornischen Politikers John Tolan (1877–1947) im März 1942 nach Anhörungen eine Einzelfallprüfung der enemy aliens anordnete, hatte die Massenausweisung dieser Gruppe bereits eingesetzt. Schon in den ersten fünf Monaten nach dem Überfall auf Pearl Harbor entzog das Justizministerium etwa 10.000 Italienern, vor allem aber rund 40.000 Japanern und 78.000 aus Japan stammenden Amerikanern mit der Deportation aus dem Westen der USA grundlegende Bürgerrechte. Nach dem 14. Zusatzartikel (Amendment) der Verfassung von 1865 waren alle Bürger, die in den Vereinigten Staaten geboren oder eingebürgert waren, grundsätzlich uneingeschränkt Amerikaner. Mit der Executive Order 9066 büßten die Issei und Nisei dieses Recht ein. Zudem unterstellte die US-Regierung die Festgenommenen, gegen die sich rassistische Vorurteile richteten, einer Sonderadministration. Für sie etablierte General DeWitt an der Westküste am 11. März 1942 die Wartime Civil Control Administration (WCCA) die für den Transport dieser Gruppe in 17 vorübergehende Sammelstellen zuständig war. Die WCCA verwaltete zudem diese Camps.282 Zwar hielten sogar die Polizeibehörden die öffentliche Sicherheit in den Vereinigten Staaten nicht für gefährdet; jedoch war die Regierung angesichts der Niederlagen in Ostasien bemüht, Handlungsmacht zu demonstrieren. Die Verhaftungen und die Internierung sollten die verunsicherte Bevölkerung beruhigen. Der Hinweis auf die „nationale Sicherheit“ war damit in eine Politik eingebunden, die sich an die amerikanische Öffentlichkeit richtete. Dazu wurden die Gefahren für die „nationale Sicherheit“ übertrieben. Überdies beschwor das Kriegsministerium, das im Februar vom Immigration and Naturalization Service und vom Justizministerium die Verantwortung für Feindstaatenausländer übernahm, wiederholt „militärische Notwendigkeiten“, um restriktive Maßnahmen zu rechtfertigen. Die repressive Politik gegenüber den Feindstaatenangehörigen 281 Vgl. Kashima, Judgment, S. 127–134; Krammer, Die internierten Deutschen, S. 66 f., 72 f.; Robinson, Tragedy, S. 87, 90–93, 104 f.; Pistol, Internment, S. 29; Scherini, Italian Americans, S. 288 f.; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 435; Christgau, „Enemies“, S. 148, 150; Van Valkenburg, ‚Detainees‘, S. 34 f. Umfassend: Greg Robinson, By Order of the President: FDR and the Internment of Japanese Americans, Harvard/Mass. 2003. Zu den Nikkei, die in Issei und Nisei zu untergliedern sind, vgl. Pistol, Internment, S. 7 282 Scherini, Italian Americans, S. 289 f.; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 276 f. Hierzu und zum Folgenden auch: Kashima, Judgment, S. 139–152, 183–210; Christgau, „Enemies“, S. 154–166.

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war aber auch auf die Interessen führender Vertreter der Sicherheitsbehörden zurückzuführen, die damit ihre Exekutivorgane stärken wollten. Zwischen den miteinander konkurrierenden Institutionen – außer dem FBI und dem Justizministerium der Nachrichtendienst der Marine, den lokalen Polizeikräften und dem Coordinator of Information (seit 1942: Office of Strategic Services) – entbrannte geradezu ein Kampf um Kompetenzen und knappe Ressourcen. Dennoch konnten alle beteiligten Behörden ihren Personalbestand im Zweiten Weltkrieg enorm steigern. So schnellte die Zahl der Mitarbeiter des FBI von 1941 bis Ende 1943 von 7.420 auf 13.317 hoch. Alles in allem prägten Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Antikommunismus den Umgang mit Feindstaatenangehörigen in den USA. So verdächtigte Hoover jüdische und antifaschistische Flüchtlinge aus Deutschland pauschal, einen kommunistischen Umsturz zu betreiben oder zumindest zu fördern.283 Obgleich Knox und republikanische Kongressabgeordnete besonders Hawaii als Zentrum einer Verschwörung durch Nisei und Issei identifiziert hatten, wurden hier nur rund 800 der insgesamt 150.000 Bewohner japanischer Herkunft verhaftet und interniert. Das Federal Bureau of Investigation hatte vor dem Beginn des Krieges gegen Japan sogar lediglich 38 Issei und neun Nisei, die auf den Inseln lebten, für die Internierung vorgesehen. Schon unmittelbar nach dem Angriff auf Pearl Harbor war von der Armee die Kontrolle über die Inselgruppe übernommen worden. Nachdem Roosevelt am 9. Dezember 1941 hier das Kriegsrecht und damit die Grundsätze des Habeas Corpus suspendiert hatte, setzten die ersten Verhaftungen ein. Beamte des FBI übergaben 347 festgenommene Japaner und aus Japan Stammende (darunter 212 konsularische Vertreter). Sie wurden zusammen mit Deutschen, Österreichern, Italienern, Finnen und einigen Norwegern in ein Lager auf der Insel Sand eingeliefert. Im Unterschied zu den Nisei und Issei, die auf dem amerikanischen Kontinent interniert wurden, durften sich festgenommene Feindstaatenangehörige auf Hawaii selber verteidigen und auch rechtlichen Beistand nutzen.284 Der kommandierende Generalleutnant Delos C. Emmons (1889–1965) lehnte eine Masseninternierung ab, da er die aus Japan stammenden US-Bürger auf der Inselgruppe für harmlos hielt. Dafür war nicht vorrangig eine „general welcoming reception“ ausschlaggebend, sondern vorrangig ein pragmatisches Kalkül.285 Da sie 37 Prozent der Bewohner stellten, waren Bürger japanischer Her-

283 Schenderlein, „Enemy Aliens“, S. 114 f.; Krammer, Die internierten Deutschen, S. 68 f., 75; Kashima, Judgment, S. 52–54. Angaben nach: Gentry, Hoover, S. 279. 284 Robinson, Tragedy, S. 60, 113–121, 153; Pistol, Internment, S. 51. Angaben nach: Kashima, Judgment, S. 78, 86; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 441. 285 Conroy / Conroy Usioda, Review, S. 50.

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kunft überdies wirtschaftlich unentbehrlich. Emmons benötigte sie vor allem als Arbeitskräfte. Zudem war die große Bevölkerungsgruppe der Nisei und Issei eng in die Gesellschaft Hawaiis integriert. Deshalb wurden bis zum 30. März 1942 lediglich 733 enemy aliens verhaftet, von denen 650 interniert wurden. 74 Prozent von ihnen waren männliche Issei. 616 Personen (darunter 576 Issei und 18 Deutsche) wurden Mitte 1942 auf das amerikanische Festland gebracht. Als das Kriegsministerium am 27. Juni 1942 die Deportation von bis zu 15.000 Personen vorschlug, die es für gefährlich hielt, verzögerte Emmons den Abtransport. Insgesamt wurden im Zweiten Weltkrieg nur 2.092 Feindstaatenangehörige (davon allein 1.037 vom November 1942 bis März 1943) auf das nordamerikanische Festland gebracht.286

Das Lagersystem Nach der Festnahme überstellte das FBI alle Verhafteten dem INS. Diese Institution überführte die Feindstaatenangehörigen im Auftrag des Justizministeriums in die provisorischen Sammellager, wo viele unter den schlechten Lebensbedingungen und den gravierenden Einschränkungen ihrer Freiheit litten. Von den Sammelstellen aus wurden die Feindstaatenangehörigen in feste Camps weitergeleitet. Auch hier war das Leben hart, vor allem in der ersten Phase wegen der Überbelegung. So waren Anfang 1942 allein im Lager Livingston (nahe der Stadt Alexandria im Bundesstaat Louisiana) über 1.000 verschleppte japanische Zivilisten inhaftiert. Anhänger der Nationalsozialisten wurden in das Camp Alva (Oklahoma) gebracht. Hilfslieferungen von Organisationen wie dem YMCA und den Quäkern konnten die Not und die Langeweile kaum lindern. Wegen der Missstände in den Camps übernahm das Department of Justice 1942 vom INS die direkte Kontrolle.287 In den Lagern kam es gelegentlich zu Übergriffen amerikanischer Soldaten, die Gefangene bei (tatsächlichen oder vermeintlichen) Fluchtversuchen vereinzelt sogar erschossen, und zu Aufständen unter den Gefangenen. Damit wandten sie sich beispielsweise im Lager Manzanar (Kalifornien), das im Juni 1942 eröffnet worden war, gegen die unmenschlichen Lebensbedingungen und die harte Behandlung durch die Wachmannschaften. Die internierten Nisei und

286 Angaben nach: Melber, Pearl Harbor, S. 112, 183. 287 Zeitzeugenberichte aus den INS Camps: Stephen Fox, America’s Invisible Gulag. A Biography of German American Internment and Exclusion in World War II. History and Memory, New York 2000, S. 131–166; Pistol, Internment, S. 52. Zu den Lagern Livingston und Alva: Rafael A. Zagovec, Livingston Camp, in: Vance Encyclopedia, S. 176 f.

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Issei warfen der WRA vor, gegen die Genfer Konvention von 1929 zu verstoßen, die das Justizministerium als Richtschnur auch für den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen akzeptiert hatte. Im Dezember 1942 schossen die Soldaten, die das Camp Manzanar bewachten, auf protestierende Insassen. Auch mit Inschriften, die sie in den von ihnen verarbeiteten Beton ritzten, dokumentierten sie ihren Widerstand gegen die harte Behandlung in dem Lager und den Loyalitätstest, dem sie mit einem Fragebogen unterworfen wurden. Die Graffiti und angelegten Gärten nach japanischen Vorbildern dienten aber auch der Neubestimmung von Identitäten, der Bewahrung von Würde und der Ablenkung. Diese Zeugnisse zeigen, dass die Internierten keineswegs nur passive Opfer, sondern auch kreativ handelnde Akteure waren.288 Im Lager Lordsburg (New Mexico) ging der Kommandant 1942 so rigoros gegen protestierende Internierte vor, dass der Schweizer Konsul (als Vertreter der Schutzmacht) und zwei Beamte des Außenministeriums intervenieren mussten. Auch in Tule Lake (Kalifornien) brach Anfang 1943 ein Aufstand aus. Hier waren besonders aus Japan stammende Amerikaner interniert, die sich geweigert hatten, den Vereinigten Staaten die Treue zu schwören und dem japanischen Kaiser ausdrücklich den Gehorsam zu verweigern. Dies hatten viele Betroffene – darunter die Eltern des späteren Schauspielers George Takei – als Beleidigung und Misstrauenserklärung seitens der US-Regierung empfunden. In Tule Lake standen – ebenso wie in anderen Lagern – nationalistische Japaner, die eine Repatriierung in das ostasiatische Inselreich verlangten, anderen Landsleuten gegenüber, die in den USA bleiben wollten, sich aber in den Camps zu diesem Wunsch angesichts des Drucks ihrer oft mächtigeren Gegner kaum bekennen konnten. Die Internierten kritisierten besonders die JACL, der vorgeworfen wurde, mit dem Justizministerium zusammenzuarbeiten und die Rechte der Betroffenen nicht energisch zu verteidigen.289 Kritiker wie der Vorsitzende des American Committee for Protection of the Foreign Born, Hugh DeLacey (1910–1986), aber ebenso die US-Behörden und sogar Roosevelt selber bezeichneten die Lager als „concentration camps“.290 Auch 288 Jeffrey F. Burton / Mary M. Farrell, „Life in Manzanar Where There is a Spring Breeze“: Grafiti at a World War II Japanese American Internment Camp, in: Mytum / Carr (Hg.), Prisoners of War, S. 239–269, bes. S. 240–242, 246, 256; Ronald J. Beckwith, Japanese-Style Ornamental Community Gardns at Manzanar Relovation Center, in: Mytum / Carr (Hg.), Prisoners of War, S. 271–284, bes. S. 271 f., 283. 289 Pistol, Internment, S. 66; Burton / Farrell, „Life in Manzanar Where There is a Spring Breeze“, S. 250; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 437–439 290 Hilary Conroy / Sharlie Conroy Ushioda, A Review of Scholarly Literatur on the Internment of Japanese Americans During World War II: Toward a Quaker Perspective, in: Quaker History 83 (1994), Nr. 1, S. 48–52, hier: S. 48; Forth, Barbed-Wire Imperialism, S. 219.

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die Internierten übernahmen den Begriff. Nachdem Nachrichten über den Massenmord an den Juden in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern in die USA gelangt waren, sprach die Regierung jedoch offiziell verharmlosend nur noch von „reception centers“ oder „relocation centers“, in die Feindstaatenangehörige von den Sammelstellen aus verbracht wurden. Die Deportation erfasste rund 120.000 Menschen. In den Lagern wurden die verhafteten Feindstaatenangehörigen zunächst befragt. Dazu durften sie einen Rechtsbeistand hinzuziehen. Unmittelbar vor dem Angriff Japans auf Pearl Harbor erwog auch das Appellationsgericht der Einwanderungsbehörde, Deutsche und Italiener freizulassen, denen gute Führung und Loyalität gegenüber den USA bescheinigt wurde.291 Jedoch erweiterte und festigte die Roosevelt-Administration im Frühjahr 1942 das System der Internierungslager, vor allem durch die Gründung der War Relocation Authority (WRA), welche die Camps verwaltete. Eingerichtet nach Roosevelts Executive Order 9102 vom 18. März 1942, unterstand die WRA der Armee, die auch für die Bewachung der Gefangenen in den Lagern sorgte. Das Weiße Haus entschied, die Rechte der Insassen nach der Habeas-Corpus-Akte nicht aufzuheben, sondern die Lager als Verteidigungszonen zu definieren, damit die Executive Order 9066 als rechtliche Grundlage der Internierung angewendet werden konnte. So war die offizielle Begründung, dass enemy aliens festgesetzt werden müssten, um die militärische Sicherheit zu wahren, zu einem Vorwand geworden. Der liberale Direktor der WRA, Milton Eisenhower (1899– 1985, der Bruder des späteren Generals und Präsidenten Dwight D. Eisenhower), äußerte seine Vorbehalte gegen die Internierung aber nicht offen, sondern trat im Juni 1942 resigniert zurück. Sein Nachfolger Dillon Myer (1891–1982) versuchte 1942/43, Erleichterungen für die Internierten zu erwirken. So sollte loyalen Insassen ein Aufenthalt auch außerhalb der Lager erlaubt werden. Myer traf mit seinen Vorschlägen aber auf den Widerstand Stimsons, der Probleme im Umgang mit den inhaftierten enemy aliens auf Schwächen der WRA zurückführte. Die männlichen Feindstaatenangehörigen blieben damit jahrelang in den Lagern. Allein im Camp Fort Lincoln waren im Februar 1942 außer 389 Deutschen (darunter 282 Seeleuten) 1.129 Amerikaner japanischer Abstammung interniert. Diese Gruppe litt auch in Fort Sill (Oklahoma) unter der erzwungenen Isolierung. Für Familien war das Camp Crystal City vorgesehen. In den Lagern traten erhebliche Konflikte zwischen Anhängern und Gegnern der Nationalsozialisten 291 Hierzu und zum Folgenden: Kashima, Judgment, S. 54 f., 63, 135–139; Robinson, Tragedy, S. 106, 125, 129–132, 140–144; Pistol, Internment, S. 52, 58–66; Scherini, Italian Americans, S. 285; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 437; Van Valkenburg, ‚Detainees‘, S. 28; Christgau, „Enemies“, S. 31.

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bzw. des japanischen Militärs auf, die vielerorts von jeweiligen Kommandanten und Wachmannschaften ebenso wie die wiederholt vorkommenden Fluchten von Internierten nur mühsam eingedämmt werden konnten. Lediglich Frauen, Ehepaare und Jugendliche unter 14 Jahren waren in der Obhut des INS. Erst ab Februar 1943 übernahm die Behörde nach einer Vereinbarung zwischen dem Kriegs- und Justizministerium erneut alle enemy aliens. Rund 4.000 von ihnen wurden im Mai und Juni überführt.292 Am 22. August 1943 stellte Biddell schließlich in Aussicht, ein Special Alien Enemy Hearing Board zu etablieren, deren 22 Mitglieder den Übergang von Internierten aus den Lagern der Armee in Camps der Einwanderungsbehörde fördern sollten, um inhaftierte Feindstaatenangehörige auf diesem Wege freilassen zu können. Österreicher und Angehörige von Staaten, die mit den „Achsenmächten“ verbündet waren (Ungarn, Rumänien und Bulgarien), galten offiziell sogar nicht als alien enemies. Für die Beziehungen zu den Regierungen der Länder, die sich im Kriegszustand mit den USA befanden, war aber vor allem das US-Außenministerium zuständig. Das State Department hatte bereits am 1. September 1939 eine Abteilung eingerichtet, aus der wenig später die Special War Problems Division hervorging. Sie kümmerte sich nach der Kriegserklärung der USA gegen Japan um zivile Feindstaatenangehörige, die in den Vereinigten Staaten festgenommen und interniert worden waren. Dazu arbeitete sie mit den jeweiligen Schutzmächten zusammen. Darüber hinaus organisierte sie Inspektionen der Camps durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Damit sollte sichergestellt werden, dass ähnliche Besuche auch in den Internierungslagern im „Dritten Reich“ durchgeführt wurden, um dort inhaftierte Staatsbürger der USA zu schützen. In der Hoffnung auf Reziprozität achtete die War Problems Division auf eine humane Behandlung der internierten Deutschen, Japaner und Italiener.293 Internierte, die sich offen aufgelehnt hatten, wurden in Isolationszentren – so in Lager in Moab (Utah) und Leupp (Arizona) – gebracht. Anfang 1945 transportierte die WRA auch 325 Japaner aus dem Lager Tule Lake nach Fort Lincoln. Von diesen „Unruhestiftern“ trennte die Behörde Internierte, die sich den Regeln der Lagerordnungen unterwarfen oder die Politik der amerikanischen Regierung sogar aktiv unterstützten. Für diese Gruppe richtete die Behörde in Kalifornien ein Lager in Cow Creek ein, dessen Insassen das American Friends Service Committee der Quäker befragte und unterstützte. Insgesamt wurden im 292 Robinson, Tragedy, S. 18–25; Christgau, „Enemies“, S. 150; Pistol, Internment, S. 55; Krammer, Civilian Internees, S. 55. Angaben nach: Van Valkenburg, ‚Detainees‘, S. 35; Culley, Enemy Alien Control, S. 146. 293 Kashima, Judgment, S. 39; Culley, Enemy Alien Control, S. 140.

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Zweiten Weltkrieg 119.803 Amerikaner japanischer Abstammung in Internierungslager im Innern des Landes eingewiesen, davon 109.427 innerhalb von neunzig Tagen im Frühjahr 1942. 65 Prozent aller Internierten waren amerikanische Staatsbürger. Zusammen mit den anderen Feindstaatenangehörigen erfasste die Zwangsumsiedlung in den USA im Zweiten Weltkrieg 140.000 Personen.294

Widerstände gegen die Internierung, die Rolle der Gerichte und die Grenzen des Reziprozitätsprinzips Da die Issei fast ausnahmslos interniert worden waren, versuchten die führenden Vertreter der Nisei, die Japaner in den USA zu verteidigen. Der offizielle Interessenverband, das Japanese American Committee for Democracy (JACD), bot der US-Regierung seine Unterstützung im Krieg an, um seine Loyalität zu demonstrieren. Demgegenüber blieb der Protest des Verbandes halbherzig, da die Minderheit der Japaner in den USA gespalten war. Auch in der JACL traten nur einige Mitglieder für die Verteidigung der Bürgerrechte ein, während andere vorrangig Loyalitätsbekenntnisse bevorzugten, um die US-Regierung und die aufgebrachte Öffentlichkeit zu besänftigen. In der ACLU setzte sich vor allem der Vorsitzende Roger Baldwin (1884–1981) für Erleichterungen ein, auf die in der Regierung auch der Direktor des Informationsministeriums, Archibald MacLeish (1892–1982), drängte. Allerdings traf Baldwin im Vorstand der ACLU auf Widerstand, da einige seiner Kollegen eine direkte Stellungnahme gegen Roosevelts Executive Order 9066 ablehnten. Demgegenüber kritisierte die Socialist Party die rigorose Internierungspolitik eindeutig. Die Partei war aber wegen ihrer kompromisslosen Ablehnung aller militärischen Interventionen vor dem Kriegseintritt der USA nach 1941 weitgehend diskreditiert und deshalb politisch einflusslos.295 In Washington bemühten sich auch liberale Beamte im Alien Enemy Control Unit des Justizministeriums, Hoovers repressives Programm zu entschärfen. Festnahmen durften nur noch mit Haftbefehl durchgeführt werden. Auch im State Department verbreiteten sich 1942 zunehmend Zweifel. So betonte James H. Keeley (1895–1985), ein hochrangiger Beamter im Außenministerium, im November: „No one wants to be soft as regards a dangerous alien enemy, but we 294 Angaben nach: Schenderlein, „Enemy Aliens“, S. 109; Robinson, Tragedy, S. 127; Van Valkenburg, ‚Detainees‘, S. 38. Vgl. auch Pistol, Internment, S. 66–70. Liste aller zehn Lager in: Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 438. 295 Robinson, Tragedy, S. 85–87, 107–113; Pistol, Internment, S. 23, 30.

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need not copy the methods of our enemies by refusing to permit a man who claims to be innocent somehow to arrange for a hearing of his case on its merits.“ Damit hob er auf die Grundsätze des Habeas Corpus als Säule der amerikanischen Demokratie ab. Dennoch lehnte Keeleys Vorgesetzter, der stellvertretende Außenminister Breckinridge Long (1881–1958), Anhörungen der verhafteten enemy aliens ab. Zwar ordnete Roosevelt mit seiner Verordnung 9106 vom 20. März 1942 an, Kommissionen zu bilden, die Internierte zu Vorwürfen befragten. Diese Aufgabe übernahmen local boards, die das Justizministerium beaufsichtigte. Der US-Präsident befahl auch die Aufhebung anderer Einschränkungen und rief Lagerinsassen auf, unverzüglich die amerikanische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Letztlich verletzte das Internierungsprogramm aber nicht nur zentrale rechtsstaatliche Prinzipien, sondern es war auch ineffektiv, da die Zahl der Spionagefälle begrenzt blieb. Das japanische Regime betrachtete Issei und Nisei keineswegs als potentielle Helfer, sondern vielmehr als Verräter. Auch deshalb wurden von 1938 bis 1945 in den USA nur rund neunzig feindliche Agenten verurteilt.296 Der Oberste Gerichtshof (Supreme Court) bestätigte aber noch im Dezember 1944 in zwei Urteilen die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der Internierung, die mit der Sorge um die national security und dem Schutz vor „inneren Feinden“ begründet worden war. Damit wies der Supreme Court den Widerspruch des aus Japan stammenden Amerikaners Fred Korematsu zurück (1919–2005), der im Juni 1942 festgenommen worden war. Zuvor hatte das Oberste Gericht der USA 1943 den Einspruch eines weiteren Betroffenen, Gordon Hirabayashi (1918– 2012), der wegen einer Verletzung der Ausgangssperre verurteilt worden war, zurückgewiesen. Beide Nikkei waren von der ACLU nur halbherzig unterstützt worden. Demgegenüber ordnete der Oberste Gerichtshof im Dezember 1944 die Freilassung der Amerikanerin japanischer Herkunft Mitsuye Endo (1920–2006) an, die im Lager Tule Lake interniert war. Da Endos Bruder in der US-Armee diente und keine Belege für Illoyalität gegenüber den Vereinigten Staaten vorlagen, wurde die Internierung aufgehoben. Auch weil ein Sieg der Vereinigten Staaten im Pazifikkrieg Anfang 1945 absehbar war, kündigte die Regierung an, die Internierung aller Japaner bis zum Jahresende aufzuheben. Im Juni 1945 lebten schließlich nur noch 1.800 Deutsche oder Amerikaner deutscher Herkunft und 3.500 Japaner bzw. Amerikaner mit japanischen Wurzeln in Lagern. Allerdings verfügte der neue Präsident Harry S. Truman (1884–1972) mit seiner Proklamation 2655 am 14. Juli 1945, dass Ausländer, die im Zweiten Weltkrieg als gefährlich registriert worden waren, zwangsweise repatriiert werden sollten. 296 Zitat: Friedman, Civil Liberties, S. 300. Angaben nach: Kashima, Judgment, S. 20. Vgl. auch Krammer, Process, S. 59; ders., Die internierten Deutschen, S. 76, Russell, Train, S. 75 f.

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Nisei und Issei, die dies ablehnten, trafen bei dem Bemühen, ihre Loyalität gegenüber den Vereinigten Staaten zu belegen, auf erhebliche rechtliche und bürokratische Hürden. In einigen Fällen wurde die Aberkennung der US-Staatsbürgerschaft, die mit der Internierung einhergegangen war, erst in den späten 1950er Jahren revidiert.297 Alles in allem hatte die US-Regierung zivile Feindstaatenangehörige von 1941 bis 1945 nach den Bestimmungen der 1929 verabschiedeten Genfer Konvention behandelt, obgleich diese nur für Kriegsgefangene galt. Nach den Vorschriften, die das Justizministerium am 28. April 1942 herausgab, musste auch mit verhafteten enemy aliens human umgegangen werden. Damit handelte es im Einklang mit der britischen Regierung, die dem Auswärtigen Amt wiederholt versichert hatte, gefangene Deutsche nach den völkerrechtlichen Regeln zu schützen. So war den Wachmannschaften in den Internierungslagern im „Dritten Reich“ verboten, Gewalt gegen Insassen auszuüben und diese zu demütigen.298 Mit der humanen Behandlung ziviler Feindstaatenangehöriger in den Vereinigten Staaten sollten auch US-Amerikaner geschützt werden, die in Deutschland und Japan gefangen worden waren. Allerdings wurden die Zivilinternierten von der Roosevelt-Administration auch als Geiseln betrachtet. So sprach sich der Präsident am 11. Juli 1942 gegen die unterschiedslose Entlassung von Feindstaatenangehörigen aus. Biddle warnte vor Repressalien gegenüber USBürgern, die als Gefangene den „Achsenmächten“ ausgeliefert waren. 1943 wandte er sich gegen die Erfassung einer großen Zahl von Feindstaatengehörigen im Custodial Detention Index, den Direktor Hoover daraufhin aber einfach in Security Index umbenannte. Auch darüber hinaus wuchs der Widerstand gegen die Praktiken des FBI, das bis 1943 24.662 Wohnungen von enemy aliens durchsucht hatte, z. T. ohne die erforderlichen Anordnungen. Zudem ließ die US-Regierung Inspektionen der Internierungslager zu. Überdies protestierten Organisationen wie das American Committee of the Foreign Born – ein Dachverband von 150 Gruppierungen – öffentlich gegen die Diskriminierung von Amerikanern, die im Ausland geboren waren. Die Hoffnung der US-Regierung auf Reziprozität im Umgang von Zivilinternierten und Kriegsgefangenen erfüllte sich jedoch nicht. Nachdem die US-Regierung Japan am 18. Dezember 1941 ihre Ab297 Edward N. Barnhart / Floyd W. Matson, Prejudice, War and the Constitution: Causes and Consequences of the Evacuation of the Japanese Americans in World War II, Berkeley 1970; Christgau, „Enemies“, S. 170–181; Pistol, Internment, S. 30, 55; Pitzer, Night, S. 245; Krammer, Process, S. 55–57; ders., Feinde, S. 598 f.; Burton / Farrell, „Life in Manzanar Where There is a Spring Breeze“, S. 241 f., 254; Steyn, Guantanamo Bay, S. 2 f. Allgemein auch: Holmes, A Tolerant Country? S. 107. 298 NA, HO 215/462 (Vermerk vom 27. August 1943; Brief vom 25. September 1943).

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sicht erklärt hatten, die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 auch auf Zivilisten anzuwenden, stimmte der japanische Außenminister Shigenori Togo (1882–1950) am 29. Januar 1942 zwar grundsätzlich zu, kündigte aber bereits Abweichungen an. Tatsächlich wurden Feindstaatenangehörige von japanischen Soldaten, die Gefangene grundsätzlich verachteten, oft misshandelt, gefoltert oder sogar ermordet.299

Austausch, Rückkehr und Rehabilitierung von Internierten Nur wenige Zivilinternierte wurden zwischen den Vereinigten Staaten und ihren Kriegsgegnern ausgetauscht. Nachdem am 1. Juni 1942 ein geringfügiger Transfer mit Japan gelungen war, wurden im September 1943 300 Japaner auf dem schwedischen Schiff Gripsholm auf dem Pazifik gegen US-Bürger ausgetauscht, die mit einem japanischen Dampfer dorthin gebracht worden waren. Bis April 1942 schickte die US-Regierung zudem deutsche Diplomaten, die in dem nordamerikanischen Land oder den z. T. abhängigen mittel- und südamerikanischen Ländern aufgegriffen worden war, in das „Dritte Reich“ zurück. Im Gegenzug wurden am 22. Mai 1942 von der NS-Führung 150 amerikanische Diplomaten und Journalisten (darunter auch Louis P. Lochner) freigelassen, die nach der Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten in einem Hotel in Bad Nauheim interniert worden waren. Hier avancierte neben dem ehemaligen Geschäftsträger der USA in Berlin, Leland Burnette Morris (1886–1950), der junge Diplomat George F. Kennan (1904–2005) zu einem einflussreichen Vertreter der Internierten, die relativ gut behandelt und von der Schweiz als Schutzmacht vertreten wurden. Die Kooperation mit den deutschen Behörden konfrontierte Morris und Kennan mit einem Dilemma, das sie aber bewältigten. Dagegen verließ ein internierter Journalist, Robert Best (1896–1952), das Hotel in Bad Nauheim, um eine Arbeit als Radiopropagandist für die Nationalsozialisten im Goebbels-Ministerium aufzunehmen.300 Ende 1944 bahnte sich schließlich ein weiterer Austausch an, als die Nationalsozialisten die Freilassung von 750 Deutschen verlangten und die US-Regierung forderte, 850 ihrer Staatsbürger, die im „Dritten Reich“ festgehalten wurden, in ihr Heimatland zurückzubringen. Die Deutschen transportierte die Gripsholm Anfang 1945 in das zusammenbrechende „Dritte Reich“. Insgesamt 299 Krammer, Die internierten Deutschen, S. 64 f., 68, 70 f., 89, 97 (Angabe); Kashima, Judgment, S. 193 f. 300 Charles Burdick, American Island in Hitler’s Reich, The Bad Nauheim Internment, Menlo Park 1987, bes. S. 35, 39 f, 42, 49, 87, 89.

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konnten bis zum Kriegsende 4.450 Deutsche mit ihren Familien die Vereinigten Staaten verlassen. Anschließend wurden viele der ehemaligen enemy aliens nach der Proklamation 2655, die der neue Präsident Harry S. Truman am 14. Juli 1945 erließ, zwangsrepatriiert.301 Schon Anfang 1945 konnten aber Amerikaner japanischer Herkunft an die Westküste zurückkehren. Trumans Nachfolger Dwight D. Eisenhower und das Justizministerium gestanden in den späten 1950er Jahren ein, dass die Masseninternierung der Japaner militärisch keineswegs notwendig gewesen war. In den 1960er Jahren nahm schließlich auch in der Bevölkerung das Interesse an der Internierung der Japaner und aus Japan stammenden Amerikaner zu, wie zahlreiche Bücher und mehrere TV-Dokumentationen zeigten. Dennoch bezeichnete Präsident Gerald Ford (1913–2006) die Internierung erst 1976 offen als Fehler, und er nahm die Executive Order 9066 offiziell zurück. Die 1980 vom Kongress eingesetzte Commission on Wartime Relocation and Internment of Civilians stellte drei Jahre später in ihrem Abschlussbericht fest: „The promulgation of Executive Order 9066 was not justified by military necessity, and the decisions which followed from it […] were not driven by analysis of military conditions. The broad historical causes which shaped these decisions were race prejudice, war hysteria and a failure of political leadership.“302 Damit verurteilte die Kommission eindeutig die Instrumentalisierung der Sicherheit des Staates auf Kosten humanitärer Kriterien und der Rechte der betroffenen Nisei und Issei. Auch in der Geschichtsschreibung wurden die Interpretationen der Masseninternierung kritischer. Bis in die 1980er Jahre war der Prozess oft verharmlost oder sogar als Befreiung der Betroffenen von den traditionalen Bindungen in den japanischen Familien gedeutet worden. Historiker wie Roger Daniels, der an der University of California lehrte und die Internierungsstätten schon in den 1960er und 1970er Jahren als „concentration camps“ bezeichnete, blieben lange isoliert. Demgegenüber sind anschließend die verfehlte Rechtsprechung (auch des Supreme Court) und der Rassismus, der maßgeblich zur Internierung der Japaner beitrug, in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Diskussion gerückt.303

301 Christgau, „Enemies“, S. 169; Krammer, Die internierten Deutschen, S. 50 f.; ders., Civilian Internees, S. 55. Angabe nach: Krammer, Process. S. 146. 302 Report of the Commission on Wartime Relocation and Internment of Civilians, Personal Justice Denied, Washington 1982, S. 18. Zitat: Patricia Peppin, Emergency Legislation and Rights in Canada: The War Measures Act and Civil Liberties, in: Queen’s Law Journal 18 (1993), Nr. 1, S. 129–190, hier: 165. 303 Zitat: Roger Daniels: From Relocation to Redress: Japanese Americans and Canadians, 1941–1988, in: Panayi (Hg.), Minorities, S. 216–238, hier: S. 234. Vgl. auch: Robinson, Tragedy,

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1988 und 1992 entschuldigten sich die Präsidenten Ronald Reagan (1911– 2004) und George H. W. Bush (1924–2018) schließlich öffentlich für die unterschiedslose Deportation in die Lager, wo die Betroffenen ohne Anklage und Verfahren festgehalten worden waren. Sie gestanden damit Menschenrechtsverletzungen ein, für die überlebende Opfer Entschädigungszahlungen erhielten. Nachdem 1988 eine Wiedergutmachung in Höhe von 1,2 Milliarden Dollar bereitgestellt worden war, wurde dieser Betrag vier Jahre später um weitere 320 Millionen Dollar aufgestockt. Jeder der 62.000 Überlebenden erhielt rund 20.000 Dollar. Jedoch blieben Nisei und Issei, die im Zweiten Weltkrieg aus lateinamerikanischen Staaten in die USA gebracht worden waren, unberücksichtigt, da sie nicht nach der Executive Order 9066 ausgewiesen und interniert worden waren. Sie hatte die Regierung u. a. im Lager Missoula festgehalten, um sie mit amerikanischen Gefangenen in Japan auszutauschen. Auch haben die Regierungen Perus und Mexikos eine Entschuldigung für die Festnahme und Auslieferung der japanischen und aus Japan stammenden enemy aliens bislang beharrlich abgelehnt. Darüber hinaus wies der U. S. Court of Appeals 1992 eine Klage eines deutschen Opfers auf Entschädigung ab. Die Rehabilitierung der internierten Nisei und Issei ist aber als Erfolgsgeschichte verbucht worden und damit als affirmative Erzählung in die amerikanische Nationalgeschichtsschreibung eingegangen.304 Inzwischen ist die lange vorherrschende Rechtsauffassung, dass ein Ausnahmezustand außerordentliche Befugnisse für den Präsidenten rechtfertige, deutlich in Frage gestellt worden. Dabei haben Kritiker vor allem auf die Gefahr verwiesen, dass die ohnehin erhebliche präsidiale Macht bei Bedrohungen der „nationalen Sicherheit“ für eine bedrohliche Einschränkung grundlegender Menschenrechte missbraucht werden kann. Überdies wird das Freund-FeindDenken, das den Einschränkungen grundlegender Freiheitsrechte im Zweiten Weltkrieg zu Grunde lag und im Kalten Krieg erneut auflebte, zunehmend abgelehnt. Der 1950 erlassene Internal Security Act (McCarran Act), der den Präsidenten und den Justizminister ermächtigte, als gefährlich eingestufte Personen zu verhaften, und die radikale Agitation des Senators Joseph McCarthy (1908– 1957) gegen tatsächliche und vermeintliche Kommunisten und Verräter in den 1950er Jahren knüpften an den Red Scare an, der unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg virulent geworden war. Ausgehend von der Diskussion über den Verrat von Wissen zur Produktion der Atombombe durch das Ehepaar Ethel und S. 289–301, 303; Christgau, „Enemies“, S. 166. Knapper Überblick über die historische Forschung bis zu den 1990er Jahren: Conroy / Conroy Usioda, Review, bes. S. 48–50. 304 Angaben nach: Krammer, Feinde, S. 602; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 440. Vgl. auch Robinson, Tragedy, S. 289–301, 303; Van Valkenburg, ‚Detainees‘, S. 37, 39.

6.7 Lateinamerika 

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Julius Rosenberg (1915–1953 bzw. 1918–1953), die 1950/51 nach dem Espionage Act von 1917 angeklagt und zum Tode verurteilt wurden, griffen nationalistische US-Amerikaner darüber hinaus vor allem die Vorstellung auf, dass Kommunisten als „innere Feinde“ verdeckt arbeiteten und dabei die „nationale Sicherheit“ der Vereinigten Staaten bedrohten. Dabei wurden auch Geschlechterrollen und andere gesellschaftliche Normen verhandelt. Letztlich demonstrierte die Kontroverse nicht nur das destruktive Potential, das Roosevelts binäres Weltbild sogar mittelfristig in der US-amerikanischen Demokratie entfaltet hatte, sondern auch die langfristige Wirkung der Feindbilder seit dem frühen 20. Jahrhundert.305

6.7 Lateinamerika Überblick Ebenso wie in den Jahren von 1914 bis 1918 geriet Lateinamerika auch in den Sog des Zweiten Weltkrieges. Schon in den 1930er Jahren hatte sich das US-Außenministerium über den Einfluss des faschistischen Italiens und des „Dritten Reiches“ in Lateinamerika zusehends besorgt gezeigt. Nach dem Staatsstreich des seit 1930 amtierenden Präsidenten Getulio Vargas (1882–1954) im November 1937 beobachtete das State Department die politische Entwicklung in Brasilien, wo 1938 rund 100.000 Einwanderer mit deutscher Staatsbürgerschaft lebten, besonders aufmerksam. Der Putsch wurde in amerikanischen Zeitungen als Beginn eines Faschismus in Südamerika gewertet. Dieses Urteil teilte die US-Regierung aber nicht, die sich im Mai 1938 gegen einen Aufstand der brasilianischen Integralisten – der 1932 von Plínio Salgado (1895–1975) gegründeten Ação Integralista Brasileira – stellte und damit das Vargas-Regime unterstützte. Nachdem der Diktator die Erhebung niedergeschlagen und den USA seinen „Neuen Staat“ (Estado Novo) als antibolschewistisches Bollwerk empfohlen hatte, war das amerikanische Außenministerium vorübergehend beruhigt. Dazu trug auch die pragmatische Einwanderungspolitik bei. So waren jüdische

305 Preston, Monsters, S. 499; Robinson, Tragedy, S. 290; Nagler, Antikommunismus, S. 215; Stieglitz, Bilder, S. 318–320, 323–326. Zitat: Roger Daniels: From Relocation to Redress: Japanese Americans and Canadians, 1941–1988, in: Panayi (Hg.), Minorities, S. 216–238, hier: S. 234. Angabe nach: Krammer, Feinde, S. 602. Umfassend: Greg Robinson, By Order of the President: FDR and the Internment of Japanese Americans, Harvard/Mass. 2003.

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Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ offiziell zwar unerwünscht; jedoch nahm Brasilien viele von ihnen (wie den Schriftsteller Stefan Zweig) auf.306 Erst die wachsende Kriegsgefahr und das Münchener Abkommen vom 30. September 1938 verliehen Sicherheitsängsten in den Vereinigten Staaten kräftig Auftrieb. Vor allem die 1,5 Millionen Deutschen (davon aber nur 270.000 in Deutschland Geborene) in Lateinamerika galten als „fünfte Kolonne“ der nationalsozialistischen Machthaber. Als Instrumente der angenommenen gezielten Unterwanderung identifizierte das State Department nicht nur die Auslandsorganisation der NSDAP, die im Juni 1937 in Lateinamerika über 7.602 Mitglieder verfügte, sondern auch scheinbar unpolitische Institutionen wie das DAI und das Ibero-Amerikanische Institut, das seit der NS-„Machtergreifung“ von General Wilhelm Faupel (1873–1945) geleitet wurde. Auch der „Volksbund für das Deutschtum im Ausland“, der 1933 aus dem VDA hervorgegangen war, und der GAV, der sich 1930 zu einem militanten „Deutschtum“ und vier Jahre später zum Nationalsozialismus bekannt hatte, wurden verdächtigt, die Deutschen als „trojanische Pferde“ für eine nationalsozialistische Erhebung zu organisieren. Besorgt über die zunehmende Propaganda des NS-Regimes in Lateinamerika, etablierte das US-Außenministerium 1938 eine Division of Cultural Relations. In der Wahrnehmung der amerikanischen Eliten, aber auch britischer Politiker waren nahezu alle Deutschen in Brasilien eine Sicherheitsgefahr. Damit blendeten sie die weiterhin bestehenden Unterschiede zwischen den alteingesessenen Vertretern des „Deutschtums“, den Deutschbrasilianern, den seit 1918 eingewanderten Neudeutschen („Deutschländern“) und überzeugten Nationalsozialisten aus. Bei Letzteren handelte es sich vor allem um Mitglieder von Ortsgruppen der NSDAP-Auslandsorganisation und lokaler „völkischer Kameradschaften“. Besonders in südbrasilianischen Staaten wie Rio Grande do Sul propagierten NS-Aktivisten ein rassistisches Verständnis der „Volksgemeinschaft“, von dem sich andere Deutsche distanzierten.307 Im Zweiten Weltkrieg bemühten sich viele Regierungen der mittel- und südamerikanischen Staaten zwar erneut um Neutralität. Sie mussten aber auf die Versenkung von Schiffen durch deutsche U-Boote und den wachsenden Druck der USA reagieren. So erklärte Brasilien am 31. August 1942 den „Achsenmächten“ den Krieg. Daraufhin nahmen besonders in den Polizeiapparaten der Län306 Angabe nach: Uwe Lübken, Bedrohliche Nähe. Die USA und die nationalsozialistische Herausforderung in Lateinamerika, 1937–1945, Stuttgart 2004, S. 207. Vgl. auch Rinke / Schulze, Geschichte, S. 145. 307 Frank A. Ninkovich, The Diplomacy of Ideas: U. S. Foreign Policy and Cultural Relations, 1938–1950, Cambridge 1981, S. 26–34; Schulze, Von verbrasilianerten Deutschen, S. 204–206, 209–213. Zur Transformation des GAV von 1930 bis 1934: Cramer, Philanthropy, S. 62–70. Angaben nach: Lübken, Nähe, S. 207, 220.

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der Südamerikas die Sicherheitsängste zu. So ließ Vargas die deutschen Turn-, Gesangs- und Schützenvereine überwachen. Als ebenso gefährlich wurden in Brasilien Pfarrer der Deutsch-Evangelischen Kirche eingeschätzt. Der Polizeipräsident des Bundesstaates Rio Grande do Sul, Aurélio da Silva Py, meinte 1942 in seiner Propagandaschrift sogar eine „nazistische Verschwörung“ und eine „unheilvolle und gefährliche Betätigung der Fünften Kolonne in Brasilien“ festgestellt zu haben. Daneben galt das faschistische Italien wegen der hohen Zahl der Einwanderer von der Apenninhalbinsel zumindest bis 1942 als Bedrohung der USA in Lateinamerika. Jedoch trat sie in den Sicherheitsanalysen deutlich hinter der „deutschen Gefahr“ zurück.308 Auch Francisco Franco wurde nach seinem Sieg im Spanischen Bürgerkrieg als Förderer der deutschen Politik in den südamerikanischen Ländern betrachtet, zumal die Regierung Spaniens nach der Kriegserklärung des „Dritten Reiches“ an die Vereinigten Staaten (11. Dezember 1941) mit Ausnahme Argentiniens die diplomatische Vertretung der Deutschen als Schutzmacht übernahm. Außerdem schien sie mit der spanischen Kulturgemeinschaft (Hispanidad) über ein wirksames Instrument zu verfügen. Demgegenüber schätzten das US-Außenministerium und Roosevelt den Einfluss der kroatischen Ustascha, deren Einfluss ebenfalls beobachtet wurde, als gering ein. Die amerikanische Regierung hielt auch die Gefahr, die in Süd- und Mittelamerika von Japan ausging, für begrenzt, da die Zahl der Japaner hier nur in Peru bedeutend war. Insgesamt überschätzten die US-Behörden besonders die Homogenität und den Organisationsgrad der deutschen Siedlergemeinschaften, auch wenn diese in vielen lateinamerikanischen Staaten tatsächlich relativ geschlossen und regional konzentriert waren. Roosevelt antwortete auf die Bedrohungswahrnehmung, in dem er die Bindung der lateinamerikanischen Regierungen an die USA stärkte. Die Good-Neighbor Policy und das Verteidigungsprogramm der Hemisphere Defense sollten Süd- und Mittelamerika gegenüber der Expansionspolitik der „Achsenmächte“ abschirmen.309 Angesichts der vermeintlich akuten Sicherheitsgefahren, die z. T. tatsächlich vorhanden waren, wurden auf Druck der amerikanischen Regierung in Lateinamerika Staatsangehörige der „Achsenmächte“ verhaftet und interniert. Darüber hinaus suchte die US-Regierung diese Zivilisten in den Ländern, die weitgehend von den Vereinigten Staaten abhängig waren, in die Hand zu be-

308 Aurélio da Silva Py, A 5ª Coluna no Brasil. A Conspiração Nazi no Rio Grande do Sul, Porto Alegre 21942, zit. nach: Stefan Rinke / Georg Fischer / Frederik Schulze (Hg.), Geschichte Lateinamerikas vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Quellenband, Stuttgart 2009, S. 203. Vgl. auch Rinke / Schulze, Geschichte, S. 146. 309 Lübken, Nähe, S. 197–199, 212, 218, 222, 229, 235, 398.

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kommen. Dabei wurden besonders die deutschen Minderheiten Spielball unterschiedlicher Interessen. Die Diktatoren, die in Süd- und Mittelamerika in den frühen vierziger Jahren regierten, lieferten die Deutschen aus, um einen ökonomischen Zusammenbruch zu verhindern, der mit der Weigerung der USA drohte, den Import von Rohstoffen aus diesen Ländern einzustellen. Zudem lockten amerikanische Hilfsprogramme für diese Staaten und die politische Protektion ihrer Eliten durch die nördliche Vormacht. Nicht zuletzt nutzten die Alleinherrscher, aber auch große Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika die Deportation der Deutschen aus, um sich an ihrem Eigentum zu bereichern. So wurde 1943/ 44, als kein Angriff durch das „Dritte Reich“ mehr drohte, das Sicherheitsprogramm für die Enteignung der Deutschen missbraucht, die vor dem Zweiten Weltkrieg in vielen süd- und mittelamerikanischen Ländern in der Wirtschaft als Unternehmer und leitende Angestellte Schlüsselstellungen besetzt hatten.310 In den Vereinigten Staaten initiierten vor allem das Außen- und Kriegsministerium die Deportation aus Lateinamerika als Sicherheitsmaßnahme. Als das State Department am 20. Januar 1942 ein Rundtelegramm an die US-Vertretungen in acht lateinamerikanische Staaten übermittelte, war der Angriff Japans in Ostasien bedrohlich, und der Vorstoß der deutschen Armeen auf Moskau zwar aufgehalten, der Feldzug gegen die Sowjetunion aber noch keineswegs gescheitert. Zugleich wurden schon im Dezember 1941 Überlegungen formuliert, die über sicherheitspolitische Ziele hinausgingen. So betrachtete John Moors Cabot (1901–1981), der im Außenministerium für Mittelamerika zuständig war, die geplante Verschleppung der Deutschen in die USA auch als Chance, Geiseln in die Hand zu bekommen. Damit konnte die Roosevelt-Administration bei Misshandlungen von US-Gefangenen im „Dritten Reich“ Repressalien androhen. Nicht zuletzt vermochten die Vereinigten Staaten mit der Ausschaltung der Deutschen aus dem Wirtschaftsleben ihren ökonomischen Einfluss in den lateinamerikanischen Staaten erheblich steigern.311 Die erzwungene Deportation von Feindstaatenangehörigen war aber ein besonders gravierender Verstoß gegen das geltende Völkerrecht. Es erlaubte allenfalls die Internierung von Personen, die sich auf dem Territorium des jeweiligen Staates aufhielten. Im Gegensatz zu dieser Bestimmung wurden Feindstaatenangehörige, die der Spionage verdächtigt wurden und in anderen alliierten Staaten (wie Großbritannien und Australien) oder sogar offiziell neutralen Ländern lebten, in die USA verbracht. Anders als die Deutschen, die in den Vereinigten Staaten lebten, internierten sie die Behörden hier im Allgemeinen sum-

310 Friedman, Nazis, S. 104, 106, 108. 311 Hierzu und zum Folgenden: ebd., S. 106–109, 113.

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marisch. Der INS legalisierte nachträglich den Transport von 600 Deutschen und 2.118 Japanern nach Nordamerika. Dies gilt auch für mehr als 4.000 Deutsche, die auf Druck der amerikanischen Regierung in lateinamerikanischen Staaten verhaftet, gleichfalls in die USA deportiert und dort interniert wurden. Da sie über keine Visa verfügten (und diese auch nicht hatten beantragen können), stufte die INS die Deportierten kurzerhand als „illegale Einwanderer“ ein. Viele von ihnen wurden in ein Lager in Kenedy (Texas) einwiesen. Die Internierung verstieß gegen die US-Verfassung, denn die Behörden setzten die Betroffenen lediglich fest, um ihre Loyalität zu prüfen. Die Zwangsmaßnahme war überdies ineffektiv, wie Überprüfungen zeigten. So befanden sich unter den 144 Deutschen, die 1942 aus Honduras in die USA gebracht worden, lediglich 26 Angehörige der NSDAP. Dieselbe Anzahl von Nationalsozialisten war jedoch in dem mittelamerikanischen Staat verblieben, wo sie ohne Einschränkungen leben konnten. Auch in Guatemala hatten sich nur 120 der insgesamt 558 deportieren Deutschen der NSDAP angeschlossen. Die andere Hälfte der „Parteigenossen“ beließen die Sicherheitskräfte im Land. Unter den 247 Deutschen, die von 1941 bis 1945 aus Panama in die Vereinigten Staaten verschifft wurden, waren 21 NSDAP-Mitglieder, während 37 Nationalsozialisten unbehelligt geblieben waren. Demgegenüber hatte die Deportation auch 30 jüdische Flüchtlinge erfasst. Von ihnen waren vor ihrer Flucht nach Mittelamerika fünf in nationalsozialistische Konzentrationslager eingeliefert worden.312

Die Deportation aus einzelnen Staaten Unter dem Deckmantel der „Sicherheit“ hatten Behörden in Süd- und Mittelamerika offenkundig in Kooperation mit US-Diplomaten Deutsche und Japaner deportiert, um ökonomische Konkurrenz zu beseitigen und die Kooperation mit diktatorischen Regimes zu stärken. Panamas Regierung hatte schon im Oktober 1941 dem Vorschlag der USA zugestimmt, Lager zu errichten, um in ihnen im Kriegsfall Japaner zu internieren, die in dem Land lebten. Auch in Costa Rica und Nicaragua begannen die Behörden bereits im Dezember, Japaner zu verhaften und zu internieren. Gegen diese Gruppe ging ebenso Mexikos Regierung Ende 1941 vor, wenngleich zunächst unabhängig von den USA. Anfang 1942 wurden Japaner in der Hauptstadt ohne Begründung verhaftet und in ein Inter312 Angaben nach: Nagler, Internment, S. 103 f., 110; Friedman, Nazis, S. 103 f., 110, 119. Vgl. auch Robinson, Tragedy, S. 66 f., 146–148; Culley, Enemy Alien Control, S. 145, 150; Krammer, Civilian Internees, S. 55.

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nierungslager in Perote (im Staat Veracruz) eingeliefert. Dieser Prozess erfasste in Mexiko schließlich achtzig Prozent der Japaner. Auch in Peru wurden zahlreiche japanische enemy aliens interniert. Uruguays Präsident Jorge Ubico Castañeda (1878–1946), der in den 1930er Jahren enge Beziehungen zum faschistischen Regime Mussolinis unterhalten und Francos Militärdiktatur in Spanien anerkannt hatte, trat noch in demselben Monat gleichfalls an die amerikanische Vertretung mit der Bitte heran, ihn bei der Vertreibung von Nationalsozialisten im wehrdienstfähigen Alter zu unterstützen. Insgesamt wurden in elf lateinamerikanischen Staaten enemy aliens verhaftet, die der US-Regierung als Geiseln zum Austausch dienen sollten. So gab Japan im August 1942 437 gefangene Amerikaner frei. Im Gegenzug erhielt das Land von den Vereinigten Staaten dieselbe Anzahl Japaner, die in Süd- und Mittelamerika festgesetzt worden waren.313 Auf stärkeren Widerstand traf die US-Deportationspolitik in Ecuador, Bolivien, Kolumbien und Peru. Die Regierung Brasiliens weigerte sich vor allem, Japaner an die Vereinigten Staaten auszuliefern. Der bolivianische Präsident Eduardo Santos (1888–1974) verwies gegenüber dem amerikanischen Botschafter Spruille Braden (1894–1978) auf die Verfassung seines Landes, die eine Internierung eigener Staatsangehöriger in anderen Ländern ausschloss. Allerdings stimmte ihn das Versprechen der Roosevelt-Administration, Bolivien Militärhilfe zu gewähren, schließlich um. Auch Ecuadors Präsident Carlos Alberto Arroyo del Río (1893–1969) stritt sich Anfang 1942 mit dem amerikanischen Botschafter Boaz Long (1876–1962) und einem FBI-Agenten über die Ausweisung der Deutschen, die er für überwiegend ungefährlich hielt. Arroyo del Río bestand auf einem multilateralen Programm und stimmte der Deportation erst zu, als auch die Regierungen Kolumbiens, Perus und Boliviens die Ausweisung vorbereiteten. Alle vier Länder rangen der US-Regierung die Versicherung ab, die verschleppten Deutschen in ihr Heimatland zu bringen und nicht in die Vereinigten Staaten zu deportieren. Die Roosevelt-Administration hielt diese Zusage aber nicht ein.314 Die Deportationspolitik galt offiziell als multilaterales Programm, nachdem die Regierungen der amerikanischen Staaten auf ihrer Konferenz in Rio de Janeiro im Januar 1942 das Emergency Advisory Committee for Political Defense (CPD) gegründet hatten. Es sollte die Kooperation aller Regierungen Amerikas gegenüber der Bedrohung durch die „Achsenmächte“ stärken. Allerdings war die Vormacht der USA in dem Gremium eindeutig, wie das Drängen des US-Delegierten Carl B. Spaeth zeigte, der gegenüber den anderen Staaten unnachgie313 Angaben nach: Robinson, Tragedy, S. 147; Scherini, Italian Americans, S. 286. 314 Robinson, Tragedy, S. 113–115, 145 f.

6.7 Lateinamerika 

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big die Ziele seiner Regierung vertrat. So sah die Resolution XX des CPD die Internierung von Deutschen, Japanern und Italienern auch in Nachbarstaaten vor, wenn in ihren mittel- und südamerikanischen Heimatländern dafür die Kapazitäten nicht ausreichten. Dazu finanzierte die US-Regierung den Bau von Internierungslagern für enemy aliens in Panama und auf Kuba. Zugleich konnten sie aber auch die Auslieferung von Feindstaatenangehörigen in die USA verlangen, wo sie rechtlich der illegalen Einreise bezichtigt und unter diesem Vorwand unbegrenzt festgehalten werden konnten.315 Auch die Zusammenarbeit mit Diktatoren wie Anastasio Somoza (1925–1980, Nicaragua) und Rafael Trujillo (1891–1961, Dominikanische Republik) beeinträchtigte im Zweiten Weltkrieg die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten als westlich-demokratische Führungsmacht. Zudem beschädige sie Roosevelts Good-Neighbor-Politik gegenüber den lateinamerikanischen Staaten. So erkannte die US-Administration die neue Regierung Boliviens nicht an, nachdem die Movimiento Nacionalista Revolucionario am 20. Dezember 1943 Präsident Enrique Peñaranda (1892–1969) gestützt hatte. Damit sollte Druck auf die neue Regierung ausgeübt werden, obwohl sich diese für den Krieg der alliierten Staaten gegen die „Achsenmächte“ ausgesprochen hatte. Tatsächlich erreichte der Botschafter der USA in Panama, den Außenminister Cordell Hull (1871–1955) in die bolivianische Hauptstadt La Paz geschickt hatte, noch im Mai 1944, dass 52 Deutsche und 29 Japaner in die Kanalzone ausgeflogen wurden. Damit konnte die RooseveltAdministration das neue Regime ohne Gesichtsverlust anerkennen. Der Hinweis auf die „Sicherheit“ Boliviens war vollends zu einem Vorwand geworden, der andere innen- und außenpolitische Ziele der USA und der am Deportationsprogramm beteiligten mittel- und südamerikanischen Länder verdeckte. So diente die Deportation von japanischen Zivilisten u. a. dem Ziel der amerikanischen Regierung, kriegsgefangene US-Soldaten von Japan freizupressen. Dazu wurden vor allem japanische Zivilisten aus Peru, wo Neid, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Mai 1940 in Lima gewalttätige Proteste gegen die als „gefährlich“ stigmatisierte Minderheit ausgelöst hatten, in die Vereinigten Staaten deportiert.316

Bilanz Insgesamt wurden rund 3.000 zivile Feindstaatenangehörige aus mittel- und südamerikanischen Ländern in die USA gebracht. Sie galten nicht nur als Sicherheitsrisiko, sondern wurden auch für den Austausch mit US-Bürgern bereitge315 Ebd., S. 120–122, 148–150. 316 Rinke / Schulze, Geschichte, S. 148 f.; Robinson, Tragedy, S. 124–134, 150 f.

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stellt, die im „Dritten Reich“ oder in Japan festgehalten wurden. Damit waren sie faktisch Geiseln geworden. Auch sollte der wirtschaftliche Einfluss der enemy aliens in Lateinamerika gebrochen werden. Zwei Drittel der Deportierten waren Japaner oder aus Japan stammenden US-Bürger, die vor allem aus Peru in die Vereinigten Staaten gebracht wurden. Damit gewannen in den südamerikanischen Ländern die Anhänger einer „Aufweißung“ der südamerikanischen Gesellschaften die Oberhand gegenüber Intellektuellen wie dem brasilianischen Soziologen Gilberto Freyre (1900–1987), die für ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft in einer „Rassendemokratie“ eintraten.317

6.8 Japan und Ostasien Überblick und Kontext 1940 – 1942 Die brutale Behandlung gefangener Soldaten und Zivilisten im von Japan besetzten Südostasien im Zweiten Weltkrieg unterschied sich deutlich vom humanen Umgang des Landes mit Feindstaatenangehörigen in den Jahren von 1914 bis 1918. Bis in die 1920er Jahre setzte die Regierung diese humanitäre Tradition fort, um damit internationale Anerkennung zu finden und die Gleichberechtigung zu erreichen, die dem Land in den Friedensverhandlungen in Versailles 1919 versagt geblieben war. Erst unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise vollzog sich eine Abwendung von der liberalen Staatenordnung und einer multilateralen Politik. Dieser Prozess ging mit einer innenpolitischen Neuorientierung einher, mit der radikale Nationalisten und das Militär die Macht errangen. In der japanischen Gesellschaft wurden nunmehr kriegerische Werte propagiert, und Schulen vermittelten Opferbereitschaft. Damit ging die Verabsolutierung einer Sicherheitspolitik einher, die den Bruch des Kriegsvölkerrechts zumindest in Kauf nahm.318 Die Massaker, die japanische Truppen an unbewaffneten chinesischen Zivilisten begingen, waren auf die Indoktrination von Soldaten und mittlerer Offiziersränge, die in der Regel die Kommandogewalt ausübten, mit dem Kampfeskodex des Bushidō („Weg des Kriegers“) zurückzuführen. Er schloss Kapitulation aus, so dass eigene und fremde Kriegsgefangene geächtet waren. Aber auch das imperialistische Sendungsbewusstsein und die Staatsideologie Japans führten zu Kriegsverbrechen an Gefangenen. Zudem hatten Demütigungen und har317 Pistol, Internment, S. 54. 318 Philip Towle, Japanese Culture and the Treatment of Prisoners of War in the Asian-Pacific War, in: Scheipers (Hg.), Prisoners, S. 141–153, hier: S. 142–145.

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te Bestrafungen der japanischen Rekruten während der Ausbildung in der autoritär geführten Armee bei den Soldaten einen Aggressionsstau verursacht, der sich oft in einem gnadenlosen Vorgehen gegen Zivilisten entlud. Eine Gruppenkontrolle entfiel deshalb, und auch die Militärführung im weit entfernten Tokio war unfähig, die befehlsgebenden Offiziere in China zu zähmen und die eskalierende Gewalt einzudämmen. Zudem hatte die japanische Regierung die Genfer Konvention nicht unterzeichnet, so dass sie sich nicht an völkerrechtliche Bestimmungen zum Umgang mit Gefangenen gebunden fühlte. Insgesamt prägte daneben der spezifische historische Kontext die Behandlung wehrloser Angehöriger der gegnerischen Staaten.319 Nach dem Abschluss des Dreimächtepaktes am 27. September 1940 war Japan mit dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien verbündet. Aber schon im Juli 1940 waren in dem ostasiatischen Kaiserreich Briten verhaftet worden, so dass im Vereinigten Königreich Repressalien gefordert wurden.320 Die japanische Expansion, die mit dem Angriff auf den amerikanischen Marinestützpunkt Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 begann, richtete sich vorrangig gegen die USA, aber auch gegen Großbritannien, Frankreich und die Niederlande, die in Ostasien noch über bedeutende Kolonien verfügten. Der Einfluss der alliierten Mächte in Ost- und Südostasien sollte endgültig beseitigt werden, wie eine gemeinsame Erklärung der japanischen Armee und Marine zur Besatzungspolitik in Ostasien am 12. Februar 1942 unterstrich. Dazu nutzte die Führung des kaiserlichen Japans Ressentiments gegen den westlichen Imperialismus aus, um Anhänger für ihr weitgespanntes Konzept der „Großasiatischen Wohlstandssphäre“ zu gewinnen. Außer dem schnellen Vordringen der japanischen Truppen auf den Philippinen, in Britisch-Malaya, in Burma, Niederländisch-Ostindien, auf Neuguinea und auf den Salomonen verhinderten westliche Überlegenheitsvorstellungen und das Konzept des White Australia eine rechtzeitige Evakuierung. Eine militärische Niederlage, die sich mit der Eroberung Hongkongs am 25. Dezember 1941, der Kapitulation von 130.000 Soldaten in Singapur am 15. Februar und der Einnahme Rabauls im Januar und Februar 1942 abzeichnete, erschien den Westmächten unvorstellbar. Der Schutz von Zivilisten war deshalb kaum vorbereitet worden, obgleich Japan das Genfer Abkommen von 1929 nicht unterzeichnet und zudem schon zuvor im Kampf gegen China massiv gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen hatte. Die Zahl der Personen, die außerhalb militärischer Operationen Massakern japanischer Truppen zum Opfer fielen, ist mit drei bis zehn Millionen veran319 Frank Jacob, Japanese War Crimes during World War II, Santa Barbara 2018, S. 123, 129– 131, 145 f.; Martin, Kriegsverbrechen, S. 138–142. 320 Addison / Crang (Hg.), Listening to Britain, S. 286, 296 f.

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schlagt worden. Besonders brutal behandelten die japanischen Besatzungstruppen die Chinesen. Allein aus Hongkong wurden etwa eine Million Einwohner in die Provinz Guangdong verschleppt.321

„Säuberungen“ und Massaker japanischer Truppen in Singapur und Malaya Während die von den Alliierten unmittelbar nach dem Angriff auf Pearl Harbor festgehaltenen Japaner von den siegreichen Soldaten des Kaisers auf ihrem Vormarsch befreit wurden, ermordeten Truppeneinheiten und die Militärpolizei (Kempetai) wiederholt spontan wehrlose Angehörige der gegnerischen Mächte, so am 14. Februar 1942 im Alexandra-Militärhospital in Singapur. Davon unterschieden sich gezielt geplante „Säuberungen“, aus denen das Sook-Ching-Massaker vom 18. Februar bis 4. März 1942 herausragte. Es richtete sich zunächst gegen die Überseechinesen Singapurs, die als hartnäckige Träger des Widerstandes gegen die japanischen Besatzer galten. Schon vor der Kapitulation der britischen Truppen in Singapur war auf einer Verbindungskonferenz des kaiserlichen Hauptquartiers am 14. Februar 1942 nicht nur entschieden worden, die Überseechinesen in den eroberten Gebieten zur Arbeit für Japans Kriegswirtschaft zu zwingen, sondern auch, Widerstand dieser Gruppe rücksichtslos zu brechen. Der Beschluss wurde offenbar unter dem Eindruck des vorangegangenen Guerillakrieges in Nordchina getroffen, der den Vormarsch der japanischen Einheiten 1940 erheblich verzögert und behindert hatte. Das Sook-Ching-Massaker war vor diesem Hintergrund nicht zuletzt auf Sicherheitsängste der Militärführung um die Armeebefehlshabe Yamashita Tomoyuki (1885–1946) und Kawamura Saburō (1896–1947) zurückzuführen, die Überseechinesen als „fünfte Kolonne“ der Briten und Spione brandmarkte. Der Verdacht richtete sich besonders gegen Mitglieder und Anhänger der nationalistischen Kuomintang und der kommunistischen Partei, Kämpfer der chinesischen Hilfsverbände für die britische Armee (darunter der Dalforce in Singapur) und alle, die China im Krieg gegen Japan unterstützt hatten. Dabei hatten die kaiserlichen Truppen Partisanen nach der radikalen Militärdoktrin des Genchi Shobun („Bestrafung an Ort und Stelle“) ohne Verfahren getötet. Zunächst ausgehend von dem Ziel, wehrfähige Chinesen auszuschalten, fielen dem Sook-Ching-Massaker im weiteren Verlauf schließlich auch viele Frauen und Kinder zum Opfer.322 321 John M. Carroll, A Concise History of Hong Kong, London 2007; Reichardt, National Socialist Assessments, S. 54. 322 Takuma Melber, Zwischen Kollaboration und Widerstand. Die japanische Besatzung in Malaya und Singapur (1942–1945), Frankfurt/M. 2017, S. 291 f., 299 f., 309, 318–320, 322–324,

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Insgesamt wurden in Singapur zwischen 5.000 und 10.000 Personen ermordet. Weitere „Säuberungen“ erfassten im März 1942 zunächst die Städte auf der malaiischen Halbinsel, bevor hier auf dem Lande Zivilisten oft exekutiert wurden, im Allgemeinen nach der schon zuvor in China angewandten Methode des Genjū Shobun. Dabei verzichteten die örtlichen Befehlshaber bewusst auf Gerichtsverfahren gegen Beschuldigte. Die japanische Militärführung rechtfertigte den Bruch der Haager Landkriegsordnung gegen Chinesen mit dem Argument, dass gegen deren Staat kein Krieg erklärt worden war. Die Genfer Konvention von 1929 hatte Japan zwar unterzeichnet. Da das Parlament aber die Ratifizierung verweigert hatte, lehnte das Militärregime eine Bindung an das Abkommen grundsätzlich ab. Nur informell versicherte das Militärregime den Westmächten Anfang 1942, Kriegsgefangene und Zivilinternierte nach den Regeln des Völkerrechts zu behandeln, allerdings nicht unverändert. Obwohl Premierminister Tōjō Hideki (1884–1948) sogar diese Zusage, auf die das japanische Außenministerium gedrängt hatte, ablehnte, wurde sie für die in Japan internierten Feindstaatenangehörigen (darunter siebzig Niederländern) eingehalten, denn sie galten nicht als „innere Feinde“. Mit der Eroberung weiter Gebiete in Ostasien waren den japanischen Truppen aber Zehntausende weitere Zivilisten in die Hand gefallen, die gegnerischen Staaten angehörten. Darunter befanden sich in Nanking 400, in Hongkong mehr als fünfzig, auf den Philippinen rund 150 und in Singapore achtzig Einwohner Niederländisch-Ostindiens. Siebzig verbrachten die Besatzer nach Japan, wo rund 350 zivile Feindstaatenangehörige sogar in Freiheit verblieben.323 Bereits nach dem Überfall auf die Mandschurei, den Japan mit der Sicherheit von Personen und Eigentum gerechtfertigt hatte, war im Dorf Beiyinhe (bei Harbin) 1932 ein Konzentrationslager eingerichtet worden, das für 1.000 Insassen ausgelegt, aber durchschnittlich mit 500 Gefangenen belegt war. Fünf Jahre später ließ die japanische Militärführung ein noch größeres Camp in der Gemeinde Ping Fan bauen, wo bis 1945 die „Einheit 731“ der japanischen Armee 335–337, 345–348, 362, 370 f.; ders., The Impact of the ‚China Experience‘ on Japanese Warfare in Malaya and Siungapore, in: Alonso / Kramer / Rodrido (Hg.), Fascist Warfare, S. 169–193, bes. S. 170, 178, 180 f., 185–187. Von 25.000 Opfern in Singapur wird ausgegangen in: Martin, Kriegsverbrechen, S. 145. 323 Frances B. Cogan, Captured. The Japanese Internment of American Civilians in the Philippines, 1941–1945, Athens 2000, S. 117; Alonso / Kramer / Rodrigo, Introduction, S. 3; Martin, Kriegsverbrechen, S. 151; Vaudine England, Zindel’s Rosary Hill – Hong Kong’s Forgotten War, in: Journal of the Royal Asiatic Society Hong Kong Branch 57 (2017), S. 36–66, hier: S. 39; Moorehead, Dream, S. 472. Angaben nach: Louis de Jong, The Collapse of a Colonial Society. The Dutch in Indonesia during the Second World War, Leiden 2002, S. 426 f.; Melber, Kollaboration, S. 333; Heidebrink, Prisoners of War, S. 177; Schreiber, Der Zweite Weltkrieg, S. 84 f.

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biologische und chemische Waffen an Menschen erprobte. Den Experimenten fielen zahlreiche Internierte zum Opfer. Nachdrücklich hatte auch das Massaker von Nanking, bei dem Ende 1937 und Anfang 1938 bis zu 60.000 Chinesen starben, die erschreckenden Auswirkungen der rassistischen Eroberungspolitik Japans auf die Zivilbevölkerung demonstriert. Proteste westlicher Staaten und der chinesischen nationalistischen Regierung, die bald selber Gegner der herrschen Kuomintang-Partei in Konzentrationslager verbrachte, waren ergebnislos geblieben. Vier Jahre späten fielen der japanischen Armee insgesamt 130.000 Zivilisten in die Hand, die den alliierten Staaten angehörten. Die Kapitulationen der westlichen Truppen und die anschließende Internierung erschütterten das koloniale Überlegenheitsbewusstsein der gefangenen Zivilisten, die der neuen Besatzungsmacht hilflos ausgeliefert waren.324 Angestachelt von den schnellen Siegen, gingen die japanischen Truppen im Zweiten Weltkrieg überaus rigoros mit den zivilen Feindstaatenangehörigen um, die ihnen ausgeliefert waren. So wurden rund 200.000 Frauen zur Prostitution gezwungen, besonders in Korea, das bereits 1910 von Japan besetzt worden war. Darüber hinaus führte das „Bataillon 731“ Menschenversuche durch, bei denen über 3.000 Asiaten umgebracht wurden. In Nordchina ermordeten japanische Soldaten Millionen Bewohner. Allein Massaker in zwei chinesischen Provinzen forderten 1942 rund 250.000 Todesopfer. Übergriffe gegen Zivilisten umfassten darüber hinaus Plünderungen, Deportationen, Folter und andere Misshandlungen. Bei der Zwangsarbeit in Japan starben rund 60.000 von 670.000 verschleppten Koreanern und 11.000 von 42.000 Chinesen.325

Internierung, Verschleppung und Hilfsleistungen Die Internierungspolitik war in den okkupierten Gebieten Ost- und Südostasiens im Allgemeinen viel härter als in Japan selber. In der Regel behandelten die japanischen Militärs die Zivilbevölkerung nach ihrer Zugehörigkeit zu Nationen und Rassen. „Asiaten“ (vor allem Filipinos und Inder) wurden ausschließlich japanischer Kontrolle unterstellt. Damit waren Niederländisch-Indien und Bri324 Angabe nach: Christina Twomey, „In the Front Line“? Internment and Citizenship Entitlements in the Second World War, in: Australian Journal of Politics and History 53 (2007), Nr. 2, S. 194–206, hier: S. 194; Stibbe, Internees, S. 188. Von 200.000 Opfern in Nanking wird ausgegangen in: Martin, Kriegsverbrechen, S. 142. Zum Sicherheitsargument Japans: Swatek-Evenstein, History, S. 176. Vgl. auch Christina Twomey, Australia’s Forgotten Prisoners. Civilians Interned by the Japanese in World War Two, Cambridge 2007, S. 21–29; Archer, Internment, S. 67 f., 222; Heidebrink, Prisoners if War, S. 177; Mühlhahn, Concentration Camp, S. 550 f. 325 Angaben nach: Schreiber, Der Zweite Weltkrieg, S. 83 f.; Martin, Kriegsverbrechen, S. 146.

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tisch-Malaya weitestgehend der Aufsicht des IKRK entzogen. Demgegenüber hatte das Rotes Kreuz, das ab Mai 1942 nur in Shanghai und Hongkong mit Delegierten vertreten war, hier zumindest zu einzelnen Lagern, in denen Angehörige westlicher Staaten litten, begrenzten Zugang. Die Zivilisten konnten in der gemischten Bevölkerung Ostasiens aber keineswegs eindeutig den japanischen Kategorien (die überdies selber variierten) zugeordnet werden. Der Umgang mit diesen Gruppen war damit nicht klar geregelt. Daraus resultierte überall in Ostasien erhebliche Unsicherheit, besonders aber in den eroberten Kolonien der Niederlande, Großbritanniens und der USA.326 Vor diesem Hintergrund wurden gefangene US-Bürger, Briten und Niederländer in Ost- und Südostasien vielerorts willkürlich behandelt. Gegen sie richteten sich der Hass und das Überlegenheitsbewusstsein der Japaner, die zugleich auf die Übernahme und Versorgung der Vielzahl ziviler Feindstaatengehöriger kaum vorbereitet waren. Zwar hatte das Außenministerium am 22. November 1941 Richtlinien zur Behandlung von Feindstaatenangehörigen in China vorgelegt. Allerdings waren die Bestimmungen vage formuliert, so dass sie unterschiedlich ausgelegt wurden. Bürger gegnerischer Nationen sollten unter strenge Kontrolle gestellt werden, so dass sie sich nicht sammeln konnten. Auch ansonsten waren ihre Bewegungsfreiheit und Kommunikation einzuschränken. Sogar eine Internierung wurde ausdrücklich erlaubt. Diplomatisches Personal sollte unter dem Vorwand des Schutzes festgesetzt werden. Die Rückführung von Zivilsten hatte ausschließlich auf der Grundlage des Gegenseitigkeitsprinzips zu erfolgen. Öffentliches Eigentum, das militärisch genutzt werden konnte, war zu beschlagnahmen. Auch Privatbesitz konnte konfisziert werden. Diese Regelungen übernahm das Hauptquartier der Armee, die in China einmarschiert war, am 27. November 1941. Jedoch waren die Kompetenzen unter den japanischen Besatzern zersplittert. Die Marine, Armee und Militärpolizei (Kempeitai) kontrollierten jeweils eigene Zonen, in denen sie ausgestellte Erlaubnisse oft nicht wechselseitig anerkannten. Diese Barrieren behinderten Inspektionen und Hilfslieferungen.327 Die Internierung vollzog sich stufenweise. So wurden zivile Feindstaatenangehörige in China registriert und in Großstädten wie Shanghai konzentriert, wo sie durchweg schlechter behandelt wurden als die geflohenen deutschen Juden. Hier sperrten sie die japanischen Militärs in dem beschlagnahmten amerikanischen Columbia Country Club ein. Die zivilen Staatsangehörigen der westlichen Kriegsgegner mussten Armbänder tragen, damit sie leicht identifiziert und aus326 England, Zindel’s Rosary Hill, S. 39, 42–473. 327 Greg Leck, Captives of Empire. The Japanese Internment of Allied Civilians in China, 1941– 1945, Bangor 2006, S. 74–77.

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gebürgert werden konnten. Nachdem sich die Verhandlungen mit den alliierten Mächten aber als schwierig erwiesen hatten, gingen die japanischen Militärs in Shanghai Ende 1942 zu einer umfassenden Internierung über. Insgesamt verschleppten die japanischen Truppen in Ostasien allein rund 12.100 US-Bürger in Lager, davon 6.000 in China, 5.000 auf den Philippinen und 1.100 in Japan selber. Weitere 8.000 Internierte gehörten dem Vereinigten Königreich und Mitgliedsstaaten des Commonwealth an. Sie wurden vorrangig in China, Hongkong und Singapur festgehalten. Die Besatzer verschoben die Internierten wiederholt zwischen den verschiedenen Lagern, so Stanley Camp in Hongkong, Santo Tomás (Philippinen) und Palembang (Sumatra, Niederländisch-Ostindien), so dass internationale humanitäre Organisationen und die Schutzmächte den Prozess nur teilweise kontrollieren konnten. Als weiteres Hindernis erwies sich außer der ungleichmäßigen Internierung und der Unterbringung in abgelegenen, überaus unterschiedlich ausgestatteten Lagern, dass in Ostasien gefangene Zivilisten und Soldaten kaum voneinander getrennt wurden. Damit konnten humanitäre Organisationen vielfach nur schwer eine Übersicht über die Behandlung der beiden Gruppen nach den Grundsätzen des Völkerrechtes gewinnen.328 Gefangene Feindstaatenangehörige wurden auch regelmäßig verschleppt, so von Niederländisch-Ostindien und den Philippinen nach China, wo sie vielerorts vom IKRK unterstützt wurden. Zudem halfen Organisationen wie die British Residents’ Association (BRA) in Shanghai den alliierten Bürgern. Die BRA und ein ähnlicher Verband der US-Amerikaner überwiesen ihren Mitgliedern über das Konsulat der Schweiz Hilfsgelder. Auch legten sie im Herbst 1942 Vorräte an, als sich die Internierung von Feindstaatenangehörigen auch in China abzeichnete und ehemalige Insassen von Lagern in Niederländisch-Ostasien von dem Mangel und der Not berichtet hatten, die dort herrschten. Die Hilfe für die Bürger der alliierten Mächte konfrontierte die Einwohnerverbände in Shanghai und anderen Städten Chinas mit einem Dilemma, denn dabei mussten sie mit den japanischen Besatzern zusammenarbeiten. Jedoch konnten sie damit die Bedingungen, unter denen die Internierten schließlich leben mussten, deutlich verbessern. Dennoch litten in China vor allem in den großen Lagern Stanley (Hongkong) und Chapei (Shanghai) Tausende Internierte. Die japanischen Militärs übernahmen bei der Verwaltung der Camps Erfahrungen, die sie an anderen Standorten – so in Santo Tomás – gewonnen hatten. Wegen der unzureichenden Versorgung und der brutalen Behandlung durch die Wachmannschaften war die Sterblichkeit hoch. Die Todesrate belief sich bei den internierten US-Amerikanern auf elf, bei den Briten auf fünf und bei den Niederländern und 328 Vance, Civilian Internees – World War II, S. 51; Leck, Captives, S. 79, 83, 96; Martin, Kriegsverbrechen, S. 133; Moore, Fedorowich, Prisoners of War, S. 2.

6.8 Japan und Ostasien



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Indo-Niederländern auf 17 Prozent. Lediglich einzelne Fachkräfte, die den Feindstaaten angehörten, aber von den japanischen Militärs benötigt wurden, konnten in Freiheit verbleiben. Von der Internierung verschont blieben darüber hinaus viele Eurasier, auch wenn sie – beispielweise im Hong Kong Volunteer Defence Corps – für die britische, amerikanische oder amerikanische Kolonialverwaltung gearbeitet hatten.329

Regionen, Lager, Internierte und Kollaborateure Im Allgemeinen wurden Zivilisten, die westlichen Staaten angehörten, besser behandelt als indigene Einwohner, die japanische Besatzungsbehörden oft dem Widerstand zurechneten. Darüber hinaus waren regionale Unterschiede bedeutsam, die auf die Vernachlässigung und die Gewaltmärsche im extremen tropischen Klima zurückzuführen sind. So starben in den Lagern im Süden Sumatras 37 Prozent der Internierten, im Norden und im Zentrum der Insel aber nur fünf bzw. zehn Prozent.330 Auch die einzelnen Internierungslager, die in den von Japan eroberten Gebieten Niederländisch-Ostindiens für gefangen genommene Zivilisten errichtet wurden, waren überaus unterschiedlich. Die Spannbreite reichte von kleinen, oft improvisierten Lagern in entlegenen Dschungelgebieten bis zu großen Camps, die vor allem in Niederländisch-Ostindien mehr als 10.000 Insassen umfassten. So waren 1944 im Lager Cimahi (Java) über 10.000 Franzosen, Briten und irakische Juden sowie 600 Chinesen interniert. Dazwischen lagen die Camps in Stanley (Hongkong) und Changi (Singapur) mit 2.800 bzw. 2.361 Männern, 369 Frauen und 61 Kindern. In einigen Camps – so demjenigen in Berastagi (Sumatra) – wurden ausschließlich Frauen und Kinder festgehalten. In die Santo-Thomás-Universität in Manila (Philippinen) waren schon im Februar 1942 2.000 Männer, 1.200 Frauen und 400 Kinder verbracht worden. Hier nahm die Zahl der Insassen im Verlauf des Jahres ebenso zu wie in den anderen Lagern. So waren in dem Camp am 31. August 1943 3.849 Feindstaatenangehörige (darunter 2.822 Amerikaner und 918 Briten) interniert, darüber hinaus 804 (davon 600 US-Bürger) in Los Baños, 500 (darunter 423 Amerikaner) und 171 (davon 156 US-Bürger) in Davao. Das Wachstum ist vor allem auf die Konzentration der Internierten in wenigen Lagern zurückzuführen. Allerdings lagen den Hilfsorganisationen und den Schutzmächten wegen der enormen Fläche des besetzten Ostasiens nur lückenhafte Angaben zu den Internier-

329 Leck, Captives S. 83, 87, 90. Angaben nach: Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 444. 330 Vgl. de Jong, Collapse, S. 490.

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ten vor, deren Zahl das IKRK im August 1942 mit insgesamt 20.000 zu niedrig veranschlagte.331 Außer den Angehörigen der besiegten Westmächte fielen den japanischen Verbänden auch Australier in die Hände. Fast 380 von ihnen waren in Malaya und Singapur interniert, davon die Mehrheit in den Camps Changi und Sine Roas (Singapur). Weitere 331 Staatsangehörige Australiens verbrachten den Krieg in China, besonders in Lagern im Norden des Landes und in Shanghai. Viele dieser Opfer wurden von japanischen Soldaten misshandelt oder sogar ermordet. Dennoch äußerten die Regierungen der alliierten Staaten Kritik nur zurückhaltend, um weitere Repressalien zu verhindern. Vergeblich baten sie die Regierung Japans, die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 (die einen humanen Umgang mit Kriegsgefangenen vorsahen) als Richtschnur des Umgangs mit gefangenen Zivilisten zu akzeptieren. In japanischer Gefangenschaft verstarben aber fünf Prozent der britischen, elf Prozent der amerikanischen und 17 Prozent der niederländischen Zivilinternierten. Noch höhere Opfer forderte die vielerorts grausame Behandlung der unterworfenen asiatischen Bevölkerung. Dagegen gelang im August und September 1942 einmalig ein Austausch von 1.800 in Japan lebenden Angehörigen Großbritanniens und anderen alliierten Staaten mit japanischen Zivilisten, die im britischen Empire festgesetzt worden waren.332 Zwar konnten sich Internierte, die in den Lagerküchen arbeiteten, im Allgemeinen ausreichend versorgen. Auch verkauften indonesische Händler Insassen, die über Geld verfügten, oft Waren. Nicht zuletzt waren viele Frauenlager zumindest bis 1943 nicht strikt abgeschlossen, so dass sich einige weibliche Insassen lebensnotwendige Güter besorgen konnten. Die meisten Internierten litten jedoch unter akutem Hunger. Auch fehlte ihnen eine Privatsphäre. Nicht zuletzt belasteten Gerüchte über Massaker der Japaner das Leben in den Lagern. Im Gegensatz zu Camps, die – wie Cideng in Jakarta und Cihapit in Bandung – in der Nähe großer Städte lagen, war besonders die Situation in entlegenen Dschungelgebieten trostlos. So litten die zivilen Feindstaatenangehörigen, die in den großen Sammellagern auf Sumatra interniert waren, nicht nur unter der mangelnden Versorgung und dem extremen Klima, sondern auch unter dem Mangel an Nachrichten und den Unterbrechungen des Briefverkehrs. Hinzu ka-

331 NA, HO 215/81 (Telegramm vom 29. August 1942). Angaben nach: NA, HO 215/111 (Telegramme vom 10. April 1944); Archer, Internment, S. 68, 241 f.; de Jong, Collapse, S. 453. Vgl. auch Kemperman, Internment, S. 163–173, hier: S. 166, 171; Vance, Civilian Internees – World War II, S. 51. 332 Angaben nach: Auger, Prisoners, S. 16; Twomey, Prisoners, S. 32, 36. Vgl. auch Vance, Civilian Internees – World War II, S. 51.

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men willkürliche Repressionen der japanischen Militärs, die andererseits Einheimische begünstigten.333 Mit Privilegien sollten diese als Kollaborateure gewonnen und in die „Großasiatische Wohlstandssphäre“ integriert werden. Auch internierte Anhänger der faschistischen Nationaal-Socialistische Beweging (NSB), die 1931 von Anton Adriaan Mussert (1894–1946) und Cornelis van Geelkerken (1901–1979) in Utrecht gegründet worden war, wurden entweder nicht interniert oder bald entlassen.334 So beteiligten sich nationalistische Gruppen auf den Philippinen, in Indonesien und Burma an den gewalttätigen Ausschreitungen gegen internierte Weiße. In Niederländisch-Ostindien wirkten Einwohner der Insel Sumatra im September 1943 an den Razzien der Kempeitai gegen Widerstandskämpfer mit, und sie bewachten Lager und Gefängnisse wie dasjenige in Siantar, wo viele Molukken jahrelang unter der Gewalt der Aufseher und des japanischen Lagerkommandanten litten. Übergriffe gegen Zivilinternierte und Kriegsgefangene gingen jedoch fast durchweg von den japanischen Besatzern aus.335 Aber auch einzelne Angehörige westlicher Staaten und Australier kollaborierten in Organisationen wie der Independent Australia League mit den Japanern, um damit die rassistische Kolonialherrschaft in Ostasien zu beenden oder Vorteile zu erlangen. Dabei blendeten sie die radikale rassistische Unterdrückungspolitik Japans gegenüber den anderen Asiaten in den okkupierten Gebieten weitestgehend aus. So kehrten die Japaner auf der Insel Neuguinea, die ihre Truppen nur z. T. eroberten, die rassistische Ordnung, die von den Australiern etabliert worden war, lediglich um. Der Hass richtete sich gegen die indigenen Völker, aber auch gegen die weißen Kolonisatoren, so dass nahezu alle Briten und Australier angegriffen, gefangen genommen oder ermordet wurden. In die Internierung bezogen die japanischen Militärbehörden in den okkupierten Gebieten Neuguineas trotz des Bündnisses mit dem „Dritten Reich“ sogar Deutsche ein.336 Umgekehrt hielten auch viele Insassen der Camps trotz der für sie erniedrigenden Gefangenschaft an der überkommenen imperialen Zivilisierungsideologie fest. Zusammen mit den Aktivitäten, die sie in den Lagern zur Beschäftigung entfalteten, vermittelte das koloniale Überlegenheitsbewusstsein Stabilität, Selbstachtung und Würde in einer Lebenswelt, in der Klassenzugehörigkeit und 333 Vgl. de Jong, Collapse, S. 494–496; Kemperman, Internment, S. 168, 170–173. 334 Nach Angaben der NSB-Führung hatten sich in Niederländisch-Ostindien 5.000 Anhänger der Bewegung angeschlossen. Vgl. Bob Moore, The Netherlands, in: Richard J. B. Bosworth (Hg.), The Oxford Handbook of Fascism, New York 2009, S. 453–469, hier: S. 456. 335 Martin, Kriegsverbrechen, S. 144. Vgl. exemplarisch auch Marije Plomp, A Victim, the Story of Pieter Toisuta, in: Post (Hg.), Encyclopedia, S. 159 f.; 336 Twomey, Prisoners, S. 44–49, 68, 78–94.

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Sozialstatus unwichtig geworden waren. Die Wahrnehmung westlicher Einheit und Solidarität überlagerte vielerorts sogar den Nationalismus der Zivilinternierten. In den Lagern hing das Überleben der Insassen darüber hinaus von der Fähigkeit zur Selbstorganisation und -disziplinierung ab, die sich in einem breiten Spektrum von Aktivitäten niederschlug – vom Sport über Bildungsveranstaltungen bis zu praktischen Arbeiten. Dabei war das Verhalten der japanischen Wachmannschaften, die ihre Arbeit in den Lagern oft als minderwertig empfanden, kaum berechenbar. Noch gefürchteter war die Willkür der Kempeitai, die zahlreiche Gefangene folterte und ermordete. Auch die Versorgung der Internierten mit Nahrungsmitteln war existenziell wichtig. Da die Camps vor allem in abgelegenen Dschungelregionen nicht völlig abgeschlossen waren, bildeten sich in ihnen ein blühender Schwarzmarkt und Systeme von Erpressung, Ausplünderung und Schutzgeldzahlungen heraus. Hilfreich war in einigen Lagern auch die Unterstützung internationaler Nichtregierungsorganisationen. So konnte ein Camp in Tjideng, das auf Java für Frauen und Kinder eingerichtet worden war, von Delegationen des Roten Kreuzes und dem Konsul der schweizerischen Eidgenossenschaft, die als Schutzmacht der alliierten Staatsangehörigen fungierte, inspiziert werden. Diese Akteure und Nichtregierungsorganisationen durften internierte Australier vor allem in Japan, China, Hongkong und Bangkok unterstützen. Insgesamt blieb die Hilfe des IKRK, das auch Angehörigen gefangener Zivilisten Informationen übermittelte, aber sporadisch und lückenhaft, da sie letztlich der Zustimmung des japanischen Militärregimes bedurfte.337

Niederländisch-Ostindien Hier brachten die Japaner im Zweiten Weltkrieg rund 130.000 Zivilisten der alliierten Staaten in 225 Internierungslagern unter, darunter 41.895 Frauen und 40.260 Männer. 1.553 Internierte waren Australier. Mit rund 100.000 stellten Niederländer aber die deutliche Mehrheit der gefangenen Zivilisten. Von ihnen waren 36.700 Männer, 30.500 Frauen und 33.700 Kinder. Die Zahl der niederländischen Zivilinternierten auf Java und Sumatra ist mit 92.000 veranschlagt worden. Die wiederholte Verlegung von Frauen und Kindern in andere Lager forderte Tausende Tote, vor allem auf Java, wo 1944 allein 3.000 bis 4.000 Frauen und Kinder im Camp Muntilan interniert waren.338 337 Archer, Internment, S. 69–110, 230 f.; Twomey, Prisoners, S. 75–77; Beaumont, Prisoners of War, S. 280. 338 Angaben nach: de Jong, Collapse, S. 421 f., 485, Twomey, „In the Front Line“?, S. 194. Vgl. auch Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 445, 448.

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Nach japanischen Angaben starben in den Lagern Niederländisch-Ostindiens mit 16.800 rund ein Sechstel der Internierten, die meisten von ihnen nach dem 7. November 1943, als ein Dekret des japanischen Kaisers (Tennō) die Verwaltung der Lager auf Java und Sumatra der zivilen Administration und den lokalen Polizeiabteilungen entzog und der Armee übertrug. Damit wurden die Repression und Isolation der gefangenen Zivilisten verschärft. Die Toten fielen überwiegend nicht der erheblichen Gewalt und Willkür, sondern vor allem der Vernachlässigung durch die japanischen Lagerkommandanten und der Wachen – darunter auch Indonesier – zum Opfer. Die Japaner verachteten die Internierten, deren Klagen und Kritik sie nicht verstanden und zuließen. In den Lagern trafen unterschiedliche Mentalitäten aufeinander. Darüber hinaus rächten sich Einheimische für erlittene Demütigungen während der vorangegangenen Kolonialherrschaft der Niederländer. Vor allem als die japanischen Truppen 1944/45 zusehends in die Defensive gerieten, brach die Versorgung zusammen, und die Lebensbedingungen in den Lagern verschlechterten sich rapide. Viele Internierte starben auch infolge der Zwangsdeportationen, mit denen die japanischen Besatzungstruppen die Gefangenen in der letzten Kriegsphase unter ihrer Kontrolle zu behalten suchten.339

Philippinen Auch die rund 7.000 Zivilinternierten, die Anfang 1942 auf den Philippinen von den Japanern aufgegriffen wurden, waren den Eroberern hilflos ausgeliefert. Das American Coordinating Committee, das vor dem Beginn des Pazifikkrieges gebildet worden war, wurde von den Japanern nur als Instrument der Internierungspolitik genutzt. Zunächst hatten die Briten und Amerikaner noch auf eine schnelle Rückkehr der US-Verbände gehofft, die im Mai 1942 endgültig von der Inselgruppe vertrieben worden waren. Die Erlaubnis der japanischen Regierung, 1942 zunächst 2.500 Alliierte in ihre Heimatstaaten zu repatriieren, hatte diesen Optimismus genährt. Obwohl die alliierten Feindstaatenangehörigen auf den entlegenen Inseln im Mai und Juni 1942 aufgefordert wurden, sich zu ergeben, hielten sich einige von ihnen zusammen mit Filipinos zunächst in den Bergen vor den Invasoren verborgen. Einzelne geflohene Zivilisten entdeckten die Japaner erst Ende 1943. Die anderen litten in den Internierungslagern, wo sie im Allgemeinen zwar besser als die Kriegsgefangenen behandelt wurden, die in 339 Jeroen Kemperman, Internment of Civilians, in: Peter Post (Hg.), The Encyclopedia of Indonesia in the Pacific War, Leiden 2010, S. 164, 166; de Jong, Collapse, S. 421 f., 431, 435, 446, 485, 490; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 446.

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die Hand der japanischen Streitkräfte gefallen waren. Dennoch war das Verhalten der jeweiligen Kommandanten und Wachsoldaten in den Camps auf den Philippinen – Baguio und Santo Tomás (Luzon), Bacolod (Negros), Davao (Mindanao) und Cebu City (Cebu) – unberechenbar, unterschiedlich und oft widersprüchlich. Frauen mit Kindern durften nur in den ersten Monaten außerhalb der Lager verbleiben. Als Japan ab 1943 militärisch in die Defensive geriet, gingen die japanischen Militärs auch gegen die männlichen Internierten immer rigoroser vor. Überdies wurde die Versorgung schlechter, so dass sich in den Camps Krankheiten verbreiteten, besonders die gefürchtete Malaria. Die Lage der Zivilinternierten glich sich damit dem Leiden der Kriegsgefangenen an, die nach dem (verkürzt interpretierten) Bushidō-Verhaltenskodex der Samurai brutal behandelt wurden. Das Ende der Zwangsarbeit bei der Errichtung von Flugplätzen, Straßen und Eisenbahnen begünstigte die Internierten kaum, da dazu fast ausschließlich Kriegsgefangene eingesetzt worden waren, so beim Bau der Bahnlinie durch Burma und Thailand (415 Kilometer) 1942/43. Überdies behandelten die japanischen Truppen Staatsangehörige gegnerischer Staaten immer rigoroser, als sie 1944/45 auf den Philippinen den Kampf gegen die Widerstandsgruppen verschärften und auch Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung verübten, denen letztlich insgesamt rund eine Million Filipinos zum Opfer fielen. Erst ab Februar 1945 wurden die alliierten Zivilinternierten auf den Philippinen von US-Truppen befreit.340

Austausch von Gefangenen Zuvor hatte das IKRK mit ihren Inspektionen und Hilfslieferungen die drückendste Not vieler Internierter zumindest gelindert. Zudem unterstützten seine Vertreter die Freilassung von Internierten der Mächte, die in Ostasien gegeneinander kämpften. Erstmals wurden Zivilisten nach dem Reziprozitätsprinzip im Sommer 1942 ausgetauscht. Der italienische Dampfer Conte Verde nahm allein in Shanghai 639 US-Bürger auf, während die Asama Maru 432 Passagiere beförderte, die zwölf Nationen angehörten und in Japan interniert worden waren. Weitere Internierte wurden in Shanghai, Hongkong und Singapur an Bord ge340 Angabe nach: Brian Hardesty, Japanese Counterinsurgency in the Philippines: 1942–45, in: Small Wars Journal 2007, S. 1–7, hier: S. 4 (https://smallwarsjournal.com/jrnl/art/japanesecounterinsurgency-in-the-philippines-1942-45; Zugriff am 6. Juni 2020). Vgl. auch Sibylla Jane Flower, Captors and Captives on the Burma-Thailand Railway, in: Moore / Fedorowich (Hg.), Prisoners, S. 227–252; Arno Ooms, Prisoners of Work Put to Work on the Thailand-Burma Railway, in: Post (Hg.), Encyclopedia, S. 179–183; Pitzer, Night, S. 240 f.; Schreiber, Der Zweite Weltkrieg, S. 84.

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nommen, bevor die beiden Schiffe in Laurenço Marques, der Hauptstadt von Mosambik (einer Kolonie des neutralen Portugals) zusammentrafen und der Austausch am 23. Juli 1942 vollzogen wurde. Der schwedische Dampfer Gripsholm brachte die Amerikaner schließlich nach New York. Ein weiterer Austausch verlief im Spätsommer 1942 ähnlich. Am 2. September 1943 verließ dasselbe Schiff mit 1.330 japanischen Zivilisten New York. Im Gegenzug ließ Japan US-Bürger und Kanadier frei. Diese zivilen Feindstaatenangehörigen waren im ostasiatischen Inselreich, in China, Hongkong, Indochina und Siam festgehalten worden und wurden von der Teia Maru aufgenommen. Die japanischen Militärs erlaubten sogar einzelnen Amerikanern die Rückkehr von den Philippinen, behielten sich aber die Auswahl der Internierten vor, die repatriiert werden sollten. Die Passagiere der beiden Dampfer wurden im Oktober 1943 im Mormugao (bei Gao, Indien) ausgetauscht. Nachdem sich das japanische Militärregime zunächst geweigert hatte, eigene Schiffe in neutrale Zonen zu entsenden, um dort Hilfslieferungen der IKRK für britische und amerikanische Zivilinternierte und Kriegsgefangene aufzunehmen, konnte auch dieses Problem mit Hilfe neutraler Staaten gelöst werden.341

Der Schutz von Juden Demgegenüber hatte die japanische Besatzungsmacht die Juden, die nach Ostasien geflohen waren, trotz des Druckes der nationalsozialistischen Machthaber deutlich humaner behandelt. Vor allem in Shanghai hatten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts jüdische Geschäftsleute niedergelassen. Die Gemeinde, die durch jüdische Immigranten aus Osteuropa im frühen 20. Jahrhundert gewachsen war, nahm nach der NS-„Machtergreifung“ Tausende geflohene deutsche Juden auf. Noch im Zweiten Weltkrieg ermöglichten Visa, die Diplomaten Chinas und Japans in Wien und Kaunas (Litauen) ausstellten, jüdischen Flüchtlingen die Zuflucht in Schanghai. Japanische Konsuln in Litauen ermöglichten allein zwischen Juli 1940 und November 1941 4.608 der insgesamt rund 10.000 Juden, die hier angekommen waren, die Flucht nach Ostasien. Im Gegensatz zu anderen Regionen Chinas, wo Japan jüdische Flüchtlinge trotz nachdrücklicher Forderungen des NS-Regimes nicht von den übrigen Deutschen trennte, wurden sie in Shanghai 1943 in einem Ghetto eingeschlossen, aber nicht ermordet. 4.608 der Verfolgten erhielten sogar Transitvisa zur Weiterfahrt nach Japan, wo sie in Kobe ankamen und von der jüdischen Gemeinde versorgt wurden. Auch das American Jewish Joint Distribution Committee schaltete sich in die karitati341 Leck, Captives, S. 283–301.

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ven Aktivitäten ein. Allerdings transportierten die japanischen Behörden die in Kobe verbliebenen 1.000 Juden schon im Dezember 1941 zurück nach Shanghai, wo seit 1938 rund 18.000 Flüchtlinge angekommen waren. Sie wurden überwiegend in Lagern untergebracht, die offiziell als „Heime“ galten. Hier entwickelte sich zwar ein reges kulturelles Leben; jedoch verschlechterten sich die Lebensbedingungen nach dem Angriff Japans auf Pearl Harbor deutlich, zumal amerikanische Organisationen ihre humanitäre Hilfe einstellen mussten. Überdies internierten die Japaner alteingesessene Juden, die britische Bürger waren, als Feindstaatenangehörige. Als Shanghai befreit wurde, befanden sich in der Stadt nach Angaben der 1943 gegründeten United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) noch 15.511 Flüchtlinge, die aus Europa gekommen waren. Mit 13.496 stellten Juden 87 Prozent dieser Geflohenen. In den eroberten Gebieten Ostasiens wurden Juden im Allgemeinen nicht interniert. Nur im Gefängnis Struiswijk in Batavia (der Hauptstadt Niederländisch-Ostindiens) fanden sich zivile Feindstaatenangehörige, die den Japanern ihre jüdische Abstammung mitgeteilt hatten, neben einer Gruppe von NSB-Mitgliedern wieder.342

Bilanz und Ausblick: die Behandlung der ehemaligen Zivilinternierten und Zwangsarbeiter nach 1945 Obwohl die japanischen Streitkräfte in den von ihnen besetzten Gebieten die indigene Bevölkerung rassistisch abwerteten und deshalb besonders schlecht behandelten, brachen sie auch im Umgang mit den zivilen Feindstaatenangehörigen vielfach das Völkerrecht. Dabei blieb das Unrechtsbewusstsein der Täter zunächst schwach. Jedoch versuchten sie hektisch, Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen, nachdem Japan am 15. August 1945 einem Waffenstillstand zugestimmt hatte. Da die Beweise aber letztlich erdrückend waren, wurden im Tokioter Kriegsverbrecherprozess (1946–48) sieben Angeklagte zum Tode verurteilt, u. a. wegen Massakern an Kriegsgefangenen. In Nachfolgeprozessen in den Staaten, deren Angehörige Opfer von Gewalt japanischer Militärs worden waren, bestraften Gerichte 3.099 Personen mit befristeter Haft, 334 mit lebenslangem Freiheitsentzug und 920 zum Tode.343 Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die überlebenden Zivilinternierten keine oder nur eine geringe Entschädigung erhalten. Zwar wurden amerikanischen Opfern nach dem 1948 verabschiedeten American War Claims Act monatlich je342 Angaben nach: Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 124; Checkland, Humanitarianism, S. 135. Vgl. auch Martin, Kriegsverbrechen, S. 133; de Jong, Collapse, S. 495–499. 343 Martin, Kriegsverbrechen, S. 150 f. Vgl. auch Towle, Culture, S. 148.

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weils sechzig Dollar für Erwachsene und 25 Dollar für Kinder (während der Internierung) ausgezahlt. In Großbritannien erhielten von 1952 bis 1956 rund 8.800 Erwachsene pauschal einen Betrag in Höhe von 28,50 Pfund. Die niederländische Regierung schloss mit Japan ein Abkommen, nach dem das Inselreich eine Entschädigung von zehn Millionen Dollar zahlte. Aus diesem Fonds erhielten Holländer, die während des Zweiten Weltkrieges von japanischen Truppen interniert worden waren, jeweils 100 Dollar. Davon abgesehen, konnten die zivilen Angehörigen der westlichen Staaten, die in Ostasien gefangen gehalten worden waren, ihre Interessen in den jeweiligen Staaten aber kaum effektiv durchsetzen. Da hier die nationalen Erinnerungskulturen lange weitestgehend auf den Kampf der Soldaten und die Kriegsgefangenen fixiert blieben, verdrängten viele ehemalige Zivilinternierte ihre eigene Hilflosigkeit. Ihr Leid passte zumindest bis in die siebziger Jahre nicht in die dominante heroische Erinnerungskultur. Zudem litten die Opfer, von denen viele in der japanischen Gefangenschaft misshandelt worden waren, noch lange unter ihren traumatischen Erinnerungen.344 Dies traf auch auf Europa zu. Im Gegensatz zu den Zwangsrekrutierten aus der Sowjetunion wurden polnische Fremdarbeiter nicht im Rahmen eines staatlichen Programmes repatriiert, sondern sie verließen das besiegte Deutschland im Allgemeinen spontan, aber oft unter dem Schutz der westlichen Streitkräfte und der UNRRA. Im September 1946 waren von den nahezu 1,7 Millionen polnischen Arbeitskräften, die im August 1944 gezählt worden waren, 816.000 und Ende 1946 noch rund 300.000 Polen nicht von der UNRRA oder den Streitkräften der westlichen Siegermächte repatriiert worden. Zahlreiche Polen weigerten sich, in ihr Heimatland zurückzukehren. Insgesamt waren bis 1949 rund 1,5 Millionen Zwangsarbeiter wieder in Polen eingetroffen; demgegenüber hatten 350.000 die Repatriierung verweigert. Unter diesen DPs befanden sich auch Tausende polnische Kinder, die zur Zwangsarbeit verschleppt oder im Zuge der NS-Politik der „Germanisierung“ eingebürgert und adoptiert worden waren.345

344 Toby Haggith, Great Britain. Remembering a Just War (1945–1950), in: Kettenacker / Riotte (Hg.), Legacies, S. 225–256, hier. S. 236; Archer, Internment, S. 220, 239 (Angaben). 345 Wawrzyniak, Making, S. 194; Steinert, Deportation, S. 271 f.

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6.9 Britische Kolonien, Mandatsgebiete und (ehemalige) Dominions 6.9.1 (Ehemalige) Dominions Überblick Ebenso wie im Ersten Weltkrieg beeinflusste die britische Regierung auch in den Jahren von 1939 bis 1945 über das Ministerium für Angelegenheiten der Dominions die Politik in den weißen Siedlerkolonien. Allerdings war die Macht der Londoner Zentrale im Ersten Weltkrieg zurückgegangen, und die Dominions hatten sich dem Völkerbund selbständig angeschlossen. Zudem übernahmen Australien, Neuseeland und Südafrika im Auftrag des Völkerbundes die Mandatsverwaltung ehemaliger deutscher Kolonien. Davon wurden Südwestafrika, Samoa und Neuguinea und kleineren Pazifikinseln der Kategorie „C“ zugeordnet, deren Souveränität als so begrenzt galt, dass eine Unabhängigkeit nicht zu erwarten war. Die Kontrolle über sie übernahmen die Regierungen der Dominions auf der südlichen Halbkugel.346 So fiel Neuguinea an Australien, das die Insel bis zum 9. Mai 1921 militärisch verwaltet hatte. Im großen Ganzen kontrollierten die Regierungen der Länder, denen die Mandate übertragen worden waren, ihre jeweiligen Gebiete weitgehend unabhängig, da die zuständige Kommission des Völkerbundes nicht über die Kenntnisse und Macht verfügte, um die Berichte der Staaten und das Vorgehen ihrer Vertreter wirksam kontrollieren und Verbesserungen erzwingen zu können.347 Trotz des Machtgewinns der Siedlerkolonien griff das britische Kabinett aber auch im Zweiten Weltkrieg in die Politik der Dominions ein. So übermittelte die Londoner Regierung diesen Anfang 1940 ein Angebot des „Dritten Reiches“, ihre Staatsangehörigen im Austausch mit Deutschen freizulassen, die in den Siedlerkolonien interniert waren. Die Vereinbarung sollte Frauen und Kinder ebenso einbeziehen wie Männer über sechzig und unter 18 Jahren. Dabei insistierten beide Regierungen auf dem Grundsatz der Reziprozität. Um die Aktion nicht zu gefährden, bestand das britische Foreign Office im Januar 1940 gegenüber den Dominions Kanada, Australien und Neuseeland darauf, Internierungen

346 Demgegenüber sollten Mandatsgebiete in der Gruppe „A“ auf Selbstverwaltung vorbereitet werden. Damit schrieb der Völkerbund die eingeschliffene Differenzierung nach Zivilisationsstandards im Völkerrecht fort. Vgl. von Lingen, „Crimes against Humanity“ (2018), S. 179 f.; Steiner, Lights, S. 360; Eberhardt, Nationalsozialismus, S. 50 f. Dazu auch die Übersicht über die Völkerbundsmandate in: Conze, Illusion, S. 253–260. 347 Hiery, War, S. 78; Steiner, Triumph, S. 175 f.

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zu überprüfen. Außerdem sollten festgesetzte zivile Feindstaatenangehörige, von denen offenkundig kein Sicherheitsrisiko ausging, großzügig freigelassen werden. Diese Forderung unterstützte die Botschaft der USA in London.348 Daraufhin entließen die Behörden viele Internierte, als die akute Gefahr einer Invasion durch japanische Streitkräfte Ende 1942 wich. Schon bis März 1942 waren in Australien und Kanada 17.887 Deutschen und 20.330 Italienern ihre Freiheit zurückgegeben worden, während noch 6.423 bzw. 8.774 in den Lagern verbleiben mussten. Daneben wurden in den beiden Dominions 375 Finnen, 88 Japaner, 79 Ungarn, 69 Rumänen und vier Bulgaren weiterhin festgehalten. Jedoch war die Sicherheitslage in Ostasien 1942 noch kritischer als im Vereinigten Königreich, so dass die Regierungen Australiens und Neuseelands auf Gefahren hinwiesen, die sie den enemy aliens zuschrieben. Damit folgten sie zwar weitgehend der Politik der Kriegskabinette unter den Premierministern Chamberlain und Churchill, aber keineswegs vorbehaltlos. Die Beziehungen zur britischen Regierung waren in dieser Hinsicht komplex.349 Australien In diesem Dominion (bis 1942) hielt die Regierung nach dem Ersten Weltkrieg an der Politik des White Australia fest. So lehnte Premierminister William Hughes im April 1919 eine von Japan geforderte Klausel zur Rassengleichheit ab.350 Zugleich wurde die fremdenfeindliche Politik gegenüber den Angehörigen der ehemaligen Feindstaaten fortgesetzt. Allein 1919 wies die Regierung 6.150 Deutsche aus, daneben aber auch Österreicher, Ungarn, Bulgaren und Türken. Rund fünfzig weitere Personen waren aus politischen Gründen repatriiert worden. Erst 1926 hob das Kabinett die im Krieg erlassenen Restriktionen auf. Damit hatte die Repression von „Feinden“ nicht nur die Grundrechte der Opfer verletzt, sondern auch die freiheitliche Demokratie in Australien beschädigt. Auch die Überwachung der innenpolitischen Opposition von Sozialisten und Pazifisten, zu denen im Anschluss an die Registrierung der Feindstaatenangehörigen persönliche Angaben ermittelt und verzeichnet worden waren, hielt an. Hinzu trat die Kommunistische Partei, die im Oktober 1920 von Linkssozialisten gegründet worden aber, aber politisch einflusslos blieb. Dennoch wurde sie intensiv überwacht, besonders vom Commonwealth Investigation Branch (CIB). Dieser militärische Geheimdienst war 1919 aus der erst zwei Jahre zuvor gegründeten Com-

348 NA, FO 369/2563, Bl. 4 f., 8, 10–12, 54, 79, 81–83. 349 NA, FO 916/906 („Enemy Alien Internment Statistics 21.3.1942“). Allgemein: Moore / Fedorowich, Prisoners of War, S. 9. 350 Manela, Moment, S. 181 f.

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monwealth Police Force hervorgegangen. Insgesamt hatte der Kampf gegen „innere Feinde“ den Sicherheitsapparat erheblich gestärkt.351 In den 1920er und 1930er Jahren war er weiterhin auf den Kampf gegen die politische Linke fixiert. Der Antikommunismus, den viele Angehörige der Eliten teilten, führte der rechtskonservativen New Guard Unterstützung zu, die 1931 gegründet und von dem Weltkriegsveteran Eric Campbell (1893–1970) geführt wurde. Auch wenn der Verband bald an Einfluss verlor, blieben fremdenfeindliche und autoritäre Einstellungen unter Konservativen weit verbreitet. So sympathisierten Militärs – vor allem im Oberkommando an Australiens Ostküste – mit dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus, die sie als Bollwerke gegen die Kommunisten betrachteten. Einige Offiziere gaben diese Einstellung erst nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges auf, als sie gegen die Anhänger des „Dritten Reiches“ vorgingen. Ihr Handeln blieb aber ambivalent.352 Offene Konflikte über dieses Verhältnis entstanden erst Ende 1941 und Anfang 1942, als Australiens Regierung angesichts der unmittelbaren Gefahr einer Invasion durch japanische Truppen auch die zunächst zurückhaltende Politik gegenüber den zivilen Bürgern der Kriegsgegner aufgab und die Internierung dieser Personengruppe deutlich ausweitete. Obgleich inhaftierte enemy aliens schon ab Mitte 1942 freigelassen wurden, um sie als Arbeitskräfte zu nutzen, war die Festsetzung der Feindstaatenangehörigen im Ersten Weltkrieg damit zu einem Präzedenzfall für den zweiten globalen Konflikt geworden, als Australien Papua und Neuguinea verwaltete. Demgegenüber hatte die Regierung 1939 noch ihre Entschlossenheit bekundet, eine erneute umfassende Internierung von Feindstaatenangehörigen zu vermeiden. Diese Entscheidung war besonders ökonomischen Motiven geschuldet, denn in den Jahren von 1914 bis 1918 hatten die Bewachung und der Lebensunterhalt der Lagerinsassen erhebliche Kosten verursacht. Überdies drängten die USA Australiens Premierminister Robert Menzies (1894–1978) 1939, auf eine umfassende Internierung von enemy aliens zu verzichten. Er bemühte sich sichtlich um eine Balance zwischen Sicherheitserfordernissen und Freiheitsrechten und erklärte dem Repräsentantenhaus am 6. September 1939: „Whatever the extent of power that may be taken to govern, direct and control by regulation, there must be as little interference with individual rights as is consistent with concerted national effort. […] There is no intention on the part of the Government to use these powers when they are granted 351 Moore, „…when the caretaker’s busy taking care?“, S. 50. Angaben nach: Evans, „Tempest Tossed“, S. 44; Voigt, Deutsche, S. 227; Stibbe, Enemy Aliens and Internment. 352 Moore, „…when the caretaker’s busy taking care?“, S. 48, 51, 56–58, 61; Saunders, War, S. 6–8, 58, 145.

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[…] in any other way than to promote the security of Australia.“ Dieser Politik entsprechend, betonte Menzies in den ersten Monaten des Zweiten Weltkrieges besonders seine Entschlossenheit, eine Internierung von Flüchtlingen aus Deutschland, Österreich, Italien und der Tschechoslowakei zu vermeiden.353 Die Kommandeure der einzelnen Militärbezirke wurden angewiesen, nur Personen zu verhaften, die als „danger to public safety or the defence of the Commonwealth“ galten.354 Schon im War Book, in dem das Commonwealth Department of Defence nach britischem Vorbild die Maßnahmen für den Kriegsausbruch zusammengefasst hatte, war festgelegt worden, dass die Internierung in den „narrowest limits consistent with public safety and public sentiment“ erfolgen sollte. Nur Personen, welche die Polizeibehörden als Gefahr für die „öffentliche Sicherheit“ einstuften, unterlagen der Internierung.355 So wurden 300 der 3.000 Personen, welche die Sicherheitsbehörden für gefährlich hielten, unmittelbar nach Kriegsbeginn festgenommen. Sie waren zuvor in Listen verzeichnet worden, in die der Geheimdienst Angaben zu insgesamt 30.000 Personen aufgenommen hatte. Da das Land aber ansonsten nicht auf den Krieg vorbereitet war, wurden Feindstaatenangehörige im September und Oktober 1939 zur Zielscheibe einer fremdenfeindlichen Propaganda. Sie ebbte erst am Jahresende ab, als sich herausstellte, dass weder von Deutschland noch von Japan ein unmittelbarer Angriff zu erwarten war. In dieser Phase kam es auch zu einer vorübergehenden Deeskalation der Internierungspolitik, nachdem die Behörden des „Dritten Reiches“ im November 1939 auf die Festnahme von sieben deutschen Frauen in Australien mit der Inhaftierung von zwei Australierinnen in Berlin reagiert hatten. Im Februar 1940 ließ die Regierung unter Menzies alle weiblichen Internierten frei und bot an, ihnen die Ausreise nach Deutschland zu erlauben, wenn das NSRegime sich zu derselben Maßnahme bereit erklärte.356 Jedoch hatte sich auch Australiens Regierung schon früh entschieden, der „nationalen Sicherheit“ gegenüber der individuellen Freiheit den Vorrang ein353 Commonwealth Parliamentary Debates, Bd. 161 (1939), S. 182, zit. nach: Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 34. Vgl. auch Paul R. Bartrop, „Authority can take no risks“ Australia and the Internment of Enemy Aliens during the Second World War, in: Turner-Graham / Winter (Hg.), National Socialism. S. 115–129, hier: S. 133; Saunders, War, S. 19. 354 Zitat: Nagata, Internment, S. 58. 355 Zitat: Kay Saunders, Enemies of the Empire? The Internment of Germans in Queensland during the Second World War, in: Manfred Jurgensen / Alan Corkhill (Hg.), The German Presence in Queensland, St. Lucia 1988, S. 53–70, hier: S. 53. 356 Angaben nach: Moore, „…when the caretaker’s busy taking care?“, S. 54 f. Vgl. auch Neumann, Interest, S. 8, 10; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 35 f., ders., War, S. 13 f.; Bevage, Behind Barbed Wire, S. 1, 8, 26, 32.

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zuräumen.357 Dies war besonders von den Sicherheits- und Militärbehörden – dem CIB, der Intelligence Section General Staff und der Polizei – verlangt worden. Damit suchten diese Einrichtungen auch ihre Macht zu steigern. Nach dem National Security Act, der sich eng an den War Precautions Act von 1914 anlehnte und am 9. September 1939 in Kraft trat, konnte die Regierung Gesetze auf dem Verordnungsweg erlassen. Schon die National Security (Aliens Control) Regulations vom 25. August 1939 erlaubten den Sicherheitsbehörden, alle enemy aliens zu überwachen. Mit Hinweis auf die Kriegslage durften Ausländer, aber auch gebürtige Briten verhaftet und interniert werden, allerdings nur mit Zustimmung des zuständigen Ministers in den jeweiligen Bundesstaaten, die z. T. eigene Notstandsgesetze erließen, so Queensland und Victoria 1939/40. Andere Staatsangehörige konnten die Kommandeure in den Militärbezirken direkt festnehmen. Vor allem die Regulation 13 sah vor, alle verdächtigen Personen in Militärgewahrsam zu überführen.358 Vielerorts beschlagnahmte die Polizei daraufhin nicht nur Waffen der Feindstaatenangehörigen, sondern auch ihre Radiogeräte und Transportmittel wie Autos. Ebenso wurde die Internierung eine wichtige Säule der Sicherheitspolitik. Am 30. Oktober 1939 waren bereits von insgesamt 7.254 Deutschen und Österreichern 244, am 9. November 288 und am Monatsende 343 festgesetzt worden, vor allem in Sydney, Melbourne, Brisbane und Adelaide. 66 von ihnen wurden aber bald wieder freigelassen.359 Damit hatte die Internierung nur 0,5 Prozent der 50.000 Ausländer erfasst, die zu dieser Zeit in Australien registriert waren. Im Allgemeinen verhafteten die Sicherheitsorgane der Armee, Luftwaffe und Marine sowie das CIB zunächst fast ausschließlich deutsche Nationalsozialisten und italienische Faschisten, deren Internierung wegen ihrer fragwürdigen Loyalität gegenüber Australien zumindest in vielen Fällen gerechtfertigt war. 357 So war im War Book festgelegt worden: „In any borderline cases the benefit of doubt is to be given to national interests rather than the individual.“ Zit. nach: Nagata, Internment, S. 58. 358 Hierzu und zum Folgenden: Kay Saunders, „Taken Awaytobe Shot? The Process of Incarceration in Australia in World War II“, in: ders. / Daniels (Hg.), Justice, S. 152–167, hier: S. 153 f., 156, 160; ders., ‚Inspired by Patriotic Hysteria?‘ Internment Policy towards Enemy Aliens in Australia during the Second World War, in: Panayi (Hg.), Minorities, S. 287–315, hier: 290–292, 309; ders., War, S. 11, 21, 25; R. J. B. Bosworth, The Internment of Italians in Australia, in: Iacovetta / Principe (Hg.), Enemies Within, S. 227–255, hier: S. 237 f.; Ilma Martinuzzi O’Brien, The Internment of Australian Born and Naturalised British Subjects of Italian Orgin, in: Richard Bosworth / Romano Ugolini (Hg.), War Internment and Mass Migration. The Italo-Australian Experience 1940–1990, Rom 1992, S. 89–104, hier: S. 89 f.; Bevege, Behind Barned Wire, S. 13, 19, 49–51; Nagata, Internment, S. 76; Voigt, Deutsche, S. 229; Neumann, Interest, S. 16. Angaben nach: Libby Connors u. a., Australia’s Frontline. Remembering the 1939–45 War, St. Lucia 1992, S. 90; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 36; Neumann, Interest, S. 10. 359 Angaben nach: NA, FO 369/2563, Bl. 11 f.; Nagata, Internment, S. 59.

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Außerdem wurden Verbände wie der „Bund des Deutschtums in Australien und Neuseeland“ (German Union in Australia and New Zealand), der 1933 gegründet worden war, aufgelöst. Der „Bund“, der offiziell unpolitisch war, aber der Auslandspolitik der NS-Führung folgte, hatte ab Februar 1934 in Sydney die Wochenzeitung „Die Brücke“ veröffentlicht, die ein radikales Konzept des „Deutschtums“ vertrat. Das Presseorgan lud die schon zuvor verbreitete Vorstellung einer kulturellen Überlegenheit rassistisch auf und suchte die DeutschAustralier für die nationalsozialistische Volkstumspolitik zu gewinnen. Nach dem Kriegsbeginn wurde „Die Brücke“ verboten, obgleich die rassistische Propaganda mit der White Australia Policy zumindest teilweise vereinbar war.360 Daneben wurden führende Mitglieder von Organisationen wie der Friends of the Third Reich, der Australia First Movement, der Italian Fascio und der British Racial Guild festgenommen, welche die Politik des „Dritten Reiches“ und des faschistischen Italiens unterstützten. Zwar waren im Dezember 1939 erst siebzig Sympathisanten des „Dritten Reiches“ in Gefängnisse eingeliefert worden. Jedoch überschätzten die Sicherheitsorgane – ebenso wie in Großbritannien – den Stellenwert einer bloßen Zugehörigkeit zur faschistischen bzw. nationalsozialistischen Partei, deren Auslandsorganisation auch in Australien oft wertvolle Kontakte und Arbeitsplätze vermittelte. Zudem erwies sich die Kategorie der „Illoyalität“ als so vage und dehnbar, dass Polizisten, die in den Einzelstaaten Verdächtige verhafteten und oft wenig qualifiziert waren, vielerorts wahllos Faschisten, Nationalsozialisten, Kommunisten, Sozialisten, Wehrdienstgegner und andere „Feinde“ festnahmen.361 Zwar war die Internierung überzeugter Anhänger des „Dritten Reiches“ und des Mussolini-Regimes keineswegs völlig unbegründet. Damit sollten Gefahren für die Sicherheit des Landes im Krieg gebannt werden, wie der Direktor für militärische Operationen und Überwachung (Director of Military Operations and Intelligence) noch am 10. Mai 1940 feststellte. Deutsche und italienische Clubs verbreiteten vor allem in den Großstädten Australiens die Ideologie des Nationalsozialismus bzw. des Faschismus. Besonders argwöhnisch beobachtete der CIB aber die Aktivitäten der NS-Auslandsorganisation, die unter den deutschstämmigen Einwohnern das Nationalbewusstsein und die Bindung an das „Dritte Reich“ stärken sollte. Dabei war der Rassismus, Antisemitismus, die Ableh360 Emily Turner-Graham, „Never forget that you are a German“. Die Brücke, „Deutschtum“ and National Socialism in Interwar Australia, Frankfurt/M. 2011, bes. S. 259 f., 263; John Perkins, The Swastika Down Under: Nazi Activities in Australia, 1933–39, in: Journal of Contemporary History 26 (1991), S. 111–129, hier: S. 124–126. 361 Hierzu und zum Folgenden: Donald Dignan, The Internment of Italians in Queensland, in: Bosworth / Ugolini (Hg.), Internment, S. 61–73, hier: S. 64; Saunders, War, S. 35 f., 40; Bosworth, Internment, S. 241; Martinuzzi O’Brien, Internment, S. 90.

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nung des Kommunismus und das Streben vieler Australier nach staatlicher Unabhängigkeit auszunutzen, um die Loyalität gegenüber Großbritannien zu schwächen. Nicht zuletzt traf der Arbeitsdienst, der im „Dritten Reich“ eingeführt worden war, unter Australiern, die über die verbreitete Beschäftigungslosigkeit besorgt waren, in der Mitte der 1930er Jahre durchaus auf Zustimmung. Lokale Stellen der Deutsche Arbeitsfront wurden deshalb in ganz Australien gegründet. Eine Schlüsselrolle in den Bemühungen, Anhänger des NS-Regimes zu gewinnen, nahmen auch Diplomaten des Auswärtigen Amtes ein, besonders der Generalkonsul Rudolf Asmis (1879–1945), den die deutsche Regierung 1932 nach Australien entsandt hatte. Nach der „Machtergreifung“ schloss er die „Reichsdeutschen“ in der German Union zusammen, und er sammelte auch darüber hinaus Anhänger des NS-Regimes, deren Zahl die australischen Sicherheitsbehörden im September 1939 mit 500 veranschlagten. Zu ihnen gehörten Cambell und seine Gefolgsleute in der New Guard ebenso wie der Schriftsteller Percy Stephensen (1901–1965), der 1936 die radikal nationalistische Zeitschrift The Publicist gründete. Jedoch blieb die offizielle Zuordnung der Sympathisanten zu den vier Kategorien („A“ bis „D“), in die andere enemy aliens einsortiert wurden, vielerorts unklar. Obgleich zunächst auch nur wenige der rund 73.000 Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und aus Österreich festgesetzt wurden, war die Internierung letztlich willkürlich und einschneidend, denn sie vollzog sich ohne Anklage, öffentliche Anhörung und Befristung. Zudem wurden Feindstaatenangehörige – darunter auch Eingebürgerte – oft lediglich auf der Grundlage von Gerüchten oder anonymen Berichten in Lager eingewiesen. Ausgenommen von der Internierung blieben allerdings Frauen und Kinder, von einzelnen Ausnahmen abgesehen.362 Obwohl die Konkurrenz der verschiedenen Sicherheitsbehörden in den ersten Kriegsmonaten erhebliche Reibungsverluste mit sich brachte, bevor dem Heeresminister im April 1941 die zentrale Befehlsgewalt übertragen wurde, war der National Security Act wegen der gravierenden Einschränkung grundlegender Freiheitsrechte schon 1939/40 umstritten. Besonders entschieden wandten sich Bürgerrechtsorganisationen gegen die Bestimmungen des Gesetzes. So kritisierten führende Vertreter des Australian Council of Civil Liberties wie Frank Brennan (1873–1950) und Maurice Blackburn (1880–1944) den National Security Act. Angesichts der Erfahrung der Internierungspraxis im Ersten Weltkrieg akzeptierten sie zwar Menzies’ Zusicherung, individuelle Freiheitsrechte möglichst wenig einzuschränken. Sie wandten sich aber scharf gegen einen Artikel des National Security Act, der den Ministerien das Recht verlieh, vom Parlament 362 Perkins, Swastika, S. 111–113; Bosworth, Internment, S. 237 f.; Saunders, War, S. 36, 40 (Angabe).

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verabschiedete Gesetze außer Kraft zu setzen. Zudem lehnten sie eine Ermächtigung der Richter ab, „politische“ Verfahren ohne Beteiligung der Öffentlichkeit durchzuführen. Darüber hinaus konnte die Polizei Verdächtige zehn Tage ohne Anklage inhaftieren. Aus der Sicht der liberalen Kritiker erlaubten diese Bestimmungen der Exekutive, die individuelle Freiheit im Namen der „nationalen Sicherheit“ zu unterdrücken und Bürgerrechte unnötig einzuschränken. Der Bürgermeister der Stadt Fremantle im Westen Australiens, Frank Gibson (1878– 1965), warnte davor, allen zivilen Feindstaatenangehörigen pauschal Verrat zu unterstellen. Auch einige unbekannte Australier traten für die enemy aliens ein, während Politiker in den Staaten Queensland und New South Wales im Nordosten bzw. Südosten Australiens ebenso wie Ortsräte, lokale Honoratioren und viele Bürgerinnen und Bürger besonders im Juni 1940 und Anfang 1942 nachdrücklich die Internierung aller Feindstaatenangehörigen verlangten.363 Die Einwände veranlassten die Regierung zwar schon 1939, beratende Gremien (Advisory Committees) einzurichten, die unter dem Vorsitz eines Richters Beschwerden britischer Staatsbürger aufnahmen. Obwohl die Kritik nach dem Kriegseintritt Italiens und dem Angriff japanischer Flugzeuge auf Pearl Harbor und die Stadt Darwin im Norden Australiens zumindest vorübergehend verstummte, wurden 1941 Sondergerichte (Aliens Tribunals) etabliert, die Entlassungen aus der Internierung empfehlen konnten, aber nur für Personen, welche die öffentliche Sicherheit und die Kriegführung Australiens nicht gefährdeten. Das Kriegsministerium (Department of the Army) wies die Gerichte auch dazu an, im Zweifel zugunsten der „national interests“ zu entscheiden. Dagegen setzten sich Diplomaten der Schweiz, die als Schutzmacht fungierte, für internierte Deutsche und Italiener ein. Jedoch vertrat die Eidgenossenschaft das NS-Regime und die faschistische Diktatur Italiens, die von vielen Internierten aber abgelehnt wurden. Vor allem für diese Gruppe ernannte die Regierung offizielle Besucher (Official Visitors), die uneingeschränkten Zugang zu den Lagern hatten, diese regelmäßig inspizierten und den Militärbehörden konkrete Verbesserungen empfahlen. Damit sollte das Leben der Gefangenen erleichtert werden. Allerdings bewirkte bis 1942 eine Folge militärischer Niederlagen eine Ausweitung der Repression von Feindstaatenangehörigen.364 Angesichts der überraschend schnellen Eroberung Frankreichs verbreiteten sich – ausgehend von Großbritannien – auch in Australien Gerüchte über Spione und Saboteure. Sogar Flüchtlinge wurden des Verrats verdächtigt. Die Regierung war um die Sicherheit Australiens besorgt und wies führende Militärs am 363 Bevege, Behind Barbed Wire, S. 26 f.; Neumann, Interest, S. 11, 17; Bosworth, Internment, S. 239, 245. 364 Zitat: Neumann, Interest, S. 17.

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25. Mai an, die Internierung verdächtiger Deutscher und (für den Fall einer Kriegserklärung Mussolinis) die Festnahme der in Australien lebenden Italienischstämmigen vorzubereiten. Am 31. Mai erließ das Verteidigungsministerium, das in Australien bis 1942 für die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger zuständig war, eine neue Verordnung, die das Vorgehen gegen alle enemy aliens verschärfte. Diese Instruction 13 wiederholte zwar die Leitlinie, dass eine Verhaftung von Angehörigen dieser Gruppe nur erfolgen sollte, wenn eine Überwachung dieser Gruppe nicht ausreichte. Allerdings wies das Verteidigungsministerium die Polizeibehörden an, Verdächtige im Zweifel zu internieren. Daraufhin wurden am 6. Juni im Osten Australiens, wo sich die strategisch wichtigen Häfen befanden, Hunderte Deutsche verhaftet. Auch in den nördlichen Territorien und auf Neuguinea, dessen östliches Territorium Australien 1920 als Mandatsgebiet des Völkerbundes erhalten hatte, führte die Angst vor einer „fünften Kolonne“ von Spionen und Verrätern zur Festnahme nahezu aller Deutschen. Nun wurden auch Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ und Deutsche überprüft, deren Angehörige noch ihrem Heimatland lebten. Damit sollte eine Erpressung deutscher Immigranten durch nationalsozialistische Funktionäre in Australien verhindert werden. Auch folgte das Verteidigungsministerium der Empfehlung des War Book, den eingewanderten Verfolgten die Beweislast für ihre Loyalität aufzuerlegen.365 Nach der Kriegserklärung Italiens an Großbritannien am 10. Juni 1940 und der Kapitulation Frankreichs zwölf Tage später betrachtete die Regierung Australiens alle zivilen Feindstaatenangehörigen als Sicherheitsrisiko. Dazu zählten auch Flüchtlinge und Gegner der deutschen Nationalsozialisten und italienischen Faschisten. In den darauffolgenden Monaten wurden 4.721 der 45.000 Italiener (von denen zwei Drittel Männer waren) festgenommen und interniert. Schon bis Mitte August 1940 verhaftete die Polizei 1.901 italienischstämmige Australier. Mit zwölf bis 15 Prozent wurde zwar nur ein kleiner Anteil der italienischen Bevölkerung erfasst. Allerdings war ein Fünftel dieser Internierten in Australien geboren oder eingebürgert worden. Einige Provinzen waren besonders betroffen. So entfielen auf Westaustralien, wo der Abbau von Gold konzentriert war, mit 1.044 Internierten mehr als die Hälfte der festgesetzten Italiener. Hier verhafteten die Sicherheitsbehörden viele Immigranten, um eine Wiederholung von Auseinandersetzungen zu verhindern, die den Staat 1919 und 1934 erschüttert hatten. Weitere regionale Schwerpunkte der Internierung waren New South Wales und in Queensland, wo zahlreiche Italiener auf Zuckerrohrplantagen arbeiteten. Im letzteren Bundesstaat betraf die Internierung 1.631 von 365 Saunders, ‚Inspired by Patriotic Hysteria?‘, S. 292; Bartrop, „Authority can take no risks“, S. 134 f.; Bosworth, Internment, S. 238 f.; Nagata, Internment, S. 59.

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insgesamt 2.764 italienischen Staatsbürgern und 666 von 5.559 eingebürgerten Italienern. Der Premierminister von New South Wales, Alex Mair (1889–1969), verlangte sogar, alle Italiener in seinem Staat zu internieren, konnte diese Forderung aber nicht durchsetzen. Demgegenüber wurden in Victoria nur relativ wenige italienische Einwanderer interniert. Offenbar waren für die regionalen Unterschiede differente Gefahrenwahrnehmungen und Sicherheitsverständnisse der jeweiligen Polizei- und Militärkommandeure ausschlaggebend. Japanische Konsuln, die bis Dezember 1941 die Interessen italienischer Staatsbürger wahrnahmen, konnten in den Lagern wiederholt Erleichterungen erreichen. Außerdem etablierte die Regierung im November 1940 ein Sondergericht, an das Internierte appellieren konnten. Insgesamt wurden im Oktober 1940 2.159 internierte enemy aliens (davon 951 aus Westaustralien) registriert. Darüber hinaus befanden sich in den Lagern aber auch 17 Angehörige der alliierten Staaten und 211 eingebürgerte Briten. Im November waren 2.387 von insgesamt 22.314 enemy aliens in Lager eingewiesen worden, davon 1726 Italiener und 661 Deutsche.366 Ebenso einschneidend wie die staatliche Politik war die fremdenfeindliche, populistische Mobilisierung gegen die Italiener, die vor allem im Sommer 1940 weithin als „fünfte Kolonne“ Mussolinis verteufelt wurden. Vielerorts denunzierten Australier Nachbarn, auch um alte Rechnungen zu begleichen oder unerwünschte wirtschaftliche Konkurrenz auszuschalten. Italiener mussten Entlassungen und Angriffe auf ihre Läden hinnehmen. Zudem versuchten aufgebrachte Mitbürger, sie aus ihren Häusern zu entfernen. Außer Neid waren für diese Übergriffe langfristig angelegte fremdenfeindliche Ressentiments und die Anfang 1942 gipfelnde Angst vor einer japanischen Invasion maßgeblich. Vor diesem Hintergrund erwarteten große Bevölkerungsgruppen besonders 1942/43 von der Polizei, diese „inneren Feinde“ kompromisslos zu bekämpfen. Recht und Gerechtigkeit wurden damit zu Kategorien, die letztlich aus der Kriegslage abgeleitet wurden, wie der Polizeikommandeur in Queensland im März 1941 betonte. Angesichts der Bedrohung durch Japan schlug er 1942 sogar vor, alle Bewohner des Bundesstaates 100 Meilen von den Küsten entfernt in das Binnenland zu deportieren.367

366 Angaben nach: Dignan, Internment, S. 63; Bevege, Behind Barbed Wire, S. 59, 65; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 36; ders., War, S 42; Bosworth, Internment, S. 228 f., 239. Andere Zahlen in: Nagata, Internment, S. 60. Vgl. auch Gianfranco Cresciani, The Bogey of the Italian Fifth Column: Internment and the Making of Italo-Australia, in: Bosworth / Ugoloni (Hg.), Internment, S. 11–32, hier: S. 20; Bartrop, „Authority can take no risks“, S. 136; Martinuzzi O’Brien, Internment, S. 92, 97, 99, 102, 104. 367 Bosworth, Internment, S. 238; Cresciani, Bogey, S. 11–13, 20, 22–26; Dignan, Internment, S. 61, 73; Martinuzzi O’Brien, Internment, S. 92, 97, 99, 102, 104.

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Darüber hinaus nahm Australiens Regierung im Sommer 1940 rund 4.000 Zivilinternierte (neben 2.000 Kriegsgefangenen) aus Großbritannien auf. In London war zunächst geplant worden, lediglich besonders gefährliche Faschisten und Kriegsgefangene nach Übersee zu deportieren. Um aber die vereinbarten Quoten auszuschöpfen, transportierte die Regierung auch zivile Feindstaatenangehörige, welche die Tribunale im Frühjahr 1940 in die Kategorien „B“ und „C“ einordnet hatten, nach Australien. Dabei wurden die Passagiere der Dunera im Juli 1940 von Besatzungsmitgliedern ausgeplündert und Opfer gewaltsamer Übergriffe. In Australien brachten die Behörden die Deportierten in das Camp Tatura (rund 250 Kilometer nördlich von Melbourne). Andere enemy aliens, die aus Großbritannien nach Australien transportiert worden waren, verteilten die Behörden auf Lager in der Wüste um Hay (New South Wales). Hier war das Klima rau und die Umgebung baumlos und trocken. Allerdings gelang den Insassen schnell der Aufbau einer Lagerselbstverwaltung, die verschiedene Aktivitäten ermöglichte. Zudem konnten die Deportierten ab Anfang 1941 nach Großbritannien zurückreisen, weil Menzies sich weigerte, die Internierten in Australien freizulassen. Da Schiffstransporte aber schwierig waren, befand sich am Jahresende die Mehrheit der Internierten, die nach Australien gebracht worden waren, weiterhin in den Lagern. Im August 1942 belief sich die Zahl der italienischen Zivilgefangenen noch auf 175. Letztlich blieben von allen Internierten 915 Männer nach dem Kriegsende in Australien.368 Ab Oktober 1939 waren auch Deutsche aus dem Norden Neuguineas abtransportiert worden. Das Gebiet war 1885 als „Schutzgebiet“ dem Deutschen Kaiserreich zugesprochen, aber schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges von australischen Streitkräften erobert worden. 1921 hatte Australien im Auftrag des Völkerbundes das Mandat über das Territorium übernommen. Jedoch ermunterte die aggressive Revisionspolitik des NS-Regimes einige auf Neuguinea verbliebene Deutsche zu einer aktiven „Deutschtumspolitik“, die der Generalkonsul Rudolf Asmis zwar ablehnte, sein Stellvertreter Walter Hellenthal (1896–1969) aber aktiv betrieb. 1936 gründete er auf Neuguinea drei Ortsgruppen der NSDAP. Die Nationalsozialisten gewannen auch einige Angehörige der lutherischen Neuendettelsauer Mission, die 1936 den fünfzigsten Jahrestag ihrer Aktivität auf Neuguinea feierte. Nachrichten über die Unterwanderung der Mission durch Nationalsozialisten lösten in den australischen Polizeibehörden und im

368 Angaben nach: NA, FO 916/293 (Brief des Innenministeriums an den Staatssekretär im Außenministerium vom 2. September 1942); Bevege, Behind Barbed Wire, S. 58. Andere Angabe in: Saunders, ‚Inspired by Patriotic Hysteria?‘, S. 304. Vgl. auch Bartrop, „Authority can take no risks“, S. 136; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 80–95; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 81 f., 86

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Geheimdienst erhebliche Sicherheitsängste aus. Die Mitglieder des NSDAPStützpunktes Finschhafen, welche die Inselverwaltung zuvor verzeichnet hatte, und ihre Anhänger wurden deshalb schon im September 1939 festgenommen und interniert. Darunter waren auch der Gründer der Neuendettelsauer Mission, Johannes Flierl (1858–1947), und Pastor Friedrich Otto Theile (1880–1945), die zwischen der Loyalität zu Australien und Annährungen an die Nationalsozialisten geschwankt hatten.369 Die Behörden brachten die Verhafteten zunächst provisorisch in Dhurringile, Victoria, unter und teilten sie 1940 auf Internierungslager in Tatura im Nordosten des Bundesstaates auf. Unter dem Einfluss des NS-Regimes drängten Beobachter aus der Schweiz, die Schutzmacht der Deutschen war, die Regierung Australiens erfolgreich, „Reichstreue“ (d. h. politisch Loyale) hier geschlossen zu internieren. Damit konzentrierten sich in den Lagern Tatura 1 und 3 Nationalsozialisten und deren Anhänger. Sie weigerten sich, das Angebot anzunehmen, im Civil Alien Corps für Australien zu arbeiten und damit die Freiheit zu erlangen. „Lagerführer“ denunzierten sogar nicht „reichstreue“ Deutsche über die Schweiz gegenüber den Behörden im „Dritten Reich“. Bis 1944 brachen die australischen Militärs die Dominanz von Nationalsozialisten in dem Lager nicht. Erst 1945 wurden Symbole und Embleme des NS-Regimes strikt untersagt und das Verbot auch kontrolliert.370 Einen weiteren Höhepunkt erreichte die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger in Australien nach dem Überfall Japans auf Pearl Harbor, der Einnahme Singapurs durch Truppen des ostasiatischen Kaiserreichs und der Versenkung des australischen Kreuzers Perth. Zudem eroberte Japan im März 1942 den Norden Neuguineas. Auch mit der Kapitulation alliierter Truppen auf Java und der dadurch ausgelösten Flüchtlingswelle war das Kriegsgeschehen nahe an das Festland herangerückt. Ebenso schien die Bombardierung Darwins (Februar / März 1942) zu belegen, dass die Sicherheit Australiens akut gefährdet war.371 Als eine Invasion Australiens von Februar bis Mai 1942 bevorzustehen schien, wuchs in der Kriegsgemeinschaft der Hass auf die Gegner, so dass Re369 Christine Winter, The NSDAP Stronghold Finschhafen, New Guinea, in: Emily Turner-Graham / Christine Winter (Hg.), National Socialism in Oceania. A Critical Evaluation of its Effect and Aftermath, Frankfurt/M. 2010, S. 31–47, bes. S. 35, 41–43, 46. 370 Christine Winter, The Long Arm of the Third Reich: Internment of New Guinea Germans in Tatura, in: Journal of Pacific History 38 (2003), Nr. 1, S. 85–108, bes. S. 85–89, 99 f., 102 f.; dies., NSDAP Stronghold, S. 46 f. 371 Hierzu und zum Folgenden: Saunders, ‚Inspired by Patriotic Hysteria?‘, S. 287; ders., ‚The stranger in our gates‘, S. 37; ders., War, S. 50 f.; Bartrop, „Authority can take no risks“, S. 139; Neumann, Interest, S. 13.

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gierungsstellen mit Telegrammen und Briefen überschwemmt wurden, deren Absender verlangten, alle zivilen Feindstaatenangehörigen zu internieren. Berufsverbände wie die Diggers Associations und Gewerkschaften versuchten, die Gelegenheit zu nutzen, sich lästiger Konkurrenz zu entledigen. Auch nationalistische Organisationen wie der National Council of Women und Veteranenvereine – so die Returned Sailors, Soldiers and Airmen’s Imperial League – forderten im Namen der „nationalen Sicherheit“ die Festnahme sämtlicher enemy aliens, deren Zahl sich nach der amtlichen Registrierung Ende 1941 auf 22.314 belief. Dabei beriefen sie sich auf den Vorrang der Sicherheit in der extremen Bedrohungslage. So betonte der Ortsverband der Imperial League in der Stadt Ballina (New South Wales) in einer Eingabe an den Premierminister vom 7. März 1942, dass die ausnahmslose Internierung der Feindstaatenangehörigen zu einem „feeling of greater security“ führen würde.372 Damit traten sie für eine repressive Politik ein, die über die Maßnahmen nach dem Überfall auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 hinausgehen sollte. Da das Kriegskabinett die Internierung der Japaner schon seit Mai 1941 geplant und vorbereitet hatte, verhafteten Polizisten die meisten Männer japanischer Herkunft bereits am 8. Dezember. Von den 1.139 aus Japan stammenden Bürgern, die der militärische Geheimdienst am 28. Juli 1941 registriert hatte, wurden in Australien 97 Prozent interniert. Demgegenüber belief sich der Anteil der Italiener und Deutschen, die gleichfalls nach dem Angriff Japans verstärkt verhaftet wurden, lediglich auf 31 bzw. 32 Prozent. Am 28. März 1942 waren zudem 78 japanische Frauen interniert worden, aber nur drei deutsche und vier italienische. Insgesamt wurden im Zweiten Weltkrieg auch hundert Nisei, die als Kinder japanischer Eltern in Australien geboren waren, in Lager eingewiesen. Für Feindstaatenangehörige, die im Raum Sydney wohnten, stand ein Camp in Liverpool (New South Wales) zur Verfügung. Enemy aliens aus Melbourne wurden in das Lager Tatura gebracht. Hier litten im Februar 1942 außer Japanern vor allem Deutsche, die in Australien gelebt hatten oder aus Großbritannien deportiert worden waren. Weitere deutsche Insassen und Italiener kamen aus Palästina, dem Iran und Britisch-Malaya nach Tatura, wo sie nach dem Bericht eines Inspekteurs des IKRK unter befriedigenden Verhältnissen lebten. Es fehlten aber vor allem Arbeitsschuhe. Auch auf Thursday Island (im Nordwesten Queensland) waren 359 Japaner interniert. Offenbar betrachtete die Regierung aus Japan Stammende als besonders gefährlich, weil sie z. T. zwar den – intensiv beobachteten – nationalen Gesellschaften angehörten, nicht aber Parteien. Auch war die Bedrohung durch Japan in Australien deutlicher massiver und

372 Zitat: Nagata, Internment, S. 111. Angabe nach: Saunders, Enemies of the Empire?, S. 57.

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geographisch näher als die Gefahr, die von den Angriffskriegen Deutschlands und Italiens ausging.373 Um die Kontrolle über „innere Feinde“ zu sichern, stärkte die Regierung die Sicherheitsorgane. Ab März 1942 leitete den Geheimdienst ein Generaldirektor. Darüber hinaus wurden stellvertretende Direktoren ernannt, die jeweils für die Sicherheit in den einzelnen Bundesstaaten zuständig waren. In den bedrohten Gebieten Australiens nahm der CIB außer den Feindstaatenangehörigen besonders Ureinwohner (Aborigines) als Sicherheitsgefahr wahr. Weibliche Aborigines, die mit Japanern verheiratet waren, galten als besonders bedrohlich. Dies traf für fünf von 29 Familien zu, welche die Polizei in Australien verhafteten. Die Frauen waren keine britischen Bürgerinnen, so dass sie gegenüber den weißen Ehefrauen internierter Japaner diskriminiert wurden.374 Auch beschloss die Regierung, jeweils 34 Japaner von Neuguinea und den Neuen Hebriden nach Australien zu bringen. Hier wurden sie nach quälenden Schiffstransfers Anfang 1942 ebenso interniert wie 1.124 Japaner, die mit zwei Dampfern aus Neukaledonien evakuiert worden waren. Nicht zuletzt hatte das Kriegskabinett schon im Dezember 1941 entschieden, japanische Internierte aus Niederländisch-Ostindien zu übernehmen, nachdem die niederländische Regierung zugesagt hatte, die Kosten für den Transport und die Unterbringung der Verhafteten zu übernehmen. Daraufhin trafen im Januar und Februar 1942 1.949 dieser enemy aliens in Australien ein. Rund ein Drittel waren Koreaner und Taiwanesen, die irrtümlich verhaftet worden waren, vorrangig in Surabaya (Java) und auf der Insel Sulawesi (früher Celebes). Nicht zuletzt wurden fünfzig Japaner, die im britischen Protektorat Tonga festgenommen worden waren, von Neuseeland nach Australien deportiert.375 Alle diese enemy aliens wurden unabhängig von ihrem Alter, ihrer Staatsbürgerschaft und politischen Überzeugungen interniert. Insgesamt waren von dieser Zwangsmaßnahme 1.141 Personen japanischer Nationalität oder Herkunft betroffen. Sie stellten damit rund 13 Prozent aller Internierten. Weitere 3.160 Bürger japanischer Herkunft wurden in den überseeischen Territorien Australiens aufgegriffen. Den Umgang mit den Japanern prägte der Rassismus, der sich auf dem fünften Kontinent im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte. So weigerte sich die australische Regierung, „gemischtrassische“ Frauen und Kinder aufzunehmen, die vor den Japanern aus Niederländisch-Ostindien geflohen waren.

373 Angaben nach: Nagata, Internment, S. 63, 70, 83, 76, 89. Zu Tatura der Bericht vom „Groupe des camps d’internés civils de Tatura“, in: NA, HO 215/111. 374 Nagata, Internment, S. 74 (Angaben), 112 f., 116. 375 Angaben nach: ebd., S. 74, 100–102, 105, 110.

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Darüber hinaus lebten in Australien 4.754 Italiener und 2.013 Deutsche in Lagern. Die Sicherheitsbehörden verhafteten aber auch andere Staatsangehörige wie Finnen, Russen, Ungarn, Griechen, Spanier, Portugiesen und Chinesen. Alles in allem erfasste die Internierung 27 ethnische oder nationale Gruppen.376 Darüber hinaus kündigten Premierminister John Curtin (1885–1945, Labour Party), der am 7. Oktober 1941 Menzies nachgefolgt war, und Kriegsminister Frank Forde (1890–1983) am 26. März 1942 an, zwanzig Mitglieder oder Anhänger der Australia-First-Bewegung zu verhaften, denen sie die Vorbereitung einer Kooperation mit japanischen Invasionstruppen vorwarfen. Sukzessive gaben die australischen Sicherheitsorgane nicht nur die gemäßigte Politik auf, die das War Book zuvor festgelegt hatte. Vielmehr widersprach die repressive Internierung der offiziellen Rhetorik des Freiheitskampfes, wie Brennan Anfang 1942 dem Generalstaatsanwalt William Morris Hughes vorwarf. So verhaftete und internierte die Polizei 47 australische Dissidenten. Darunter befanden sich allerdings auch zahlreiche offene Anhänger des faschistischen Italiens und des nationalsozialistischen Deutschlands. Sie hatten sich außer den Friends of the Third Reich in der – zunächst weniger verdächtigen – Australia First Movement gesammelt, die im Herbst 1941 offiziell gebildet wurde. Auf der Grundlage des „Fünfzig-Punkte-Programms“, das schon im April 1940 veröffentlicht worden war, wandte sich die Bewegung gegen die Bindung an das Vereinigte Königreich im Rahmen des Empire. Demgegenüber propagierte sie einen Nationalismus, der sich ausschließlich auf Australien bezog. Die Australia First Movement agitierte deshalb gegen die Kriegsbeteiligung des Landes im Bündnis mit Großbritannien. Auch war sie illiberal und scharf antikommunistisch, obwohl ihre führenden Funktionäre – darunter der Gewerkschaftsaktivist Leslie Cahill – zuvor der Communist Party of Australia angehört hatten. Vor allem Stephensen forderte darüber hinaus die Ausweisung der Juden. Ebenso wie die Mitstreiter hofften er und Cahill, dass aus dem Zweiten Weltkrieg eine neue Ordnung mit einem unabhängigen Australien hervorgehen würde. Als japanische Truppen im März 1942 mit der Landung in Neuguinea auch Australien bedrohten, stufte der CIB die Australia First Movement als Sicherheitsrisiko ein. Daraufhin wurden in den beiden Zentren der Bewegung – Sydney und Perth – zwanzig führende Mitglieder verhaftet und in den Lagern Tatura und Loveday (nahe Barmera in Süd-

376 Angaben nach: Libby Connors u. a., Australia’s Frontline. Remembering the 1939–45 War, St. Lucia 1992, S. 90; Greg Robinson, A Tragedy of Democracy. Japanese Confinement in North America, New York 2009, S. 67; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 36 f.; Nagata, Internment, S. 119. Vgl. auch Bernice Archer, The Internment of Western Civilians under the Japanese 1941–1945. A Patchwork of Internment, London 2004, S. 221; Neumann, Interest, S. 7; Ugolini, Experiencing War, S. 102; Bosworth, Internment, S. 231.

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australien) interniert, überwiegend bis 1944. Zudem verbot die Regierung im März 1942 The Publicist.377 Für die Internierungspolitik Menzies und seines Außenministers Herbert V. Evatt (1894–1965) gegenüber den enemy aliens waren deren Wohnort und ethnische Zugehörigkeit wichtiger als ihre politischen Überzeugungen. Zudem bestimmte letztlich die militärische Lage, nicht aber eine sorgfältige Einzelfallprüfung die Festnahme ziviler Feindstaatenangehöriger. So betraf die Internierung 1940 und 1942 deutsch- und italienischstämmige, aber auch eingebürgerte Frauen, die oft ihre Kinder mit in das Lager nehmen mussten, um sie zu ernähren. Mitte 1942, als das Justizministerium von der Armee die Verantwortung für die Internierung übernahm, befanden sich noch 5.643 Personen in Lagern. Den Höhepunkt erreichte die Internierung im September 1941, als sich 1.029 Deutsche, 3.651 Italiener und 1.036 Japaner hinter Stacheldraht befanden. Diese Zahlen gingen schon bis Ende 1942 auf rund 1.000 zurück, weil sich viele zivile Feindstaatenangehörige freiwillig zum Einsatz in Arbeitsbataillonen (labour battalions) meldeten, die Australiens Kriegsanstrengungen unterstützten. Auch mit dem Dienst in der Armee, in der im Zweiten Weltkrieg rund 3.000 Ausländer dienten, konnten zivile Feindstaatenangehörige ihre Loyalität gegenüber Australien beweisen. Für das Land kämpften 630 frühere Internierte, darunter 390 Deutsche. Vor allem nach der Kriegswende 1942/43 wurden enemy aliens – besonders Italiener – auch zusehends ohne weitere Verpflichtung aus den Lagern entlassen. Insgesamt waren in Australien während des Zweiten Weltkrieges 7.780 Feindstaatenangehörige wegen des Verdachts der „Illoyalität“ interniert worden, obwohl die Sicherheitsbehörden keinem von ihnen Verrat, Sabotage und Aufwiegelung nachweisen konnten.378 Jedoch hatten viele Australier Nachbarn denunziert, auch eingebürgerte enemy aliens. Die Behörden nahmen besonders Italiener oft mit haltlosen Begründungen fest. Der Verdacht richtete sich vorrangig gegen die Mitglieder des German Club, deutsche Kulturvereinigungen, Pastoren und Personen, die 1938 377 David S. Bird, Nazi Dreamtime. Australian Enthusiasts for Hitler’s Germany, North Melbourne 2012, S. 225–247, 340–344; Bevege, Behind Barbed Wire, S. 151–176; Saunders, Enemies of the Empire?, S. 63, 67; ders., ‚Inspired by Patriotic Hysteria?‘, S. 306; ders., S. 41 f.; Martinuzzi O’Brien, Internment, S. 102; Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 431. Angabe nach: Georgina Fitzpatrick, ‚A fellow of slogans and attitudes‘: Leslie Cahill, National Socialism and the Australia First Movement, in: Turner-Graham / Winter (Hg.), National Socialism, S. 115 (Anm. 2). 378 Angaben nach: Kay Saunders, A Difficult Reconciliation: Civil Liberties and Internment Policy in Australia during World War Two, in: ders. / Daniels (Hg.), Justice, S. 114–137, hier: S. 118, 124; ders., ‚Inspired by Patriotic Hysteria?‘, S. 307; ders., War, S. 51; Bartrop, „Authority can take no risks“, S. 140; Nagata, Internment, S. 82. Vgl. auch Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 432.

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am Empfang des – als Agent des „Dritten Reiches“ beargwöhnten – Seefahrers Graf Felix von Luckner teilgenommen hatten. Aber auch eine deutschstämmige Geflügelzüchterin meldeten ihre Nachbarn, da ihr unterstellt wurden, ihre 800 weißen Hühner als Signal für feindliche Flugzeuge zu nutzen. Einige Internierte gehörten sogar neutralen Staaten an. Juden und Anhänger der Nationalsozialisten wurden ebenso wie in Großbritannien in den Lagern oft zusammen untergebracht. Die National Security (Aliens Control) Regulations erfassten schließlich auch britische Staatsbürger, die der Sympathie mit den Mächten des 1940 geschlossenen Dreibundes zwischen dem „Dritten Reich“, dem faschistischen Italien und Japans Militärregime bezichtigt wurden. So trafen die Verhaftungen Mitglieder der isolationistischen Bewegung Australia First ebenso wie Kommunisten und Mitglieder der „Zeugen Jehovas“, die den Wehrdienst ablehnten.379 Im Gegensatz zum ersten globalen Konflikt richtete sich die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger in Australien im Zweiten Weltkrieg aber vorrangig gegen die Japaner, deren Frauen ebenfalls festgesetzt wurden. Nachdem das Kriegskabinett bereits im Mai 1941 beschlossen hatte, beim Ausbruch eines Krieges mit dem Inselreich alle japanischen Männer im Alter von über 16 Jahren (mit Ausnahme des diplomatischen Personals) festzunehmen, steigerten der überraschende Überfall auf Pearl Harbor und der unerwartet schnelle Vorstoß der japanischen Streitkräfte in den pazifischen Raum Fremdenfeindlichkeit Invasionsfurcht. Vor diesem Hintergrund vollzog sich Ende 1941 und Anfang 1942 in Australien eine Masseninternierung von Japanern. Ihre Ehefrauen konnten die britische Staatsbürgerschaft, die sie vor der Repressionspolitik bewahrte, nur erhalten, wenn sie der „White European race“ angehörten. Der Rassismus führte auch dazu, dass japanische Internierte langsamer entlassen wurden als europäische. Zudem war die Internierung in Australien während des Zweiten Weltkriegs politisch noch aufgeladener als in den Jahren von 1914 bis 1918, da viele Nationalsozialisten festgenommen wurden. Die Behörden trennten sie in den Lagern aber keineswegs durchweg von ihren gleichfalls internierten Gegnern, darunter auch jüdischen Flüchtlingen, die z. T. gleichfalls verhaftet wurden. Letztlich rechtfertigte das Ziel, Australiens Sicherheit gegenüber den gegnerischen Mächten (vor allem Japan) zu gewährleisten, die Unterdrückung von Minderheiten, die psychisch belastend war und vielfach auch zum wirtschaftlichen Ruin der Betroffenen führte. Alles in allem wurde der Zielkonflikt zwischen Freiheitsrechten und dem 1942/43 Gebot der „nationalen Sicherheit“ erneut zugunsten der Letzteren entschieden. Wie dargelegt, konnten Nationalso379 Vgl. Saunders, „Taken Away to be Shot?“, S. 156; ders., Enemies of the Empire?, S. 53 f., 61–63, 68; ders., War, S. 40 f.; Connors u. a., Frontline, S. 91, 96, 105, 108; Martinuzzi O’Brien, Internment, S. 100; Neumann, Interest, S. 13

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zialisten in einzelnen Lagern sogar erheblichen Einfluss gewinnen. Auch vollzog sich keine rigorose Entnazifizierung, denn die Regierung förderte nach dem Kriegsende die Immigration, so dass die ehemaligen internierten Deutschen umworben wurden.380 Insgesamt ist die Kontinuität einer restriktiven Internierungspolitik in Australien in den beiden Weltkriegen offenkundig. Obwohl die Regierung nach den Erfahrungen der Jahre 1914 bis 1918 im Herbst 1939 entschlossen war, eine repressive Politik zu vermeiden, büßten vor allem 1940 und 1942 viele Feindstaatenangehörige, aber auch eingebürgerte Australier grundlegende Freiheits- und Bürgerrechte ein. So wurden alles in allem 98 Prozent der Japaner, 32 Prozent der Deutschen und 31 Prozent der Italiener interniert. Die Behörden wiesen auch 24 Prozent der Rumänen, aber nur sechs Prozent der Österreicher in Lager ein. Ebenso wie im Ersten Weltkrieg wurde die Internierung von einer populistischen fremdenfeindlichen Kampagne unterstützt, die auch Neid, wirtschaftliche Konkurrenz, Antisemitismus und Gerüchte über Spionage beeinflussten. Proteste humanitärer und kirchlicher Organisationen – so der United Evangelical Lutheran Church of Australia – konnten die Übergriffe gegen (eingebürgerte) Feindstaatenangehörige letztlich nicht verhindern.381 Andererseits musste die Regierung humanitäre Gesichtspunkte umfassender berücksichtigen als noch im Ersten Weltkrieg. Im Gegensatz zu den Jahren von 1914 bis 1918 konzentrierten sich die restriktiven Maßnahmen, zu denen auch eine Registrierungspflicht und eine Einschränkung der Mobilität gehörten, auf den Norden und Nordosten Australiens, da diese Landesteile von japanischen Truppen bedroht waren. So verabschiedete das Parlament im nordöstlichen Staat Queensland im November 1940 den Public Safety Act, den es fünf Tage nach dem japanischen Überfall auf Pearl Habor am 12. Dezember 1941 in Kraft setzte. Das Gesetz ermächtigte die Polizei des Bundesstaates, Verdächtige ohne Anklage zu verhaften. Ansonsten sammelten Polizisten in Queensland Informationen über Personen. Dabei interpretierte der Polizeichef des Bundeslandes die Bestimmungen der Ausnahmegesetze und die Kategorie des enemy alien so weit, dass viele Feindstaatenangehörige überwacht und verhaftet wurden. So kamen in der ersten Hälfte des Jahres, als sich die Zahl der Internierten verdoppelte, neunzig Prozent aus Queensland. Damit konnten auch die Funktionseliten im staatlichen Sicherheitsapparat in dem Bundesstaat ihre Kompetenzen 380 Yuriko Nagata, „A Little Colony on Our Own“: Australia’s Camps in World War II, in: Saunders / Daniels (Hg.), Justice, S. 185–204, hier: S. 189 f.; Saunders, „Taken Away to be Shot?“, S. 163; ders., Enemies of the Empire?, S. 68; ders., ‚Inspired by Patriotic Hysteria?‘, S. 301, 305; ders., ‚The stranger in our gates‘, S. 38; Connors u. a., Frontline, S. 115 f. 381 Angaben nach: Bevege, Behind Barbed Wire, S. 232. Vgl. auch Saunders, ‚Inspired by Patriotic Hysteria?‘, S. 294, 314.

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und Macht so erheblich erweitern, dass Konflikte mit der Zentralregierung nicht ausblieben.382 Die gestärkte Exekutive ging noch im Zweiten Weltkrieg auch gegen Kriegsgegner, Streikende und Personen vor, deren Sexualleben von der Norm abwich. Die Proteste von Arbeitern, Gewerkschaften und dem Australian Council for Civil Liberties gegen die Ausnahmegesetze der Zentralregierung und der Bundesstaaten – besonders Queensland und Victoria – zeitigten zwar nur eine begrenzte Wirkung, markierten aber letztlich doch eine Gegenposition. Dies gelang ebenso den Quäkern und den „Zeugen Jehovas“, die den Kriegsdienst verweigerten, aber keineswegs interniert wurden. Nicht zuletzt kritisierten einzelne Politiker – so der Abgeordnete Maurice Blackburn als Vertreter des linken Flügels der Labour Party – die National Security Bill 1939 im australischen Parlament scharf. Auch in den folgenden Jahren warnte er vor totalitären Tendenzen des verhängten Notstandes. Dabei hob Blackburn das Paradox hervor, dass die Regierung zwar gegen diktatorisch regierte Staaten kämpfte, zugleich aber Sicherheitsgesetze verabschiedete, die rechtsstaatliche Garantien und Grundrechte ebenso einschränkten wie traditionelle Freiheiten.383 Jedoch wurden in Australien die Kosten der Internierung, mögliche Repressalien und ökonomische Zwänge in Branchen, die ihre ausländischen oder eingebürgerten Arbeitskräfte benötigten, deutlich umfassender in Rechnung gestellt als in den Jahren von 1914 bis 1918. Darüber hinaus reduzierten Einsprüche und die Überprüfungen durch die neu eingerichteten Untersuchungskommissionen die Zahl der Internierten. Nicht zuletzt erwies sich die Konkurrenz verschiedener Instanzen – so Konflikte zwischen der Armee, der Polizeiführung und dem Untersuchungsorgan (Investigation Branch) im Amt des Generalstaatsanwaltes – als hemmend, so dass die Internierungspraxis vor allem in den ersten Kriegsjahren uneinheitlich war. Dennoch opferte die Regierung, die gegenüber der Bevölkerung Entschlossenheit demonstrieren wollte, unter dem Druck der akuten Bedrohung durch japanische Streitkräfte fundamentale Freiheitsrechte von Feindstaatenangehörigen. „Sicherheit“ erwies sich auch in Australien als Konstruktion von Akteuren, die damit ihre Ziele durchsetzen wollten. Zeitweilig wurde das Konzept sogar ein Passepartout für rassistische Vorurteile, die sich vor allem gegen die Japaner richteten. Ebenso wie in vielen europäischen Staaten und in den USA wurden aber auch Kommunisten, Isolationisten, Pazifisten – vor allem die Zeugen Jehovas und die Quäker – als „innere Feinde“ der Parteinahme für den Kriegsgegner verdächtigt. Besonders in militärischen Krisen gewann der Ruf nach „nationaler Sicherheit“ gegenüber der Forderung, 382 Nagata, Internment, S. 83. 383 Saunders, War, S. 14–16, 19–21, 24–26, 37, 50, 54, 145; Nagata, Internment, S. 59.

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auch enemy aliens human zu behandeln, deutlich die Oberhand. Damit wurde letztlich auch in Australien die Macht der Exekutive gegenüber der Legislative gestärkt.384 Neuseeland Auch in diesem Dominion (bis 1947) wurde der Hinweis auf die Sicherheit des Staates im Zweiten Weltkrieg für partikulare Interessen missbraucht, und erneut diente Somes Island als Standort für ein Internierungslager. 1941 bildete die Regierung sogar eine Organisation for National Security, die für die äußere und innere Sicherheit verantwortlich war und die anderen Regierungsbehörden in ihrem Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen beriet.385 Zu dieser Gruppe gehörten nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges auch die rund 1.100 Flüchtlinge, die von 1933 bis 1939 aus Mittel- und Osteuropa nach Neuseeland gekommen waren. Zwar hatte die Polizei seit Mitte der 1930er Jahre vor allem gegen nationalsozialistische Organisationen und ihre Mitglieder ermittelt, darunter den German Club in Auckland, der von Nationalsozialisten beherrscht wurde. Jedoch war von der Regierung erst 1937 ein Aliens Committee eingerichtet worden, in dem Vertreter der Armee, der Polizei, des Innenministeriums und der statistischen Ämter über Maßnahmen zur Kontrolle aller Ausländer berieten.386 Der Besuch Graf Luckners in Neuseeland von Februar bis Mai 1938, den die Regierung als Propagandamission für das „Dritte Reich“ wahrnahm, verstärkte die Sicherheitsängste. Der ehemalige Kapitän, der in Neuseeland trotz seiner Flucht aus der Gefangenschaft 1917 als fairer und ehrbarer Deutscher galt, wurde deshalb von der Polizei überwacht. Sogar der Direktor des britischen MI5, Vernon Kell, hatte die Regierung Neuseelands (und diejenige Australiens) schon im Juni 1937 um Informationen über die Passagiere der Seeteufel gebeten, mit der Luckner am 20. Februar in Auckland ankam. Angesichts der Sorgen um die Sicherheit des Landes und der Angst vor einer „fünften Kolonne“ betrachtete die Regierung in den späten 1930er Jahre auch viele Flüchtlinge, die von den Nationalsozialisten aus Zentraleuropa vertrieben worden waren, vorrangig

384 Bevege, Behind Barbed Wire, S. 46, 54, 123, 160, 228, 232–237; Saunders, ‚The stranger in our gates‘, S. 38; Bartrop, „Authority can take no risks“, S. 142, 144 f. 385 Frederick L. W. Wood, The New Zealand People at War: Political and External Affairs, Wellington 1958, S. 161. 386 Angabe nach: Ann Beaglehole, Locked up and Guarded ‚Lest [They] Escaped to Help their Mortal Enemies‘: Jewish Internees in New Zealand during the Second World War, in: TurnerGraham / Winter (Hg.), National Socialism. S. 147–167, hier: S. 147; dies., Refugees from Nazi Germany and Austria 1933–45, in: Bade (Hg.), Shadow, S. 25–36, hier: S. 25.

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als Deutsche und damit als Feindstaatenangehörige. Seit 1938 legte die neuseeländische Polizei auf der Grundlage von Informationen der Zoll- und Statistikbehörden Verzeichnisse aller Ausländer an, die in Neuseeland lebten.387 In der ersten Phase des Zweiten Weltkrieges gründete die Politik der Regierung gegenüber den enemy aliens auf den Erfahrungen der Jahre von 1914 bis 1918. Bis Dezember 1939 waren rund neunzig Deutsche und jeweils 29 Italiener und Japaner unter dem Verdacht der Spionage und Subversion verhaftetet und auf die Insel Somes gebracht worden, darunter auch eingebürgerte Neuseeländer. In den westlichen Gebieten der Insel Samoa, die Neuseeland 1920 als Mandat des Völkerbundes erhalten hatte, internierten die Behörden bis Ende 1939 von 535 Deutschen 43. Allerdings wurden von ihnen 29 unter Auflagen wieder freigelassen. Eine Masseninternierung sollte unbedingt vermieden werden, nicht zuletzt aus Rücksicht auf die Flüchtlinge, von denen viele Gegner der deutschen Nationalsozialisten und italienischen Faschisten waren. Deshalb etablierte die Regierung Kommissionen, die Feindstaatenangehörige im Hinblick auf ihre Loyalität überprüften und klassifizierten. Für dieses differenzierende Verfahren hatten sich auch die Hilfsorganisationen eingesetzt, darunter die Society of Friends und das Wellington Emergency Relief Committee. Angesichts der Niederlage Frankreichs galt aber die Sicherheit Neuseelands als gefährdet, so dass beispielsweise auf den Seiten der Zeitung Dominion einschneidendere Maßnahmen gefordert wurden. Mit den Aliens Emergency Regulations gab die Regierung im Oktober 1940 schließlich dem Druck nach. Die Notstandsverordnungen ermächtigten die Regierung nicht nur zur Kontrolle, sondern auch zur Internierung von Feindstaatenangehörigen.388 Bis März 1941 hörten Kommissionen die 2.341 enemy aliens – darunter 1.241 Deutsche – in den einzelnen Polizeidistrikten noch individuell an. Achtzig von ihnen, die der Gruppe „A“ (gefährliche Ausländer) zugeordnet worden waren, wurden 1940 interniert. 400 weitere Personen (Gruppe „B“) sollte die Polizei bei einer Invasion unverzüglich verhaften. Die Entscheidungen der Aliens Authority konnten die Betroffenen aber vor dem Aliens Appeal Tribunal, das ein Richter des Obersten Gerichts leitete, anfechten. Im Gegensatz zu Großbritannien hatte Neuseeland damit im Sommer 1940 eine umfassende Internierung vermieden. 387 Zum Aufenthalt Luckners in Neuseeland: James N. Bade, Count Felix von Luckner’s 1938 „Propaganda“ Visit to New Zealand and its Consequences, in: Turner-Graham / Winter (Hg), National Socialism, S. 17–29, bes. S. 4, 18, 23 f., 28; McGibbon, Germany, S. 9; Bade, Count Felix von Luckner, S. 43–45; Perkins, Swastika, S. 126. Überblick in: Vance, Civilian Internees – World War II, S. 52. 388 Angaben nach: NA, FO 369/2563, Bl. 11. Vgl. auch Beaglehole, Locked up and Guarded ‚Lest [They] Escaped to Help their Mortal Enemies‘, S. 149 f., 154; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 114 f.

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Mit 185 Personen erreichte die Zahl der Verhafteten im Dezember 1942 ihren höchsten Stand. Rund die Hälfte von ihnen waren Deutsche, darunter auch aus Samoa deportierte. Über diese Feindstaatenangehörigen sowie Japaner und Italiener hinaus wurden auch einige „unerwünschte“ Ausländer interniert. Zudem blieben die Einschränkungen, denen enemy aliens unterworfen worden waren, während des Krieges in Kraft, während sie im Vereinigten Königreich ab Spätsommer 1940 schrittweise zurückgenommen oder entschärft wurden. Der Umgang mit den zivilen Feindstaatenangehörigen folgte damit keineswegs nur der britischen Politik. Unter dem Vorwand der Herstellung von „Sicherheit“ wurden auch gesellschaftlich und politisch stigmatisierte Personen festgesetzt. Die Macht, welche die Aliens Emergency Regulations der Exekutive verliehen, nutzten die Polizeibehörden vereinzelt sogar, um gewöhnliche Kriminelle zu verhaften.389 Entgegen den Beteuerungen der Regierung zu Beginn des Krieges wurden auch Flüchtlinge Opfer der Repressionspolitik, die sich gegen die zivilen Feindstaatenangehörigen richtete. Vor allem nachdem das nationalsozialistische Deutschland Frankreich und Japan große Gebiete Ostasiens besetzt hatten, gerieten alle enemy aliens unter den Verdacht, als „fünfte Kolonne“ der Kriegsgegner in Neuseeland Sabotageakte zu planen und zu spionieren. Diesen Vorwurf verbreitete vor allem die Boulevardpresse, die grundsätzlich und pauschal an der Loyalität der Feindstaatenangehörigen zweifelte. Vielerorts verbreiteten Nachbarn Gerüchte über deutsche, österreichische, tschechische und italienische Gegner des Nationalsozialismus bzw. des Faschismus. So berichtete eine Neuseeländerin über das Verhalten ihres Mieters, der abends in der Nähe eines Hafens im Freien rauchte und damit verdächtigt wurde, feindlichen Schiffen Signale zu übermitteln. Die Regierung nährte das Misstrauen, indem sie auch Flüchtlingen und Eingebürgerten bis 1942 verbot, sich im Krieg für Neuseeland zu engagieren. So wurden sie zunächst vom Wehrdienst ausgeschlossen. Auch verlieh die Begründung der Einschränkungen mit den Zielen, die Kriegsmoral aufrecht zu halten und das Land vor dem „inneren Feind“ zu schützen, einer Sicherheitsmanie Auftrieb, die bis 1942 kaum noch zu kontrollieren war. Letztlich wurden die politischen Eliten mit einem öffentlichen Druck konfrontiert, zu deren Entstehung sie selber beigetragen hatten. Nur wenige Neuseeländer traten den fremdenfeindlichen Vorurteilen und der Intoleranz entschieden entgegen.390 Die Internierung bildete den Kern der Ausländerpolitik im Krieg. Die Regierung übertrug der Armee die Verantwortung für Lager auf der Insel Somes, wo389 Angaben nach: McGibbon, Germany, S. 9. 390 Beaglehole, Refugees, S. 30–34.

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hin die Internierten zunächst gebracht wurden. Als Japan Anfang 1943 Neuseeland bedrohte, verlegte die Militärführung, die über die Sicherheit besorgt war, die Gefangenen vorübergehend nach Pahiatua auf die Nordinsel Neuseelands. Erst im darauffolgenden Jahr, als dieses Camp zur Unterbringung polnischer Flüchtlingskinder benötigt wurde, konnten die Internierten nach Somes zurückgebracht werden. In den Lagern, die Diplomaten der Schweiz regelmäßig kontrollierten, ließ die Armee zwar die Selbstorganisation der Insassen zu. Auch förderte sie mit Hilfe verschiedener Organisationen – so des Roten Kreuzes, der Quäker und dem YMCA – die vielfältigen Aktivitäten der Internierten. Jedoch wurden Nationalsozialisten und ihre geflohenen Gegner in den Lagern bis 1944 trotz zahlreicher Proteste zusammen untergebracht. Ende 1944 waren aber nur noch drei Juden im Camp Somes.391 Dagegen trennte die Verwaltung Deutsche, Japaner und Italiener. Obgleich die Regierung im Rückblick Fehler – besonders die unterbliebene räumliche Trennung der Internierten in den Lagern – eingestand, war die Behandlung der enemy aliens im Zweiten Weltkrieg alles in allem deutlich milder als in den Jahren von 1914 bis 1918, auch weil der stellvertretende Premierminister Peter Fraser (1884–1950) bei seinem Besuch auf der Insel Somes die Entschlossenheit der Regierung betont hatte, die Genfer Konvention im Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen einzuhalten. Da die Verpflegung gut und eine Rückkehr nach Deutschland bei Kriegsende wenig attraktiv war, blieben einige Internierte bis Ende 1945 in dem Lager. Jedoch traf die Entscheidung der Regierung, den ehemaligen enemy aliens nach dem Kriegsende den weiteren Aufenthalt in Neuseeland anzubieten, in der Bevölkerung keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Sie schien dem Primat der Sicherheit zu widersprechen, das im Zweiten Weltkrieg unter den neuseeländischen Eliten trotz der humanitären Bekenntnisse und Konzessionen im Umgang mit den zivilen Feindstaatenangehörigen letztlich unumstritten war. Auch die wirtschaftlichen Restriktionen, die gegen die enemy aliens verhängt worden waren, blieben nach dem Kriegsende zunächst in Kraft. Dazu gehörten die im März 1942 erlassenen Aliens Land Purchase Regulations, die Landverkäufe an Ausländer und Eingebürgerte an eine vorherige Genehmigung des Justizministeriums banden. Veteranenorganisationen und Berufsverbände (so der Ärzte) hatten weitere Einschränkungen durchgesetzt, nicht zuletzt um Konkurrenten zu verdrängen.392

391 Angaben nach: Beaglehole, Locked up and Guarded ‚Lest [They] Escaped to Help their Mortal Enemies‘, S. 156; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 114 f. Vgl. auch McGibbon, Germany, S. 9 392 Beaglehole, Refugees, S. 33.

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Kanada In dem Land, das nach dem Statut von Westminster 1931 unabhängig geworden war, nutzte die Regierung erneut den War Measures Act vom 22. August 1914, und zwar nicht nur, um Publikationen zu zensieren und Organisationen zu verbieten. Vielmehr wurden Feindstaatenangehörigen – darunter auch eingebürgerten enemy aliens – wiederum Freiheits- und Bürgerrechte entzogen. Allerdings war die Internierungspolitik deutlich zurückhaltender als in den Jahren von 1914 bis 1918. 1939 waren nur 60.000 Deutsche, die in Kanada lebten, in Deutschland geboren, und lediglich 16.000 von ihnen hatten noch die deutsche Staatsbürgerschaft inne. Die Mehrheit der deutschstämmigen Kanadier waren geborene oder eingebürgerte Briten. Die Behörden und die Mehrheit der Bevölkerung unterschieden deshalb zwischen Deutschen und Nationalsozialisten, und sie zweifelten nicht an der Loyalität der Deutschkanadier. Auch sympathisierte Premierminister William Lyon Mackenzie King (1874–1950) – ebenso wie Neville Chamberlain – lange mit der deutschen Revisionspolitik, da er den Versailler Vertrag als ungerecht empfand. Zudem konzentrierten die Polizeikräfte Kanadas, die Royal Canadian Mounted Police (RMCP), ihre Aufmerksamkeit auf die Sozialisten und Kommunisten, während die Faschisten und Kommunisten als geringere Gefahr betrachtet wurden. Demgegenüber warnte das Armeekommando am Pazifik vor den Japanern, obgleich die Einwanderung aus Asien nach dem Ersten Weltkrieg zurückgegangen war. So hatte der Anteil von Kanadiern japanischer Herkunft an der Bevölkerung in British Columbia von 1921 bis 1941 von 2,9 auf 2,7 Prozent abgenommen. Das Canadian Defence Committee, das im Kriegsfall das Vorgehen gegen die zivilen Feindstaatenangehörigen leiten und koordinieren sollte, wurde zwar schon am 20. August 1936 gegründet, bereitete aber zunächst keine konkreten Maßnahmen vor.393 Erst als der Zweite Weltkrieg ausbrach, gewann die Sicherheitspolitik eindeutig Priorität, so dass die Behörden gegen die zivilen Feindstaatenangehörigen vorgingen. Nach den Bestimmungen der am 3. September 1939 erlassenen Defence of Canada Regulations mussten sich alle Deutschkanadier, die nach 1922 aus Deutschland gekommen waren, als enemy aliens registrieren lassen. Darüber hinaus war der Justizminister befugt, „Feinde“ des Staates festzunehmen. Ihnen konnten die Rechte des Habeas Corpus entzogen werden, und sie hatten keinen Anspruch auf ein öffentliches Gerichtsverfahren. Der Minister war auch nicht an die Empfehlung von Beratungsgremien (Advisory Commit393 Angaben nach: Smith, Japanese Canadians, S. 97, 280 (Anm. 13). Hierzu und zum Folgenden: Keyserlingk, Allies or Subversives?, S. 248 f.; ders., Attitude, S. 16–20, 25; Auger, Prisoners, 19 f.; Sautter, Deutsche, S. 195 f.; Peppin, Emergency Legislation, S. 157 f. Allgemeine Bemerkungen in: Koessler, Internment, S. 113 f.

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tees) gebunden, die eingerichtet wurden, um Internierungen zu überprüfen und den Betroffenen eine – außergerichtliche – Appellationsinstanz zur Verfügung zu stellen.394 Allerdings verhaftete die Polizei von den rund 14.000 Deutschkanadiern, die verzeichnet worden waren, zunächst lediglich wenige Hunderte. Deutsche und Deutsch-Kanadier, die der Unterstützung des Nationalsozialismus, der Spionage und subversiver Aktivitäten verdächtigt wurden, sollten auf der Grundlage des War Measures Act interniert werden. Dazu gehörten vor allem Mitglieder des „Deutschen Bundes Canada“, der schon seit 1933 wegen seiner Agitation für das NS-Regime das Misstrauen der Behörden erregt hatte. Die Organisation war vom deutschen Konsul in Winnipeg unterstützt worden. Auch japanische Judotrainer und Mitglieder von Veteranenorganisationen wurden festgenommen. Verhaftete Personen konnten ihren Einspruch an ein Advisory Internment Committee richten, das sich aus Beamten und Politikern mehrerer Ministerien zusammensetzte. Zwar wurden Fischerboote von Japanern beschlagnahmt; die Restriktionen gegen aus Deutschland und Japan stammende Kanadier blieben allerdings begrenzt, da die Regierung zunächst an ihrer Strategie der kontrollierten Kriegführung festhielt. Damit sollte vor allem vermieden werden, dass Kanadas Ressourcen überdehnt wurden und Spannungen zwischen den Briten und der französisch geprägten Minderheit zunahmen. So waren Ende 1940 erst 340 deutsche Staatangehörige interniert worden.395 Die Regierung gab ihre zurückhaltende Politik aber auf, als sich nach der unerwartet schnellen Niederlage Frankreichs im Sommer 1940 in Kanada Panik verbreitete. Gedrängt von der britischen Regierung, zeigten King und seine Minister einen Aktionismus, der nicht nur gegenüber dem Londoner Kriegskabinett unter dem neuen Premierminister Churchill, sondern auch gegenüber der eigenen Bevölkerung Stärke demonstrieren sollte. Im Frühsommer 1940 nahm Kanada 7.000 enemy aliens aus Großbritannien auf, so dass unter erheblichem Zeitdruck Lager gebaut werden mussten. Wie eine Studie zu Errichtung von drei Camps in Quebec (Farnham, île-aux-Noix und Sherbrooke) gezeigt hat, waren die Behörden mit dieser Aufgabe hoffnungslos überfordert. Letztlich wurden die Deportierten in Kanada auf zwölf Lager verteilt, die sich in New Brunswick, Ontario und Quebec befanden. Die Lebensbedingungen waren besonders in den ersten Monaten sehr schlecht, vor allem wegen der unzureichenden Ausstattung und der z. T. extremen klimatischen Bedingungen. Die kanadische Regie394 Peppin, Emergency Legislation, S. 156–161, 170. 395 NA, FO 369/2563, Bl. 11. Vgl. auch Luigi Bruti Liberati, The Internment of Italian Canadians, in: Iacovetta / Perin / Principe (Hg.), Enemies Within, S. 76–98, hier: S. 82; Peppin, Emergency Legislation, S. 156; Keyerlingk, Attitude, S. 17 f.; Smith, Japanese Canadians, S. 102.

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rung, die nach den Angaben der britischen Behörden ausschließlich gefährliche Nationalsozialisten und Faschisten erwartet hatte, zeigte sich von der Ankunft vieler Flüchtlinge überrascht. Das Londoner Kriegskabinett musste sich bei Kanada für die fehlerhafte Auswahl vieler Internierter der Kategorien „B“ und „C“ entschuldigen.396 Jedoch ging die kanadische Regierung selber gegen Deutsche und Österreicher vor, die in das Land eingewandert waren (darunter Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“). Auch Italiener wurden festgenommen. Angesichts des schnellen Zusammenbruchs Frankreichs erreichte die Furcht vor Verrätern und Saboteuren in Kanada im Mai und Juni 1940 einen ersten Höhepunkt. Ihre Internierung ist auf die Propaganda von Faschisten, die damit verbundene Furcht vor einer „fünften Kolonne“ und den Primat der „nationalen Sicherheit“ in der Regierungspolitik zurückzuführen. Zugleich sollte sie offenbar auch die zweideutige Politik Kanadas gegenüber dem Faschismus vor dem Krieg verdecken. Mussolinis Regime war besonders unter (katholischen) Frankokanadiern zumindest bis 1938 durchaus auf Zustimmung getroffen. Jedoch wurden lediglich einige einflussreiche italienische Faschisten, die sich eindeutig zu Mussolinis faschistischem Regime bekannten, festgesetzt. So erfasste die Internierung nur 500 der insgesamt 3.500 Mitglieder der Partito Nazionale Fascista in Kanada (14,3 Prozent). Da die Auswahl der Festgenommen vielerorts willkürlich war, blieben sogar einige prominente Faschisten in Freiheit. In vielen Fällen handelte es sich bei den Festgenommenen um Honoratioren der italienischen Gemeinden, die eng mit Konsuln des faschistischen Außenministeriums zusammengearbeitet hatten. Die anderen der insgesamt 115.000 Italiener in Kanada mussten sich Restriktionen wie Einschränkungen ihrer Mobilität unterwerfen. Im Gegensatz zum Vereinigten Königreich lehnte King eine Masseninternierung aber auch im Sommer 1940 ab.397 Dennoch konnte die Royal Canadian Mounted Police, die am 31. März 1940 nur 4.299 Mann umfasste und mit der Untersuchung der weitgehend unkontrolliert verbreiteten Gerüchte über eine „fünfte Kolonne“ beauftragt worden war, die kaum vorbereitete und deshalb hastig vollzogene Internierung kaum bewältigen. Die Polizei war nicht nur schlecht ausgestattet, sondern hatte sich vor dem Zweiten Weltkrieg weitgehend auf die Überwachung und die Repression der Kommunisten konzentriert. Erst nach der verstärkten Propaganda der italienischen Faschisten im Zuge der Annexion Abessiniens, die Mussolini 1935/36 396 Draper, ‚Camp Boys‘, S. 172 f.; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 78–80; Pistol, Internment, S. 49. Angabe nach: Auger, Prisoners, S. 20. 397 Angelo Principe, A Tangled Knot: Prelude to 10 June 1940, in: Iacovetta / Perin / Principe (Hg.), Enemies Within, S. 29–51, hier: S. 27 f., 36–41. Angaben nach: Liberati, Internment, S. 89.

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mit dem Ziel gerechtfertigt hatte, dort Sklaven zu befreien, waren erstmals Informationen über die Aktivitäten der italienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten gesammelt worden.398 Auf der Grundlage hastig und improvisiert zusammengestellter Listen wurden auch 850 Deutschkanadier (von insgesamt 600.000), die z. T. deutscher Herkunft waren, festgenommen. Dabei setzte die Regierung die Gerichtsbarkeit und die Prinzipien des Habeas Corpus außer Kraft. So lehnte Richter James Duncan Hyndman (1874–1971) im Januar 1941 den Einspruch eines internierten Deutschkanadiers mit den Worten ab: „It is not possible to fight a war acording to the principles of Magna Charta.“ Allerdings setzte er sich zugleich für die Entlassung von Italienern ein, die allein wegen der Zugehörigkeit zu einer Organisation verurteilt worden waren. Obwohl im Inter-Departmental Committee on Internment, das Internierungen prüfte, Zivilisten gegen die oft drakonischen Maßnahmen der Royal Canadian Mounted Police einschreiten und Informationen der Polizei genau prüfen mussten, blieb die Internierung weitgehend auf Personen beschränkt, die sich durch ihre offene Parteinahme für den Nationalsozialismus und den Faschisten diskreditiert hatten. Allerdings vermittelte die unkoordinierte Aktion den Kanadiern den Eindruck, dass die Deutschen und Italiener als potentielle Verräter verhaftet wurden.399 Darüber hinaus hatte sich Kanadas Regierung schon 1939 verpflichtet, die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 auch bei der Behandlung von Zivilinternierten anzuwenden. Ein Gesetz, das am 31. Mai 1940 verabschiedet wurde (Order-in-Council PC 2322), bekräftigte diese Entscheidung, indem sie sämtliche (zivilen und militärischen) Feindstaatenangehörigen, die ab September 1939 in Kanada festgehalten wurden, als Kriegsgefangene einstufte. Diese Gleichsetzung schürte in den Lagern aber Unzufriedenheit. Einerseits waren die Wachmannschaften den Umgang mit den – zunächst als gefährlich stigmatisierten – Zivilinternierten nicht gewohnt. Andererseits konnten diese ihre Eingruppierung als Kriegsgefangene nicht nachvollziehen. Sie lehnten deshalb auch Kontakte zum Roten Kreuz und zu den Diplomaten der Schweiz ab, die als Schutzmacht fungierte. Zudem ignorierten Kommandanten von Lagern – so im Camp B in New Brunswick – besondere Bedürfnisse einzelner Insassen wie jüdischer Internierter, die aus Großbritannien nach Kanada gebracht worden waren. Nicht zuletzt wurden Faschisten und Nationalsozialisten zunächst nicht 398 Angaben nach: Liberati, Internment, S. 82, 86. Vgl. auch Principe, Knot, S. 29–34; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 87. Zur Rechtfertigung des faschistischen Regimes: Swatek-Evenstein, History, S. 176. 399 „Judge Refuses Release Order“, Toronto Globe and Mail, zitiert nach: Keyserlingk, Allies or Subversives?, S. 239. Vgl. auch Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 87; Principe, Knot, S. 41 f.

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voneinander getrennt untergebracht, so dass sie z. B. aus den Camps Red Rock (Ontario) und St. Helen’s Island (Quebec) in andere Lager transferiert werden mussten.400 Um die Vorgänge in dem Lager zu untersuchen, entsandte die britische Regierung sogar einen Sonderbeauftragten, den Commissioner of Prisoners Alexander Paterson, der einen Übergang zu verstärkter Selbstverwaltung und eine Öffnung der Camps für Besucher empfahl. Darüber hinaus erließ die kanadische Regierung am 25. Juni 1941 ein weiteres Gesetz (Order-in-Council PC 4568), das den Zivilinternierten den Flüchtlingsstatus verlieh. Insgesamt wurden zivile Feindstaatenangehörige Deutschlands und Italiens in Kanada nach den humanitären Grundsätzen der Genfer Konvention von 1929 behandelt. Damit war die Hoffnung verbunden, dass die kanadischen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, die in die Hände des nationalsozialistischen Deutschlands gefallen waren, ebenfalls menschlich behandelt würden. Da der Kriegsgegner dieser Erwartung aber keineswegs gerecht wurde, protestierte die Regierung wiederholt gegen den Umgang mit eigenen Staatsbürgern im „Dritten Reich“. Kanadiern, die in Deutschland festgehalten wurden, wurden daraufhin offenbar durchaus Vergünstigungen gewährt, als die humane Behandlung Deutscher in Kanada bekannt wurde. Die europäischen Feindstaatenangehörigen begünstigte zudem die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die Japaner ab Ende 1941. Zwar waren im Juni 1941 nur 6.000 der insgesamt 23.000 Kanadier japanischer Herkunft im ostasiatischen Inselreich geboren. Die Militärs waren aber über die 22.000 aus Japan stammenden Kanadier, die im westlichen Staat British Columbia lebten, und ihre 1.200 Fischerboote besorgt. Diese Konzentration betrachteten sie als Sicherheitsrisiko. Allerdings verbargen sich dahinter massive rassistische Vorurteile, die seit den 1870er Jahren in der Bevölkerung weit verbreitet waren und auch das Vorgehen der Polizei beeinflussten.401 Da mit dem Angriff japanischer Flugzeuge auf Pearl Harbor zugleich Hongkong und andere britische Territorien in Ostasien attackiert wurden, befahl die Regierung mit ihrem Order-in-Council 9760 allen Japanern, sich bei der Polizei zu melden. Nachdem Berichte über die grausame Behandlung kanadischer Kriegsgefangener durch die japanische Armee bekannt geworden waren, gingen die Behörden mit den Ostasiaten ähnlich hart um wie die Regierung der USA. Über die Registrierung hinaus verlangten vor allem in der westlichen Provinz British Columbia Politiker wie der Premierminister des Territoriums, John Hart (1879–1957), Militärs – so der Oberbefehlshaber der Streitkräfte an der Pazifik400 Hierzu und zum Folgenden: Auger, Prisoners, S. 4, 30 f., 147–149, 151 f.; Kochan, Internees, S. 94 f.; Draper, ‚Camp Boys‘, S. 176, 178; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 86 f. 401 Peppin, Emergency Legislation, S. 161–163.

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küste, Generalmajor Ronald O. Alexander (1888–1949) und Oberst Herbert A. Sparling (1907–1995) im Verteidigungsministerium – und verschiedene nationalistische Organisationen wie die Pacific Coast Security League und der Veteranenverband Canadian Legion eine ausnahmslose Internierung. Das Standing Committee on Orientals in British Columbia, das Fremde überwachen sollte und zunächst zumindest eine pauschale Festnahme aus Japan stammender Kanadier abgelehnt hatte, beugte sich dem Druck und empfahl dem Außenministerium der Bundesregierung in Ottawa, männliche Japaner im wehrfähigen Alter festzunehmen. Damit sollte die Sicherheit des Landes gewährleistet werden.402 Obwohl im Ministerium einzelne Beamte wie Hugh Keenleyside (1898– 1992), ein erfahrener Diplomat, diese einschneidende Maßnahme ablehnten, war King vorrangig bestrebt, die Unruhe an der Westküste einzudämmen. Am 14. Januar 1942 entschied das Kabinett deshalb, Sperrzonen einzurichten, aus denen die Japaner und Kanadier japanischer Herkunft ab Februar ausgewiesen wurden. Um die „nationale Sicherheit“ zu gewährleisten, sollten alle männlichen Japaner ebenso wie 800 bis 1.000 aus Japan stammende Kanadier bis zum 1. April den „geschützten Bereich“ (protected area) an der Pazifikküste verlassen. Nach der entsprechenden Anordnung (Order-in-Council-PC 365) vom 16. Februar durften sie überdies keinen Spreng- und Treibstoff mehr besitzen. Jedoch agitierten nationalistische und fremdenfeindliche Organisationen wie die Canadian Legion and Native Sons gegen die Regierungspolitik, die sich zunächst auf die Ausweisung von Japanern aus den Sperrzonen und ihre Einweisung in Arbeitslager beschränkte. Dagegen wandten sich in der Provinz British Columbia auch einzelne Berufsgruppen wie Fischer, der die wirtschaftliche Konkurrenz durch die Japaner ein Dorn im Auge war. Zudem regte sich in den Gebieten, welche die ausgewiesenen Feindstaatenangehörigen aufnehmen sollten, Widerstand gegen den Bevölkerungstransfer, so im Norden Ontarios. Obwohl Rechtsberater des Außenministeriums vor möglichen Repressalien gegen Kanadier warnten, die sich in japanischer Gefangenschaft befanden, entschied das Kabinett unter King am 23. Februar 1942, den Justizminister zu beauftragen, in den Sperrzonen die Kontrolle über alle Personen japanischer Herkunft zu übernehmen. Überdies wurde der Minister ermächtigt, diese zivilen Feindstaatenangehörigen auszuweisen und zu deportieren. Ansonsten an eine Anordnung des US-Präsidenten Roosevelts vom 19. Februar angelehnt, erwähnte Kings Order-in-Council 1486 die Japaner ausdrücklich als Zielgruppe. Im Gegensatz zu den USA gewann außerdem nicht die Armee, sondern das Justizministe402 Hierzu und zum Folgenden: Ken Adachi, The Enemy that Never Was. A History of Japanese Canadians, Toronto 1976, S. 200; Robinson, Tragegy, S. 74–79; Keyserlingk, Attitude, S. 25; Smith, Japanese Canadians, S. 99, 103–105; Peppin, Emergency Legislation, S. 162.

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rium die Kontrolle über die Internierung und die Lager. Der Hinweis auf die „Sicherheit“ war aber letztlich auch in Kanada nur ein Vorwand, hinter dem sich konkrete politische und ökonomische Ziele verbargen. So sollte damit die Wehrpflicht aller Kanadier (auch in Übersee) durchgesetzt werden. Zudem waren fremdenfeindliche Vorurteile einflussreich, die sogar Premierminister King teilte.403 Er ordnete schließlich auch die Ausweisung von 22.000 Kanadiern japanischer Herkunft aus den westlichen Küstenbezirken in einer Zone von 160 Kilometern an. In British Columbia traf dieser Schritt weithin auf Zustimmung, denn er kam der hier besonders intensiven Fremdenfeindlichkeit und den rassistischen Vorurteilen gegen Japaner entgegen. Zur Kontrolle und Koordination des Prozesses, der im März 1942 begann, richtete die Regierung die British Columbia Security Commission (BCSC) ein. Schon bis Juli 1942 waren 4.500 Nisei und Issei in die Gebiete östlich der Rocky Mountains deportiert worden, und im Januar 1943 hatte die Polizei 12.000 aus Japan Stammende aus British Columbia in Camps verbracht. Viele litten auch in Durchgangslagern wie demjenigen in Hastings Park (nahe Vancouver) unter den primitiven und entwürdigenden Lebensbedingungen. Die Zwangsumsiedlung und Internierung waren oft brutal, da die Betroffenen ihre Heimat fast ohne Vorbereitung abrupt verlassen mussten. Ihre Häuser wurden vielerorts geplündert oder beschlagnahmt. Überdies waren Familienangehörige voneinander getrennt worden. Anschließend wurden die Internierten in östlich gelegene Provinzen weitertransportiert. Hier waren sie aber keineswegs willkommen. Soldaten wiesen die Kanadier japanischer Herkunft in Lager ein, wo sie vor allem zum Straßenbau abkommandiert wurden. Die Internierung entwurzelte auch 21.000 Ehefrauen und Kinder der festgesetzten Japaner. Von ihnen mussten 11.500 in hastig errichteten Unterkünften untergebracht werden.404 Interventionen des Japanese Canadian Citizen’s Council (JCCC) bei der BCSC blieben erfolglos, weil die Interessenorganisation der Japaner und aus Japan Stammenden in Kanada an der Arbeit der Kommission offiziell nicht beteiligt war. Da die Führung des JCCC zugleich auch für eine Kooperation mit den Behörden eintrat, spaltete sich eine Gruppe von 14 (eingebürgerten) Japanern von der Organisation ab, um die Nisei Mass Evacuation Group (NMEG) zu gründen. Der Verband kritisierte die Zwangsevakuierung offen als schwerwiegende Verletzung von Grundrechten der betroffenen Bürger. Die BCSC lehnte aber Gesprächsangebote ebenso ab wie Vorschläge zur Vermittlung, die der spanische 403 Robinson, Tragedy, S. 94–103; Smith, Japanese Canadians, S. 105 f 404 Hierzu und zum Folgenden: Robinson, Tragedy, S. 132–140, 144 f. Angaben nach: Smith, Japanese Canadians, S. 106; Peppin, Emergency Legislation, S. 162 f.

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Konsul als Vertreter der Schutzmacht der Japaner in Kanada unterbreitete. Auch Widerstand in den Lagern – so Hungerstreiks gegen den zermürbenden Arbeitseinsatz im Straßenbau – wurden zunächst unterdrückt. Die BCSC ließ protestierende Insassen von Camps, wo sie als Sicherheitsrisiko galten, in das Kriegsgefangenenlager Petawawa bringen, um sie dort zu isolieren. Jedoch musste die Regierung schließlich der NMEG nachgeben und verheiratete Männer aus den Arbeitslagern offiziell in die Internierung überführen. Zudem setzten schon 1941 Entlassungen ein. Ende 1942 wurden nur noch 411 Deutsche und 94 eingebürgerte Deutschkanadier in den Lagern festgehalten wurden. Die Zahl der internierten Italiener hatte sich Ende August 1942 auf 288 Männer belaufen. Alles in allem blieb in Kanada die Anzahl der festgesetzten enemy aliens geringer als in den Jahren von 1914 bis 1918. 1943 wurden schließlich alle Lager geschlossen. Die Regierung erlaubte 966 entlassenen Flüchtlingen, während des Krieges in Kanada zu bleiben. Von ihnen beantragten ab Oktober 1945 viele die Staatsbürgerschaft des Landes, als ihnen dies erlaubt wurde. Letztlich wurden 972 ehemalige Internierte eingebürgert. Jedoch erlaubte die Regierung den Japanern, die 1942 zwangsweise von der Pazifikküste evakuiert worden waren, erst am 1. April 1949, in ihre Wohnorte zurückzukehren.405 Insgesamt wurden im Zweiten Weltkrieg deutlich weniger Feindstaatenangehörige ihrer Freiheit beraubt als in den Jahren von 1914 bis 1918. Bei Kriegsende belief sich die Zahl der Internierten nur noch auf 22.406 Trotzdem handelte es sich doch erneut um gravierende Eingriffe in individuelle humanitäre Rechte. Die repressiven Maßnahmen waren vorrangig aufgrund des erheblichen Drucks breiter Bevölkerungsgruppen erfolgt, dem die Regierung nachgab, um den Eindruck von Nachgiebigkeit zu vermeiden. Der Hinweis auf die „nationale Sicherheit“ war damit auch ein Vorwand, um auf der Grundlage des War Measures Act zivile Feindstaatenangehörige – vor allem Japaner und Kanadier japanischer Herkunft – zu deportieren und zu internieren. Allerdings verlieh erst die fremdenfeindliche und rassistische Sicherheitskultur dieser Politik entscheidende Durchschlagskraft.407 Der War Measures Act hatte sich in der Regierung so umfassend bewährt, dass er bis 1988 (als das Gesetz schließlich zurückgezogen wurde) wiederholt 405 Smith, Japanese Canadians, S. 111; Melber, Pearl Harbor, S. 183. Angaben nach: NA, FO 916/293 (Brief des Innenministeriums an den Staatsekretär im Außenministerium vom 2. September 1942); Krammer, Civilian Internees, S. 56; Keyserlingk, Allies or Subversives?, S. 257 f.; Auger, Prisoners, S. 33; Draper, ‚Camp Boys‘, S. 189; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 95. 406 Krammer, Civilian Internees, S. 57. 407 Hierzu und zum Folgenden: Robinson, Tragedy, S. 300; Smith, Japanese Canadians, S. 112 f.

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angewendet wurde. So verhängte der liberale Premierminister Pierre Elliot Trudeau (1919–2000) noch im Oktober 1970 nach der Entführung des britischen Diplomaten und Politikers Pierre Laporte (1921–1970) durch die Terrororganisation Front de libération du Québec vorübergehend den Ausnahmezustand.408 Premier Lester B. Pearson (1897–1972) hatte demgegenüber 1964 das Unrecht der Deportation und Internierung zwar anerkannt; jedoch lehnte Trudeau noch in den 1970er Jahren eine Entschädigung der Betroffenen ab. Erst sein Nachfolger Brian Mulroney entschuldigte sich offiziell für die Internierung, und er bot den 12.000 bis 14.000 noch lebenden Opfern 1988 eine Entschädigung von jeweils 21.000 Dollar an. Insgesamt beliefen sich die Zahlungen auf 300 Millionen Dollar.409

6.9.2 Kolonien Überblick: Institutioneller Rahmen und Akteure Deutlich enger als in den Dominions war die Kontrolle des Londoner Kolonialministeriums über die abhängigen Territorien, die überwiegend unmittelbar der Krone unterstanden. Die Kolonien wurden von Gouverneuren regiert, die den Kolonialministern unterstanden. Besonders energisch übten im Zweiten Weltkrieg Malcolm MacDonald (1939/40) und Oliver Stanley (1942–1945) dieses Amt aus. Die Gouverneure erhielten von ihnen Anweisungen, auch hinsichtlich der Aufnahme von Ausländern. So übermittelte ihnen das Kolonialministerium „schwarze Listen“, die für die Einwanderungsbehörden im Vereinigten Königreich und Beamte in den überseeischen Passbehörden angefertigt worden waren. Auf ihnen waren Personen verzeichnet, deren keine Visa erteilt werden sollten. Die Aufstellungen vermittelten Kommissionen, die Einsprüche von Internierten bearbeiteten, Hinweise auf die gefangenen enemy aliens. 410 Das Kolonialministerium erwartete von den Gouverneuren, dass sie der Politik der britischen Regierung folgten und Internierungen regelmäßig durch Ausschüsse prüfen ließ. Dazu sandten sie ihnen u. a. die Defence Regulations zu, die im Vereinigten Königreich erlassen worden waren. Auch erhielten die Kolonialverwaltungen Hinweise zur Arbeit der Praxis der Überprüfung von Internierten in Großbritannien. Allerdings wurde zugleich betont, dass die zuständigen Verwaltungen in den Kolonien hinsichtlich ihrer Entscheidungen über die Entlassung einzelner Internierter letztlich nicht gebunden werden sollten. 408 Peppin, Emergency Legislation, S. 130, 177–190. 409 Ebd., S. 166. 410 NA, FCO 141/2715 (Telegramm vom 24. November 1943).

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Die Behörden in den einzelnen Gebieten verfügten deshalb über einen Entscheidungsspielraum, den sie vielerorts auch nutzten. So widersetzten sie sich der Freilassung internierter enemy aliens, wenn dies die Kriegführung zu gefährden schien, aus Sicht der Gouverneure gefährliche Präzedenzfälle schuf und wirtschaftliche Vorteile einzuschränken drohte. Besonders italienische Seeleute sollten nicht freigelassen und auf keinen Fall auf britischen Schiffen verwendet werden. Um diese restriktive Politik durchzusetzen, verwendeten Akteure vielfach Sicherheitsargumente.411 Eigeninteressen in den einzelnen Kolonien prägten beispielsweise den Umgang mit Italienern nach dem Seitenwechsel ihres Landes im Oktober 1943, als die britische Regierung und – noch nachdrücklicher – die örtlichen Gouverneure im Mittelmeer auf eine Abschiebung oder Freilassung der internierten Feindstaatenangehörigen drängten. Dies betraf auch italienische Flüchtlinge aus Griechenland, so von den Inseln in der Ägäis. Auf Zypern, wo sie Zuflucht gefunden hatten, wurde Ende 1943 eine Untersuchungskommission eingerichtet, um unbelastete und ungefährliche Italiener bald aus den Internierungslagern entlassen zu können. Da sich der zunächst angestrebte Transfer der Italiener angesichts des Widerstands der (1942 gegründeten) Middle East Relief and Refugee Administration als schwierig erwies, drängten die Behörden auf eine Freilassung, die auch für viele Internierte von dem Ausschuss empfohlen wurde, zumal einzelne Betroffene sogar Juden waren. Allerdings rieten die zypriotischen Polizeibehörden mit dem Hinweis auf die öffentliche Sicherheit auf der Insel zu Vorsicht, vor allem wegen der weit verbreiteten Ressentiments gegenüber den italienischen Flüchtlingen. Daraufhin wurden 1944 ehemaligen Internierten, die auf Zypern schon entlassen worden waren, Aufenthaltsbeschränkungen auferlegt. Mit Bezug auf die 1940 erlassenen Defence Regulations untersagte ihnen die Kommission, die Gefangene in Nicosia erneut anhörte, zudem oft den Besitz von Transport- und Kommunikationsmitteln, um die befürchteten subversiven Aktivitäten von Italienern zu verhindern. Das Gremium bezog sich dabei jeweils explizit auf Sicherheitsrisiken.412 Andererseits war der Übergang zu Erleichterungen und Entlassungen zuvor bei Gouverneuren britischer Kolonien auf Vorbehalte und Widerstand getroffen, wie Beamte des Londoner Außenministeriums schon im Frühjahr 1941 geklagt hatten. Die Beratungsgremien hatten vielerorts ohne hinreichende Informatio411 NA, FCO 141/2715 („The Defence Regulations, 1940 to [No. 7] 1942“; Telegramm vom 11. Juli 1942; telegraphisches Rundschreiben vom 11. November 1943 mit Anlage; Memorandum „Italian Merchant Seamen Internees in the United Kingdom“). 412 NA, FCO 141/2715 (Bericht vom 1. März 1944; Telegramme vom 11. und 24. November 1943; Vermerke vom 4., 14. und 17. Dezember 1943; Schreiben vom 21. Januar 1944; Bericht vom 1. März 1944; Anordnung vom 31. März 1944); NA, CO 968/64/13 (Schreiben vom 14. Juli 1943).

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nen die Internierung von Feindstaatenangehörigen beschlossen. Sie widersetzten sich einer Überprüfung der Entscheidungen, so auf Ceylon, Jamaica und Trinidad sowie in British Guayana und Palästina. Allerdings argumentierten einzelne Ministerialbeamte, dass die britische Regierung in den Kolonien kein Sicherheitsrisiko in Kauf nehmen dürfe, da hier die Bevölkerung deutlich unzuverlässiger sei wie im Vereinigten Königreich. Noch grundsätzlicher war der Einwand, dass auch die internierten Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ letztlich Deutsche blieben. Wegen dieser internen Differenzen verzichtete das Foreign Office im Sommer 1941 auf weiteren Druck auf die Gouverneure in den afrikanischen Kolonien. Auf Ceylon galt die Sicherheitslage aber als so stabil, dass die britische Regierung auf Entlassungen drängte. Hier erschien auch der Schiffstransport möglich. Nur enemy aliens, die aus Hongkong und den britischen Kolonien an der Straße von Malakka deportiert waren, sollten auf Ceylon interniert bleiben. Im Juni 1942 drängte der britische Kolonialminister auch den Gouverneur von Jamaica zu einer liberaleren Internierungspolitik. Gegner der deutschen Nationalsozialisten und Faschisten sollten nur festgehalten werden, wenn von ihnen eine Sicherheitsgefahr ausging. Letztlich verhinderte eine Kombination von ethnischen Zuschreibungen gegenüber den Internierten, zivilisatorischem Überlegenheitsdenken und Sicherheitserwägungen in vielen Kolonien eine frühzeitige Freilassung gefangener Feindstaatenangehöriger, von denen aber auch viele im Empire verschoben worden waren, so dass die Zuständigkeiten ungeklärt blieben.413 Konflikte über die Kosten und Abschiebungen Kosten für die Internierung und Versorgung der enemy aliens mussten grundsätzlich von den Gouverneuren der Kolonien getragen werden. Nach einer Regelung der britischen Regierung vom Oktober 1939 war davon nur Tanganjika ausgenommen, da sich hier besonders viele zivile Feindstaatenangehörige befanden und die Mittel der Kolonie begrenzt waren. Zudem sollten gefangene Zivilisten, die nicht als Sicherheitsrisiken eingestuft wurden, aus Gebieten, in denen eine längere Internierung aufgrund der klimatischen Bedingungen ihre Gesundheit gefährdete (so Westafrika), in ihre Heimatländer repatriiert werden. Diese Entscheidung begründete das Kolonialministerium mit humanitärer Rücksichtnahme. Auch das War Office plante im Sommer 1939, lediglich in einzelnen Territorien wie Mauritius und St. Helena Lager für „feindliche Ausländer“ einzurichten. Es war beabsichtigt, Feindstaatenangehörige, die in westafrikanischen Kolonien lebten, nicht (wie im Ersten Weltkrieg) nach Großbritan413 NA, CO 968/33/13 (Vermerke vom 8. April, 30. Mai sowie vom 6., 8. und 17. Juni 1941; Telegramm vom 27. Juni 1941); NA, CO 968/64/11 (Telegramm vom 13. Juni 1942).

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nien zu bringen, sondern in Ghana (Goldküste) und Nigeria zu internieren. Nur aus Gambia waren nach den Vorschlägen des Kolonialministeriums Deutsche abzutransportieren. In Sierra Leone sollten sogar europäische Feindstaatenangehörige aufgenommen werden. Allerdings erwiesen sich diese Pläne im Zweiten Weltkrieg als unrealistisch.414 Die Kolonialverwaltungen und die britische Regierung bemühten sich 1940, die Internierten an den Kosten der Internierung und des Transports zu beteiligten. Dazu sollte das Vermögen herangezogen werden, das die Feindstaatenangehörigen an ihren Wohnorten hinterlassen hatten. Es war geplant, Deutsche, die aus Nigeria, Sierra Leone und von der Goldküste nach Großbritannien gebracht worden waren, für die Schiffspassage zahlen zu lassen. Auch Frauen, die von der Londoner Regierung nach Deutschland und Italien zurückgeführt worden waren, sollten die Auslagen für die Repatriierung tragen. Wie sich herausstellte, hatten die Gouverneure aber auch in den Kolonien Deutsche interniert, die gegen das NS-Regime opponierten. Zudem waren viele der Betroffenen zuvor ausgeplündert worden. So hatten zivile Feindstaatenangehörige, die Anfang 1940 aus Nigeria mit einem Schiff in das Vereinigte Königreich gebracht worden waren, ihr Geld dem Kapitän aushändigen müssen. Außerdem erwies sich der finanzielle Transfer von den Konten der Deportierten als schwierig, und erhebliche Summen kamen nicht in England an. Darüber hinaus waren zunächst Gläubiger in den Kolonien zu bedienen, bei denen enemy aliens verschuldet waren. Nicht zuletzt fürchtete das Londoner Kolonialministerium bei einer Kostenbeteiligung deportierter oder repatriierter Deutscher und Italiener, dass deren Regierungen ähnliche Maßnahmen gegen das Vereinigte Königreich verhängen könnten. Die Regierung nahm deshalb davon Abstand.415 Auch in den anderen britischen Kolonien bemühten sich die Verwaltungen, Deutsche, Italiener und Japaner abzuschieben, die schon vor dem Kriegsausbruch als Last und Sicherheitsrisiko betrachtet worden waren. So hatte der Gouverneur von Gambia bereits am 30. März 1939 beim Kolonialministerium angefragt, „if arrangements can be made whereby enemy aliens from this Colony should be transferred as soon as possible after the outbreak of war to a concentration camp under proper military control either elsewhere in British West Africa or in the United Kingdom.“416

414 NA, CO 323/1666/1 (Vermerke vom 19. und 24. April 1939; Brief vom 25. Juni 1939 und Memorandum vom Oktober 1939). 415 NA, CO323/1795/17 („Memorandum. Cost of Repatriation of Enemy Aliens“; Vermerke om 25. und 26. Januar 1940, Briefe vom 29. Januar, 9. Februar und 12. Februar 1940 sowie vom 17. April 1941). 416 Brief vom 20. März 1939 in: NA, CO 323/1666/1.

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6.9.3 Andere Dominions, Kolonien und Mandatsgebiete im Empire Zivile Feindstaatenangehörige wurden aber nicht nur in den Dominions, sondern auch in anderen Territorien des Empire interniert, über die deutlich weniger bekannt ist. So eröffnete die britische Regierung, die Palästina als Mandat des Völkerbundes verwaltete, hier nach dem Aufstand der arabischen Bevölkerung ab 1936 Lager, um die Einwanderung von Juden aus Europa zu begrenzen. Als 1939 ein „Weißbuch“, das vom Kabinett in Auftrag gegeben worden war, diese Politik ausdrücklich bestätigte, richtete die britische Verwaltung unter Hochkommissar Harold MacMichael (1882–1969) in Atlit (südlich von Haifa) ein großes Internierungslager ein, das Immigranten aus Deutschland und Österreich aufnahm. Diese Einwanderer wurden mit Kriegsbeginn enemy aliens und in Atlit festgehalten. Die rechtliche Grundlage der vorgenommenen präventiven Internierung nach Absatz 9 des Emergency Powers (Defence) Act von 1939 blieb aber umstritten und das deutsche Auswärtige Amt protestierte Anfang 1940 gegen die Haftbedingungen. Ab Sommer 1940 wurden die Insassen des Internierungslagers schrittweise entlassen, so dass das Hochkommissariat das Camp 1942 schloss. 1945 musste es angesichts der wachsenden Zahl von Juden, die dem Holocaust entkommen waren, erneut eröffnet werden. Bis 1948 fanden in dem Lager Tausende Juden Zuflucht, auch über die erlaubte Quote hinaus, so dass sie offiziell als „illegale“ Immigranten galten.417 Die Vielschichtigkeit der Internierung und die damit verbundene Multifunktionalität der Lager zeigt auch die Aufnahme von Flüchtlingen auf Mauritius, wohin vor allem Juden transportiert werden sollten, die unerlaubt in Palästina angekommen waren. Auf der im Indischen Ozean gelegenen Insel errichtete die britische Kolonialadministration im Dezember 1940 ein Lager, das als „HM Central Prison at Beau Bassin“ bezeichnet wurde. Hier wurden 1.500 Flüchtlinge aufgenommen, denen die Einreise nach Palästina verweigert worden war. Dabei handelte es sich überwiegend um osteuropäische Juden, aber auch um Deutsche und Österreicher, von denen viele als Feindstaatenangehörige bis zur Schließung des Lagers 1945 festgehalten wurden. Ebenso wie in Atlit brachte die Verwaltung Männer und Frauen zunächst getrennt unter, gab dies aber im Verlauf des Zweiten Weltkrieges auf. Vor allem in den ersten Wochen fielen Tropenkrankheiten mehr als 100 Internierte zum Opfer. Nachdem am 12. August schließlich 1.300 Überlebende nach Palästina zurückgebracht worden waren,

417 FO 369/2563, Bl. 54. Vgl. auch Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 96 f. Zur Diskussion über die rechtliche Grundlage die Dokumente in: NA, CO 968/34/4 (Vermerke vom 9. Januar 1941 und Schreiben vom 13. Februar 1941).

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wurde das Lager geschlossen. Jüdische Flüchtlinge hielten die Behörden auch auf Zypern und Jamaica fest, aber nicht als enemy aliens.418 Auf der Karibikinsel hatte der Gouverneur schon im April 1939 die Errichtung eines Lagers geplant, das unter militärische Verwaltung gestellt werden und sowohl Kriegsgefangene als auch Zivilisten aufnehmen sollte, allerdings in getrennten Quartieren.419 Insgesamt befanden sich auf Jamaica Anfang 1941 rund 1.000 Internierte, darunter auch zahlreiche Seeleute. Die Insassen waren z. T. von Curacao (Niederländisch-Westindien) in die Karibik geschafft worden. Im Lager Kingston litten die Insassen außer unter dem Klima offenbar besonders unter der Trennung von ihren Familien. Der britische Kolonialminister riet dem Gouverneur von Jamaica deshalb, Ehepaaren Begegnungen zu ermöglichen.420 Darüber hinaus hielten die Behörden vor allem auf Malta und in Palästina, aber auch auf Zypern viele italienische Zivilisten gefangen. Hier hatte eine nach britischem Vorbild etablierte Untersuchungskommission bis Juli 1940 in 24 Sitzungen 65 italienische Internierte angehört, von denen 38 zur Entlassung empfohlen worden waren. Auch 62 der insgesamt 106 befragten Deutschen sollten freigelassen werden. Jedoch scheiterten Bemühungen des Gouverneurs der Insel, Italiener nach Palästina abzuschieben, 1944 am Widerstand des britischen Hochkommissars von Jerusalem. Auch die Londoner Regierung fürchtete, dass freigelassene Internierte im Nahen Osten nicht sicher waren.421 Ebenso unterschiedlich war die Internierungspraxis in den ost- und zentralafrikanischen Kolonien Großbritanniens, aus denen später die Staaten Uganda, Kenia, Tanganjika und Südrhodesien hervorgingen. Der Gouverneur Nordrhodesiens hatte die Internierung der Deutschen bereits im September 1939 abgeschlossen, während die Italiener bis Sommer 1940 in Freiheit verblieben. Nach Mussolinis Kriegserklärung wurden auch sie festgenommen und daraufhin zusammen mit den anderen internierten Feindstaatenangehörigen nach Südrhodesien oder Südafrika gebracht. Die Verantwortung für den Unterhalt der Betroffenen und deren Überprüfung durch Tribunale wälzte der Gouverneur auf die Verwaltung in den Zielregionen ab. Vorübergehend nahmen die Behörden in Nordrhodesien auf der Grundlage der Defence Regulation 18B auch Briten fest, die als politisch unzuverlässig oder sogar illoyal galten. Demgegenüber plante das Londoner Kolonialministerium für Tanganjika, Kenia, Uganda, San-

418 Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 99, 102–106. 419 NA, CPO 323/1666/1 (Brief vom 4. April 1939). 420 NA, CO 968/34/5 (Briefe vom 2. und 12. Januar 1941; Telegramm vom 15. Juli 1941). 421 NA, FCO 141/2715 (Briefe vom 14. und 21. Januar 1944). Angaben nach dem Brief vom 23. Juli 1940 in: NA, FCO 141/2715.

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sibar und Njassaland schon im September 1939 eine Deportation von Deutschen nach Großbritannien. Enemy aliens, die nicht Staatsbeamte, Offiziere, Unteroffiziere oder technische Experten waren, sollte die Rückkehr in ihre Heimat auf Schiffen neutraler Mächte erlaubt werden.422 In Kenia wurden nur wenige jüdische Flüchtlinge als enemy aliens gefangen genommen, allerdings im Allgemeinen lediglich kurz, bevor die Kolonialverwaltung sie entließ, besonders wegen des extremen Klimas. Zudem hatten Internierte Bürgschaften erhalten. Aber auch 106 andere Deutsche transportierten Schiffe im Januar 1940 in ihre Heimat zurück. Italiener wurden in Kenia erst 1941 interniert. Die Insassen des Lagers Nairobi umfassten außer Kriegsgefangenen italienische Zivilisten, welche die Behörden „for reasons of order and security“ festgesetzt hatten und im Allgemeinen gut behandelten. Auch waren sie mit der Genfer Konvention von 1929 vertraut, so dass zumindest die gefangenen Soldaten für ihre Rechte eintreten konnten. Demgegenüber hatten italienische Zivilinternierte keinen Anspruch auf eine Vergütung für geleistete Arbeit, so dass sie über den daraus resultierenden Mangel an Geld klagten. Damit konnten sie kaum zusätzliche Versorgungsgüter kaufen.423 Ein weiteres Lager in Nyeri nahm italienische Frauen aus Eritrea auf, nachdem britische und indische Truppen dort am 11. Juni 1941 die Stadt Assab erobert hatten. Andere Zivilinternierte befanden sich in Camps in Kampala und Kabete. Darunter befanden sich auch italienische Missionare. Im Juli 1940 wurden sie zusammen mit den anderen Insassen auf Drängen der britischen Militärbehörden nach Südafrika gebracht, wo 400 männliche und 500 Frauen und Kinder eintrafen. Mit der Eroberung Abessiniens im November 1941 fielen den britischen Truppen weitere 3.000 Italiener in die Hände, die in Tabora (Tanganjika) interniert wurden. Mit Hinweis auf die Sicherheitslage weigerte sich der Gouverneur in Nairobi bis Sommer 1943, der britischen Politik zu folgen und einer Überprüfung der Internierten zuzustimmen, denn eine Rückkehr der Deportierten sollte unbedingt verhindert werden. Neben die handfesten wirtschaftlichen Interessen trat die Furcht lokaler Eliten vor Ausschreitungen gegen die ungeliebten enemy aliens. Nur ausgewiesene Gegner der Nationalsozialisten bzw. Faschisten und einzelne italienische Missionare durften in ihre Wohnorte zurückkehren. Insgesamt aber ging die Zahl der gefangenen italienischen Zivilisten auch in den afrikanischen Kolonien zurück. Hier waren im Dezember 1942 noch 9.300 Italiener interniert, davon allein 4.265 in Kenia und 3.000 in Tanganjika.424 422 NA, FO 369/2547, Bl. 5, 19 f.; NA, CO 968/64/13 (Schreiben vom 8. September 1943). 423 NA, HO 215/84 (Bericht des IKRK über den Besuch Ende Februar 1942). 424 NA, FO 916/906 (Brief vom 2. Dezember 1942); FO 369/2563, Bl. 15; CO 822/112/7, BI. 36–38, 42, 47 (Angaben), 48 f.

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Nachdem sich die neue Regierung Italiens unter Marschall Badoglio den Alliierten angeschlossen hatte, wurden in Ostafrika schließlich auch männliche Internierte entlassen. Wie in der Korrespondenz mit der britischen Regierung aber fortwährend betont wurde, durfte damit auf keinen Fall die Sicherheit im britischen Empire gefährdet werden. Die Polizeibehörden sollten deshalb alle Personen vor ihrer Freilassung überprüfen.425 1942 übermittelte die britische Regierung dem IKRK darüber hinaus eine Liste aller Zivilinternierten, die in Eritrea, Kenia, Rhodesien und Tanganjika gefangen gehalten wurden. Frauen, Kinder und Alte wurden aus den Lagern entlassen und noch vor dem Sturz Mussolinis (25. Juli 1943) nach Italien repatriiert.426 Demgegenüber blieben einige Deutsche in Ostafrika noch bis 1945 in Lagern. In Tanganjika, das als ehemalige deutsche Kolonie erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Großbritannien zuerkannt worden war, waren Nationalsozialisten schon 1939 interniert worden. Bis 1940 ließ der Gouverneur 700 Deutsche repatriieren und die übrigen, die in den ersten Kriegsmonaten aufgegriffen waren, festnehmen. Sie überführten die Behörden in kleinere Lager und in das zentralen Camp Daressalam, wo im Oktober 1939 974 Insassen gezählt wurden. Für jüdische Flüchtlinge war ein gesonderter Bereich eingerichtet worden. Viele entließ der Gouverneur von Tanganjika auf Empfehlung einer Untersuchungskommission, die er eingerichtet hatte, auf Widerruf oder sogar uneingeschränkt. Weitere Gesuche auf Entlassungen wurden geprüft.427 Zuvor war das Eigentum der deutschen Siedler beschlagnahmt und einem Treuhänder übergeben worden. Dennoch betrachtete die britische Kolonialverwaltung auch die deutschen Zivilisten in Tanganjika weiterhin als Sicherheitsrisiko. Deshalb mussten sogar lutherische Missionsgesellschaften ihre Stationen schließen. Ende 1940 und Anfang 1941 wurden schließlich 400 Männer nach Südafrika und 570 Frauen und Kinder nach Südrhodesien deportiert. Hier wiesen sie die Gouverneure in Lager ein, um ihre Rückkehr nach Tanganjika zu unterbinden. Damit sollte vor allem verhindert werden, dass sie die Rückgabe ihres ehemaligen Eigentums verlangten. 868 Deutsche (davon 570 Missionare), die in der Kolonie verblieben waren, wurden festgehalten.428 Noch im Juni 1945 waren in Uganda Deutsche, Österreicher, Ungarn und Rumänen interniert, die Truppen während ihrer militärischen Operationen in Syrien und im Irak gefangen genommen hatten und anschließend in die ostafri425 NA, CO 822/112/7, Bl. 27 („security grounds“, „security“ und „security risk“). 426 Durand, Sarajevo, S. 433. 427 NA, FO 369/2547, Bl. 57–61 428 NA, CO323/1795/17 („Memorandum. Cost of Repatriation of Enemy Aliens“); CO 968/112/4 (Notiz vom 23. März 1945); CO 822/112/7, Bl. 13 f., 39 (Angaben); CO 968/64/13 (Telegramm vom 13. August 1943).

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kanische Kolonie gebracht worden waren. Dies traf auch auf italienische Zivilisten zu, welche die britische Regierung aus Nord- und Ostafrika deportiert hatte. Nicht zuletzt hielten sich in den Lagern bekennende Faschisten und Nationalsozialisten auf, die aus der Südafrikanischen Union nach Uganda deportiert worden waren. Nach Auffassung des dort herrschenden Gouverneurs war Unsicherheit unbedingt zu vermeiden. Er hatte deshalb eine Anweisung des britischen Kolonialministers vom 14. Juli 1943, internierte Feindstaatenangehörige an ihren neuen Aufenthaltsorten von Kommissionen nach dem Modell der britischen Advisory Committees anhören zu lassen, hartnäckig ignoriert. Sogar noch in den Wochen nach dem Kriegsende traf das britische Außenministerium mit dieser Forderung in Uganda auf erheblichen Widerstand.429 Schon im August 1943 hatte der Gouverneur von Tanganjika, Wilfrid Edward Jackson (1883–1971), gewarnt: …in my opinion there are strong objections to the return of any enemy aliens to this territory whatever personal circumstances of individuals may be. There is considerable speculation and anxiety as to the future status of Tanganyika and any return of enemy aliens would create much uneasiness as to possible future disposal of territory and might arouse doubts in the minds not only of European residents but also native inhabitants as to the future intentions of H. M. Government in this respect.[…] These considerations would also apply to allowing any enemy aliens to return to property now under the control of the Custodian of Enemy Property. Any such movement would arouse undesirable speculation as to the final disposal of these properties which will be one of the important problems in post war settlement of the future of Tanganyika.430

Der Generalgouverneur Südafrikas hatte bis September 1942 allein 488 Italiener festnehmen lassen. Von ihnen waren neun auf Bewährung freigelassen worden.431 In Südrhodesien errichtete die Kolonialverwaltung noch 1945 bei Salisbury ein Lager, in dem deutsche Zivilisten aus Tanganjika und dem früheren Deutsch-Südwestafrika lebten. Hier und in weiteren Camps in Njassaland, von denen die größten in Fort Victoria, Gatooma und Umvuma lagen, befanden sich im Verlauf des Zweiten Weltkrieges 12.000 enemy aliens. In Nankumba war im Dezember 1941 ein Lager für 94 jüdische Flüchtlinge eingerichtet worden, die als enemy aliens aus Zypern über Palästina deportiert worden waren. Die Internierten konnten im Nankumba arbeiten, und viele von ihnen wurden zügig entlassen. Darüber hinaus hielt die britische Kolonialmacht in ihrem zentralafrika429 NA, CO 968/112/4 (Notizen vom 20. Juni und 4. September 1945); NA, CO 968/64/13 (Telegramm vom 7. September 1943). 430 NA, CO 822/112/7, Bl. 45. 431 Angaben nach: NA, FO 916/293 (Brief der Südafrikanischen Union an den Staatsekretär im Ministerium für Angelegenheiten der Dominions vom 20. September 1942).

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nischen Protektorat (dem heutigen Malawi) Flüchtlinge und Zivilgefangene aus dem Irak fest, die überwiegend nach dem gescheiterten Aufstand 1942 hierher deportiert worden waren. Hier klagten die Internierten – besonders Italiener im Camp Mapanga (Njassaland) – vor allem über den Mangel an bezahlter Arbeit und die unzulängliche Postverbindung in ihre Heimat.432 Auch in Nigeria wurden einzelne Deutsche interniert, so zwölf Missionare, Frauen und Kinder, die in einem Lager nahe der Stadt Umuahia lebten. Für sie setzte sich 1940 das Konsulat der Schweizer Schutzmacht in Accra ein. Das britische Kolonialministerium erlaubte der Eidgenossenschaft, das Camp zu besichtigen.433 Insgesamt waren im Oktober 1942 in den Kolonien 517 deutsche Männer, 738 Frauen und 24 Kinder interniert, vor allem in Palästina und auf Jamaica. Im Juni 1944 befanden sich gefangene enemy aliens noch in Kenia, Britisch-Guyana, Uganda, Njassaland, Tanganjika und Palästina. Auch auf Malta, Bermuda, Jamaika, Trinidad und den Falkland-Inseln waren weiterhin festgenommene Zivilisten interniert, die gegnerischen Staaten angehörten.434 Es handelte sich dabei nahezu ausschließlich um Deutsche, da Italiener auch in den Kolonien schon vor 1943 besser behandelt und nach dem Seitenwechsel ihres Landes repatriiert wurden.435 Insgesamt orientierten sich die Gouverneure in den Kolonien in ihrem Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen einerseits an der britischen Politik. So bat der Generalstaatsanwalt von Uganda das Londoner Kolonialministerium schon im September 1939 um Informationen über die Kompetenzen der Tribunale, die im Vereinigten Königreich für enemy aliens eingerichtet worden waren. Auch interessierte ihn das Verfahren der Anhörungen. Gouverneure weiterer Kolonien erbaten Anweisungen zur Praxis der Verhaftung und Internierung, zur Begleichung von Schulden gegenüber „feindlichen Ausländern“, zur Beschlagnahme ihres Eigentums und zur Liquidierung ihrer Unternehmen.436 Andererseits entzogen sich die britischen Gouverneure in den Kolonien aber auch wiederholt zentralen Anweisungen. So ignorierten viele von ihnen

432 NA, HO 215/86 (Berichte „Camp for Italian Internees at Mapanga, Nyasaland“, „Iraqi Civilian Internment Camp. Extension Camp No. 1, Salisbury“ und „Camp for Jewish refugees at Nankumba, Nyasaland“). Zusammenfassend: Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 106–112. 433 NA, CO 323/1795/13 (Schreiben vom 20. Dezember 1940). 434 NA, CO 968/112/4 (Brief vom 9. Juni 1944); FO 916/906 (Schreiben vom 31. Dezember 1942). 435 NA, CO 822/112/7, Bl. 8, 10. 436 NA, CO 323/1592/47 (Brief vom 10. November 1938); CO 323/1667/7 (Schreiben vom 26. September 1939).

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den Trading with the Enemy Act vom September 1939. Vermögen und Eigentum von Feindstaatenangehörigen wurden vielerorts irregulär beschlagnahmt und Treuhändern übertragen, die damit Gläubigern wahllos Schulden der enemy aliens zahlten. Darüber hinaus wurden Liquidatoren eingesetzt, die Unternehmen und Betriebe von Deutschen, Österreichern und Italienern abwickelten. Aus dem beschlagnahmten Vermögen befriedigten die Verwalter oft summarisch Ansprüche von Personen, die in den Kolonien lebten, gegenüber deutschen Schuldnern. Auch die Regierungen der Kolonien beteiligten sich an der Bereicherung, indem sie sich Erlöse der Produktion auf beschlagnahmten Plantagen der Feindstaatenangehörigen aneigneten. Kolonialminister Malcolm MacDonald kritisierte diese Praktiken schon im Januar 1940, bestand aber nicht auf eine Rücknahme der Maßnahmen. Vielmehr sollten sie durch neue Regelungen ersetzt werden, die dem Trading with the Enemy Act entsprachen.437 Die Gouverneure ließen sich aber nur begrenzt steuern und verwiesen auf die besonderen Bedingungen, mit denen sie konfrontiert waren. So unterschieden sich die Enteignungen, Deportationen, die Einrichtung von Internierungslagern und die Versorgung der Insassen unter vielerorts harten klimatischen und geopolitischen Bedingungen in den Kolonien von den analogen Prozessen in Großbritannien. Dies erkannte letztlich auch das britische Kolonialministerium an. In einem Telegramm wies es am 11. November 1943 die Gouverneure der Kolonien an, gegen die Feindstaatenausländer „in the light of local conditions“ vorzugehen.438 In Indien folgte der Umgang mit Feindstaatenangehörigen im Zweiten Weltkrieg zwar der britischen Politik; er war aber auch der besonderen Bedrohungslage in den Jahren von 1941 bis 1943 geschuldet, als japanische Truppen auf die Grenzen des Subkontinents vorrückten. Schon zuvor hatten Nationalsozialisten in Indien bei den Behörden, die den britischen Generalgouverneuren und Vizekönigen Freeman Freeman-Thomas (1931–1936) und Victor A. J. Hope (1936– 1943) unterstanden, zusehends Besorgnis ausgelöst. Die 1931 gegründete Landesgruppe der NS-Auslandsorganisation bemühte sich unter ihrem „Führer“ besonders, die Hindus als „Arier“ für den Nationalsozialismus zu gewinnen. Die Einflussnahmen, die der „Deutsche Klub“ in Bombay tarnte, und die Propaganda in Presseorganen wie der Zeitschrift „Der Deutsche in Indien“ (seit 1937) schienen die innere Sicherheit Indiens zu gefährden. Hinzu kamen Angriffe deutscher Nationalsozialisten auf Inder. Diese Aktivitäten diskreditierten letztlich alle Deutschen. Aus der Sicht vieler Politiker und Beamter in Indien waren

437 NA, FO 369/2561 (Rundschreiben vom 18. Januar 1940). 438 NA, CO 822/112/7, Bl. 26.

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sie zumindest potentiell Spione und Saboteure, die verdächtig waren und überwacht werden mussten.439 Schon 1933 hatte deshalb auch eine Diskussion über die politischen Flüchtlinge aus Europa eingesetzt, für deren Aufnahme in der Administration des britischen Generalgouverneurs das Public and Judicial Department zuständig war. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 an das „Dritte Reich“ nahm die Zahl der Einreiseanträge von Geflohenen aus Mitteleuropa in Indien sprunghaft zu. Allerdings entzogen die nationalsozialistischen Machthaber österreichischen Juden ihre Pässe, ohne die sie keine Visa beantragen konnten. Der Generalgouverneur lockerte diese Regelung zwar im Mai 1938. Dabei erkannte er die humanitäre Notlage der Gruppe ausdrücklich an. Zugleich legte er fest, dass nur „erwünschte“ Flüchtlinge zugelassen werden sollten, die in Indien Verwandte, Bekannte und Freunde hatten. Diesen erlegte der Generalgouverneur auf, den Zwangsmigranten Arbeit zu vermitteln. Diese Barriere und der Widerstand einzelner Berufsgruppen wie der Ärzte führten zur Ablehnung vieler Gesuche um Aufnahme. So mussten jüdische Einwanderer nachweisen, dass sie nicht der Armenfürsorge anheimfallen würden. Im Oktober 1938 wurde dem Wiener Zahnarzt Ernst Schubert und seiner Ehefrau Lucie sogar mit dem Hinweis, dass es sich bei ihnen offensichtlich um österreichische Staatsbürger handelte, der Aufenthalt verweigert. Dennoch wurden in Indien von 1933 bis 1939 deutlich mehr als die 1.000 Flüchtlinge aufgenommen, welche die Jewish Relief Association (JRA) in ihrer Zentralverwaltung in Bombay registrierte.440 Im April 1939 mussten sich alle Ausländer bei der Polizei melden, die sie registrierte. Mit der Kriegserklärung Indiens an Deutschland am 3. September 1939 verabschiedete die Kolonialverwaltung die Enemy Foreigners Order, nach der alle im Land lebenden männlichen Feindstaatenausländer im Alter von 16 bis siebzig Jahren festgenommen und interniert werden konnten. Frauen und Kinder blieben zunächst in Freiheit. Allerdings unterschied sich die Internierungspraxis in den einzelnen Fürstenstaaten. So wurden Flüchtlinge in Bikaner ausgenommen, während die Behörden in Jammu und Kaschmir alle Männer, die gegnerischen Ländern angehörten, ausnahmslos verhafteten und in Lager 439 Margit Franz, Gateway India. Deutschsprachiges Exil in Indien zwischen britischer Kolonialherrschaft, Maharadschas und Gandhi, Graz 2015, S. 111–118; Joseph Cronin, Framing the Refugee Experience. Reflections on German-Speaking Jews in British India, 1938–1947, in: Bulletin of the German Historical Institute London 41 (2019), Nr. 2, S. 45–74, hier: S. 53 f. 440 Franz, Gateway, S. 48; Cronin, Refugee Experience, S. 69; India Office Records (IOR), British Library, M/3/460; IOR,L/PJ/8/750; IOR,L/PJ/7/3371; IOR,L/PJ/7/2138, nach: Joseph Cronin, European Jewish Refugees in India, 1930s – 1950s, in: Transnational Research Group Poverty and Education in India, hg. vom German Historical Institute London, London 2018, S. 47–56, hier: S. 49–51.

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einwiesen. Überall galt die Internierung aber offiziell als Sicherheitsmaßnahme, da die Grenzen zu den Nachbarstaaten lang waren und das Government of India die Loyalität großer Bevölkerungsgruppen gegenüber dem Vereinigten Königreich bezweifelte. Bis zum 13. Januar 1940 waren von den 1.668 Deutschen, die sich im Land aufhielten, 414 festgesetzt worden. Nachdem die Zahl der Internierten vorübergehend auf 888 gestiegen war, führten Anhörungen des Aliens Advisory Committee unter dem hochrangigen Beamten Malcolm Darling zu Beginn des Jahres 1940 zur Entlassung von 578 Internierten, zumal sich humanitäre Organisationen wie die Jewish Relief Association nachdrücklich für festgenommene Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich eingesetzt hatten. Besonders die gemeinsame Unterbringung von Nationalsozialisten und ihren Gegnern bzw. Opfern in den Lagern war auf scharfe Kritik getroffen. Anfang April 1940 ging das Londoner Außenministerium von nur noch 327 bis 396 internierten enemy aliens aus.441 Die indische Regierung unter den britischen Generalgouverneuren folgte zwar keineswegs bruchlos den Direktiven des India Office, der Politik des britischen Innenministeriums und des Parlaments, sondern setzte mit dem Hinweis auf die besonderen Bedingungen in Indien wiederholt durchaus eigenständig mildere sicherheitspolitische Maßnahmen gegen zivile Feindstaatenangehörige durch. Im Sommer 1940, als ein Angriff der deutschen Wehrmacht auf Großbritannien drohte, weitete jedoch auch der Vizekönig erneut die Internierung der enemy aliens aus. Viele Deutsche und Österreicher, die bereits entlassen worden waren, wurden erneut verhaftet, darunter auch Frauen und Kinder. Überdies drängte die indische Regierung die Fürstenstaaten, Flüchtlinge, die sie aufgenommen hatten, den britischen Behörden zu überstellen.442 Unter den Internierten befanden sich auch Juden, die in der Regel die Weitergabe von Informationen an das nationalsozialistische Deutschland ablehnten, da sie Repressalien gegen ihre noch im „Dritten Reich“ lebenden Verwandten und Bekannten befürchteten. Sie konnten damit in den Akten von den politisch loyalen Deutschen unterschieden werden, die dies explizit wünschten. Diese Unterscheidung sollte jüdische Flüchtlinge in Indien – wie im gesamten Empire – vor Verfolgung durch Nationalsozialisten schützen, mit denen sie in den Internierungslagern 1940 aber oft eng zusammenleben mussten. Erst im Jahresverlauf drängten das India Office in der britischen Regierung und verschiedene jüdische Hilfsorganisationen auf eine Trennung der beiden Gruppen und die Entlassung der internierten Juden. Bis 1943, als die Jewish Relief Asso441 Angaben nach: NA, FO 369/2569, Bl. 202 f.; FO 369/2563, Bl. 42. Vgl. auch Franz, Gateway, S. 120, 181–186; Cronin, Refugee Experience, S. 52, 54. 442 Franz, Gateway, S. 188; Cronin, Refugee Experience, S. 50.

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ciation die Zahl der jüdischen Flüchtlinge mit 1.080 veranschlagte, verschob sich die Priorität in der Flüchtlingspolitik zu einer möglichst schnellen Repatriierung nach dem Kriegsende. Jedoch hatte das JRC erst 1946 die Schiffe gesichert, die für einen sicheren Rücktransport notwendig waren. Nach der Unabhängigkeitserklärung Indiens, das sich daraufhin dem British Commonwealth anschloss, wurde diese Kapazität aber auch für die Rückführung der britischen Verwaltungsbeamten und der Ausrüstung benötigt. Die Repatriierung der Flüchtlinge konnte deshalb erst 1948 abgeschlossen werden.443 Das zentrale Internierungslager Premnagar bei Dehra Dun am Himalaya-Gebirge hatte ab Oktober 1941 deutsche Männer aus Indien, aber auch aus anderen Territorien des Empire wie dem Irak und Hongkong aufgenommen. So wurde die Government of India Ende 1941 gebeten, rund 5.000 Internierte aus Niederländisch-Indien, Ceylon, Burma und Singapur aufzunehmen, da der Angriff Japans diese Gebiete bedrohte. Darüber hinaus wurden hier Feindstaatenangehörige aus Italien, Ungarn, Bulgarien und Finnland untergebracht. Die Zahl der deutschen Internierten im Lager Premnagar ist mit 1.500 veranschlagt worden. Zu den Insassen zählte auch der österreichische Bergsteiger Heinrich Harrer (1912–2006), dem 1944 eine spektakuläre Flucht nach Nepal gelang. Ebenso wurde Siegmund Feiniger (1901–1994), ein deutscher Jude, der 1936 nach Ceylon geflohen und dort buddhistischer Mönch geworden war, als Feindstaatenangehöriger in dem Camp in Indien festgehalten. Seine Internierung zeigt nicht nur die willkürliche Anwendung der Kategorie des enemy alien, sondern auch die globale Dimension der britischen Politik gegenüber Zivilisten, die den „Achsenmächten“ angehörten. Das Camp Premnagar diente bis November 1946 als Zivilinternierungslager. Nach der Repatriierung der Insassen nahm es im Herbst 1947 Flüchtlinge auf, die angesichts der gewalttätigen Unruhen im Anschluss an die Unabhängigkeit und Teilung des Subkontinents aus Pakistan geflohen waren.444 Weitere zivile Feindstaatenangehörige brachte der Generalgouverneur von Indien im Lager Ahmednagar unter, das im September 1939 – wie schon im Ersten Weltkrieg – eingerichtet wurde. Hier waren im September 1942 neben acht Italienern und zwei Ungarn 1.234 Deutsche interniert. Viele von ihnen hatten Soldaten der Alliierten in Niederländisch-Indien verhaftet. Die Insassen wurden hier in Baracken und Zelten untergebracht und im Allgemeinen nach den Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 behandelt. Vermögende Internierte, die Leistungen bezahlen konnten, genossen eine privilegierte Stellung. Au443 IOR, L/PJ/8/32; IOR, L/PJ/69; IOR,L/PJ/8/12081, nach: Cronin, Refugees, S. 49 f. Angabe nach: Cronin, Refugee Experience, S. 47, 57. 444 Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 112–114; Franz, Gateway, S. 194, 198–203.

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ßer der Klassendifferenz beeinträchtigten vor allem Konflikte zwischen Nationalsozialisten und ihren Gegnern in dem Lager das Zusammenleben, das die Insassen durch selber organisierte Aktivitäten zu erleichtern suchten.445 Frauen, denen bis Frühjahr 1940 nicht die Ausreise aus Indien gelungen war, diente Ahmedngar als Durchgangslager zum Camp Dehradun, wo vor allem Nationalsozialisten interniert wurden. Andere weibliche Insassen wurden ab 1942 auf Bewährung freigelassen. Über das Lager produzierte das Unternehmen Movietone News im Zweiten Weltkrieg mit Zustimmung des Londoner Indien- und Kolonialministeriums einen Film.446 Außer den Camps unterhielt die indische Regierung Parole Centers, in denen Feindstaatenangehörige oft im Familienverband untergebracht wurden. Hier lebten Frauen, Männer und Kinder freier als in den Internierungslagern. Sie durften die insgesamt acht Centres (1940) verlassen, aber auf Bewährung und nach einer ehrenwörtlichen Versicherung zurückzukehren. Das Government of India und der britische Generalgouverneur befürchteten nämlich auch nach der Kriegswende 1942/43 eine Infiltration durch Nationalsozialisten. Insgesamt beeinflussten in Indien keineswegs vorrangig humanitäre Grundsätze die Internierungspolitik. Ebenso wie in Großbritannien war sie vielmehr primär vom pragmatischen Kalkül der Regierung und des Londoner India Office geprägt. Dabei war „Sicherheit“ das wichtigste Handlungs- und Entscheidungskriterium.447 Der Gouverneur von Ceylon hatte den britischen Kolonialminister schon am 29. September 1938, als sich angesichts der Krise über das Sudetenland ein neuer Krieg abzeichnete, energisch gedrängt, im Empire die Internierung aller männlichen Feindstaatenangehörigen und dafür Lager vorzubereiten. Dazu griff er auf die Verordnungen, die während des Ersten Weltkrieges zur Behandlung von enemy aliens erlassen worden waren, und auf die 1928 verabschiedete Defence (Certain British Possessions) Order in Council zurück. Auf dieser Grundlage sollte das Eigentum der Festgenommenen konfisziert werden. Der Gouverneur hatte sogar schon einen Treuhänder ausgewählt, der den beschlagnahmten Besitz im Kriegsfall treuhänderisch zu verwalten hatte. Dieser war informiert und beauftragt worden, sich auf seine Verpflichtungen vorzubereiten.448 Nach dem Kriegsbeginn wurden die Feindstaatenangehörigen auf Ceylon interniert. Hier hielten sich Anfang Februar 1942 im Lager Diyatalawa, in das schon während des Krieges in Südafrika Buren verbracht worden waren, 156 zi445 Angaben nach: NA, FO 916/293 (Brief der Gesandtschaft der Schweiz vom 1. Oktober 1942 und Schreiben des Prisoners of War Department an Rodolphe Haccius, IKRK, vom 30. September 1942). Vgl. auch Franz, Gateway, S. 195–198. 446 NA, CO 323/1795/13 (Brief vom 29. April 1940). 447 Franz, Gateway, S. 203–208. 448 NA, CO 323/1592/47 (Schreiben vom 29. September 1938).

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vile Feindstaatenangehörige auf, darunter 112 Deutsche, 18 Italiener und 18 Japaner. Das Deutsche Rote Kreuz und eine Hilfsorganisation, die humanitäre Unterstützung in Shanghai organisierte, versorgten die Internierten, deren Lebensumstände ein Inspekteur des IKRK positiv beurteilte. Auch der Lagerkommandant galt als kompetent und rücksichtsvoll. Allerdings forderten jüdische Flüchtlinge, die interniert worden waren, eine Anhörung und ihre Entlassung aus dem Camp.449 Die übrigen Insassen ließ der Gouverneur anschließend nach Indien bringen. Eine Rückkehr der Deportierten lehnte er 1944 ausdrücklich ab, da er Unruhe und eine Rückforderung beschlagnahmten Eigentums befürchtete. Auch dieser Vorgang zeigt beispielhaft das relativ eigenständige Vorgehen der Gouverneure und die besonderen Interessen im britischen Empire, das vom Londoner Kolonialministerium im Zweiten Weltkrieg keineswegs lückenlos kontrolliert werden konnte.450 In Britisch-Malaya, wo mit 1935 mit einem Official Secrets Act und 1938 mit einer Undesirable Publications Ordinance Gesetze des Vereinigten Königreichs weitgehend übernommen worden waren, wiesen die britischen Behörden inhaftierte Deutsche und Österreicher besonders in Lager in Singapur ein. Als Anfang 1942 japanische Truppen schnell auf die Stadt vorrückten, wurde diese Internierten überwiegend nach Australien gebracht.451 Eng dem britischen Vorbild folgte die Internierung auf den Westindischen Inseln, so auf Trinidad, wo im September 1943 ein Sudetendeutscher interniert war, den der Gouverneur zuvor als Sympathisant des NS-Regimes nach der Defence Regulation 18B festgenommen hatte.452 Nach einer Phase, in der 1939/40 nur wenige Feindstaatenangehörige verhaftet worden waren, gingen die Gouverneure der Kolonien im Juni 1940 ebenso zur Masseninternierung über wie das Kriegskabinett um Churchill im Vereinigten Königreich. Anschließend begannen ab Juli 1941 Entlassungen. Dafür legten die Behörden nach dem Vorbild der britischen „Weißbücher“ einzelne Gruppen fest, die freizusetzen waren.453 Ein Wissenstransfer von Großbritannien in die Kolonien vollzog sich sogar bei einzelnen Fragen. So erkundigte sich der Gouverneur von Trinidad im September 1944 beim Londoner Kolonialministerium

449 NA, HO 215/87 („Translation. International Committee of the Red Cross – Geneva. Ceylon – Civilian Internment Camp at Diyatalawa, Ceylon“). 450 NA, CO 968/112/4 (Brief vom 26. August 1944). 451 Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 52, 70. Zu den Gesetzen: Safar Hasim, Sepoy Mutiny, S. 130 f. 452 NA, CO 968/64/13 (Telegramm vom 11. September 1943). 453 Koessler, Internment, S. 114.

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nach den Regelungen und Erfahrungen zum Freigang von Internierten in Großbritannien.454

6.10 Neutrale Staaten Schweiz In der Eidgenossenschaft wurden Zivilisten und Soldaten, die kriegführenden Staaten angehörten, im Zweiten Weltkrieg erneut interniert. Dies entsprach den Neutralitätspflichten des Landes.455 Schon von 1933 bis 1939 waren 7.000 bis 8.000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich aufgenommen worden. Allerdings hatten die Behörden nur 392 Anträge auf Asyl anerkannt, zumal eine Verfolgung aufgrund der NS-Rassenideologie in der Eidgenossenschaft keinen Anspruch auf Aufnahme begründete. Auch im Zweiten Weltkrieg wurden nur 252 Asylsuchende anerkannt. Obwohl das Eidgenössische Polizei- und Justizdepartment die Landesgrenzen am 13. August 1942 abriegelte und von Januar 1940 bis Mai 1945 insgesamt 24.398 Personen an der Grenze abwies, fanden in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg rund 60.000 Zivilisten Schutz. Davon ließ die Regierung 53.000 internieren, die überwiegend ohne Einreisebewilligung in das Land gekommen waren. Besonders gegen diese „illegal Eingereisten“ richteten sich antisemitische Ressentiments. Auch „Linksextremisten“ (Kommunisten und Sozialdemokraten) wurden Opfer der weit verbreiteten Furcht vor „Überfremdung“. Außerdem begründeten Konkurrenzneid und der Konflikt über wirtschaftliche Ressourcen die Abschottungspolitik des Bundesrates. Diese Motive bündelte (und verdeckte) die Sorge um die innere und äußere und Sicherheit, und sie nährten die Fremdenfeindlichkeit, die vor allem die Polizei und Justiz unablässig beschworen. Die Angst um die Stabilität und Sekurität bildete damit einen Resonanzboden, der aber auch gezielt für eigennützige Zwecke eingesetzt und geschaffen wurde. Insgesamt belief sich die Zahl der Ausländer, die während des Zweiten Weltkrieges als Soldaten oder Zivilisten in der Schweiz lebten, auf rund 300.000.456 Wie bereits dargelegt, hatte die Furcht vor „Überfremdung“, die um 1900 erstmals öffentlich artikuliert worden war, im Ersten Weltkrieg maßgeblich zu

454 NA, HO 215/119 (Notiz vom 12. September 1944). 455 Auger, Prisoners, S. 15. 456 Angaben nach: Hermann Wichers, Schweiz, in: Claus-Dieter Krohn u. a, (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, Darmstadt 1998, Sp. 376, 380; Tanner, Geschichte, S. 283; de Syon / Ericson, Neutral Internees, S. 201.

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einer Abwehrpolitik beigetragen, die sich zunächst vor allem gegen tatsächliche oder vermeintliche Kriegsgewinnler, Schieber und Wucherer richtete. 1917 war schließlich mit einer Notverordnung die Eidgenössische Zentralstelle für Fremdenpolizei eingerichtet worden, die ab 1919 Heinrich Rothmund leitete. Die neue Institution sollte Flüchtlinge – vor allem Juden – abwehren. Zugleich hatten die Kampfhandlungen den Handel unterbrochen, so dass die Schweizer zusehends verarmten. 1918 lösten die wirtschaftliche Notlage und die politische Polarisierung schließlich einen Generalstreik aus. Nach einer kurzen Stabilisierung nahmen die Arbeitslosigkeit und politischen Spannungen in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren erneut zu. Auch deshalb gewannen die Kommunisten zusehends Anhänger. Der Aufstieg ihrer Partei verstärkte den Antibolschewismus, der schon nach der russischen Oktoberrevolution kräftig gewachsen war. Zugleich gewann mit dem autoritären „Frontismus“, dem der italienische Faschismus und die nationalsozialistische „Machtergreifung“ kräftig Auftrieb verlieh, eine rechtsextremistische Bewegung politischen Einfluss.457 Ihre Mitglieder und Anhänger forderten, die inneren Gegensätze – vor allem zwischen den Deutsch bzw. Französisch sprechenden Bevölkerungsgruppen – zugunsten eines Konsenses zu überwinden, der auf dem korporativen Zusammenschluss, einem nachhaltig wirksamen isolationistischen Selbstbild und eugenischen Konzepten der Bevölkerungspolitik basierte. Allerdings vertrat während der Legislaturperiode von 1935 bis 1939 nur ein Delegierter im Parlament die „Frontisten“. Sie verbreiteten antisemitische Literatur wie die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“, gegen deren Vertrieb der Schweizerische Israelitische Geheimbund und die Israelitische Kulturgemeinde Bern 1933 Klage einreichten. Der Prozess und die Berufungsverhandlung verliehen den „Frontisten“ bis 1937 in der Schweiz eine erhebliche Publizität. Zudem verfügten die Nationalsozialisten in einzelnen Regionen und Städten – so in Davos – über beträchtlichen Einfluss. Dagegen richtete sich das Attentat, das ein jüdischer Medizinstudent im Februar 1936 auf den Landesgruppenleiter der NSDAPAuslandsorganisation, Wilhelm Gustloff (1895–1936), verübte. Aufgeschreckt von der Furcht vor einer nationalsozialistischen Unterwanderung der Schweiz, 457 Zur Abwehrpolitik bis zu den 1930er Jahren: Georg Kreis, Zwischen humanitärer Mission und inhumaner Tradition. Zur schweizerischen Flüchtlingspolitik der Jahre 1938–1945, in: Philipp Sarasin / Regina Wecker (Hg.), Raubgold, Reduit, Flüchtlinge. Zur Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Zürich 1998, S. 121–139, hier: S. 124f.; Wichers, Schweiz, Sp. 376. Der Begriff „Fronten“ fasste verschiedene rechtskonservative, nationalistische Gruppen wie die „Nationale Front“, die „Neue Front“ und den „Bund Nationalsozialistischer Eidgenossen“ zusammen, die sich Ende der zwanziger Jahre gebildet hatten. Vgl. Walter Wolf, Faschismus in der Schweiz. Die Geschichte der Frontenbewegung in der deutschen Schweiz 1930–1945, Zürich 1969.

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verbot der Berner Bundesrat die Landesleitung der NSDAP und deren Kreisleitungen. Allerdings konnten NS-Mitglieder bereits 1937 wieder legal in der Eidgenossenschaft agitieren.458 Demgegenüber trafen Kommunisten und Sozialisten in der Staatsverwaltung auf entschiedene Ablehnung. So verurteilten Gerichte in der Eidgenossenschaft Freiwillige, die sich Franco angeschlossen hatten, wegen des verbotenen fremden Militärdienstes (und der damit verbundenen Schwächung der Wehrkraft nach Artikel 94 des Militärstrafgesetzes) zu deutlich geringeren Strafen als die republikanischen Kämpfer. Zudem repatriierte das Eidgenössische Politische Departement unter Giuseppe Motta (1871–1940) bereitwillig Franco-Freiwillige. Im Zweiten Weltkrieg kämpften schließlich mindestens 870 Schweizer in der deutschen Waffen-SS.459 Noch weitaus einschneidender waren die Restriktionen, die gegen die jüdische Bevölkerung verhängt wurden. In den zwanziger Jahren hatte die Angst vor einer „Überfremdung“ in der Eidgenossenschaft eine Debatte befeuert, die zwar grundsätzlich gegen alle Einwanderer, aber besonders gegen die Juden gerichtet war. Sie wurden eng mit dem Bolschewismus assoziiert. Die wirtschaftliche und politische Krise, der Aufstieg des Nationalsozialismus und der Einflussgewinn faschistischer Bewegungen nährten die Fremdenfeindlichkeit in den dreißiger Jahren weiter, so dass Juden, aber auch Roma, Sinti und Jenische diskriminiert wurden. Schweizerische Unternehmen, die im „Dritten Reich“ Filialen unterhielten, entließen nach 1933 jüdische Beschäftigte, um ihre Geschäftsinteressen nicht zu gefährden. 1938/39 eigneten sie sich in Deutschland z. T. auch „arisiertes“ jüdisches Vermögen an. Obgleich nach dem „Anschluss“ Österreichs viele jüdische Flüchtlinge (z. T. illegal) in der Eidgenossenschaft Schutz fanden und hier die Behörden nicht gegen Ausländer vorgingen, waren die 18.000 Juden, die bis zum Sommer 1918 aufgenommen worden waren, unter den vier Millionen Schweizern eine kleine Minderheit. Nachdem die von US-Präsident Franklin D. Roosevelt einberufene Flüchtlingskonferenz in Evian im Juli 1938 nicht die erhoffte Einigung über die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ herbeigeführt hatte, verhängte die Regierung der Schweiz im darauf folgenden Monat ein Einreiseverbot für verfolgte Juden. Diese restrik458 Stephan Schwarz, Ernst Freiherr von Weizsäcker und die Schweiz (1933–1943), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56 (2008), S. 638–654, hier: S. 639. Dazu auch: Tobias Engelsing, Das Hitlerbad, in: Die Zeit, Nr. 4 / 18. Januar 2007, S. 84. Zum Berner Prozess und zur Berufungsverhandlung: Eckart Schörle, Internationale der Antisemiten. Ulrich Fleischhauer und der „Eine Welt-Dienst“, in: Werkstatt Geschichte 51 (2009), S. 57–72, hier: S. 62–66. 459 Ralph Hug, Schweizer in Francos Diensten. Die Francofreiwilligen im Spanischen Bürgerkrieg 1936–1939, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 61 (2011), S. 189–207, hier: S. 191, 197–199, 201, 203–206.

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tive Maßnahme war von Rothmund nachdrücklich gefordert und mit Zustimmung des ehrenamtlichen Präsidenten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe durchgesetzt worden.460 Alle Flüchtlinge, die in das Land gelangt waren, galten offiziell als „Transmigranten“, die abgeschoben werden sollten. Das EJPD erlegte den Schweizer Juden deshalb auf, eigenständig für ihre geflohenen Glaubensbrüder zu sorgen, die bereits aufgenommen waren. Im Herbst 1938 vereinbarte Rothmund mit den nationalsozialistischen Machthabern in Deutschland sogar, die Pässe von Juden mit einem „J“-Stempel zu versehen und damit ihre Einreise vollends zu unterbinden. Auf die verschärfte antisemitische Politik im „Dritten Reich“, wo jüdische Bürger in der Reichspogromnacht im November 1938 nicht nur ihr Eigentum, sondern vielfach auch ihr Leben verloren, reagierten die Behörden der Schweiz mit bürokratisch-formalistischen Restriktionen, die der Notlage der Zwangsemigranten nicht gerecht wurden. Allerdings boten Kantone wie die Stadt Basel, St. Gallen und Schaffhausen, die Flüchtlinge zuließen, bis in die späten 1930er Jahre Schlupflöcher. Erst im Verlauf der 1930er Jahre setzte der Bundesrat eine rigorose Abschottung durch, die Kantone wie Aargau oder Thurgau vertraten. So wurde der Polizeikommandant von St. Gallen, Paul Grüninger, der die Einreise von mehr als 2.000 Juden zugelassen hatte, 1939 ohne Pensionsanspruch entlassen.461 Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges setzte der Bundesrat – wie schon im Ersten Weltkrieg – ein „Vollmachtenregime“ durch, dass ihm umfassende Kompetenzen und eine beträchtliche Macht verlieh. Damit verschärfte er auch seine Politik gegenüber Einwanderern. So mussten alle einreisenden Ausländer Visa vorlegen. Außerdem hatten sie sich regelmäßig bei der Polizei zu melden. Darüber hinaus wurden seit dem 6. September 1939 illegal eingereiste Ausländer rigoros ausgewiesen. Im März 1940 beschloss der Bundesrat schließlich, Arbeitslager für geflohene Zivilisten und Soldaten einzurichten. Das erste von zunächst zehn Camps wurde am 4. April in Felsberg (im Kanton Graubünden) er-

460 Hierzu und zum folgenden: Mario König (Red.), Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht, Zürich 2002, S. 520 f.; Regula Ludi, What Is So Special about Switzerland? Wartime Memory as a National Ideology in the Cold War Era, in: Richard Ned Lebow / Wulf Kansteiner / Claudio Fogu (Hg.), The Politics of Memory in Postwar Europe, Durham 2006, S. 234–236, hier: S. 234–236; Uriel Gast, Aspekte schweizerischer Fremden- und Flüchtlingspolitik vor und während des Zweiten Weltkrieges, in: Irène Lindgren / Renate Walder (Hg.), Schweden, die Schweiz und der Zweite Weltkrieg, Frankfurt/M. 2001, S. 203–220; Stefan Keller, Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe, Zürich 1993; Zur Konferenz von Evian knapp: Kundrus, „Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg“, S. 48 f.; Longerich, Hitler, S. 619 461 Wichers, Schweiz, Sp. 379.

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öffnet. Bei Büren an der Aare sollten nach dem Plan des eidgenössischen Militärdepartements ab Spätsommer 1940 6.000 polnische Soldaten untergebracht werden, die in die Schweiz geflohen waren. Bis 1946 wurden hier außer dieser Gruppe italienische Soldaten, jüdische Zivilflüchtlinge und sowjetische Bürger untergebracht, die sich weigerten, in ihre Heimat zurückzukehren. Insgesamt richteten die Behörden im Zweiten Weltkrieg 88 Arbeitslager ein. Sie unterstanden dem EJPD, wurden aber vom Militär in Verbindung mit der Zentralleitung der Arbeitslager betrieben. Die Lebensbedingungen blieben vielerorts bedrückend. Viele der Insassen, die besonders unter der quälenden Langeweile litten, waren aus Deutschland oder Österreich geflohen und bereits zuvor in anderen Staaten wie Frankreich und Belgien in Lager eingewiesen worden. Die Eidgenössische Polizeiabteilung setzte die internierten Zivilisten in der Regel zur Arbeit ein. „Linksextremisten“, die zunächst in Gefängnissen einsaßen, wurden ab 1941 in Malvaglia, Gordola und Bassecourt in gesonderten Internierungslagern untergebracht. Außerdem mussten nach einem Beschluss des Bundesrates ab März 1943 Flüchtlinge, die zur Arbeit eingesetzt werden konnten, von anderen separiert werden, die dafür nicht tauglich waren. Damit trennten die Behörden viele Eltern von ihren Kindern, die in Pflegefamilien untergebracht wurden. Allerdings belief sich die Zahl der Flüchtlinge 1944/45 in den Lagern, in denen durchschnittlich 25.000 Zivilisten interniert waren, nur noch auf lediglich 4.000.462 Obgleich die eidgenössische Regierung über den begonnenen Holocaust informiert war, hatte sie schon am 13. August 1942 entschieden, die Grenzen der Eidgenossenschaft vollständig zu schließen. In einer Parlamentsdebatte, die anhaltende Proteste gegen die restriktive Aufnahmepolitik herbeigeführt hatte, wandten sich nur Sozialdemokraten und einzelne Abgeordnete kleinerer Parteien im September 1942 gegen die Abschottungspolitik, welche die bürgerlichen Fraktionen der Freisinnigen, Katholisch-Konservativen zusammen mit den Abgeordneten der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei letztlich durchsetzten. Dazu hatten auch zahlreiche fremdenfeindliche Eingaben des Schweizerischen Vaterländischen Verbandes beigetragen. Die Abwehrpolitik richtete sich vor allem gegen Juden, deren Deportation in Mitte 1942 in Frankreich begann. Aber auch andere unerwünschte Minderheiten wie Sinti und Roma sollten von einer Einwanderung abgehalten werden. Die Eidgenossenschaft öffnete auch nicht ihre Grenzen, als 1943 Juden aus Italien flohen. Sogar nachdem das EJPD die untergeordneten Behörden am 12. Juli 1944 angewiesen hatte, Ausländer, deren Leben in ihren Heimatländern bedroht war, nicht mehr auszuweisen, ließ Roth462 Wichers, Schweiz, Sp. 379 f. Angaben nach: Stadelmann / Krause, „Concentrationslager“, S. 7; de Syon / Ericson, Neutral Internees, S. 203.

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mund weiterhin Flüchtlinge aus der Schweiz entfernen. Die Politik gegenüber Schutz suchenden Ausländern blieb damit nicht nur unsystematisch, sondern auch willkürlich. Insgesamt ließen die Behörden lediglich die Aufnahme von 295.381 Flüchtlingen zu, darunter 19.495 Juden. 13.986 Zivilflüchtlinge waren italienische und 10.384 französische Staatsangehörige.463 Die „Fernhaltepolitik“ der Bundesregierung hatte die Debatte, die im Sommer 1942 im Nationalrat über die Flüchtlingsaufnahme geführt wurde, nur kurzfristig unterbrochen. Zudem wurde die Zensur, die Meldungen über Grenzübertritte (einschließlich erzwungener Rücküberweisungen) und über den Aufenthalt von Flüchtlingen in den Medien unterbinden oder zumindest kanalisieren sollte, während des Zweiten Weltkrieges sukzessive verschärft. Vor allem Berichte über Sympathie- und Solidaritätsbekundungen von Schweizern gegenüber Verfolgten des NS-Regimes wurden unterdrückt, um die Machthaber in Berlin nicht zu reizen. Insgesamt lagen der restriktiven Flüchtlingspolitik und der rigiden Kontrolle der diesbezüglichen Publizistik vorrangig außenpolitische Rücksichtnahmen zu Grunde. Zugleich gab der Bundesrat damit der weit verbreiteten Fremdenfeindlichkeit nach. Auch sollten Ideale schweizerischer Politik wie die Neutralität nicht geschädigt und Selbstzuschreibungen wie das Bild des Landes als „Rettungsinsel“ und Hort der Humanität bewahrt werden. Dabei verwechselten viele Schweizer – auch in den Eliten – offenbar staatliche Neutralität mit gesinnungsethischer Indifferenz, die außenpolitisch keineswegs geboten war. Obgleich sich der Bundesrat ab 1942 neben der privaten Hilfsorganisation erstmals an der Betreuung der Geflohenen beteiligte, ist seine Flüchtlingspolitik deshalb als „schwarzes Kapitel“ bezeichnet worden.464 Letztlich 463 Angaben nach: Kreis, Mission, S. 127–129. Vgl. auch Thomas Maissen, Die Schweiz und die nationalsozialistische Hinterlassenschaft. Anlass, Phasen und Analyse einer neu entflammten Debatte, in: Kenneth Angst (Hg.), Der Zweite Weltkrieg und die Schweiz. Reden und Analysen, Zürich 1998, S. 119–142, hier: S. 124; Gregor Spuhler, Zurückgestellt, zugeführt, freiwillig ausgereist: eine Liste deutscher Zivilflüchtlinge im Thurgau 1944, in: Traverse 8 (2001), H. 1, S. 114–122, hier: S. 119 f.; Ludi, What Is So Special about Switzerland?, S. 235; Stadelmann / Krause, „Concentrationslager“, S. 78. 464 Zit. nach (in dieser Reihenfolge): Georg Kreis, Flüchtlingsdebatte und Zensurregime in den Jahren 1939–1945, in: Kurt Imhof / Patrick Ettinger / Boris Boller (Hg.), Flüchtlinge als Thema der öffentlichen politischen Kommunikation in der Schweiz 1938–1947. Beiheft zum Bericht „Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus“, Bern 1999, S. 145–183, hier: S. 158, 176; Jakob Tanner / Sigrid Weigel, Gedächtnis, Geld und Gesetz in der Politik mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, in: dies. (Hg.), Gedächtnis, Geld und Gesetz. Zum Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges, Zürich 2002, S. 7–18, hier: S. 14. Zitat: Daniel Thürer, Über die schweizerische Neutralität und ihre Hintergründe: Bewährung im Zweiten Weltkrieg? Folgerungen für die Zukunft, in: Tanner / Weigel (Hg.), Gedächtnis, S. 109–144, hier: S. 115, S. 117.

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zeigten aber die Konzessionen der Schweiz im Zweiten Weltkrieg – vor allem gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland –, dass eine integrale Neutralität in totalen Kriegen unrealistisch geworden war.465

Niederlande Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg wurde die Neutralität der Niederlande mit dem Angriff der deutschen Wehrmacht am 10. Mai 1940 missachtet. Schon zuvor hatte sich eine strikte Neutralitätspolitik, die in den Jahren von 1914 bis 1918 noch vertreten worden war, als unrealistisch erwiesen. Nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ war vielmehr die Neigung zu den Westmächten deutlich geworden, die – so die Hoffnung der politischen Eliten – die territoriale Integrität des Landes im Kriegsfall schützen würden. Das britische Expeditionskorps war zwar in Belgien und Nordfrankreich stationiert. Jedoch kooperierten die Geheimdienste der Niederlande und der Westmächte informell und inoffiziell. Dem Sicherheitsdienst des nationalsozialistischen Deutschlands gelang es, das Spionagenetz des britischen Special Intelligence Service zu infiltrieren und im November 1939 zwei seiner Agenten zusammen mit einem Mitarbeiter des holländischen Geheimdienstes GS III über die Grenze nach Venlo zu locken und dort zu verhaften. Damit war die Neutralitätspolitik der Niederlande kompromittiert. Der Vorfall diente dem NS-Regime im Mai 1940 letztlich als Vorwand für den Angriff auf das Nachbarland, das auf die Bedrohung kaum vorbereitet war, da sich die Sicherheitsdienste in den 1920er und 1930er Jahren auf die Überwachung von Sozialisten, Kommunisten und Pazifisten konzentriert hatten.466 Ab 1933 hatte auch die zunehmende Zahl der Flüchtlinge erhebliche Kräfte gebunden. Geflohene Juden und politische Gegner des NS-Regimes, die einen längeren Aufenthalt in den Niederlanden anstrebten, benötigten eine Arbeitserlaubnis, so dass Einwanderungs- und Beschäftigungspolitik miteinander verschränkt waren. Damit wurde der regierungsamtliche Dienst für Arbeitslosenversicherung und Beschäftigungsvermittlung (Rijksdienst voor Werkloosheidsverzekering en Arbeidsbemiddeling) in Entscheidungen über die Immigration einbezogen. Vor allem aber sollten die niederländische Polizei und das Justizministerium, das für die Internierung zuständig war, die innere Sicherheit des Landes gewährleisten.

465 Moos, Neutralität, S. 242. 466 Klinkert, ‚Espionage Is Practiced Here on a Vast Scale‘, S. 45–50.

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Da eine internationale Kooperation – so im Rahmen des Völkerbundes – scheiterte und andere Staaten wie die USA und Belgien die Barrieren gegen Immigranten erhöhten, musste die niederländische Regierung diese Herausforderungen selber bewältigen. Die niederländische Innenpolitik gegenüber den Fremden war jedoch eng mit äußeren Einflüssen verschränkt. Dazu zählte vor allem das Verhältnis zu den Machthabern des „Dritten Reiches“, die durch die NSDAP, den VDA, Tarnorganisationen wie die „Reichsdeutsche Gemeinschaft“ (für die verbotene „Auslandsorganisation“) und den Dachverband „Die Deutsche Kolonie“ Einfluss auf die rund 100.000 Staatsbürger Deutschlands auszuüben suchten. Diese lebten vorrangig in der ostniederländischen Provinz Limburg, wo viele Bergarbeiter ihre Beschäftigung verloren hatten. Die Not dieser „Auslandsdeutschen“ und ihr Wunsch, später nach Deutschland zurückzukehren, förderte ihre Bereitschaft, die Nationalsozialisten zu unterstützen. Diese Parteinahme führte wiederum zu Entlassungen. Soziale Probleme und nationalethnische Identifikationen griffen auch NS-Organisationen wie die „Deutsche Arbeitsfront“ auf. Zudem überwachten und bedrohten Beamte der Gestapo, die dafür deutsche Informanten rekrutierten, gezielt Flüchtlinge. Angst erzwang in diesen Fällen oft Anpassung, Unterwerfung oder sogar aktive Mitarbeit. Obgleich besonders die deutschen Katholiken in Limburg die Angebote von Nationalsozialisten zurückwiesen, musste die niederländische Regierung die Balance zwischen dem Bestreben, die Zuwanderung einzuschränken, und der Notwendigkeit herstellen, die diplomatischen Beziehungen zum „Dritten Reich“ aufrecht zu erhalten, dessen Regime seinerseits den Druck auf den nordwestlichen Nachbarstaat erhöhte. So verdrängte die NS-Führung ab Mitte der dreißiger Jahre – und verstärkt nach dem Pogrom vom November 1938 – Juden massiv aus Deutschland, um (so das zynische Kalkül) dadurch den Antisemitismus in den aufnehmenden Niederlanden zu stärken.467 In diesem Zielkonflikt und Interessengeflecht vollzog sich in den Niederlanden von 1933 bis 1939 die Aufnahme geflohener Deutscher. Dabei entwickelte die Regierung aber keine systematische Politik, die speziell auf die Flüchtlinge zugeschnitten war. Vielmehr agierte sie auf der Grundlage des 1849 erlassenen Ausländergesetzes (Vreemdelingenwet), nach dem Einwanderer nur zugelassen werden sollten, wenn sie ausreichende Mittel als Lebensgrundlage nachweisen konnten. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zwang die Regierung mit dieser Bedingung vor allem die unerwünschten osteuropäischen Juden zur Rückkehr oder zur Weiterwanderung. Auch die rund 750.000 belgischen Flücht467 Bob Moore, Refugees from Nazi Germany in the Netherlands, 1933–40, Dordrecht 1986, S. 70, 73 f., 78, 171–173, 181, 186 f., 191; ders., Nazism and German Nationals in the Netherlands, 1933–40, in: Journal of Contemporary History 22 (1987), S. 45–70.

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linge, die im Ersten Weltkrieg aufgenommen wurden, sollten ausnahmslos in ihre Heimat zurückkehren. Außer Juden waren besonders politische Flüchtlinge fernzuhalten. Gerade diese Gruppen waren im „Dritten Reich“ aber besonders gefährdet. Nach der Übertragung der Macht an die deutschen Nationalsozialisten hatte in den ersten Wochen zunächst vor allem die Zahl der Deutschen zugenommen, die als politische Verfolgte in den Niederlanden um Asyl baten. Unter den rund 5.000 Flüchtlingen, die Ende 1933 registriert wurden, waren aber bereits 4.000 Juden, von denen viele vom Comité voor Joodsche Vluchtelingen (CJV, Komitee für Jüdische Flüchtlinge) unterstützt wurden. Die staatliche Verwaltung, welche die Zuwanderung einzuschränken bestrebt war, half den Hilfsorganisationen kaum und überließ ihnen weitgehend die Unterstützung der Geflohenen. Nachdem die Zuwanderung aus Deutschland vorübergehend abgenommen hatte, wuchs ab Mitte der 1930er Jahre die Zahl der jüdischen Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“, nach dem Pogrom vom November 1938 sogar sprunghaft.468 Angesichts dieser Herausforderungen hatte die niederländische Regierung ab 1933 Direktiven erlassen, die eine flexible Migrationspolitik ermöglichten. Sie bezogen sich vorrangig auf die Erlaubnis zur Einwanderung und zur Arbeitsaufnahme. Das Selbstverständnis als Transitland widerspiegelnd, beschränkte eine Verordnung, die am 30. Mai 1934 verabschiedet wurde, die Aufenthaltserlaubnis für Zuwanderer, die keine Mittel für eine längerfristige Versorgung nachweisen konnten. Die Beamten des Dienstes für Grenzkontrolle und Ausländer (Grensbewaking en Vreemdelingendienst, GVD) wurden daraufhin angewiesen, Dokumente einreisender Ausländer strikt zu kontrollieren. Zudem mussten sich Arbeitgeber, die Ausländer einstellen wollten, nach einem Gesetz vom 16. Mai 1934 um eine gesonderte Erlaubnis der Regierung bemühen. Damit sollten vor allem Immigranten, deren Zuwanderung – tatsächlich oder angeblich – ökonomisch motiviert war, ferngehalten werden. Aber auch der Antikommunismus war in Niederlanden einflussreich. 1935/36 wurden aus Deutschland geflohene linke Aktivisten erstmals interniert, da eine Deportation nach Belgien, wo die Grenzen immer enger geschlossen wurden, zunehmend unmöglich war. Damit verschob sich die Macht in der Regierung in das Justizministerium, das nach dem Novemberpogrom im „Dritten Reich“ am 17. Dezember 1938 die Schließung der Grenze zu Deutschland anordnete. Auch entschied Ministerpräsident Hendrikus Colijn (1869–1944), in Zukunft nur noch Personen aufzunehmen, denen das Justizministerium die Einreise erlaubt hatte oder die auf der

468 Angaben nach: Moore, Refugees, S. 70, 54, 87.

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Durchreise in andere Länder waren. Im Regierungsapparat wuchs auch der Einfluss des GVD, der für die Sicherung der Grenzen zuständig war.469 Dennoch hielten sich in den Niederlande 1938 außer den Einwanderern, die nach den Verordnungen aufgenommen worden waren, auch zahlreiche „illegale“ Immigranten auf, die nicht weitergeleitet werden konnten, da andere Staaten ihre Grenzen ebenfalls geschlossen hatten. Ebenso schied eine zwangsweise Rückführung in das nationalsozialistische Deutschland aus. Die Regierung richtete deshalb Ende 1938 für beide Gruppen Lager ein, zunächst in Amsterdam und Heijplaat (Rotterdam). Am 17. Dezember 1938 wurden in den Camps bereits 1.274 Insassen gezählt, und im Mai 1939 bestanden in den Niederlanden schon 36 Lager, darunter 24 für Kinder, acht für „legale“ und vier für „illegale“ erwachsene Flüchtlinge. Die Camps für „Illegale“, die von Soldaten bewacht wurden, unterstanden dem Justizministerium und diejenigen für „Legale“ dem Innenministerium. Der Lagerbildung (verzuiling) von Politik und Gesellschaft in den Niederlanden entsprechend, wurden Katholiken und Protestanten in den Gemeinden Sluis (Provinz Zeeland) bzw. Schoorl (Provinz Nordholland) und Bilthoven (Provinz Utrecht) getrennt voneinander untergebracht. Angehörige durften sich in der Nähe aufhalten.470 In die Camps sollten im Kriegsfall auch die 1.500 „Reichsdeutschen“ und 800 Niederländer aufgenommen werden, die als illoyal galten und seit 1938 registriert wurden. Anfang 1939 beschloss die Regierung schließlich, ein zentrales Lager zu errichten. Als Standort dafür war Westerbork (bei Assen, Provinz Drente) gewählt worden, wo noch vor dem Kriegsbeginn die neu errichtete Sammelstelle eröffnet wurde. Damit konnten Camps in Reuver (Provinz Limburg), Hoek van Holland und Hellevoetsluis (beide in der Provinz Südholland) geschlossen werden. Zugleich ging die Zahl der Insassen im Lager Westerbork zurück, da nach dem Kriegsbeginn die Zuwanderung deutlich abnahm, die Regierung den Aufenthalt vieler Flüchtlinge legalisierte und andere zur Emigration (in der Regel nach Palästina) bewegen konnte.471 Nachdem die Regierung am 19. April 1940 den Ausnahmezustand verhängt hatte, ließ der Befehlshaber der niederländischen Streitkräfte, Henri Winkelman (1876–1952), 21 Personen verhaften, deren Loyalität gegenüber ihrem Heimatland als zweifelhaft galt. Darunter waren Mitglieder der NSB wie der Chefredakteur der Parteizeitung, Meinoud Marinus Rost van Tonningen (1894–1945). Als

469 Ebd., S. 53 f., 59, 62 f., 66 f. 470 Angaben nach: ebd., S. 87, 90. 471 Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 47, 49; Klinkert, ‚Espionage Is Practiced Here on a Vast Scale‘, S. 46; Moore, Refugees, S. 97 f., 105. Angaben nach: de Jong, Fifth Column, S. 73.

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am 10. Mai der deutsche Angriff auf die Niederlande begann, verbreiteten sich schnell wilde Gerüchte über „innere Feinde“, die angeblich als Spione oder Saboteure arbeiteten. Viele Niederländer waren von der Offensive und dem schnellen Vorstoß der Wehrmacht überrascht; nur die subversive Aktivität einer „fünfte Kolonne“ schien den Zusammenbruch der Verteidigungslinien erklären zu können. Daraufhin wurden Tausende Deutsche und Niederländer – darunter zahlreiche Mitglieder der NSB – vielerorts willkürlich verhaftet. Die Internierung entglitt den Behörden, die den Prozess kaum noch kontrollieren konnten. Auch in Westerbork verschlechterten sich die Lebensbedingungen für die Insassen. Hier wurden die aus dem „Dritten Reich“ Geflohenen für wenige Tage (bis zur Kapitulation am 14. Mai) zu Feindstaatenangehörigen. 472 Im Oktober 1941 beschloss die deutsche Besatzungsverwaltung, in Westerbork alle 22.000 ausländischen „Nichtarier“ zu sammeln. Ab Juli 1942 diente das Camp dem NS-Regime schließlich als Sammellager für Transporte nach Auschwitz. Insgesamt wurden von hier aus 102.000 Insassen deportiert, darunter die Jüdin Anne Frank (1929–1945) und ihre Familie im September 1944. Juden, Sinti und Roma wurden auch im Lager Vught (Herzogenbuosch) gesammelt, wo die Wachen noch brutaler als in Westerbork agierten. Allerdings war das Ausmaß der Gewalt in Vught 1942, als es gegründet wurde, noch geringer als Osteuropa, wo in Auschwitz schon Massenmorde begangen wurden. Mit dem Übergang vom Durchgangs- zum Vernichtungslager verschlechterten sich 1943 allerdings in Vught die Haftbedingungen.473 Auch in der Kolonie in Ostindien waren nach dem deutschen Angriff auf die Niederlande im Mai 1940 rund 2.800 Deutsche interniert worden, darunter Juden und Kinder deutscher Väter. Ebenso hatten die holländischen Kolonialbehörden etwa hundert protestantische und katholische Missionare festgesetzt. Nach der Kriegserklärung vom 8. Dezember 1941 verhafteten holländische Sicherheitsorgane in Niederländisch-Ostindien 1.700 japanische Männer mit ihren Ehefrauen und Kindern. 703 von ihnen wurden wenig später nach dem Abkommen über den Gefangenenaustausch zwischen Japan und Großbritannien in ihre Heimat entlassen. Die Übergabe erfolgte in Laurenço Marques.474

472 Ebd., S. 68, 73–77. Überblick zur NSB in: Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918–1945, Stuttgart 2006, S. 113–119. 473 Wachsmann, KL, S. 357 f. 427 f.; Kundrus, „Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg“, S. 220; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 47, 49; Klinkert, ‚Espionage Is Practiced Here on a Vast Scale‘, S. 46; Moore, Refugees, S. 97 f., 105. 474 Kemperman, Internment, S. 163 f.

7 Humanitäres und zivilgesellschaftliches Engagement für zivile Feindstaatenangehörige im Zweiten Weltkrieg Rahmenbedingungen und Voraussetzungen: Zwangsumsiedlungen, humanitäre Hilfe und der Völkerbund in den 1920er und 1930er Jahren Der Erste Weltkrieg hatte weltweit nationale und ethnische Gegensätze verschärft. Besonders der Zusammenbruch der multiethnischen Imperien 1918/19 war mit einer Radikalisierung des Nationalismus einhergegangen. Dieser Prozess hatte fremdenfeindlichen Ressentiments, die sich auch gegen ausländische Zivilisten richteten, kräftig Auftrieb verliehen. So verstärkte sich in Osteuropa der Ruf nach nationaler Selbstbestimmung, während der Minderheitenschutz im Allgemeinen unzureichend und ineffektiv blieb. Mit dem Vormarsch der 1918 gegründeten Roten Armee wuchs 1920 in Polen der Antisemitismus, so dass hier viele Juden vertrieben wurden. Aber auch 700.000 bis 800.000 Deutsche flohen aus dem ostmitteleuropäischen Land. Ebenso mussten 120.000 Siedler ihre Heimat in der jungen Sowjetunion verlassen, wo 1922 die Zwangsdeportationen begannen. Die französischen Behörden wiesen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg 150.000 bis 200.000 Deutsche aus dem Elsass und aus Lothringen aus. Nicht zuletzt erfassten Flucht und Vertreibung große Bevölkerungsgruppen in Südosteuropa. Nachdem 1921/22 eine Million Griechen aus Anatolien geflohen waren, wurde am 24. Juli 1923 mit dem Vertrag von Lausanne erstmals ein Abkommen zur Zwangsumsiedlung zwischen Staaten abgeschlossen. Gegenüber dem weiterhin kaum eingeschränkten Prinzip nationalstaatlicher Souveränität in der Bevölkerungspolitik erwies sich der 1919 gegründete Völkerbund als zu schwach. Zwar konnte Fridtjof Nansen, der sich im Auftrag der Staatenorganisation um die Kriegsgefangenen und Zivilinternierten kümmerte, 1920 den Rücktransport von 200.000 Kriegsheimkehrern in ihre Heimatländer melden; als Hochkommissar für Flüchtlingsfragen vermochte er die Folgen von Flucht und Vertreibung aber nur zu lindern. Auch die Hilfe für die Hungernden in Russland erwies sich letztlich als ebenso unabdingbar wie unzureichend.1 Zwar wuchs das Bewusstsein für die Not der Zivilinternierten bis zum Zweiten Weltkrieg, zumal sich unter ihnen deutlich mehr Flüchtlinge befanden als in den Jahren von 1914 bis 1918. Viele Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz verfügten über erhebliche Mittel, die größtenteils über Spenden akquiriert wor1 Steiner, Lights, S. 365. Angaben nach: Piskorski, Die Verjagten, S. 77–80, 84. https://doi.org/10.1515/9783110529951-007

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den waren. Aber auch in den 1930er Jahren blieben verfolgte Zivilisten völkerrechtlich weitgehend ungeschützt. Das NS-Regime bemühte sich, die Kontrolle über internationale Hilfsorganisationen zu gewinnen, traf dabei aber auf den Widerstand der westlichen Demokratien, besonders der USA.2 Da sich auch jene Staaten, welche dem Völkerbund angehörten, nicht auf Abkommen zum Schutz von Flüchtlingen einigen konnten, mussten vorrangig weiterhin humanitäre Organisationen die Nothilfe übernehmen, zunächst vor allem in den Nachbarstaaten Deutschlands, wo viele Juden und politisch Verfolgte die weitere Entwicklung abwarteten. So fanden nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 rund 9.000 Juden Zuflucht in den Niederlanden, und 21.250 kamen nach Frankreich.3

Flüchtlinge aus Spanien Im Anschluss an die Eroberung Barcelonas durch die spanischen Nationalisten unter Francisco Franco im Januar 1939 und die Besetzung Madrids zwei Monate später suchten auch 500.000 Spanier – überwiegend Anhänger der Republikaner – in Frankreich Zuflucht. Hier waren ausländische Arbeiter wegen der relativ geringen Kinderzahl schon in den 1920er Jahren offen aufgenommen worden. Nachdem Frankreich seine südliche Grenze für Flüchtlinge aus Spanien geöffnet hatte, wiesen die Behörden die Hälfte dieser Kriegsopfer in oft improvisierte Lager ein, die überwiegend an der Küste in der Nähe der südfranzösischen Stadt Perpignan lagen. Jedoch überforderten die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge die französischen Behörden. Die Lebensbedingungen der Zwangsmigranten waren deshalb miserabel. So litten im Lager Argelès am Mittelmeer rund 80.000 eng zusammengepferchte Flüchtlinge unter dem Klima, dem sie schutzlos ausgeliefert waren. Wegen der schlechten hygienischen Bedingungen verbreiteten sich unter den Insassen Krankheiten.4 Nur mühsam gelang es Hilfsorganisationen, die Flüchtlinge mit notwendigsten Gütern – vor allem Nahrungsmitteln und Kleidung – zu versorgen. Zu2 Dazu der Überblick in: Saunier, Artikel „International non-governmental organizations (INGOs)“, S. 575. Als instruktive Fallstudien: Madeleine Herren, ‚Outwardly an Innocuous Conference Authority‘: National Socialism and the Logistics of International Information Management, in: German History 20 (2002), Nr. 1, S. 67–92; Sandrine Kott, Competing Internationalisms. The Third Reich and the International Labour Organization, in: dies. / Kiran Klaus Patel (Hg.), Nazism Across Borders. The Social Policies of the Third Reich and their Global Appeal, New York 2018, S. 29–52. 3 Bauer, My Brother’s Keeper, S. 138 f., 171. 4 Wilson, Margins, S. 220; Kushner / Knox, Refugees, S. 43.

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nächst betreuten nicht vorrangig französische Hilfswerke die Internierten, sondern Gruppen oder einzelne Personen, die republikanische Vertriebene in Spanien schon während des Bürgerkrieges unterstützt hatten. Die humanitären Leistungen koordinierte eine internationale Kommission. In diesem Rahmen bemühten sich die Quäker, die bereits in Spanien zivile Kriegsopfer unterstützt hatten, in den Lagern Argelès, Gurs und les Arênes das Leben der Insassen zu erleichtern.5 In Argèles richteten die amerikanischen Friends beispielweise Schulen und Lehrwerkstätten für internierte Kinder und Jugendliche ein. Seit seiner Gründung im Januar 1937 halfen auch das National Joint Committee for Spanish Relief (NJCSR) und das Spanish Medical Aid Committee. 1938 sammelten unter dem Dach des NJCSR mindestens 150 Vereinigungen Spenden. Ebenso lieferte die britische Aid Spain Movement notwendige Güter des täglichen Bedarfs und Medikamente. Darüber hinaus förderten die humanitären Hilfsorganisationen verschiedene Beschäftigungsprojekte, mit denen in den Lagern die lähmende Langeweile überwunden werden konnte. Damit sollte die „human dignity“ der Opfer des Spanischen Bürgerkrieges wiederhergestellt werden, wie die Aktivistin Francesca Wilson betonte, die für Hilfsorganisationen der Quäker arbeitete und auch der Women’s International League for Peace and Freedom angehörte. Die 1937 in Paris gegründete Aide centrale sanitaire internationale pflegte Verwundete, die in den Lagern litten. Darüber hinaus halfen ausländische Regierungen den Geflohenen. Im April 1937 stimmte das britische Innenministerium unter der Bedingung, dass keine öffentlichen Mittel in Anspruch genommen würden, der Aufnahme geflohener baskischer Kinder zu. Dennoch blieb die humanitäre Hilfe für diese Opfergruppe im Vereinigten Königreich deutlich hinter der Unterstützung zurück, die Franzosen leisteten. Überdies war die Aufnahme der spanischen Republikaner in Großbritannien ambivalent. So forderte das Repatriation Committee, das von der katholischen Kirche initiiert und gefördert wurde, eine rasche Rückführung auf die Iberische Halbinsel. Auch freiwillig wanderten die meisten der aufgenommenen Flüchtlinge weiter. 1943 wurden im Vereinigten Königreich deshalb nur noch 411 Basken gezählt.6

5 Aus zeitgenössischer Sicht: Wilson, Margins, S. 170–219, 228 f. 6 Zitat: Wilson, Margins, S. 225, 228. Vgl. auch Siân Roberts, ‚I Promised Them That I Would Tell England About Them‘: A Woman Teacher’s Activist’s Life in Popular Humanitarian Education, in: Paedagogica Historica 47 (2011), Nr. 1/2, S. 155–172, hier: S. 164, 169; Angela Jackson, British Women and the Spanish Civil War, London 2002, S. 164; Kushner / Knox, Refugees, S. 105–123; Eggers, Ausländer, S. 399 f.

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Das Scheitern der Bemühungen um eine Übereinkunft zur Flüchtlingsaufnahme vor 1939 und Bedingungen im Zweiten Weltkrieg Ab 1933 und verstärkt seit 1938 waren auch Zehntausende Juden aus dem nationalsozialistischen Deutschland und aus Österreich geflohen. Dabei beeinflussten besonders das Ausmaß der Verfolgung und die Verfügbarkeit von Asyl in anderen Ländern die Entscheidung zugunsten einer Emigration. Eine multilaterale Übereinkunft zur Unterbringung der Flüchtlinge scheiterte aber in den 1930er Jahren. So lehnten die Regierungen der 32 Staaten, die im Juli an der Konferenz von Evian teilnahmen, den Vorschlag ab, Kontingente der Geflohenen in einzelnen Staaten aufzunehmen. Auch waren Institutionen des Völkerbundes wie der Refugee Service in der Internationalen Arbeitsorganisation mit der Aufgabe überfordert, die zunehmende Zahl der Flüchtlinge zu versorgen. Deshalb mussten internationale, aber vor allem nationale humanitäre Organisationen einspringen. Im „Dritten Reich“ konnte die im September 1933 gebildete „Reichsvertretung der Deutschen Juden“ die antisemitische Politik der neuen Machthaber zumindest mindern, indem sie jüdische Selbsthilfe- und Wohltätigkeitsvereinigungen schützte und unterstützte. Darüber hinaus bereitete der von Leo Baeck (1873–1956) geleitete Verband die deutschen Juden auf die Emigration vor, die er anbahnte und förderte, beispielsweise durch Kontakte zu Organisationen in den Zielländern der Auswanderer. Aber auch innerhalb Deutschlands arbeitete die „Reichsvertretung“ eng mit anderen Institutionen zusammen, besonders dem „Hilfsverein der Deutschen Juden“, der „Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge“ und dem „Palästina-Amt“. Bis zum Oktober 1941 wirkte die „Reichsvertretung“, die im Juli 1939 zur Umbenennung in „Reichsvereinigung“ gezwungen wurde, bei der Auswanderung mit. Damit befand sie sich in einem Dilemma, denn mit der Rettung der deutschen Juden war sie zugleich in die nationalsozialistische Vertreibungspolitik eingebunden.7 Auch ein Plan des Völkerbundes, die NS-Führung nach der Reichspogromnacht zu Zahlungen für die vertriebenen Deutschen zu zwingen, schlug fehl. Vielmehr plünderten die nationalsozialistischen Machthaber die Flüchtlinge aus, und sie verboten ihnen, Kapital ins Ausland zu transferieren. Da eine internationale Regelung scheiterte, hingen über die jüdischen Verfolgten hinaus alle Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ schon vor 1939 von der Bereitschaft der europäischen Nachbarstaaten ab, sie aufzunehmen. Die mittellosen Zwangsmigranten waren in anderen Ländern aber nicht willkommen, so dass nur wenige von ihnen Visa erhielten. So gelang lediglich 25.000 von 120.000 Juden, die bis 7 Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 127; Steiner, Lights, S. 365–367; SwatekEvenstein, History, S. 183; Stibbe, Civilian Internment, S. 296.

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1938 in der ČSR gelebt hatten, bis zum Zweiten Weltkrieg die Flucht. Demgegenüber konnten zwei Drittel der österreichischen Juden fliehen.8 Der Zweite Weltkrieg veränderte die Rahmenbedingungen für die humanitäre Hilfe grundlegend. Nunmehr wurden erneut Zivilisten interniert. Im Unterschied zu den Jahren von 1914 bis 1918 waren darunter in vielen alliierten Staaten auch Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ und dem faschistischen Italien. Ebenso wie im Ersten Weltkrieg kümmerten sich um die Feindstaatenangehörigen in den Ministerialbürokratien der einzelnen kriegführenden Länder gesonderte Abteilungen, so im britischen Außenministerium erneut das Prisoners of War Department, das vor allem für den Informationsaustausch zwischen eigenen, in gegnerischen Ländern internierten Staatsangehörigen und ihren Angehörigen sorgte. So mussten die Beamten auch von 1939 bis 1945 eine Vielzahl von Anfragen besorgter Verwandter, Freunde und Bekannter von britischen Staatsbürgern, die im Ausland festgehalten wurden, prüfen und beantworten. Auch hielten sie engen Kontakt zu den anderen Ministerien, Einrichtungen und den Konsulaten der Schutzmächte, die sich um gefangene Zivilisten kümmerten. Nicht zuletzt koordinierte das Department Hilfslieferungen. 9 Jedoch unterband das NS-Regime ab 1939 die Flucht von politisch und rassisch Verfolgten weitestgehend. Die Schutzmächte konnten Internierte vor allem ab Ende 1941, als die USA ihre Neutralität aufgaben, allenfalls vor groben Übergriffen durch die kriegführenden Staaten abschirmen. Der Schweiz, die 1942 in vielen Ländern wie Japan, Italien, Deutschland und Siam als Schutzmacht eintrat, fehlte die politische Macht, um internierte Zivilisten durchweg wirksam schützen zu können. Allerdings konnte die Eidgenossenschaft in Verbindung mit dem IKRK durch Inspektionen von Lagern Druck ausüben und mit ihrer Vermittlung wiederholt Repressalien verhindern. Demgegenüber vertraten die Vereinigten Staaten bis Ende 1941 die Interessen Großbritanniens in Finnland, in Vichy-Frankreich und in den französischen Kolonien in Nord- und Westafrika, auf den Westindischen Inseln und auf Madagaskar. Internationale humanitäre Hilfsorganisationen kooperierten nicht nur mit Schutzmächten, sondern auch untereinander. So bildete das IKRK die Joint Relief Commission. Die Zusammenarbeit in dieser Kommission trug ebenfalls dazu bei, dass die Spannungen, die sich seit 1921 zwischen dem Genfer Komitee und der Liga der Rotkreuz-Gesellschaften herausgebildet hatten, deutlich abnahmen. Auch mit

8 FCRA/25/23 (Vermerk vom 29. November 1938). Angaben nach: Kushner / Knox, Refugees, S. 137, 141. 9 Dazu beispielsweise die Überlieferung in: NA, FO 369/2547. Ebenso: NA, FO 369/2569 (Vermerke vom 15. Februar, 26. Februar, 5. und 29. März sowie vom 17. April 1940).

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den Quäkern und dem YMCA stimmte sich das IKRK vor allem bei der Unterstützung und Versorgung verfolgter Juden eng ab.10 So halfen diese humanitären Organisationen den Insassen von Internierungs- und Konzentrationslagern in Italien. Sie nutzten die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 u. a. für Lagerbesuche. Auch Vertreter des Vatikans und Bischöfe wie der Apostolische Nuntius Francesco Borgongini Duca (1884– 1954) kontrollierten die Camps. Ebenso wichtig war die Hilfe für Flüchtlinge und Auswanderer, um die sich die Delegazione per l’Assistenza degli Emigranti Ebrei (Delasem) kümmerte. Im Dezember 1939 vom Genueser Anwalt Lelio Vittorio Valobra (1900–1976) gegründet, unterstützte die Organisation besonders Juden bei ihrer Flucht aus Italien. Darunter waren auch jüdische Opfer der NSMachthaber, die aus Deutschland vertrieben worden waren und auf eine Weiterreise – besonders nach Palästina oder in die USA – hofften. Dabei war der Hafen von Triest ein wichtiges Zentrum. Hier arbeitete die Delasem mit einem örtlichen Hilfskomitee zusammen. Noch nachhaltiger zur Rettung von Juden trugen die beträchtlichen Zuschüsse des American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) und anderer jüdischer Hilfsorganisationen bei.11 Ende 1943 verbesserte sich in Italien die Lage, als alliierte Verbindungsoffiziere hier direkte Kontakte mit der neuen Regierung unter Badoglio und den westlichen Alliierten herstellten. Daraufhin wurden auch italienische Zivilinternierte in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten beschleunigt freigelassen. Informationen über die Freistellung sollten aber nicht an die Schweiz weitergegeben werden, um in den noch von Deutschland besetzten Regionen der Apenninhalbinsel Repressalien gegen Angehörige zu vermeiden. Erst als die britische Regierung Anfang 1944 erkannte, dass ein Abkommen über Kriegsgefangene und Zivilinternierte mit der italienischen Regierung nicht kurzfristig abgeschlossen werden konnte, wurden erneut Informationen an das IKRK und die Schweiz weitergegeben, die Schutzmacht für die Internierten blieb. Allerdings lehnte das Foreign Office einen Austausch mit den Behörden von Mussolinis Marionettenstaat in Norditalien, der „Republik von Salò“, strikt ab. Auch wurde der Wunsch italienischer Lagerinsassen, die Kommandanten baten, ihre persönlichen Angaben nicht an die eidgenössische Schutzmacht weiterzugeben, von den britischen Behörden respektiert und beachtet.12

10 NA, HO 215/452 (Brief vom 10. März 1942); HO 215/461 (Aufzeichnung vom 15. Juli 1942). Vgl. auch Steinacher, Humanitarians, S. 50–52. 11 Schrafstetter, Skylla, S. 593 f. 12 NA, HO 215/458 (Vermerke vom 21. Oktober, 11. November und 20. November 1943; Schreiben vom 12. und 26. Oktober 1943 sowie 24. Februar 1944); NA, HO 215/458 (Vermerk Nr. 2 vom 21. Oktober 1943).

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Verfolgte aus Deutschland in den Niederlanden und Frankreich In den Niederlanden waren alle Hilfsorganisationen eng von der Lagerbildung (verzuiling) geprägt, die seit dem 17. Jahrhundert entstanden war und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte. So halfen protestantische und katholische Flüchtlingsvereine und -verbände den geflohenen Angehörigen der jeweiligen Kirchen. Das Comité voor Joodse Vluchtelingen (CJV), das im April 1933 in Amsterdam gegründet worden war, sorgte vor allem für jüdische Flüchtlinge, präsentierte sich aber offiziell als unpolitisch und half auch Geflohenen, die keinem der gesellschaftlichen Lager und nicht dem Judentum angehörten. Der Verband konkurrierte mit der Zentralvereinigung deutscher Emigranten, die auch Kommunisten in seine Aktivitäten einbezog, aber 1936 von der niederländischen Regierung zur Auflösung gezwungen wurde. Anschließend setzten sich sozialistische Organisationen verstärkt für politisch Verfolgte ein.13 In Frankreich wurden schon bis 1937 insgesamt 129.000 Flüchtlinge aufgenommen. Wegen des wachsenden Antisemitismus verweigerte ihnen die Regierung jedoch Arbeitsgenehmigungen. Auch die französischen Juden blieben distanziert gegenüber den Flüchtlingen, da sie um ihre Stellung und Integration in die französische Gesellschaft fürchteten. Sie warfen amerikanischen Hilfsorganisationen wie dem JDC sogar mangelnde Unterstützung vor, obwohl diese Vereinigungen Opfern des Nationalsozialismus durchaus kräftig halfen, indem sie lebenswichtige Güter lieferten und auch zu anderen Hilfsprogrammen beitrugen. Zudem finanzierte das JDC maßgeblich die Arbeit der Commission des Centres de Ressemblement (CCR), die im November 1939 auf Anregung der für die Lager zuständigen Militärbehörden als Vertretung der Flüchtlinge gegründet wurde. Der Verband, der die Unterstützung der verschiedenen Flüchtlingsgruppen in den Lagern aufeinander abstimmen sollte, erhielt vom American Joint Distribution Committee (JOINT) finanzielle Unterstützung und leitete auch Spenden anderer Organisationen wie der Quäker weiter. Außerdem kooperierte die CCR, die nach Bedürftigkeit half und damit auch „Reichsdeutsche“ und Mitglieder der NSDAP in den Lagern mit Zuwendungen bedachte, eng mit der Groupement de Coordination. Er war bereits im Herbst 1938 als Dachverband französischer Hilfsvereinigungen für die in Frankreich lebenden Verfolgten gebildet worden. Die jüdischen Organisationen waren mit der gewaltigen Aufgabe aber

13 Moore, Refugees, S. 160–164.

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überfordert. Viele Flüchtlinge, die in das westliche Nachbarland gekommen waren, sahen sich daher gezwungen, in das „Dritte Reich“ zurückzukehren.14 Der Angriff der deutschen Wehrmacht auf Frankreich im Mai 1940 verschlechterte die Lage der deutschen und österreichischen Flüchtlinge dramatisch. Zunächst verschleppten sie die französischen Behörden, überwiegend in den Süden des Landes. Nach dem Sieg des nationalsozialistischen Deutschlands waren sie auch in dem Territorium, das die Besatzer dem Vichy-Regime überließen, von Auslieferung und Deportation bedroht. In dieser Situation unterstützte vor allem das 1940 in New York gebildete Emergency Rescue Committee die Verfolgten. Der amerikanische Journalist und Schriftsteller Varian Fry (1907–1967) gründete im August in Marseille ein Hilfszentrum (das Centre Américain de Secours) als Zweigverband des Emergency Rescue Committee. Mit Unterstützung der Präsidentengattin Eleanor Roosevelt verhalfen Fry und seine humanitären Helfer (darunter der amerikanische Gewerkschaftler Franz Bohn und der Wirtschaftswissenschaftler Otto Albert Hirschmann [später Albert O. Hirschman]) vielen Verfolgten wie Hannah Arendt zur Flucht, indem sie Dokumente fälschten, illegale Grenzübertritte nach Spanien organisierten und Schiffspassagen arrangierten. Dabei nutzten sie auch den Schwarzmarkt und Untergrund in Marseille. Das Centre Américain de Secours arbeitete eng mit anderen Gruppen wie den amerikanischen Unitariern zusammen, die im Juni 1940 ein Büro in Lissabon eingerichtet hatten. Da die meisten Verfolgten eine Zuflucht in den USA suchten, überwanden die humanitären Organisationen, die im besetzten Frankreich arbeiteten, die strenge Einwanderungspolitik der USA. Die Rettung vieler Flüchtlinge gelang trotz der Bedrohung durch die Internierungspolitik des Vichy-Regimes und des Druckes des „Dritten Reiches“, auch weil Portugal unter der Herrschaft des Diktators António de Oliveira Salazar (1889–1970) im Zweiten Weltkrieg neutral blieb. Ebenso fanden Verfolgte der Nationalsozialisten und Pétains État français in Spanien Zuflucht, so im Lager Miranda de Ebro, in dem die Nationalisten unter Francisco Franco außerdem spanische Republikaner inhaftiert hatten. Zudem war das Camp überbelegt, und auch die schlechte Behandlung der internierten Flüchtlinge löste 1942/43 Proteste ausländischer Diplomaten und des Roten Kreuzes aus. Ebenso schlug das autoritäre Franco-Regime Bitten aus, spanische Juden aus den von Deutschland besetzten Gebieten zu repatriieren. Mit dieser Entscheidung, die vor allem

14 Caron, Asylum, S. 251; Moore, Refugees, S. 150–153; Eggers, Ausländer, S. 401 f. Zu den Leistungen des JDC im Zweiten Weltkrieg allgemein: Königseder / Wetzel, Waiting for Hope, S. 55.

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auf den Antisemitismus der spanischen Nationalisten zurückzuführen ist, wurden viele jüdische Staatsbürger dem Holocaust ausgeliefert.15 In Frankreich mussten die rund dreißig Vereinigungen, die internierte Feindstaatenangehörige seit Ende 1940 unterstützten, alle Kräfte mobilisieren, da vor allem die jüdische Bevölkerung zusehends verarmte. Zum Netzwerk der humanitären Hilfsorganisationen gehörten u. a. das IKRK, die Quäker und Frys Centre. Im Herbst 1940 drängten die Behörden des Vichy-Regimes auf eine bessere zentrale Abstimmung der verschiedenen Aktivitäten, so dass im November ein Comité de Coordination etabliert wurde. Dieses Koordinationskomitee, das nach dem Ort der Treffen auch Comité de Nîmes genannt wurde, wies den einzelnen Vereinigungen Arbeitsschwerpunkte zu. So sollte die JOINT in Frankreich Spenden verteilen, die jüdische Gruppierungen in den USA gesammelt hatten. Demgegenüber besorgte die YMCA für die Internierten Bücher und Musikinstrumente. Außerdem unterstützte sie kulturelle Aktivitäten von Lagerinsassen. Die im Oktober 1939 gegründete protestantische Service œcuménique d’entraide (CIMADE) engagierte sich vorrangig in der sozialen Hilfe. Als Dachverband der HIAS (Hebrew Immigrant Aid Society), der JCA (Jewish Colonization Association) und des EMIGDIRECT (Emigrations directorium) bereitete die HICEM die Auswanderung von Juden nach Übersee vor. Der Zentralkommission der jüdischen Hilfsorganisationen (Commission Centrale d'Oeuvres Juives d'Assistance), die im Oktober 1940 ihre Arbeit aufnahm, gehörten im Juni 1941 zwölf Organisationen an. Sie führte in Marseille das humanitäre Engagement jüdischer Organisationen zusammen. Viele Hilfsverbände stimmten ihre Hilfsleistungen eng mit den staatlichen Behörden ab, mit denen das Französische Rote Kreuz sogar institutionell verflochten war. Aber auch das Comité de Nîmes verfügte über enge Beziehungen zum Vichy-Regime, das am 29. November 1941 auf Druck der deutschen Verwaltung die Union Générale des Israélites de France (UGIP) als Zwangsvereinigung der französischen Juden gründete. Die UGIP verdrängte die Commission Centrale und flankierte die Deportationen. Den Abtransport der jüdischen Opfer konnten auch neue Internierungszentren nicht verhindern, die einzelne Mitglieder des Comité de Nîmes wie der Abbé Alexandre Glasberg (1902–1981, der Sekretär des Erzbischofs von Lyon) Ende 1941 und Anfang 1942 konstituierten. Auch die Rettung von Kindern, die in Heimen der Hilfsorganisationen oder bei Privatpersonen untergebracht wurden, gelang nur 15 Dierk Ludwig Schaaf, „Fluchtpunkt Lissabon“. Wie Helfer in Vichy-Frankreich Tausende vor Hitler retteten, Bonn 2018; Moorehead, Dream, S. 388; Pitzer, Night, S. 237 f.; Syga-Dubois, Philanthropie, S. 608–610. Vgl. auch Varian Fry, Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41, München 1986. Zu Arendt: Meyer, „Wir Flüchtlinge“, S. 41. Zum Hintergrund: Bernd Rother, Franco und die deutsche Judenverfolgung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 189–220.

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teilweise. Währenddessen sicherte die zentrale Kontrolle 1942 den zügigen Abtransport der französischen Juden, die in mehreren Wellen in die Konzentrationslager nach Ostmitteleuropa gebracht wurden. Anschließend gerieten die Hilfsorganisationen in eine Krise, zumal Geldmangel umfassende Versorgungsleistungen ausschloss. Letztlich scheiterte die Strategie der humanitären Verbände, zivile Feindstaatenangehörige oder Staatenlose durch gesetzeskonformes Vorgehen und Kooperation mit den Deutschen und der Vichy-Regierung zu schützen.16

Zurückhaltende Aufnahme und humanitäre Organisationen in Großbritannien In Großbritannien gründete der jüdische Aktivist, Bankier und Präsident des 1884 gebildeten Jews’ Temporary Shelter, Otto Schiff, 1933 unter dem Dach des Central British Fund for the Jewish Relief and Rehabilitation (CBF) das Jewish Refugees Committee (JRC). Schiff vereinbarte zusammen mit den führenden Repräsentanten der Anglo-Jewish Association (Leonard G. Montefiore, 1889–1961), des Board of Deputies (Neville Laski) und des Board of Deputies’ Law (Lionel L. Cohen, 1888–1973), die Kosten für die jüdischen Einwanderer zusammen zu tragen. Bis Februar 1934 sammelte das JRC die beträchtliche Summe von 203.823 Pfund für Hilfsleistungen. Der Verband kümmerte sich auch um Einreiseerlaubnisse, die Unterhaltung und Ausbildung der Flüchtlinge, die das Jews’ Temporary Shelter unmittelbar nach ihrer Ankunft im Vereinigten Königreich versorgte.17 1938 wurde das JRC, das bis zu diesem Jahr im Woburn House in London untergebracht war, in German Jewish Aid Committee (GAC) umbenannt, da das Wort „refugee“ (Flüchtling) unbedingt vermieden werden sollte. Das GAC kümmerte sich auch um jüdische Verfolgte, die in das Empire geflohen waren. So betreute es 650 jüdische Flüchtlinge, die nach Kenia emigrierten und dort Land erhielten. Auch sondierte das Komitee eine Ansiedlung von Juden in Australien, Südafrika und in Indien, wo Ingenieure, Ärzte und Zahnärzte untergebracht werden sollten.18 Dabei kooperierte das GAC nicht nur mit dem Londoner Kolonialministerium und dem im August 1936 gegründeten World Jewish Congress, sondern auch mit Organisationen in den einzelnen Ländern wie der Jewish Relief Association in Indien, wo auch der Londoner Council for German Jewry jüdischen Internierten half. Darüber hinaus sorgten das Board of Deputies of British Jews und die Heilsarmee für die Flüchtlinge. Daneben rief die Zionist Federation 16 Eggers, Ausländer, S. 399–491. 17 Endelman, Jews, S. 214 f. Angabe nach: Bauer, My Brother’s Keeper, S. 140. 18 LSF, FCRA/25/4 (Protokoll der Sitzung vom 23. November 1938).

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of Great Britain seit 1933 zur Hilfe für vertriebene Juden auf, deren Verfolgung der ehrenamtliche Sekretär der Organisation schon unmittelbar nach der NS„Machtergreifung“ als Angelegenheit der gesamten Menschheit bezeichnet hatte.19 Nicht zuletzt hatten die Quäker unter dem Eindruck des Boykottes jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 im nationalsozialistischen Deutschland – zehn Jahre nach der Auflösung des FEC und des WVC – das Germany Emergency Committee (GEC) gegründet, das Flüchtlingen half und im Juni 1939 über 112 Mitarbeiter verfügte. Der Organisation gelang es, von Juli 1938 bis März 1939 für 2.632 und im gesamten Jahr 1939 für 2.300 Verfolgte ein Visum zu erhalten. Eine direkte Unterstützung gewährte das GEC 1938 erst 150, im darauffolgenden Jahr aber bereits 482 Migranten, von denen die meisten nach Süd- und Mittelamerika sowie in die Länder des Commonwealth wanderten. Im Vereinigten Königreich selber förderte das GEC auch die Vermittlung von Arbeit für die Geflohenen, nachdem die britische Regierung am 7. November 1939 das gegen sie gerichtete Beschäftigungsverbot aufgehoben hatte. Allerdings konnte die Abteilung für Arbeit im GEC bis März 1940 nur 108 geflohenen Männern und 53 Frauen in das Erwerbsleben integrieren.20 Der Academic Assistance Council (AAC), der 1933 u. a. von dem Wirtschaftswissenschaftler William Beveridge (1879–1963) etabliert, zunächst vom berühmten Physiker Lord Ernest Rutherford of Nelson (1871–1937) geleitet und 1936 in Society for the Protection of Science and Learning (SPSL) umbenannt wurde, kümmerte sich besonders um notleidende Akademiker unter den Flüchtlingen. Die Organisation bemühte sich vor allem, ihnen eine Beschäftigung zu vermitteln. Dabei schuf der AAC Netzwerke, die vielen ein Überleben in dem zunächst fremden Land ermöglichten. Allerdings traf der Verband auf den anhaltenden Widerstand der Universitäten, da die Arbeitslosigkeit unter Akademikern in Großbritannien noch in den späten 1930er Jahren hoch war. Besonders geflohene Mediziner galten vielerorts als unerwünschte Konkurrenz. Zudem unterbrach die Internierung 1940 die Karrieren von Wissenschaftlern, die aus Mitteleuropa 19 Kushner / Knox, Refugees, S. 127 f., 145 f., 153 (Angabe); Cronin, Refugee Experience, S. 59. 20 Angaben nach: German Emergency Committee Report for Meeting for Suffering (1940), S. 1– 3, in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures) und „Report to the General Committee from the Organisation Committee in reference to the Financial Situation based on the report prepared by Norman C. Nicholson, A. C. A.“, in: LSF, FCRA/17/1; Hirschfeld, „A High Tradition of Eagerness …“, S. 607. Vgl. auch Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 48, 56, 85; Ormerod Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 259 f.; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 52; Cronin, Refugees, S. 51; Pistol, Internment, S. 15; Bauer, My Brother’s Keeper, S. 139 f.; Ritchie, Refugees, S. 149; Kushner / Cesarani, Alien Internment, S. 15; Kapp / Mynatt, Policy, S. 82, 84.

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geflohen waren. Dennoch gelang es der SPSL, 524 Akademikern in 37 Ländern Lebensstellungen und 306 weiteren Wissenschaftlern in 25 Staaten befristete Anstellungen zu vermitteln. Allein in Großbritannien hatten 60 geflohene deutsche Gelehrte schon bis Juli 1935 an Universitäten oder Forschungseinrichtungen feste Positionen gefunden; weiteren 148 war es gelungen, befristete Stellungen zu erreichen. Insgesamt enthalten die Akten des AAC bzw. der SPSL Unterlagen zu 2.541 Flüchtlingswissenschaftlern, von denen mehr als die Hälfte aus Deutschland oder Österreich gekommen war. 600 Gelehrte (davon 400 aus deutschsprachigen Ländern) lebten 1946 noch im Vereinigten Königreich. Während der Kontakt zur britischen Regierung eng war, blieb die zunächst angestrebte Kooperation mit US-amerikanischen Stiftungen wie der Rockefeller Foundation stecken.21 Das Committee for Refugees from Czechoslovakia, das in Czech Refugee Trust Fund umbenannt wurde, unterstützte Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei. Nach dem Umzug in das Bloomsbury House bemühte sich die Leitung der Hilfsorganisation Anfang 1940, nicht nur ihre Aktivitäten zu verstärken, sondern diese in der neuen Zentrale auch aufeinander abzustimmen. Das Komitee drängte die Regierung in den ersten Kriegsjahren, Flüchtlinge freizulassen, die als enemy aliens interniert worden waren. Darüber hinaus half die Organisation bei der Beantragung von Ausreisedokumenten und Aufenthaltserlaubnissen. Auch förderte es die Emigration von Flüchtlingen aus Mitteleuropa nach Großbritannien und anschließend weiter in das Empire.22 Die Labour Party half vor allem Sozialisten. Dabei verwies sie ebenso wie die zivilgesellschaftlichen Organisationen auf Solidarität und Humanität als leitende Konzepte. Ein Koordinationsgremium, das ab Juli 1938 Refugee Joint Consultative Committee genannt wurde, stimmte die Hilfsleistungen der einzelnen Verbände für die Flüchtlinge aufeinander ab.23 Insgesamt erwies sich die Unterstützung, die Organisationen und Netzwerke boten, als entscheidend für die Integration von Flüchtlingen in die britische Gesellschaft. Dabei wurde das Bloomsbury House ab 1938 zum Zentrum der humanitären Hilfe in Großbritannien. Hierher verlagerten auch das GEC und das JRC ihre Büros.24 Zudem arbeitete in dem Gebäude die interkonfessionelle Move21 Angaben nach: Hirschfeld, „A High Tradition of Eagerness …“, S. 604 f.; Kushner / Knox, Refugees, S. 161. 22 LSF, FCRA/25/2 (Protokolle der Sitzungen vom 9. und 17. Januar 1939; Brief vom 9. Oktober 1938); Gusejnova, Gegen Deutsches K. Z. Paradies, S. 7. 23 Berghahn, Britons, S. 78–83; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 52 f.; Ritchie, Refugees, S. 149, 153; Kushner / Knox, Refugees, S. 141; Bauer, My Brother’s Keeper, S. 140. 24 LSF, FCRA/3 („Central Offices of the Society of Friends, Friends House, Euston Road, Meetings for Sufferings held 3rd month, 1939“); FCRA/19/8 (Bericht „Arrangements between the

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ment for the Care of Children (später umbenannt in Refugee Children’s Movement). Der Verband, der im November 1938 gegründet wurde, unterstützte die fast 10.000 jüdischen Kinder, die nach der Zustimmung der Regierung nach Großbritannien transportiert worden waren. Darunter bedurften besonders Waisen der Fürsorge. Überdies gingen vom Bloomsbury House die wichtigen humanitären Initiativen des Christian Council for Refugees from Germany and Central Europe, des Church of England Committee for Non-Aryan Christians und der Jewish Blind Society aus. So berichtete das Komitee der Church of England regelmäßig über die Lage der jüdischen Flüchtlinge, für die sie zu karitativer Hilfe im Zeichen der christlichen Nächstenliebe aufrief.25 Im Zweiten Weltkrieg blieb das Bloomsbury House ein wichtiges Ziel der Flüchtlinge, da sie hier vom Central Committee for Refugees Hilfsleistungen erhielten. Außerdem brachte die Regierung in dem Gebäude das Central Committee for Refugees unter, das ab 1939 die Verwaltungskosten der diversen nichtamtlichen Hilfsorganisationen trug. Überdies sorgte ein zentrales Büro für die Kommunikation zwischen den karitativen Organisationen und der Regierung. Es verfügte in England in einzelnen Regionen über Verbindungsbüros. Im Bloomsbury House waren auch der Council für Jewish Refugees und der Christian Council untergebracht. Eigene Abteilungen dieser Organisationen kümmerten sich um die Vermittlung von Arbeitsstellen und die Kommunikation mit Angehörigen. Darüber hinaus setzten sich Hilfsverbände für die Freilassung internierter Gruppen ein, so die SPSL für die 530 nach Großbritannien geflohenen und in Lager eingewiesenen Akademiker, die sie vertrat. Zu 518 Betroffenen übermittelte sie den Untersuchungskommissionen befürwortende Erklärungen britischer Wissenschaftler; die meisten Insassen wurden schon bis Ende 1940 entlassen. Verschiedene Arbeitsgruppen sorgten auch für andere Flüchtlingsgruppen, so Kinder, Musiker (für die vor allem das Musicians Refugee Committee gegründet worden war), Künstler und Studierende. Sie wurden zur Assimilation aufgefordert, um die Fremdenfeindlichkeit zu ersticken.26

Friends Service Council and the Germany Emergency Committee consequent on removal of the latter to Bloomsbury House“). Generell zum Stellenwert von Hilfsorganisationen und Netzwerken: Alter, Refugees, S. 70, 76 f. 25 Dazu der Bericht „Take Care of Him“, in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures). Vgl. auch Endelman, Jews, S. 215; Kundrus, „Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg“, S. 55; Alter, Refugees, S. 77. 26 Dazu z. B. das 1940 herausgegebene Handbuch für Hausangestellte und ihre Arbeitsgeber: „… always speak English in the street and public places“ (LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 [Brochures]: Mistress and Maid. General information for the use of Domestic Refugees and their Employers, April 1940), S. 9. Angabe nach: Hirschfeld, „A High Tradition of Eagerness …“, S. 609.

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Viele Flüchtlinge – so Roland Hill – erhielten im Bloomsbury House auch vom Catholic Committee for Refugees eine wöchentliche Unterstützungsleistung. Demgegenüber koordinierte die Association of Jewish Refugees in Britain in Hampstead (im Nordwesten Londons) ihre Arbeit. Der Verband, der 1941 von orthodoxen, zionistischen und liberalen jüdischen Flüchtlingen gebildet wurde, setzte sich für die Aufhebung der Beschränkungen ein, welche die Regierung gegen die enemy aliens verhängt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandte er sich entschieden gegen die Zwangsrepatriierung jüdischer Flüchtlinge, die stattdessen in Großbritannien eingebürgert werden sollten.27 Damit stand für die 76.000 deutschen und österreichischen Flüchtlinge, die sich 1942 im Vereinigten Königreich aufhielten, ein umfassender Apparat humanitärer Hilfe zur Verfügung. Zudem stieg der Anteil der Finanzmittel, die von der Regierung für Vertriebene aus Mitteleuropa zur Verfügung gestellt wurden, an den Leistungen für die Flüchtlinge ab 1940 deutlich an, während zuvor Spenden als Einkommensquellen der Hilfsorganisationen dominiert hatten. Jedoch war die Versorgung der Bedürftigen keineswegs lückenlos.28 Letztlich konnten zivilgesellschaftliche Hilfsorganisationen viele Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ retten und deren Neuanfang in den Aufnahmeländern erleichtern. So erreichten sie, dass Besuchsgenehmigungen in Aufenthaltserlaubnisse umgewandelt wurden. Auch erfüllten sie zahlreiche humanitäre Aufgaben. Indirekt nahmen sie damit aber die restriktive Einwanderungspolitik der Regierung hin. Indem sie sich in der Fürsorge engagierten, entlasteten sie überdies staatliche Institutionen. Dazu trug auch der War Charities Act bei, der 1940 erlassen wurde. Er beschleunigte einerseits die Professionalisierung der humanitären Hilfsorganisationen. Diese konnten sich nach dem Gesetz registrieren lassen. Damit waren finanzielle Vorteile verbunden. So vermochte das GEC seine Leistungen für zivile Feindstaatenangehörige zu erweitern, nachdem es 1941 von der Regierung offiziell anerkannt worden war.29 Andererseits stärkte das Gesetz die Bindung der humanitären Organisationen an staatliche Behörden. So schuf die Flüchtlingshilfe Abhängigkeiten, die auch viele Opfer des „Dritten Reiches“ und der autoritären Diktaturen, die in Europa in den dreißiger und frühen vierziger Jahren etabliert wurden, nur widerwillig hinnahmen. Letztlich war damit die Rolle dieser privaten Assoziationen trotz der enormen Unterstützung der notleidenden Flüchtlin-

27 Vgl. Grenville, Britons, S. 5; Hill, Time, S. XI, 101. 28 Bloomsbury House. The care of German and Austrian Refugees (August 1942), in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures); Angabe: S. 3. 29 Protokoll der Sitzung des GEC vom 25. Mai 1941 in: LSF, FCRA/5.

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ge ebenso widersprüchlich wie die Aufnahme in den Ländern, in denen sie Zuflucht gesucht hatten.30

Humanitäre Hilfe für Internierte Den abrupten Übergang zur Masseninternierung im Frühsommer 1940 hatte das Kriegskabinett nicht mit den Flüchtlingshilfsorganisationen abgestimmt. Er traf die Verbände deshalb völlig unvorbereitet, so dass diese eilig dringende Unterstützung mobilisieren mussten. Auch waren sie gezwungen, sich um das hinterlassene Eigentum der Internierten (so Möbel) und unbezahlte Rechnungen zu kümmern. Eine langfristige Hilfe war unter diesen Bedingungen, die alle humanitären Verbände an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit führten, nicht mehr möglich. Einzelne Organisationen schlossen sich unter dem Eindruck der Angst vor einer Invasion sogar der Forderung nach einer rigorosen Kontrolle ziviler Feindstaatenangehöriger an und ließen sich von der Regierung für ihre weitgespannte Sicherheitspolitik in Dienst nehmen. So entließ das Britische Rote Kreuz im Sommer und Herbst 1940 alle Beschäftigten, die „fremder“ Herkunft waren. Zeitgenössische Kritiker wie der Schriftsteller François Lafitte führten die Krise der humanitären Organisationen vor allem auf deren Kooperation mit der Regierung und der damit verbundenen Scheu zurück, die öffentliche Meinung offensiv für die internierten Flüchtlinge zu gewinnen.31 Jedoch besichtigten in Großbritannien Vertreter der Flüchtlingsorganisationen, die im Bloomsbury House in London ihre Aktivitäten koordinierten, die Flüchtlingslager. Diese wurden auch von anderen Verbänden wie der International Women’s Cooperative Guild inspiziert, um darüber berichten und den Insassen gezielt helfen zu können. Dazu stimmten sie ihre Arbeit ab, indem sie ein Central Department for Interned Refugees bildeten, das Bertha Bracey (1893– 1989) leitete. Dem gleichfalls etablierten Joint Committee for the Welfare of Prisons of War and Internees gehörten außer dem GEC u. a. der Christian Council, das Jewish Aid Committee, das Church of England Committee und die Movement for the Care of Children from Germany an. Die Dachorganisationen drängten die Regierung, die Zustände in den Lagern zu verbessern (so in den Baracken für festgesetzte Eheleute), Anhänger des NS-Regimes von ihren Gegnern zu trennen und Aktivitäten in den Camps zu unterstützen. Darüber hinaus sollten unbelas-

30 Berghahn, Britons, S. 77, 118; Kushner / Knox, Refugees, S. 169 f. 31 Lafitte, Internment, S. 76, 144 f., 157–159; Kapp / Mynatt, Policy, S. 112.

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tete Internierte entlassen und die Emigration von enemy aliens in andere Länder gefördert werden.32 Auch das IKRK, die weltweite Organisation der YMCA und britische Hilfsorganisationen wie das 1937 gegründete Church of England Committee for Non Aryan Christians unter dem Vorsitz des Bischofs von Chichester, George Bell, sorgten für die internierten Feindstaatenangehörigen. So besuchte der Bischof mehrfach das Lager Rushen auf der Isle of Man und setzte sich dort für die Insassen ein. Er spendete auch persönlich für diese Opfergruppe und unterstützte die Bemühungen des örtlichen methodistischen Pfarrers, Hilfsgesuche aufzunehmen und weiterzuleiten. Auf der Insel öffneten sich zudem die anglikanischen und römisch-katholischen Kirchen für die Notleidenden, die hier nicht nur Zuspruch und Trost, sondern auch materielle Unterstützung fanden. Bei ihren karitativen Aktivitäten mussten Bell und die Pfarrer auf Man aber wiederholt den Widerstand der Gemeinden überwinden, denn hier verlangten viele Gläubige, die außerhalb der Lager lebten, vorrangig Einsatz für ihre Interessen. Gelegentlich wurden Geistliche, die den Internierten halfen, sogar beschuldigt, für gegnerische Staaten Partei zu nehmen, die Kriegsanstrengungen Großbritanniens zu unterminieren und die Sicherheit des Landes zu gefährden. Dieser Vorwurf richtete sich auch gegen Politiker, die sich für die Internierten engagierten. So trat die Parlamentsabgeordnete Ellen Wilkinson für die Insassen des Lagers Rushen ein.33 Vertreter des Roten Kreuzes schickten ausführliche Berichte über ihre Inspektionen diverser Camps in Großbritannien zur Zentrale nach Genf. Angefügt waren oft ausführliche Beschreibungen des Lagerlebens und der Speisepläne. Besonders antifaschistische Italiener, die im Juni 1940 verhaftet worden waren, wurden auch durch den Präsidenten und Sekretär der italienischen Liga für Menschenrechte, Allessandro Magro bzw. Decio Anzani, unterstützt. Sie kooperierten u. a. eng mit William Gillies (1885–1958), der in der Labour Party das International Department leitete. Den ansonsten wenig unterstützten Ehefrauen internierter Italiener und den Witwen der beim Untergang der Arandora Star Verstorbenen half vor allem das Italian Internees Aid Committee, das Marie Immaculée Antoinette (Mia) Woodruffe (1905–1994) gegründet hatte. Auch spontane Netzwerke, die Italienerinnen beistanden, waren wichtig. Nicht zuletzt inspizierten Regierungskommissionen wie der Advisory Council on Aliens die Lager, um das Los der Internierten zu erleichtern.34 32 Protokoll der Sitzung des Generalkomitees des GEC vom 18. Juni 1940 in: LSF, FCRA/4; Hirschfeld, „A High Tradition of Eagerness …“, S. 609. 33 Brinson, Bishop, S. 111, 113–116, 119–121; ders., „In the Exile of Internment“, S. 75. 34 Burletson, State, S. 109, 123 (Anm. 123); Berghahn, Britons, S. 120; Andrew, Defence of the Realm, S. 230; Hinsley, Intelligence, Bd. 4, S. 67–77; Sponza, Loyalties, S. 100 f., 113, 124 f.; ders., Internment of Italians in Britain, S. 266; Ugolini, Stories, S. 89, 93.

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Schon 1939 war in Richborough (Kent) sogar ein separates Durchgangsund Schulungslager für Flüchtlinge errichtet worden, das die Regierung zusammen mit dem JRC finanzierte. Dieses Kitchener Camp nahm vorrangig jüdische Männer im Alter von 18 bis 40 Jahren auf, die bereits in Deutschland und Österreich in Lagern gelitten hatten oder hier akut bedroht waren, aber in Großbritannien keine Unterstützung für die Einreise gefunden hatten. Sie sollten weiterwandern, u. a. nach Palästina, wo aber neue Konflikte mit der arabischen Bevölkerung entstanden waren. Auch deshalb nahm die Zahl der Insassen in diesem Lager bis zum Kriegsbeginn auf 4.000 zu. Hier lebten auch Kinder, die nach der Zustimmung der Regierung 1939 in das Vereinigte Königreich gekommen waren. Das Kitchener Camp wurde weitgehend von den internierten Flüchtlingen selber betrieben, von denen viele arbeiteten und das kulturelle Leben organisierten. Es belegt aber auch das humanitäre Engagement der Hilfsorganisationen und der britischen Regierung bis 1939. Im darauffolgenden Jahr wurde es ein Internierungslager. Viele Insassen meldeten sich ab 1940 jedoch für den freiwilligen Kriegsdienst im Pioneer Corps, so dass sie entlassen werden konnten.35 Ebenso wie im Ersten Weltkrieg unterstützte die Religious Society of Friends auch in den Jahren von 1939 bis 1945 zivile Feindstaatenangehörige. So förderten die Quäker im Camp Rushen ein erfolgreiches kommerzielles Projekt, das festgenommenen Frauen für Leistungen wie Gartenarbeit den Erwerb zusätzlicher Güter – vor allem Lebensmittel – ermöglichte.36 Allerdings schirmte die Regierung ihre Internierungspolitik besonders ab Sommer 1940 gegenüber Hilfsorganisationen ab. Die Behörden ignorierten auch die Angehörigen von Feindstaatenangehörigen, die auf Schiffen nach Kanada oder Australien gebracht wurden. Da die Frauen von Internierten keinen Anspruch auf öffentliche Unterstützung hatten, mussten sie die Fürsorge der humanitären Verbände in Anspruch nehmen.37 Forderungen nach Repressalien konnten im Vereinigten Königreich aber durchweg abgewehrt werden. So verlangte das Kriegsministerium im Spätsommer 1942, internierten Italienern Privilegien zu entziehen. Dazu gehörte das Zugeständnis, ihnen Radios zu lassen und Kinobesuche außerhalb der Lager zu erlauben. Diese Konzessionen sollten zurückgenommen werden, um eine bessere Behandlung britischer Internierter in Italien zu erzwingen. Das Home Office wandte sich aber gegen diese Forderung und betonte, dass sich die italienische Regierung wiederholt gleichgültig gegenüber der Behandlung ihrer Staatsbür35 Berghahn, Britons, S. 90 f.; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 53 f. 36 Ebd., S. 69 f. 37 Kapp / Mynatt, Policy, S. 122 f.

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ger gezeigt habe. Zudem werde mit Repressalien letztlich der freiwillige Einsatz der internierten Italiener in Arbeitsbataillonen gefährdet.38 In den frühen vierziger Jahren verbesserte sich die Lage der Flüchtlinge. Viele wurden aus den Lagern entlassen. So konnten sie sich in Großbritannien zum freiwilligen Dienst in den Pioneer Corps bereit erklären und damit ihre Loyalität gegenüber ihrem Gastland erklären. Allerdings mussten sich Feindstaatenangehörige, die wegen ihrer Meldung für die britische Armee aus der Internierung entlassen worden waren, nach dem Kriegsende erneut bei der Polizei registrieren, da sie nun offiziell wieder als enemy aliens galten. Deshalb erhielten sie auch keine Reisedokumente. Ausnahmeregelungen mussten die Betroffenen beim Innenministerium beantragen.39 Die Entlassenen fanden nun aber auch in der wachsenden Kriegswirtschaft leichter eine Beschäftigung. Arbeitsprogramme, die von der Regierung mit Unterstützung humanitärer Organisationen angeboten wurden, trafen zwar bei den Gewerkschaften auf Vorbehalte; sie erleichterten in den Lagern aber das Leben der Insassen.40 Für die in den Camps verbliebenen Internierten führten Inspektionen und Berichte Schweizer Diplomaten, die Deutsche und Österreicher als Schutzmacht vertraten, zumindest zu Erleichterungen. Diese waren schon zuvor indirekt auch den im „Dritten Reich“ internierten Briten zugute gekommen, welche die Vereinigten Staaten geschützt hatte.41

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz Unter den karitativen Organisationen, die in den dreißiger Jahren Flüchtlingen und den weltweit Internierten halfen, ragten – wie im Ersten Weltkrieg – das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die Religious Society of Friends heraus. Das IKRK hatte gerade mit der utilitaristisch-pragmatischen Legitimation seiner karitativen Arbeit von 1914 bis 1918 seine humanitäre Arbeit erheblich erweitern können. Mit dem weiten Spektrum des Engagements zugunsten von Kriegsopfern waren eine Stärkung und Professionalisierung des Verwaltungsapparates in der Genfer Zentrale, aber auch in den nationalen Rotkreuz-Gesellschaften einhergegangen. Zudem hatte das IKRK in Russland ab 1917 erstmals in einem Bürgerkrieg geholfen. Die Vertreter des Genfer Komitees verfügten im zusammenbrechenden Russland und in der Sowjetunion zunächst noch über ei38 Ebd., S. 270. 39 NA, HO 213/1020 (Schreiben vom 16. Oktober 1945). 40 NA, HO 215/334 (Memorandum vom 5. Dezember 1941). 41 Lafitte, Internment, S. 91.

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nen erheblichen Handlungsspielraum, wie die Aktivität des Anthropologen und Mediziners Georges Montandon (1879–1944) in Sibirien von 1919 bis 1922 zeigte. Er trieb hier nicht nur die karitative Arbeit des Roten Kreuzes voran, sondern arbeitete auch eigenständig als Wissenschaftler. Bemühungen des Genfer Komitees, die Aktivitäten des IKRK zu professionalisieren, prallten an ihm ab. Über die Kriegsopferhilfe hinaus engagierte sich das Genfer Komitee zusammen mit dem Schweizerischen Roten Kreuz 1922 für die Bürger der Sowjetunion, die unter einer akuten Hungersnot litten. Dazu hatte das IKRK am 4. August 1921 zusammen mit der Liga der Rotkreuzgesellschaft zu Spenden aufgerufen. Diese Gaben und ein Zuschuss der eidgenössischen Bundesregierung ermöglichten dem Roten Kreuz, eine Spitalmission in die Notstandsgebiete zu schicken.42 Im Abessinienkrieg, in dem das faschistische Regime Italiens 1935/36 mit seiner brutalen Kriegführung gegen die Regeln des Völkerrechtes verstieß, arbeitete das Rote Kreuz als Solidaritätsverband nationaler Gesellschaften erstmals in einem außereuropäischen Konflikt, in dem die italienische Armee die Zivilbevölkerung gezielt attackierte. Allerdings zeigte sich die schwierige Vermittlerposition des IKRK in der Weigerung der Genfer Führung, dem Völkerbund Augenzeugenberichte über die Auswirkungen von Angriffen der italienischen Luftwaffe mit Giftgas zu übergeben. Die völkerrechtswidrige Kriegführung von Mussolinis Truppen wurde nur zögernd und halbherzig kritisiert, zumal das IKRK sein Mandat eng interpretierte. Damit nahm es nicht zuletzt auf die nationale Rotkreuzgesellschaft Italiens Rücksicht, die Mussolinis faschistisches Regime durch Gesetze und einen erzwungenen Präsidentenwechsel bis 1930 fest an sich gebunden hatte.43 Im Spanischen Bürgerkrieg half das Genfer Komitee den Opfern, besonders Verwundeten und Gefangenen, energischer. Der Konflikt wurde in europäischen Staaten – vor allem der Schweiz als Sitz des IKRK – als humanitäre Herausforderung deutlich intensiver wahrgenommen als der zumindest ebenso blutige Krieg in Abessinien. Von den zivilen Opfern unterstützte das Genfer Komitee vor allem Tausende Flüchtlinge und Gegner der spanischen Nationalisten und Republikaner. Sie waren zu Feinden im eigenen Land geworden. In Zusammenarbeit mit vierzig nationalen Rotkreuzgesellschaften evakuierte und versorgte das IKRK 2.200 Zivilisten aus den Kampfgebieten in „neutrale Zonen“. Erstmals richtete das Genfer Komitee auch neun feste Delegationen in Spanien ein. Zu den Leistungen der humanitären Organisation gehörte nicht zuletzt die Übermittlung von über fünf Millionen Nachrichten. Sie wurden von einer 42 Forsythe, Humanitarians, S. 31–33; Piana, Dangers, S. 253 f., 256, 273; Brückner, Hilfe, S. 45–51. 43 Khan, Das Rote Kreuz, S. 75–77; Brückner, Hilfe, S. 52, 137.

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Kriegsgefangenenagentur, die das Genfer Komitee nach dem Vorbild der im Ersten Weltkrieg unterhaltenen Institution eingerichtet hatte, bearbeitet und weitergeleitet. In Spanien sicherte die „neutrale“ Herkunft der Rotkreuzdelegierten – darunter des Arztes Marcel Junod (1904–1961) – die umfassende Hilfstätigkeit des IKRK, das sein Ansehen durch die Aktivität im Bürgerkrieg erheblich steigerte.44 Zwar blieb der Schutz von Zivilisten in Staaten, die gegeneinander kämpften, letztlich auch in den 1920er und 1930er Jahren unzureichend. Jedoch linderte das Rote Kreuz zumindest das Leiden, und es trug nicht zuletzt zur Erweiterung des humanitären Völkerrechtes bei, das besonders mit der Genfer Konvention zur Behandlung der Kriegsgefangenen von 1929 neue Impulse erhalten hatte. Als 1939 der Zweite Weltkrieg begann, verfügte das IKRK damit über einen erheblichen Aktionsradius. So konnte das Genfer Komitee seine Inspektionen auf weitere Staaten ausdehnen. Ebenso wurden über die Hilfe für verwundete und gefangene Soldaten hinaus neue Felder und Zielgruppen der Kriegsopferhilfe erschlossen. Dazu zählten auch Zivilinternierte, denen das Rote Kreuz zwar schon im Ersten Weltkrieg geholfen hatte, aber von 1939 bis 1945 verstärkt Aufmerksamkeit schenkte. Nicht zuletzt die zunehmende Professionalisierung des Roten Kreuzes kam von 1939 bis 1945 zivilen Kriegsopfern zugute. Dies gilt ebenso für die wachsende Kooperation mit anderen humanitären Organisationen, die erst im oder nach dem Ersten Weltkrieg gegründet worden waren. Dazu zählten Hoovers American Relief Administration und die SCFIU. Allein in der Schweiz arbeitete das IKRK 1916 mit 170 Gruppen und Vereinigungen zusammen. Zudem suchte das Komitee die Unterstützung durch philanthropische Vereinigungen, um die wachsende Komplexität der Aufgaben in der Opferhilfe zu bewältigen. Schon über den Zweiten Weltkrieg hinaus wies auch die Erweiterung des Mandates für bewaffnete Konflikte jenseits von Staatenkriegen.45 Allerdings war die humanitäre Hilfe für zivile Feindstaatenangehörige in den Jahren von 1939 bis 1945 noch umstrittener als im Ersten Weltkrieg. Für diese Aufgabe verfügte das IKRK auch nur bedingt über die notwendigen Voraussetzungen. Zwar hatte sich die Zahl der Mitglieder des Genfer Komitees in den Jahren von 1914 bis 1939 von neun auf 26 Personen verdreifacht. Während des Krieges wuchs der Personalbestand bis 1944 auf 1.500 in Genf und 800 an anderen Orten in der Schweiz. Darüber hinaus arbeiteten 180 Delegierte des IKRK in verschiedenen Staaten. Auch wurden 1939 rund zwanzig Millionen Mitglieder registriert, die 62 nationalen Gesellschaften angehörten. Allerdings nahmen mit 44 Khan, Das Rote Kreuz, S. 72–75; Brückner, Hilfe, S. 57 f. (Angabe: S. 58). 45 Herrmann / Palmieri, International Committee of the Red Cross; Forsythe, Humanitarians, S. 35.

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der Expansion auch Interessen- und Kompetenzkonflikte zu. Besonders komplex war das Verhältnis zum SRK, das unter chronischem Geldmangel litt und deshalb mit dem IKRK um Spenden konkurrierte. In der Eidgenossenschaft bemühte sich auch die Sowjetische Rotkreuzgesellschaft, die das IKRK 1921 zugelassen hatte, um finanzielle Unterstützung. Darüber hinaus konnte das Genfer Komitee seine finanzielle Abhängigkeit von den nationalen Gesellschaften trotz intensiver Bemühungen um eine Aufstockung der Eigenmittel nicht beseitigen. So musste das IKRK noch 1939 38 Prozent seiner Ausgaben mit den Zuwendungen der nationalen Sektionen des Roten Kreuzes bestreiten.46 Auch darüber hinaus war der Führungsanspruch des Internationalen Komitees bei der humanitären Hilfe für Kriegsopfer trotz der erheblichen Leistungen im Ersten Weltkrieg nach 1918 keineswegs unumstritten. Besonders mit der Society of Friends und dem YMCA standen mächtige Organisationen bereit, die sich in den Jahren von 1914 bis 1918 gleichfalls bewährt hatten. Überdies schirmte die enge Bindung an das Genfer Komitee zwar die Neutralitätspolitik der eidgenössischen Bundesregierung ab, welche die Schweiz als humanitäre Insel verherrlichte und damit ihre Politik legitimierte. Aus der Sicht des Bundesrates belastete aber die neue Liga der Rotkreuzgesellschaften als Verband, der mit dem IKRK konkurrierte, das Verhältnis der Schweiz zum Völkerbund, von dem sich die Eidgenossenschaft 1938 abwandte. Zugleich ging der Bundesrat zu einer aktiven Neutralität über, die ihm erlaubte, Opfern im Kriegsfall in Zusammenarbeit mit dem SRK und dem Genfer Komitee des Roten Kreuzes humanitäre Hilfe zu gewähren.47. Zudem verlor der humanitäre Universalismus in den 1930er Jahren deutlich an Einfluss, besonders in den neuen faschistischen und autoritären Diktaturen. Hier banden die Regimes die nationalen Rotkreuzgesellschaften eng an die jeweiligen Herrschaftssysteme und die nationale Politik. Im „Dritten Reich“ hatte die „Gleichschaltung“ schon wenige Monate nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten auch das Rote Kreuz (DRK) erfasst. Zwar ratifizierte die NSFührung 1934 noch das Genfer Abkommen von 1929; der wachsende Anpassungsdruck infolge politischer Repression, vorauseilender Gehorsam und eilfertige Bekenntnisse zur Politik der neuen Machthaber bahnten aber der Umwandlung des DRK in ein „nationalsozialistisches Sanitätskorps“ den Weg. Auch Opportunismus und die Fixierung auf eigene Interessen trugen zu dieser Indienstnahme bei, wie die wohlwollende Reaktion der Führung des Roten Kreuzes auf die Zwangsauflösung des Arbeitersamariterbundes im Sommer 1933 zeigt. Damit ersetzte eine ausschließlich nationale und politisch instrumentali46 Angaben nach: Brückner, Hilfe, S. 60 f., 129; Steinacher, Humanitarians, S. 80 f. 47 Brückner, Hilfe, S. 142–144.

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sierte Hilfsorganisation das überlieferte Leitbild der Humanität. Dennoch verharmlosten, ignorierten oder verteidigten führende Mitglieder der IKRK den Ausschluss jüdischer Deutscher aus dem DRK.48 Das Gesetz über das Deutsche Rote Kreuz vom 9. Dezember 1937 schloss diesen Wandel ab, den der neue geschäftsführende Präsident, der SS-Arzt Ernst Robert Grawitz (1899–1945), verkörperte. Bitten des Genfer Komitees um Informationen über politische Gefangene trafen im „Dritten Reich“ auf eisernes Schweigen. Die Behörden inszenierten überdies gezielt Inspektionen der Konzentrationslager, so dass die daraus hervorgegangenen Berichte geschönt waren. Da die Beobachter von den nationalsozialistischen Machthabern wiederholt getäuscht wurden, trafen die Besuche von Delegationen in den Lagern in anderen Ländern auf Kritik.49 Zugleich war die Versorgung der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten im Zweiten Weltkrieg schwieriger als in den Jahren von 1914 bis 1918, da sie oft in entlegenen Lagern festgehalten wurden, besonders im Osten Europas und Asiens. So setzte sich das NS-Regime grundsätzlich über die Rechte von Internierten und Häftlingen in Polen und in der Sowjetunion hinweg. In Ostasien misshandelte das japanische Oberkommando Gefangene, über die es entgegen den völkerrechtlichen Bestimmungen und im Gegensatz zu anderen kriegführenden Staaten auch nur unzureichend berichtete. Zwar hatten die Militärs bereits am 27. Dezember 1941 ein Informationsbüro zu Kriegsgefangenen eingerichtet, das aber vollständig dem Kriegsministerium unterstellt war und über keinen Handlungsspielraum verfügte. Deshalb wurden in den ersten Jahren nach dem Beginn des Krieges im Pazifik nur wenige Lager inspiziert. Eine systematische Erfassung aller Insassen von Camps begann erst 1944. Diese militärischen und zivilen Opfer wurden von Japan gezielt vernachlässigt oder bestraft, da Gefangenschaft als unehrenhaft galt. Obwohl die Hilfslieferungen des Roten Kreuzes selten blieben, retteten die bereitgestellten Lebensmittel und die Medizin das Leben vieler alliierter Gefangener. Allerdings war das IKRK faktisch von der Betreuung von „Asiaten“ und Chinesen amerikanischer Herkunft ausgeschlossen. Auch verzichtete das Genfer Komitee auf offene Kritik an der Politik 48 Khan, Das Rote Kreuz, S. 78–84; Brückner, Hilfe, S. 137 f.; Steinacher, Humanitarians, S. 39. Hierzu und zum Folgenden im Einzelnen: Birgitt Morgenbrod / Stephanie Merkenich, Das Deutsche Rote Kreuz unter der NS-Diktatur 1933 bis 1945, Paderborn 2008. Zum Hintergrund: Arnd Bauerkämper, Der „Große Krieg“ als Beginn: das Verhältnis zwischen traditionalen Ordnungskonzepten, Faschismus und Autoritarismus, in: Steffen Kailitz (Hg.), Nach dem „Großen Krieg“. Vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939, Göttingen 2017, S. 89–112. 49 Vance, Protecting Power, S. 229; ders., Information Bureaus, S. 143; ders., International Committee of the Red Cross, S. 145; Khan, Das Rote Kreuz, S. 85–88, 93; Checkland, Humanitarianism, S. 137.

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Japans, um die Einheit der Organisation zu bewahren. Diese Passivität war schon vor 1945 nicht nur in verschiedenen nationalen Gesellschaften, sondern auch im Genfer Komitee umstritten. Die Kritiker konnten sich aber bis 1944 nicht durchsetzen.50 Wirklich wirksam half das IKRK zivilen Opfern des Krieges – besonders den Juden – erst 1944/45. Trotz dieser Hemmnisse und Probleme profitierten viele Kriegsgefangene, Zivilinternierte und ihre Angehörigen schon zuvor von der Nothilfe, die das IKRK im Zweiten Weltkrieg zur Verfügung stellte. Zunächst rief das Genfer Komitee die nationalen Rotkreuzgesellschaften nachdrücklich auf, erneut Informationsstellen für Gefangene einzurichten. Über diese konnten – wie schon in den Jahren von 1914 bis 1918 – Regierungen und Angehörige benachrichtigt werden. Anders als im Ersten Weltkrieg eröffnete das Genfer Komitee, in dem der ehemalige Kommissar des Völkerbundes für Danzig, Carl Burckhardt (1891–1974), 1944 die Präsidentschaft von Max Huber (1874–1960) übernahm, am 14. September 1939 eine zentrale Kriegsgefangenenagentur, die der Schriftsteller Jacques Chenevière (1886–1976) leitete. Die Einrichtung arbeitete auf der Grundlage des Artikels 79 der Genfer Konvention. Sie empfing nach eigenen Angaben schon bis zum 1. Mai 1940 561.475 Briefe oder Karten und verschickte 534.981 Nachrichten. 1940 erreichten das Informationsbüro täglich rund 5.000 Briefe. Insgesamt sandte die Genfer Kriegsgefangenenagentur 110 Millionen Postsendungen und 560.000 Telegramme. Hier waren schon im Mai 1940 rund 500 Personen beschäftigt, davon 400 als freiwillige Helfer. Ebenso wie im Ersten Weltkrieg bemühten sie sich, Anfragen zu Kriegsgefangenen oder Zivilinternierten Informationen zuzuordnen, die der Agentur von den Gewahrsamsmächten übermittelt worden waren. Bereits bis Frühjahr 1940 belief sich die Zahl spezieller Anfragen zu Zivilisten auf 13.000. Deren Bearbeitung diente erneut ein ausgefeiltes System von bis zu 36 Millionen Karteikarten, davon allein über zehn Millionen zu deutschen Gefangenen. Insgesamt vermittelte das IKRK im Zweiten Weltkrieg 24 Millionen Nachrichten von Zivilisten.51 Im Frühjahr 1945 verfügte die zentrale Kriegsgefangenenagentur schließlich über 2.585 Angestellte und Freiwillige (davon 1.400 in schweizerischen Städten außerhalb von Genf). Mit der enormen Expansion war der Anspruch verbunden, Informationen zu Gefangenen noch reibungsloser, präziser und schneller zu sammeln. Dazu dienten in den kriegführenden Staaten erneut Informationsbü50 NA, FO 215/461 (Aufzeichnung vom 5. Mai 1942). Vgl. auch England, Zindel’s Rosary Hill, S. 39; Heidebrink, Prisoners of War, S. 174; Jacob, Japanese War Crimes, S. 114, 120, 129. 51 Bericht „Summary of the work of the International Red Cross Committee and of the Central Agency of Prisoners of War, since the beginning of the present conflict“, in: NA, HO 215/452. Angabe nach: Khan, Das Rote Kreuz, S. 92. Vgl. auch Moorehead, Dream, S. 377; Vance, Central POW Agency, S. 43; Steinacher, Humanitarians, S. 25–28.

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ros, die jeweils die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften unterhielten. Sie wurden in zahlreichen Städten – von Moskau bis Kairo – eingerichtet und übermittelten postalisch oder telegraphisch Informationen zu den Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Zudem leiteten sie Briefe an die zentrale Agentur des IKRK weiter. Damit folgte das Rote Kreuz der Bestimmung der Genfer Konvention von 1929, die Soldaten, die in die Hand gegnerischer Regierungen gefallen waren, zur Korrespondenz berechtigt hatte. Wie schon im Ersten Weltkrieg wurden die eingegangenen Nachrichten in der zentralen Agentur des IKRK ausgewertet und zugeordnet. Dazu setzten die Mitarbeiter erstmals auch elektromagnetische Hollerith-Maschinen ein.52 Insgesamt sicherte das IKRK in den Jahren von 1939 bis 1945 die Korrespondenz der Zivilinternierten und Kriegsgefangenen. Obgleich das IKRK nach wie vor nicht über einen diplomatischen Status verfügte, vermittelte es mit Zustimmung der Zensurbehörden in Deutschland, Frankreich und Großbritannien den Postverkehr der Lagerinsassen. Für Internierte, die weit von ihren Heimatländern gefangen gehalten wurden, richtete das Genfer Komitee einen Expressdienst ein. Die Nachrichten waren aber auf zwanzig (später 25) Worte und zunächst ebenso auf Familienangehörige begrenzt, bevor auch Freunde einbezogen werden durften. Alle Mitteilungen übersandten die nationalen RotkreuzGesellschaften der Hauptverwaltung des IKRK, die sie an die Empfänger weiterleitete. Dazu schloss sich in Großbritannien das Rote Kreuz erneut mit dem Johanniterorden zusammen. Auch dieses Beispiel zeigt, dass der Zweite Weltkrieg in den humanitären Organisationen nicht nur einen weiteren Professionalisierungsschub herbeiführte, sondern auch die Kooperation zwischen den Verbänden stärkte, oft im Rahmen neu gegründeter zentraler Dachverbände.53 Allerdings verlief der Austausch von Informationen keineswegs reibungslos. So kam es bei Anfragen des Genfer Komitees zu Internierten in den einzelnen Ländern wiederholt zu Überschneidungen und Spannungen. Vor allem die Regierung des Vereinigten Königreiches misstraute dem IKRK, da es weiterhin eng an die Schweizer Bundesregierung gebunden war, die in Großbritannien weithin als zu freundlich gegenüber dem Deutschen Reich galt. Zudem wurden Initiativen für Hilfslieferungen, die sich gegen die britische Seeblockade zu richten schienen, ebenso kategorisch abgelehnt wie Initiativen des Genfer Komitees zum Gefangenenaustausch. Churchills Kriegskabinett ließ Huber und

52 Durand, Sarajevo, S. 412–433; Moorehead, Dream, S. 408. 53 LSF, FCRA (Meeting of the Emergency Committee, Aliens Section, 13 September 1939; Meeting of the Emergency Committee, Aliens Section, 27 June 1940; Meeting of the Emergency Committee, Aliens Section, 25 August 1942); NA, FO 916/614 (Brief vom 13. September 1943). Vgl. auch Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 140 f.

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eine Delegation des IKRK deshalb 1941 in London kühl empfangen, und Außenminister Eden wies den britischen Minister in Bern an, Friedensfühler und andere Annäherungsversuche des NS-Regimes zurückzuweisen. Alles in allem war humanitäre Hilfe in der Regierungspolitik dem Ziel untergeordnet, möglichst schnell den militärischen Sieg über die Achsenmächte zu erringen.54 Auch bestand das britische Innenministerium ab 1941 auf der Kontrolle des Postverkehrs zwischen dem Genfer Komitee und den Internierten. Dazu sollten Anfragen zu freigelassenen und noch internierten Feindstaatenangehörigen voneinander getrennt werden. Die Regierung instruierte Hilfsorganisationen wie das Britische Rote Kreuz und die Women’s Voluntary Services sowie die Beratungsbüros des National Council of Social Service, Korrespondenz zu enemy aliens, die im Vereinigten Königreich lebten, nur noch an das Home Office zu richten, das den Adressaten ihre Post in verschlossener Form über Polizisten zuleitete. Auch die nationalen Informationsbüros sollten aus der Kommunikation ausgeschaltet werden, da die britische Regierung Fehler und Indiskretionen befürchtete. Sie berief sich dabei auf einen Beschluss des Aliens Advisory Committee des Innenministeriums vom 28. August 1940, als dieses Gremium auch entschieden hatte, Vertretern des IKRK und der jeweiligen Schutzmacht nicht mehr zu erlauben, bei ihren Lagerinspektionen Internierte ohne ihre Zustimmung zu befragen. Umgekehrt empfahl das Rote Kreuz aber 1943 dem Foreign Office, grundsätzlich keine Listen mit Angaben zu internierten Deutschen mehr weiterzuleiten, die dies abgelehnt hatten. Offenbar waren zuvor deutsche Flüchtlinge in Briefen aus dem „Dritten Reich“ bedroht worden.55 Ebenso unumstritten war das Recht des Genfer Komitees, Hilfe für Kriegsgefangene und Zivilinternierte zu organisieren. Darüber hinaus drängte Präsident Huber die Regierungen aller kriegführenden Staaten, die Zivilinternierten hinsichtlich ihres völkerrechtlichen Status mit den Kriegsgefangenen gleichzustellen. Er bezog sich dabei auf den Entwurf, der 1934 in Tokio verabschiedet worden war. Im Zweiten Weltkrieg sollte der Schutz von Zivilisten in Kriegen endlich rechtlich kodifiziert werden. Dafür hatten dem Genfer Komitee bislang die Expertise, Legitimität und Macht gegenüber den nationalen Regierungen gefehlt. Immerhin sagten Großbritannien, Frankreich und Deutschland bis Anfang 1940 nach den Appellen des IKRK (so in einer Denkschrift vom 21. Oktober 1939) grundsätzlich zu, das Genfer Abkommen von 1929 auch auf Zivilisten an54 Crossland, Britain, S. 116 f. Allgemein: Moorehead, Dream, S. 390–392. 55 NA, HO 215/454 (Vermerk vom 16. Dezember 1940); HO 215/455 (Schreiben vom 5. November 1940, 9. Mai 1941, 12. Juni, 8. Juli 1941, 1. August 1941 und 1. Oktober 1941, 9. Juni 1943 und 9. November 1944; Auszug aus dem New Statesman vom 6. September 1941); NA, HO 215/452 (Briefe vom 19. Oktober 1940 und 5. November 1940; Telegramm vom 30. Januar 1941; Protokoll vom 4. September 1940).

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zuwenden und nicht wehrfähige Feindstaatenangehörige in ihre Heimatländer zu entlassen. Allerdings mussten die Namen und Adressen der Internierten auf den Hilfspaketen eindeutig angegeben werden. Die Erklärungen waren überdies nicht verpflichtend, so dass Zivilisten letztlich völkerrechtlich ungeschützt blieben. Zudem betrafen die Zusagen ausschließlich Feindstaatenangehörige, die sich unter militärischer Kontrolle befanden. Damit blieb im „Dritten Reich“ das Vorgehen der Polizei- und Sicherheitsapparate, die gefangene Juden offiziell lediglich als internierte Zivilisten führten, ausgespart. Besonders das mächtige Reichssicherheitshauptamt, das ab 1939 eine Schlüsselrolle bei der Verfolgung politischer Gegner und der systematischen Ermordung der Juden einnahm, entzog sich der Kontrolle des Genfer Komitees. Auch betrachtete das NS-Regime die Haft in Konzentrationslagern grundsätzlich als interne Angelegenheit. Nicht zuletzt wurden viele Insassen ausgebürgert, so dass sie offiziell als staatenlos galten. Im Gegensatz zu internierten Feindstaatenangehörigen entzogen ihnen die Machthaber des „Dritten Reiches“ damit jeglichen völkerrechtlichen Schutz.56 Gezielte und wirksame humanitäre Hilfe war grundsätzlich nur auf der Grundlage präziser Informationen möglich. Wie schon in den Jahren von 1914 bis 1918 gehörte die Inspektion der Internierungslager deshalb zu den wichtigsten Tätigkeitsfeldern des Roten Kreuzes. Insgesamt führten 340 Delegierte des Genfer Komitees von 1939 bis Ende Juni 1947 nicht weniger als 11.170 Besuche durch.57 Daran war die zentrale Kriegsgefangenenagentur maßgeblich beteiligt, denn Informationen über die Gefangenen dienten letztlich auch dem Schutz dieser Kriegsopfer. Ebenso wie im Ersten Weltkrieg sprachen die Inspekteure des Roten Kreuzes nicht nur mit den jeweiligen Lagerkommandanten, sondern auch mit Vertretern der Internierten. Allerdings verboten die Behörden in den kriegführenden Staaten wiederholt Unterredungen mit den betroffenen Insassen und ihren Repräsentanten. Diese Einschränkung wurde im Allgemeinen mit dem Hinweis auf die „Sicherheit“ gerechtfertigt. Dagegen protestierte das IKRK, das Schutzmächte wiederholt nachdrücklich um Unterstützung bat. Zumindest stellten die Gewahrsamsstaaten dem Genfer Komitee Listen der Internierten zur Verfügung.58 Eine Vielzahl von Berichten der Inspekteure dokumentierte nicht nur ihre Arbeit, sondern vor allem die Lebensverhältnisse in den Internierungslagern.

56 Moorehead, Dream, S. 374 f., 412; Crossland, Britain, S. 106 f.; Khan, Das Rote Kreuz, S. 94; Brückner, Hilfe, S. 81–83; 57 Durand, Sarajevo, S. 441; Moorehead, Dream, S. 382. Geringfügig abweichende Angabe in: Vance (Hg.), International Committee of the Red Cross, S. 145. 58 Durand, Sarajevo, S. 448 f.

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So nahm der Vertreter des Genfer Komitees im Vereinigten Königreich, Rodolphe Haccius (1888–1974), im Januar 1942 im Camp Rushen auf der Insel Man zahlreiche Beschwerden internierter Frauen auf, die über den langsamen Postverkehr klagten, die verzögerte Auslieferung von Hilfspäckchen des IKRK kritisierten und ihre Repatriierung verlangten.59 Demgegenüber stellte Haccius zum Camp Ramsay im Januar 1942 fest: „The camp possesses, from all points of view, those elements which are essential to rendering the stay of the internees as comfortable as possible.“ Allerdings versuchte der Vertreter der deutschen Insassen in dem Lager offenbar unablässig, die Anordnungen des britischen Kommandanten zu sabotieren.60 Auch im September 1943 waren die Bedingungen in den Camps offenbar gut. Haccius lobte vor allem die Arbeit des Beauftragten, der im Home Office für das Wohlergehen der Internierten zuständig war.61 Ein Jahr später berichteten die Inspektoren der Eidgenossenschaft für das IKRK der britischen Regierung allerdings über akute Probleme in den Internierungslagern Ramsay und Douglas. Auch in Port Erin wurden noch im Februar 1944 gravierende Mängel festgestellt. So hielten Konflikte zwischen weiblichen Internierten, die den Nationalsozialismus unterstützten oder ablehnten, ebenso an wie Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der katholischen und protestantischen Kirchen. Auch das Verhältnis zwischen den Internierten und den Besitzerinnen der Pensionen, in denen sie lebten, war erheblich getrübt. Zudem verlangten die gefangenen Frauen eine rasche Zusammenführung mit ihren Männern. Über diese diskutierten am 24. März Repräsentanten des IKRK – darunter Haccius – mit Beamten der Abteilung für Internierungslager (Internment Camps Division) des Innenministeriums. Sie beschuldigten den Vertreter der Insassen im Camp Ramsay, den sie intern als überzeugten Nationalsozialisten bezeichneten, die Lage im Lager gegenüber dem Inspekteur des Genfer Komitees dramatisiert zu haben. Diese Auffassung hatte zuvor besonders der Kommandant des Camps Port Erin im Hinblick auf den Repräsentanten der Insassen seines Lagers vertreten. Damit konnten sie aber die Bedenken des IKRK nicht beilegen, dessen Inspekteur sich auch über Streitigkeiten zwischen dem Arzt in dem Camp und seinen Patientinnen besorgt zeigte.62

59 NA, HO 215/74 (Bericht „Camp ‚W‘ Isle of Man“). 60 NA, HO 215/75 (Bericht vom 23. Januar 1942, S. 3). Zu Haccius: Moorehead, Dream, S. 372, 378 f. 61 NA, HO 215/105 (Schreiben vom 7. September 1943). 62 LSF, FCRA/19/9 („Report by Margaret B. Collyer upon the Women’s Internment Camp, Isle of Man, May 1940 to April 1944“); NA, HO 215/50 (Notiz vom 23. August 1944 sowie Briefe vom 14. August und 30. September 1944); HO 215/106 (Brief vom 19. Februar 1944; Vermerk vom 17.

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Demgegenüber war Anfang 1944 die Unterbringung in Peel (ebenfalls auf Man) besser, obwohl den hier internierten elf Feindstaatenangehörigen vom Kommandanten untersagt worden war, dem Repräsentanten des IKRK ohne Zeugen Auskunft zu geben.63 Darüber hinaus besuchten Vertreter des Roten Kreuzes in Großbritannien Krankenhäuser, in die enemy aliens eingeliefert worden waren. Hier waren sie zumindest 1943 mit der Unterbringung und Behandlung zufrieden.64 In der Regel informierten die Delegierten des IKRK die Kriegsgefangenenbüros in den einzelnen Staaten über ihre Befunde, und sie schickten ihre Berichte an das Genfer Komitee, das sie anschließend der Regierung der jeweiligen Gewahrsamsmacht und dem Heimatstaat der Insassen übermittelte. Daran schlossen sich im Allgemeinen Verhandlungen an, um Missstände zu beseitigen. Bei offenkundigen Verstößen gegen die Genfer Konventionen – so Repressalien – appellierte das IKRK öffentlich an die kriegführenden Staaten, völkerrechtliche Regelungen einzuhalten. Ebenso wie im Ersten Weltkrieg wurden die Inspektionsberichte auch veröffentlicht, aber nur in den Monaten von September 1939 bis März 1941. Anschließend publizierte das Genfer Komitee nur noch Auszüge, da – so die offizielle Begründung – die Zahl der Lager enorm zugenommen hatte. Auch weil im Zweiten Weltkrieg dem IKRK nie mehr als 150 Beobachter zugleich zur Verfügung standen, darf die Wirkung der Inspektionen nicht überschätzt werden.65

Die Politik des IKRK gegenüber dem „Dritten Reich“ Wie bereits erwähnt, verweigerte das NS-Regime Inspektionen der Konzentrationslager. Lediglich 1935 und 1938 durfte das IKRK unter Aufsicht einzelne KZ besichtigen. Als die Nationalsozialisten 1938 die Verfolgung der Juden intensivierten, erklärte sich das Genfer Komitee außerstande, die bedrohte Minderheit zu unterstützen. Vielmehr verwies es auf die internationalen humanitären Hilfsorganisationen. Die Schweiz nahm zwar 30.000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland auf, schloss aber nach dem „Anschluss“ Österreichs die Grenzen

März 1944; Bericht vom 27. März 1944; Schreiben vom 19. Februar 1944); HO 215/74 (Bericht „Camp W. Ile de Man“). 63 NA, HO 215/41 (Bericht zum Besuch vom 12. Februar 1944). 64 NA, HO 215/105. 65 Durand, Sarajevo, S. 450 f., 466 f.; Forsythe, Humanitarians, S. 43; Moorehead, Dream, S. 498.

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des Landes. Es blieben nur private Initiativen wie ein Hilfskomitee für Kinder, die Kriegsopfer geworden waren.66 In den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges wurde ein Zugang des Roten Kreuzes – wie auch anderer humanitärer Hilfsorganisationen – zu den Konzentrationslagern strikt unterbunden. Auch deshalb war die Versorgung der Häftlinge eine enorme Herausforderung. Die Betroffenen verfügten damit über keine Appellationsinstanz. Der Artikel 19 des Tokioter Vertragsentwurfes verbot zwar explizit die Deportation von Zivilisten aus besetzten Gebieten; er blieb aber für Personen unwirksam, die sich bereits in Nationalstaaten befanden oder sogar Staatsbürger waren. Damit wurde deutlich, dass die Konsequenzen aus dem Ersten Weltkrieg im Hinblick auf die Einschränkung der Kriegsgewalt begrenzt geblieben waren. Zu den Kriegsopfern gehörten Flüchtlinge und alle anderen staatenlosen Personen, besonders Juden, die 1941 endgültig aus dem „Dritten Reich“ ausgebürgert und in Konzentrationslager deportiert wurden. Für diese Gruppe richtete das IKRK eine besondere Abteilung ein (Civilian Interned, Diverse) ein. Jedoch verweigerten die nationalsozialistischen Sicherheitsbehörden, besonders das RSHA, dem Roten Kreuz Nachrichten über „Nicht-Arier“. Hitlers „Nacht-und-Nebel-Erlass“ vom 7. Dezember 1941 hatte den Reichsbehörden streng untersagt, Informationen zu Häftlingen zu erteilen, die wegen Staatsverbrechen verurteilt worden waren. Die Bedingungen, unter denen alliierte Zivilinternierte lebten, konnte das IKRK zwar grundsätzlich überprüfen; jedoch fehlten dem Komitee Ressourcen, um den Umgang des NS-Regimes mit Zivilisten in Deutschland und in den eroberten Ländern Europas zu kontrollieren, vor allem bis Anfang 1943.67 Sogar das Reziprozitätsprinzip erwies sich als weitgehend unwirksam. In den folgenden Monaten waren zumindest gelegentlich Bemühungen erfolgreich, Erleichterungen für einzelne Gruppen zu erwirken und sie zu versorgen. Dazu etablierte das IKRK einen besonderen Dienst, den Concentration Camp Parcel Service, der Versorgungsgüter an KZ-Insassen schickte. Dazu wurden einzelne Personen, denen Hilfslieferungen übermittelt werden konnten, gebeten, auf den Empfangsbestätigungen Adressen weiterer Häftlinge zu notieren. Dieses Verfahren, mit dem das IKRK den Insassen der Lager insgesamt rund 1,1 Millionen Päckchen übermitteln konnte, entsprach der Einigung, welche die kriegführenden Mächte zu Beginn des Krieges über den Umgang mit Zivilinternierten erzielt hatten. Für die Häftlinge von Konzentrationslagern stellten auch Regierungsinstitutionen – so der im Januar 1944 von Präsident Roosevelt eingerichtete War Refugee Board (WRB) – und humanitäre Organisationen wie das JOINT und der World Jewish Congress Hilfslieferungen zur Verfügung. 66 Steinacher, Humanitarians, S. 33–35. 67 Osti Guerrazzi, Cultures of Total Annihilation?, S. 122.

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Dem WRB gelang es, allein Güter im Wert von zwanzig Millionen Dollar über die Schweiz zu den Konzentrationslagern ins „Dritte Reich“ zu bringen. Zudem drängte er das IKRK zu einer offensiveren Hilfe für die Juden, die im vom „Dritten Reich“ besetzten Europa akut bedroht waren.68 Darüber hinaus gewann das IKRK 1944 die Kooperation einzelner Kommandanten von Konzentrationslagern. In den KZ Dachau, Ravensbrück, Dachau, Natzweiler, Oranienburg, Buchenwald wurden Repräsentanten des Roten Kreuzes zwar empfangen, aber getäuscht. So hatte die SS im Mai 1944 rund 7.500 Juden vom Lager Theresienstadt nach Auschwitz bringen lassen, um dort Inspektoren des IKRK ein geschöntes Bild zu präsentieren. Ebenso wie Theresienstadt war auch ein Familienlager im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau als Schaubühne für Inspektionen des IKRK eingerichtet worden. Von diesen Einzelfällen abgesehen, schob die SS Sicherheitsbedenken wiederholt vor, so dass das IKRK die Lager nie regelmäßig besuchen durfte und keinen direkten Einblick in die dort vorherrschenden Bedingungen gewann. Wie dargelegt, konnten ab 1942 (wie schon vor 1939) zwar Hilfspakete an namentlich bekannte Häftlinge geschickt werden. Jedoch schränkten nicht nur die Nationalsozialisten, sondern auch nationale Rotkreuzgesellschaften den Kreis der Empfänger ein, der oft ausschließlich eigene Staatsangehörige umfasste. Obwohl BergenBelsen 1942 als Austauschlager für im Ausland festgehaltene Deutsche eingerichtet worden war, durften bis Ende 1944 nur 2.300 Häftlinge Deutschland verlassen. 222 von ihnen wanderten allein am 30. Juni 1944 nach Palästina aus. Im Gegenzug entließ die britische Regierung Mitglieder der um 1850 in Württemberg entstandenen Tempelgesellschaft, die im Nahen Osten gesiedelt hatten.69 Erst in den letzten Kriegsmonaten erreichten Vertreter des Roten Kreuzes, vor allem der Vizepräsident der schwedischen Gesellschaft, Graf Folke Bernadotte (1895–1948), in Verhandlungen mit hochrangigen NS-Führern wie Heinrich Himmler und dem Chef des RSHA, Ernst Kaltenbrunner (1903–1946), die Freilassung größerer Gruppen von Häftlingen aus den Konzentrationslagern. Im März 1945 wurden skandinavische KZ-Insassen nach Neuengamme gebracht, wo sie zumindest eine Überlebenschance hatten. Jedoch erreichte IKRK-Präsident Burckhardt in einem Gespräch mit Kaltenbrunner am 13. März 1945 nur die Zusicherung, die Häftlinge mit Nahrungsmittelpaketen versorgen zu dürfen. Insgesamt konnten vor Kriegsende rund 20.000 KZ-Insassen gerettet werden, darunter fast 8.000 aus skandinavischen Staaten, die das Rote Kreuz Schwe68 Hierzu und zum Folgenden: Durand, Sarajevo, S. 575–606; Moorehead, Dream, S. 417–425, 454–456; Forsythe, Humanitarians, S. 42, 45; Wachsmann, KL, S. 661; Khan, Das Rote Kreuz, S. 88 f.; Steinacher, Humanitarians, S. 54. Angabe nach: Crossland, Britain, S. 127. 69 Angaben nach: Wachsmann, KL, S. 391, 527.

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dens und Dänemarks zur Versorgung übernahm. Letztlich spiegelt der Massenmord an den Juden eine rassistische Sicherheitsdoktrin wider, die eine ganze Bevölkerungsgruppe zu „Staatsfeinden“ stempelte und auch im Namen des Schutzes von „Volksgenossen“ ermordete. Dagegen erwies sich das IKRK als machtlos und wiederholt naiv. So zeigte sich eine Abordnung des Genfer Komitees noch im April 1945 mit den Lebensverhältnissen im KZ Theresienstadt zufrieden.70 Darüber hinaus verzichtete das Genfer Komitee auf eine energische Intervention gegen die Politik des NS-Regimes, obwohl es bereits 1942 über den Holocaust informiert war. Frühe Gerüchte über die Ermordung der Juden waren von Augenzeugen bestätigt worden. So schickte der ehemalige Gießener Privatdozent Artur Sommer, der nach einem kurzen Archivdienst in die Wehrmacht eingetreten war, dem päpstlichen Nuntius in Berlin über einen Mittelsmann schon im Herbst 1941 Fotografien von Verbrechen in der Sowjetunion. Im Spätsommer 1942 setzte der Leiter des Genfer Büros des Jüdischen Weltkongresses, Gerhart Riegner (1911–2001), das IKRK über den Plan der Nationalsozialisten in Kenntnis, alle Juden in ihrem Herrschaftsgebiet zu ermorden. Dennoch kritisierte das Genfer Komitee den Völkermord an den Juden auf seiner Versammlung am 14. Oktober 1942 nicht öffentlich. Vor allem der Schweizer Bundespräsident Philipp Egger und Burckhardt lehnten öffentlichen Protest ab. Vielmehr setzten sie sich mit ihrem Vorschlag durch, nur in gravierenden Fällen bei der NS-Führung zu intervenieren und ansonsten diskret vorzugehen. Diese Politik behielt das IKRK auch bei, nachdem der Delegierte in Berlin, Roland Marti, im April 1943 über die Deportation Berliner Juden in Lager in Osteuropa berichtet hatte. Der einflussreiche Rotkreuz-Funktionär Paul Ruegger (1897–1988), der 1944 zum Botschafter der Schweiz in London berufen wurde, vermittelte zwar zwischen der Regierung der Eidgenossenschaft, Großbritannien und dem IKRK, vermied aber eine Konfrontation mit dem „Dritten Reich“. Bei seiner Besichtigung des KZ Theresienstadt ließ sich der Rotkreuz-Delegierte Maurice Rossel im Juni 1944 sogar von der SS täuschen.71 Mit seinem vorsichtigen Vorgehen und seiner Passivität erleichterte das Genfer Komitee ebenso wie Papst Pius XII. (1876–1958), der spätesten im September 1942 vom Massenmord an den Juden wusste, den Genozid aber in seiner Weihnachtsansprache nur allgemein erwähnte, letztlich ungewollt den Holo-

70 Saul Friedländer / Orna Kenan, Das Dritte Reich und die Juden 1933–1945, München 2010, S. 438. Moorehead, Dream, S. 454–470; Steinacher, Humanitarians, S. 72–80. Abgaben nach: Wachsmann, KL, S. 661 f. 71 Friedländer / Kenan, Das Dritte Reich, S. 367 f., 413 f.; Steinacher, Humanitarians, S. 28–31, 45–47; Syga-Dubois, Philanthropie, S. 639 f.

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caust. Das Genfer Komitee gab sogar den nationalen Interessen des Deutschen Roten Kreuzes nach, das die Deportierten kriminalisierte und gegenüber dem NS-Regime nicht für diese Opfergruppe eintrat. Das Polnische Rote Kreuz stand schon vor seiner Zwangsauflösung 1944 unter der Kuratel der deutschen Besatzungsmacht. Unter diesen Umständen hielt das IKRK an seiner überkommenen Verständigungspolitik gegenüber allen Regierungen fest, ohne damit der neuen Qualität des nationalsozialistischen Völkermordes gerecht zu werden. Erst nachdem der Druck in der Schweiz erheblich zugenommen hatte, forderte Huber Miklós Horthy (1868–1957) am 7. Juli 1944 in einem Brief auf, die Deportation von Juden aus Ungarn einzustellen. Zwar konnten einzelne humanitäre Aktivisten wie der Abgesandte des schwedischen Königs, Raoul Wallenberg (1912– 1952), und der IKRK-Delegierte Friedrich Born (1903–1963) daraufhin Tausende Juden in Budapest retten und 1.684 von ihnen über Bergen-Belsen in die Schweiz bringen. Auch intervenierte das Genfer Komitee in Rumänien gegen den Abtransport von dort verbliebenen Juden. Dennoch dokumentierte das insgesamt überaus vorsichtige Vorgehen des IKRK letztlich die ungebrochene Dominanz des Prinzips der Staatssouveränität gegenüber universellen humanitären Grundsätzen und Menschenrechten. Bis zum Herbst 1944 wurden die nationalsozialistischen Konzentrationslager auch in der offiziellen Zeitschrift des Roten Kreuzes, Review, nicht erwähnt. Einige hochrangige Vertreter des IKRK (darunter Burckhardt) fielen sogar mit antisemitischen Äußerungen auf. Demgegenüber hatte der britische Außenminister Eden schon am 17. Dezember 1942 im Unterhaus eine Erklärung der alliierten Staaten verlesen, in der die Verbrechen der Nationalsozialisten – besonders in Polen – eindeutig verurteilt worden waren. In der Deklaration wurde ausdrücklich auf den Massenmord hingewiesen, das Netz der Konzentrationslager allerdings nicht erwähnt. Wenngleich die Alliierten die Deportationen in die Vernichtungslager nicht wirksam unterbanden, verurteilten sie den Holocaust ab 1942, auch unter dem Druck der Londoner Exilregierungen. Demgegenüber zögerte das Internationale Komitee lange mit einer klaren öffentlichen Information und Stellungnahme. Dieses Verhalten zeigt paradigmatisch die Spannung zwischen universalistischen humanitären Ansprüchen und pragmatischen Rücksichtnahmen.72 In der Konkurrenz der humanitären Hilfe, bei der auch neutrale Staaten miteinander wetteiferten, obsiegten letztlich nicht die Vertreter des IKRK, son72 Betts, Universalism, S. 58; Crossland, Britain, S. 201; Wachsmann, KL, S. 568; Khan, Das Rote Kreuz, S. 86–89; Forsythe, Humanitarians, S. 42, 47; Moorehead, Dream, S. 411, 417–427, 444–454; Swatek-Evenstein, History, S. 186 f. Unkritischer dazu: Durand: Sarajevo, S. 438, 462, 574 f. Angabe nach: Steinacher, Humanitarians, S. 72. Zur Rolle des Papstes erste Befunde eines laufenden Forschungsprojektes in: Hubert Wolf u. a., Der Papst, der wusste und schwieg, in: Die Zeit, Nr. 18 / 23. April 2020, S. 13–15.

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dern die Regierung und die Rotkreuz-Gesellschaft Schwedens. Allerdings blieb die Unterstützung des Genfer Komitees für zivile Feindstaatenangehörige von 1939 bis 1945 keineswegs wirkungslos. Dazu trug auch die Kooperation mit anderen Hilfsorganisationen bei. So schloss die British Red Cross Society schon am 2. September 1939 mit dem Johanniterorden ein Abkommen, mit dem eine gemeinsame Organisation, die Joint War Organization, zur Fürsorge für Kriegsopfer eingerichtet wurde. Dazu gehörte ebenso die Hilfe für Gefangene und Internierte. Auch in anderen Ländern achteten Mitarbeiter des Roten Kreuzes auf Mindeststandards im Umgang mit Feindstaatenangehörigen. Überdies versorgten sie außer Kriegsgefangenen auch Zivilinternierte, indem sie dringend benötigte Güter und Post in die Lager schickten. Nachdem die direkten Kommunikationskanäle zwischen gegnerischen Staaten mit Kriegsbeginn geschlossen worden waren, vermittelten die Rotkreuzgesellschaften – ebenso wie die jeweiligen Schutzmächte – sogar Briefe zwischen Personen, die sich vor 1939 gekannt und besucht hatten. Die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften kooperierten eng, wenngleich keineswegs spannungs- und konfliktfrei mit dem IKRK. Dazu waren vielfach gesonderte Abteilungen zuständig, so das Foreign Relations Department in der British Red Cross Society and Order of St. John. Insgesamt konnten mit diesem Engagement zumindest vereinzelt Kontakte über die scharfe wechselseitige Abgrenzung im totalen Krieg aufrechterhalten werden.73

Die Young Men’s Christian Association Ebenso wie im Ersten Weltkrieg konzentrierte sich die War Prisoners Aid der Young Men’s Christian Association auch in den Jahren von 1939 bis 1945 auf die religiösen Bedürfnisse und die Fortbildung der Internierten, die sich damit sinnvoll beschäftigen sollten. Im November 1939 stimmten die Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands der Arbeit der YMCA offiziell zu. So konnte die Organisation im „Dritten Reich“ im Internierungslager Laufen nicht nur Gottesdienste und religiöse Aktivitäten fördern, sondern auch Bildungsangebote bereitstellen, die von den Insassen in den Befragungen durch Inspekteure besonders hervorgehoben wurden. Die Förderung erstreckte sich auch auf handwerkliche Fertigkeiten, beispielweise durch die Lieferung von Holz. Die YMCA versorgte das Lager auch mit Musikinstrumenten. Hier verschafften den Insassen darüber hinaus die Unterstützung durch das Rote Kreuz und die Quäker Linderung. Mitglieder der Society of Friends konnten nach Informationen ei73 NA, FO 369/2569 (Brief vom 2. Mai 1940); FO 369/2547, Bl. 153, 204 f., 225, 234, 237 f., 251, 326. Vgl. auch Vance, St. John Ambulance, S. 261; Steinacher, Humanitarians, S. 70, 83.

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nes Inspekteurs der YMCA sogar Kontakt zu Mitgliedern der Gesellschaft aufnehmen, die in anderen deutschen Internierungslagern festgehalten wurden. Insgesamt arbeiteten im Zweiten Weltkrieg vierzig Vertreter der WPA in 26 Staaten. Sie sorgen damit dafür, dass die Internierung erträglicher wurde.74 Allerdings trugen sie zugleich indirekt zur Repression ziviler Staatsangehöriger im „Dritten Reich“ bei. Auch über diese grundsätzliche Widersprüchlichkeit humanitärer Hilfe hinaus waren die konkreten Aktivitäten des YMCA gelegentlich umstritten. So trafen Beschwerden von finnischen Internierten des Lagers Ramsay, die im November 1942 Bücher in ihrer Sprache wünschten und die Einrichtung von Studienzirkeln forderten, bei den britischen Behörden auf Unverständnis. Auch über die Erwartung, dass sie bald entlassen würden, und die daraus resultierende Passivität zeigten sich britische Regierungsvertreter enttäuscht. Der zuständige Beamte der Londoner Polizeiführung (New Scotland Yard) kritisierte das fordernde Verhalten vieler Lagerinsassen am 5. Januar 1943 in einem Brief an den für die staatliche Wohlfahrt zuständigen Offizier auf der Insel Man: „I am sceptical as regards these ‚wants‘ being genuine as whenever representatives of the Y. M. C. A. visit the Camps, internees come forward and ask for things which would be supplied to them from Welfare Funds if their requirements were brought to our notice. I realise that the Y. M. C. A. wish to be helpful but I would appreciate your views on their latest reports …“

Dennoch durften Vertreter der Organisation auch auf der Insel Man regelmäßig Camps besichtigen, besonders 1944 und 1945.75 Das Hilfsangebot der YMCA war breit. Weltweit versorgte die Organisation die Zivilinternierten mit Lehrmaterialien wie Bücher, und sie unterstützte – ebenso wie im Ersten Weltkrieg – in den Lagern durchweg kulturelle Aktivitäten. In Frankreich lieh sie britischen Staatsbürgern, die vom schnellen Vormarsch der deutschen Armeen 1940 überrascht worden waren, Geld, das sie nach dem Krieg zurückzahlen sollten.76 Den Insassen des Lagers Urawa in Japan stellten sie aber auch Saaten zur Verfügung, um Gartenbau zu ermögli-

74 NA, HO 215/99 (Berichte vom 18. April 1943 und 26. August 1944; „Report on Activities in ILAG VII [Laufen] during the period from June 21st 1943 to Easter 1944“). Angabe nach: Vance, Young Men’s Christian Association, S. 347. 75 NA, HO 215/92 (Brief von H. A. N. Bluett, Internment Camps Division, New Scotland Yard, an T. B. Angliss, Welfare Officer, Alien Internment Camps, Douglas, Insel Man, vom 5. Januar 1943). Vgl. auch Gusejnova, Gegen Deutsches K. Z. Paradies, S. 9. 76 NA, FO 916/2611 („Scheme for the Establishment of a Central Office for Relief of British Subjects in France“ vom 12. Oktober 1944).

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chen.77 Die Organisation unterstützte internierte zivile Feindstaatenangehörige sogar in entlegenen Regionen wie Hongkong, wo Gefangene u. a. Musikinstrumente erhielten. Ebenso versorgte die WPA Internierte in Neuseeland. Hier waren die Lebensbedingungen in den überwiegend kleinen Lagern aber ohnehin relativ gut. Vor allem für das Camp auf Somes Island stellten daneben die Quäker, das Rote Kreuz und die Heilsarmee Hilfsgüter zur Verfügung. Das humanitäre Engagement, aber auch die zurückhaltende Internierungspolitik der neuseeländischen Regierung ermöglichten in den Lagern verschiedene kulturelle und sportliche Aktivitäten, welche die Insassen in Eigeninitiative entwickelten. Das IKRK schätzte das Leben und die Bedingungen im Lager Somes deshalb bei Kriegsende als besonders positiv ein.78

Inspektionen und humanitäre Hilfe in Italien Mit den Inspektionen von Internierungslagern gewann das Internationale Komitee vom Roten Kreuz weltweit einen Überblick über den Umgang mit gefangenen Zivilisten. Der geographische Raum, auf den sich die Überprüfungen erstreckten, war deutlich größer als im Ersten Weltkrieg. Das IKRK besuchte in nahezu allen Staaten Europas Camps, so in Deutschland, Italien und in den von ihnen besetzten Ländern. Besonders intensiv beobachteten humanitäre Organisationen – vor allem das Rote Kreuz – Internierungslager, die in den offiziellen Dokumenten oft noch als „Konzentrationslager“ bezeichnet wurden, und die deutlich offeneren Gewahrsamsstellen (Detention Points) in Italien. Im Februar 1942 registrierte der Inspekteur des IKRK im Camp Civitella del Tronto (Provinz Teramo, Abruzzen) 117 Insassen, darunter Angehörige von 27 Familien. Es handelte sich vor allem um Juden aus Malta und Libyen. Das Lager war hastig errichtet worden und noch in einem primitiven Zustand. So reichten die sanitären Anlagen nicht aus.79 Sieben Monate später hatten die Internierten zwar ihr Gepäck noch nicht vollständig erhalten; dem Delegierten des IKRK fiel aber auf, dass sie ausreichend gekleidet und in guter Stimmung waren. Im Oktober 1943 klagten die insgesamt 88 Insassen, die von der diplomatischen Vertretung der

77 NA, HO 215/114 („Transcription by the London Delegation of the I. R. C. C. Japan: Saitama Prefectural Internement [sic] Camp, Urawa“). 78 Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 116; Vance, Young Men’s Christian Association, S. 348. 79 NA, HO 215/76 (Memorandum „Concentration Camp of Civatella del Tronto“).

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Schweiz und dem IKRK versorgt wurden, über die Korruption des Kommandanten und die mangelhafte medizinische Betreuung.80 Eidgenössische Inspektoren hatten schon 1942 die Überbelegung vieler Internierungslager wie des Camps in Badia al Pino (Provinz Arezzo) betont und die Verlegung der Insassen in Gewahrsamsstellen verlangt. Dieser Forderung schloss sich das britische Außenministerium an, das auch andere Standorte – so Villa Spada (bei der mittelitalienischen Stadt Treia, Provinz Macerata) – für ungeeignet zur Unterbringung von Angehörigen des Vereinigten Königreiches hielt. Das Foreign Office kritisierte 1942/43 vor allem die Weigerung der italienischen Regierung, Insassen von Lagern und Gewahrsamsstellen wegen Krankheiten behandeln zu lassen, die sie sich schon vor der Internierung zugezogen hatten. Zugleich beschwerte sich das Ministerium über die Lebensverhältnisse im Lager Montechiarugolo (bei Parma), wo die Behörden nach Berichten von Inspekteuren des IKRK vor allem die sanitären Bedingungen und die Qualität des Essens trotz zahlreicher Beschwerden nicht verbesserten. Die italienische Regierung wurde über die eidgenössische Vertretung in Bern aufgefordert, die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 zu beachten.81 Im Sommer 1943 fielen dagegen die Berichte von zwei Gesandten der Schweizer Gesandtschaft über Sammelstellen in der Provinz Avellino (Mittelitalien) überwiegend positiv aus. Das Lager Solofra wurde von zwei eidgenössischen Inspektoren sogar ausdrücklich gelobt. Allerdings klagten die Internierten in der Provinz über Kälte im Winter, und auch die italienischen Behörden kümmerten sich nicht intensiv um die gefangenen Feindstaatenangehörigen. Insgesamt war die Versorgung der Zivilinternierten in der ersten Jahreshälfte 1943 offenbar im Norden Italiens besser als im Süden des Landes. Dies änderte sich aber mit dem Beginn der Befreiung durch die alliierten Streitkräfte, die im Juli 1943 auf Sizilien landeten.82

80 NA, HO 215/79 („Inspection of the Concentration Camp Civitella del Tronto“; „Report on Inspection of the Concentration Camp at Civitella del Tronto“, „Report on Inspection of the Concentration Camp at Civitella del Tronto, Province of Teramo, made by Detention Officer Chs. Steffen on September 12th 1942“; Memorandum vom 4. November 1942). 81 NA, HO 215/77 (Bericht vom 21. Mai 1943 und Memorandum vom 4. November 1942; „Report on the inspection of British internees in the Concentration Camp of Montechiarugolo [Parma], made by Detention Officers Messrs. C. Steffen and Sarsfield Salazar, accompanied by Inspector General Rosati and Interpreter Perciato – May 7th and 8th 1942“); HO 215/76 (Schreiben vom 21. Mai 1942; Telegramm vom 17. April 1942; „Inspection of the Concentration Camp at Badia al Pino …“); HO 215/79 (Memorandum vom 2. Juni 1943). 82 NA, HO 215/80 (Telegramm vom 15. Juli 1943; „Inspection Report on Inspection of Detention Points in the Province of Avellino …“; „Report in Inspection of the Concentration Camp of Solofra“; „Inspection Report of the Detention points in the Province of Avellino …“); HO 215/

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Besonders gravierende Mängel wurden zu dieser Zeit in der Provinz Macerata (Mittelitalien) festgestellt. Sie gefährdeten die Gesundheit der Insassen von Internierungslagern. So waren die sanitären Anlagen im Camp Belforte del Chienti, wo 182 Insassen (darunter sechs Briten) litten, miserabel. Auch die Nahrungsmittelversorgung verschlechterte sich im Sommer 1943, so dass die Hilfsleistungen des IKRK aufgestockt wurden.83 Ebenso waren Internierte in der Provinz Pesaro-Urbino im Mai 1943 in Detention Points in einem schlechten Zustand, vor allem in Cantiano. Sie wurden deshalb nach Cagli gebracht. Zwar gewährten die italienischen Behörden den Zivilgefangenen – darunter vielen Briten – in den Dörfern Freiraum, den das Regime auf Druck des IKRK noch erweiterte. Jedoch ließ die Überfüllung der Sammelstellen bis Mitte September 1943 nicht nach. Auch die sanitären Bedingungen und die Heizanlagen erwiesen sich in der Provinz Pesaro-Urbino bei einer erneuten Inspektion als ungenügend. Allerdings entspannte sich die Situation im Spätsommer 1943, denn die internierten Briten und US-Amerikaner wurden nach dem Wechsel Italiens auf die Seite der Alliierten repatriiert.84 In demselben Jahr hatten die Behörden des faschistischen Italiens der Schweizer Gesandtschaft erst nach fünfmaliger Aufforderung Zugang zum Lager Fraschette bei Alatri in der Provinz Frosinone (Mittelitalien) gewährt, das seit 1942 zur Internierung von zivilen Feindstaatenangehörigen genutzt worden war. Hier litten im März 1943 912 Briten und Malteser (257 Familien) vor allem Hunger, da Nahrungsmittel fehlten. Das Camp war zwar noch unvollendet; der Inspekteur beurteilte die Behandlung der Internierten aber als korrekt.85 Dagegen war der Befund einer Besichtigung des Lagers in Montechiarugolo (bei Parma) keineswegs zufriedenstellend. Obwohl sich der rechtliche Status der Internierten durch den Waffenstillstand und den darauffolgenden Seitenwechsel Italiens 1943 nicht veränderte, fehlte den Behörden in dem Land, das durch den Vormarsch der alliierten Truppen zweigeteilt war, zunehmend der Überblick über die Internierten. Dieser Kontrollverlust behinderte die humanitäre Arbeit des IKRK und anderer Hilfsorganisationen.86 Der Beginn der Befreiung Italiens verkomplizierte die Arbeit der humanitären Hilfsorganisationen noch weiter, denn nun musste mit den im Süden vor39 (Schreiben vom 22. Februar 1943; Übersicht „Conditions in Internment Camps and Detention Points in Italy“). 83 NA, HO 215/102 (Memorandum vom 24. Juli 1943). 84 NA, HO 215/90 (Memorandum vom 1. Juni 1943; „Report on Inspection of Detention Points in the Province of Pesaro“; „Report on Civilian Internment Centres in the Province of PesaroUrbino“). 85 NA, HO 215/101 (Bericht vom 11. März 1943). 86 NA, HO 215/77 (Telegramm vom 20. November 1943).

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dringenden Alliierten ebenso kooperiert werden wie mit der deutschen Besatzungsmacht und Mussolinis „Republik von Salò“ (Repubblicca Sociale Italiana). In den bereits befreiten Gebieten sollten italienische Kollaborateure bestraft werden, und auch deutsche Zivilisten wurden von britischen und amerikanischen Truppen in Lagern interniert. Das IKRK versorgte die Insassen mit diversen Gütern, so Frauen mit Kleidung und Hygieneartikeln. Auch Handtücher und Bücher wurden geliefert.87 Damit konnte Ende 1943 und Anfang 1944 beispielsweise in der Provinz Frosinone, wo u. a. Briten und Malteser unter dem Mangel an Versorgungsgütern und Nahrungsmitteln litten, die Lage in den Internierungsstellen erheblich verbessert werden.88 Ebenso schickte das Genfer Komitee Bücher in die Lager, und es ermöglichte eine Kommunikation der Insassen über die Grenze zwischen den bereits befreiten Regionen und den noch besetzten Gebieten Italiens hinweg.89 Demgegenüber konnte das IKRK für die 600.000 italienischen Soldaten, die das NS-Regime nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 in das „Dritte Reich“ verschleppt hatte, kaum sorgen. Sie galten offiziell nicht als Kriegsgefangene, sondern als „Militärinternierte“. Damit umgingen die nationalsozialistischen Machthaber, die den Seitenwechsel Italiens als Verrat brandmarkten, gezielt die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929, denn sie benötigten Zwangsarbeiter. Zudem sollte die Fiktion eines Bündnisses mit dem Satellitenstaat der Repubblicca Sociale Italiana aufrechterhalten werden. Diese Kriegsopfer waren damit völkerrechtlich nicht geschützt. Sie konnten keine Versorgung und Informationsvermittlung durch das IKRK beanspruchen. Vielmehr erlitten sie als Zwangsarbeiter in Deutschland eine „Kumulation von Repressivität“. Allerdings waren ihre Lebensbedingungen in Deutschland auf dem Lande deutlich erträglicher als in den großen Industriebetrieben in den Städten.90

87 NA, WO 204/12707 (Schreiben vom 20. Oktober und 27. November 1944). 88 NA, HO 215/101 (Denkschriften vom 9. Juli 1943 und 18. Januar 1944). 89 NA, HO 215/105 (Schreiben vom 7. und 10. September 1943). 90 Durand, Sarajevo, S. 434 f., 453 f. Zitat: Wolfgang Schieder, Zwischen allen Fronten. Die italienischen Militärinternierten im deutschen Gewahrsam, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 65 (2017), S. 932–943, hier: S. 940. Vgl. auch Gabriele Hammermann, Zwangsarbeit für den „Verbündeten“. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der italienischen Militärinternierten in Deutschland 1943–1945, Tübingen 2002; dies., Die italienischen Militärinternierten zwischen 1943 und 1945, in: Zwischen allen Stühlen. Die Geschichte der italienischen Militärinternierten 1943–1945, Berlin 2017, S. 42–51; Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 bis 1945. Verraten – verachtet – vergessen, München 1990.

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Inspektion von Internierungslagern im besetzten Europa: Belgien, Frankreich und Griechenland Auch in den vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Gebieten engagierten sich die humanitären Organisationen, um den Umgang mit Zivilinternierten zu kontrollieren, Übergriffe zu verhindern und ihre Lage mit Hilfslieferungen zu verbessern. So wurde in Belgien besonders das Lager Dongelberg (nahe der Stadt Namur), das im Juli 1942 in einem Schloss mit Park eingerichtet worden war, jährlich einmal vom IKRK, aber auch von der YMCA überwacht. Hier waren im August 1943 65 Britinnen interniert, von denen sich vier außerhalb des Camps aufhielten. Die Versorgung hatte das Belgische Rote Kreuz übernommen; aber weitere Lieferungen des Genfer Komitees wurden dringend benötigt. Im Allgemeinen lebten die Internierten hier weitgehend unbelastet. Inspekteure des IKRK hoben 1942/43 vor allem die gute Unterbringung der Lagerinsassen hervor, die sich zudem im Schlosspark frei bewegen und regelmäßig in einer benachbarten Stadt einkaufen durften. Gelegentlich erlaubten die beiden deutschen Rotkreuz-Schwestern, die das Lager leiteten, einzelnen Internierten sogar, ihre Familien in Belgien und Nordfrankreich zu besuchen. Zumindest bis Ende 1942 waren sie anschließend ausnahmslos in das Lager zurückgekehrt. Auch Anfang 1943 berichteten Inspekteure des IKRK und der Schweiz noch von zufriedenstellenden Lebensbedingungen in den Lagern in Frankreich und Belgien, obwohl einzelne Camps überfüllt waren. Allerdings wurden ab 1943 viele Juden in Durchgangslager im Norden verschoben und von dort in die Vernichtungslager in Ostmitteleuropa gebracht. Der Holocaust erfasste die jüdischen Internierten aber offenbar nicht lückenlos. So wurden noch im April 1944, als sich 56 britische Zivilisten in Dongelberg aufhielten, 16 jüdische Internierte in das französische Internierungslager Vittel überführt. Hier versorgten außer dem IKRK auch andere humanitäre Organisationen – so das Französische Rote Kreuz und die Secours Suisse aux Enfants – die Insassen mit Lebensmittelpaketen, die außerdem in den Lagern Gurs und Le Vernet eintrafen.91 1943 hatte das Vichy-Regime dem IKRK wiederholt den Besuch von Internierungslagern im Raum um Toulouse untersagt. Im Januar 1944 konnte ein Inspekteur des Roten Kreuzes aber das Camp Le Vernet prüfen, in das von der französischen Regierung im Frühjahr 1939 spanische Kämpfer und nach Beginn des Zweiten Weltkrieges „unerwünschte Ausländer“ (darunter auch Juden) ver91 NA, HO 215/461 („Translation Gurs“); HO 215/89 (Berichte der Besuche vom 10. November 1942, 18. August 1943 und 4. April 1944); HO 215/39 (Brief vom 22. Februar 1943); NA, FO 215/ 461 (Bericht vom 15. Oktober 1943).

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bracht worden waren. Im Februar 1941 hatten die Insassen des Straflagers mit einem Aufstand gegen die miserablen Lebensbedingungen protestiert. Am 18. Juni 1944 wurden die hier verbliebenen 400 Insassen zwangsweise der Organisation Todt zugeführt und anschließend in das „Dritte Reich“ deportiert. Der YMCA und die Quäker konnten nur wenige Internierte retten, so 72 Kinder zwischen zwei und 18 Jahren aus dem Lager Les Milles.92 Ebenso wie Le Vernet, das damit geschlossen wurde, war Noé (Département Haute-Garonne) ein Nebenlager des großen Camps in Gurs. Es hatte ab 1. November 1940 als Centre d’accueil der Quäker alte und kranke Flüchtlinge aus Frankreich aufgenommen. Nachdem die Juden im August und September 1942 aus Südfrankreich in die Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka und Majdanek deportiert worden waren, befanden sich hier nur noch internierte Staatsangehörige der alliierten Länder und spanische Flüchtlinge, von denen viele verwundet waren. Demgegenüber registrierte ein Beobachter des IKRK in Le Vernet im März 1943 rund 2.000 Insassen, deren Zahl allerdings schon bis September auf 660 zurückging. Die Hilfspakete des Genfer Komitees, der Quäker, des Französischen Roten Kreuzes und der Secours National hatten die Not im Lager erheblich verringert und besonders Krankheiten eingedämmt. Außerdem waren vom YMCA Bücher bereitgestellt worden.93 Jedoch verbesserten sich die Lebensbedingungen im besetzten West- und Südeuropa offenbar nicht unmittelbar und überall. Vielerorts verschlechterten sie sich sogar deutlich. So litten Internierte im Lager Gurs, wo ein Inspekteur des IKRK im Frühjahr 1943 noch 932 Männer, 1.411 Frauen und viele Kinder vorgefunden hatte, noch im Herbst akute Not. Sie mussten daraufhin verstärkt vom Genfer Komitee versorgt werden.94 Gleichfalls kritisierte ein Delegierter in seinem Kontrollbericht im September 1943 die Zustände in den Camps im griechischen Thessaloniki, Theben und Larissa. Schon seit 1941 hatten Bischof Bell und die Quäkerin Edith Pye (1876-1965) ein Hilfskomitee gegründet, das im Winter 1941/42 Griechen versorgte, die unter akutem Hunger litten. Damit konnten sie aber den Tod von Tausenden Menschen nicht verhindern. Noch 1943 verhungerten in Städten wie Thessaloniki auch britische Staatsbürger – überwiegend Zyprioten und Malteser –, da sie ihre kärglichen Rationen nicht aufstocken konnten.95 92 NA, HO 215/107 („Translation Vernet“); FO 215/461 (Bericht vom 15. Oktober 1943). Zu Le Vernet und Les Milles: Eggers, Ausländer, S. 113–116, 229, 329. 93 NA, HO 215/110 (Bericht vom 15. Oktober 1943; „Translation Noé Camp“); NA, HO 215/461 (Telegramm vom 2. März 1944). Zum Lager Noé auch: Eggers, Ausländer, S. 106. 94 NA, HO 215/107 („Translation Vernet“); HO 215/98 („Introduction. Vichy 15.10.43“). 95 NA, CP 980/130 („Rapport de M. Paul E. Jaccaud sur son voyage à Thessalonique de 30 août au 1e Septembre 1943“). Vgl. auch Moorehead, Dream, S. 393–397.

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Blockaden durch Japan Auch Internierungslager in Japan wurden von Inspekteuren des IKRK beobachtet, um Druck auf die Regierung auszuüben und den Insassen zu helfen. Das Japanische Rote Kreuz, das sich in den 1930er Jahren vom Humanitarismus abgewandt hatte, unterstützte jedoch die aggressive Außenpolitik des Militärregimes. Unter diesen Umständen gelang es dem Delegierten des Genfer Komitees, Fritz Paravicini, immerhin, in Japan gelegene Internierungslager zu kontrollieren. Hier litten Staatsangehörige der westlichen Alliierten mit zunehmender Dauer des Zweiten Weltkrieges außer dem feuchten Klima zusehends unter Lebensmittelmangel, so dass Versorgungslieferungen des IKRK dringend benötigt wurden. So überprüfte der Vertreter des IKRK im Juli 1944 u. a. das Lager in Fukushima. Dort stellte er fest, dass die 140 Internierten (darunter 72 Briten) unter Nahrungsmittelknappheit und unter einer unzureichenden medizinischen Versorgung litten. Ebenso wurde Kleidung benötigt. Der Zugang humanitärer Organisationen zu dem entlegenen Camp war aber offenbar schwierig, so dass sich die Insassen vernachlässigt fühlten.96 Ähnlich problematisch waren im Sommer 1944 die Lebensbedingungen in einem Lager in Osaka, in dem sich außer Kriegsgefangenen 391 Zivilinternierte befanden, davon 310 britische Staatsbürger. Hier fehlten vor allem Winterkleidung und Schuhe. Postsendungen von Angehörigen im Vereinigten Königreich benötigten zehn Monate.97 Auch die Zustände in einem Camp in der Nähe von Tokio kritisierte der Inspekteur des IKRK, der es besucht hatte, in seinem Bericht vom 12. Februar 1944 heftig. Dagegen waren die Verhältnisse in einem anderen Internierungslager in der japanischen Hauptstadt in demselben Jahr offenbar deutlich besser. Hier erleichterten Lebensmittelpakete des Roten Kreuzes und Bücher, die der YMCA bereitstellte, das Leben der festgesetzten Zivilisten erheblich. Wie das IKRK berichtete, kannten die meisten Insassen, die schon lange in Japan gelebt hatten, die Kultur und Sprache gut, und sie durften mit Genehmigung des Lagerkommandanten sogar Besucher empfangen. Am 3. Mai 1945 zählte der Beobachter des Roten Kreuzes hier noch 37 Feindstaatenangehörige (davon 15 US-Bürger).98 Ebenso schlechte Verhältnisse fand der Vertreter des Roten Kreuzes in den letzten beiden Kriegsjahren im zentralen Internierungslager der Präfektur Kana-

96 NA 215/116 (Transkription vom 14. Juni 1944 und Kopie des Telegramms vom 18. April 1944). Vgl. auch Checkland, Humanitarianism, S. 137 f. 97 NA, HO 215/118 (Telegramm vom 25. Juli 1944). 98 NA, HO 215/112 (Bericht „Tokyo Civilian Internment Camp No. 2“; Telegramm vom 11. Februar 1944). Vgl. auch Moorehead, Dream, S. 472 f.

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gawa vor, das im Juni 1943 eröffnet worden war und im Februar 1944 u. a. 23 Briten und 13 Kanadier zu den Insassen zählte. Das Camp, das 6,6 Quadratkilometer umfasste, war von einem Bambuszaum umgeben. Hier stellte der Inspekteur des IKRK im Mai 1945 fest, dass das Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen von Internierten auf engem Raum zu Spannungen geführt hatte. Außerdem fehlten den Insassen Kleidung und Nahrungsmittel. Die Lieferungen des IKRK wurden deshalb dringend benötigt. Einzelne Internierte unterstützte auch das Japanische Rote Kreuz. Bücher stellte die Gefangenenhilfe der YMCA hier ebenso wie in anderen Lagern – so demjenigen in Osaka – zur Verfügung.99 Im Camp Urawa (in der Präfektur Saitama) klagten die 56 Insassen (davon 31 Kanadier) im Mai 1945 zudem über Ungeziefer, vor allem Wanzen. Sie verlangten dringend Insektizide. Außerdem waren die britischen, US-amerikanischen, kanadischen, belgischen, griechischen und holländischen Internierten untereinander zerstritten.100 Die Sendungen des Roten Kreuzes betrachtete der Beobachter des Roten Kreuzes deshalb als unabdingbar. Demgegenüber hatte das Genfer Komitee dem Abgesandten der Organisation in London am 25. Februar 1944 nach der Besichtigung eines Internierungslagers in der Nähe der Stadt Urawa mitgeteilt, dass dort siebzig Insassen in günstiger Umgebung lebten: „Health generally satisfactory, only one common cold. […] No destitutes. 46 [Internierte] receiving financial assistance from Protecting Powers. […] No punishments. No fugitives. Discipline satisfactory.“101 Besonders kritisch beurteilte das IKRK den Umgang mit zivilen Feindstaatenausländern in den von Japan besetzten Gebieten Ostasiens. Hier fehlten zentrale Versorgungsstellen, und Japan kontrollierte die Kommunikation nahezu uneingeschränkt. Jedoch verfügten die Delegierten des Genfer Komitees über mehr Handlungsspielraum als die Schweizer Schutzmacht, die sich strikter an die diplomatischen Regeln halten musste. Das zunächst siegreiche ostasiatische Inselreich hatte erst 18 Monate nach dem Beginn des Angriffs auf die Kolonien der Westmächte Gefangenenlisten übermittelt. Inspektionen und die Verteilung von Hilfsgütern waren deshalb in besetzten Gebieten wie China schwierig, auch

99 NA, HO 215/113 (Bericht „Kanagawa Praefectural Civilian Internment Camp No. 1, Japan“; Telegramme vom 25. Februar und 20. September 1944); NA, HO 215/118 (Telegramm vom 25. Juli 1944). 100 NA, HO 215/114 („Transcription by the London Delegation of the I. R. C. C. Japan: Saitama Prefectural Internement [sic]“ Camp, Urawa). 101 NA, HO 215/113 (Berichte vom 28. Februar und 20. September 1944 sowie vom 15. Juni 1945); HO 215/114 (Kopie eines Telegramms vom 25. Februar 1944).

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wenn allein von Juli bis September 1943 rund 14.600 Nachrichten Shanghai erreichten und fast 26.600 Briefe in diesen Monaten von dort gesendet wurden.102 Im Allgemeinen unterschieden sich die Bedingungen in Ostasien erheblich. So stellte der IKRK-Delegierte Paravicini im Frühsommer 1942 in verschiedenen Lagern einen akuten Mangel an Nahrungsmitteln, Medikamenten und Trinkwasser fest, besonders in Hongkong. Hier konnten die Insassen des Camps Stanley nach der Abwertung der örtlichen Dollarwährung (1942) nur mit Hilfe der Überweisungen überleben, die der Delegierte des IKRK, Rudolf Zindel, vermittelte und vornahm. Jedoch waren die Arbeitsbedingungen für das Rote Kreuz in China – ebenso wie in ganz Ostasien – unkalkulierbar. So erlaubten die japanischen Militärs dem Vertreter des Genfer Komitees in Shanghai, Edouard Egle, erst mehr als ein Jahr nach der Einrichtung des Lagers in der Haiphong Road den Zugang zu den hier Internierten. Zwar konnte das IKRK Gefangenen in den besetzten Gebieten Chinas im Verlauf des Zweiten Weltkrieges rund 116.380 Päckchen übermitteln; allerdings wurden viele der Sendungen von den Wachen geplündert.103 Der Wechselkurs der örtlichen Währungen gegenüber dem Dollar verschlechterte sich 1944/45 so deutlich, dass die Versorgung der Internierten und Kriegsgefangenen erheblich reduziert werden musste.104 Auch waren in den Lagern hygienische Mängel offenkundig, die zu Epidemien beitrugen. Ab 1943 wurden die Lebensbedingungen offenbar nochmals erheblich härter, auch in Siam (Thailand), das Anfang 1942 ein erzwungenes Militärbündnis mit Japan abgeschlossen hatte und vom Kaiserreich kontrolliert wurde. Obgleich der britische Außenminister Eden sich noch am 18. November 1942 in seiner Stellungnahme im Unterhaus positiv zum Camp Bangkok in Siam (Thailand) geäußert hatte, protestierte das Foreign Office am 29. August 1943 gegen die erschreckenden Zustände in dem Land, in dem der japanische Militärbefehlshaber Kriegsgefangene und Zivilinternierte offenkundig brutal behandeln ließ. Überdies wurde den Vertretern der Schutzmächte untersagt, Lager in Siam zu besichtigen, obgleich sich Japan zumindest informell verpflichtet hatte, den Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 zu folgen. Deshalb bat das britische Außenministerium den Vatikan, über die katholischen Missionen mäßigend auf das japanische Militärregime einzuwirken. Auch das IKRK wurde alarmiert, dessen

102 Angaben nach: Leck, Captives, S. 232, 235. 103 NA, HO 215/81 (Telegramm vom 29. und 31. August 1942; Vermerk vom 22. Juli 1943). 104 NA, WO 32/11678 („Note of Discussions with the International Red Cross Committee at Geneva …“); Leck, Captives, S. 229

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Spielraum aber gering war und 1944 nochmals schrumpfte, da Japan Siam offiziell nicht mehr als besetztes Gebiet anerkannte.105 Dagegen erlaubten die japanischen Militärs Vertretern des IKRK in Korea, auf Formosa, in Japan und in der Mandschurei (ab November 1943) unter Auflagen, Lager zu inspizieren und die Insassen zu versorgen. In Hongkong, Shanghai und anderen Gebieten im besetzten China durfte der Inspekteur des Roten Kreuzes die Internierungslager zwar besuchen, aber nicht mehr darüber berichten. In vielen japanischen Camps verweigerten die japanischen Kommandanten darüber hinaus sogar grundsätzlich direkte Gespräche zwischen den Gefangenen und dem IKRK, das daraufhin nachgab. Völlig unzugänglich blieben die von Japan eroberten Gebiete Südostasiens, so Niederländisch-Ostindien. Umgekehrt betonte das britische Außenministerium gegenüber dem Genfer Komitee umgehend, dass die Vertreter der Organisation in Indien Zugang zu allen Lagern hatten, in denen Japaner interniert waren. Die wiederholten, sporadisch verhängten Inspektionsverbote durch die japanische Besatzungsmacht führten die Experten im Prisoners of War Department des Foreign Office auf die Furcht des Tokioter Regimes zurück, durch kritische Berichte in der Weltöffentlichkeit das Gesicht zu verlieren. Die japanischen Militärs misstrauten besonders dem IKRK-Delegierten in Borneo, Matthaeus Vischer, der hartnäckig Zugang zu den Lagern verlangte. Er und seine Frau wurden schließlich der Spionage beschuldigt und erschossen.106 Demgegenüber erlaubten die japanischen Besatzer dem Roten Kreuz die Unterstützung von Eurasiern. Sie und ihre Angehörigen verarmten rasch, da Inflation, Spekulation und Schwarzmarktgeschäfte ihre Vermögen schnell verringerten. So stiegen die Preise in Shanghai von 1942 bis August 1945 in jedem Monat durchschnittlich um 26 Prozent. Auch nicht Internierte waren deshalb auf Hilfsleistungen des IKRK angewiesen. In Hongkong, wo beim Einmarsch der Japaner sogar zuvor vergewaltige Nonnen ermordet worden waren, etablierte Rudolf Zindel, der erst im Mai 1942 von der Besatzungsmacht in die Stadt gelassen worden war, in dem 1936 errichteten Kloster Rosary Hill ein Heim für verarmte Einwohner, die als „britisch“ galten, aber nicht interniert worden waren. Unterstützt durch das Rote Kreuz, das monatlich Geld überwies, mietete das IKRK 105 NA, HO 215/95 (Telegramm vom 23. Juni und 29. August 1943; Schreiben vom 21. Januar 1944). 106 NA, CO 980/12 (Telegramme vom 13. Februar und 7. März 1942; Brief vom 22. November 1943); FO 916/938 (Protokoll des Gesprächs im britischen Kriegsministerium am 11. Dezember 1944); NA, CUST 106/855 (Schreiben vom 5. August 1942 und vom 9. Juni 1943). Vgl. auch Khan, Das Rote Kreuz, S. 96; Moorehead, Dream, S. 473–488; de Jong, Collapse, S. 428; Vance, Information Bureaus, S. 143; ders., International Committee of the Red Cross, S. 145; Checkland, Humanitarianism, S. 137, 141.

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das Gebäude 1943 von den Franziskanern. Die Unterbringung der Angehörigen in Rosary Hill, wo letztlich 682 Personen einquartiert werden konnten, hielt das IKRK für vorteilhaft, da sich Zindel damit auf die Betreuung von Zivilinternierten und Kriegsgefangenen konzentrieren konnte. Dabei musste in Rechnung gestellt werden, dass in Hongkong keine Schutzmacht vertreten war. Mitte 1943 erhielten 1.100 Zivilisten eine Beihilfe, darunter auch Angehörige von Kriegsgefangenen. Die japanische Besatzungsmacht nahm die Aktivitäten des IKRK hier hin. Als 1944 die Zahl der mittellosen Eurasier zunahm, öffneten die Japaner in Hongkong im August das Kriegsgefangenenlager Kowloon für diese Gruppe. Wegen der schnell zunehmenden Kosten drängte das Rote Kreuz die verbliebenen Insassen schließlich, Rosary Hill zu verlassen.107 Ebenso erreichten Camps in Niederländisch-Ostindien während des Krieges nur vier Schiffsladungen, weil die japanische Marine auf eine uneingeschränkte Kontrolle der Seewege und Flüsse in Ostasien bestand. Zwar hofften die Ministerialbeamten des britischen Außenministeriums, durch politischen Druck und den Einsatz des IKRK die Zivilverwaltung in Japan gegenüber den Militärs zu stärken. Auch übermittelte das Außenministerium der japanischen Regierung über das Internationale Komitee, andere internationale Hilfsorganisationen und Schutzmächte – so Argentinien – gezielt Nachrichten über die relativ milde Behandlung ihrer Staatsbürger im Vereinigten Königreich, um Erleichterungen für britische Internierte in japanischem Gewahrsam zu erreichen. Jedoch wurde ein grundlegender Wandel des abweisenden Verhaltens der Besatzungsmacht in Ostasien nicht erwartet. Hoffnungen auf einzelne japanische Militärkommandeure wie den Befehlshaber von Singapur, General Yamashita Tomoyuki, der nach Informationen der britischen Regierung Katholik war, zerschlugen sich, wie die Gesandtschaft des Vereinigten Königreiches beim Vatikan im November 1943 mitteilte. Vielmehr löste Kritik der alliierten Mächte und des IKRK – so über fehlende Informationen zu Gefangenen in Rabaul noch 1945 – wiederholt Repressalien der japanischen Militärs aus, die sich mit den Klagen in ihrer Ehre angegriffen sahen.108

107 NA, CO 980/123 (Schreiben vom 9. Dezember 1943; Bericht vom 30. April 1944; Mitteilung vom 22. Oktober 1946; Schreiben vom 4. Dezember 1946); England, Zindel's Rosary Hill, S. 36, 41, 49–53. Angaben nach: Leck, Captives, S. 81, 236. Zum Hintergrund: Schreiber, Der Zweite Weltkrieg, S. 85. 108 NA, WO 32/11678 („Note of Discussions with the International Red Cross Committee at Geneva …“; „Visit to the Swiss Government at Berne on 9th June, 1945 …“). Vgl. auch de Jong, Collapse, S. 473–476; Forsythe, Humanitarians, S. 43. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte Yamashita als erster Japaner wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt und hingerichtet werden.

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Einzelne Gebiete im besetzten Ost- und Südostasien erwiesen sich als besonders unzugänglich. So mussten das IKRK und die – eng mit ihm verbundene – eidgenössische Schutzmacht mühsam nach Verfahren suchen, mit denen die fehlende internationale Anerkennung des Marionettenstaates Mandschukuo, den Japan in der 1932 in der besetzten Mandschurei errichtet hatte, umgangen werden konnte. Hier enthielten die Besatzer gefangenen Zivilisten und Soldaten willkürlich Briefe und Lebensmittelpakete vor, die oft von den Wachmannschaften geraubt wurden.109 Schwierig war auch die Versorgung der Gefangenen in Thailand. Daraufhin wurden hier zivile Staatsangehörige der westlichen Alliierten interniert. Im Lager Bangkok verschlechterten sich die Lebensbedingungen von 1942 bis 1944 offenbar deutlich. Noch im Mai 1942 hatte der Schweizer Konsul eine befriedigende Versorgung registriert. Im September 1944 lebten hier allein 178 britische Staatsbürger, darunter 31 Frauen und fünf Kinder. Obwohl die japanische Verwaltung zugesagt hatte, die Insassen des Lagers nach der Genfer Konvention von 1929 zu behandeln, litten die Internierten unter Krankheiten, vor allem Malaria, und Vitaminmangel. Auch erwiesen sich Hoffnungen auf einen Austausch als Illusionen.110 Ebenso bestimmte akute Not das Leben gefangener Zivilisten in den Internierungslagern in Singapur. Hier waren Insassen besonders in den letzten Kriegsjahren nicht nur mit dem extremen Klima, sondern auch mit dem zunehmenden Mangel und dem brutalen Lagerregime der Bewacher konfrontiert. In der Korrespondenz mit niederländischen Diplomaten zeigten sich die Beamten des Foreign Office skeptisch gegenüber den Zusagen der japanischen Militärs, die Zustände in den Camps zu verbessern. Sie befürchteten, dass der kulturell tief verwurzelter Stolz ein offenes Eingeständnis der schlechten Bedingungen verhinderte.111 Die Selbstdarstellung Japans zu den Bedingungen in den Internierungslagern fiel auch durchweg positiv aus, wie ein Telegramm vom Januar 1944 zeigt, in dem die Zustände in vier Camps auf den Philippinen beschönigt wurden.112 Damit verdeckte das Militärregime den Rassismus, der die Behandlung der Zivilinternierten in allen besetzten Gebieten kennzeichnete. Die Verschlechterung der Versorgung muss aber auch auf den im Kriegsverlauf zuneh-

109 NA, WO 32/11678 („Visit to the Swiss Government at Berne on 9th June, 1945 …“). Vgl. auch Checkland, Humanitarianism, S. 139. 110 NA, HO 215/78 (Telegramm vom 7. Mai 1942; Stellungnahme Edens im House of Commons, 18. November 1942); HO 215/95 (Brief vom 1. Mai 1945 und Bericht vom 9. Februar 1945); HO 215/81 (Telegramm vom 20. Juli 1942). 111 NA, HO 215/95 (Brief vom 21. Januar 1944). 112 NA, HO 215/111 (Telegramm vom 21. Januar 1944).

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menden Mangel an Ressourcen zurückgeführt werden, über die das Okkupationsregime noch verfügte.113 Allerdings waren die Bedingungen unter japanischer Besatzung auch nach den Berichten des IKRK vereinzelt besser, so im Januar 1943 im Lager Keijo (Korea), wie der zuständige Inspekteur vor Ort feststellte. In dem Camp, das im September 1942 eröffnet worden war, hielten sich während der Inspektion 366 britische Zivilisten auf, die von 19 bis 58 Jahre alt und aus Singapur verschleppt worden waren. Im Lager Keijo war die Todesrate offenbar relativ gering und die Behandlung durch den japanischen Kommandanten erträglich.114 Auch Besuche in Sammelstellen für Zivilinternierte in Lungwha nahe Shanghai durch einen Vertreter des IKRK verliefen zufriedenstellend. Im September 1943 waren hier von den insgesamt 1.707 Internierten allein 1.620 Briten, darunter 532 Männer, 782 Frauen und 306 Kinder. Die Versorgung der Insassen war aus der Sicht des berichtenden Beobachters des Roten Kreuzes ausreichend. Zudem enthielt die Bibliothek 5.000 Bücher. Erst 1945 verschlechterten sich die Bedingungen hier ebenso deutlich wie in vier weiteren Internierungslagern im Raum Shanghai. Auch die Schweizer Ärzte, die im Auftrag des IKRK Informationen zu den Internierten zusammenstellten und die Lagerinsassen versorgten, konnten den Opfern in dieser Phase immer weniger helfen. Zudem wurde es schwieriger, die Verbindung nach Genf zu halten.115 Außer Vorkehrungen zum Luftschutz fehlten im besetzten China besonders Nahrungsmittel. Die britische Regierung hob deshalb vorübergehend die Blockade durch die Kriegsmarine auf, um Schiffstransporte zu ermöglichen. Zudem bemühte sich das Rote Kreuz in Abstimmung mit dem Schweizer Konsulat, die Versorgung zu verbessern. Nicht verhindern konnten die humanitären Organisationen und die Schutzmacht aber die wiederholten Verschiebungen von Internierten durch die japanische Besatzungsmacht, die damit die Not und Unsicherheit der betroffenen Feindstaatenangehörigen verstärkte. Andererseits durften Insassen Lager für wichtige Familienfeiern verlassen; dabei begleiteten sie Wachen. Auch ging die Zahl der an Malaria Erkrankten in einzelnen Camps wie demjenigen in Chapei, in dem 1.067 Insassen unter dem extremen Klima litten, 1945 zurück. Nicht zuletzt erkannten die Vertreter des IKRK noch wenige Wochen vor dem Kriegsende ausdrücklich an, dass sie in Shanghai und der Umgebung freien Zugang zu den Lagern hatten und zumindest mit einzelnen Inter-

113 Durand, Sarajevo, S. 454 f. 114 NA, HO 215/94 (Telegramm vom 12. Januar 1943). 115 NA, HO 215/109 („Transcription of the London Delegation of the I. C. R. C.“ zum Lungwha Civilian Assembly Centre, Shanghai, 15. Juni 1945, und Kopie des Telegramms vom 20. September 1943). Vgl. auch Moorehead, Dream, S. 496.

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nierten sprechen konnten. Insgesamt aber verhinderten das extrem selektive Informationsverfahren des Besatzungsregimes und seine militaristische Unterdrückungspolitik in den okkupierten Gebieten in Verbindung mit der Blockade durch das Japanische Rote Kreuz in Ostasien eine wirksame Hilfe für Zivilinternierte. So wusste das Genfer Komitee bei Kriegsende von 43 Lagern in den besetzten Gebieten; tatsächlich waren es aber 103, wie der Nachfolger Paravicinis als IKRK-Delegierter, Marcel Junod, im August und September 1945 feststellte. Die Zahl der Internierten in den Camps wurde mit 200.000 veranschlagt. Edwina Mountbatten (1900-1960), die im Oktober 1945 im Auftrag des Britischen Roten Kreuzes Ostasien bereiste, stellte fest, dass viele der Zivilisten, die seit Anfang 1942 in japanischen Camps gelitten hatten, gesundheitlich geschädigt und vor allem psychisch gebrochen waren.116 Seit 1943 hatte das Rote Kreuz die Rückführung von Zivilisten geplant, die in Ostasien in japanischen Internierungslagern gelebt hatten. Von den britischen Staatsangehörigen sollten nach einem Abkommen, das mit Japan abgeschlossen worden war, insgesamt 1.600 Personen zurückgebracht werden, vorrangig von ihren Eltern getrennte Kinder unter 15 Jahren, Kranke, Alte und Frauen. Im Dezember 1943 hatte Zindel, der in Hongkong auch die eidgenössische Schutzmacht vertrat, dort im Lager Stanley 697 Briten identifiziert, die in dem Camp interniert waren, repatriiert werden sollten und alliierten Staaten angehörten. Darunter befanden sich 130 Kranke, 24 Alte und 143 Frauen mit 235 Kindern unter 15 Jahren. Am 30. Juni 1944 waren aber schon 718 Personen auf der Liste. Diese Zahl musste nach Konflikten mit der japanischen Regierung über die Quoten für einzelne Regionen im besetzten Ostasien auf 600 reduziert werden.117 Letztlich war die Auswahl aus der Sicht des britischen Außenministeriums nach humanitären Gesichtspunkten vorgenommen worden. Allerdings musste die Zugehörigkeit zur britischen Nation als Anforderung, die sich aus der Vereinbarung mit dem japanischen Militärregime ergab, in einzelnen Fällen gesondert geprüft und erst festgestellt werden. Zudem war das IKRK im August 1944 gezwungen, die Heimführung von Insassen des Lagers Stanley abzubrechen, da

116 NA, HO 215/108 (Kopie des Telegramms vom 30. August 1943; Abschriften der Berichte vom 21. Februar, 30. Juni, 3. Juli und 11. Juli 1945). Angaben nach: Moorehead, Dream, S. 488. Vgl. auch Crossland, Britain, S. 197. 117 Angaben nach: NA, CO 980/157 („Preliminary Repatriation List […], revised per 30th June 1944“ und Telegramme vom 26. Juni sowie vom 1., 2. und 20. Dezember 1943; Memorandum vom 12. November 1943; Schreiben vom 16. Dezember 1944; Telegramm vom 1. Dezember 1943 und 2. Dezember 1944; Auszug aus dem Brief vom 15. Juni 1944).

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das japanische Militär Zindel nur noch wenige Besuche erlaubte und ihm den direkten Zugang zu den Internierten verwehrte.118 Alles in allem blieb die Versorgung der gefangenen Zivilisten und ihrer Angehöriger in Südostasien im Zweiten Weltkrieg unzureichend und unregelmäßig. Wie Eden dem Unterhaus am 5. Mai 1942 mitteilte, hatten die japanischen Militärs Inspektionen durch das IKRK und die argentinische Schutzmacht (die das Tokioter Regime nicht anerkannte) in Lagern in Singapur und Hongkong weitgehend unterbunden. Auch Transporte waren nicht möglich, da Japan wiederholt sogar neutralen Schiffen die Passage von Gewässern verwehrte, die von der Kriegsmarine des Kaiserreiches kontrolliert wurden. Letztlich musste vielfach der Vatikan einspringen, der lokale Missionsstationen bat, Kriegsgefangenen und Zivilinternierten lebensnotwendige Güter zur Verfügung zu stellen.119 Allerdings verbesserten sich die Verhältnisse 1944/45 zumindest in Siam, als die militärische Lage Japans aussichtslos war. So berichtete Jean Cellebrier für das Rote Kreuz in Genf dem Beamten im Innenministerium des Vereinigten Königreiches, John Moylan (1882–1967), im Februar 1945 von guten Verhältnissen im Internierungslager Bangkok, wo zu dieser Zeit u. a. sieben Niederländer lebten. Zwei von ihnen waren Kinder, die außerhalb des Camps eine Schule in der Nähe besuchen durften. Auch die erwachsenen Internierten durften sich – begleitet von Wachmannschaften – vorübergehend außerhalb des Lagers aufhalten. Es verfügte zwar nicht über eine Krankenstation, aber über eine Kantine. Zudem wurde den 18 männlichen Internierten noch im Mai 1945 erlaubt, ihre Frauen und Kinder als Besucher zu empfangen.120

Unterstützung für Internierte in anderen außereuropäischen Räumen und Bilanz der Arbeit Ebenso wie im Ersten Weltkrieg wurden gefangen genommene enemy aliens auch in den Jahren von 1939 bis 1945 im Empire weltweit verschoben. Mit den Deportationen verloren sie nicht nur ihr Eigentum (das vielerorts beschlagnahmt wurde), sondern auch ihr Vermögen. Sie waren deshalb oft mittellos und auf die Unterstützung durch humanitäre Organisationen angewiesen.121 Die Lebensverhältnisse in den Internierungslagern, die Großbritannien in den Koloni118 NA, CO 980/157 (Telegramm vom 25. Juni 1943; Memorandum vom November 1943); Leck, Captives, S. 235. 119 NA, FO 215/461 (Aufzeichnung vom 5. Mai 1942); Leck, Captives, S. 233. 120 NA, HO 215/95 (Bericht vom 9. Februar 1945; Briefe vom 13. Februar sowie vom 11. Mai 1945). 121 NA, CO 323/1795/14 (Brief vom 19. März 1940 und Vermerk vom 13. April 1940).

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en des Landes unterhielt, erwiesen sich im Allgemeinen zwar als besser, aber doch als unterschiedlich. So fand ein Inspekteur des IKRK auf Ceylon das Camp Diyatalawa in gutem Zustand vor.122 Auch Überprüfungen eines Internierungslagers in Nairobi durch Vertreter des Roten Kreuzes im ostafrikanischen Kenia fielen alles in allem positiv aus. Allerdings protestierten die hier festgehaltenen Deutschen 1942 gegen die Weigerung der britischen Kolonialbehörden, die Gefangenen nach Artikel 81 der Genfer Konvention von 1929 mit Kriegsgefangenen gleichzustellen und ihnen eine finanzielle Unterstützung zu gewähren. Das IKRK berichtete auch von Sorgen der Insassen über ihre Familienangehörigen, die nach ihrer Deportation in Abessinien zurückgeblieben waren.123 Demgegenüber musste sich der Gouverneur Trinidads noch wenige Monate vor Kriegsende besonders harte Kritik gefallen lassen. Das IKRK drängte ihn im Juli 1944, die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 für die Internierten einzuhalten. Im Besonderen sollten sie von harter körperlicher Arbeit freigestellt werden und Freigang erhalten. Außerdem war ihnen zu erlauben, sich beruflich weiterzubilden. Der Gouverneur reagierte aber zurückhaltend und argumentierte, dass die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 wegen der besonderen Bedingungen auf Trinidad nicht uneingeschränkt angewendet werden könnten.124 Im Oktober 1939 baten ebenso Deutsche, die mit Kriegsbeginn in Kamerun (unter britischem Mandat) interniert worden waren, das IKRK um Medikamente.125 Ebenso prüfte das Genfer Komitee, dessen Arbeit auch in Bern koordiniert wurde, die Behandlung gefangener Zivilisten durch britische Militärs im Nahen Osten, in Indien und in Ostasien. Dabei fielen wiederholt Missstände ins Auge, so in Palästina im Juli 1941. Außerdem litten die Insassen von Internierungslagern in Jaffa und Jerusalem – überwiegend Italiener, die in Ostafrika gefangen genommen worden waren – unter Nahrungsmittelmangel, unzureichender Kleidung und Überfüllung. Auch wegen der klimatischen Bedingungen verlangten sie, Insassen im Alter von über 50 Jahren und schwer Erkrankte zu entlassen.126 122 NA, HO 215/87 („Translation. International Committee of the Red Cross – Geneva. Ceylon – Civilian Internment Camp at Diyatalawa, Ceylon“). 123 NA, HO 215/84 („Translation. International Committee of the Red Cross – Geneva. Kenya“); NA 215/84 („Translation. International Committee of the Red Cross – Geneva. Kenya – Camp No. 352“). 124 NA, HO 215/119 („Summary of the Points Presented to the Consideration of His Excellency the Governor of Trinidad“, Schreiben vom 25. Juli 1944). 125 NA, FO 369/2547, Bl. 286. 126 NA, HO 215/72 (Berichte „Camp d’Internment de Jaffa. Visite au début de Juillet 1941“; „Camp No 13“ [Jaffa]; „Camp d’Internment du Couvent de la Flagelation Jerusalem“).

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Ein Jahr später hatten sich die Bedingungen offenbar kaum verbessert. Die Internierten forderten darüber hinaus eine Zusammenführung mit anderen Familienangehörigen, die ebenfalls festgesetzt worden waren. Zumindest sollten in den Lagern mehr Besuche zugelassen werden.127 Das IKRK und die Joint War Organization des Britischen Roten Kreuzes halfen auch Internierten in den nord- und westafrikanischen Kolonien, die vom französischen Vichy-Regime kontrolliert wurden. Insassen von Lagern, die u. a. in Laghouat (Algerien), Casablanca (Marokko) und Timbuktu (Französisch-Sudan) eingerichtet worden waren, erhielten Nahrungsmittel, Kleidungsstücke und Medikamente. Besonders bedrückend waren die Lebensbedingungen in Conakry (Französisch Guinea). Alles in allem unterstützten humanitäre Organisationen im September 1942 rund 1.200 Zivilinternierte, die in den französischen Überseeterritorien vom Kollaborationsregime des Generals Philippe Pétains festgehalten wurden. Zudem war ein Abkommen über die Behandlung von Internierten zwischen der Führung des État français und der Exilregierung des Freien Frankreich abgeschlossen worden.128 In Australien waren Zivilinternierte deutlich besser untergebracht, so im Lager Tatura.129 Auch im südaustralischen Loveday herrschten offenbar gute Zustände vor, wie ein Inspekteur des IKRK im Januar 1942 feststellte. Hier befanden sich nur männliche zivile Feindstaatenangehörige. Die Ernährung und Kleidung waren nach dem Bericht ebenso ausgezeichnet wie der Gesundheitsverhältnisse der Insassen, die regelmäßig Post abschicken und empfangen durften. Allerdings ließ die Unterbringung von 185 Italienern, die aus Großbritannien über Tatura nach Loveday gebracht worden waren und hier in Zelten lebten, noch zu wünschen übrig. Zudem hatten sich zwischen den deutschen Internierten politische Konflikte entwickelt, so dass eine Gruppe um eine Verlegung in ein anderes Lager bat. Nicht zuletzt kritisierten die Insassen, dass im Camp der Konsum alkoholischer Getränke verboten war. Auch Entzug von Eigentum bei der Aufnahme in das Lager wurde beklagt.130 Die in Australien Internierten erhielten außer vom IKRK, den Quäkern und dem YMCA u. a. vom Australian Jewish Welfare Committee, dem Interchurch Committee für Non-Aryan Christian Refugees und dem Victorian International Refugee Emergency Council Unterstützungsleistungen. In Kanada versorgten jüdische Verbände, aber auch andere wohltätige Gruppen und Vereine internierte 127 NA, CP 980/72 („Internment Camp No. 1. Visité par le Colonel H. Bon et Dr. Descoeudres le 28 août 1942“). 128 Cambray / Briggs, Red Cross, S. 374 f 129 NA, HO 215/82 („Groupe des Camps d’Internés civil de Tatura“). 130 NA, HO 215/88 (Bericht „International Committee of the Red Cross, Geneva, Australia, Loveday Group of Internment Camps, South Australia“).

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Feindstaatenangehörige. Diese spendeten aber sogar selber für humanitäre Organisationen wie die YMCA, deren Vertreter sich nicht nur für die Zivilisten hinter Stacheldraht engagierten, sondern auch regelmäßig über das Leben in den Lagern berichteten. Auch einzelne Personen wie die amerikanische Schauspielerin Ruth Draper (1884–1956), die allein im Januar 1940 bei 26 Veranstaltungen für das britische Rote Kreuz in Kanada 48.400 Pfund sammelte und 1941 sogar die amerikanische Präsidentengattin Eleanor Roosevelt um Hilfe bat, mobilisierten Hilfe für die enemy aliens, besonders für Italiener. Lobbyverbände wie der Canadian Jewish Congress setzten sich darüber hinaus für eine Freilassung der Internierten ein.131 Insgesamt waren die Lage in den Lagern und die Hilfe für die Internierten überaus unterschiedlich. Offenbar beeinflusste nicht nur die Politik der Regierungen, sondern auch das Vorgehen der jeweiligen Kommandanten den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen. Die Leiter der Camps verfügten über einen Ermessensspielraum und definierten Sicherheitserfordernisse ebenso unterschiedlich wie humanitäre Gesichtspunkte. Deshalb variierte die Behandlung auch im Zeitverlauf. Sie hing aber nicht nur vom Handeln der einflussreichen Akteure in den Regierungszentralen und vor Ort ab, sondern auch von der allgemeinen Versorgungslage, die gegen Kriegsende besonders in den alliierten Ländern erheblich besser war als in Deutschland, Italien und Japan. Über eine Bestandsaufnahme hinaus boten vor allem die Inspektionsberichte dem IKRK eine oft konkrete und präzise Grundlage für Vorschläge zur Verbesserung der Situation in den Camps. Damit konnte vielerorts das Leben der Insassen erleichtert werden. Ebenso ermöglichten die Überprüfungen eine Selbstkorrektur der humanitären Organisationen. So untersuchte das Rote Kreuz in Hongkong in Zusammenarbeit mit dem Britischen Roten Kreuz zu Kriegsende Beschwerden eines Ärzteehepaares, das im Camp Rosary Hill gearbeitet hatte und Zindel vorwarf, Spendengelder veruntreut, unterschlagen und gestohlen zu haben.132 Die Auswertung der Abrechnungen in dem Lager wurde fortgesetzt, nachdem die britische Militärverwaltung das Gebäude im Oktober 1945 übernommen und für die Unterbringung für Verarmte und Repatriierte beschlagnahmt hatte. Nun entwickelte sich zwischen dem Britischen Roten Kreuz und dem Londoner Kolonialministerium außerdem ein Streit über die Übernahme der Kosten für notwendige Reparaturen.133 131 Draper, ‚Camp Boys‘, S. 180, 183, 185 f. (Angabe: S. 186); Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 431. 132 England, Zindel’s Rosary Hill, S. 50. 133 NA, CO 980/123 (Mitteilung vom 22. Oktober 1946; Schreiben vom 23. Mai 1946).

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Über die Hilfe für Zivilisten hinaus konnte das IKRK mit den Lagerinspektionen Druck auf die jeweils verantwortlichen Regierungen ausüben. Die Befunde der Berichte wurden den betroffenen Staaten über die diplomatischen Vertretungen der neutralen Schutzmächte übermittelt, die ihrerseits Erkenntnisse ihrer Diplomaten dem IKRK übermittelten. Dabei legte das Genfer Komitee auf ungefilterte Informationen Wert.134 Auch die kriegführenden Länder selber zeigten sich wiederholt an den Berichten interessiert. So versicherte ein Beamter des Außenministeriums einem Vertreter des IKRK noch am 26. Januar 1945: „… we are most interested in information concerning civilian internees in the Far East. As no doubt you realise, while this has no bearing on the treatment meted out to enemy alien internees in the United Kingdom, nevertheless is always useful to be able to contrast the conditions.“135 Nicht zuletzt bot das IKRK an, die Versendung von Hilfsgütern nationaler Rotkreuzgesellschaften – vor allen südamerikanischer Staaten – zu unterstützen, indem es dafür portugiesische Schiffe mietete. Ebenso wichtig war der Beitrag zum Austausch und zur Repatriierung ziviler Feindstaatenangehöriger. So half das Genfer Komitee 1941 bei der Rückführung von Französinnen aus Somaliland, und es vermittelte zwischen der britischen Regierung und dem NS-Regime, um Vorschläge für eine Vereinbarung über den Austausch von Frauen und Kindern zu diskutieren. Das britische Außenministerium erklärte zwar seine Bereitschaft zu einer Repatriierung deutscher Zivilisten, und es verwies auf seine Bewilligung der Ausreise für einzelne Personen, welche die „nationale Sicherheit“ des Vereinigten Königreiches und der Kolonien nicht gefährdeten. Letztlich scheiterte die angestrebte Übereinkunft jedoch, nicht zuletzt weil nach der Besetzung Frankreichs die Schifffahrtswege blockiert waren und kein Konsens über alternative Routen gefunden werden konnte.136 Insgesamt waren viele Berichte des IKRK für die kriegführenden Staaten durchaus unangenehm, so dass sie sich vereinzelt bemühten, die Texte zu beeinflussen. Auch suchten sie die Veröffentlichung von Befunden zu verhindern, die ihren Anspruch auf eine humanitäre Behandlung von Angehörigen gegnerischer Staaten zu diskreditieren drohten. Allerdings setzten die Artikel 79 und 88 des Genfer Abkommens von 1929 Eingriffen kriegführender Länder in die humanitäre Arbeit des IKRK deutliche Grenzen. Außerdem erkannten die Regierungen, dass die Inspekteure des Roten Kreuzes auch ihre eigenen Staatsangehörigen schützten. Dazu verglichen sie den Umgang mit Feindstaatenauslän134 NA, FO 916/938 (Schreiben vom 28. Juni 1944). 135 NA, HO 215/113 (Brief von 26. Januar 1945). 136 NA, HO 213/488 („Visit by Representatives of International Red Cross Committee“; Schreiben vom 6. Dezember 1941).

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dern in den gegnerischen Staaten miteinander. Darüber hinaus waren die Versorgungsleistungen des IKRK willkommen, dessen Hilfe besonders notwendig wurde, als Deutschland ab 1942 die Nahrungsmittelrationen für Kriegsgefangene und Zivilinternierte kürzte. Aber auch schon zuvor hatten zumindest britische Regierungsvertreter nicht nur die Kompetenz, sondern auch die Verlässlichkeit des Genfer Komitees geschätzt, das seine Arbeit weiterführte, als die USA 1941 als Schutzmacht ausfielen. Außer den Inspektionen und den Lebensmittellieferungen betrachtete Whitehall auch die Arbeit der Ärztekommissionen, die Zivilinternierte zur Entlassung vorschlugen, und den Postdienst des IKRK, das allein im Frühjahr 1940 zwischen 2.000 und 3.000 Briefe empfing, als unverzichtbar.137

Die Hilfe der Quäker Die Quäker identifizierten in Deutschland und Österreich Verfolgte des NS-Regimes und ermöglichten ihnen mit praktischer Unterstützung und der Übernahme von Bürgschaften in den Zielländern die Auswanderung. Unmittelbar nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ sondierte die Society of Friends zunächst die politische Lage in Deutschland. Dabei blieb sie zurückhaltend, wie der Bericht über eine Krisensitzung des Friends Service Council am 27. März 1933 zeigt: „There is need for friendly visitation, inspection of prisons and concentration camps and personal service in helping some of the victims to get out of the country or make radical changes in their way of living. The right kind of publicity is badly needed to prevent anti-German feeling growing rapidly all over the world.“138 Alarmiert durch die Festnahme und vorübergehende Inhaftierung des Quäkers Corder Catchpool (1883–1952) und die Unterdrückung anderer Friends in Deutschland, gründeten sie jedoch im Frühjahr 1933 in London das Germany Emergency Committee (GEC; ab 1942 Friends Committee for Refugees and Aliens), das Bertha Bracey von 1933 bis 1948 leitete. Das GEC setzte sich schon früh besonders für eine Amnestie für politische Gefangene ein und beobachtete die Lage in den Konzentrationslagern. Die Politische Polizei Bayerns lud die Quäker Ende 1934 sogar zu einer Besichtigung des KZ Dachau ein. Als das Ausmaß der Repression deutlich wurde, bot das GEC Verfolgten vorübergehend in einem Ge137 NA, FO 369/2569, Bl. 504, 511 f., 519, 521–523, 534 (Angabe). Vgl. auch Crossland, Britain, S. 109, 126, 198, 203. 138 „Report of Emergency Gathering of Friends on the Situation in Germany, 27 March 1933“, in: LSF, FCRA/1.

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bäude Zuflucht, das die Organisation in Bad Pyrmont erworben hatte.139 Darüber hinaus veröffentlichte sie schon 1933 Spendenaufrufe, um Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ zu unterstützen.140 Auch in den folgenden Jahren beobachteten die Quäker aufmerksam die anschwellende Repression im NS-Staat, so nach der Wiederangliederung des Saargebietes an das Deutsche Reich im Frühjahr 1935. Ebenso schenkten sie der Stellung und den Rollen von Frauen im „Dritten Reich“ Aufmerksamkeit.141 Besonders nachdrücklich setzten sich die Friends aber wiederholt für politische Gefangene ein, so im Dezember 1936, als sie in einem Brief an den deutschen Botschafter in London, Joachim von Ribbentrop (1893–1946), nicht nur für die angebliche Freilassung des schwerkranken pazifistischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Carl von Ossietzky (1889–1938) dankten, sondern zugleich eine allgemeine Amnestie zu Weihnachten verlangten. In den späten 1930er Jahren kritisierte das GEC die horrenden Bedingungen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zunehmend schärfer. Allerdings wurden Pläne zur systematischen Hilfe für KZ-Häftlinge erst 1939 vorgeschlagen. Überdies hielt die Society of Friends auch im Zweiten Weltkrieg grundsätzlich am Prinzip der vertraulichen Intervention fest. Nachdem das Ausmaß des nationalsozialistischen Völkermordes 1944/45 vollends deutlich geworden war, stellte Bracey selbstkritisch erhebliche Versäumnisse in der Informations- und Öffentlichkeitspolitik der Quäker fest.142 Dennoch hatte das Programm des Germany Emergency Committee einen wichtigen Stellenwert in der Flüchtlingshilfe eingenommen. Da die Nationalsozialisten das Internationale Zentrum der Quäker in Berlin zunächst nicht antasteten, konnten diese die Konzentrationslager im „Dritten Reich“ inspizieren, wenngleich nicht unkontrolliert. Zudem hoffte das GEC zunächst noch, mit einer vorsichtigen Berichterstattung Erleichterungen für die Gefangenen errei139 LSF, FCRA/15 (Sitzungen des Germany Emergency Committee vom 18. Dezember 1933 und 14. Januar 1935); FCRA/1 (Protokolle der Sitzungen des Joint Committee on the German Situation vom 23. Mai 1933, S. 1, vom 3. Juli 1933, S. 2, vom 24. Oktober 1933, S. 1 f. und vom 5. Dezember 1933); FCRA/2 (Protokolle der Sitzungen des Germany Emergency Committee vom 2. März, 27. April und 14. Dezember 1935). 140 LSF, FCRA/17/5. 141 LSF, FCRA/17/1 („Memorandum by Ben Greene on Conditions in the Saar Territory, March 1936“ und „German Women under Hitler Fascism. A Brief Survey of the Position of German Women up to the Present Day“); FCRA/2 (Protokoll der Sitzung des Germany Emergency Committee vom 27. April 1935). 142 LSF, FCRA/2 (Protokolle der Sitzungen des Germany Emergency Committee vom 1. Februar, 3. Mai, 28. Juni 1937 sowie vom 3. Januar, 31. Januar, 2. Mai, 27. Juni, 3. Oktober und 1. Dezember 1938; Schreiben vom 21. und 28. Dezember 1938); LSF, FCRA/3 (Protokoll der Sitzung des Germany Emergency Committee vom 22. Mai 1939, S. 3); Holmes, Knockaloe.

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chen zu können. Nicht zuletzt waren die Mittel bis 1935 begrenzt. In den ersten drei Jahren gab die Society of Friends für Gefangene in Deutschland nur 10.000 Pfund aus. Damit waren sie weitgehend auf die freiwillige Arbeit einzelner Aktivisten wie William R. Hughes angewiesen, der im „Dritten Reich“ Verfolgte unterstützte. Nachdem die NS-Machthaber im September 1935 die „Nürnberger Gesetze“ erlassen hatten, wurde Hughes aber schließlich ebenso wie andere Helfer des GEC aus Deutschland abgezogen. Die Quäker verlagerten ihre Flüchtlingshilfe in die Niederlande und nach Frankreich, wo schon im Frühsommer 1933 rund 20.000 Verfolgte aufgenommen worden waren. Im Spanischen Bürgerkrieg hatte der Friends Service Council, der seit 1927 in London für die Missionsarbeit und karitative Hilfe der Quäker in anderen Ländern zuständig war, 1939 vor allem republikanischen Opfern geholfen, so im Lager Argèles. Humanitäre Hilfe gewährten auch das Internationale Koordinations- und Informationskomitee der Hilfe für das republikanische Spanien, das Internationale Sanitätswerk und Organisationen, die Parteien der spanischen Republikaner angegliedert waren. Das IKRK entsandte zehn Hilfsgruppen auf beide Seiten des blutigen Konfliktes. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 waren zudem weitere 180.000 Juden unter die Kontrolle der Nationalsozialisten geraten, und auch die Reichspogromnacht wenige Monate hatte die Zahl der Flüchtlinge sprunghaft gesteigert. Der Hohe Kommissar des Völkerbundes (ab 1939 Herbert Emerson) und die Staatengemeinschaft erwiesen sich angesichts der Flüchtlingsbewegung letztlich als hilflos, wie das Scheitern der Konferenz in Evian (Frankreich) im Juli 1938 zeigte. Die Vertreibung von Gegnern der Nationalsozialisten und Juden aus dem Sudetenland und – ab Frühjahr 1939 – aus den anderen besetzten Gebieten verschärfte die Lage.143 Das Zentrum der Hilfsaktivitäten des GEC, das Herbert Rowntree (1884– 1957) als Direktor und Bertha Bracey als Generalsekretärin leiteten, wurde in den späten 1930er Jahren London. Angesichts der zunehmenden Anforderungen nahm die Zahl der Mitarbeiter hier allein 1938 von zehn auf sechzig sprunghaft zu. In diesem Jahr bezog die Organisation das Bloomsbury House, in dem die Hilfsvereinigungen unter dem Co-ordinating Committee for Refugees arbeiteten. Dem neuen Dachverband gehörte auch der Christian Council for Non-Aryan Refugees an, den die Quäker im Oktober 1938 gründet hatten. Am wichtigsten blieb aber das GEC, das 1939 über achtzig Beschäftigte und eine Kartei zu 14.000 einzelnen Vorgängen verfügte. Die Quäker bildeten zudem 1940 in ihrer Zentrale (in der Euston Road) im Friends Committee for Refugees (FCR) eine Ali143 Angaben nach: Ormerod Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 262 f.; Kushner / Knox, Refugees, S. 132; Forsythe, Humanitarians, S. 39. Vgl. auch Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 241.

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ens Section. Angesichts der wachsenden Zahl der Flüchtlinge verschärfte sich im GEC, das keine staatlichen Subventionen erhielt, der Geldmangel. Mit Unterstützung des ehemaligen Premierministers Stanley Baldwin, der im Dezember 1938 im Radio zur Unterstützung der Verfolgten aus Mitteleuropa aufrief, baten die Quäker deshalb die Bevölkerung um Spenden. Diese beliefen sich schließlich auf rund eine halbe Million Pfund. Alle Hilfsverbände der Friends arbeiteten auch in den Jahren von 1939 bis 1945 eng mit dem Roten Kreuz, dem YMCA, dem NCCL und der World Alliance for International Friendship through the Churches zusammen. Zudem kooperierten die Flüchtlingsorganisationen mit der anglikanischen und römisch-katholischen Kirche.144 In den 1930er Jahren hatte die Society of Friends materielle und finanzielle Hilfe für Flüchtlinge organisiert, vor allem für Gruppen, die von jüdischen Verbänden nicht direkt unterstützt wurden. Darüber hinaus vermittelte ihnen das GEC Arbeit, vor allem als Haushaltshilfen. Zudem nahmen die Quäker Kinder von Geflohenen in ihren Internaten auf. Dabei kooperierte das GEC mit anderen Verbänden wie dem Academic Assistance Council, dem International Student Service und der International Federation of University Women. Besonders eng war die Zusammenarbeit mit dem Hochkommissariat für Flüchtlinge aus Deutschland, das der Völkerbund im Oktober 1933 einrichtete. Die Quäker beteiligten sich in dieser Institution aktiv am Verbindungsbüro der karitativen Organisationen und unterstützten damit die Arbeit der Hochkommissare des Völkerbundes, James McDonald (1886–1964) und Neill Malcolm (1869–1953). Immerhin konnte der Völkerbund damit von 1933 bis 1935 rund zwei Drittel der Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland Zuflucht in anderen Ländern verschaffen. McDonald trat aber im Dezember 1935 in der Überzeugung zurück, dass die katastrophale Lage der Verfolgten im „Dritten Reich“ eine generelle Neubewertung des Völkerbundes erforderte. Einzelne Experten wie Norman Bentwich (1883–1971) und der US-amerikanische Jurist Ellery C. Stowell (1875–1958) setzten sich sogar für humanitäre Interventionen zur Rettung der Juden ein. Allerdings sollte nicht nur in das „Dritte Reich“, sondern auch in andere europäische Staaten eingegriffen werden. Als sich die Lage jüdischer und tschechischer Flüchtlinge nach dem „Anschluss“ Österreichs, der Reichspogromnacht und dem Münchener Abkommen weiter zuspitzte, riefen die Verbin144 Germany Emergency Committee, Report for Meeting for Suffering (1940), S. 6–10 und Broschüre „The Present Position of the Refugees“, alle in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures); Bertha Bracey, A Ten Years’ Survey: 1933 to 1943 (S. 10), in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures). Dazu auch: LSF, FCRA/3 („Central Offices of the Society of Friends, Friends House, Euston Road, Meetings for Sufferings held 3rd month, 1939“). Vgl. auch Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 268 f. (Angaben: S. 268); Kushner / Knox, Refugees, S. 154.

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dungsbüros des Hochkommissars ihre Regierungen zunehmend verzweifelt auf, mehr Flüchtlinge aufzunehmen und sie in Lagern unterzubringen.145 Eng damit verknüpft, weitete auch das GEC seine Aktivitäten aus, so dass am Jahresende bereits 59 und im Februar 1939 sogar achtzig Mitarbeiter beschäftigt waren. Zu dieser Zeit befanden sich in der Zentrale des GEC, dem Bloomsbury House, in 25 Zimmern rund 14.000 Akten.146 Die Flüchtlingshilfe des Germany Emergency Committee beschränkte sich von 1933 bis 1939 aber nicht auf Deutschland, Österreich und Großbritannien, sondern sie bezog mit Frankreich und den Niederlanden auch besonders wichtige Ziele der Vertriebenen ein. So eröffneten die Quäker im März 1934 im niederländischen Ommen eine Internationale Schule, die verfolgte Deutsche in ihrem Glauben festigen sollte. Auch wurden hier Kinder unterrichtet, denen die Behörden in Deutschland höhere Bildung verweigerten. Dafür setzte das GEC Lehrer ein, die von den Nationalsozialisten entlassen worden waren. In Frankreich unterstützte das Komitee unter Leitung der Quäker-Flüchtlingshelferin Germaine Melon eine nationale Hilfsorganisation für Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich.147 Zwar wuchs das Büro des GEC in den Monaten nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 auf sechzig Angestellte, und das Komitee beteiligte sich auch an Spendenaufrufen anderer Hilfsinitiativen wie dem erfolgreichen Baldwin Fund, der insgesamt 550.000 Pfund einbrachte. Insgesamt blieb die humanitäre Unterstützung für Verfolgte in Großbritannien mit 65.000 Aufgenommenen bis 1939 jedoch begrenzt. Davon hatten das Land allein 50.000 nach der Reichspogromnacht erreicht. Auch in den USA waren bis April 1934 nur 2.500 aus Deutschland Vertriebene zugelassen worden. Demgegenüber hatten sich in Palästina bis Juni 1935 schon rund 25.000 deutsche Juden niedergelassen. Zunächst hatten auch viele Verfolgte in Frankreich eine neue Heimat gefunden. Allerdings war die Zahl der Flüchtlinge hier im Juni 1935 von 25.000 (Ende 1933) auf rund 10.000 zurückgegangen.148

145 LSF, FCRA/25/5 (Einladungsschreiben vom 12. Dezember 1938). Angabe nach: Steiner, Triumph, S. 177. Vgl. auch Swatek-Evenstein, History, S. 168 f., 180 f. 146 Bertha Bracey, A Ten Years’ Survey: 1933 to 1943 (S. 3 f., 6 f., 10–12); Broschüren „The German Emergency“, „The Society of Friends in Germany“ und „German Emergency Committee Bulletin“ (Mai 1934), alle in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures). Vgl. auch Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 128 f. 147 Bertha Bracey, A Ten Years’ Survey: 1933 to 1943 (S. 4, 6), Broschüren „The German Emergency 1933“, „German Emergency Committee Bulletin“ (Mai 1934) und „An Appeal by the Society of Friends“, alle in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures). 148 Hirschfeld, „A High Tradition of Eagerness …“, S. 608; Kushner / Knox, Refugees, S. 128 f.

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Der Beginn des Zweiten Weltkrieges wirkte sich tiefgreifend auf die humanitäre Hilfe der Quäker für zivile Feindstaatenangehörige aus. So musste das GEC seine Arbeit in Deutschland einstellen.149 Die Aktivitäten der Society of Friends verlagerten sich daraufhin auf die Unterstützung der in Großbritannien lebenden Flüchtlinge, die sie im Hinblick auf Anhörungen vor den Untersuchungskommissionen zu den enemy aliens berieten. Darüber hinaus trugen sie zu finanziellen Hilfen für die Geflohenen bei, die ab Januar 1940 Leistungen von dem Central Committee for Refugees erhielten. Diese Institution, in der Vertreter des Council für Jewish Refugees und des Christian Council for Refugees from Germany and Central Europe arbeiteten, war vom britischen Innenministerium anerkannt. Nicht zuletzt förderte das GEC im Zweiten Weltkrieg verstärkt die Emigration, besonders jüdischer Flüchtlinge.150 Ab 1939 wurde aber vorrangig die Hilfe für Internierte zu einem wichtigen Tätigkeitsfeld der Quäker. Dabei mussten sie ihren universalistischen Idealismus erneut mit der Bereitschaft zu pragmatischer Kooperation kombinieren. Bis zum Frühjahr 1940 waren im Vereinigten Königreich nur wenige Feindstaatenangehörige festgenommen worden. Wie dargestellt, setzte im Mai aber die Masseninternierung ziviler enemy aliens ein. Die Aufmerksamkeit der Society of Friends konzentrierte sich auf die Insel Man, wo im Sommer 1940 rund 12.000 Männer in sechs Lagern und 4.000 Frauen im Camp Rushen untergebracht waren. Bertha Bracey nahm dieses Camp persönlich in Augenschein. William Hughes, der ebenso dem GEC angehörte, inspizierte die Männerlager. Die beiden Quäker berichteten nicht nur über die Lebensbedingungen, sondern sie stellten auch Verbindungen zwischen den Internierten, ihren Angehörigen und anderen humanitären Organisationen her. Vor allem Hughes traf bei den Inspektionen wiederholt auf den Widerstand von Kommandanten, die u. a. Gespräche mit Internierten verhinderten, so im März 1940.151 Dennoch drängte er in zahlreichen Inspektionen auf Erleichterungen. Vor allem sollte die Überbelegung beseitigt werden. Daneben forderte der Quäker, Leseräume einzurichten und ein breites Spektrum von Aktivitäten – von Vorlesungen bis zum Sport – zu organisieren, um die Passivität und Lethargie zu 149 German Emergency Committee, Report for Meeting for Suffering (1940), S. 3, in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures). 150 German Emergency Committee, Report for Meeting for Suffering (1940), S. 4–6, in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures). 151 LSF, FCRA/15 (Meeting of the Emergency Committee, Aliens Section, 13 September 1939; Meeting of the Germany Emergency Committee, Aliens Section, 25 April 1940; Meeting of the Germany Emergency Committee, Aliens Section, 27 June 1940; Meeting of the Germany Emergency Committee, Aliens Section, 2 September 1941; Meeting of the Germany Emergency Committee, Aliens Section, 25. August 1942).

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beseitigen. Tatsächlich konnten Verbesserungen wie die Einrichtung von Baracken für Verheiratete erreicht werden.152 Im Gefängnis Holloway, wo die Bedingungen im Frühjahr 1940 schlecht waren, bemühte sich die Society of Friends um eine Verlegung der dort inhaftierten Frauen. Dabei sprachen sich die Quäker eng mit der Howard League for Penal Reform ab, einem Wohltätigkeitsverband, der auf eine Reform des Strafrechts drängte.153 Auch in anderen Camps stellten sie trotz Behinderungen durch einzelne Kommandanten bei Besichtigungen 1940/41 noch gravierende Mängel fest, über die sie das Innenministerium unterrichteten. So hatten sich im Lager Huyton (bei Liverpool) bis Ende 1940 erhebliche Spannungen zwischen internierten Flüchtlingen und Nationalsozialisten bzw. (nationalistischen) „Reichsdeutschen“ aufgebaut.154 Insgesamt bemühte sich das Friends Emergency Committee, die Kooperation mit der Regierung und der Verwaltung auf der Insel Man (wo englisches Recht nicht galt) mit Kritik zu verbinden. So gaben die Quäker in ihrem Jahresbericht 1940 zwar zu, dass sich die britische Regierung im Sommer in einer Zwangslage befunden habe. Sie warf den Politikern, die sich für die Masseninternierung eingesetzt hatten, aber einen „lack of imaginative understanding of the problem“ vor.155 Über die Inspektionen hinaus organisierte die Society of Friends ein breites Spektrum von Hilfsleistungen. Sie versorgte die Internierten mit Lebensmitteln, Kleidung und Rohstoffen, aus denen sie Produkte fertigten. Darüber hinaus kümmerte sie sich um entlassene Feindstaatenangehörige, beispielsweise indem sie ihre medizinische Versorgung und Ausbildung unterstützte. Außer den Internierten, denen die besondere Aufmerksamkeit der Quäker galt, sorgten sie auch für Kriegsgefangene. Grundsätzlich kooperierten die Mitarbeiter der Aliens Section mit der Regierung, der sie Empfehlungen und Forderungen übermittelte. So schickten sie dem Innenministerium im September 1939 ein Memorandum über ihre Erkenntnisse zur Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger von 1914 bis 1918. In dieser Denkschrift drängte die Aliens Section das Home Office, auf eine Masseninternierung zu verzichten. 1940 traten die Quäker überdies für die Errichtung eines Lagers für verheiratete Ehepaare ein, und zwei Jahre später 152 Dazu vor allem der Bericht von W. R. Hughes vom 8. Juni 1940 in: LSF, FCRA/25/40, das Protokoll der Sitzung des GEC vom 7. Mai 1940 in: LSF; FCRA/4 und das Protokoll der Sitzung des GEC vom 1. April 1941 in: LSF, FCRA/5. 153 LSF, FCRA/4 (Protokoll der Sitzung des Generalkomitees des GEC vom 7. Mai 1940). 154 Vgl. die Inspektionsberichte vom 18. und 21. November sowie vom 11. Dezember 1940 in: LSF, FCRA/25/39. 155 Germany Emergency Committee: Report for Meeting for Suffering (1940), Appendix Internment, in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures). Vgl. auch Ormerod Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 270.

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verlangten sie, in den Camps die begonnene Trennung der Nationalsozialisten von ihren Gegnern endlich abzuschließen.156 In anderen Staaten unterstützte das War Victims Relief Committee (das im weiteren Verlauf des Zweiten Weltkrieges in Friends Relief Service umbenannt wurde) weiterhin Verfolgte und Vertriebene. Dieses Engagement konzentrierte sich auf Frankreich, Belgien und die Niederlande nach der Eroberung dieser Länder durch die deutsche Wehrmacht. Für das Komitee arbeiteten 1939/40 bereits 1.232 Aktivisten, davon 629 Männer und 603 Frauen. Während die Ambulanzeinheit, der die Quäker auf den jährlichen Treffen wegen der Nähe zum Militär eine uneingeschränkte Anerkennung verweigerten, weltweit eingesetzt wurde, konzentrierte sich die Arbeit des Friends Relief Service weitgehend auf Europa. Allerdings koordinierte die Organisation ihre Hilfe eng mit dem American Friends Committee und der 1943 gebildeten UNRRA. Als der Friends Relief Service 1950 aufgelöst wurden, hatten die Quäker seit 1933 rund eine halbe Million Pfund ausgegeben und rund 8.000 Flüchtlinge unterstützt.157 Angesichts des Notstands, auf den sich das GEC im Juli 1939 vorbereitet hatte, richtete das Komitee nach Kriegsbeginn Sektionen ein, um einzelnen Gruppen der zivilen Feindstaatenangehörigen gezielt beistehen zu können. Außer den Deutschen, Österreichern und (ab Juni 1940) Italienern, die in den Protected Areas lebten, gehörten dazu besonders Internierte und Feindstaatenangehörige, die von den Untersuchungskommissionen noch angehört wurden. Den enemy aliens, die in den Lagern litten, galt die Wohlfahrtsfürsorge des GEC, die es im Oktober 1939 mit dem britischen Kriegs- und Innenministerium vereinbart hatte. An der Unterstützung internierter Feindstaatenangehöriger beteiligten sich auch andere humanitäre Organisationen wie die YMCA und der World Council of Churches.158 Darüber hinaus zahlte das Emergency Committee den in Freiheit verbliebenen oder entlassenen Flüchtlinge Unterstützungsleistungen, von denen die britische Regierung generell die Hälfte trug. Ebenso engagierte sich das GEC bei der Vermittlung von Arbeit für enemy aliens. Nicht zuletzt bereitete der Verband die Emigration vor. So berichtete Bertha Bracey in einer Sitzung des GEC am 14. Februar 1939 über die wachsende Not unter den Flüchtlingen aus Deutschland, Italien, Ungarn und Jugoslawien, und sie stellte Pläne zur Weiterwanderung der Verfolgten von Großbritannien nach Australien, Südrhodesien und

156 Kapp / Mynatt, Policy, S. 112; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 129 f. 157 Angaben nach: Ormerod Greenwood, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 273–275. 158 LSF, FCRA/3 (Protokoll der Sitzung des Germany Emergency Committee vom 25. Juli 1939, S. 3, und Protokoll der Sitzung des Germany Emergency Committee vom 3. Oktober 1939, S. 4).

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San Domingo vor.159 Auch förderten die Quäker ihre Weiterwanderung in die USA, sofern dies möglich war. Besonders die Emigration nach Palästina blieb aber unter jüdischen Flüchtlingen umstritten.160 Außer den britischen Quäkern waren auch die amerikanischen Mitglieder der Society of Friends besonders aktiv. So betreute das American Friends Service Committee unter der Leitung Howard Kershners (1891–1990) nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges in Südfrankreich Feindstaatenangehörige. Darunter waren auch jüdische Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“, die in Lagern wie Gurs und bei Béziers gefangen gehalten wurden und im Sommer 1940 in den Strudel der Niederlage Frankreichs geraten waren. Obwohl es Hilfsorganisationen im Winter 1940 erlaubt worden war, in Gurs eine Sanitätsstation einzurichten, herrschten hier noch im Frühjahr 1941 katastrophale Lebensbedingungen, wie das GEC erfuhr. Sie und andere humanitäre Vereinigungen konnten nicht verhindern, dass 1.074 Insassen im Lager verstarben, darunter 820 aus Baden und der Pfalz deportierte Juden. Die Internierten, denen die Flucht nach Spanien und Portugal nicht gelungen war, wurden 1942 nach Ostmitteleuropa in die NS-Konzentrationslager deportiert und dort ermordet.161 Wiederholt, aber letztlich nur sporadisch arbeiteten die Quäker mit anderen humanitären Organisationen zusammen. So berichtete Bertha Bracey im Juni 1938 über ein Treffen des National Council for Civil Liberties, der Repräsentanten von zwanzig Verbänden eingeladen hatte, um auf eine humane Behandlung von Flüchtlingen zu drängen und ihre Weiterwanderung zu fördern. Das GEC hatte aber schon im Januar beschlossen, dass „it would be unwise, in view of the work which the Secretary has to do in making approaches to the Home Office on behalf of German refugees, for their to be any official connection with the National Council.“162

159 LSF, FCRA/3 (Protokoll der Sitzung des Germany Emergency Committee vom 14. Februar 1939, S. 2 f.). 160 Bertha Bracey, A Ten Years’ Survey: 1933 to 1943 (S. 12–14); Broschüre „An Appeal by the Society of Friends“ und „The Present Position of the Refugees“, alle in: LSF, Friends Committee for Refugees and Aliens, 1933–1944 (Brochures). 161 Protokoll der Sitzung des GEC vom 1. April 1941 in: LSF, FCRA/5. Angaben nach: Kotek / Rigoulot, Jahrhundert, S. 252. 162 LSF, FCRA/2 (Protokoll der Sitzung des Germany Emergency Committee vom 31. Januar 1938, S. 2). Dazu auch Protokoll der Sitzung des Germany Emergency Committee vom 27. Juni 1938, S. 2, in: ebd.

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Gefangenen- und Informationsaustausch zwischen den kriegführenden Staaten Im Allgemeinen legte besonders das Reziprozitätsprinzip den Regierungen der kriegführenden Staaten nahe, die Zivilinternierten menschenwürdig zu behandeln. Allerdings begründeten die Gewahrsamsmächte Repressionen und Repressalien wiederholt mit Sorgen um die Sicherheit ihrer Staaten, so nach Fluchten aus den Lagern. Überdies brach die Übermittlung von Nachrichten und Angaben zu Gefangenen aus Ländern ab, die nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht aufgelöst oder von Kollaborationsregimes regiert wurden. Die NS-Führung verweigerte sich mit der Behauptung, dass diese Staaten – Polen, Frankreich, Jugoslawien und (ab 1943) Italien – nicht mehr existierten, der Kooperation mit dem IKRK und Schutzmächten. Darüber hinaus blieb der Informationsfluss aus der Sowjetunion, Japan und den von beiden Staaten eroberten Gebieten unregelmäßig und begrenzt, da sie die Genfer Konvention von 1929 nicht ratifiziert hatten. So teilten die japanischen Militärs dem Roten Kreuz lediglich die Namen von einem Drittel der australischen Gefangenen mit, die sich in ihrer Hand befanden. Die Partei- und Staatsführung der UdSSR übermittelten dem IKRK zu keiner Zeit vollständige Kriegsgefangenenlisten. Auch waren die Arbeits- und Straflager des Gulag, die dem sowjetischen Innenministerium unterstanden, der Kontrolle des Genfer Komitees entzogen.163 Die Politik der britischen Regierung zeigt beispielhaft den Umgang mit Informationen zu Zivilinternierten in den westlichen Staaten. Ebenso wie im Ersten Weltkrieg lehnte das Vereinigte Königreich einen Austausch einzelner Internierter ab. Jedoch nahm die britische Regierung Anfang 1940 Verbindungen zum NS-Regime auf, um einen wechselseitigen Transfer von Frauen, Mädchen, Jungen unter 18 Jahren und Männern im Alter von über sechzig Jahren zu erreichen. Demgegenüber sollten wehrfähige Zivilisten nicht entlassen und Gesichtspunkte der „national security“ beachtet werden. Im Gegensatz dazu schlug das NS-Regime vor, auch wehrfähige Männer auszutauschen. Da es sich aber nicht in der Lage sah, einen ungefährdeten Schiffstransport zu sichern und auf UBoot-Angriffe zu verzichten, scheiterten die Gespräche.164 Immerhin wurden Informationen zu den Internierten ausgetauscht. Schon im Herbst 1939 hatte das IKRK die kriegführenden Regierungen gebeten, strikt nach den Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 vorzugehen und An-

163 Durand, Sarajevo, S. 442 f., 452, 461, 574; Khan, Das Rote Kreuz, S. 93; Vance, Central POW Agency, S. 43; ders., Protecting Power, S. 229; Bertil Häggman, Gulag, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 123. 164 Notiz zum Brief vom 15. Juli 1941 in: NA, FO 916/7. Zit. nach dem Memorandum über „Exchange of Civilians“ in: NA, FO 916/7.

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gaben zu den Betroffenen zu übermitteln. Dabei musste das britische Kriegskabinett (bis zum 10. Mai 1940 unter Neville Chamberlain) allerdings vorsichtig vorgehen, denn unter den Betroffenen waren auch Flüchtlinge, die es strikt ablehnten, ihre Namen dem NS-Regime zu übermitteln. Deshalb drängte das Kriegsministerium das Foreign Office und das Prisoners of War Information Bureau Anfang 1940, keine Angaben zu Verfolgten des NS-Regimes unter den Internierten – wie auch zu überführten Spionen – mehr weiterzugeben. Diese Forderung erhoben auch der MI5 und das Indienministerium. Damit sollte die Sicherheit des Landes und der betroffenen Personen gewahrt werden. Das Prisoners of War Department und das Innenministerium folgten diesem Grundsatz, da sie eine geringe Distanz zwischen dem Deutschen Roten Kreuz und dem NS-Regime erkannten. Die Internierten, die einer Weitergabe ihrer Angaben zustimmten, mussten ab 1940 eine schriftliche Erklärung unterzeichnen. Das Innenministerium führte daraufhin getrennte Listen der Lagerinsassen. Bis Juni 1944 baten mehr als die Hälfte der insgesamt noch festgehaltenen 1.400 Deutschen und Österreicher (davon 200 in Australien und 180 in Kanada), ihre persönlichen Daten nicht an die Schutzmächte weiterzugeben, und die humanitären Hilfsorganisationen wurden ebenso zur Zurückhaltung aufgefordert.165 Da die Kriegslage immer aussichtsloser für das NS-Regime wurde, wuchs ab 1943 die Zahl der Internierten, die ihre Einwilligung zur Weitergabe zurückzogen. Die britische Regierung stellte sicher, dass die Schutzmächte und das IKRK persönliche Angaben nur mit Zustimmung der Lagerinsassen in die Aufstellungen aufnahmen und Vertretern des NS-Regimes übermittelten. Davon ausgenommen waren allerdings Internierte, die von den Sicherheitsbehörden als gefährlich angesehen und vom Informationsfluss ausgeschlossen wurden. Diese Regelung galt auch für österreichische, japanische, italienische und finnische Lagerinsassen. Das Auswärtige Amt in Berlin erkannte das Recht deutscher Gefangener, eine Übermittlung von Angaben zu ihnen zu verweigern, zwar schließlich an. Dennoch befürchtete das Foreign Office, dass die nationalsozialistische Führung die unweigerlich entstehende Verzögerung in der Übermittlung der Listen als Vorwand nutzen würde, um ihrerseits Nachrichten zu britischen Zivilinternierten zurückzuhalten. Auch rächte sich das faschistische Regime Mussolinis, indem es die Information der Schweiz über britische Zivilisten, die sie auf dem Balkan festgesetzt hatte, an deren ausdrückliche Zustimmung band. Dennoch zeigten sich Politiker wie Lord Davies (1880–1944), 165 Dazu das „Minute sheet on statistical data about anti-Nazi internees“, in: NA, HO 215/459, und das Memorandum vom 8. Juni 1944 in: HO 215/454. Vgl. ebenso: NA, FO 369/2569, Bl. 203, 356, 362, 400, 411–413, 535; FO 369/2547, Bl. 2, 54; HO 215/452 (Protokoll vom 4. September 1940; Briefe vom 19. Oktober und 5. November 1940).

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der in den 1920er und 1930er Jahren den Völkerbund unterstützt hatte, Anfang 1941 alles in allem zufrieden mit dem Schutz von Flüchtlingen durch das Home Office.166 Wenig später fiel Beamten des Ministeriums auf, dass Informationen über Internierte, die eine Weitergabe persönlicher Angaben abgelehnt hatten, von Vertretern des Roten Kreuzes an Bürgerberatungsbüros des National Council of Social Service und humanitäre Organisationen weitergegeben worden waren. Diese wurden daraufhin ebenso wie der National Council, die karitativen Verbände und die Polizeichefs in den Regionen angewiesen, Informationen nicht anderen Institutionen zur Verfügung zu stellen, sondern diese an das Innenministerium zu verweisen. Anfragen zu den Internierten durften dem Home Office nur noch über das Britische Rote Kreuz an das IKRK übermittelt werden. Auch die Regierungen der Dominions sollten ab 1941 ausschließlich mit dem Genfer Komitee und nicht länger mit deutschen Konsuln kommunizieren, da das Londoner Kriegskabinett befürchtete, dass das „Dritte Reich“ die Regierungen der britischen Siedlerkolonien gegeneinander ausspielen könnte. Darüber hinaus wies das britische Innenministerium die Lagerkommandanten an, vor allem Informationen über anhängige Strafverfahren gegen Internierte Deutsche nur mit deren ausdrücklicher Zustimmung weiterzugeben. Die betroffenen Personen waren über die unterstützende Rolle der Schutzmächte in Prozessen zu unterrichten, konnten aber auch eine Beteiligung dieser Staaten zurückweisen. Damit sollten ebenfalls besonders deutsche Flüchtlinge und ihre Angehörigen im „Dritten Reich“ geschützt werden.167 Ende 1942 wurde zwischen Großbritannien und dem „Dritten Reich“ zwar ein monatlicher Austausch von Informationen vereinbart, der – wie Außenminister Eden schon im März betont hatte – die Internierten in den britischen Kolonien einschließen sollte. Allerdings waren auch dabei der deutschen Reichsregierung Namen nur mit Zustimmung der Betroffenen zu übermitteln, um Repressalien der NS-Behörden gegen die Angehörigen internierter Flüchtlinge zu verhindern. Zu diesem Zweck wurden in den Berichten auch die Standorte der Lager verschlüsselt. Umgekehrt bestand das deutsche Auswärtige Amt auf Listen für einzelne Quartale anstelle von Monaten. Das IKRK bemühte sich erfolgreich, die Konflikte zwischen den beiden Kriegsgegnern zu lösen und konnte 166 NA, HO 215/454 (Brief vom 29. Januar 1941); CO 968/34/5 (Schreiben vom 24. Februar 1941); NA, HO 215/452 (Brief des Foreign Office an den Generalsekretär des IKRK; Schreiben vom 14. August 1941 und 9. Januar 1941; Protokoll vom 4. September 1940); HO 215/459 (Memorandum vom 8. Juni 1944). 167 NA, HO 215/452 (Schreiben vom 5. November 1940); HO 215/455 (Vermerk vom 14. Mai 1941; Briefe vom 17. März, 24. Juni, 8. Juli 1. August, 23. September 1941 und 20. November 1942); NA, HO 215/462 (Rundbrief B3/51 vom 2. Februar 1942).

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daraufhin Angaben zu den deutschen Internierten im Vereinigten Königreich, den Dominions und Kolonien einerseits und in Deutschland andererseits übersenden. Dem Genfer Komitee gelang es auch, Daten zur Belegung der Lager mit Insassen anderer Nationalität zu erhalten. Diese Vermittlerrolle spiegelt die gewachsene internationale Reputation des Roten Kreuzes wider.168 Nominelle Feindstaatenangehörige, die eine Weitergabe ihrer Namen schriftlich ablehnten, sollten nach einer Anweisung Herbert Morrisons in den Lagern bevorzugt Versorgungspakete erhalten.169 Eine Anfrage des Auswärtigen Amtes, das 1943 eine wechselseitige Information über die Standorte der Internierungslager vorschlug, lehnte die britische Regierung ab. Das Kriegsministerium und das Home Office hatten gegen den Vorschlag zwar keine grundsätzlichen Bedenken erhoben, aber auf die Sicherheit militärischer Objekte in der Nähe der Lager abgehoben und auf dem Gegenseitigkeitsprinzip bestanden.170 Dagegen wurden dem „Dritten Reich“ Informationen über das rechtliche und disziplinarische Reglement (vor allem Strafen) mitgeteilt, denen die Gefangenen im Vereinigten Königreich unterworfen waren. Dennoch beschwerte sich das Auswärtige Amt über die Legation in Bern wiederholt bei der britischen Regierung, dass Informationen zu deutschen Gefangenen im Vereinigten Königreich unvollständig übermittelt worden waren. Vor allem vermisste man in Berlin Angaben zu den Internierten in den Dominions und Kolonien.171

Das Verhältnis zwischen humanitären Organisationen und Regierungen Alle humanitären Organisationen waren bei ihren Hilfsaktivitäten auf die Kooperation mit den kriegführenden Staaten angewiesen. Störungen dieser Zusammenarbeit wirkten sich deshalb unmittelbar auf die Gefangenenfürsorge aus. Vor allem das japanische Militärregime verheimlichte Standorte von Lagern, deren Insassen damit von Hilfslieferungen abgeschnitten waren. Die ge-

168 NA, FO 916/293 (Brief vom 10. November 1942); FO 916/906 (Schreiben vom 5. und 27. Oktober 1942, 19., 22 und 31. Dezember 1942); HO 215/456 (Brief vom 27. März 1942); FO 369/ 2569, Bl. 411. 169 NA, FO 916/293 (Briefe vom 1. und 2. Oktober sowie vom 5. und 10. November 1942); FO 916/7 (Schreiben vom 8. Februar und 15. Juli 1941); HO 215/227 (Vermerk vom 16. Juli 1941); HO 215/459 (Entwurf eines Briefes des Innen- an das Außenministerium vom 25. April 1944). Vgl. auch die Listen in: NA, HO 215/453. 170 NA, HO 215/456; HO 215/457 (Telegramm vom 2. März 1943 und Brief vom 21. September 1943; Vermerke vom 3. und 6. September 1943). 171 NA, HO 215/459 (Mitteilung der deutschen Legation); HO 215/462 (Rundschreiben vom 2. Februar 1942 und Brief vom 25. September 1943).

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meinsame Organisation des britischen Roten Kreuzes und des Johanniterordens unterhielt zwar eine Auskunftsstelle für Internierte; ein regelmäßiger Briefverkehr mit Japan konnte aber erst im Oktober 1942 aufgenommen werden. Einen Postdienst mit Korea, Taiwan, Schanghai, Hongkong, Siam, Französisch-Indochina und China erlaubten die japanischen Besatzungsbehörden sogar erst zwei Monate später.172 Die restriktive Politik und das oft brutale Vorgehen der herrschenden japanischen Militärführung gegen Kriegsgefangene und Zivilinternierte waren zwar dem politischen und gesellschaftlichen Militarismus im ostasiatischen Kaiserreich geschuldet. Sie gründete aber ebenfalls auf einer Schamkultur, die auch den Japanern eine Kapitulation verbot. Deshalb drängten Soldaten und Zivilisten, die in die Hand alliierter Truppen gefallen waren, die jeweiligen Gewahrsamsmächte und das IKRK, ihre Namen nicht in ihre Heimat zu übermitteln. Unter diesen Umständen blieben die Informationsbüros des Roten Kreuzes in Japan weitestgehend beschäftigungslos. Zwar vermittelte die nationale Gesellschaft allein 1944 rund 100.000 Briefe von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten; sie war aber nahezu ausschließlich der Kriegführung des Landes verpflichtet. Dagegen nahmen humanitäre Gesichtspunkte allenfalls einen untergeordneten Stellenwert ein. Deshalb waren dem IKRK noch im Juni 1945 die Namen der Internierten in weiten Regionen Südostasiens wie Britisch-Malaya unbekannt.173 Aber auch in den alliierten Staaten störten oder unterbrachen die Behörden wiederholt die humanitäre Hilfe für internierte Feindstaatenangehörige. So weigerten sich Kommandanten von Internierungslagern in Kanada Anfang Januar 1941, direkte Gespräche zwischen Inspektoren des IKRK und Insassen zuzulassen. Entgegen den Bestimmungen im Artikel 86 des Genfer Abkommens und der zuvor üblichen Praxis verlangten sie, jeweils Zeugen hinzuzuziehen. Diese Forderung unterstützte die kanadische Regierung. Dem britischen Innenminister Morrison gelang es erst nach wochenlangen Bemühungen, die kanadische Regierung zu überzeugen, dem Genfer Komitee des Roten Kreuzes wieder direkten Zugang zu den Internierten zu verschaffen. In den Vorgang war auch Premierminister Churchill einbezogen, da die britische Regierung Repressalien des NS-Regimes gegenüber den eigenen Gefangenen im „Dritten Reich“ befürchtete.174 Auch Hilfslieferungen des Roten Kreuzes waren keineswegs überall will-

172 Cambray / Briggs, Red Cross, S. 392–394. 173 NA, WO 32/11678 („Note of Discussions with the International Red Cross Committee at Geneva …“). Vgl. auch Checkland, Humanitarianism, S. 96–99, 144 (Angabe). 174 NA, HO 215/412 (Schreiben vom 1. April 1941; Briefe vom 12. und 14. Februar sowie vom 1. April 1941).

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kommen, denn die herrschenden Eliten betrachteten sie gelegentlich als zumindest indirekte Kritik ihrer Politik. So teilte der britische Gouverneur von Nigeria dem Staatssekretär im Londoner Kolonialministerium am 21. November 1939 mit: „Whilst I have no objection in principle, I suggest that German Red Cross be assured that medical supplies and facilities for Germans in the Cameroons are fully adequate and that despatch of these packages is therefore entirely unnecessary.“175 Umgekehrt erleichterten einige Regierungen jedoch Hilfsleistungen für Internierte. Die britischen Zollbehörden erlaubten die Einfuhr von Gütern für das nationale Rote Kreuz. Spenden für humanitäre Zwecke konnten ungehindert an karitative Verbände für Kriegsopfer in das Vereinigte Königreich transferiert werden. Zudem wurden in Frankreich, Großbritannien und Deutschland nach den Vereinbarungen, die das IKRK vermittelt hatte, wiederholt schwer erkrankte Internierte entlassen und in ihre Heimatländer zurückgeführt. Das Britische Rote Kreuz zeigte sich noch Anfang 1940 überzeugt, dass sogar das „Dritte Reich“ die 1929 abgeschlossene Genfer Konvention nicht nur auf Kriegsgefangene, sondern auch auf Zivilinternierte anwandte.176 Europäische Staaten erhielten im Zweiten Weltkrieg besonders aus den USA eine beträchtliche Unterstützung für Flüchtlinge, darunter auch nominelle Feindstaatenangehörige. Das 1939 verabschiedete Neutralitätsgesetz erlaubte dem Amerikanischen Roten Kreuz Hilfslieferungen nach Europa. Überdies verabschiedete der US-Senat am 22. Juni 1940 (als Vertreter Frankreichs in Compiègne den Waffenstillstand mit dem „Dritten Reich“ unterzeichnen mussten) ein Gesetz, mit dem fünfzig Millionen Dollar für die Unterstützung von Kriegsopfern in Europa zur Verfügung gestellt wurden. So half das JDC in den USA und in anderen westlichen Staaten besonders vertriebenen Juden. Auch in Lateinamerika, wo Flüchtlinge mit politischer Instabilität, Sympathisanten der Nationalsozialisten (besonders unter den deutschen Einwanderern) und einer oft rassistischen Einwanderungspolitik konfrontiert waren, ermöglichte das Komitee vielen von ihnen das Überleben. Weitere Büros der Hilfsorganisation befanden sich in Kairo, Beirut und Jerusalem. Nicht zuletzt arbeitete das JDC im Zweiten Weltkrieg in Teheran mit sowjetischen Stellen zusammen, um jüdische Flüchtlinge, die vor allem aus Polen nach Sibirien und Zentralasien geflohen oder dorthin deportiert worden waren, zu versorgen und damit ihr Überleben zu sichern. Jedoch bestand das US-Außenministerium bis 1941 auf einer zentralen Kontrolle der humanitären Hilfe, um die Neutralität des Landes zu wahren.

175 NA, FO 369/2547, Bl. 309. 176 NA, FO 369/2561, Bl. 216, 231, 242, 248, 284, 349, 350–352, 362.

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So arbeiteten mit dem Britischen Roten Kreuz nur das American Red Cross und die American Society for British Medical and Civilian Aid zusammen. Auch die British War Relief Society beteiligte sich. Sie war auch berechtigt, in den USA Spenden zu sammeln. Humanitäre Hilfslieferungen sollten zollfrei in das Vereinigte Königreich eingeführt werden. Außerdem verlangte das State Department, dass die britische Regierung genügend Schiffsraum zur Verfügung stellte.177 Während das Informationssystem des Roten Kreuzes von allen Mächten durchweg gern genutzt und auch die Versorgung eigener Staatsangehöriger geschätzt wurde, waren andere Leistungen der humanitären Organisation zumindest aus der Sicht der britischen Regierung entbehrlich. Die Minister für ökonomische Kriegsführung – von 1940 bis 1942 Hugh Dalton (1887–1962) und anschließend bis 1945 Roundell Cecil Palmer (Lord Selborne, 1887–1971) – ordneten die Fürsorge für Kriegsopfer im besetzten Europa eindeutig den Bemühungen unter, das „Dritte Reich“ mit allen Kräften zu besiegen. Dafür erschien dem Ministry of Economic Warfare (MEW) die Blockade des europäischen Festlandes durch die britische Marine unabdingbar. Damit war eine Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung durch humanitäre Organisationen in den besetzten Gebieten extrem schwierig und nur auf der Grundlage von Ausnahmeregelungen möglich. Weil es fürchtete, dass die nationalsozialistischen Okkupationsbehörden Hilfsgüter für Zivilisten beschlagnahmen würden, ließ das MEW nur ausnahmsweise Lebensmittelimporte aus Übersee zu. So wurden im Winter 1940/41 Lieferungen an Franzosen erlaubt, um das Vichy-Regime von der deutschen Besatzungsmacht zu trennen. Auch die Versorgung Griechenlands, wo die Menschen ab Ende 1941 hungerten, diente vorrangig dem Zweck, die Betroffenen für das Vereinigte Königreich einzunehmen. In den Niederlanden wurde die leidende Bevölkerung Anfang 1945 unterstützt, weil die alliierten Regierungen zu Recht erwarteten, dass sie diese Aufgaben nach dem nahenden Kriegsende ohnehin bewältigen mussten. Hinzu kam, dass die führenden Politiker der USA und des Vereinigten Königreiches bestrebt waren, ihre Staaten international als humanitäre Mächte zu präsentieren. Deshalb wurde dem IKRK auch erlaubt, eine „weiße Flotte“ von Versorgungsschiffen zu betreiben. Obwohl das MEW die Schweizer Mitglieder des IKRK wiederholt der Sympathie mit Deutschland verdächtigte und argwöhnte, dass Lebensmittellieferungen die Blockade unterminieren würden, konnten 34 Schiffe, die das Genfer Komitee des Roten

177 NA, FO 369/2563, Bl. 294–296, 301, 330–335. Vgl. auch Atina Grossmann, Remapping Relief and Rescue. Flight, Displacement, and International Aid for Jewish Refugees during World War II, in: New German Critique 117 (2012), S. 61–79, bes. S. 71, 79; Kushner / Knox, Refugees, S. 167; Moorehead, Dream, S. 403 f.

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Kreuzes aus neutralen Staaten mietete, bis Kriegsende auf 321 Seefahrten rund 428.000 Tonnen Hilfsgüter transportieren.178 Als die Fürsorge für kriegsgefangene oder internierte Angehörigen der alliierten Länder mit der Befreiung Europas von der nationalsozialistischen Herrschaft 1944/45 zusehends entfiel, wuchs in Großbritannien und in den USA der Widerstand gegen die unablässigen Bemühungen des IKRK, seinen Wirkungskreis auszudehnen und dafür neue Komponenten zu gewinnen. Vor allem Forderungen nach weiteren Hilfslieferungen, die nach Auffassung der alliierten Regierungen die Seeblockade unterliefen, trafen auf Ablehnung. Die Unterstützungsleistungen für Griechenland wurden 1942 dem IKRK entzogen und griechischen und kanadischen Organisationen übertragen, deren Arbeit Schweden koordinierte. Unter dem Eindruck der Widerstände hatten schon während des Krieges pragmatische Mitglieder des Genfer Komitees wie Haccius, Junod und Burckhardt zusehends die Oberhand gegenüber idealistisch motivierten Aktivisten wie Lucie Odier (1886–1984) gewonnen.179 Nach dem Sieg über Deutschland geriet das IKRK weiter in die Defensive, denn die Regierungen der alliierten Mächte bestanden darauf, dass sie die Versorgung der Bevölkerung in den von ihnen befreiten europäischen Staaten selber in die Hand nahmen. Dazu hatten sie das 1941 Inter-Allied Committee on Post-War Requirements gegründet. Die zwei Jahre später gebildete UNRRA sollte die Hilfsleistungen für Angehörige der Vereinten Nationen, Staatenlose und Italiener koordinieren. Darüber hinaus wurde die neue Organisation beauftragt, nach verschleppten und deportierten Personen zu suchen, die den Krieg überlebt hatten. Diese Displaced Persons – Häftlinge, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder Flüchtlinge – litten vielerorts in Lagern und mussten nach deren Befreiung von den Alliierten schnell versorgt werden. Die Gruppe umfasste im Nachkriegsdeutschland rund elf Millionen Menschen, von denen sich 6,3 Millionen in den drei westlichen Besatzungszonen aufhielten. Zudem war zunächst das Verhältnis zwischen dem IKRK und dem Oberkommando der vorrückenden alliierten Streitkräfte (Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force, SHAEF) zu klären. In den befreiten Gebieten Westeuropas und im besetzten Deutschland sollte sich die Arbeit des Genfer Komitees auf Tätigkeiten konzentrieren, die alliierte Militärdienststellen und die Regierungen der Siegermächte entlasteten. Das britische Außenministerium behandelte deshalb eine Anfrage des IKRK, das im Sommer 1944 Überlegungen zu seiner Arbeit übersandte, überaus

178 Crossland, Britain, S. 106–112, 121 (Angabe), 197 f. 179 Ebd., S. 109–111, 118 f.

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dilatorisch. Eine bindende Zusage an die Organisation, die ihrerseits nach der Bewahrung seines Einflusses strebte, sollte verhindert werden.180 Das Genfer Komitee versuchte 1945 daraufhin, die Versorgung für Italiener, Esten, Litauer, Letten, Ungarn, Bulgaren und Rumänen zu übernehmen, die sich in den deutschen Besatzungszonen Großbritanniens und der USA befanden. Dazu sollten Päckchen entweder vom Britischen Roten Kreuz zur Verfügung gestellt oder vom Genfer Komitee geliefert werden. Die Regierungen der betroffenen DPs wurden aufgefordert, Leistungen zu bezahlen. Aber auch dieser Versuch des Roten Kreuzes, sich neben dem SHAEF und der UNRRA ein aussichtsreiches Tätigkeitsfeld zu sichern, scheiterte letztlich. So wies das britische Kriegsministerium auf die erheblichen Vorräte der alliierten Streitkräfte hin.181 Die zunehmenden Konflikte zwischen den alliierten Siegermächten erschwerten zusätzlich die Arbeit der humanitären Organisationen, unter denen immer noch das Rote Kreuz herausragte. Zwar gelang es den Verbänden in enger Kooperation mit den zuständigen Militärregierungen, die Mehrheit der DPs schnell in ihre Heimatländer zurückzuführen. Schon im September 1945 hielten sich lediglich noch eine Million von ihnen in den Westzonen auf. Nur mühsam konnte aber bis 1947 zwischen der UdSSR und den westlichen Staaten eine Verständigung über die Rückführung der sowjetischen DPs erzielt werden, die den Westmächten im Gegenzug erlaubte, ihre Kriegstoten aus den von der östlichen Vormacht besetzten Gebieten heimzuführen. Aber auch die verschärften Auseinandersetzungen erweiterten im beginnenden Kalten Krieg keineswegs den Handlungsspielraum des IKRK. Sogar die Suche nach Vermissten wurde zunächst von der UNRRA, 1947 von deren Nachfolgeorganisation, der International Refugee Organisation (IRO), und 1951 von der Alliierten Hohen Kommission übernommen. Erst 1955 gewann das IKRK die Kontrolle über das Zentrale Suchbüro (seit 1948 International Tracing Service) in Bad Arolsen.182

180 NA, FO 916/1232 (Schreiben vom 14. August 1944 und 9. August 1945; Vermerke vom 7. und 10. April 1945). Angabe nach: Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985, S. 42. Vgl. auch Gerard Cohen, In War’s Wake: Europe’s Displaced Persons in the Postwar Order, New York 2011; Petra Weber, Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945– 1989/90, Berlin 2020, S. 89; Bethstein, Alliance, S. 711; Crossland, Britain, S. 105, 123, 204 f.; Durand, Sarajevo, S. 440. Zum Stellenwert der DP-Lager in langfristiger Perspektive: Stone, Concentration Camps, S. 71. 181 NA, WO 32/11678 („Note of Conversation in Geneva with Mons. A. E. Zollinger, I. C. R. C. on 10th June, 1945“). 182 Angabe nach: Weber, Getrennt, S. 89. Vgl. auch Jan Erik Schulte, Nationalsozialismus und europäische Migrationsgeschichte. Das Archiv des Internationalen Suchdienstes in Arolsen, in: Zeithistorische Forschungen 4 (2007), S. 223–232; Volker Ullrich, Acht Tage im Mai. Die letzte

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Humanitäre Bemühungen der Regierungen: das Beispiel Großbritannien In einzelnen Ländern wurden zivile Feindstaatenangehörige auch direkt von Regierungen unterstützt. So waren in Großbritannien bedürftige Angehörige von internierten enemy aliens, die in Lagern auf Gaben ihrer Mitgefangenen angewiesen waren, berechtigt, bei den zuständigen staatlichen Assistance Boards Hilfsleistungen zu beantragen. Allerdings wurden Zahlungen nur unter bestimmten Bedingungen bewilligt, da die britische Regierung die Internierung grundsätzlich als völkerrechtlich legal betrachtete. Nach einem Gesetz, das 1939 verabschiedet worden war, durften Personen, die vom Einkommen ihrer Familienangehörigen abhingen, auch eine Arbeitslosenhilfe beantragen. Damit konnte allerdings lediglich die akute Not einer begrenzten Gruppe von Betroffenen gelindert werden.183 Auch darüber hinaus blieben die Hilfsleistungen des Vereinigten Königreiches für Internierte begrenzt, da die Kriegführung bei der Zuweisung von Mitteln grundsätzlich Vorrang hatte. Besorgt um die prekäre finanzielle Lage Großbritanniens, lehnte das Schatzamt Geldtransfers in die von Japan besetzten Gebiete außerdem mit Hinweis auf den Warenmangel an den Standorten der Internierungslager ab. Hier musste im Sommer 1943 auch das Rote Kreuz Hilfslieferungen in Britisch-Malaya auf lebensnotwendige Güter wie Arzneimittel, Grundnahrungsmittel und unentbehrliche Kleidungsstücke einschränken.184 Ebenso begrenzte das Treasury den Versand von Paketen, den die Regierung finanzierte, auf Europäer. Demgegenüber wurden Opfer aus Asien übergangen.185 Auch Briten, die zugleich die chinesische Staatsbürgerschaft angenommen hatten, blieben unberücksichtigt. Es kam hinzu, dass die Ansprüche britischer Staatsbürger auf Unterstützungsleistungen im Empire unübersichtlich waren.186 Noch nach dem Krieg konzentrierten sich Entschädigungszahlungen überdies auf Angehörige der britischen Streitkräfte, sofern sie im Krieg loyal gegenüber der Krone geblieben waren. Darüber hinaus gewährten die Kolonialregierungen in Ostasien Angestellten, die von den japanischen Besatzern interniert worden waren, einen Ausgleich. Davon blieben allerdings Einkommen, die infolge der Internierung nicht bezogen werden konnte, ausgenommen. Für Erstattungen, die von der Regierung nicht bereitgestellt werden konnten, erhielt der Woche des Dritten Reiches, München 2020, S. 164–166; Durand, Sarajevo, S. 440, 608; Vance, Central POW Agency, S. 43; Bethstein, Alliance, S. 710, 713, 723, 727 f. 183 NA, CO 323/1795/14 (Schreiben vom 28. Februar 1940); CO 283/1800/8 (Memorandum des Colonial Office und Brief vom 27. August 1939 mit Anlage). 184 NA, CO 980/148 (Telegramm vom 27. August 1943). 185 NA, FO 371/46377, Bl. 2, 47, 72, 98, 110, 121, 142, 155. 186 NA, CO 980/12 (Memorandum vom 6. Juli 1943; Telegramm vom 13. Februar 1942).

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Far Eastern Relief Fund zusätzliche Mittel, so dass Opfer damit indirekt weitere staatliche Leistungen empfingen.187 Der Mangel an Ressourcen zwang die Regierung des Vereinigten Königreiches auch in Frankreich zu Einschränkungen. Dies betraf sogar die Ansprüche von Briten, die 1940 von den schnell vorstoßen deutschen Armeen überrascht, gefangen genommen und interniert worden waren. Nach der Landung der alliierten Truppen in der Normandie gerieten die Lager sukzessive in die Kampfzonen. Insassen befreiter Camps mussten sich einer gründlichen Sicherheitsüberprüfung unterwerfen. Damit sollten noch verdeckt arbeitende Kollaborateure, Spione und Denunzianten identifiziert werden. Amerikaner und Briten unter den Insassen waren nach dem Plan der westlichen Alliierten baldmöglichst in ihre Heimatstaaten zurückzuführen. Allerdings mussten mittellose Internierte von den Militärbehörden und vom Roten Kreuz, das die Camps auch inspizierte, unterstützt werden. Viele von ihnen konnten die Lager nicht sofort verlassen, da sie nicht in der Lage waren, sich zu ernähren. Zudem fehlten den Streitkräften Transportmittel, die durch den weiteren Vorstoß der Truppen nach Mitteleuropa gebunden waren. Insassen, die nicht den alliierten Staaten angehörten, galten als DPs, so im Lager Vittel, dessen Verwaltung die 6. Gruppe der US-Armee übernahm. Die befreiten Internierten schlossen sich nach ihrer Befreiung zur Union des Internés Politiques Etrangers zusammen, um Ansprüche auf Schadensersatz durchzusetzen. In der Pariser Botschaft, die im Dezember 1944 die Nothilfe für Briten von den Schweizer Konsuln übernommen hatte, überprüften Diplomaten deshalb genau die Listen, die in Lagern wie denjenigen in Vittel und St. Denis angelegt und geführt worden waren. Zwar durften britische Internierte und ihre Ehefrauen grundsätzlich Anträge auf Wiedergutmachung stellen. Angesichts der allgemeinen Not in der Nachkriegszeit wurden Hilfsleistungen aber eingeschränkt. So äußerte die Pariser Botschaft 1947/48 Bedenken gegenüber einer umfassenden finanziellen Unterstützung (wie einem Schuldenerlass) für Briten, die in Frankreich interniert worden waren. Zudem entschied die Regierung des Vereinigten Königreiches 1947, nur armen Betroffenen die Rückzahlung von finanziellen Hilfen zu erlassen, die sie während ihrer Internierung über die Schutzmacht aus öffentlichen Mitteln erhalten hatten. Dieses Zugeständnis sollte aber nicht öffentlich verkündet werden, um den Grundsatz der Erstattungspflicht offiziell aufrechtzuerhalten. Diese begründete die britische Regierung erneut mit ihrer Auffassung, dass die deutsche Internierungspolitik in Frankreich völkerrechtlich legitim gewesen sei. Alles in allem erwies

187 NA, FO 371/46377, Bl. 117 f.

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sich humanitäre Hilfe wiederum als selektiv, denn sie war abhängig von den Prioritäten, Normen und Werten der Gebenden.188 Mit dem Hinweis auf das Völkerrecht lehnte auch Außenminister Ernest Bevin nach dem Zweiten Weltkrieg eine Entschädigung für britische Internierte grundsätzlich ab, wenn sie nicht außergewöhnlich schlecht behandelt oder verletzt worden waren. Damit erteilte er Forderungen britischer Staatsbürger, die 1940 in Frankreich von den schnell vorrückenden deutschen Truppen aufgegriffen und festgesetzt worden waren, eine Absage. Hinweise auf Kompensationszahlungen an britische Internierte des Lagers Ruhleben nach dem Ersten Weltkrieg, Proteste von Betroffenen in Paris – organisiert vom Lobbyverband ElbaEuropean League of Britons Abroad – und Presseberichte, u. a. in der Daily Mail, blieben wirkungslos. Vielmehr drängte das Außenministerium auf eine beschleunigte Rückführung der Briten in das Vereinigte Königreich. Die betroffenen Personen sollten vor der Repatriierung allerdings genau überprüft werden, denn Verbrecher und ehemalige Kollaborateure galten als unerwünscht. Die Kontrolle begründeten das Außenministerium, der Geheimdienst und die Polizeibehörden mit dem allgemeinen Hinweis auf die Sicherheit des Vereinigten Königreiches.189

Das Engagement neutraler Staaten Die neutralen Länder, die jeweils die Interessen einzelner kriegführender Staaten und ihrer Angehörigen in den Kriegsgegnern wahrnahmen, waren nicht an die Politik der Regierungen gebunden. Obgleich sie mit diesen kooperierten, trugen sie vielmehr mit einem breiten Spektrum selbständiger Initiativen und Arbeiten zur Gefangenenfürsorge bei. So prüften Schutzmächte wie die Schweiz in enger Abstimmung mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz Internierungslager. Die Zahl und Intensität der Inspektionen war deutlich höher als im Ersten Weltkrieg, da die Kämpfe von 1939 bis 1945 weitere Räume erfassten und wiederholt Kommunikationskanäle zusammenbrachen. Andererseits hatte 188 NA, FO 916/2611 (Schreiben vom 24. Februar, 3. Mai 16. Oktober und 25. November 1947 sowie vom 3. Juli 1948; Auszug aus „Hansard’s Parliamentary Debates“, 4. November 1946); FO 916/2609 (Copy [K 21890/558/217]: „General policy of relief for Britons in France“; Memorandum vom 6. Dezember 1945; „Scheme for the Establishment of a Relief Department of the Consular Section of his Majesty’s Embassy in Paris“); WO 219/1366 („Chronological Order of Events“ vom 8. November 1944; Schreiben vom 3. und 13. Oktober 1944). 189 NA, FO 916/2609 (Memorandum vom 6. Dezember 1945 sowie Briefe vom 27. September und 19. Dezember 1945); FO 916/2610 (Schreiben vom 9. Januar und 31. Dezember 1946; Artikel in der Daily Mail vom 4. Mai 1946; Kopie vom 23. November 1945).

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die Genfer Konvention von 1929 die völkerrechtlichen Anforderungen an einen humanen Umgang mit Kriegsgefangenen und Zivilinternierten erhöht. Überdies standen mehr Mittel zur Unterstützung der Lager zur Verfügung.190 In enger Abstimmung mit dem IKRK hatten einige politische Verfolgte und Juden aus dem „Dritten Reich“ in der Schweiz Zuflucht gefunden, obwohl das Land 1938 die Immigration deutlich einschränkte und 1942 die Staatsgrenze schloss. Von beiden Maßnahmen waren besonders jüdische Flüchtlinge betroffen. Aufgenommene Geflohene wurden in Internierungslagern untergebracht. Mitarbeiterinnen der Kinderhilfe des Roten Kreuzes gelang es zudem, viele Flüchtlinge illegal in die Eidgenossenschaft einzuschleusen. Da sich die 1936 als Dachverband gegründete Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlingshilfe bis 1942 vergeblich um eine Zuwendung des Bundes bemühte, unterstützten einzelne Organisationen wie der Schweizerische Israelische Gemeindebund und der Verband Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen Verfolgte, die in die Eidgenossenschaft kamen und hier in Camps eingewiesen wurden. Ab 1942 engagierte sich auch der Bundesrat bei der Flüchtlingshilfe. Wie dargestellt, trafen alle Geflohenen aus dem „Dritten Reich“ und dem besetzten Europa in der Eidgenossenschaft aber auf eine offizielle Abschottungspolitik und fremdenfeindliche Ressentiments. Dazu trug auch eine Medienberichterstattung bei, in der Auswirkungen der restriktiven Flüchtlingspolitik auf die verfolgten Juden weitgehend ausgeblendet wurden.191

Hilfe für einzelne Gruppen: Kinder und Juden Zahlreiche humanitäre Organisationen halfen einzelnen Gruppen von Verfolgten, von denen viele im Zweiten Weltkrieg interniert wurden. So war in Großbritannien die Unterstützung der 9.354 Flüchtlingskinder, deren Einreise die britische Regierung im November 1938 erlaubt hatte, besonders dringend. Dafür mobilisierte vor allem die Refugee Children’s Movement Hilfe, nachdem Premierminister Chamberlain am 15. November eine Delegation der britischen Juden und der Quäker des GEC um Bertha Bracey und sechs Tage später nochmals eine Abordnung um den Philanthropen (und ehemaligen Militär) Wyndham Deedes (1883–1956) empfangen hatte. Um die jugendlichen Flüchtlinge kümmerte sich besonders das 1936 gegründete Children’s Inter-Aid Committee. Diese Organisation wurde von dem Central Fund for German Jewry, den Lionel de Rothschild (1882–1942) und Simons Marks (1888–1964) gegründet hatten, kräf190 Durand, Sarajevo, S. 441. 191 Tanner, Geschichte, S. 286 f.

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tig unterstützt. Der Fonds trug mit Hilfe des JRC unter Otto Schiff vor allem die Kosten, zu deren Übernahme sich die Hilfsorganisationen bei der Aufnahme der Kinder verpflichtet hatten. Alle Verbände, die sich um die im „Dritten Reich“ verfolgten und anschließend emigrierten Minderjährigen kümmerten, schlossen sich zur Movement for the Care of Children from Germany zusammen, um die Auswahl, den Transport und die Unterbringung der jungen Flüchtlinge zu koordinieren. Listen wurden schon in Berlin und Wien zusammengestellt, Anträge aber in London geprüft. Der Baldwin Fund hatte zwar 235.000 Pfund für die Aufnahme der Kinder gespendet; die Kosten wuchsen aber immens, zumal das Movement wegen der hohen Zahl der Flüchtlinge, die Ende 1938 und Anfang 1939 ankamen, in Dovercourt (bei Harwich) ein gesondertes Auffanglager einrichten musste. In dem Camp wurden besonders ältere Kinder untergebracht. Die private Initiative, auf der das Engagement der Hilfsorganisationen beruhte, unterstützten großzügige Geldgeber, darunter viele Quäker und Methodisten. Die Finanzhilfe sollte aber nicht öffentlich diskutiert werden, da humanitäre Verbände wie das GEC befürchteten, damit antisemitischen Ressentiments im Vereinigten Königreich Auftrieb zu verleihen.192 Zur humanitären Unterstützung von geflohenen Kindern trug in Europa auch das 1912 in St. Petersburg gegründete Oeuvre de Secouraux Enfants (OSE) bei, das 1923 seine Zentrale nach Berlin verlegt hatte. Nach der NS-„Machtergreifung“ musste die Organisation nach Paris ausweichen. In Frankreich richtete das Oeuvre Heime ein, die jüdische Waisen aufnahmen. Auch während der deutschen Okkupation fanden Kinder hier Zuflucht. Dazu wurden ebenso in den südlichen Regionen des Landes, die bis November 1942 von Pétains État français verwaltet wurden, Heime eröffnet. Ende 1943 versorgten und erzogen Mitarbeiter hier 16.000 jüdische Kinder. Damit konnten sie vorerst vor der Internierung und dem Transport in die Konzentrationslager bewahrt werden. Dem OSE gelang es sogar, bereits festgenommene Kinder aus französischen Lagern zu befreien und in anderen Staaten wie den USA unterzubringen, wo sie sicher waren. Seit November 1941 konnte das Oeuvre jedoch nur noch im Rahmen der Union Générale des Israélites de France arbeiten, mit der das Vichy-Regime die jüdische Organisation zu kontrollieren suchte. Das OSE verstärkte daraufhin seine illegale Arbeit und kooperierte mit der Résistance, besonders nachdem seine Kinderheime auf Druck der deutschen Besatzer Anfang 1944 von den Vichy-Behörden geschlossen worden waren. Die Zahl der Minderjährigen, die 192 LSF, FCRA/3 (Protokoll der Sitzung des Germany Emergency Committee vom 22. Mai 1939, S. 1 f.). Vgl. auch Ritchie, Refugees, S. 163; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 33, 131–133; Kushner / Knox, Refugees, S. 154–157; Alter, Refugees, S. 77; Berghahn, Britons, S. 113–115.

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das Oeuvre rettete, ist mit 1.500 veranschlagt worden. Weitere 6.000 Kinder überlebten die deutsche Okkupation mit Hilfe anderer humanitärer Organisationen; rund 11.000 ermordete das NS-Regime aber in Konzentrationslagern.193 Insgesamt überlebten letztlich 75 Prozent der Juden, die im Herbst 1940 in Frankreich gewohnt hatten.194 Das OSE wurde vom JDC finanziert, das sich nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten in Deutschland um jüdische Opfer kümmerte. Diese Gruppe erhielt von dem Dachverband schon im Frühjahr 1933 eine Spende in Höhe von 40.000 Dollar. Die jährlichen Zuwendungen des JDC stiegen bis 1937 auf rund 1,6 Millionen Dollar. Damit empfingen rund zwanzig Prozent der deutschen Juden Wohlfahrtshilfe.195 Dabei arbeitete der Verband eng mit der „Reichsvertretung der Deutschen Juden“ und dem „Zentral-Ausschuss für Hilfe und Aufbau“ (ZA) zusammen, der bereits im April 1933 gebildet worden war. Außer der Wohlfahrtsfürsorge förderte der ZA besonders die Erziehung und Ausbildung deutscher Juden, nicht zuletzt angesichts der erwarteten und auch schon vorangetriebenen Emigration nach Palästina. Zu dem (schwierigen) Transfer der finanziellen Zuwendungen an einzelne Juden im „Dritten Reich“ trug das American Friends Service Committee maßgeblich bei. Obwohl diese Arbeit teilweise illegal war, retteten die Quäker damit vielen jüdischen Opfern ihr Leben. Das JDC war zunächst gegenüber der Auswanderung zurückhaltender als Verbände der Zionisten in den USA, obwohl sich angesichts der vor allem ab 1935/36 zunehmenden Bedrängnis auch die führenden Vertreter der Organisation gezwungen sahen, das Spektrum ihrer Hilfsaktivitäten zu erweitern. 1938 lebten aber noch 380.000 Juden in Deutschland. 20.000 von ihnen wurden von jüdischen Vereinigungen unterstützt, während 82.000 mit Hilfe der nationalsozialistischen Winterhilfsorganisation überlebten. Erst nachdem die Reichspogromnacht im November 1938 gezeigt hatte, dass die Lage der deutschen Juden aussichtslos war, setzten sich in den jüdischen Hilfsorganisationen die Zionisten durch. Zugleich schnellte die Einwanderung nach Palästina trotz der weiterhin strikten Abwehrpolitik der britischen Mandatsmacht in den späten 1930er Jahren hoch. So erreichten das Land 1938 7.187 deutsche und österreichische Juden, deren Zahl sich im vorangegangenen Jahr noch auf 3.494 belaufen hatte. Bis Ende 1938 fanden insgesamt 44.537 jüdische Vertriebene aus dem „Dritten Reich“ in Palästina Zuflucht.196

193 Bauer, My Brother’s Keeper, S. 172–176; Berghahn, Britons, S. 134–136. 194 Zu den Gründen: Jacques Semelin, Persecutions et Entraides dans la France Occupée. Comment 75 % des Juifsen France ont Échappé à la Mort, Paris 2013, bes. S. III-VIII, 799–855. 195 Angaben nach: Bauer, My Brother’s Keeper, S. 124 f., 127. 196 Zu den Angaben: ebd., S. 127, 137, 163.

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Insgesamt half das JDC bis Ende 1939 rund 110.000 Juden und im Zweiten Weltkrieg bis 1944 weiteren 81.000 Verfolgten bei der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Auch nach Hitlers Kriegserklärung an die USA setzten sich einzelne Personen, die – wie der Schwede Raoul Wallenberg – im Auftrag der Hilfsorganisation arbeiteten, für verfolgte Juden ein. Nach dem Kriegsende unterstützte der Verband schließlich Juden, die z. T. in weit entfernte Regionen und Städte wie Shanghai geflohen waren und dort den Holocaust überlebt hatten. Außer der Fürsorge kümmerte sich der JDC in der Nachkriegszeit auch um die Weiterwanderung.197 Auf jüdische Opfer konzentrierte sich auch die Arbeit der Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society (HIAS), die 1891 in New York gegründet worden war und zunächst Einwanderern aus Russland half. Nach dem Ersten Weltkrieg verlagerte sie ihr Arbeitsfeld, indem sie nunmehr die Auswanderung von Juden aus Europa betrieb. Dazu arbeitete sie mit anderen Organisationen in einem Netzwerk zusammen, aus dem 1927 die HICEM hervorging. Der neue Dachverband, unter dem die HIAS für die Emigration in die Vereinigten Staaten zuständig blieb, unterstützte die Flucht von Juden aus Deutschland und Österreich. Nach dem Pogrom vom November 1938 stieg die Zahl der Flüchtlinge aber so sprunghaft, dass die Mittel der Organisation kaum noch ausreichten, um die Weiterwanderung von Juden aus anderen europäischen Ländern wie den Niederlanden zu fördern. Bis 1940 unterhielt die HICEM in Paris ihre Zentrale, aber darüber hinaus Zweigstellen in ganz Europa, in Südamerika und im Fernen Osten, um Flüchtlinge bei der Emigration zu beraten und zu unterstützen. Überdies inspizierte die HICEM 1939/40 Internierungslager in Frankreich. Im Camp des Milles konnte sie sogar ein eigenes Büro einrichten, um die Emigration von 1.000 inhaftierten Juden zu koordinieren. Nach der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen arbeitete die Organisation vor allem im südlichen „Freien Frankreich“. Hier unterstützte der Verband bis Mai 1942, als die Auswanderung eingestellt werden musste, mit der Vorbereitung von Lagerinsassen auf die Auswanderung und Remigration die Politik des Vichy-Regimes, das sich bemühte, die Internierten – darunter auch die spanischen Republikaner – in ihre Heimatländer zurückzuführen oder nach Palästina abzuschieben. Nachdem das französische Innenministerium im November 1942 verboten hatte, Juden Visa zu erteilten, blieb nur noch die Flucht über Lissabon. Hier besorgte die HICEM – wie schon zuvor – Flüchtlingen Ausreisegenehmigungen und Fahrkarten für portugiesische Schiffe. Obwohl der Verband 1945 aufgelöst wurde, kümmerte sich die

197 Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 136 f.

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HIAS in den darauffolgenden Jahren noch um die Überlebenden des Holocaust.198

Bilanz und Ausblick Im Zweiten Weltkrieg entzog sich die Internierung von Zivilisten teilweise der humanitären Kontrolle. Die nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes waren vor allem in den Diktaturen Instrumente der Regimes. Besonders die japanischen Militärs und die Nationalsozialisten hatten die Rotkreuz-Gesellschaften in ihren Ländern schon in den dreißiger Jahren zu einem nationalistischen Hilfsverband degradiert. Im Februar 1942 versprach das japanische Militärregime zwar, die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 auf alle gefangenen Zivilisten der Kriegsgegner anzuwenden, obwohl das Inselreich das Abkommen nicht ratifiziert hatte. Diese Zusage bezog sich auch auf das IKRK, das aber in den eroberten Gebieten Ost- und Südostasiens nur wenige Lager besichtigen konnte. Vergeblich drängte Paravicini bis zu seinem Tod im Februar 1944 die japanischen Militärs, grundlegende humanitäre Standards einzuhalten. Sogar Informationen über Gefangene vermochte das Genfer Komitee von Japan nur mühsam zu erhalten. Auch wurden Sendungen an Zivilinternierte oft verweigert oder in den Camps von den Wachen geplündert. Darüber hinaus lehnten Kommandanten Gesuche gefangener Zivilisten um Beistand der Schutzmächte (beispielsweise der Schweiz für US-Bürger nach den Artikeln 42 und 43 der Genfer Konvention) ab. So wurden von Juni 1943 bis Mai 1944 wiederholte Anfragen eidgenössischer Diplomaten, die genaue Angaben über die Zahl der internierten Amerikaner und Besuche der Lager verlangten, vom japanischen Außenministerium zurückgewiesen. Die Behandlung der Gefangenen war unterschiedlich, aber vielerorts brutal. Besonders die Zwangsarbeit festgesetzter alliierter Soldaten beim Bau einer Eisenbahnstrecke von Thailand nach Burma 1942/43 unter unerträglichen Bedingungen forderte rund 12.500 Opfer, darunter etwa 6.300 Briten. Es handelte sich dabei eindeutig um ein Kriegsverbrechen.199 Die Nachkriegsprozesse in Ostasien – vor allem das Tribunal in Tokio von 1946 bis 1948 – zeigten schließlich auch das Ausmaß der Morde und Verbrechen, die vor und während des Zweiten Weltkrieges von japanischen Armeeverbänden gegen wehrlose Zivilisten begangen worden waren. Hinweise Japans auf die Inter198 Bauer, My Brother’s Keeper, S. 141; Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 137– 139, 180–182; Eggers, Ausländer, S. 124–126; Moore, Refugees, S. 94. 199 Hierzu und zum Folgenden: Checkland, Humanitarianism, S. 87, 90, 108, 111 (Angabe), 136 f.; Cogan, Captured, S. 59–61, 111, 119; Jacob, Japanese War Crimes, S. 123–128.

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nierung der Issei und Nisei in den USA, mit denen die Behandlung gefangener Amerikaner gerechtfertigt werden sollten, waren unbegründet, da die USA Inspektionen neutraler Staaten (so Repräsentanten Schwedens) und humanitärer Organisationen wie des Roten Kreuzes und der Quäker zuließ. Wie dargelegt, wurden auch Übergriffe einzelner Kommandanten und Soldaten – beispielsweise in Lordsburg (New Mexico) gegen Zivilinternierte verfolgt. Die USA hatten Japan überdies zugesichert, nach dem Grundsatz der Reziprozität vorzugehen. Die Festnahme, Deportation und Internierung von rund 110.000 Japanern in den USA während des Zweiten Weltkrieges waren damit zwar weniger gravierend als die Morde der japanischen Militärführung. Dennoch muss der Hinweis der Roosevelt-Administration auf die Sicherheit der Vereinigten Staaten als Vorwand gewertet werden, denn es wurden auch Kleinkinder festgesetzt. Wirtschaftliche Motive, aber auch rassistische Vorurteile gegen die Japaner und Amerikaner japanischer Herkunft beeinflussten die Politik der US-Regierung nachhaltig. Darüber hinaus griff sie auf die langjährige Diskriminierung der Nisei und Issei zurück, die sie nicht nur verlängerte, sondern noch radikalisierte.200 In Großbritannien ließen die Behörden ab Sommer 1940 eine Versorgung der inhaftierten zivilen Feindstaatenangehörigen zu. Dabei galt das Augenmerk besonders den Flüchtlingen, die aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei vor den Nationalsozialisten geflohen waren. Vor allem für diese Gruppe, die im Ersten Weltkrieg nicht unter den Internierten gewesen war, stellen Hilfsorganisationen wie die Free German League of Culture, das Artists’ Refugee Committee (das schon seit Ende 1938 tschechischen Künstlern geholfen hatte) und die Artists’ International Association den Postverkehr und lebensnotwendige Güter, aber auch berufsbezogene Gegenstände wie Bücher, Pinsel und Tinte zur Verfügung. Diese Gaben wurden zu den Lagern transportiert und dort verteilt. Das IKRK versorgte auch in Deutschland und Westeuropa internierte Briten. Dabei mussten die Zoll- und Zensurbestimmungen, die im Vereinigten Königreich galten, strikt eingehalten werden. Die erforderliche Lizenz konnte das britische Handelsministerium dem Roten Kreuz und den anderen Hilfsorganisationen jederzeit entziehen. Außer den deutschsprachigen enemy aliens wurden auch internierte Japaner gut versorgt, um damit nach dem Reziprozitätsprinzip eine ausreichende Versorgung der oft Not leidenden britischen Staatsbürger zu erreichen, die in Ostasien in die Hand japanischer Truppen gefallen waren.201

200 Pistol, Internment, S. 70, 134. Übersicht über die Tokioter Kriegsverbrecherprozesse in: Jonathan F. Vance, Tokyo War Crimes Trials, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 291 f. Allgemein auch: Moore / Fedorowich, Prisoners of War, S. 7. 201 NA, CO 980/12 (Telegramm vom 7. März 1942); CUST 106/336 („Information to Foreign Govts. + Intl. Red Cross as to individual internees“); LSF, FRCA/25/1 (undatiertes Schreiben

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Die Zivilisten, die im Zweiten Weltkrieg interniert, gefoltert oder sogar ermordet wurden, waren aber ebenso wenig ausschließlich passive Opfer wie Flüchtlinge, verfolgte Minderheiten und Kriegsgefangene. Diese Perspektive, die in der Forschung und Geschichtsschreibung zum Humanitarismus lange fortgeschrieben worden ist, wird dem Handeln der betroffenen Personen nicht gerecht, die oft aktiv versuchten, Übergriffe abzuwehren, ihr Überleben in Bedrängnis zu sichern, Spielräume zu erweitern, Selbsthilfe zu entwickeln und Unterstützung von außen zu mobilisieren. Zudem bemühten sie sich vielfach erfolgreich, den Kontakt zu Angehörigen, humanitären Organisationen und Schutzmächten herzustellen, um die Aufmerksamkeit auf ihr Leiden zu lenken.202 Wie schon angedeutet, engagierten sich vor allem die internationalen Hilfsverbände auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit für ehemalige Internierte, die sich vielerorts noch in Lagern befanden. Bei den Insassen handelte es sich um politisch oder rassisch Verfolgte, Zwangsarbeiter, und Verschleppte, die sich infolge des Zweiten Weltkrieges außerhalb ihres Heimatlandes aufhielten. In den ersten Wochen nach der Kapitulation des „Dritten Reiches“ übernahmen die Besatzungsmächte die Verantwortung für diese Kriegsopfer. Dabei verdrängten sie das IKRK, deren Aktivitäten nunmehr die UNRRA koordinierte. Sie war im November 1943 gegründet worden, um verschleppten und geflohenen Kriegsopfern zu helfen und für ihre Rückführung zu sorgen. Diese Organisation stellte den Displaced Persons die dringend benötigten Nahrungs- und Arzneimittel zur Verfügung, denn in den Lagern herrschten weiterhin Hunger und Krankheiten. Bis 1946 übergaben die USA, Frankreich und die USA in ihren Besatzungszonen der UNRRA auch die Verwaltung der DP-Lager, für die Ende 1947 die IRO zuständig wurde.203 Diese kooperierte ebenso wie die UNRRA mit humanitären Organisationen, vor allem dem American Jewish Joint Distribution Committee, dem YMCA, den Quäkern und dem IKRK. So arbeiteten 1946 in Deutschland allein 160 Friends. Darunter war Elizabeth Fox Howard (1873–1957), die das Heim der Quäker in des Artists Refugee Committee und Brief vom 1. Januar 1939). Vgl. auch Brinson / Müller-Härlin / Winckler, Internee, S. 9. 202 Allgemein: Robinson, Nature, S. 8 f. 203 NA, WO 32/11678 (Brief von W. H. Gardner, Foreign Office, an M. N. Burckhardt vom 13. Juli 1945); FO 916/938 (Vermerk „Activities of International Red Cross Committee after cessation of hostilities“; Telegramme vom 14. und 17. Mai 1945; Brief vom 9. August 1945). Umfassend: Mark Wyman, DPs: Europe’s Displaced Persons, 1945–1951, Ithaca 1998; Jacobmeyer, Zwangsarbeiter, bes. S. 63–84, 244–253; Juliane Wetzel, „Displaced Persons“. Ein vergessenes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 7–8/95, 10. Februar 1995, S. 34–39.

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Bad Pyrmont wiedereröffnete.204 Während die Unterstützung der DPs in der Society of Friends unumstritten war, lehnten viele Quäker den Vorschlag, ehemaligen Nationalsozialisten ebenfalls zu helfen, entschieden ab. Viele NS-Funktionäre waren verhaftet worden und saßen nach dem Kriegsende in gesonderten Internierungslagern ein. Auch Deutschen, die aus Osteuropa vor der Roten Armee geflohen waren, stellte die Society of Friends nach einigen Kontroversen keine Hilfsleistungen zur Verfügung.205 Obwohl das Lagerregime für die DPs ähnlich war und die Insassen ebenfalls bewacht wurden, unterschieden sie sich hinsichtlich ihres völkerrechtlichen Status von den Internierten, die zudem nicht vorrangig in ihre Heimatstaaten zurückgeführt, sondern während der beiden Weltkrieges in den jeweiligen Staaten festgehalten werden sollten. Demgegenüber konnten bis Ende 1948 mehr als elf Millionen DPs in ihre Heimatländer gebracht werden. Die anderen blieben bis 1952 in den Lagern, da sie entweder mittellos waren oder – wie die ehemaligen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion – zu Recht fürchteten, als Kollaborateure beschuldigt und verfolgt zu werden. Die 50.000 bis 75.000 überlebenden KZ-Häftlinge verließen Deutschland zwar überwiegend; zugleich wanderten in den Nachkriegsjahren aber Juden ein, die in Osteuropa verfolgt wurden. Die westlichen Besatzungsmächte brachten diese Flüchtlinge in gesonderten Lagern unter. Die Unabhängigkeitserklärung Israels 1948 beschleunigte schließlich die Abwanderung dieser Opfer. Allein von Januar bis November 1949 ging die Zahl der jüdischen DPs in Westdeutschland von 64.000 auf 15.000 zurück. Gleichzeitig blieben von 48 Camps lediglich neun. Das letzte Lager für Juden wurde erst 1957 in Föhrenwald (Oberbayern) geschlossen. Tausende DPs blieben in der Bundesrepublik, in der DDR oder in Österreich. Weitere fanden in Staaten wie Großbritannien, Kanada, Australien oder in südamerikanischen Ländern Aufnahme.206 Jüdische Opfer der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges wurden besonders vom JDC unterstützt. Die nationalsozialistischen Machthaber hatten die Gemeinden der Juden in Deutschland weitgehend ausgelöscht, von denen zwischen 165.000 und 180.000 ermordet worden waren. Weitere 230.000 deutsche Juden hatten sich zur Emigration aus dem „Dritten Reich“ gezwungen gesehen.207 Umgekehrt kamen schon unmittelbar nach 1945 jüdische Bewohner aus osteuropäischen Staaten, in denen – so im polnischen Kielce 1946 – Pogrome 204 LSF, YM/MfS/FRS/1992/19 (Meeting of Sufferings vom 5. Juli 1946). 205 LSF, YM/MfS/FRS/1992/71; LSF, YM/MfS/FRS/1992/72. 206 Angaben nach: Brinson / Kaczynski, Fleeing from the Führer, S. 192; Ormerod Greenwod, Quaker Encounters, Bd. 1, S. 317; Ullrich, Fünf Tage, S. 168. Zum Lager Föhrenwald und zur UNRRA bzw. zur IRO: Königseder / Wetzel, Waiting for Hope, S. 5, 64–66, 95–166, 226. 207 Angaben nach: ebd., S. 5.

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stattfanden, nach Westdeutschland. Angesichts der Not aller Flüchtlinge stiegen die Ausgaben des JDC 1946 für Hilfsleistungen gegenüber dem Vorjahr um das Zehnfache, und 1947 erreichten sie mit mehr als neun Millionen Dollar ein enormes Ausmaß.208 Darin war die Unterstützung der Emigration eingeschlossen, die auch die HIAS förderte. Allerdings trafen die Organisationen dabei weiterhin auf den Widerstand der britischen Regierung, die den Zugang zu Palästina bis zur Gründung Israels kontrollierte. Die Auswanderung von Juden in die USA war zwar leichter; aber auch hier sahen sich die Organisationen mit erheblichen Barrieren konfrontiert. Überdies waren die jüdischen Vereinigungen gespalten. Die Differenzen zwischen west- und osteuropäischen Juden und ihre unterschiedlichen Erfahrungen von Nationalsozialismus und Krieg trennten sie ebenso wie die Politisierung der jüdischen Überlebenden des Holocaust (She’erit Hapletah). Die angestrebte Einheit in den Zentralkomitees der Opferverbände, die zunächst in den Ländern und anschließend in der US-Besatzungszone gegründet wurden, war unter diesen Bedingungen illusorisch.209 Auf Kontinuitäten und Brüche in der Internierungspolitik verweist auch die Inhaftierung ehemaliger Nationalsozialisten in den alliierten Besatzungszonen in Deutschland in den ersten Jahren nach 1945. Insgesamt wurden 400.000 Deutsche festgenommen, die dieser Gruppe angehörten, davon 170.000 in der amerikanischen, nahezu 100.000 in der britischen und 21.500 in der französischen Zone. Die sowjetischen Besatzungsorgane verhafteten rund 154.000 Personen, darunter 16.000 auf der Grundlage vorangegangener Urteile von Militärtribunalen. Dabei folgten vor allem die örtlichen Militärbefehlshaber unter dem Druck der (oft unberechenbaren und diffusen) zentralen Direktiven vielerorts einem hypertrophen Sicherheitsdenken, das vorrangig auf den eigenen Schutz vor Strafen zielte.210 Bei den Verhafteten handelte es sich um Zivilisten, die in bewachte Lager eingewiesen wurden. Im Allgemeinen erfolgte die Internierung im besetzten Deutschland pauschal und überwiegend ohne Einzelfallprüfung. Zudem sollte damit – wie bereits angedeutet – die Sicherheit der alliierten Truppen gewährleistet werden. Jedoch sind im Vergleich mit der Festsetzung unschuldiger Zivilisten im Zweiten Weltkrieg auch deutliche Unterschiede zu betonen. Viele der 208 Angaben nach: ebd., S. 62. 209 Ebd., S. 66–94. 210 Andrew Beattie, Die alliierte Internierung im besetzten Deutschland und die deutsche Gesellschaft. Vergleich der amerikanischen und britischen Zone, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2014), S. 239–256, hier: S. 239; Ralf Possekel, Stalins Pragmatismus: Die Internierungen in der SBZ als Produkt sowjetischer Herrschaftstechniken, in: Peter Reif-Spirek / Bodo Ritscher (Hg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Berlin 1999, S. 149–181, hier: S. 179.

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festgenommenen Nationalsozialisten hatten sich durch die aktive Unterstützung der Diktatur diskreditiert, selber an der Unterdrückung von (tatsächlichen oder vermeintlichen) Gegnern teilgenommen und mussten deshalb zur Verantwortung gezogen werden. Alles in allem folgte auch die Internierung ehemaliger Nationalsozialisten jedoch keineswegs durchweg humanitären Grundsätzen. So versuchten die US-Besatzungsbehörden noch 1947, Lagerinspektionen des IKRK zu verhindern. Im Allgemeinen durften Hilfsorganisationen die Inhaftierten in den westlichen Zonen aber besuchen und versorgen. Auch Pfarrer und das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland wurden in die Camps gelassen. Während die Westmächte die meisten Verhafteten bis 1948 entließen, wurden die Speziallager in der sowjetischen Zone erst 1950 aufgelöst. Auch verlor die Internierungspolitik hier noch schneller ihre sicherheitspolitische Funktion, denn die UdSSR ließ zunehmend auch einfach politische Gegner der sowjetischen und deutschen Kommunisten verhaften. Generell unterschied sich die Lagerhaft früherer Nationalsozialisten aber in allen Besatzungszonen grundsätzlich von der Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger, die während des Zweiten Weltkrieges vorrangig darauf abgezielt hatte, den gegnerischen Staaten wehrfähige Männer zu entziehen oder Verrat und Spionage durch „innere Feinde“ zu verhindern.211

211 Beattie, Internierung, S. 241–244, 253. Übersicht in: Wolfram von Scheliha, Soviet Special Camps in Germany, in: Vance (Hg.), Enyclopedia, S. 276 f.

8 Fazit: Der Umgang mit „inneren Feinden“ in den beiden Weltkriegen zwischen Sicherheitskonstruktionen und Humanitätspostulaten Die Dominanz der Sicherheitspolitik gegenüber humanitärer Hilfe Alles in allem blieb das Engagement der nationalen und internationalen humanitären Organisationen und Aktivisten angesichts der weitgespannten Sicherheitspolitik, die in den beiden Weltkriegen vorherrschte, begrenzt. Zwar ließen das Reziprozitätsprinzip im Allgemeinen und die Furcht aller kriegführenden Regierungen vor Repressalien gegen eigene Staatsbürger im Besonderen den Verbänden einen Spielraum für ihre Hilfsleistungen. Auch nahmen die Entscheidungsträger in vielen Ländern Rücksicht auf die öffentliche Meinung, besonders in den neutralen Staaten, die als Schutzmächte mit der Fürsorge für Gefangene betraut waren und jeweils für die eigene Politik eingenommen werden sollten. Nicht zuletzt propagierten die Regierungen einzelner Staaten – so Japans im Ersten Weltkrieg – ihre humane Behandlung von Zivilinternierten sogar als nationale Mission, die sie als Mittel ihrer Außenpolitik einsetzten. Insgesamt aber herrschte der Grundsatz nationalstaatlicher Souveränität nahezu unumschränkt vor. Er bestimmte die sicherheitspolitischen Maßnahmen. Unter diesen Umständen bildete sich eine „Internationale des menschlichen Gewissens“ in den beiden totalen Kriegen des 20. Jahrhunderts nicht heraus.1 Zweifellos litten in den beiden Weltkriegen viele Zivilisten unter der Repressionspolitik der jeweiligen gegnerischen Staaten. Internierungen, Enteignungen, Deportationen und sogar Morde wurden von den beteiligten Staaten vor allem mit dem Hinweis auf die „nationale Sicherheit“ begründet. So weist die Internierungspraxis im Ersten Weltkrieg in vielen Ländern eine administrative und personelle Kontinuität zum zweiten globalen Konflikt auf. Dazu gehören nationale Pfade in der Sicherheitspolitik wie die Konfinierung von Feindstaatenausländern und der Wirtschaftskrieg gegen sie in Italien.2 Dennoch sollten die deutlichen Unterschiede nicht ausgeblendet werden. Beispielsweise differierten die Internierungen hinsichtlich ihrer Ausmaße, der Opferzahlen und der Ursachen. Besonders die Verfolgung und Ermordung von Juden und politischen Gegnern des Nationalsozialismus hoben sich deutlich vom Umgang mit Feindstaatenangehörigen in den Jahren von 1914 bis 1918 ab,

1 Doegen, Völker, S. 227. 2 Caglioti, Germanophobia, S. 148. https://doi.org/10.1515/9783110529951-008

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als die Lebensbedingungen in den Lagern im Allgemeinen erheblich besser waren als im Zweiten Weltkrieg. In der Sowjetunion wurden von 1941 bis 1948 nahezu alle Deutschen deportiert, besonders aus der Autonomen Wolgarepublik, der Ukraine und von der Krim. Aber auch in Demokratien gingen die Regierungen im Zweiten Weltkrieg rigoros mit zivilen Feindstaatenangehörigen um. Allerdings war das Vorgehen im Einzelnen unterschiedlich. So hob sich die Masseninternierung in Frankreich 1939/40 klar von ähnlichen Prozessen in Großbritannien, Belgien und den Niederlanden ab. Auch die pauschale Internierung von rund 110.000 Amerikanern japanischer Abstammung in den USA verstieß gegen fundamentale Menschenrechte. Dennoch erklärte der Supreme Court diese repressive Maßnahme noch 1944 für legal.3 Demgegenüber wurden in Großbritannien 1940 Advisory Boards eingerichtet, die Internierungen prüften. Nur nach der überraschend schnellen Eroberung Frankreichs durch die deutschen Truppen gewannen Bedrohungsängste deutlich die Oberhand gegenüber humanitärer Rücksichtnahme. Als die unmittelbare Invasionsgefahr 1941 gebannt schien, empfahlen die Gremien dem Innenministerium schließlich in vielen Fällen, internierte enemy aliens oder sogar britische Anhänger des nationalsozialistischen Deutschlands und des faschistischen Italiens freizulassen. Diese Entscheidung verweist auf den gewachsenen Rechtfertigungsdruck in den Jahren von 1939 bis 1945. Alles in allem sollten Sicherheitsargumente aber in beiden Weltkriegen in zahlreichen Staaten die Internierung von Feindstaatenangehörigen rechtfertigen. Dabei galten z. T. sogar Eingebürgerte als „Fremde“, denen misstraut wurde. Oft verdeckten offizielle Sicherheitsargumente aber andere Ziele, so die Russifizierung im Zarenreich und in der Sowjetunion. Nicht zuletzt wurden unter dem Deckmantel der „nationalen Sicherheit“ vielerorts Minderheiten ausgeraubt, lästige Konkurrenten entfernt und alte Rechnungen beglichen.4

3 Zu den markanten Unterschieden zwischen den Deportationen im Ersten und Zweiten Weltkrieg in Russland bzw. in der Sowjetunion: Dahlmann, Deportation, S. 103, 113. Zu Frankreich: Caron, Asylum, S. 245. 4 Tony Kushner / David Cesarani, Alien Internment in Britain During the Twentieth Century: An Introduction, in: dies. (Hg.), Internment, S. 1–22, hier: S. 1, 5., 7 f., 10 f.; dies., Conclusion and Epilogue, in: ebd., S. 210–216; Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 182; Jones, A Missing Paradigm?, S. 43; Kramer, Prisoners, S. 76; Leidinger / Moritz, Der Erste Weltkrieg, S. 98; Panayi, Germans, S. 24 f.; Jahr, Feriengäste, S. 243 f. Zu Deutschland: Mai, „Verteidigungskrieg“, S. 583, 595.

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Der Erste Weltkrieg als Präzendenzfall und die Singularität der NSRepressions- und Vernichtungspolitik von 1939 bis 1945 Rücksichtnahmen im Umgang mit Zivilisten waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg beseitigt worden. Im Kampf gegen die Buren hatte vor allem Großbritannien die Gefangenschaft von Soldaten auf Zivilisten ausgeweitet, die kollektiv (d. h. ohne Prüfung der einzelnen Personen) der Subversion beschuldigt und präventiv interniert wurden. Horatio Kitchener, der in Südafrika für die Lager verantwortlich war, kontrollierte im Ersten Weltkrieg als Kriegsminister bis zu seinem Tod 1916 ein globales Netz von Camps, in denen zivile Feindstaatenangehörige ohne Anklage und unbefristet unter z. T. erbärmlichen Lebensbedingungen litten. Auch über Großbritannien hinaus hatte sich in der westlichen Welt vor dem Ersten Weltkrieg eine Praxis der Internierung herausgebildet, die in den Kolonien erprobt worden war. Der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit, aber auch die enge Verschränkung von Migration, Staatsbürgerschaft und Nationalität radikalisierten in den Jahren von 1914 bis 1918 schließlich den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen. Verschwörungsvorstellungen und grobe Feindbilder kennzeichneten den Kriegsnationalismus, in dem Staatsbürgerrechte ethnisch definiert und aufgeladen wurden. Als auch die Unterschiede zwischen Soldaten und Zivilisten verschwammen, radikalisierten die Regierungen ihre Sicherheitspolitik. Ihre Träger beriefen sich auf „militärische Notwendigkeiten“ und nahmen koloniale Repressionspraktiken auf. Allerdings waren die Verhältnisse in Lagern in West- und Mitteleuropa in den Jahren von 1914 bis 1918 im Allgemeinen besser als in den Kolonien, wie der Vergleich mit dem Vorgehen in Südafrika zeigt. Die britische Regierung war nach der überaus kritischen Berichterstattung über die Behandlung der Buren bemüht, in der Kriegspropaganda der „Mittelmächte“ nicht erneut als unmenschlich agierende, arrogante Großmacht gebrandmarkt zu werden. Die Todesrate unter deutschen Internierten und Kriegsgefangenen war in den Jahren von 1914 bis 1918 deshalb im Vereinigten Königreich niedrig. Aber auch in Deutschland hoben sich die Lebensbedingungen u. a. in Ruhleben positiv von dem Leiden der Buren in den südafrikanischen Lagern ab, wie Emily Hobhouse bei ihrer Inspektion 1916 feststellte.5 Jedoch wurden bereits im Ersten Weltkrieg nicht nur gegnerische Staatsangehörige verdächtigt und unterdrückt, sondern auch eigene Bürger, wie besonders die umfassenden Deportationen in Russland und in Österreich-Ungarn zeigten. Damit waren Formen der Repression von Zivilisten vorweggenommen, die den Zweiten Weltkrieg kennzeichnen sollten. Dazu gehörten auch „ethni5 Forth, Barbed-Wire Imperialism, S. 219–221; Leonhard, Frieden, S. 1269–1271.

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sche Säuberungen“ und der Genozid an den Armeniern. Allerdings erreichte die Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg – vor allem in Europa – ein ungeahntes Ausmaß. Vor allem das nationalsozialistische Deutschland steigerte die Repressions- und Vernichtungspolitik, für die auch modernste technische Mittel eingesetzt wurden. Sie gipfelte in der systematisierten Ermordung der Juden. Aber auch für Zivilisten, die als Angehörige gegnerischer Staaten weitgehend nach den Regeln des Kriegsvölkerrechtes behandelt wurden, waren die Bedingungen in den Lagern von 1939 bis 1945 im Allgemeinen schlechter als im Ersten Weltkrieg.6 Dennoch hatte die Gewalt, die sich gegen andere Minderheiten und zivile Feindstaatenangehörige richtete, schon in den Jahren von 1914 bis 1918 humanitäre Barrieren beseitigt. Die Repression „innerer Feinde“ im Allgemeinen und ziviler Staatsangehöriger im Besonderen war in vieler Hinsicht beispiellos. Die dauerhafte Internierung dieser Gruppen erforderte zudem erhebliche Ressourcen. Im Rahmen der Kriegskultur entwickelten sich grenzüberschreitende Netzwerke von Lagern, deren Insassen vor allem die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs wiederholt verschoben. Damit waren Präzedenzfälle geschaffen worden, auch für internationale Beziehungen und Transfers in totalen Kriegen. Zudem hatte sich die Balance zwischen Sicherheit und Humanität deutlich zugunsten der Sekurität verschoben. Insofern kann die Gewalt, die „innere Feinde“ im Ersten Weltkrieg traf, nicht von der Repressions- und Vernichtungspolitik der Faschisten, Nationalsozialisten und Stalinisten getrennt werden. Ihre radikalen Maßnahmen innerer und äußerer „Säuberungen“, die von 1941 bis 1945 in der Ermordung von Völkern, Minderheiten und anderen verteufelten „Fremden“ eskalierten, gingen aber auch aus den blutigen Konflikten hervor, die nach dem Waffenstillstand und den Friedensverträgen von 1919 geführt wurden und z. T. die Kämpfe des Ersten Weltkrieges fortsetzten. Dabei knüpfte das NS-Regime besonders an den Mythos der Freikorps an.7 In den multiethnischen Imperien mobilisierte zunächst das Leitkonzept von der „Selbstbestimmung“ der Völker, das 1917/18 gleichermaßen von Lenin und Wilson verkündet wurde, die Minderheiten. Auf ihrem „Kongress der Völker des Ostens“ in Baku riefen die Bolschewiki die Bewohner der Kolonien ausdrücklich zum Befreiungskampf auf. Zugleich begründete die Leitvorstellung von der nationalen Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg Vertreibungen, Deportationen und „ethnische Säuberungen“. So entwurzelte der Vertrag von Lausanne 6 Horne / Kramer, War, S. 160–162; Holquist, Role, S. 68; Rachamimov, POWs, S. 107. 7 Aristotle Kallis, Genocide and Fascism. The Eliminationist Drive in Fascist Europe, New York 2009, S. 85 f., 98 f., 105, 107, 111–113, 311–317; Lieb, Krieg, S. 500; Stibbe, Civilian Internment, S. 292 f.; 306.

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vom 24. Juli 1923 in der Türkei rund 1,2 Millionen Griechen und in Griechenland 400.000 Muslime. Indem Menschenrechte nicht mehr individuell verstanden, sondern kollektiv gefasst und auf Nationen bezogen wurden, ordneten sie Regierungen nach 1918 noch deutlicher der „Sicherheit“ unter als schon während des Ersten Weltkrieges. Demgegenüber setzten sich Politiker und Aktivisten, die – wie der französische Diplomat und Jurist René Cassin – auf eine klare Unterscheidung zwischen individuellen Menschenrechen und kollektiven Rechten drängten, nicht durch.8 Allerdings führte kein direkter Weg vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, auch nicht im Hinblick auf den Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen. Vielmehr begründete die neue Ordnung, die aus den Pariser Vorortverträgen hervorgegangen war, durchaus Hoffnungen auf eine friedlichere und gerechtere Welt, besonders nachdem die Nachkriegsunruhen und die damit verbundene Gewalt in der Mitte der zwanziger Jahre zurückgegangen waren. Die Stabilisierung von Demokratien und die multilaterale Kooperation im Völkerbund verliehen Erwartungen, Kriegsgewalt eindämmen zu können, zumindest vorübergehend Auftrieb. So gingen mit der Erweiterung des Humanitätsverständnisses nach 1918 Bemühungen zum Schutz von Zivilisten einher. Das Scheitern dieser Initiativen – z. B. die Ansätze im Genfer Abkommen 1929 und auf der Konferenz von Tokio 1934 – trug zu dem Zukunftspessimismus und den Sicherheitsängsten bei, die sich angesichts der neuen Kriege und der offenkundigen Schwäche des Völkerbundes in den dreißiger Jahren Bahn brachen. Die Entwicklung vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg war damit durchaus kontingent.9 Auch ging der Repressionsapparat des NS-Regimes nicht direkt aus den Feindkonstruktionen und der Sicherheitspolitik hervor, die in den Jahren von 1914 bis 1918 von der deutschen Reichsleitung durchgesetzt worden war. Zwar hatten die Nationalsozialisten die Niederlage im Ersten Weltkrieg auf „Verrat“ durch „innere Feinde“ zurückgeführt, welche die Polizei – ab 1939 das Reichssicherheitshauptamt – im zweiten globalen Konflikt rigoros beseitigen sollten. Jedoch hatte die Semantik des „Verrats“ von 1914 bis 1918 auch in anderen Staaten wie Frankreich die Kriegspropaganda gegen Feindstaatenangehörige und andere angeblich illoyale Gruppen gekennzeichnet. Trotz personeller und inhaltlicher Kontinuitäten hebt sich der extreme Rassismus der Nationalsozialisten aber von den Verschwörungsvorstellungen ab, die im und nach dem Ersten Weltkrieg von radikalen Nationalisten verbreitet worden waren. Im Gegensatz 8 Nathaniel Berman, There’s no Place Like Home Domicile. René Cassin and the Aporias of Modern Interational Law, in: Loeffler / Paz, Law, S. 204–218; Weitz, Vienna, S. 1313 f., 1330– 1332, 1341 f.; ders., Self-Determination, S. 468, 487–492. 9 Bauerkämper, Twisted Road; Brückner, Hilfe, S. 80–82; Frie, 100 Jahre, S. 114.

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zu den 1920er und 1930er Jahren konnte die Internierung nach den Verbrechen des NS-Regimes auch kaum noch gerechtfertigt werden. Ebenso schied im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg eine Glorifizierung des erzwungenen Lageraufenthalts aus. Vielmehr schrieben sich die Zivilisten, die in den gegnerischen Staaten verhaftet worden waren, in einen übergreifenden Diskurs der Selbstviktimisierung ein.10

Die Stärkung der Exekutive, Sicherheitspolitik und die Unterdrückung „innerer Feinde“ im Ausnahmezustand der totalen Kriege Im Allgemeinen führte die Kriegsmobilisierung in beiden Weltkriegen zu einem politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und auch emotionalen Ausnahmezustand, in dem Staaten ihre Verfügungsgewalt über Menschen enorm steigerten. Dabei beanspruchten sie nicht nur souveräne Herrschaft, sondern auch exekutive Kompetenzen, um so Entwicklungen zu steuern und zu regulieren. Vor allem der Beginn des Ersten Weltkrieges begründete eine notrechtliche Praxis, die auch grenzüberschreitend wahrgenommen wurde.11 In diesem Rahmen gewann der Anspruch, die jeweiligen nationalen Kriegsgemeinschaften zu schützen, einen herausragenden Stellenwert. Dazu schürten oder instrumentalisierten Regierungen und staatliche Behörden Sicherheitsängste zwar auch gezielt, erfanden diese aber nicht einfach. Die Furcht um die eigene und „nationale Sicherheit“ war keinesfalls nur ein Vorwand, sondern auch ein genuines Anliegen großer Bevölkerungsgruppen. Über kollektive Emotionen hinaus muss „Sicherheit“ aber als Mittel zur Durchsetzung der Interessen einzelner Gruppen und Personen ernst genommen werden. Sie ist damit ein wichtiger Gegenstand der historischen Forschung zu den Weltkriegen.12 Um Sicherheit herzustellen oder zumindest zu suggerieren, nutzten Regierungen die außerordentlichen Vollmachten, die ihnen zu Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen gewährt worden waren. In diesem Prozess konnten sie restriktive Maßnahmen durchsetzen, die sich gegen Feindstaatenangehörige, aber in vielen Ländern auch gegen eigene Minderheiten, politische Oppositionelle und gelegentlich sogar gegen Randgruppen richteten. Diese Opfer büßten ihre persönlichen Freiheiten und wichtige Bürgerrechte bereits im Ersten Weltkrieg weitgehend ein. Besonders einschneidend war die Internierung. Aber 10 Pöppinghege, Lager, S. 310; Hinz, Gefangen, S. 353. 11 Maier, Leviathan 2.0, S. 204 f.; Agamben, State, S. 2 f., 40. Vgl. auch Schneider, Schweiz, S. 295, 299. 12 Dagegen Panayi, Business Interests, S. 246.

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auch Ausbürgerungen, die besonders in Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Kanada vollzogen wurden, verletzten Grundrechte der Betroffenen.13 Zudem verloren sie in den Jahren von 1914 bis 1918 die Verfügung über ihr Eigentum, das in vielen kriegführenden Staaten zunächst lediglich unter dem Vorwand registriert worden war, die „nationale Sicherheit“ zu schützen. Vor allem seit 1915/16 zielten die Eingriffe darüber hinaus aber auf eine vollständige „Säuberung“ der Volkswirtschaften von ausländischen Einflüssen. Dabei war das Vorgehen in den einzelnen Ländern grundsätzlich ähnlich. Betriebe und Kapitalvermögen, die Feindstaatenangehörigen gehörten, wurde stufenweise beschlagnahmt, anschließend unter treuhänderische Verwaltung gestellt und schließlich enteignet. Damit erhielten alteingesessene Akteure – Unternehmer, Geschäftsleute, Aktionäre und Landwirte – die Gelegenheit, sich an dem fremden Eigentum zu bereichern. Insgesamt waren die wirtschaftlichen Restriktionen im russischen Zarenreich am härtesten, während sie in Österreich-Ungarn vergleichsweise milde ausfielen. Letztlich wurde mit der Beschlagnahme, Sequestrierung und Enteignung der Schutz des Privateigentums ausgehöhlt oder sogar aufgehoben. Überdies diskriminierten die Machthaber bereits im Ersten Weltkrieg gezielt einzelne Gruppen von Staatsangehörigen und bereiteten so die Verstaatlichung von Eigentum vor. In Russland konnten die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution daran anknüpfen. Indem die Regierungen der kriegführenden Staaten Angehörigen gegnerischer Länder ihr Recht auf Privateigentum entzogen, unterhöhlten sie ihre eigene Wirtschaftsordnung. Letztlich spiegelte der Umgang mit dem Eigentum von Feindstaatenangehörigen damit die Zerbrechlichkeit und Krise des liberalen Staates wider.14 Mit der umfassenden Sicherheitspolitik schien die Legitimität der Herrschaft der Machteliten in den einzelnen Ländern gefestigt, wenn die grundsätzlich angestrebte gesellschaftliche Mobilisierung kontrolliert und gesteuert werden konnte. Mit der Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger sollten die jeweiligen Kriegsgegner stellvertretend bestraft werden, gerade weil die Kämpfe oft weit entfernt von der Heimat geführt wurden. Breite Bevölkerungsgruppen projizierten ihre Ängste und Unsicherheiten in dieser Konstellation auf den „inneren Feind“, dessen Bekämpfung die Illusion vermittelte, selber zum Kriegserfolg der eigenen Nation beizutragen. Mit dieser Suggestion unmittelbarer Partizipation an den Kämpfen waren Politik und Gesellschaft bei der Repression und Internierung von Feindstaatenangehörigen eng miteinander verschränkt. So zeigte die Lagerhaft von Zivilinternierten nicht zuletzt die enorme Ausdehnung 13 Caglioti, Dealing with Enemy Aliens, S. 186. 14 Caglioti, Property Rights, S. 2 f., 5, 14 f.; dies., Aliens, S. 457–459; Gosewinkel, Introduction, S. 11 f.

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der Staatsmacht in den beiden Weltkriegen. Sie spiegelte die umfassende Hinwendung zu einer „bürokratischen Totalität“ wider, mit der die Kriegführung auch an der Heimatfront gewährleistet werden sollte. Außerdem erreichte die zusehends standardisierte Internierung weltweite Dimensionen. Die beiden Weltkriege untergruben damit nicht einfach Globalisierungsprozesse, sondern zeigten deren Ambivalenz. Wie besonders die Darstellung zum Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen in Österreich-Ungarn und Russland gezeigt hat, wurden diese Gruppen auch aus der Etappe unmittelbar hinter den Kampfzonen zwangsevakuiert und anschließend oft interniert. Eine klare Trennung zwischen Front und Heimat ist damit zumindest vereinfachend.15

Die Repressionspolitik in den beiden Weltkriegen als Prozess: Kontexte, Formen und Opfer Die zeitlichen, räumlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte, die nicht auf die Entstehung von „Räumen der Gewalt“ reduziert werden sollten, beeinflussten, prägten oder bestimmten den Umgang mit Feindstaatenangehörigen von 1914 bis 1918. Das Ausmaß und die Formen der Internierung hingen im Allgemeinen von der militärisch-politischen Lage des betreffenden Staates, der Anzahl der in ihm lebenden Feindstaatenangehörigen und dem Verlauf des Krieges ab.16 Im Allgemeinen wurde der Erste Weltkrieg zu einem bedeutenden Wendepunkt im Umgang mit Zivilisten, die in den Feindstaaten geboren, aber oft schon eingebürgert worden waren. Die institutionelle und personelle Kontinuität in den Sicherheitsbehörden in den Jahren von 1914 bis 1939 zeigt eindrucksvoll die Prägekraft des ersten globalen Konfliktes im Hinblick auf die staatliche Politik gegenüber Minderheiten nach 1918. Zugleich deckt die Internierung – vor allem in den multiethnischen Imperien – die Grenzen staatlicher Macht in beiden Weltkriegen auf. Die Festlegung der Zugehörigkeit von „Feindstaatenbürgern“ entzog sich auch in den westlichen Demokratien oft klaren (nationa15 Zitat: Jahr, Feriengäste, S. 343. Zur Argumentation: Harold James, Krieg und Frieden in Zeiten der Globalisierung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52 (2004), S. 585–596, bes. S. 590. Vgl. auch Leidinger / Moritz, Flüchtlingslager, S. 183; Altenhöner, Kommunikation, S. 193; Livio, Treatment, S. 187, 197; Pitzer, Night, S. 116. 16 Spiropoulus, Ausweisung, S. 103. Verkürzend von „Räumen“ bzw. „Ermöglichungsräumen“ der Gewalt wird ausgegangen in: Jörg Baberowski, Räume der Gewalt, Frankfurt/M. 2015; ders., Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen. Online-Ausgabe, 5 (2008), H. 1, URL: http:// www.zeithistorische-forschungen.de/1-2008/id=4400 (Zugriff am 25. Januar 2016). Ähnlich: Timothy Snyder, Bloodlands. Europe Between Hitler and Stalin. New York 2010.

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len) Kriterien. Zudem waren staatliche Behörden hier oft unwillig oder außerstande, die von ihnen zunächst z. T. unterstützte militante Fremdenfeindlichkeit einzudämmen und die Angriffe gesellschaftlicher Gruppen auf „Feinde“ zu unterbinden. Die Befunde zur Internierungspraxis in diesen Ländern stellen damit überlieferte Mythen zur Beharrungskraft zivilgesellschaftlicher Werte und Strukturen in parlamentarischen Demokratien in Frage, ohne die Unterschiede zu den totalitären Diktaturen einzuebnen. In demokratischen Systemen drängten in den beiden Weltkriegen zumindest humanitäre und philanthropische Organisationen und Aktivisten auf eine Eindämmung von Kriegsgewalt gegenüber Zivilisten.17 In den Jahren von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 trug die Sicherheitspolitik gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen und anderen „inneren Feinden“ – so die Registrierungspflicht und die Internierung – maßgeblich zu einer erheblichen Erweiterung der infrastrukturellen Macht des Staates bei. Dieser Prozess war im Ersten Weltkrieg in Großbritannien gerade angesichts der zuvor starken liberalen Traditionen besonders markant. So zeigte der Übergang zur Internierung aller männlicher Feindstaatenangehörigen im Mai 1915 die Entschlossenheit und Fähigkeit der Regierung und der ihr untergeordneten Organe, tief in das gesellschaftliche Zusammenleben und den Kriegsalltag einzugreifen. Auch in den USA stärkte die Sicherheitspolitik von 1914 bis 1918 die Exekutive in Washington. Die zentralstaatlichen Behörden konnten aber die Macht der einzelnen Bundesstaaten nicht völlig brechen, wie die relativ geringe Zahl der Internierten im Ersten Weltkrieg zeigte. Zudem war ethnische Diversität bereits im frühen 20. Jahrhundert im Bewusstsein vieler Amerikaner verankert, so dass die Mehrheit der Feindstaatenangehörigen im Ersten Weltkrieg in Freiheit verblieb. Allerdings hatten sich in den USA schon im späten 19. Jahrhundert rassistische Vorurteile gegen asiatische Einwanderer herausgebildet, so dass 1941/42 rund 110.000 Japaner deportiert und interniert wurden. Im Gegensatz zum „Dritten Reich“ zielte die Politik Roosevelts aber nicht auf die Vernichtung der Minderheit, sondern sie war letztlich auf den militärischen Sieg über das ostasiatische Inselreich ausgerichtet. Ebenso blieb die vorübergehende Internierung deutscher Flüchtlinge als enemy aliens in Großbritannien, den Dominions und Kolonien im Zweiten Weltkrieg einer rationalen, wenngleich übersteigerten Sicherheitspolitik verpflichtet. Alles in allem kann die Festsetzung dieser vermeintlichen „inneren Feinde“ in Demokratien ausschließlich in Phasen akuter

17 Osti Guerrazzi, Cultures of Total Annihilation?, S. 136; Stibbe, Phänomen, S. 159 f., S. 175 f.; Panayi, A Marginalized Subject?, S. 23. Daneben: Panayi, Prisoners, S. 296, S. 302, S. 306 f.; ders., Germans, S. 3; Saunders, Aliens, S. 23; Üngör / Lohr, Nationalism, S. 518, S. 520.

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Bedrohung, nicht aber pauschal als „preventive measure taken to control risk“ gerechtfertigt werden.18 Demgegenüber wurde der Schutz der „Volksgemeinschaft“ im nationalsozialistischen Deutschland Vorwand und Instrument einer übergeordneten Rassenpolitik. Dazu wurde die Kriegspropaganda der Jahre von 1914 bis 1918 im „Dritten Reich“ so radikalisiert, dass sie sich noch in der Stigmatisierung von „Gegnern der Volksgemeinschaft“ im Rechtsterrorismus der Bundesrepublik fortsetzte. Trotz des präzedenzlos brutalen Vorgehens gegen Feindstaatenangehörige und andere „innere Feinde“ im Zweiten Weltkrieg waren damit wichtige Weichenstellungen bereits im Ersten Weltkrieg erfolgt, der humanitäre Rücksichtnahme und zivilgesellschaftliche Barrieren weitgehend beseitigt hatte. Dies trifft auch auf Italien zu, wo der Erste Weltkrieg nicht nur den Militarismus und Nationalismus radikalisiert hatte, sondern auch das Vorgehen gegen „innere Feinde“. Daran knüpfte Mussolinis Unterdrückungspolitik an, nachdem ihm die konservative Elite um König Vittorio Emanuele III. im Oktober 1922 die Macht übertragen hatte.19 Zudem hatte die Exekutive schon vor 1914 eine starke Stellung gewonnen, besonders in Deutschland und Frankreich. Der Aufstieg des Interventionsstaates war in beiden Ländern von dem Ziel der Verwaltung, ihre Macht zu erweitern, und dem Streben der Regierungen nach nationaler Einheit und Homogenität gekennzeichnet. Im Zweiten Weltkrieg radikalisierte nicht nur die nationalsozialistische Führung, sondern auch Pétains Regime in Frankreich diese Utopie, indem es bereits im Juli 1940 anordnete, alle Einbürgerungen ab 1927 zu überprüfen. Außerdem wurden Staatsangehörige, die das Land von September 1939 bis Juni 1940 ohne Genehmigung der Regierung verlassen hatten, kurzerhand ausgebürgert. Zudem knüpfte die autoritäre Diktatur an die Politik in der Dritten Republik an, gesellschaftlich „Unerwünschte“ zu verdrängen. Dabei verschärfte sie die Unterdrückung von Randgruppen wie Vagabunden, Armen und Prostituierten. Darüber hinaus schlossen die Vichy-Behörden Juden ab Oktober 1940 als „innere Feinde“ schrittweise aus der französischen Staatsbürgerschaft 18 Zitat: Grant, Role, S. 527. Hierzu und zum Folgenden auch: Reinecke, Grenzen, S. 250 f., 253, 255, 379, 382; Stefan Manz / Panikos Panayi / Matthew Stibbe, Preface, in: dies. (Hg.), Internment, S. XIII-XV, hier: S. XIII; Ellis / Panayi, German Minorities, S. 238, 248, 253 f.; Hinz, Gefangen, S. 317, 351, 362. 19 Corner / Procacci, Experience, S. 237 f.; Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 277; McMillan, War, S. 69. Zu den Feindbildern im bundesdeutschen Rechtsterrorismus: Barbara Manthe, On the Pathway to Violence: West German Right-Wing Terrorism in the 1970s, in: Terrorism and Political Violence 2018, S. 1–22, hier: S. 13 (doi:10.1080/09546553.2018.1520701, Zugriff am 15. April 2020; dies., Rechtsterroristische Gewalt in den 1970er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 68 (2020), S. 63–93, hier: S. 74.

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und Gesellschaft aus. Zwar schützte die Kollaborationsregierung unter Pétain lange alteingesessene jüdische Bürger. Jedoch wurden rund 51.000 ausländische, staatenlose und ausgebürgerte Juden an die deutsche Besatzungsmacht ausgeliefert, die diese Gruppe damit in die Vernichtungspolitik einbezog und ermordete.20 Noch ideologisch aufgeladener war der Umgang mit „Fremdrassigen“ im „Dritten Reich“ selber, wo die nationalsozialistische Rassenpolitik dieser stigmatisierten Minderheit den Rechtsschutz entzog. Die NS-Machthaber radikalisierten ethnische Konzepte, die bereits im Ersten Weltkrieg zur Identifikation, Diskriminierung und – im Falle der Armenier – zur Ermordung „innerer Feinde“ genutzt worden waren. Allerdings hielten sich auch hier im Zweiten Weltkrieg neben dem Maßnahmenstaat noch Reste des traditionalen Normenstaates, wie die Internierungspolitik gegenüber westlichen Feindstaatenangehörigen zeigte. Vor allem in den schwachen multiethnischen Imperien Österreichs-Ungarns, des Osmanischen Reiches und Russlands waren im Rahmen einer hypertrophen Sicherheitspolitik in den Jahren von 1914 bis 1918 auch eigene Bürger, deren Loyalität die jeweiligen Militärführungen und Regierungen bezweifelten, verdächtigt, überwacht, unterdrückt und ermordet worden. Hier blieb die Internierung eng an eine Zwangsmigration gekoppelt. Die Deportationen, Verschleppungen und Ausweisungen richteten sich gegen zivile Feindstaatenangehörige ebenso wie gegen Minderheiten, die mit den gegnerischen Staaten assoziiert wurden. Damit vollzog sich eine „Ethnisierung des Krieges“, die im Osmanischen Reich in den Völkermord an den Armeniern mündete. Auch ähnelte die Verfolgung von Minderheiten in der österreichischen Reichshälfte der Doppelmonarchie den Deportationen und Massakern in Russland. Demgegenüber blieb die Repression in Transleithanien zurückhaltender. Alles in allem trieb die harte Repressionspolitik im Osmanischen Reich, in der zarischen Autokratie und in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie aber den Zerfall dieser drei Imperien voran. Aus Bürgerkriegen, Revolutionen und erzwungenen Bevölkerungsverschiebungen gingen 1917/18 hier schließlich neue Nationalstaaten hervor, die ihrerseits in den zwanziger und dreißiger Jahren Minderheiten unterdrückten.21 In geringerem Ausmaß erfassten die Internierung und Vertreibung verdächtigter Minoritäten aber auch homogenere Nationalstaaten. Hier wurden ebenso Mehrfachidentitäten unterdrückt und Staatsbürgern grundlegende Rechte ent20 Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 281. Vgl. auch Marc Olivier Baruch: Das Vichy-Regime: Frankreich 1940–1944, Stuttgart 2000, S. 48–54; Thénault, Internment, S. 196 f. 21 Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 258; Leidinger / Moritz, Flüchtlingslager, S. 182, 194 f.; Leidinger, „Der Einzug des Galgens und des Mordes“, S. 237; Lieb, Krieg, S. 503.

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zogen. Damit verknüpft, setzten Regierungen eine oft rigorose Migrationskontrolle durch, indem sie Registrierungspflichten und Ausweiskontrolle verstärkten. Nationen galten zusehends nur noch als Abstammungsgemeinschaften mit einer stark ausgeprägten Anforderung an politische Loyalität. Vor allem im Ausland geborene Bürger wurden damit zu Fremden. So grenzte das Staatsbürgerrecht des Vereinigten Königreiches Bewohner einiger Territorien des Empire aus. Auch die zunehmende Trennung von Kolonien und Dominions, die wie Verbündete behandelt und auch in das 1917 etablierte Imperial War Cabinet aufgenommen wurden, unterhöhlte im Ersten Weltkrieg im britischen Weltreich das Zusammengehörigkeitsgefühl.22 Die destruktive Dynamik, die aus diesen Prozessen hervorging, eskalierte im Zweiten Weltkrieg schließlich im Umgang mit Feindstaatenangehörigen, die als „innere Feinde“ stigmatisiert oder sogar dämonisiert wurden. Nun wurde in den Diktaturen über Repressalien hinaus vor allem die Ermordung von Minderheiten als Sicherheitsmaßnahme ausgegeben. Die ohnehin schwache humanitäre Rücksichtnahme, die im Ersten Weltkrieg wiederholt noch exzessive Gewalt gegen Gefangene verhindert hatte, entfiel nunmehr fast vollständig, vor allem auf der Seite NS-Deutschlands und der sowjetischen Führung.23 Auch in Demokratien wie Großbritannien und den USA resultierte die populistische Mobilisierung jeweils aus weit verbreiteten Ängsten und den daraus resultierenden Sicherheitsbedürfnissen. Sie ist aber auch auf fremdenfeindliche Ressentiments, Nachbarschaftskonflikte und materielle Motive wie Gier zurückzuführen. Darüber hinaus wurden Feindstaatenangehörige oder sogar Eingebürgerte von Unternehmern und missgünstigen Nachbarn als unliebsame Konkurrenten beseitigt und ausgeraubt. Auch bot die Repressions- und Internierungspolitik einen oft willkommenen Vorwand, um alte Rechnungen unter Nachbarn zu begleichen. Hinter der Forderung nach „Sicherheit“ verbargen sich aber nicht nur die partikularen Ziele einzelner gesellschaftlicher Gruppen. Vielmehr nutzten politische, ökonomische und soziale Eliten die Agitation für Schutz vor „Feinden“ auch, um ihre Macht zu bewahren oder sogar zu steigern. So verlangten Vertreter von Polizeibehörden und Geheimdiensten, den Sicherheitsapparat auszubauen. Dazu stuften sie vielfach sogar unkontrollierte Kommunikation als Risiko ein. Nicht zuletzt führten Regierungen Versorgungsmängel und die außergewöhnlichen Belastungen im Krieg auf die subversive Aktivi-

22 Stefan Manz / Panikos Panayi / Matthew Stibbe, Preface, in dies. (Hg.), Internment, S. XIIIXV; Gammerl, Staatsbürger, S. 332, 343 f.; Torpey, Invention, S. 121; Caglioti, Subjects, S. 527– 530. 23 Overmans, „Hunnen“, S. 363 f. Überblick in langfristiger Perspektive in: Stefan Berger / Alexei Miller (Hg.), Nationalising Empires, Budapest 2015.

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tät von „Fremden“ – besonders Feindstaatenausländern – zurück. „Profiteure“ und „Verräter“ dienten als Sündenböcke für Spannungen und Konflikte in der Kriegsgesellschaft. Die Politik gegenüber diesen Gruppen zeigte damit die „dunkle Seite“ der Zivilgesellschaft.24 Im Kontext der totalen Kriege erwies sich Sicherheit als Konstruktion, die über die Regierungspolitik hinaus auch in lokalen Handlungslogiken und konkreten Interessen gesellschaftlicher Akteure begründet war. In diesen Konstellationen entstand z. T. eine soziale Dynamik eskalierender Gewalt. Gegenüber den Angriffen von Gruppen der alteingesessenen Bevölkerung auf verfemte „Fremde“ – beispielsweise auf die Deutschen in Großbritannien und in den Dominions – boten staatliche Einrichtungen gelegentlich sogar Schutz an, und einzelne bedrohte Feinstaatenangehörige baten in den beiden Weltkriegen um ihre Internierung, um sich damit Übergriffen ihrer Nachbarn zu entziehen. Die blutigen Konflikte lösten so nicht nur zerstörerische Kräfte aus, sondern führten auch neue soziale Regeln, moralische Standards und kulturelle Codes herbei, die zivilgesellschaftlichen Maximen diametral widersprachen. Mit den Debatten über „innere Feinde“ und den Maßnahmen, die sich gegen diese – oft vage gefasste – Gruppe richteten, wurden jeweils Normen verhandelt, die geschlechterspezifische Rollen, Vorstellungen von Konformität bzw. „Asozialität“ und den Stellenwert der Familie berührten. Die Radikalisierung der Propaganda traf vorrangig zivile Feindstaatenangehörige und ethnische Minderheiten, wie in diesem Buch erstmals systematisch vergleichend und beziehungsgeschichtlich dargelegt worden ist. Zwar ist hinsichtlich der Auswirkungen repressiver Eingriffe zwischen sozialen Schichten, Volkszugehörigkeit und Geschlecht zu unterscheiden. Jedoch war die Nationalität der Betroffenen insgesamt der wichtigste Faktor. Im Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen wurden nahezu durchweg grundlegende humanitäre Anforderungen und Standards verletzt. So stellte der deutsche Reichstagsabgeordnete Cohn schon im April 1916 fest, dass die Internierung von Zivilisten „nicht zu den deutschen Heldentaten und zu den Ruhmesblättern der deutschen Kriegsführung“ gehörte.25 Die Forderung nach „Sicherheit“ prägte zwar vor allem die Politik der Regierungen, deren Maßnahmen und Aktionismus Handlungsfähigkeit demonstrieren sollten. Angesichts der angeblich allgegenwärtigen „Feinde“, die besonders von den Leitungen der Geheimdienste und Polizei dämonisiert wurden,

24 Altenhöner, Kommunikation, S. 290; Watson, Ring, S. 362, 369. Allgemein: Quent, Selbstjustiz, S. 20, 26. 25 Zitat: Jahr, Feriengäste, S. 244. Vgl. auch Proctor, ‚Patriotic Enemies‘, S. 231; Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘, S. 236; Jones, A Missing Paradigm?, S. 37; Stibbe, Experiences, S. 20; Wurzer, Die Gefangenen, S. 537. Allgemein: Kershaw, Höllensturz, S. 14.

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verlangten aber auch breite Bevölkerungsgruppen „totale“ Sicherheit. Der erhebliche Beitrag sozialer Gruppen und Schichten an der Repression und Internierung von Feindstaatenangehörigen und anderen ausgegrenzten Fremden in den beiden Weltkriegen demonstriert, dass Forderungen nach einer breiten Mitsprache in der Sicherheitspolitik Menschenrechte keineswegs durchweg schützen, wenn existenzielle umfassende Bedrohungen intensive Ängste auslösen.26 Zugleich sollte in diesem Buch gezeigt werden, dass Studien zum Umgang mit Zivilisten, die in die Hand gegnerischer Regierungen gefallen waren, unmittelbar zur Geschichte der Kriegsgewalt gehören.27 Realiter erhöhte die Repression ziviler Feindstaatenangehöriger in den beiden Weltkriegen keineswegs die öffentliche Sicherheit, denn Spione waren im Allgemeinen eigene Staatsbürger oder in das jeweilige Land eingeschleust worden.28 Es können aber durchaus wirkmächtige Gründe für die staatliche Repressionspolitik gegenüber Zivilisten gegnerischer Nationen – besonders deren Internierung – identifiziert werden. Außer den weit gespannten Kriegszielen und -methoden und der umfassenden Mobilisierung und Kontrolle in den beiden Weltkriegen muss die Konstruktion einer umfassenden, unwiderruflichen Feindschaft hervorgehoben werden. Die Dominanz des Militärs, das auch politische Entscheidungen maßgeblich beeinflusste, begünstigte in allen kriegführenden Ländern ein hartes Vorgehen gegen „innere Feinde“. Vor allem die massenhafte Internierung von Feindstaatenangehörigen und Minderheiten war auf eine „Rhetorik der Entmenschlichung“ zurückzuführen, die keineswegs ausschließlich „von oben“ geschaffen und gesteuert wurde, sondern auch von den weit verbreiteten Gerüchten über subversive Aktivitäten von Fremden ausging. Gelegentlich steigerten sich die zügellosen Verdächtigungen sogar zu einer manischen Angst, die – wie die das Schreckbild der „Goldautos“ – sogar grenzüberschreitende Wirkungen zeitigte. Gerüchte über Spionage und Unterwanderung entfalteten so eine zerstörerische Eigendynamik. Die Sehnsucht nach Sicherheit ist zwar nicht der einzige Grund der restriktiven Politik gegenüber Feindstaatenangehörigen. Fremdenfeindlichkeit und der damit einhergehende Ruf nach Internierung waren aber vor allem in Phasen äußerer Bedrohung, wirtschaftlicher Unsicherheit und politischer Instabilität starke Motive und Triebkräfte. Sie schlugen sich in der Selbstmobilisierung und -ermächtigung nationalistischer Bevölkerungsgruppen nieder, auch in den USA und in Großbritannien.29

26 Demgegenüber: Daase / Engert / Junk, Verunsicherung, S. 30. 27 Ziemann, „Vergesellschaftung der Gewalt“, S. 758. 28 Pistol, ‚I can’t remember a more depressing time but I don’t blame anyone for that‘, S. 40. 29 Münkler, Der Große Krieg, S. 574; Förster, Hundert Jahre danach, S. 18; Altenhöner, Kommunikation, S. 319; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 211, 262 f. Dazu für Großbritannien: Cesara-

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Alles in allem senkte die Dämonisierung der „Fremden“, welche die Kriegspropaganda von 1914 bis 1918 in nahezu allen beteiligten Staaten (mit wenigen Ausnahmen wie Japan) als bedrohliche „innere Feinde“ stigmatisierte, die Hemmschwelle gegenüber der Anwendung extremer Gewalt. Konstruktionen „des Anderen“ waren Spiegelbilder der propagierten nationalen Gesellschaft, die als homogene, geschlossene Kampfgemeinschaft verherrlicht wurde. Der umfassenden Erneuerung, die der Erste Weltkrieg in der Vorstellung radikaler Nationalisten herbeiführen sollte, entsprach der gesteigerte Wille zur Beseitigung von „Fremden“, die als Sicherheitsrisiko denunziert wurden. Besonders der Genozid, dem die Armenier zum Opfer fielen, verweist auf das Radikalisierungspotential, das dem Kampf gegen den „inneren Feind“ innewohnte. Auch im russischen Zarenreich gewannen die Pogrome, die sich schon in den 1880er Jahren gegen Juden gerichtet hatten, im Ersten Weltkrieg eine neue destruktive Dynamik.30

Folgen des Umgangs mit Zivilisten im Ersten Weltkrieg: Gewaltkulturen und die Konstruktion „innerer Feinde“ Nach 1918 wurden erneut Feindbilder mobilisiert, um die Mehrheit der Bevölkerung zu mobilisieren und Konsens zu inszenieren. Die Grenzen, die aus dem Krieg und den Pariser Vorortverträgen hervorgegangen waren, blieben in vielen Ländern umstritten, in denen ebenso Ernüchterung über die Friedensordnung vorherrschte. Außerdem hatte die extreme Gewalt auch gegenüber Zivilisten tief in das Alltagsleben eingegriffen und das Verhalten verhärtet. Wie der Aufstieg des Nationalismus, aber auch die Verbreitung des revolutionären Sozialismus zeigte, war die Repression von Minderheiten vor allem in multiethnischen Reichen mit einem tiefgreifenden Wandel der Identitäten und Loyalitäten einhergegangen. Besonders Minoritäten, die in den Imperien lebten, konnten hinsichtlich ihrer Bindung an die jeweiligen Regierungen und Nationen von den Behörden in allen kriegführenden Staaten kaum eindeutig zugeordnet werden und galten deshalb als ebenso verdächtig wie Staatenlose. Die Mobilisierung gegen diese vermeintlichen „Feinde“ im Ersten Weltkrieg war eng mit dem radikalen Nationalismus als dominierende politische Kraft verschränkt. Umgekehrt hatten

ni, An Alien Concept?, S. 47. Zitat: Gregory, Last Great War, S. 62 („rhetoric of dehumanization“). 30 Die Kategorie des „inneren Feindes“ und der Bezug des Umgangs mit Gefangenen zur „Heimatfront“ waren in Japan weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg einflussreich. Vgl. Martin, Kriegsverbrechen, S. 151.

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Forderungen von Minderheiten nach Autonomie oder sogar Unabhängigkeit in Österreich-Ungarn, im Zarenreich und im Osmanischen Reich die Unsicherheit der Eliten gesteigert. Der Erste Weltkrieg lud diese Spannungen und Konflikte zu einer enormen Belastungsprobe auf, in der die Existenz dieser Staaten gefährdet war. Letztlich trug der Nationalisierungsprozess, der sich im Ersten Weltkrieg beschleunigte, maßgeblich zum Zerfall der multiethnischen Imperien bei.31 Die Folgen der Gewalt gegen Zivilisten im Ersten Weltkrieg wurden vollends nach 1918 deutlich, als paramilitärische Gruppen in zahlreichen europäischen Staaten rücksichtslos gegen vermeintliche Feinde vorgingen, besonders gegen Kommunisten und Juden. Die Leitvorstellung ethnisch homogener Nationalstaaten schlug sich 1919 in den Minderheitenverträgen der siegreichen EntenteMächte mit den neuen ostmitteleuropäischen Staaten nieder, und sie lag auch der Politik des Bevölkerungsaustausches zu Grunde, wie vor allem die Vertreibung von Griechen und Türken nach dem Vertrag von Lausanne zeigte. Der Umgang mit „inneren Feinden“ im Krieg warf damit tiefe Schatten auf die Friedensgesellschaft, die vielerorts weiterhin militaristisch geprägt blieb. Die Repression von Feindstaatenangehörigen – vor allem deren Internierung – hatte maßgeblich zur Radikalisierung der Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften beigetragen. Wie dargestellt, war damit der Aufstieg einer Sicherheitskultur einhergegangen, der vor allem den militärischen Eliten in den autokratisch regierten Monarchien eine radikale Politik sozialer und demographischer Transformation ermöglicht hatte. In geringerem Umfang radikalisierte dieser Prozess aber auch Politik und Gesellschaft in den kriegführenden Demokratien. Die Gewaltkultur der Nachkriegszeit war deshalb vor allem im Ersten Weltkrieg selber verwurzelt, auch wenn sie in den Ländern, die zu den (gefühlten) Verlierern der Friedensverträge gehörten, besonders extreme Formen annahm. Sie wurde in vielen Staaten erst Mitte der 1920er Jahre gebrochen, zumindest vorübergehend. Bis zu dieser Zeit handelt es mehr um „postwar“ als um „peacetime societies“. In ihnen gewann der Minderheitenschutz, der ebenfalls aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen war, nur wenig Einfluss. In unterschiedlichen politischen Systemen sollten Sicherheit und Stabilität als Ziele im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts den Umgang von Regierungen mit Minderheiten bestimmen.32 31 Von einem „no man’s land“ wird ausgegangen in: Caglioti, Aliens, S. 458. Vgl. auch Manz / Dedering, ‚Enemy Aliens‘, S. 555; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 211, 253; Rieber, Struggle, S. 588, 613 f.; Reynolds, Empires, S. 46 f.; von Hagen, Great War, S. 37; Leonhard, Comparison, S. 160. 32 Dagegen wird die eigenständige Rolle der Gewalt in den Nachkriegsjahren – vor allem in den Verliererstaaten – unter dem Einfluss der Russischen Oktoberrevolution und der Leitvorstellung ethnisch homogener Nationalstaaten betont in: Gerwarth, Counter-Revolution; ders. /

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Besonders die Entwicklung in Russland zeigt, dass Deutungen, die den Ersten Weltkrieg strikt auf die Jahre von 1914 bis 1918 begrenzen, letztlich nicht überzeugend sind. Dem Bürgerkrieg, der das revolutionäre Russland von 1917/ 18 bis 1921/22 erschütterte, fielen deutlich mehr Menschen zum Opfer als den Kämpfen gegen die Mittelmächte von 1914 bis 1918. Die extreme Gewalt, welche die Auseinandersetzungen zwischen den Bolschewiki und ihren Gegnern prägte, verband sich auf beiden Seiten mit weit gespannten Gestaltungsutopien. Zugleich hatte die Oktoberrevolution die Schwäche der autokratischen Kräfte gezeigt, die auf eine soziale Mobilisierung „von unten“ für die eigene Kriegführung drängten. Die Bolschewiki konnten damit die Neigung zu staatlichen Interventionen und autoritärer Herrschaft „von oben“ nutzen, die ebenfalls schon das zarische Russland gekennzeichnet hatten. Letztlich sollte die Bindung gesellschaftlicher Akteure und Selbstverwaltungsorgane an staatliche Institutionen ebenso wie die damit verbundene Verschmelzung ziviler und militärischer Einrichtungen und Kompetenzen noch Stalins Diktatur Unterstützung verleihen.33 Jedoch kennzeichnete der Nexus von Gewaltkult und Neuordnungsvisionen keineswegs nur das postrevolutionäre Russland, sondern – wie dargelegt – auch andere Länder, die der Erste Weltkrieg erschüttert hatte.34 Überdies waren die gewalttätigen Auseinandersetzungen von 1914 bis 1918 ihrerseits in den Vorkriegskonflikten angelegt. Auch wenn eine teleologische Deutung verfehlt ist und die Eskalation in der Nachkriegszeit keineswegs unvermeidlich war, sollten die offenkundigen Kontinuitäten der Gewalt nicht unterschätzt werden. Die politisch-gesellschaftliche Ordnung in Europa vor 1914 war nicht durchweg stabiler als diejenige nach dem Ersten Weltkrieg. Auch nahm der Aktionismus paramilitärischer Gruppen gegen „innere Feinde“ nach dem Waffenstillstand zwar einen wichtigen Stellenwert ein; er wurde aber von politischen Überzeugungen wie dem Antibolschewismus und dem Antisemitismus angefeuert, denen die Publikation der „Protokolle der Weisen von Zion“ 1919 weiteren Auftrieb verliehen hatte. Die Revolutionsfurcht steigerte zwar Verschwörungsvorstellungen, die aber vor allem in den bürgerlichen Schichten und in den politischen Eliten bereits in den vorangegangenen Kampagnen gegen Feindstaatenangehörige mobilisiert und verfestigt worden waren. Die Agitation hatte der Erste Weltkrieg Malinowski, Europeanization through Violence?; Gerwarth / Horne, Paramilitarism, S. 3, 12; ders., Die Besiegten, S. 14, 25–30. Zitat: Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993, S. 283. Vgl. auch Frank, Minorities, S. 11, 47, 408; Levene, „The Enemy Within“?, S. 144, 162–164; Horne, War, S. 90; Gatrell, War, S. 558–575; Stibbe, Internment, S. 66, S. 73; Epkenhans, Der Erste Weltkrieg, S. 161; Balke, Paranoia, S. 143. 33 Holquist, War, S. 284–288. 34 Demgegenüber auf die Singularität Russlands abhebend die Deutung in: ebd., S. 286, 288.

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erheblich befeuert, aber nicht verursacht. Vielmehr war sie sogar bereits vor 1914 entstanden.35 Wie hier gezeigt wurde, gehörte dazu nicht zuletzt ein radikales FreundFeind-Denken, das die Repression von Angehörigen fremder Nationen im Ersten Weltkrieg enorm verschärft hatte. Im Kampf um die Existenz von Staat und Nation war die Angst so übermächtig geworden, dass sie ein extremes Sicherheitsbedürfnis ausgelöst hatte. Angesichts der fortwirkenden politischen Erschütterungen und der daraus resultierenden Suche nach neuen Handlungsorientierungen ordneten Regierungen der Sicherheit auch in Demokratien z. T. grundlegende Menschen- und Freiheitsrechte unter. Opfer dieser Repressionspolitik wurden vor allem Feindstaatenangehörige und Gruppen der eigenen Bevölkerung, die mit den jeweiligen Kriegsgegnern gleichgesetzt wurden. Schon in den ersten Jahren des Ersten Weltkrieges – und keineswegs erst von 1917 bis 1923 – vollzog sich damit eine „radikale Abkehr von den in Europa seit den Religionskriegen unternommenen Bemühungen, bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen weißen Europäern einzuhegen, indem man zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten unterschied und den Feind als einen iustus hostis (gerechten Feind) entkriminalisierte.“36

Der Stellenwert von Zivilgesellschaftlichkeit und die gegenläufige Entwicklung von Sicherheit und Humanität Im Ersten Weltkrieg reduzierten die Zwangsmaßnahmen, denen wehrlose Feindstaatenangehörige in den einzelnen Staaten unterworfen wurden, zivilgesellschaftliche Räume so umfassend, dass allenfalls in handlungslogischer Hinsicht von Zivilgesellschaftlichkeit ausgegangen werden kann. Diese Verengung ist vorrangig auf die Zunahme staatlicher Macht zurückzuführen. Der Ausnahmezustand, der in den wichtigsten kriegführenden Ländern zu Kriegsbeginn verhängt wurde, stärkte hier die Exekutive. Allerdings konnten auch Militärdiktaturen die angestrebte nationale Einheit und den inneren Frieden nicht sichern. Sie mussten daher zivilgesellschaftliche Kräfte zur Mitwirkung gewinnen. In diesem Rahmen trugen außer den Polizei- und Sicherheitskräften der einzelnen Staaten zur Repression von Minderheiten sogar grenzüberschreitend arbeitende Organisationen bei, indem sie sich oft für die Mobilisierung einspannen ließen. Transnationale und nationale Vereinigungen wirkten damit in normativer Hinsicht ambivalent. Letztlich waren die Menschenrechte im Ersten 35 Dagegen: Gerwarth, Die Besiegten, S. 23 f., 184 f. 36 Zitat: ebd., S. 326.

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Weltkrieg zwar der staatlichen Sicherheitspolitik unterworfen. Vor allem in Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland stärkte der globale Konflikt den Imperativ der Sicherheit, der bereits vor 1914 in diesen Staaten die autoritär-paternalistische Herrschafts- und Gesellschaftssysteme gekennzeichnet hatte. Andererseits begründete die Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Verbände mittelfristig Ansprüche auf politische und soziale Teilhabe. Dies gilt auch für andere kriegführende Länder, in denen der Ausnahmezustand und die Entgrenzung der Gewalt im Ersten Weltkrieg staatliche Herrschaft veränderte und die weitere Entwicklung prägte. Dazu gehört die Eskalation der Übergriffe gegen zivile Feindstaatenangehörige im zweiten globalen Konflikt von 1939 bis 1945. Die grenzüberschreitenden Bezüge sowohl zwischen den Repressionsmaßnahmen verschiedener Regierungen gegenüber den Feindstaatenangehörigen als auch zwischen den Gegnern dieser Politik verweisen nicht zuletzt auf die Widersprüchlichkeit der Globalisierungsprozesse, die das Verhältnis zwischen staatlicher Sicherheitspolitik und Menschenrechten im 20. Jahrhundert wiederholt tiefgreifend verändern sollten.37 Immerhin gelang es im Ersten Weltkrieg, einen vorübergehend drohenden Völkermord im Russischen Reich zu verhindern. Allerdings konnten humanitäre Organisationen die Massaker, welche die jungtürkische Regierung 1915/16 an den Armeniern verübte, nicht aufhalten. Im Osmanischen Reich steigerte sich die Repression „innerer Feinde“ vielmehr zu einem Genozid, den die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg noch radikaler vorantreiben und systematischer verüben sollten. Der staatlichen Gewalt, die sich gegen zivile Feindstaatenangehörige und Minderheiten richtete, standen die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für Kriegsgefangene und Zivilinternierte einsetzten, weitgehend machtlos gegenüber. Da eine Abstimmung des Vorgehens zwischen ihnen auch in den einzelnen Nationalstaaten fehlte, blieb die Kooperation unzureichend. Die mangelhafte Zusammenarbeit war aber nicht zuletzt auf die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber der Legitimität der Kriegspolitik der nationalen Regierungen selber zurückzuführen.38 Allerdings konnten nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen unter den extrem restriktiven Bedingungen der beiden Weltkriege die Not der internierten Feindstaatenangehörigen zumindest lindern. Auch gelang es vor allem dem IKRK, den kriegführenden Ländern gelegentlich Konzes37 Cornelia Rauh / Dirk Schumann, Ausnahmezustände und die Transformation des Politischen, in: dies. (Hg.), Ausnahmezustände, Entgrenzungen und Regulierungen in Europa während des Kalten Krieges, Göttingen 2015, S. 9–36, hier: S. 12; Altenhöner, Kommunikation, S. 319; Maier, Leviathan 2.0, S. 206. 38 Jones, Kriegsgefangenenlager, S. 65–67, 71, 74 f.; Schmutz, Violence, S. 511; Deperchin, Laws, S. 628; Stibbe, Internment of Civilians, S. 18 f.; Hinz, Humanität im Krieg?, S. 220, 228.

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sionen abzuringen. So übermittelten viele Regierungen dem Genfer Komitee Listen der Internierten. Inspektionen der Lager, in denen die Gefangenen nicht nur Feindschaften vertieften, sondern auch Erfahrungen im Umgang mit Anderen und Vielfalt gewannen, wurden zugelassen. Hervorzuheben ist besonders, dass die Versorgung von Gefangenen vielfach lebensrettend war. Das IKRK und andere humanitäre Organisationen setzten ihre Kriegsopferhilfe bis 1922/23 fort, so dass der Erste Weltkrieg auch in dieser Hinsicht weit über den Waffenstillstand und die Pariser Vorortverträge hinausreichte.39 In den Jahren von 1939 bis 1945 verstärkten die humanitären Verbände ihr Engagement gerade für zivile Kriegsopfer. Allerdings blieben ihre Aktivitäten an Voraussetzungen gebunden, die schon im Ersten Weltkrieg hervorgetreten waren. Dabei nahm die „Bezugsbildung“ zwischen Gebenden und Empfangenden – so durch Berichte direkt Betroffener und Medien – einen zentralen Stellenwert ein. Auch musste die Hilfe organisiert und ausgehandelt werden, nicht nur mit den Regierungen der kriegführenden Staaten, sondern auch zwischen den humanitären Verbänden, die miteinander um Kompetenzen rangen. Im Zweiten Weltkrieg verschärften sich diese Konflikte noch, da nach 1918 neue internationale Organisationen gegründet worden waren. Sie stellten die Führungsrolle des IKRK zunehmend in Frage. Ebenso erschwerte die zunehmende Zahl der Rotkreuzgesellschaften, die nach 1918 besonders in den neugegründeten Nationalstaaten gegründet worden waren, eine effektive Koordination der Arbeit durch das IKRK. Zwar konnte das Genfer Komitee seinen Einfluss letztlich behaupten.40 Jedoch nahmen staatliche Behörden zivilgesellschaftliche Organisationen – vor allem patriotische Vereine – in den Jahren von 1939 bis 1945 noch umfassender in Dienst als im Ersten Weltkrieg. Damit sollten alle Kräfte weitaus effektiver für den Krieg eingespannt werden. Auch mobilisierten Vereine und Verbände selber für die Kriegsanstrengungen, zu denen sie damit beizutragen hofften. Dazu gehörte Gewalt gegen „innere Feinde“. Die Stärkung der Sicherheitspolitik und der Humanität waren auch im Zweiten Weltkrieg gegenläufige Prozesse.41 Auch andere Widersprüchlichkeiten sind offenkundig. So erwies sich die Verflechtung des IKRK mit dem Schweizerischen Roten Kreuz und der eidgenössischen Bundesregierung in Bern für die humanitäre Hilfe für Zivilisten in den beiden Weltkriegen nicht nur als hilfreich, sondern auch als konfliktträchtig. Generell spielten neutrale Staaten wie die Schweiz, die Niederlande und die 39 Brückner, Hilfe, S. 39; Stibbe, Enemy Aliens, S. 485; von Treskow, Kriegsgefangenenzeitungen, S. 46. 40 Brückner, Hilfe, S. 53 (Zitat); Kramer, Prisoners, S. 86. 41 Winter, Cover, S. 200.

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skandinavischen Staaten in der humanitären Arbeit jedoch eine wichtige Rolle. Im Propagandakrieg wurden Hilfsleistungen in den Jahren von 1914 und 1918 sowie von 1939 bis 1945 zu einem diplomatischen Instrument, mit dem die Neutralität gegenüber dem Druck der kriegführenden Staaten bewahrt werden konnte. Dabei präsentierten sich die neutralen Länder als Vertreter von Frieden, Versöhnung und Humanität. Dazu wurde eine Tradition der Fürsorglichkeit konstruiert, obwohl Fremdenfeindlichkeit, Ressentiments und Verdrängungsängste in beiden Weltkriegen auch in den neutralen Ländern die weitverbreitete Unsicherheit widerspiegelten. Aus diesem Selbstverständnis leiteten sie eine besondere nationale Aufgabe ab, die Legitimität begründete, ihre Neutralitätspolitik gegenüber den kriegführenden Ländern abschirmte und damit selber Sicherheit schuf. Die Rolle der neutralen Staaten ist damit integraler Bestandteil der Geschichte des Ersten Weltkrieges.42 Allerdings setzte das Versprechen, die „nationale Sicherheit“ mit der Kontrolle und Internierung von Feindstaatenangehörigen zu gewährleisten, alle Regierungen einem erheblichen Erwartungsdruck aus. Damit ging die „Kontingenztoleranz“ in der jeweiligen Bevölkerung zurück. Die daraus resultierende Unzufriedenheit mit der staatlichen Sicherheitspolitik führte im Ersten Weltkrieg wiederholt zu Protesten und Streiks, vor allem gegen Versorgungsmängel und die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit. Damit verbunden, brachen überlieferte gesellschaftliche Normen, Werte und Konventionen zusammen. In diesem Kontext kam es zu einer letztlich kaum noch zu kontrollierenden Eskalation der Fremdenfeindlichkeit und des radikalen Nationalismus, der hinsichtlich „des Massenhaften, der Totalität und der Homogenität“ im Ersten Weltkrieg eine neue Qualität gewann. Die Sicherheitsmaßnahmen entzogen sich wiederholt sogar den Intentionen und Plänen der Regierenden.43

42 So stellte der Direktor des Niederländischen Roten Kreuzes 1931 im Rückblick zufrieden fest: „So kann diese Gesellschaft vom Roten Kreuze mit berechtigtem Stolze auf seine Leistungen für Menschlichkeit und Völkerversöhnung zurückblicken – ein Beispiel, eine Aufforderung zur Nachahmung für alle Völker“ (Leclocq, Das Niederländische Rote Kreuz, S. 304). Dieses Narrativ nahm sogar ein Vertreter Liechtensteins auf, um nach 1918 die uneingeschränkte diplomatische Anerkennung des Landes zu rechtfertigen: „Liechtenstein war im Weltkrieg neutral, es griff nur ein, um zu helfen, mit schwachen Händen und gütigem Herzen“ (Alfons Feger, Die Neutralität des Fürstentums Liechtenstein während des Weltkrieges, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 304–307, hier: S. 307). Zur Schweiz: Brückner, Hilfe, S. 51, 132, 135, 143 f., 147 f., 207. Allgemein: Abbenhuis, On the Edge of the Storm?, S. 27 f., 32 f., 36 f. 43 Zitat: Piskorski, Die Verjagten, S. 89. Aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive: Fulbrook, Schatten, S. 207. „Kontingenztoleranz“ nach: Ulrich Schreckener, Bedingt abwehrbereit: Politische und administrative Reaktionsmuster auf das ‚Terrorrisiko‘, in: Daase / Engert / Junk (Hg.), Gesellschaft, S. 35–55, hier: S. 45.

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Dazu trug die öffentliche Meinung bei, die staatliche Behörden trotz der Zensur nicht lückenlos überwachen und direkt lenken konnten. Sie galt in allen kriegführenden Staaten als wichtiger Faktor des Propagandakrieges, so dass die Regierungen zumindest offiziell eine humane Behandlung von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten beanspruchten. Daran konnten das IKRK und andere internationale Hilfsorganisationen mit ihren Bemühungen anschließen, besonders rigorose Praktiken zu entschärfen und den Sicherheitsstaat zu beschneiden. Auch einzelne Experten wie die Schweizer Ärzte Adolf Lukas Vischer, Charles Julliard und Édouard Favre schufen Wissen, dessen Verbreitung das Bewusstsein über die Lage der Zivilinternierten schärfte. Obwohl humanitäres Engagement auch nach dem Ersten Weltkrieg inkohärent und fragmentarisch blieb, wurde es im Zuge einer fortschreitenden Professionalisierung und Verwissenschaftlichung in den zwanziger und dreißiger Jahren effektiver. Die Erfahrung, dass der totale Krieg die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten aufhob, stärkte nach 1918 Bemühungen um einen erweiterten humanitären Schutz der Bevölkerung. Dabei konkurrierten säkulare Konzepte der Opferhilfe und sogar Managementmethoden der Geschäftswelt zunehmend mit den traditionalen religiös motivierten Impulsen, die aber in geringerem Ausmaß durchaus fortbestanden. Insgesamt kann der Erste Weltkrieg damit als einschneidender Wendepunkt in einer Übergangsperiode interpretiert werden, der sich in der Geschichte des Humanitarismus von der Jahrhundertwende bis zu den 1920er Jahren erstreckt.44 Der Einsatz zivilgesellschaftlicher Akteure trug auch zur Weiterentwicklung des Völkerrechts bei, so schon auf der Versailler Konferenz. Zwar war die Sprache des Rechts nicht neutral oder objektiv, sondern an Macht und Emotionen gekoppelt. Jedoch musste ein legitimer Friede völkerrechtlich abgesichert sein. In diesem Kontext intensivierte sich das Engagement von Experten und humanitären Organisationen für die Sicherung der Rechte von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten nach dem Ersten Weltkrieg, wie auch die Beteiligung einflussreicher Aktivisten zeigt. So war René Cassin nachhaltig von den Schrecken des Krieges und seiner eigenen Verwundung im Oktober 1914 geprägt. Ab 1920 setzte er sich in der neu gegründeten Union Fédérale in Frankreich für die Rechte der Kriegsversehrten ein, 1922/23 sogar als Präsident der Organisation. Ab 1924 arbeitete er im Völkerbund, der allgemein zu einem wichtigen Forum des Aus-

44 Davide Rodogno, The American Red Cross and the International Committee of the Red Cross’ Humanitarian Politics and Policies in Asia Minor and Greece (1922–1923), in: First World War Studies 5 (2014), Nr. 1, S. 83–99, hier: S. 85, 97; Gatrell u. a., Discussion, hier der Beitrag von Elisabeth Priller; Jones, A Missing Paradigm?, S. 36; Stibbe, Civilian Internment, S. 211, 227; Little, Explosion, S. 13; Howard, Total War, S. 381.

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tausches von Experten wurde, für die Einschränkung der staatlichen Macht zugunsten der Bewahrung individueller Rechte. Damit sollten auch Minderheiten geschützt und der Frieden in den multiethnischen Staaten, die aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen waren, bewahrt werden. Viele Nichtregierungsorganisationen setzten sich zudem für eine transparente Außen- und Sicherheitspolitik ein, deren Vertreter gegenüber dem Volk rechenschaftspflichtig werden sollten. Letztlich zielten diese Initiativen auf eine Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität, denn der Erste Weltkrieg hatte zwar den Minderheitenschutz gestärkt und den Stellenwert von Nichtregierungsorganisationen erhöht, zugleich aber auch die Macht des Staates gesteigert.45 Humanitäres Engagement unterstützten auch andere Rechtswissenschaftler wie der junge Hersch Lauterpacht, der in den 1920er und 1930er Jahren die naturrechtliche Grundlage des Völkerrechtes erweiterte. Damit sollte der vorherrschende Rechtspositivismus überwunden werden. Diese Juristen gingen von einer Staatengemeinschaft aus, welche die Geltung eines übergeordneten objektiven Völkerrechtes anerkennt. Sie hofften, mit einem begrenzten Interventionsrecht die Souveränität der einzelnen Staaten einschränken und ihre Rechte schützen zu können. Dominant blieb im Völkerrecht jedoch ein positivistisches Verständnis, das als Rechtssubjekte ausschließlich Staaten anerkannte. Verträge und Gewohnheiten zwischen ihnen – nicht aber naturrechtliche Quellen – sollten das Völkerrecht begründen.46 Dennoch verstärkten die Krisen und Gewalt auch nach 1918 Bemühungen um eine humanitäre Bewältigung der Folgelasten. Dabei vollzog sich eine Ausweitung des philanthropischen Engagements, wie die Arbeit der American Relief Administration zeigte, mit der Herbert Hoover an sein Hilfskomitee für die Belgier (ab 1915) anknüpfte. Auch das IKRK, das 1917 den Nobelpreis gewonnen hatte, reorganisierte seine Aktivitäten. Darüber hinaus verstärkte sich der universelle Anspruch der Hilfsaktivitäten, die sich überdies grenzübergreifend erstreckten. So kümmerten sich Organisationen wie der Save the Children Fund, der im Mai 1919 von der englischen Lehrerin Eglantyne Jebb (1876–1928) zusammen mit ihrer Schwester Dorothy Buxton (1881–1963) gegründet wurde, um Kinder, zunächst in Deutschland und Österreich, wo besonders Heranwachsende unter der noch bestehenden Wirtschaftsblockade der britischen Kriegsmarine litten. Das IKRK bemühte sich weiterhin, Kompetenzen zur Kontrolle der Politik nationaler Regierungen gegenüber Zivilisten in Kriegen zu gewinnen. Auch dar45 Vgl. Jay Winter / Antoine Prost, René Cassin and Human Rights. From the Great War to Universal Declaration, New York 2013, S. 19–50, 221–264, 341–353; Cabanes, Great War, S. 25–35, 63–75; Frank, Minorities, S. 47; Leonhard, Frieden, S. 1266 f., 1269. 46 Steinle, Völkerrecht, S. 196–223, 226.

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über hinaus gewann humanitäres Engagement eine transnationale Dimension, wie die Ernennung eines Hohen Kommissars für Flüchtlinge durch den Völkerbund (1921) und die Gründung der International Relief Union (1927) zeigten. Auch schlossen sich Organisationen, die ihren Einsatz für die Rechte der Kriegsveteranen mit dem Kampf für Frieden zwischen den Nationen verbanden, zur Conférence Internationale des Mutilés et Anciens Combattants zusammen. Sie bekannte sich in den zwanziger Jahren zur Menschenwürde der einzelnen Menschen und stellte damit den Grundsatz der nationalstaatlichen Souveränität in Frage. Darüber hinaus traten viele Verbände der Kriegsveteranen in den einzelnen Nationalstaaten entschieden auch für die Rechte von Zivilisten ein. Damit forderten sie eine verstärkte Sozialpolitik der Regierungen, die so eine Verantwortung für neue Bereiche gesellschaftlicher Fürsorge akzeptieren mussten.47 Der Zweite Weltkrieg entfaltete schließlich eine ungeahnte Zerstörungskraft. Diese destruktive Dynamik zeigte sich auch in der Kluft zwischen der Politik der Alliierten und ihrer Menschenrechtsrhetorik, die mit Roosevelts Bezugnahme auf „vier Freiheiten“ (Four Freedoms) in seiner Rede am 6. Januar 1941 einen ersten Höhepunkt erreichte. Zugleich wurden in den USA aber zivile Feindstaatenangehörige ohne rechtsstaatliches Verfahren interniert. Dieses rigorose Vorgehen war z. T. rassistisch motiviert, so bei der Deportation und Inhaftierung der Japaner und der Amerikaner japanischer Herkunft in den USA. Davon hoben sich jedoch der nationalsozialistische Vernichtungskrieg und der Holocaust, in dem schutzlose Zivilisten ermordet wurden, qualitativ ab. Unter dem Eindruck dieser Opfer vollzog sich nach 1945 ein völkerstrafrechtlicher „Kodifizierungs- und Institutionalisierungsschub“. In den Nürnberger Prozessen wurden erstmals auch Täter verurteilt, deren Opfer ihrem Staat angehört hatten. Den neuen Menschenrechtsdiskurs beeinflusste aber auch die Mächtepolitik im beginnenden Kalten Krieg.48

Wege und Abwege der Menschenrechtspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Anschließend hat der geographische Geltungsbereich des Völker- und Völkerstrafrechts erheblich zu-

47 Vgl. Gatrell u. a., Discussion, hier die Beiträge von Branden Little und Elisabeth Piller; Winter / Prost, René Cassin, S. 19–50, 221–264, 341–353; Barnett, Empire, S. 82–94; Cabanes, Great War, S. 25–35, 63–75, 300–313. 48 Conze, Völkerstrafrecht, S. 201. Vgl. auch Brad Lucas, Nuremberg Trials, in: Vance (Hg.), Encyclopedia, S. 206 f.; Weinke, Gewalt, S. 111, 114 f.

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genommen, auch indem sich immer mehr Akteure wie Journalisten, Politiker und Aktivisten auf humanitäre Normen bezogen haben. So beanspruchten nach 1945 die Eliten der Kolonien, die zunächst aus dem Diskurs ausgeschlossen waren, Selbstbestimmung als Menschenrecht. Diese Forderung zielte letztlich auf nationalstaatliche Souveränität. Insgesamt entstand nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue globale „normative Nachkriegsarchitektur“, die auf humanitären Grundsätzen basierte. Diese waren aber vieldeutig oder sogar widersprüchlich, denn sie kennzeichneten nicht nur Bezugnahmen auf universelle Werte, sondern schlossen auch partikulare Ziele der jeweils tragenden Akteure ein.49 Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungspolitik intensivierten humanitäre Aktivisten ihr Engagement zum Schutz humanitärer Grundrechte. Im „Dritten Reich“ war der Völkermord an Minderheiten – besonders den Juden – mit einer beispiellosen Entmenschlichung aller „Volksfeinde“ einhergegangen. Die Nationalsozialisten hatten ihren Opfern – vor allem den Juden – damit nicht nur vielfach ihr Leben genommen, sondern auch ihre Würde. Deshalb standen nach dem Zweiten Weltkrieg die Überlebenden unter ihnen im Mittelpunkt des humanitären Engagements, wenngleich gerade die ermordeten Juden in den einzelnen Ländern zunächst vernachlässigt wurden. In der Opferhilfe griffen die beteiligten Organisationen und Aktivisten oft auf ihre Erfahrungen der Jahre nach 1918 zurück. So wirkte René Cassin an der Arbeit der 1946 in den Vereinten Nationen gebildeten Menschenrechtskommission mit, und er war führend an der Vorbereitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der UNO am 10. Dezember 1948 beteiligt. Cassin engagierte sich auch für die am 4. November 1950 unterzeichnete Europäische Menschenrechtskonvention und die Gründung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der 1959 seine Arbeit aufnahm.50 Zu dem markanten „growth of a global aid society“ nach dem Zweiten Weltkrieg trugen ebenso die 1949 verabschiedeten Genfer Abkommen und die im selben Jahr angenommene Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes bei, die auf einem Konzept des polnisch-jüdischen Rechtswissenschaftlers Raphael Lemkin beruhte. Sie haben den Primat nationalstaatlicher Souveränität allerdings erst mittelfristig eingeschränkt.51 49 Roland Burke, Decolonization and the Evolution of International Human Rights, Philadelphia 2010. Zitat: Conze, Völkerstrafrecht, S. 202 f. Vgl. auch Peter Krüger, From the Paris Treaties to the End of the Second World War, in: Fassbender / Peters (Hg.), Oxford Handbook, S. 679–698, hier: S. 684; Lynch, Peace Movements, S. 214 f., 219. 50 Glover, Humanity, S. 337–348. 1968 erhielt Cassin für seine Arbeit den Friedensnobelpreis. Vgl. Winter / Prost, René Cassin, S. 263 f. 51 Zitat: Barnett, Empire, S. 103. Vgl. auch Beaumont, Prisoners of War, S. 278; Leonhard, Frieden, S. 1275.

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In diesem Prozess sind vor allem seit den 1990er Jahren mit der Wiederbelebung des Konzeptes der „crimes against humanity“ Ansätze einer internationalen Gerichtsbarkeit entstanden. Dabei waren die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (International Criminal Court, ICC) in Den Haag 2002 nach einer vier Jahre zuvor in Rom verabschiedeten Konvention und die internationalen Tribunale, die ab 1993 bzw. 1994 Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda ahndeten, wichtige Meilensteine. Allerdings arbeiteten die beiden Gerichte nur vorübergehend, und die Zuständigkeit des ICC für Verbrechen der „Aggression“ ist an eine Übereinkunft der Vertragsstaaten zu diesem Begriff gebunden. Auch auf die Trennung der Verantwortlichkeit von Staaten und Individuen im Statut des Internationalen Strafgerichtshofes haben Völkerrechtler enttäuscht reagiert. Weil weiterhin ein internationaler Strafrechtskodex fehlt, hat der ICC zudem Willkür in der Ahndung von Verstößen gegen das Völkerrecht nicht abschließend beseitigt.52 Trotz der erreichten Fortschritte und des zugenommenen Engagements nationaler und internationaler humanitärer Organisation wird eine einseitig positive Interpretation der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Sicherheitsund Menschenrechtspolitik der widersprüchlichen Entwicklung nicht gerecht. Wie die Inhaftierung von enemy combatants auf Guantánamo durch die US-Administration von Präsident George W. gezeigt hat, ist eine teleologische Deutung als Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte unbegründet. Vielmehr verweist die Internierungs- und Deportationspolitik der Vereinigten Staaten auf eine Tradition der Fremdenfeindlichkeit, die zuvor in der Repression der enemy aliens in den beiden Weltkriege Höhepunkte erreicht hatte. Auch in Großbritannien, wo die Regierung zwar die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte 1951 unterzeichnet, aber nicht als unmittelbar geltendes Landesrecht ratifiziert hat, wurden noch während des Golfkrieges Anfang 1991 Staatsangehörige des Irak interniert, ohne dass sie den rechtsstaatlichen Schutz des Landes in Anspruch nehmen konnten. Dabei war sogar britischen Kommentaren die restriktive Politik gegenüber enemy aliens in den beiden Weltkriegen offenbar nicht bewusst. Darüber hinaus wurde die Unterdrückung indigener Völker im Empire und der irischen Nationalisten kaum erwähnt.53 Nicht zuletzt ist ein Schutzrecht, das Eingriffe anderer Staaten begründet und damit Souveränität einschränkt, ambivalent und deshalb umstritten geblieben. Die Berufung auf das Ziel, die humanitären Rechte von Staatsbürgern ge52 Vgl. von Lingen, „Crimes against Humanity“, S. 340–342; dies., Martens Clause, S. 205; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 399–407; Stibbe, Civilian Internment, S. 300. 53 Kushner / Cesarani, Alien Internment, S. 11; Manz / Panayi, Enemies, S. 43.

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gen ihre eigenen Regierungen zu bewahren, erinnert an den Rekurs auf „zivilisatorische Standards“ im 19. Jahrhundert. Wie ein Rückblick zeigt, kann das 2005 von den Mitgliedsstaaten der UNO anerkannte Prinzip der Responsibility to Protect, das Zivilisten vor massiven Menschenrechtsverletzungen schützen soll, durchaus für machtpolitische Ziele intervenierender Regierungen missbraucht werden, zumal eine unabhängige Schiedsgerichtsbarkeit weiterhin fehlt.54

Die unzureichende Entschädigung von Internierten Noch weniger sind lange Versäumnisse bei der Entschädigung internierter Zivilisten beachtet worden. Wie dargelegt, haben US-Amerikaner japanischer Herkunft erst seit den 1980er Jahren zumindest eine finanzielle Wiedergutmachung erhalten. Dagegen ist das Leiden anderer Internierter völlig ignoriert worden. Auch die Nachkommen von Zivilisten, die als „innere Feinde“ verfolgt und vertrieben wurden, müssen noch gegenwärtig um Anerkennung kämpfen. So hat nach dem Referendum über den „Brexit“ (23. Juni 2016) die Zunahme der Anträge von Kindern deutscher Emigranten in Großbritannien, die aus dem „Dritten Reich“ geflohen waren, auf Wiedereinbürgerung die Aufmerksamkeit auf eine Regelungslücke des Grundgesetzes gelenkt. Nach Artikel 116 ist eine Repatriierung nur möglich, wenn den Vorfahren die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden war. Mit der Einbürgerung in Länder, in die als „innere Feinde“ verfolgte Juden und Gegner des NS-Regimes aufgenommen worden waren, hatten sie aber die deutsche Staatsbürgerschaft verloren, ohne dass sie ihnen von deutschen Behörden genommen worden war. Dies betrifft auch Kinder, denn Adoptierte können nach Artikel 116 des Grundgesetzes nur wiedereingebürgert werden, wenn die Annahme der Kinder ab 1977 erfolgte. Die ungerechte Regelung von Wiedereinbürgerungen war in der Bundesrepublik zwar bereits in den 1950er Jahren aufgefallen. Jedoch blieb dies folgenlos, so dass der Umgang mit Zivilinternierten und anderen ausländischen „inneren Feinden“ noch in der Gegenwart politische und rechtswissenschaftliche Diskussionen beeinflusst, auch über Deutschland hinaus.55 Ebenso begrenzt ist die Durchsetzbarkeit humanitärer Unterstützung für Internierte geblieben. Zwar sind der Einfluss und die Hilfsleistungen von Organisationen wie dem IKRK seit 1945 enorm gewachsen. So sichert das Rote Kreuz bis zur Gegenwart wichtige Rechte von Gefangenen, beispielsweise ihre Kommunikation mit Angehörigen und Freunden in ihren Heimatländern, Versor54 Fisch, Civilization, S. 248, 256. 55 FAZ, Nr. 166 / 20. Juli 2019, S. 3.

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gungspäckchen, den Kontakt zu Inspekteuren und Einschränkungen der Arbeitspflicht. Dazu gehört auch eine Rückführung nach humanitären Grundsätzen. Im Golfkrieg von 1991 beriet das IKRK sogar direkt die UN-Streitkräfte, die in den Irak einmarschierten, im Hinblick auf den Umgang mit Gefangenen und die Errichtung von Lagern. Letztlich ist jedoch die Durchsetzbarkeit des Schutzes und der humanitären Hilfe auch nach dem Zweiten Weltkrieg begrenzt geblieben.56

Die Internierten in den Erinnerungskulturen In den einzelnen Staaten sind Internierte lange vergessen oder verdrängt worden. So haben in Großbritannien heroische Narrative Erinnerungen an die gefangenen Zivilisten – ebenso wie an die gegnerischen Soldaten – im 20. Jahrhundert überlagert. Auch in den USA widersprach die Reflexion über die Internierung dem vorherrschenden Selbstverständnis als demokratischer Staat. Erst in den letzten Jahren ist der Stellenwert der Internierten in den Erinnerungskulturen gewachsen. Nach den beiden Weltkriegen waren Repatriierte in ihrer Heimat im Allgemeinen keineswegs mit offenen Armen empfangen worden. Vorwürfe, dass sie nicht zu den nationalen Kriegsanstrengungen beigetragen oder ihr Heimatland sogar verraten hätten, erschwerten ihnen das Leben in den Nachkriegsstaaten.57 Auf noch gravierendere Vorbehalte waren Flüchtlinge schon während des Ersten Weltkriegs getroffen. Stellungnahmen wie der Rückblick des britischen Premierministers David Lloyd George, der die Hilfe für die geflohenen Belgier im Vereinigten Königreich im Mai 1919 als „great act of humanity“ bezeichnete, verweisen deshalb vorrangig auf Bemühungen, durch den Hinweis auf eine vermeintlich ausschließlich selbstlose humanitäre Hilfe nationale Identitäten zu begründen und die repressive Politik gegenüber enemy aliens zu verdecken.58 Überkommene Vorstellungen britischer Fairness und Toleranz liegen im Vereinigten Königreich auch Deutungen zu Grunde, welche die Repressionspolitik gegenüber den zivilen Feindstaatenangehörigen lediglich als vorübergehende Deformation des liberalen und humanitären Erbes des Landes verharmlost haben. Diese Interpretation hatten im Zweiten Weltkrieg schon Zeitgenos56 Beaumont, Prisoners of War, S. 288 f. 57 Manz / Panayi / Stibbe, Internment, S. 15; Horne, Introduction. Wartime Imprisonment in the Twentieth Century, S. 23; Burton / Farrell, „Life in Manzanar Where There is a Spring Breeze“, S. 242. 58 Zitat: Cahalan, Belgian Refugee Relief, S. 499. Vgl. auch Grady, Landscapes, S. 543, 561, 563 f.

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sen wie der ansonsten kritische Bischof von Chichester, George Bell, verbreitet, der nach dem Abschluss einer Debatte über die Internierung im Oberhaus am 17. Dezember 1941 den britischen „sense of fairness“ pries. Auch der Klage des konservativen Abgeordneten Victor Cazelet, der die unterschiedslose Verhaftung von Feindstaatenangehörigen als „totally un-English“ beurteilte, lag letztlich eine Idealisierung der britischen Geschichte zu Grunde. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg stärkte diese Vorstellungen, zumal die vor allem von Churchill verbreitete Deutung, dass die Standfestigkeit des Vereinigten Königreiches im Sommer 1940 entscheidend zur Niederlage des „Dritten Reiches“ beitragen hätte, den Stolz seiner Landsleute auf die Nation bekräftigte. Erinnerungen an die Internierungspraxis passten nicht zu diesem dominanten Paradigma.59 Umgekehrt belichten Erinnerungsnarrative, welche die Zivilinternierten ausschließlich als Opfer fassen, die Rolle der Betroffenen als handelnde Personen unter. Darüber hinaus verdecken sie die Komplexität ihres Handelns. Dies zeigt die Erinnerungspolitik der Italiener in Großbritannien, die ihre Trauer lange nicht offen artikulieren konnten, da im Vereinigten Königreich das heroische Narrativ vorgeherrscht hatte. Damit waren allem die besonders negativen Erinnerungen an die Verhaftungen, den Aufenthalt in den Transitlagern und die Zwangsdeportation nach Kanada oder Australien tabuisiert worden. Demgegenüber hat sich seit den 1990er Jahren in der italienischen Minderheit – vor allem mit Bezug auf den Untergang der Arandora Star – eine ausgeprägte Selbstviktimisierung herausgebildet, die in der Gemeinschaft zwar Zusammenhalt gestiftet oder zumindest gestärkt hat. Zugleich sind allerdings andere Erfahrungen überlagert worden. So hatten sich in Großbritannien und anderen Staaten der späteren Alliierten vor dem Zweiten Weltkrieg viele nationalistische Auslandsitaliener der faschistischen Partei angeschlossen, um ihre politische Loyalität oder zumindest ihr Nationalbewusstsein zu zeigen. Daneben war der Beitritt zu den faschistischen Auslandsorganisationen oft pragmatisch begründet, denn damit war die Rückkehr nach Italien zumindest nicht verstellt. Auch als Angehörige der britischen Armee oder des Pioneer Corps, für die sie sich freiwillig gemeldet hatten, waren die Italiener im Vereinigten Königreich keineswegs ausschließlich Opfer geworden. Der weit verbreiteten Verherrlichung aller Angehörigen dieser Minderheit zu „guten Leuten“ (brava gente) muss damit entgegengetreten werden. Zudem blieben die Erinnerungen italienscher und deutscher Flüchtlinge, die aufgenommen und anschließend interniert worden waren, letztlich ambivalent. Vor allem die nominellen Feindstaatenausländer, die in ihren Heimatländern verfolgt worden waren, haben sich im Rückblick zwar er-

59 Zitat: Kushner, Clubland, S. 96. Vgl. auch Kushner / Cesarani, Alien Internment, S. 8.

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schrocken über die willkürliche Festnahme, aber auch dankbar für die Aufnahme im Vereinigten Königreich gezeigt.60 Ein Sonderfall sind die Erinnerungen an die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger aus den westlichen Staaten in der Bundesrepublik. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass die begrenzten Kontakte, die sich zumindest zwischen den britischen Internierten und einzelnen Deutschen schon während des Zweiten Weltkrieges entwickelt hatten, nach 1945 – besonders seit den 1970er Jahren – Begegnungen und Iniativen zur Versöhnung ermöglicht haben. Offenbar ist die Internierung dieser Zivilisten von den deutschen Augenzeugen allenfalls indirekt mit dem NS-Regime assoziiert worden – im Gegensatz zu KZ-Häftlingen und Angehörigen von Organisationen der NSDAP, die z. T. in demselben Orten untergebracht worden waren. Diese Gruppen sind in den örtlichen Erinnerungskulturen nach dem Zweiten Weltkrieg deshalb lange marginal geblieben.61

Bilanz Alles in allem verweist der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen in den beiden Weltkriegen erstens auf die Ambivalenz zivilgesellschaftlicher Assoziationen. Einige Vereine und Verbände erleichterten zwar das Leben von Feindstaatenangehörigen und Pazifisten; viele schlossen sich aber der nationalistischen Propagandakampagne und patriotischen Mobilisierung an, die sich nicht zuletzt gegen die stigmatisierten Außenseiter richtete. Die Organisationen ließen sich von den Militärführungen und Regierungen in Dienst nehmen, zumal ihre Angehörigen oft selber eine Ersatzkriegführung gegen die Minderheiten der enemy aliens betrieben, die vielfach dämonisiert wurden. Dabei waren die Metaphern von „Verrat“ und „Dolchstoß“ in den kriegführenden Ländern überraschend ähnlich. So wurde Gold im Ersten Weltkrieg grenzüberschreitend eine erhebliche Verführungskraft zugeschrieben. Mit der Gewalt gegen Zivilisten „von unten“ versuchten gesellschaftliche Akteure in den Jahren von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945, sich in den Krieg der eigenen Nation einzuschreiben. Letztlich sollte so eine bedeutende Position in der Nachkriegsordnung und in der jeweiligen nationalen Erinnerungskultur gesichert werden. Die Aktivität der nationalistischen Gruppen und Assoziationen verweist damit auf eine grundsätzliche Ambivalenz der Zivilgesellschaft, die jeweils in die historischen 60 Ugolini, Experiencing War, S. 224, 230, 233–235, 242 f.; dies., Stories, S. 88 f., 95, 97–100; dies., Memory, 423 f., 433 f.; Pistol, ‚I can’t remember a more depressing time but I don’t blame anyone for that‘, S. 38 f., 41 f., 47 f. 61 Rothenhäusler / Adler, Tale, S. 208–220.

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Kontexte eingebettet werden muss. Dazu sind vor allem handlungslogische Studien geeignet, die Voraussetzungen, Träger und Ressourcen von „Zivilgesellschaftlichkeit“ untersuchen und problematisieren.62 In den beiden Weltkriegen hatte sich zwischen der fremdenfeindlichen Agitation und der staatlichen Politik in vielen Ländern ein symbiotisches Verhältnis herausgebildet. Auch die Überwachung und Kontrolle von als bedrohlich erscheinenden „inneren Feinden“ traf in breiten Bevölkerungsgruppen deshalb durchaus auf eine breite Resonanz. Der Protest steigerte sich vielerorts zu einer gesellschaftlichen Selbstmobilisierung gegen stigmatisierte „Ausländer“ und „Fremde“. Eine Fixierung auf die staatliche Sicherheitspolitik als Ursache von Verdrängung und Repression dieser Minderheiten in den beiden Weltkriegen ist damit analytisch verfehlt. Nicht nur in Diktaturen und autoritären Systemen, sondern auch in Demokratien schränkten Regierungen Bürgerrechte wiederholt erheblich ein. Gerade in Staaten wie den USA und den britischen Siedlerkolonien Australien, Kanada und Neuseeland, wo demokratische Teilhabe im frühen 19. Jahrhundert ausgeweitet worden war, schlug dieser Prozess in den beiden Weltkriegen in eine nationalistische Mobilisierung gegen „innere Feinde“ um.63 Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg trug in allen Ländern selektives Erinnern oder sogar Vergessen zwar maßgeblich zur kulturellen Demobilisierung und zur Versöhnung zwischen zivilen Kriegsopfern und ihren Nachkommen bei. Zugleich blieben einzelne Opfergruppen wie unterdrückte, internierte, enteignete oder sogar ermordete zivile Feindstaatenausländer in den Erinnerungskulturen marginal.64

62 Pointiert dazu Geyer, Militarization, S. 75: „Militarization originated in civil society, rather than being imposed on it.“ Vgl. auch Panayi, Germans, S. 23; Higgs, Information State, S. 202 f. Zur ambivalenten Rolle zivilgesellschaftlicher Vereine und Vermittler: Sheri Berman, Civil Society and the Collapse of the Weimar Republic, in: World Politics 49 (1997), S. 401–429; Sven Reichardt, Gewalt und Zivilität im Wandel. Konzeptionelle Überlegungen zur Zivilgesellschaft aus historischer Sicht, in: Dieter Gosewinkel u. a. (Hg.), Zivilgesellschaft – national und transnational, Berlin 2003, S. 61–81; Roger Eatwell, The Concept and Theory of Charismatic Leadership, in: ders., António Costa Pinto, Stein Ugelvik Larsen (Hg.), Charisma and Fascism in Interwar Europe, London 2007, S. 3–18, S. 9, S. 11, S. 15. Allgemein: Roland Roth, Die dunklen Seiten der Zivilgesellschaft. Grenzen einer zivilgesellschaftlichen Fundierung von Demokratie, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 2 (2003), S. 59–73; Wolfgang van den Daele, The Not so Sunny Sides of Civil Society Mobilization, in: Gerhard Schröder (Hg.), Progressive Governance for the XXI Century. Contributions to the Berlin Conference, München 2002, S. 87– 89. 63 Luff, Operations, S. 757. 64 James McMillan hat diesen Prozess als „mis-remembering“ bezeichnet (McMillan, War, S. 84). Vgl. auch Winter, Cover, S. 200; Gerwarth / Horne, Bolshevism, S. 47 f.; Fraunholz, Motorphobia, S. 167–170.

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Zweitens ist hier gezeigt worden, dass sich Interaktionen zum Verhältnis von Sicherheit und Humanität in den beiden Weltkriegen in spezifischen Konstellationen als asymmetrische Aushandlungsprozesse vollzogen. Dabei kam es auch angesichts des blutigen Konfliktes zu einem intensiven Austausch, an dem internationale Nichtregierungsorganisationen wie das IKRK beteiligt waren. Entgegen der in der Historiographie vorherrschen Interpretation brachen in den beiden Weltkriegen – vor allem in den Jahren von 1914 bis 1918 – keineswegs alle grenzüberschreitenden Bezüge ab. Zwar wurden zwischen den kriegführenden Staaten nur wenige Abkommen und Vereinbarungen geschlossen, die zudem weitgehend bilaterale Beziehungen regelten. Sie dokumentieren aber die Bemühungen, reziprokes Verhalten nicht ausschließlich durch Repressalien zu erzwingen. Sogar die Restriktionen gegen Feindstaatenangehörige wiesen letztlich eine grenzüberschreitende Dimension wechselseitiger Beobachtung und Imitation auf, wie die Mobilisierung gegen die Deutschen nach der Versenkung der Lusitania in zahlreichen Ländern zeigt. Wechselbeziehungen und Verflechtungen nach dem Reziprozitätsprinzip führten aber nicht nur zu einer Eskalation von Gewalt und zu Repressalien, sondern sie trugen auch zu Verhandlungen zwischen den kriegführenden Mächten bei, so zwischen Großbritannien und Deutschland in Genf und Den Haag. Daraus resultierten Erleichterungen für Gefangene. Insgesamt sind damit in beiden Weltkriegen im Hinblick auf die Behandlung dieser Gruppe Grenzen der „Totalisierung“ unverkennbar. Jedoch waren dabei zumindest im Ersten Weltkrieg vor allem russische und italienische Zivilinternierte und Kriegsgefangene benachteiligt, deren Regierungen sich kaum um sie kümmerten. Im Zweiten Weltkrieg traf dies besonders auf japanische Gefangene zu, die in ihrem Heimatland verdammt wurden.65 Trotz der z. T. erfolgreichen Bemühungen, Gewalt gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen einzuhegen, dominierten in den Jahren von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 Repressalien, deren Eskalation oft auch Bemühungen neutraler Staaten um Milderung nicht verhindern konnten. Auch wenn die Inspektionen der Lager das Leben der Insassen erleichterten und einen wesentlichen Fortschritt in der humanitären Eindämmung des Krieges darstellten, setzte ihnen der Grundsatz nationalstaatlicher Souveränität deutliche Grenzen. In beiden Weltkriegen konnte der Rekurs auf universelle Humanität staatliche Macht allenfalls vereinzelt einschränken. Vielfach blieb humanitären Organisationen lediglich der Hinweis auf das Reziprozitätsprinzip, um Regierungen zur Einhal65 Hinz, Gefangen, S. 360–362 (Zitat: S. 361); Speed, Prisoners, S. 18, 32, 44; Murphy, Captivity, S. 210; Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht?, S. 179; Pitzer, Night, S. 91. Dazu auch: Kott, Internationalism, S. 317–319; Hankel, Kriegsverbrechen, S. 669. Zur Versenkung der Lusitania als Schlüsselereignis: Kramer, Combatants, S. 195 f.

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tung völkerrechtlicher Bestimmungen zu bewegen. Allerdings war auch dieser Korrekturmechanismus nur wirksam, wenn die Behandlung gegnerischer Zivilisten von unabhängigen Institutionen überwacht wurde und glaubhaft mit Repressalien gedroht werden konnte. Zudem blieb das Reziprozitätsprinzip bei Gefangenen unwirksam, die von den kriegführenden Ländern wegen ihrer Rassenund Klassenzugehörigkeit nicht als gleichberechtigt und -wertig angesehen wurden.66 Im Ersten Weltkrieg war die Unterdrückung ziviler Feindstaatenangehöriger auf nationale Traditionen, wechselseitige Abgrenzungen und eine pauschale Verteufelung von Gegnern zurückzuführen. Die Erfassung der „inneren Feinde“ im totalen Krieg wurde erleichtert durch den Aufbau von Geheimdiensten und die Ausweitung der polizeilichen Kompetenzen. Dieser Prozess hatte schon vor 1914 eingesetzt. Obgleich die 1929 verabschiedete Genfer Konvention Repressalien ausdrücklich verbot, fehlte auch im Zweiten Weltkrieg eine internationale Instanz zur Kontrolle und Schlichtung. Verstöße gegen das Abkommen wie Übergriffe gegen Zivilisten, die Japan – ganz anders als im Ersten Weltkrieg – besonders brutal behandelte, konnten deshalb auch in den Jahren von 1939 bis 1945 kaum verhindert werden. Alles in allem zeigten sich im Umgang mit Feindstaatenangehörigen in den beiden Weltkriegen deutlich und akut Probleme und Dilemmata, die auch in den folgenden Jahrzehnten diskutiert worden sind: die Überlagerung von äußerer und innerer Sekurität, die Ausweitung staatlicher Sicherheitskompetenzen sowie der Aufstieg „professioneller Gewaltspezialisten“ in Polizei, Armee und Geheimdiensten. Dazu gehört auch die präventive Schutzfunktion staatlicher Instanzen, die ihre Macht in diesem Bereich seit dem Ersten Weltkrieg deutlich gesteigert haben, wenngleich nicht ununterbrochen. Deutungen, die den Zweiten Weltkrieg im Hinblick auf die Behandlung von Gefangenen als Übergang von einem Primat humanitärer Grundsätze in den Jahren von 1914 bis 1918 zu ideologischen Prinzipien in den Jahrzehnten nach 1945 fassen, werden diesen Kontinuitäten nicht gerecht.67 Drittens wird deutlich, dass sich im Umgang mit Zivilinternierten Konflikte über unterschiedliche Perzeptionen, Konzepte und Maßnahmen herausbildeten. Die staatliche Politik führte in den einzelnen Ländern zu einer umfassenden po66 Betts, Universalism, S. 61; von Lingen, Martens Clause, S. 202, 206; Moorehead, Dream, S. 401; Horne, Introduction. Wartime Imprisonment in the Twentieth Century, S. 17, 22; Jones, A Missing Paradigm?, S. 42; Stibbe, Civilian Internment, S. 145. Allgemein: Moore / Fedorowich, Prisoners of War, S. 4. 67 Dazu: Simon P. MacKenzie, The Treatment of Prisoners of war in World War II, in: Journal of Modern History 66 (1994), S. 487–520; Moore / Fedorowich, Prisoners of War, S. 4 f., 8; Nachtigal, Anzahl, S. 376. Zitat: Glaeßner, Sicherheit, S. 7. Vgl. auch Hinz, Gefangen, S. 353–356; Moorehead, Dream, S. 400.

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litischen und sozialen Mobilisierung, und sie dynamisierte die gesellschaftlichen Beziehungen. Dieser Prozess ist nicht zuletzt von der Macht einzelner Akteure geprägt worden, die ihre Konzeptionen von Sicherheit und Humanität durchzusetzen bestrebt waren und dabei Gruppen ein- bzw. ausschlossen. Auf diesem Konfliktfeld sind die Beziehungen zwischen den beiden leitenden Werten unterschiedlich, oft sogar als Antinomie verstanden, konzipiert und funktionalisiert worden. Damit haben auch die jeweiligen Handlungspraktiken der beteiligten Gruppen variiert.68 Viertens hat die Darstellung gezeigt, dass sich trotz der einschneidenden Repressionspolitik, welche die kriegführenden Regierungen von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 in nahezu allen kriegführenden Staaten gegen Feindstaatenangehörige, Minderheiten und Dissidenten richtete, keineswegs eine kontinuierliche Ausweitung der staatlichen Sicherheitspolitik vollzog. Diese erreichte zwar im Zweiten Weltkrieg und im beginnenden Kalten Krieg nochmals einen Höhepunkt, wurde aber wiederholt auch zurückgenommen. So beschnitt der US-Kongress in den 1920er und 1930er Jahren unter dem Druck von Organisationen wie der ACLU die Macht des FBI. Auch die britische Regierung schränkte die Kompetenzen des MI5 in diesen Jahrzehnten ein, wenngleich deutlich weniger. Dennoch muss die noch immer vorherrschende Deutung, die Großbritanniens starke liberale und reformerische Tradition betont, in Frage gestellt und der Prägekraft der überkommenen Whig Interpretation of History zugerechnet werden, in der die Geschichte des Vereinigten Königreiches lange idealisiert und verherrlicht worden ist. Die hier vertretene kritischere Deutung schränkt auch der Übergang zur Freilassung internierter Feindstaatenangehöriger, die sich ab 1940 früher als im Ersten Weltkrieg vollzog, kaum ein.69 Auch darüber hinaus sind im Vergleich Unterschiede hinsichtlich der Sicherheitsregimes und -kulturen deutlich geworden. So wurden in Großbritannien in der Zwischenkriegszeit Gruppen und Parteien, die – wie Streikende und Kommunisten – von den herrschenden Eliten als Gefahr für die öffentliche und politische Ordnung wahrgenommen wurden, im Geheimen überwacht. Damit boten die Sicherheitsorgane Organisationen, die auf der Bewahrung von Grundrechten und bürgerlichen Freiheiten beharrten, kaum Angriffsflächen. Dagegen gingen sicherheitspolitische Maßnahmen in den Vereinigten Staaten in den 1920er und 1930er Jahren von Komitees des Kongresses aus, der öffentlich agier-

68 Allgemein: Daase, Wandel, S. 9; ders., Sicherheitskultur, S. 40; ders, Security. Kritik an einer einseitigen Fixierung auf „Sicherheit“ als Leitbegriff historischer Studien in: Hans-Ulrich Wehler, Gilt der „Primat der Sicherheit“?, in: Die Deutschen und der Kapitalismus. Essays zur Geschichte, München 2014, S. 154–157. 69 Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 86 f.

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te und damit auch zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Über die komparative Perspektive hinaus sind Initiativen der sicherheitspolitischen Kooperation zwischen den Regierungen der hier behandelten Nationalstaaten deutlich geworden. So arbeiteten der britische MI5 und das amerikanische FBI in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und erneut ab 1939 zusammen. Dagegen herrschte in den 1920er und 1930er Jahren gegenseitiges Misstrauen zwischen den beiden Sicherheitsorganen vor.70 Fünftens ist die in der neueren Forschung dominierende Interpretation, dass allgemeine Rechte für alle Menschen in den späten 1940er, in den 1970er oder sogar erst in den 1990er Jahren formuliert worden seien, zu relativieren. Zwar war die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Europäische Menschenrechtskonvention 1948 bzw. 1950 ein wichtiger Einschnitt. Die organisatorische Basis der Menschenrechtsbewegung blieb in den späten 1940er und frühen fünfziger Jahren jedoch schwach, da im Kalten Krieg in wichtigen Staaten wie Großbritannien antifaschistische Allianzen zwischen Liberalen und Sozialisten zerfielen und politische Freiheitsrechte von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rechten getrennt wurden.71 Auch beeinflusste das Bekenntnis zu Menschenrechten zwar in den siebziger Jahren erstmals nachhaltig die Politik, wie die Mobilisierung von Nichtregierungsorganisationen gegen Pinochets Diktatur in Chile zeigt. Auch die Bindung von Entwicklungshilfe an die Einhaltung von Menschenrechten durch die US-amerikanische Carter-Administration war ein wesentlicher Fortschritt, obgleich er nicht nachhaltig wirkte. Jedoch blendet eine Deutung, die humanitäres Engagement seit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in der Französischen Revolution übergeht, wichtige personelle, institutionelle und ideengeschichtliche Kontinuitäten aus. So sorgten Gruppen wie die Quäker und das IKRK seit dem 19. Jahrhundert durchweg für Opfer des Krieges. Zudem ist das humanitäre Engagement einzelner prominenter Vertreter der Menschenrechtsbewegung – so René Cassin – im Ersten Weltkrieg verwurzelt. Auch die Internierung in den Jahren von 1939 bis 1945 motivierte einzelne Betroffene zu humanitärem Engagement. So wirkte Irmgard Payne, die 1940 in Gefängnissen in Glasgow und Edinburgh litt, später enthusiastisch bei der Arbeit der 1961 von dem Rechtsanwalt Peter Benenson gegründeten Menschenrechtsorganisation Amnesty International mit. Andererseits ist in Rechnung zu stellen, dass auch in den 1970er Jahren huma70 Luff, Operations, S. 727, 737, 746, 751–753. 71 Moores, Civil Liberties, S. 179, 185, 188 f. Vgl. auch Arnd Bauerkämper, Marxist Historical Cultures, ‚Antifascism‘ and the Legacy of the Past: Western Europe, 1945–1990, in: Stefan Berger / Christoph Cornelißen (Hg.), Marxist Historical Cultures and Social Movements during the Cold War. Case Studies from Germany, Italy and Other Western European States, Cham 2019, S. 33–64.

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nitäres Engagement keineswegs nur altruistisch motiviert war. Vielmehr handelt es sich um ein Konfliktfeld, in dem unterschiedliche, oft sogar gegensätzliche Interessen aufeinandertrafen und verhandelt wurden, wie die Auseinandersetzungen über die Entspannung im Allgemeinen und die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Besonderen zeigen.72 Dabei vertraten auch Menschenrechtsaktivisten partikulare Interessen, und ihr Handeln war in spezifischen Traditionen verwurzelt. So prägte Cassins Konzept der Menschenrechte der Rekurs auf den französischen Republikanismus als Erbe der Revolution von 1789. Im Allgemeinen sind auch christliche Konzepte und Vorstellungen von Humanität und Menschenwürde in die Diskussion und Politik der Menschenrechte aufgenommen worden. Diese konstituieren damit ein semantisches Feld, das auch andere Rechtsbegriffe – wie „Naturrecht“ und „Bürgerrecht“ – und Werte wie Empathie einschließt. Darüber hinaus war seit den 1860er Jahren ein humanitäres Völkerrecht entstanden, mit dem Kriegsgewalt sukzessive eingehegt werden konnte. Allerdings traf dieser Prozess in den beiden Weltkriegen auf unüberwindbare Grenzen.73 Zweifellos war innere Sicherheit im Ausnahmezustand der beiden Weltkriege grundsätzlich ein legitimes Ziel. Allerdings begründete die Verkürzung von Identitäten auf bedingungslose nationale Loyalität eine Unterdrückungspolitik, die gleichwohl in den beiden Kriegen und in den daran beteiligten Ländern unterschiedlich ausfiel. Zudem mündete die Kriegspropaganda in eine Mobilisierung, an der sich jeweils breite Bevölkerungsgruppen beteiligten. Wie gezeigt, kann die Perspektive dabei auf die zivilen Feindstaatenangehörige konzentriert, aber nicht reduziert werden. Vielmehr war die Behandlung von Zivilisten und Kriegsgefangenen, die gegnerischen Staaten angehörten, aufeinander bezogen. In den Lagern lebten sie sogar oft in Sichtweite zusammen, und beide Gruppen 72 Hierzu und zum Folgenden: Lasse Heerten, Menschenrechte und Neue Menschenrechtsgeschichte, in; Docupedia-Zeitgeschichte, 31. Januar 2017 (http://docupedia.de/zg/Heerten_menschenrechte_v1_de_2017, Zugriff am 30. März 2017); Brier, Quest, S. 155–158, 172; Winter, Dreams, S. 102–120; Cabanes, Great War, S. 72, 75. Dagegen: Stefan-Ludwig Hoffmann, Human Rights and History, in: Past and Present 232 (2016), S. 1–32, bes. S. 2, 4 f., 20 f.; Jan Eckel, Neugeburt der Politik aus dem Geist der Moral. Erklärungen einer heterogenen Konjunktur, in: ders. / Moyn (Hg.), Moral, S. 22–67, bes. S. 24; Schwartz Seller, We Built up Our Lives, S. 79. Zu AI: Stephen Hopgood, Keepers of the Flame. Understanding Amnesty International, Ithaca 2006, bes. S. 52–73; Tom Buchanan, Amnesty International in Crisis, 1966–7, in: Twentieth Century British History 15 (2004), S. 267–289; ders., „The Truth Will Set You Free“; Bastiaan Bouwman, Outraged, Yet Moderate and Impartial. The Rise of Amnesty International in the 1960s and 1970s, in: Low Countries Historical Review 132 (2017), Nr. 4, S. 53–74. Zur Diskussion auch: Devin O. Pendas, Toward a New Politics? On the Recent Historiography of Human Rights, in: Contemporary European History 21 (2012), S. 95–111, bes. S. 98, 105 f. 73 Weinke, Gewalt, S. 103; von Lingen, „Crimes against Humanity“, S. 103.

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bemühten sich hier, mit selbstorganisierten Aktivitäten zumindest den Anschein von „Normalität“ herzustellen.74 Überdies war das Vorgehen gegen Feindstaatenangehörige eingebettet in eine umfassendere Repression aller „inneren Feinde“, zu denen im Allgemeinen auch Minderheiten, politische Oppositionelle und eigene Bürger zählten, deren Verhalten von gesellschaftlichen Normen abwich. Die Sicherheitspolitik gegenüber zivilen Feindstaatenangehörigen stand damit im Mittelpunkt konzentrischer Kreise, die grundsätzliche Probleme von Gesellschaften in Ausnahmezuständen betreffen: das Verhältnis von Sicherheits- und Humanitätsansprüchen, den Stellenwert von Menschenrechten, die Beziehungen zwischen Nationszugehörigkeit und ethnischer Herkunft, die Rolle der Exekutive und Notstandsgesetze sowie die Rolle von Migration und imperialer Expansion. Letztlich trug die Unterdrückung von Feindstaatenangehörigen in vielen Ländern in den beiden Weltkriegen zur Entstehung einer destruktiven Dynamik bei, welche auch die politische Legitimation der Regierungen beschädigte, wenngleich in differentem Ausmaß, unterschiedlichen Formen und zeitlich variierenden Wirkungsfristen. Damit ist der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen ein Testfall des Willens von Regierungen und Gesellschaften, humanitäre Standards gerade in Ausnahmezustände zu schützen, in denen innere Sicherheit das Gebot der Stunde ist.

Zur Aktualität der Problematik: Internierungen seit den 1990er Jahren und die Rolle der Menschenrechte Der Umgang mit den zivilen Feindstaatenangehörigen in den Jahren von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 verweist zumindest indirekt auf grundlegende Herausforderungen der Gegenwart – von der Internierung islamistischer Terroristen über die Forderung nach einem „Feindstrafrecht“ und den Primat „innerer Sicherheit“ bis zur Überwachung durch Geheimdienste. Die aktuelle Debatte über das Verhältnis zwischen Sicherheit und Menschenrechten bzw. Freiheit spiegelt Verwerfungen wider, die der Übergang zu einem Sicherheits- bzw. Präventionsstaat ausgelöst hat. Diese Entwicklung und die damit verbundenen Kontroversen zeichneten sich in den beiden Weltkriegen deutlich ab, auch wenn die Kritik wegen des propagierten Gebots nationalen Zusammenschlusses zunächst gedämpft blieb. Alles in allem muss der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen in den totalen Kriegen des 20. Jahrhunderts in längerfristige Prozesse eingebettet werden, die mit dem Aufstieg des radikalen Nationalis74 Rachamimov, Liminality, S. 93.

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mus, der Genese einer ethnisch begründeten Fremdenfeindlichkeit und der Herausbildung einer massenmedialen Öffentlichkeit im späten 19. Jahrhundert begannen. Im Zweiten Weltkrieg erreichte diese Entwicklung vor allem mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik einen Tiefpunkt. Die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger in den westlichen Demokratien unterschied sich davon zwar deutlich. Sie zeigte aber ebenfalls ihre Anfälligkeit für fremdenfeindliche Ressentiments, Feindbilder und Verschwörungsvorstellungen, die vor allem in den USA und in Großbritannien maßgeblich zur pauschalen Unterdrückung von enemy aliens beitrugen.75 Auch nach 1945 haben Regierungen weiterhin Internierungen angeordnet, so die UdSSR und die Vereinigten Staaten im Kalten Krieg. Im Anschluss an den Zerfall der bipolaren Weltordnung von 1989 bis 1991 sind schließlich neue ethnische Konflikte und die Gefahr des transnationalen Terrorismus in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. In den neunziger Jahren riefen Regierungen in Auseinandersetzungen wie dem ersten Golfkrieg 1991, im War on Terror nach dem 11. September 2001 und im Kampf gegen Terroristen in Frankreich jeweils erneut einen Ausnahmezustand aus, in dem die Geltung grundlegender Menschenrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien wie des Habeas-Corpus-Prinzips erheblich eingeschränkt wurden. Dabei haben sich vor allem die verantwortlichen Politiker jeweils auf die Pflicht berufen, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Vereinzelt sind von ihnen sogar Gesetze genutzt worden, die schon die Internierung im Ersten Weltkrieg legalisiert hatten. So berief sich US-Präsident George W. Bush auf den 1917 erlassenen Espionage Act. Howard Coble (1931–2015), der von 1985 bis 2005 im Repräsentantenhaus einen Wahlkreis in North Carolina vertrat, rechtfertigte sogar noch 2003 die Ausweisung der Nisei und Issei im Zweiten Weltkrieg als notwendige Maßnahme, die sie letztlich vor Übergriffen der aufgewiegelten Bevölkerungsmehrheit geschützt hätte.76 Diese Beispiele dokumentieren die Aktualität des hier behandelten Verhältnisses von Humanität, Menschenrechten und individuellen Freiheiten einerseits und Sicherheitsbedürfnissen, -kulturen und -politik andererseits. Grundsätzlich hat sich die nationalstaatliche Souveränität in der Sicherheitspolitik deutlich verringert, zumal auch die Herausforderungen – so der Terrorismus und „asymmetrische Kriege“ – eine grenzüberschreitende Dimension gewonnen haben. Damit zeichnen sich neue, noch nicht vollständig absehbare Sicherheitsregimes ab, jedoch keine Rückentwicklungen zu den personengebundenen Herrschafts-

75 Frankenberg, Staatstechnik, S. 231–234, 258–261; Krieger, Geschichte, S. 336–348; Panayi, Fremdenfeindlichkeit, S. 88. 76 Robinson, Tragedy, S. 303 f.

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verbänden, die vor der Herausbildung der souveränen Territorialstaaten im 17. Jahrhundert in Europa dominiert hatten.77 Inzwischen sind auch Menschenrechte institutionell deutlich fester verankert als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie haben im Völkerrecht, im innerstaatlichen Recht und in regionalen Rechtsregimes (wie der 1950 verabschiedeten europäischen Menschenrechtskonvention) einen immer höheren Stellenwert eingenommen, auch im Hinblick auf das hier behandelte Problemfeld. Nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Artikel 9) ist eine willkürliche Verhaftung und Internierung von Personen verboten. Ausnahmen sind nach dem 1966 beschlossenen, aber erst zehn Jahre später in Kraft getretenen Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte auch in Kriegen und zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit in Ausnahmezuständen nur erlaubt, wenn sie befristet sind und rechtliche Verfahren eingehalten werden. Zudem müssen betroffene Gruppen – so Feindstaatenangehörige, Terroristen, Kriminelle und Flüchtlinge – über die Gründe der Internierung informiert werden und Zugang zu Gerichten erhalten. Nicht zuletzt sind sie zu entschädigen, wenn staatliche Behörden gegen diese Grundsätze verstoßen haben. Eine unbegrenzte Internierung kann wegen ihrer negativen physischen und psychischen Auswirkungen auf die Häftlinge auch gegen das 1984 von den Vereinten Nationen verabschiedete Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe verstoßen. Zudem dürfen Kriegsgefangene und Zivilinterniere nach der III. und IV. Genfer Konvention (1949) und ihren 1977 beschlossenen Zusatzprotokollen nicht uneingeschränkt ihrer Freiheit beraubt werden.78 Diese Normen des Völkerrechts finden sich gegenwärtig in den Rechtsordnungen vieler Staaten, die in der Tradition des common law stehen oder den Konventionen der kontinentalen Jurisdiktion verhaftet sind. Häftlinge und Internierte können aber auch an internationale Organe appellieren, um damit ihre Freiheit zu sichern oder zurückzugewinnen. So prüfen der Internationale Gerichtshof in Den Haag, das Menschenrechtskomitee und das Komitee gegen 77 Zwierlein, Return, S. 373 f. Dagegen: Emma Rothschild, What is Security?, in: Daedalus 125 (1995), Nr. 3, S. 53–98, hier: S. 60, 65 f., 71. Zur Debatte nach dem 11. September 2001 u. a. Stephan Büsching, Rechtsstaat und Terrorismus. Untersuchung der sicherheitspolitischen Reaktionen der USA, Deutschlands und Großbritanniens auf den internationalen Terrorismus, Norderstedt 2009, und die Beiträge zu: Wolbert K. Smidt / Ulrike Poppe (Hg.), Fehlbare Staatsgewalt. Sicherheit im Widerstreit mit Ethik und Bürgerfreiheit, Berlin 2009. Zur Erklärung des Ausnahmezustands durch Präsident George W. Bush am 14. September 2001: Neocleous, Critique, S. 39. 78 De Zayas, Human Rights, S. 16, 18–20, 29, 31, 36 f.; Stibbe, Civilian Internment, S. 298; Echternkamp, Krieg, S. 14 f.

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Folter Petitionen. Allerdings gehören wichtige Staaten diesen Institutionen nicht an, oder sie weigern sich, Urteilen und Empfehlungen zu folgen. Auch sind Menschenrechtsverletzungen seit den 1990er Jahren zwar grundsätzlich als Kriegsgrund akzeptiert. Allerdings fehlt bislang eine völkerrechtliche Grundlage für humanitäre Interventionen Dritter von außen. Wie die Kontroversen über die Reaktionen auf die terroristischen Anschläge in der Politik, Gesellschaft und im Recht seit 2001 gezeigt haben, können Menschenrechte jedoch keineswegs als irreversibel gelten. Vielmehr sind sie ebenso wie das Postulat der „Sicherheit“ ein historisch variables Konstrukt, das seit dem 19. Jahrhundert in Auseinandersetzungen von spezifischen Akteuren als Argument und Legitimationsstrategie genutzt worden ist – bis zu den jüngsten Konflikten über den „Krieg gegen den Terror“. Grundsätzlich berechtigte Sicherheitsbedürfnisse können besonders im Ausnahmezustand einer extremen äußeren oder inneren Bedrohung von Regierungen, Polizei- und Militärführungen aufgegriffen und genutzt werden, um Tatkraft zu demonstrieren, Identitäten zu festigen und Herrschaft zu legitimieren. Dabei sind Zivilisten aber keineswegs nur Objekte, sondern auch handelnde Subjekte, wie die populistische Mobilisierung in den beiden Weltkriegen zeigt. Alles in allem verweist die Internierung und Deportation von Feindstaatenausländern und angeblich illoyalen Minderheiten auf die Sollbruchstellen einer Politik, die humanitäre Gesichtspunkte und individuelle Freiheit zugunsten einer dominanten oder sogar verabsolutierten Sicherheitspolitik zurückgedrängt hat. Dies betrifft sogar Länder wie Großbritannien, deren politisches Selbstverständnis offiziell auf zivilgesellschaftlichen Werten wie Freiheitlichkeit, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit beruht hat. Der Umgang mit Zivilisten, die in den beiden Weltkriegen jeweils Feindstaaten angehörten oder auch nur mit ihnen assoziiert wurden, verweist damit auf unsichere und zugleich mythisch überhöhte Selbstbilder nationaler Gemeinschaften.79 Wie gezeigt wurde, kann mit dem Verhältnis von Sicherheit und Menschenrechten ein analytisch fruchtbarer Spannungsbogen untersucht werden, der im interkulturellen Vergleich und Verflechtungsverhältnis zwei bislang voneinander getrennt behandelte Forschungsfelder zusammenführt und gegenwärtig diskutierten Problemen historische Tiefenschärfe verleiht. Studien zu diesem Problemkomplex sind trotz der hier vorgenommenen Fokussierung auf die Geschichtswissenschaft für Fragestellungen und Untersuchungsansätze der Nachbarwissenschaften unmittelbar anschlussfähig. Vor allem ist in der Darstellung belegt worden, dass zivilgesellschaftliche Normen, humanitäre Regelungen und die karitative Fürsorge in den beiden Weltkriegen die Gewalt gegen Zivilisten nicht bändigten, sondern in spezifischen Kontexten allenfalls verringerten. Die 79 Holmes, Enemy Aliens?, S. 31; Kushner, Remembering, S. 19.

1042  8 Fazit

Kriegskulturen gründeten in den einzelnen Staaten auf einer Dämonisierung des Feindes in der Propaganda und Ressentiments gegen Minoritäten. Dazu trugen grenzüberschreitend wirksame Medien – vor allem Zeitungen, aber auch die deutlich weniger untersuchte fiktionale Literatur – maßgeblich bei. Der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen war deshalb nicht von einer genauen Prüfung des individuellen Verhaltens geprägt, sondern besonders von den jeweils vorherrschenden Bedrohungs- und Unsicherheitswahrnehmungen. Konstruktionen des „inneren Feindes“ resultierten aus Ängsten, die sich in Misstrauen und Gerüchten niederschlugen. Die Vielzahl der Denunziationen spiegelte letztlich populäre Vorstellungen politischer und gesellschaftlicher Ordnung unter den Bedingungen des totalen Krieges wider. (Un-)Sicherheitswahrnehmungen waren in beiden Weltkriegen aber auch auf die jeweilige militärische Lage zurückzuführen, wie der Übergang zur verschärften Internierung in Russland 1915 und in den USA nach dem Überfall Japans auf Pearl Harbor zeigt. Prozesse nationaler Integration einerseits und des Ausschlusses von verdächtigen Fremden andererseits beeinflussten ihrerseits den Kriegsverlauf und die Berichterstattung über Niederlagen und Siege. So war im Vorwurf des „Verrats“ im Ersten Weltkrieg nicht nur in Deutschland bereits die Vorstellung vom „Dolchstoß“ angelegt.80 Insgesamt wirft dieses Buch letztlich grundsätzliche und weiterhin aktuelle Probleme auf, die u. a. die Rolle des Staates in Konstellationen des nationalen Notstandes betreffen. Auch in diesen Kontexten sind die Verantwortlichkeit und Zurechenbarkeit der Sicherheitsorgane, deren Handeln transparent bleiben muss, zu wahren. Zugleich unterstreicht die Untersuchung das Gebot zivilgesellschaftlicher Wachsamkeit in verkündeten Ausnahmezuständen akuter Bedrohung. Das Verhältnis von Humanität und Freiheit einerseits und Sicherheit andererseits wird auch weiterhin politische Diskussionen hervorbringen und prägen, besonders in Bezug auf den Terrorismus. Die Herausforderung, einen tragfähigen Konsens zwischen den beiden Zielen zu erreichen, ist aber keineswegs neuartig. Wie in diesem Buch gezeigt worden ist, vermittelt die Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger in den beiden Weltkriegen vielmehr aufschlussreiche Befunde und Einsichten, die auch die gegenwärtige Diskussion bereichern können. Der Umgang mit Zivilisten in den Ausnahmezuständen von Kriegen ist letztlich ein Lackmustest des Verhältnisses von Sicherheitspolitik und Humanität in Staaten und Gesellschaften, die Zivilität beanspruchen.81

80 Altenhöner, Kommunikation, S. 145, 279, 288f., 303, 310 f., 316 f.; Gerwarth, Die Besiegten, S. 330–342; Bartrop, „Authority can take no risks“, S. 140; Borodziej / Górny, Weltkrieg, S. 237; McMillan, War, S. 75. 81 Joas, Sakralität. Vgl. auch Boghardt, Spies, S. 147; Echternkamp, Krieg, S. 22; Holmes, ‚British Justice at Work‘, S. 165; Holmes, Enemy Aliens?, S. 31; Sponza, Internment, S. 161.

Literaturverzeichnis Aktenbestände a National Archives (NA, London): Home Office (HO) HO 45/10756/267450 HO 45/24677 HO 45/23653 HO 45/26011 HO 213/488 HO 213/1427 HO 215/39 HO 215/41 HO 215/50 HO 215/72 HO 215/74-82 HO 215/84 HO 215/86-92 HO 215/94-99 HO 215/101 HO 215/102 HO 215/105 HO 215/106 HO 215/108-114 HO 215/116 HO 215/118 HO 215/119 HO 215/123 HO 215/130 HO 215/169 HO 215/227 HO 215/334 HO 215/412 HO 215/452-459 HO 215/461 HO 215/462

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1044  Literaturverzeichnis

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Aktenbestände



Colonial Office (CO) CO 295/518 CO 323/1130/18 CO 323/1592/47 CO 323/1666/1 CO 323/1667/7 CO 323/1795/13 CO 323/1795/14 CO 323/1795/17 CO 822/112/7 CO 904/186 CO 968/34/4 CO 968/34/5 CO 968/112/4 CO 980/123 CO 980/130 CO 980/131 CO 980/157

War Office (WO) 32/11678 204/12707-12709 219/1366

Admiralty (ADM) 116/4466

Boards of Customs, Excise, and Customs and Excise, and HM Revenue and Customs (CUST) 106/336

Security Service (KV) 4/362

Lord Chancellor’s Office (LCO) 2/1377

Prime Minister’s Office (PREM) 4/39/2

National Savings Committee (NSC) 12/76

General Register Office (RG) 48/20.

1045

1046  Literaturverzeichnis

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Aktenbestände



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FEWVRC/MISSIONS 9/3/5/3: Relief Mission Holland, Belgian Repatriation Fund, Oct 1915 – Jun 1917 9/3/6: Relief Mission Holland, Various Letters Oct 1914 – Jul 1921 9/4/5/1, Relief Mission Holland, Van Tuyll, Mar 1915 9/3/5/2: Relief Mission Holland, Fonds du Roi Albert, Sep 1917 – Nov 1918 9/3/5/3: Relief Mission Holland, Belgian Repatriation Fund, Oct 1915 – Jun 1917 10/1/6/9: Relief Mission, Germany, Elisabeth Rotten, Jun – Oct 1919. 12/8/4: A. R. Fry Reports, c. 1915 – c. 1920 EWVRC/PICS/10/5: Emergency Committee, Various FEWVRC/PAM/1/2/1: Russia, 1916–1918. TEMP MSS 6/3/1: Marion Charlotte Fox Papers TEMP MSS 6/3/5: Marion Charlotte Fox Papers

Friends Committee for Refugees and Aliens (FCRA) 1: Minutes 27.3.1933 to 16.12.1935 2: Minutes 1936–1938 3: Minutes 1939 4: Minutes 1940 5: Minutes 1941 15: Aliens Section: Minutes 1939–1946 17/1: Reports 1939–1942 17/5: FCRA Reports & Appeal leaflets, printed 19/8: General Correspondence, 1939–1949 19/9: General Correspondence, 1934–1949 25/2: British Committee for Refugees from Czechoslovakia, 1938–1939 25/3: Christian Council for Refugees from Germany and Central Europe, 1938–1939, Correspondence 25/4: German-Jewish Aid Committee, Correspondence, 1938–1939 25/5: High Commission for Refugees Coming from Germany, 1938–1939 25/6: Movement for the Care of Children from Germany (Inter-Aid Committee), 1938–1939, Correspondence 25/7: International Christian Committee for German Refugees Corres, 1938 25/8: Co-ordinating Committee for Refugees: Nursing Sub-committee Corres 1938–1939 25/10: Scottish Council for Refugees 1938–1939, Correspondence 25/11: Secours Democratique aux Refugies, Corres (Ger; Fre) 1939 25/12: Austrian Self-Aid, Correspondence, 1938–1939 25/13: Belfast Central Mission, Correspondence, 1938–1939 25/14: British Federation of University Women, Correspondence, 1938 25/15: British Legion, Correspondence, 1938 25/16: British Youth Peace Assembly, Correspondence, 1938 25/17: Christian Science Committee, Correspondence, 1939 25/18: Church of England Committee for „Non-Aryan“ Christians, Correspondence 1939 25/19: International Committee on the Christian Approach to the Jews, Corres, 1938

1048  Literaturverzeichnis

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Personenregister Abdülhamid II. (Sultan) 450 Acland, Richard 748 Addams, Jane 100, 490, 498 Ador, Gustave 141, 366, 579, 611, 614 f., 622, 628 Adrianow, Alexander A. 397 Agamben, Giorgio 32 f. Akçura, Yusuf 456 Aleksejew, Michail 401 Alexander, Ronald O. 888 Alexander II. (Zar) 51 f., 196, 370, 664 Alexander III. (Zar) 53, 403 Alexandrina Victoria of Kent (Königin Victoria) 52 Allan, Maud 233 Allen, Clifford 264 Allen, James 147 Allendale, Viscount (Wentworth Beaumont) 246 Alfons XIII. (von Spanien) 606 Anderson, Chandler 329 Anderson, John 711 f., 715, 719 f., 724, 727, 741 f., 744, 747, 751, 756, 758 Angell, Norman 169, 742 Anzani, Decio 739, 933 Arendt, Hannah 787, 925 Aritomo, Yamagato 511 Arndt, Adolf 102 Arntz, Aegidius 80 Arroyo del Rio, Carlos Alberto 842 Ascoli, Alfredo 475 Asmis, Rudolf 866, 876 Asquith, Cyril 744 f. Asquith, Herbert 207 Asser, Tobias 81 Atkin, Lord James 758 Attlee, Clement 738, 747, 756 Auguste Viktoria 679 Augustinus, Aurelius 77 Augustus (Kaiser Gaius Octavius) 50 Baden, Max von 603 Baden-Powell, Robert 202 Badoglio, Pietro 737, 804, 898, 925 Baeck, Leo 921 https://doi.org/10.1515/9783110529951-010

Baily, James 674 Baker, Newton D. 488 f., 500 Baldwin, Roger 831 Baldwin, Stanley 690, 974 Balmont, Konstantin 388 Banister, Joseph 192 Barbosa, Ruy 506 Barraclough, Geoffrey 20 Batjuschin, Nikolai 386, 406 Battenberg, Ludwig (Louis) 209 Baxa, Karel (Karl) 444 Beamish, Henry Hamilton 279 Beaverbrook, Lord (William Maxwell Aitken) 701 Becker, Dom João 506 Beljajew, Michail 376 Bell, Frank Dillon 539 Bell, George 743, 747, 933, 957, 1030 Bell, J. Franklin 179 Belloc, Hilaire 234 Bellot, Hugh H. 102, 104 Bendetsen, Karl Robin 824 Benedikt XV. (Papst) 337, 606 Benenson, Peter 1036 Benn, Wedgwood 706 Bentham, Jeremy 40 Bentwich, Norman 974 Beresford, Charles 230, 599, 622 Bergstraesser, Arnold 820 Bernadotte, Folke 947 Best, Robert 934 Bethmann Hollweg, Theobald von 101, 413, 465, 663, 679 Beveridge, William 928 Bevin, Ernest 756, 991 Bey, Abdülhalik 459 Biddle, Francis 817, 821, 823, 833 Birkett, Norman 742 Bismarck, Otto von 52 f. Bissing, Moritz Ferdinand von 322, 653 Blackburn, Maurice 866 Bland, Nevile 717 f. Blatchford, Robert 192 Blum, Léon 778

1120  Personenregister

Bluntschli, Johann Caspar 80, 83 Bobrinski, Graf Georgi 393 Bocchini, Arturo 801 Bollati, Riccardo 472 Bonaparte, Napoleon 79 Bonar Law, Andrew 544 Bondy, Charlotte 733 Bondy, Peter Paul 733 Borden, Robert 542, 547 Born, Friedrich 949 Botha, Louis 552–555, 565 Bottomley, Horatio 225 Bourke, Joanna 58 Bracey, Bertha 932, 971–973, 976, 978 f., 992 Braden, Spruille 842 Brändström, Elsa 27, 624 f., 655 f. Brás, Venceslau 504, 508 Breiter, Ernest (Ernst) 444 Brennan, Frank 866, 874 Brjussow, Waleri 389 Brown, John Vigor 539 Brownlie, Ian 19 Bruckhoff, Hermann 334 Bryan, William Jennings 329 Bryce, James 248, 520, 534 Buchanan, George 866, 874 Buckmaster, Stanley 245 f., 251 Buffarini-Guidi, Guido 805 Bulgakow, Sergei N. 388 Bülow, Bernhard von 179 Burckhardt, Carl 940, 947–949, 987 Burckhardt, Walther 577 Burleson, Albert 500 Burns, John 209 Burton, Henry Walter 716 Bury, Herbert 320 Bush, George H.W. 836 Bush, George W. 3–5, 1039 Butcher, John 281 Buxton, Dorothy 1024 Buxton, Sydney 552 Buzzati, Giulio Cesare 475 Cable, William 650 Cabot, John Moors 840 Cadbury, Elizabeth 654

Cahill, Leslie 874 Caillaux, Joseph 346 Campbell, Eric 862 Campbell-Bannerman, Henry 194 Carnegie, Andrew 128, 486, 596, 662 Carsten, Francis L. 714 Carter, Jimmy 1036 Cassel, Ernest 226, 653 Cassin, René 1006, 1023, 1026, 1036 f. Castañeda, Jorge Ubico 842 Catchpool, Corder 971 Cave, George 237, 251, 263, 264, 597 Cavell, Edith 102, 650 Cavendish-Bentinck, Victor 722 f. Cazelet, Victor 699, 743, 748, 1030 Cecil, Robert (Viscount Cecil of Chelwood) 110 f., 579, 599, 652, 695, 744 Cellebrier, Jean 966 Chamberlain, Joseph 261 Chamberlain, Neville 706, 861, 883, 981, 992 Chelmsford, Lord (Frederic Thesiger) 556 Chenevière, Jacques 940 Cheney, Richard 8 Cheradáme, André 507 Chesney, George 191 Chesterton, Cecil 226, 234 Chesterton, Gilbert K. 234 Childers, Erskine 193 Christie, Agatha 657 Chruschtschow, Nikita 799 f. Churchill, Winston S. 116, 203, 714, 716, 719, 722 f., 727, 734, 738, 744–747, 750, 861, 884, 906, 941, 984, 1030 Chwostow, Alexei N. 386 Ciano, Galeazzo 728 Cicero, Marcus Tullius 77 Clark, Ramsey 3 Clarke, John Henry 234 Clemenceau, George 357 Clements, Herbert Sylvester 548 Coble, Howard 1039 Cohn, Ernst Joseph 116 Cohn, Oskar 334, 1014 Cohen, Lionel L. 927 Colijn, Hendrikus 915

Personenregister 

Conze, Eckart 36 Cook, Joseph 521 Coolidge, Calvin 810 Cooper, Richard 230, 234, 235, 281 Courtney, Leonard 178 Cramer, Renée-Marguerite 616 Creel, George 487, 504 Cripps, Stafford 697 Croft, Henry Page 235, 251, 732, 744 Crowe, Eyre 597 Cruickshank, Ernest Alexander 549 Cruickshank, Joanna 735 Cunliffe-Lister, Philip (Lord Swinton) 722 Curtin, John 874 Curzon, George (Lord) 222 Czernin, Ottokar 438 Daase, Christopher 43 Daladier, Édouard 778 f., 781, 783, 792 Dalton, Hugh 986 Dalziel, Henry 234 Darling, Malcolm 903 Daszyński, Ignacy 444 Daudet, Léon 348, 359 Davidson, Henry P. 498 Davies, David (Lord) 981 f. Davies, Rhys 743 Davison, Henry P. 687 Debs, Eugene 493, 500 Deedes, Wyndham 992 De Lacey, Hugh 828 Deman, Ralph Van 494 f., 500 Der Yeghiayan, Zaven 466 Devonshire, Herzog (Edward Cavendish) 746 DeWitt, John L. 824 f. Díaz, Porfirio 503 Dies, Martin 810, 824 DiMaggio, Joe 819 Dolci, Angelo Maria 453 Doherty, Charles 542, 546 f. Draper, Ruth 969 Draudt, Paul 682 Dreyfus, Alfred 89, 778 Dsershinski, Felix 416 Du Bois, William E.B. 499 Duca, Francesco Borgongini 923 Duisberg, Carl 322

1121

Dunant, Henri 84, 646 Dundas, Lawrence (Marquess of Zetland) 708 Dyer, Reginald 285, 572 Earle, Edward Mead 812 Ebelow, Michail 399 Ebert, Friedrich 341 f. Eddis, F.E. 236 Eden, Anthony 719 f., 738–740, 942, 949, 960, 966, 982 Edmonds, James 202 Edward VII. (König) 90 Egger, Philipp 948 Egle, Edouard 960 Ehrenzeller, Wilhelm 585 Einstein, Albert 170 Eisenhower, Dwight D. 829 Eisenhower, Milton 829, 835 Elias, Norbert 732 Ellis, John 175 Emerson, Herbert 699, 973 Emmons, Delos C. 826 f. Endo, Mitsuye 832 Ennis, Edward J. 818 Epp, Franz Ritter von 761 Ern, Wladimir 388 Erzberger, Matthias 334 Esher, Lord (Reginald Brett) 195 Eugster, Arthur 684 Evans-Gordon, William 198 Evatt, Herbert V. 875 Faringdon, Lord (Gavin Henderson) 746 Faupel, Wilhelm 838 Favre, Édouard 1023 Fawcett, Millicent 178 Febvre, Lucien 56 Feiniger, Siegmund 904 Ferrière, Frédéric 628 Filipkowski, Piotr 776 Finch, George 116 Fiore, Pasquale 81, 89 Fischer, Victor 236 Fisher, Andrew 522 Fjodorowna, Alexandra 380 Flierl, Johannes 871 Focke, Eberhard 536

1122 

Personenregister

Follette, Robert 498 Foot, Dingle 755 Foot, Isaac 722 Foot, Michael 742 f. Ford, Gerald 835 Forde, Frank 874 Forster, Edward Morgan 742 Foucault, Michel 32, 64 Fox, George 76 Fox, Ralph 672 Fraenkel, Ernst 760, 768 Franco, Francisco 779 f., 839, 842, 909, 919, 925 François-Poncet, André 792 Frank, Anne 917 Frank, Semjon L. 389 Franz Joseph I. (Kaiser) 366, 374, 426f., 438, 442 Fraser, Peter 882 Freeman-Thomas, Freeman 901 Freyre, Gilberto 844 Freytagh-Loringhoven, Axel von 115 Fry, Ruth 632, 641, 644, 672 Fry, Varian 925 f. Fryatt, Charles 102 Gallacher, William 266, 694 Game, Philip 690, 692 Gardiner, Alfred George 225 Garner, James W. 27, 109 Gasperi, Alcide de 444 Geelkerken, Cornelis van 853 Georg V. (König) 226, 532 Georges-Picot, François 393 Gerard, James W. 27, 300, 311, 329–330, 484–485, 550, 660 Gibson, Frank 867 Gide, André 27 Giichi, Tanaka 511 Gillies, William 933 Gilmour, John 690, 698 Giolitti, Giovanni 477 Glading, Percy 695 Glasberg, Abbé Alexandre 926 Goebbels, Joseph 707, 766, 769, 834 Goffman, Erving 182 Gökalp, Mehmet Ziyậ 456

Goerner, Ernst 811 Goldsmith, Mac (Max Goldschmidt) 714 Gollancz, Victor 756 Goltz, Colmar von der 653 Gorodezki, Sergei 388 Goschen, Edward 101 Grandi, Dino 741 Grant, Madison 499 Grawitz, Ernst Robert 939 Greene, Ben 759 Gregory, Thomas 489, 495, 499 Große, Friedrich 483 Grotius, Hugo 77 Grun, George 725 Gulbransson, Grete 300 Gulkevich, Konstantin 452 Gullion, Allen W. 824 Gumbel, Emil Julius 820 Gustloff, Wilhelm 908 Gutschkow, Alexander 384 Gwynne, Howell A. 233 Haccius, Rodolphe 944, 987 Haffner, Sebastian 746 f., 714 Haldane, Richard 196, 202 Halifax, Lord (Edward Wood) 723, 728 Hall, Reginald 220 Hamilton, Alexander 1 Hanneken, Elsa von 610, 655 f. Hannon, Patrick 290 Hansen, Paul 536 Hardie, Keir 533 Hardy, Thomas 230 Harker, Allen 728 Harmsworth, Alfred (Lord Northcliffe) 291, 155, 193, 265 Harrer, Heinrich 904 Hart, John 887 f. Harte, Archibald 646, 649 Hartmann, Charles 645, 672 Harvey, Thomas Edmund 651, 706 Hauser, Carl 584 Hellenthal, Walter 870 Henderson, Arthur 222 Héring, Pierre 786 Hertzog, James 552 Hervé, Gustave 348

Personenregister 

Hexamer, Charles 485 Heydrich, Reinhard 765 Hibbard, Carlisle 646 Higgs, Edward 205 Hilferding, Rudolf 790 Hill, Claude 676 Hill, Roland 732 f., 931 Himmler, Heinrich 762, 765, 767, 769, 947 Hindenburg, Paul von 322, 335, 794 Hirabayashi, Gordon 832 Hirschfeld, Oskar 530 Hirschmann, Otto Albert (Albert O. Hirschman) 925 His, Eduard 577 Hitler, Adolf 31, 115, 118, 465, 717, 739, 751, 764 f., 767, 770, 797, 813 f., 946, 995 Hoare, Samuel 693, 706 Hobbes, John 61, 68, 77 Hobbs, Sam 812 Hobhouse, Charles 244, 672 Hobhouse, Emily 178, 271, 630, 644 Hobhouse, Stephen 631 f., 681 Hobson, John A. 157 Hodgkin, Henry 264 Hoerni, Robert 344 Hoffmann, Arthur 611 Hoffmann, Conrad 648 f. Hollis, Roger 753 Holt-Wilson, Eric 216 Hoover, Herbert 328, 651 f., 674, 937, 1024 Hoover, J. Edgar 809 f., 813, 820, 823, 826, 831, 833 Hope, Victor A.J. 901 Hötzendorf, Conrad von 421 Hore-Belisha, Leslie 748 Horthy, Miklós 447, 949 Howard, Elizabeth Fox 998 f. Hübbe, Erwin 506 Huber, Max 940–942, 949 Hughes, William Morris 521–523, 528, 861, 874 Hughes, William R. 640, 973, 976 Hull, Cordell 843 Humboldt, Wilhelm von 46 Hunziker, Jakob 614 Hyndman, Charles 192

1123

Hyndman, James Duncan 886 Inskip, Thomas (Viscount Caldecote) 747 Ironside, Edmund 720 Isaacs, Rufus (Lord Reading) 269 Isensee, Josef 69 Jackson, Wilfrid Edward 899 Jacobsthal, Paul 714 Jagow, Gottlieb von 472 Jagow, Traugott von 318 Januschkewitsch, Nikolai 377, 386, 388, 395, 399 Jebb, Eglantyne 1024 Jellinek, Georg 89 Jeudwine, Hugh Dandham 288 Joel, Otto 476 Joffre, Joseph 346 Johnson, Albert 808 Johnson, Herschel 811 Johnson, Lyndon B. 3 Johnson, Samuel 78 Joyce, James 429 Joyce, William 721, 757 Joynson-Hicks, William 230, 234, 235, 246, 281 Julliard, Charles 1023 Junod, Marcel 937, 965, 987 Just, Otto 311 Jusupow, Felix F. 397 f. Kaczynski, Martin 732 Kahn, Bernhard 306 Kaltenbrunner, Ernst 947 Karejew, Nikolai I. 300, 375 Karl I. (Kaiser) 442 f. Karl II. (König) 72 Kaster, Robert A. 57 Keeley, James H. 831 f. Keenleyside, Hugh 888 Keitel, Wilhelm 769 Kell, Vernon 203, 695, 715, 722, 728, 879 Kellogg, John Harvey 493 Kellogg, Will Keith 493 Kellogg, Vernon 328 Kemal, Mustafa (Atatürk) 106, 461, 468 Kennan, George F. 824 Kent, Tyler 718 Kerenski, Alexander 409, 412

1124  Personenregister

Kerr, Philip (Lord Lothian) 709 Kershner, Howard 979 Kessel, Gustav von 318 Kessler, Harry Graf 300 Ketchum, John Davidson 39 Kidd, Ronald 695 f., 750 Kinsky, Nora 625 Kipling, Rudyard 230 Kitchener, Horatio 177 Klofáče, Václav Jaroslav 445 Knight, Maxwell 292, 723 Knox, Frank 823, 826 Kohler, Josef 101, 329 Köhnen, Wilhelm 695 Koestler, Arthur 756 Korolenko, Wladimir 409 f. Korematsu, Fred 832 Kriege, Johannes 95, 339 Krobatin, Alexander von 428 Kruger, Paul (Ohm) 552 Kuczynski, Jürgen 695, 715 Kuhn, Fritz 813, 821 Kun, Béla 447 Kundt, Ernst 790 Kuprin, Alexander 388 Kuropatkin, Aleksei 408 Laboulaye, Édouard René Lefebvre de 81 Lafitte, François 745 f., 932 La Guardia, Fiorello 814 f., 819 Lambert, George 231 Langguth, Eugen 536 Lansdowne, Lord (Henry PettyFitzmaurice) 264 Lansing, Robert 104, 489 Laporte, Pierre 891 Laski, Harold 715, 748 Laski, Nathan 745 Laski, Neville 927 Lauterpacht, Hersch 117, 1024 Laval, Pierre 778 Law, Bonar 222, 544 Lawley, Arthur 602 f. Laws, Bolitha 821 Lay, Julius G. 330 Leese, Arnold 701 Le Queux, William 193, 201 f., 232, 234, 237

Legh, Thomas Wodehouse (Lord Newton) 270, 596, 598, 622 Lehmann-Russbüldt, Otto 170, 695 Lemkin, Raphael 469, 1026 Lenin, Wladimir Iljitsch 124, 414, 1005 Lepsius, Johannes 465 f. Lettow-Vorbeck, Paul von 566 Lichnowsky, Karl Max von 644 Liddell, Guy 719 f., 811 Lieber, Francis (Franz) 83 f., 97 Liebknecht, Karl 171, 331, 466 Lincoln, Abraham 83, 139 Lindbergh, Charles 813 Lindemann, Karl Eduardovitsch 409 f., 412 Lippmann, Walter 814, 824 Liversidge, Robert 758 Lloyd George, David 217 f., 220, 222 f., 238, 263, 265, 285, 288, 290, 658, 723, 756, 1029 Lochner, Louis P. 834 Locke, John 72 Locker-Lampson, Oliver 748 Lockwood, Mark 201 Lodge, Henry Cabot 494 Loewenstein, Karl 811 Long, Boaz 842 Long, Breckinridge 832 Long, Walter 220 Lord Derby siehe Stanley, Edward Loreburn, Lord 213 Loraine, Percy 709, 751 Luckner, Felix von 536, 538, 876, 879 Ludendorff, Erich 322 Luhmann, Niklas 48 f., 56 Luther, Martin 44 Luxburg, Karl von 508 f. Luxemburg, Rosa 171 Lwow, Georgi Jewgenjewitsch 669, 412 Lyttelton, John (Lord Cobham) 714 Lytton, Lord (Victor Bulwer-Lytton) 744 f. MacArthur, Arthur 180 MacDonald, Malcolm 727, 891, 901 MacDonald, Ramsay 169, 207, 209, 219, 231, 286 Mackenzie King, William Lyon 883 MacLean, John 266

Personenregister 

MacLean, William F. 547 MacLeish, Archibald 831 MacMichael, Harold 895 Macready, Nevil 288 Madero, Francisco 503 Madison, James 3 Magro, Alessandro 933 Mair, Alex 869 Maklakow, Nikolai 379, 398, 402 Malcolm, Neill 188, 974 Mallet, Bernard 210 Mallet, Louis 599 Malvy, Louis 347, 356 Mandel, Georges 786 Mandelstam, André 112, 117 Mander, Geoffrey 715, 748 Mann, Heinrich 295 Markel, Karl Emil 609, 636, 653 f., 675 Marks, Simon 992 f. Marshall, Thurgood 2 Martens, Fedor Fedorovich 81, 91 Marti, Roland 948 Marval, Carle de 684 Massey, William 533–535 Masterman, Charles 230 Matsue, Toyohisa 513 f. Maunier, Guy du 194, 196 Maxse, James Leopold (Leo) 201 f., 233 McAdoo, William G. 489 McCarthy, Joseph 836 McCloy, John 824 McDonald, James 188, 974 McKenna, Reginald 208, 213, 224, 231, 237, 241–244, 246, 249, 260, 280, 638 McKinley, William 483 Meath, Earl of (Reginald Brabazon) 230, 246 Medeiros, Antônio Borges de 508 Meinecke, Friedrich 304 Melon, Germaine 975 Menocal, Maria García 505 Menzies, Robert 862 f., 866, 870, 874 f. Marchandeau, Paul 782 Mérignhac, Alexandre 178 Metternich, Klemens von 51 Meyendorff, Alexander von 410 Miljukow, Pawel 99, 373, 376, 406, 409

1125

Miller, David Hunter 109 Mills, Elliott 195 Milner, Alfred 178, 222, 290 Minck, Lucien 366 Mjasojedow, Sergei 383 Modigliani, Giuseppe Emanuele 581 Mohl, Robert von 81 Mola, Emilio 707 Moltke, Helmuth von 588 Monckton, Walter 712 Montagu, Edwin Samuel 283, 556 Montandon, Georges 936 Montefiore, Leonard G. 927 Moore, Thomas 726 Morel, Edmund Dene 169, 209, 262 f. Morgenthau, Henry 27, 453, 466, 661, 822 Morris, Leland Burnette 834 Morrison, Herbert 75 f., 768, 983 f. Morley, John 209, 263 Mosley, Oswald 689–692, 694, 717, 722, 753, 755 f. Mott, John 646 Motta, Giuseppe 909 Mountbatten, Edwina 965 Moylan, John 966 Moynier, Gustave 80, 82, 84, 88–90, 141 Mueller, P.W. 545 Mühsam, Erich 316 Müller, Gustav 333 f. Müller, Lauro 506 Müller-Blensdorf, Ernst 730 Müller-Meiningen, Ernst 101 Mulroney, Brian 891 Munro-Ferguson, Ronald 521 f. Munson, Curtis 823 Murawjow, Walerian 388 Murphy, Emily 550 Murray, Gilbert 749 Mussert, Anton Adriaan 853 Mussolini, Benito 113 f., 165 f., 292, 469, 477, 689, 691, 726–728, 734, 740 f., 751 f., 787, 800, 802, 804–806, 814, 842, 868 f., 885, 896, 898, 923, 936, 955, 981, 1011 Myer, Dillon 829 Nansen, Fridtjof 188, 918 Napoleon (Bonaparte) 51, 79, 344, 631

1126  Personenregister

Naville, Édouard 620, 622, 684, 687 Nelson, Lord Ernest Rutherford of 928 Newsam, Frank 690, 711 Nichols, Beverley 717 Nicolai, Friedrich 170 Nicolai, Walther 294 Nightingale, Florence 83 Nikolaus II. (Zar) 369, 373, 377 f., 383, 405– 412, 665, 667 Nitti, Francesco 477 Nixon, Richard 3 Nobel, Alfred 52 Noel-Baker, Philip 743 Northumberland, Duke of (Alan Percy) 279 Noske, Gustav 340 Obama, Barack 6 O’Connor, Thomas P. 207 Odier, Lucie 987 Oppenheim, E. Phillips 201 Oppenheim, Lassa 98, 101, 103 Orlando, Vittorio Emanuele 474 f. Ormerod, Mary 703 Orwell, George 721, 756 Ossietzky, Carl von 972 Otter, William 543 f., 546, 548 f., 551 Ould Slahi, Mohamed 6 Paasche, Hans 170 Page, Arthur 134 Page, Walter Hines 70, 215, 484 Paget, Arthur 205 Palmer, Alexander Mitchell 492, 500 f., 806– 809 Palmer, Roundell Cecil (Lord Selborne) 750, 986 Pankhurst, Christabel 205, 232 Pankhurst, Emmeline 205 Pankhurst, Sylvia 205 Paravicini, Fritz 514, 613, 958, 960, 965, 996 Parkes, James 702 Parmoor, Lord 213, 251, 283 Pascha, Ahmet Cemal 451 Pascha, Damat Enver 451, 454 f. Pascha, Mahmut Kamil 463 Pascha, Mehmet Talật 106, 451, 454 f., 458– 460, 466, 469 Paterson, Alexander 887

Payne, Irmgard 1036 Payne, John 534 Peake, Osbert 716, 731, 750 Pearce, George 524, 528 Pease, Jack 608 Pease, Joseph A. 209 Pearson, Lester B. 891 Peel, Robert 191 Pemberton Billing, Noel 233, 281 Peñaranda, Enrique 843 Penn, William 76 Peppin, Patricia 542 Pershing, John 500 Pétain, Philippe 789 f., 925, 968, 993, 1011 f. Petruševič, Evhen 444 Pickersgill, Edward 207 Pinero, Arthur 225 Pinochet, Augusto 1036 Pirenne, Henri 316 Pitt-Rivers, George 279 Pittoni, Valentino 444 Pius XII. (Papst) 948 f. Pollock, Frederick 269 Ponsonby, Arthur 169, 231 Pontemalgherair, Leopold Schleyer von 424 Porro, Elisio Antonio 475 Powell, Ellis 234 Prager, Robert 496 Pritt, Denis Noel 748, 756 Pueyrredón, Honorio 509 Py, Aurelio da Silva 839 Pye, Edith 957 Quidde, Ludwig 170, 609 Ramsay, Archibald Maule 719 Rathbone, Eleanor 699, 743 f., 752 Rathenau, Walther 322 Reagan, Ronald 836 Reddy, William 56 Redl, Alfred 421 Redlich, Josef 443 Renault, Louis 71, 102 Rennenkampff, Pawel Karlowitsch von 381 Reşit, Mehmet 459 Revertera, Anna 625 Rey, Koos de la 555 Reynaud, Paul 792

Personenregister 

Rezanow, Alexander 382 Ribbentrop, Joachim von 972 Riegner, Gerhart 948 Ringle, Kenneth 823 Roberts, Frederick (Lord) 193 Roberts, Owen 823 Roberts, Wilfrid 743 Rocker, Rudolf 256 Rockefeller, Nelson 814 Rohner, Beatrice 461 Rolin-Jaequemyns, Gustave 80, 86, 88, 344 Rolland, Romain 170 Romanow, Nikolai Nikolajewitsch 377, 393, 401 Romanowa, Tatjana Nikolajewna (Großfürstin) 27, 668 Roosevelt, Eleanor 969, 816, 925 Roosevelt, Franklin D. 115, 139, 501, 719, 811–815, 817, 819–821, 823 f., 826, 828 f., 831–833, 837, 839–843, 888, 909, 946, 1010, 1025 Roosevelt, Theodore 482, 485 Rosebery, Earl of (Archibald Primrose) 197 Rosenberg, Alfred 797 Rosenberg, Ethel 836 f. Rosenberg, Julius 836 f. Rosenwein, Barbara 57 Rossiter, Clinton 139 f., 811 Rost van Tonningen, Meinoud Marinus 916 Rothermere, Lord (Harold Harmsworth) 691, 721 Rothermund, Wilhelm 506 Rothfels, Hans 732 Rothmund, Heinrich 586, 908, 910 Rothschild, Lionel de 992 f. Rotten, Elisabeth 337, 644–646, 672 f., 675 Röttgen, Norbert 1 Rougier, Antoine 96 Rousseau, Jean-Jacques 78 Rowntree, Herbert 973 Roxburgh, Ronald 27 Rubinstein, Dmitri 406 Rublee, George 699 Ruegger, Paul 948 Rumbold, Horace 698 Russell, Bertrand 265

1127

Russell, George 535 Rutherford, Ernest 928 Saburō, Kawamura 846 Şakir, Bahaettin 458 f. Salandra, Antonio 430, 475 Salazar, António de Oliveira 925 Salgado, Plínio 937 Salisbury, Lord (Robert Gascoyne-Cecil) 197 Salt, Henry S. 73 Samarin, Juri 371 Samuel, Herbert 231, 237, 240, 658 Sanders, Robert 291 Santos, Eduardo 842 Sarraut, Albert 780, 785 f. Sasonow, Sergei 393, 405, 453 Satow, Ernst M. 27 Sauckel, Fritz 776 f. Savigny, Friedrich Carl von 81 Scapini, Georges 790 Schack, Ella von 625 Scheubner-Richter, Max von 465, 468 Schëuch, Heinrich 340 Schiemann, Theodor 300 Schiff, Otto 698, 927, 993 Schmidt, Walter 530 Schmitt, Carl 114 f., 343 Schröder, Bruno 226, 640, 653 f. Schubert, Ernst 902 Schubert, Lucie 902 Schultz, Erich 536, 540 Schuurmann, Willem J.C. 588 Schwarzenberger, Georg 699, 732 Schweitzer, Albert 352 Schwitters, Kurt 730 Scott, Charles P. 175 Scrutton, Thomas 269 Seegner, Carl 535 f. Semon, Felix 226 Seyfettin, Ömer 456 Shaughnessy, Thomas 542 Shaw, Flora (Lady Lugard) 657 Shaw, George Bernard 234, 605 Shaw, Thomas (Lord) 268 f. Shilinski, Jakow 381 Shinpei, Gatô 511 Short, Walter C. 823

1128  Personenregister

Shortt, Edward 281 Silverman, Sydney 742 f., 748 Simon, John 237, 249, 260, 693, 697 Simpson, John Hope 276 Sloterdijk, Peter 2 Smith, Frederick E. (Lord Birkenhead) 283 Smith, James Parker 232 Snijders, Cornelis J. 589 Snowden, Philip 231, 276 Somerville, Annesley 735 Sommer, Artur 948 Somoza, Anastasio 843 Sorensen, Reginald 743 Soukup, Frantiṧelk 447 Spaeth, Carl B. 842 f. Sparling, Herbert A. 888 Speyer, Edgar 226, 276, 653 Spiropoulus, Jean (Ioannis Georgiou Spyropoulos) 98 Stalin, Josef 116, 414, 419, 793–796, 798, 800, 1018 Stange, August 466 Stanley, Edward (Lord Derby) 225, 240, 278 Stanley, Oliver 891 Steed, Wickham 695 Stein, Lorenz von 81, 296 Stent, Ronald 759 Stephenson, Percy 866, 874 Stephenson, Guy 242 Stimson, Henry L. 824, 829 Stinnes, Hugo 322 Stolypin, Pjotr 372 Stowell, Ellery C. 974 Strauss, George 715, 743 Strauss, G.R. 718 Strupp, Karl 113 Stscherbatow, Nikolai B. 386 Stuart, Campbell 717 Stuart, Gisela 10 Stürgkh, Karl Graf 422, 427 Suchomlinow, Wladimir A. 383, 391 Sulla, Lucius Cornelius 1 Suworin, Alexei S. 384 Swoboda, Hans 428 Sykes, Mark 393 Takaaki, Katô 511

Takei, George 828 Tecklenburg, Aline 536 Thacker, Henry 537 Theile, Friedrich Otto 871 Thomas, Albert 147 Thomas, Anna Braithwaite 632 f. Thomson, Basil 205, 219, 264 Thyssen, Fritz 790 Tilak, Bal Gandadhar 572 Tillett, Ben 282, 598 Tirpitz, Alfred von 194 Tisza, István 422, 427, 431 f. Tocqueville, Alexis de 61 Toggenburg, Friedrich Graf 444 Togo, Shigenori 834 Tōjō, Hideki 847 Tolan, John 825 Tolstoi, Leo 389 f., 642 Trenchard, Hugh 690, 692 Trepow, Alexander F. 380 Trevelyan, Charles 169, 209, 213 Triepel, Heinrich 89 Trotha, Lothar von 179 Trudeau, Pierre Elliot 891 Trujillo, Raphael 843 Truman, Harry S. 832, 835 Trump, Donald 9, 11 Tschelnokow, Michail V. 398 Twain, Mark 180 Uhlman, Fred (Manfred) 725, 732 Valera, Éamon de 757 Valobra, Lelio Vittorio 923 Vargas, Getulio 837, 839 Varley, Kirton 232 Vattel, Emeric de 78, 83 Vaux, Patrick 193 Vietinghoff, Hermann von 306 Vincent, Howard 198 Vischer, Adolf Lukas 319, 620, 1023 Vischer, Matthaeus 961 Vittorio Emanuele III. (König) 430, 801, 1011 Waldkirch, Otto von 577 Wallace, Edgar 236 Wallach, Franz 530 Wallenberg, Raoul 949, 995 Wangenheim, Hans von 454, 465, 468

Personenregister 

Warburg, Aby 673 Warburg, Paul 488 Ward Pryce, George 717 Warren, Charles 485 Weber, Max 145, 304 Webster, Nesta 279 Wedgwood, Josiah 246, 251, 282, 699, 743 f., 748 f. Wehler, Hans-Ulrich 35 Weil, Federico 476 Weill, George (Georges) 336 Weiß, Bernhard 707 Welles, Sumner 513 Wells, Herbert George 230, 232, 234, 742, 744 Westlake, John 81 Weyler y Nicolau, Valeriano 177 Whaetley, Dennis 717 Wheaton, Henry 74 White, Arnold 234, 236 White, Graham 748 Whitley, John H. 147 Wiart, Henri Carton de 101 Wild, Ernest 281 Wilde, Oscar 233 Wilhelm I. (Kaiser) 52 f. Wilhelm II. (Kaiser) 105, 297, 332, 380, 394, 465, 492, 511

1129

Wilkinson, Ellen 748, 756, 933 Wille, Ulrich 578, 584 Williams, Ralph Vaughan 742 Wilson, Francesca 674, 920 Wilson, Woodrow 104, 124, 164, 329, 483– 488, 491, 497–502, 505, 572, 603, 613, 641, 646, 822, 1005 Winkelman, Henri 916 Wolkoff, Anna 719 Wolff-Metternich, Paul 465 Woodruffe, Marie Immaculée Antoinette (Mia) 933 Woods, Walter 201 Woronzow-Daschkow, Illarion Iwanowitsch 393 Wright, Quincy 108 Wust, Otto 636 Yamashita, Tomoyuki 846, 962 Yexley, Lionel 193 Younger, Robert 270, 597 Zabel, Rudolf 465 Zadig, Arthur 268 Zedlitz, George von 537 f. Zindel, Rudolf 960–962, 965 f., 969 Zorn, Philipp 95

Sachregister Abgrenzungspolitik 38 Abkommen – zum Schutz von Zivilisten im Ersten Weltkrieg 187, 336, 601, 1033 – über das Inspektionsverfahren 1915 329 – zum Austausch von Gefangenen 336–339, 361, 579, 580, 597–602, 628 f. – Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe 7, 1040 – Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (1949) 1026 Academic Assistance Council (Society for the Protection of Science and Learning) 928, 930, 974 Ação Integralista Brasileira 837 Action française 347, 778, 782 Advisory Committees – in Australien im Zweiten Weltkrieg 867 – in den britischen Kolonien im Zweiten Weltkrieg 898 – in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 249, 268 – in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg 742, 744, 750–753 Advisory Internment Committee (Kanada) 883 f. Aid Spain Movement 920 Aide centrale sanitaire international 920 Alien and Sedition Act (USA, 1798) 13 Alien Deportation Act (USA, 1918) 497 alien enemy 14, 134 Alien Enemy Control Unit (USA) 818 Alien Enemy Registration Ordinance (Kanada, 1914) 543 f. Alien Enemy Teachers’ Bill (Neuseeland, 1915) 538 Alien Property Custodian (USA) 492 Alien Registration Act (Smith Act) 815, 822 Aliens Act (Großbritannien, 1905) 197–199 Aliens Act (USA, 1918) 809 Aliens Advisory Committee (Indien) 903 https://doi.org/10.1515/9783110529951-011

Aliens Appeal Tribunal (Neuseeland) 880 Aliens Committee (Neuseeland) 879 Aliens Emergency Regulations (Neuseeland) 880 f. Aliens Land Purchase Regulations (Neuseeland) 882 Aliens Order (Großbritannien, 1920) 282, 738 Aliens Restriction Act (Großbritannien, 1914) 214 f., 281 f., 576 Aliens Restriction (Amendment) Act (1919) 697 Aliens Restriction Orders (Australien) 522 All-British Association (Australien) Alldeutscher Verband 369, 483 Alliance Israélite Universelle 779 America First Committee 813 American Civil Liberties Union 497, 756, 809 f., 831 American Committee for Protection of the Foreign Born 828 American Committee for Syrian and Armenian Relief 651 American Coordinating Committee 855 American Defense Society 495 American Federation of Labor 807 American Legion 489, 808 f. American Loyalty League 816 American Protective League 495, 505, 808 f. American Relief Administration 185, 673 f., 686, 937, 1024 American Red Cross 498, 613, 651, 660, 663, 985 f. American Society for British Medical and Civilian Aid 986 American Society of International Law 88 American War Claims Act 857 Amerikanismus 488 Amnesty International 123, 1036 Anarchical and Revolutionary Crimes Act (Indien 1919) 572 Anarchisten 51, 331 Anschläge – auf Kaiser Wilhelm I. 52 f. – auf Otto von Bismarck 52

1132 

Sachregister

– auf Königin Victoria 52 – auf Zar Alexander II. 51 f. – durch Anarchisten 52 f. – 11. September 2001 (USA) 2 f. – 2015 in Frankreich 6 Antikommunismus / Antisozialismus siehe auch Red Scare – in Großbritannien 165, 277, 219 f., 286, 291, 333 – in Deutschland 343 – in Österreich-Ungarn 445, 447 – in den USA 808 – in Kanada 551 – in Australien 862 – in der Schweiz 908 f. Anti-Saloon League 492 Antisemitismus – allgemein 25 – im Russischen Zarenreich 53, 370 f., 393 – in Österreich-Ungarn 431 – in Ungarn (ab 1918) 447 – im Deutschen Kaiserreich 53, 327, – in der Schweiz 907–910 – in Großbritannien 189 f., 192, 195–198, 233, 264, 201, 693, 698, 701–703, 757 – in Deutschland nach 1918 343 – in Polen nach 1918 918 Antislawismus in Deutschland im Ersten Weltkrieg 303–305 Anti-Socialist Union 226, 235 Anti-terrorism, Crime and Security Act (USA) 10 Arandora Star 739–741, 759 Arbeitskräfterekrutierung im Ersten Weltkrieg 162, 629 Army League 496 Artists’ Refugee Committee 997 Association of German Nationals 813 Asyl – in der Schweiz im Ersten Weltkrieg 581 – in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg 907, 992 „asymmetrische Kriege“ 1039 „Aufruf an die Kulturwelt“ 295, 390 Ausbürgerungen im Ersten Weltkrieg 151 f., 248, 275, 539, 571

Auskunft- und Hilfstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland – Gründung und Aktivitäten 644 – Kooperation mit anderen Hilfsorganisationen 645, 672 f. – Vermittlung zwischen Regierungen 645 Ausnahmezustand / Belagerungszustand – allgemein 2, 1042 – Konzept 139 f., 1007 – in den Niederlanden 589 – in Deutschland 295–299, 340–343, 760– 765 – in Frankreich 344 f., 349, 779, 784 – in Großbritannien 292 f., 706, 710, 716 – in Italien im Ersten Weltkrieg 470 – in Kanada 541 – in den USA 4, 809 – in Russland 376 – in der Schweiz 577 f., 910 – in Australien 521, 531, 864 – in Brasilien 508 „Ausschuß für kriegsgefangene Deutsche“ 679 Austausch von Gefangenen – im Ersten Weltkrieg 137, 173 f., 184, 271, 411, 563 f., 579 f., 591, 598, 604, 625 – im Zweiten Weltkrieg 184, 737, 834, 856 f., 860, 970, 980 Austausch von Informationen zu Gefangenen im Zweiten Weltkrieg 980–983 Australia-First-Bewegung 865, 874, 876 Australian Council for Civil Liberties 866, 878 Austrian Philanthropic Committee 660 Austro-Hungarian Relief Committee 636 Ausweisung aus Deutschland im Ersten Weltkrieg 307 Baldwin Fund 975, 993 Balkankriege 99, 451, 479 „Barbarei“ 23 Belgian Relief Fund 658 Belgien – Verletzung der Neutralität 101 – Gewalt gegen Zivilisten 101 f. Bloomsbury House 733, 929–932, 973–975 B’nai B’rith 198

Sachregister 

Board of Deputies’ Law 927 Boards of Guardians 650 Bonus March (USA, 1931) 810 British and Foreign Antislavery Society 76 British Brothers’ League 197 British Columbia Security Commission 889 British Commonwealth Union 290 British Emergency Relief Fund 600 British Empire Union 235 British Fascisti (British Fascists) 292 British Medical Association 701 British Nationality Act (Großbritannien) 10 British Nationality and Status of Aliens Act – 1914 200, 700 – 1918 276, 280 – 1922 280 f. British Patriotic League (Neuseeland) 537 British People’s Party 759 British Racial Guild 865 British Residents’ Association 850 British Socialist Party 265 f. British Union of Fascists 689–691, 693 f., 724, 730 British Red Cross Society (and Order of St. John) 90, 338, 599, 605, 612, 627, 659, 677, 950, 965, 984 f., 988 British War Relief Society 986 Britons 279 Brüsseler Deklaration (1874) 87 Bryce-Kommission 248 Bund der Auslandsdeutschen 674 Bund Neues Vaterland 107, 170, 609 Bundeskriminalamt 6 Bundesverfassungsgericht 6 Bureau of Investigation (BOI) / Federal Bureau of Investigation (FBI) 488 f., 493 f., 496, 809–813, 817, 826 Bürgerkriege – in den USA 82 – in Irland 285, 288 – in Russland 415, 1018 – in Spanien 707 – in Europa nach 1918 165 Bürgerwehren (USA) 495 f., 500 Burns Philp (Schiffahrtsunternehmen, Australien)

1133

Canadian Legion and Native Sons 888 Carnegie Endowment for International Peace 99, 486, 596, 662 Catholic Committee for Refugees 931 Catholic Women’s League 650 Central Committee for Refugees 930, 976 Central Council of United Alien Relief Societies 653, 680 Central Department for Interned Refugees 932 Central Fund for German Jewry 992 f. Central Intelligence Agency (USA) 7 Centre Américain de Secours 925 f. Chemical Foundation (USA) 492 Children’s Inter-Aid Committee 992 Chinese Exclusion Act 482 Cholera 665 Christian Council for Non-Aryan Refugees 930–932, 973 Christian Council for Refugees from Germany and Central Europe 276, 930, 976 Church of England Committee for Non-Aryan Christians 930–933 Civil Authorities (Special Powers) Act (Northern Ireland) 289 Civilian Alien Enemy Hearing Boards (USA) 818, 830 Coloured Races Restriction Bill (Australien) 199 Comité d’Alimentation du Nord de la France 652 Comité d’assistance aux réfugiés 784 Comité de Coordination 926 Comité National de Secours et d’Alimentation 652 f. Comité voor Joodsche Vluchtelingen 915, 924 Commission des Centres de Ressemblement 924 Commission for Relief 651 Commission for Relief in Belgium 328, 589, 651, 662 Commissioner for Enemy Subjects (Südafrika) 519 commissions de triage 363–366 Committee for Refugees from Czechoslovakia (Czech Refugee Trust Fund) 929

1134  Sachregister

Committee of Imperial Defence (Großbritannien) 202, 541, 705 Committee on Peace and Arbitration for the National Council of Women of Canada 550 Committee on Public Information (USA) 486 f., 504 Committee on the Treatment by the Enemy of British Prisoners (Großbritannien) 270, 597 Commonwealth Investigation Branch (Australien) 861, 864 f., 873 Commonwealth Police Force (Australien) 862 Communist Party of Great Britain 292 Competent Military Authorities 213, 278 Conférence Internationale des Mutilés et Anciens Combattants 1025 confino di polizia 800 f. Congress of Industrial Organizations 807 conseils de guerre 160 Coordinating Committee for Aid to Refugees 814 Corona-Pandemie 2 Criminal Investigation Department (Großbritannien) 191 Custodial Detention Index (USA) 813, 818, 833 Daily Mail 201 Daschnaken 393 Defence (Certain British Possessions) Order in Council 905 Defence of Canada Regulations 883 Defence of the Realm Act (Großbritannien) 209–211, 213, 272 Defence of the Realm Consolidation Act (Großbritannien, 1914) 212 Defence Regulation 14B (Großbritannien, 1915) 241, 247, 268, 272 Defence Regulation 18B (Großbritannien, 1939) 710, 724, 727, 736, 748, 752, 758, 897 Defence Regulations (Großbritannien) 706 Deklaration der Alliierten (Dezember 1942) 117 Delegazione per l’Assistenza degli Emigranti Ebrei 923 Demobilisierung 164, 285

Demokratisierungsforschung 44 Demonstrationen und Streiks – gegen den Krieg 331 – gegen Gefängnisstrafen 331 Denunziationen – allgemein 1042 – im Ersten Weltkrieg 336, 441, 461 – im Zweiten Weltkrieg 881 Department of Homeland Security (USA) 4 Deportationen – von Minderheiten 1012 – und Protest 326 – in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg 419 f., 423–427, 430, 442 – im Osmanischen Reich 449, 455–461, 464 – in Ostasien im Zweiten Weltkrieg 850–854 – in Russland 377, 382, 387, 391 f., 394 f., 400–402, 407, 413 – in der Sowjetunion 793–799 – aus Italien im Zweiten Weltkrieg 805 – von Belgiern im Ersten Weltkrieg 684 – von Feindstaatenangehörigen aus Lateinamerika 818 f., 840–844 – von Japanern in den USA 821, 824–827, 831, 997, 1025, 1039 – von Japanern in Kanada 888 – von Juden im Zweiten Weltkrieg 766 f., 797, 926 Desertion 440, 442 Destitute Aliens Committee (Großbritannien) 249 Deutsch-Amerikanischer Nationalbund (National German-American Alliance) 485 f. Deutsche – im Empire 16, 556, 564, 567, 569, 572 – in Lateinamerika 502 f., 505–509, 837 f. – in Argentinien 502 – in Australien 521, 530 – in den deutschen Kolonien 526 f., 566, 574 – in den USA 481–484, 487 – in der Sowjetunion 416 f., 794–799 – in Großbritannien 189, 206, 274, 283 – in Kanada 545 – in Neuseeland 532 – in Russland 367 f., 370 – in Südafrika 552

Sachregister 

Deutsche Arbeitsfront 914 Deutsche Friedensgesellschaft 170 Deutsche Kolonialgesellschaft 556 Deutsche Liga für Menschenrechte 107 Deutscher Bund Canada 884 Deutscher Flottenverein 556 Deutscher Verband für Frauenstimmrecht 170 Deutsches Auslands-Institut 174, 506 „Die Deutsche Kolonie“ 914 Displaced Persons 772, 859, 987 f., 990, 998 f. „Dolchstoß“-Legende 143, 156, 221, 246, 342 domicilio coatto 472, 800 Dreimächtepakt 845 Dreißigjähriger Krieg 145 Duchoborzen 642 Dunera 740 Dynamit 52 East End (London) 196, 198 Economic League Einbürgerungen – Bitten um Einbürgerung 321 – im Ersten Weltkrieg 151 f., 310, 351 Elba-European League of Britons Abroad 991 Emergency Advisory Committee for Political Defense 842 Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress (Großbritannien) 608, 631–633, 673 Emergency Detention Program (USA) 812 Emergency Powers (Defence) Act (Großbritannien, 1939) 706, 748, 895 Emergency Powers Act (Großbritannien, 1920) 284 Emergency Rescue Committee 925 Emigrationsdirectorium 926 Emotionen – Forschung 56–58 – emotive 56 f. – emotionology 57 – und Sicherheit 40 f. – und Geschlechter 62 – „Zeitalter der Nervosität“ 53 – Angst 22, 40 f., 57–60, 1019

1135

– Emotionsgemeinschaften 54, 57, 59, 534 – Empathie 39 – im Ersten Weltkrieg 22, 61 – im Zweiten Weltkrieg 22 – Propaganda 22, 62 – als Mittel der Mobilisierung 154 Enemy Contracts Act (Neuseeland, 1915) 540 Enemy Contracts Annulment Act (Australien, 1915) 530 Enemy Foreigners Order (Indien, 1939) 902 Enemy Trading (Winding Up) Order (Indien 1916) 570 enhanced interrogation techniques 7 Entsicherheitlichung 40, 214, 249, 290, 697, 750, 753, 759, 1035 Erinnerungskultur – zum Ersten Weltkrieg 21, 130 – zum Zweiten Weltkrieg 21, 131 – Denkmäler 21 – Heroisierung 20–22, 859 – in Serbien 21 – und Internierte 1029–1032 „Ermächtigungsgesetz“ 1 Erster Weltkrieg – Finanzierung 133 – Rolle der Kolonien 133 – Opfer 131 – Flucht und Vertreibung 132, 163, 169, 394 f. Espionage Act (USA, 1917) 489, 500, 807, 837, 1039 Ethnische Homogenisierung im Osmanischen Reich 149 „ethnische Säuberungen“ in den beiden Weltkriegen 143, 1005 Eugenics Research Association 808 Eugenik (Großbritannien) 195 Europäische Menschenrechtskonvention 1026 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 1026 Europarat 7 European Association 556 Evening News 229 Executive Order 9066 (USA) 824 f., 829, 831, 835 f. Expertenkultur 41

1136  Sachregister

Fabian Society 170 Far Eastern Relief Fund 990 Faschismus – „faschistische Kriegführung“ 139 – Bewegung 165 f. – in Großbritannien 1918–1939 689–691 fasci all’estero 712 fasci di combattimento 165 Februarrevolution (Russland) 263, 411 f. Feindstaatenangehörige – im Arbeitseinsatz 250, 480, 535, 544, 547, 549–551 – „Ökonomisierung“ 322 „Feindstrafrecht“ 54, 1038 Fellowship of Reconciliation 169, 631 Finance Act 148 Flottenrüstung und Kampagne in Großbritannien vor 1914 194 Flucht und Vertreibung – aus Spanien 780, 919 – im Ersten Weltkrieg 20, 26 – im Osmanischen Reich 26 – im Russischen Reich 26, 667 – in Belgien 26, 656 – in Italien im Ersten Weltkrieg 471–473 – in Österreich-Ungarn 26, 420 – nach dem Ersten Weltkrieg 918 Föderalismusreform 6 Folter 6–8 Foreigners Act (Indien 1914) 569 Foreigners Ordinance (Indien, 1914) 567, 570 Frauenverbände / -vereine 335, 649–651, 679 Free German League of Culture 997 Fremdenfeindlichkeit – allgemein 9 – in den beiden Weltkriegen 1022 – im Ersten Weltkrieg 172, 1004 – im Deutschen Kaiserreich 53 – im Russischen Zarenreich 53, 370–373, 384, 670 – in Australien im Ersten Weltkrieg 523 – in Italien im Ersten Weltkrieg 472, 474 – in den USA im Ersten Weltkrieg 482–485, 488 – in der Weimarer Republik 342

– in Frankreich 82 – in Großbritannien 190–192, 195–198, 236, 240, 281, 291, 697, 722 f., 727 f., 757 f. – in Italien im Ersten Weltkrieg 469–471 – in den USA im Zweiten Weltkrieg 806– 808, 814 – in Kanada im Zweiten Weltkrieg 888 f. – in Neuseeland im Ersten Weltkrieg 534, 537 – in Neuseeland im Zweiten Weltkrieg 881 – in Australien im Zweiten Weltkrieg 863, 869 – in der Schweiz in beiden Weltkriegen 584 f., 587, 907–912 – nach dem Ersten Weltkrieg 918 Friends Committee for Refugees 973 f. Friends Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians, Hungarians and Turks in Distress 637–640, 644, 654, 977 Friends of the New Germany 813 Friends of the Third Reich 865, 874 Friends Service Council 971, 973 Friends’ Ambulance Unit 631, 680 Front de libération du Québec 891 Frontismus (Frontenbewegung) 908 Gefahren und Wahrnehmungen 64 General Intelligence Division 809 General Register Office for England and Wales 204 Genfer Konventionen – 1864 7, 84 f., 610 – 1906 96 – 1929 7, 112, 708 f., 731, 773, 820, 833 f., 845, 852, 886 f., 897, 923, 940, 942 f., 955, 967, 970, 980 f., 984 f. – 1949 7, 118 f., 1026, 1040 – 1951 119 German American Bund (Amerikadeutscher Volksbund) 811, 813, 821 German-American Vocational League 813 German Club (Australien) 875 German Club (Neuseeland) 879 German Language Society (Australien) 530 German Union in Australia and New Zealand 865 f.

Sachregister 

Germanischer Bund für Südamerika 506 Germanophobie – in Australien im Ersten Weltkrieg 523 – in Brasilien im Ersten Weltkrieg 507 – in Frankreich im Ersten Weltkrieg 344, 347 f. – in Großbritannien vor 1914 201 – in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 224–235, 244 – in Neuseeland im Ersten Weltkrieg 532, 537 – in Russland im Ersten Weltkrieg 375, 380 f., 384f., 388 f. – in den USA im Ersten Weltkrieg 484, 487 Germany Emergency Committee (Religious Society of Friends) 700, 928 f., 931, 971– 979, 992 Gerüchte 59, 364 Geschlechter – im Ersten Weltkrieg 135, 148, 248 f., 539 – im Zweiten Weltkrieg 725 Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst 162, 327 Gestapo 174 Gewalt – im Ersten Weltkrieg 164, 1005, 1009 f., 1016, 1020 – nach 1918 164–166, 1016–1018 – im Zweiten Weltkrieg 1025 Global- und Imperialgeschichte 36 Globalisierung 1009, 1020 „Goldautos“ 301, 1031 Good-Neighbor Policy 839, 843 „Gouvernementalität“ 32, 64 Great War Veterans Association (Kanada) 551 Grensbewaking en Vreemdelingendienst 914 f. Groupement de Coordination 924 Gulag 419 Gustav-Adolf-Verein 506, 838 Haager Konventionen – Bestimmungen 91–93, 591 – Grenzen 94, 96 Haager Landkriegsordnung 323 f., 328, 426, 773

1137

Habeas Corpus (Amendment Act) 3–8, 72, 268, 276, 1039 „Handbuch des Teutschen Polizeirechts“ 46 Heilsarmee 128 Heroisierung 52 HICEM 995 Hilfsaktion für Kriegs- und Zivilgefangene 610, 655 f. Hilfsorganisationen – allgemein – Fürsorge für Angehörige von Internierten 272, 650 – grenzüberschreitende Kooperation 672, 937, 941, 974, 979, 1033 – humanitärer Interventionismus 124 – Konkurrenz und Konflikte 1021 – philanthropische Organisationen 331 – und Nationalismus 671, 1021, 1031 – und Rassismus 682, 688 – Rotes Kreuz siehe Rotes Kreuz 84, 314, 335, 337, 432 – und Bildung 668 – und Staat 663, 668, 678 Hilfsstelle für Auslandsdeutsche 677 „Hindenburg-Programm“ 148, 323 Hispanidad 839 Historismus 34 f. Holocaust 20, 25, 116, 766 f., 791, 911, 948, 1000, 1020, 1025 Home Defence (Security) Executive (Großbritannien) 722, 737 Home Morale Emergency Committee 721 Home Rule (Irland) 191, 205 Homo sacer 33 Hong Kong Volunteer Defence Corps 851 „hostile environment“ 10 House Un-American Activities Committee 810 Howard League for Penal Reform 977 Humanitäre Hilfe – 1918–1939 185, 686, 919, 924–931 – für Flüchtlinge aus Spanien 919 – für Juden 992, 994 f. – für Internierte 931–934 – für freigelassene Internierte nach 1945 998 f. – für Kinder 992 f.

1138  Sachregister

– im Ersten Weltkrieg 17, 27, 185, 249, 497 f., 595 f., 1021 – im Zweiten Weltkrieg 17, 1021 – in den Dominions 660 f. – Kritik 680 – Legitimation 600, 621, 630, 634, 658, 1002, 1022, 1029 – neutraler Staaten 991 f. – Professionalisierung 935, 937, 941, 1023 – und „Zivilisationsstandards“ 17 – Ziele und Interessen 676 f., 1037 – und Nationalismus 681, 1019 – und Regierungen 652, 657–659, 663, 667 f., 684, 921–923, 931, 934, 977, 980, 984 f., 988, 1033 Humanitäres Kriegsvölkerrecht – in der Antike und im Mittelalter 77, 117 – in der Frühen Neuzeit 77 f. – im 19. Jahrhundert 80–89 – im frühen 20. Jahrhundert 98 f., 183 – im Ersten Weltkrieg 100–104 – und Versailler Konferenz 104 f., 448 – crimes against peace 117 – crimes against humanity 103, 107, 117, 464 – 1914–18 121, 183 – 1918–39 108, 113 f., 121, 183 – 1939–45 115–117, 183 – 1945–49 118–120, 183 Humanitarian League 73 Humanitarismus – Konzept 17, 72–74 – Forschung 73 f. – als Argument im Ersten Weltkrieg 514, 518, 563 – seit dem 19. Jahrhundert 17, 73, 126, 510, 1023 f., 1034, 1036 – Einflussverlust in den 1920er und 1930er Jahren 938 – in den Niederlanden im Ersten Weltkrieg 593 – in der Schweiz im Ersten Weltkrieg 579, 582 – Traditionen 1037 – und Menschenrechte 124 f. – und Pazifismus 82, 188

Humanität – Begriff 3, 70 – „Pflichten der Humanität“ 445 – und Neutralitätspolitik in den beiden Weltkriegen 1022 – im Verhältnis zu Sicherheit 19, 693, 876– 879, 1005, 1019, 1027, 1035, 1039–1042 – und Souveränität 76 – im Völkerrecht 18, 186, 595, 1023 f. – Motive 674, 676 f. human security 1 hyphenated Americanism 485 f. Ibero-Amerikanisches Institut 838 Immigration – allgemein 3, 9 – Empire 902 – Großbritannien 196, 698–704 – Frankreich 778 f., 782, 924 f. – Niederlande 913–916, 924 – Spanien 925 – USA 481 f. Immigration Act (USA, 1918) 806 f. Immigration and Naturalization Service (USA) 812 f., 815, 825, 830, 841 Immigration Reform Association 197 Immigration Restriction Act (Australien, 1901) 200 Immigration Restriction Act (Neuseeland, 1899) 532 Immigration Restriction League 483 Imperial Fascist League 701 Imperial Presidency 3, 139 Incitement to Disaffection Act 692–695 Independent Australia League 853 Independent Labour Party 265 f. Individual Exclusion Program (USA) 819 Informationsbüro für Kriegsgefangenenfragen (Japan) 512 Ingress into India Ordinance (Indien, 1914) 567, 569 „innere Feinde“ (allgemein) 14, 62 Institut de Droit international 86, 100, 112 Inter-Allied Committee on Post-War Requirements 987 Interchurch Committee für Non-Aryan Christian Refugees 968

Sachregister

Inter-Departmental Committee on Internment (Kanada) 886 Inter-Departmental Committee on Physical Deterioration 195 Intergovernmental Committee on Refugees (Großbritannien) 702 Internal Security Act (McCarran Act) 836 International Federation for Human Rights Leagues 121 International Federation of University Women 974 International Law Association 86, 100, 103 International Refugee Organisation 998 International Relief Union 1025 International Student Service 974 International Tracing Service 988 International Women’s Cooperative Guild 932 International Women’s Relief Committee – allgemein 650 – Aktivitäten 649 – geschlechterspezifische Zuschreibungen 650 Industrial Workers of the World 494, 523, 531, 662 Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization) 109, 188 International Association of International Lawyers 113 Internationale de Droit Pénal (International Association of Penal Law) 109 Internationale Organisationen im Ersten Weltkrieg 329, 596 Internationaler Militärgerichtshof 18 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1040 Internationaler Strafgerichtshof (Den Haag) 8, 19, 67, 118, 1027, 1040 Internierte siehe auch Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger – Begriff 16 – Fürsorge der Regierungen 269 f., 272, 554 f., 596, 989–991 – ethnologische / anthropologische Untersuchungen 315



1139

– Rehabilitierung und Entschädigung 799, 835 f., 858, 891, 1028 – und Entlassung 447, 729, 737, 741 f., 751– 756, 830, 861, 886, 890, 892, 895, 897 f., 935, 947 – Gruppen in Österreich-Ungarn 443 – und Deportation 321, 358, 360, 395, 399, 418, 553, 738–741, 789–791, 1009, 1012 – Freilassung und Rückführung 445 – Handlungsmöglichkeiten der Internierten 731–735 – im Amerikanischen Bürgerkrieg 15 f. – in den beiden Weltkriegen 16 – im Zweiten Weltkrieg 16, 175 – in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 175, 272 – in Deutschland im Ersten Weltkrieg 312 – und Konfinierte im faschistischen Italien 801–804 – in den USA im Zweiten Weltkrieg 812 – in Frankreich im Ersten Weltkrieg 350–353, 359 – in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg 430, 432, 435–438, 441, 443 – in Spanien im Zweiten Weltkrieg 789 – im Vergleich 1002 f., 1009, 1039 – Reziprozitätsbeziehungen zwischen Kriegsgegnern 270, 352, 550, 555, 563, 860 – Forderungen nach Freilassung 311 – Schadensersatz 445 – Sterblichkeitsrate 318, 328, 850, 852, 855 – und Propaganda 317, 685 – und Tourismusbranche in der Schweiz 579, 583 f. – Minderheiten im Zweiten Weltkrieg 873, 876 – Minderheiten im Ersten Weltkrieg 135, 288 – Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg 169, 581 – Frauen und Kinder 438, 440, 525 – Soldaten in neutralen Staaten 576 – Soldaten in der Schweiz 579, 583, 907 – Soldaten und Zivilisten in den Niederlanden 590 f. – während des ersten Golfkrieges (1991) 1027, 1039

1140  Sachregister

– auf Guantánamo Bay, Militärstützpunkt (USA) 4–6, 1027 Internierung ziviler Feindstaatenangehöriger siehe auch Internierte – als Propaganda 869–872, 877 – im Ersten Weltkrieg allgemein 23, 135 f., 141, 479, 1004 f. – in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 173 f. , 239, 241–248, 252, 272, 294, – in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg 704–716, 723–729, 747, 758, 768 – in Deutschland im Ersten Weltkrieg 307 f., 573 – in Frankreich im Ersten Weltkrieg 349–353, 359 – in Frankreich 1938–45 783–789 – in Italien im Ersten Weltkrieg 472, 478 – in den USA im Ersten Weltkrieg 489 f. – in den USA im Zweiten Weltkrieg 826 f. – in Lateinamerika im Zweiten Weltkrieg 841 f. – im Empire 1914–18 136, 517 f., 523–525, 528 f., 535, 537, 547, 552f., 557–559, 562 f., 568, 574 – im Empire 1939–45 860 f., 866–877, 880, 883–906 – im „Dritten Reich“ 770–774, 798, 1012 – in den Niederlanden im Zweiten Weltkrieg 915–917 – in Ostasien im Zweiten Weltkrieg 848–852 – in den Kolonien Frankreichs 1914–18 353 f. – Einsprüche pazifistischer und humanitärer Organisationen 608 f. – Einsprüche in den USA im Zweiten Weltkrieg 817–820, 831–833, 841 – Einsprüche in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 251, 268 f., 565 – Einsprüche in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg 724, 742–747, 750, 758 – Einsprüche in Österreich-Ungarn 331, 433, 437, 444 – Einsprüche in der Tschechoslowakei (ab 1918) 447 – Einsprüche in Deutschland im Ersten Weltkrieg 334, 574

– Einsprüche in Kanada im Ersten Weltkrieg 543 f., 550 – Einsprüche in Kanada im Zweiten Weltkrieg 889 f. – Einsprüche in Australien im Ersten Weltkrieg 529 – Einsprüche in Russland im Ersten Weltkrieg 409 f. – als Politik nach 1945 1000 f. Internment Operations Directorate (Kanada) 534, 551 Interparlamentarische Union 100, 109 Invasionsfurcht – in Großbritannien vor 1914 191–193, 202 – in Großbritannien 1940 717, 721 Irish Republican Army 696 Israelitische Allianz 654 Issei 481 Italian Fascio 865 Italian Internees Aid Committee 737 Japanese American Committee for Democracy 831 Japanese Canadian Citizen’s Council 889 Jim-Crow-Gesetze 499 John Bull 225 Joint Committee for the Welfare of Prisons of War and Internees 932 Joint Industrial Councils 147 Joint Intelligence Committee 716, 722, 726 Joint Relief Commission 922 Joint War Organization 950 Juden – Schutz durch Japan im Zweiten Weltkrieg 857 f. – Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft 153, 162, 767–769 Jüdische Organisationen – American Jewish Committee 661 – American Jewish Joint Distribution Committee 654, 857, 923 f. – American Jewish Relief Committee 661 – Anglo-Jewish Association 927 – Association of Jewish Refugees in Britain 931 – Australian Jewish Welfare Committee 968

Sachregister 

– Board of Deputies of British Jews vor 1914 198 – Board of Deputies of British Jews im Ersten Weltkrieg 609 – Board of Deputies of British Jews 1918– 1939 698, 700–703, 927 – Board of Deputies of British Jews im Zweiten Weltkrieg 732, 745, 757 – Central British Fund for German Jewry 698 f., 927 – Central British Fund for Jewish Relief and Rehabilitation 927 – Central Committee for the Relief of Jews Suffering through the War 661 – Council for German Jewry 698, 927 – Council for Jewish Refugees 930, 976 – Foreign Jews Protection Committee 240 – German Jewish Aid Committee 927, 932 – Hebrew Immigrant Aid Society 926 – Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society 995 – Hilfsverein der deutschen Juden 306, 661, 663, 679, 921 – Jewish Agency 698 – Jewish Aid Society in Russia 661 – Jewish Blind Society 930 – Jewish Colonization Association 926 – Jewish Defence Committee 702, 924, 985, 994 f., 999 – Jewish Joint Distribution Committee 998 – Jewish Labour Council against antiSemitism and Fascism 701 – Jewish People’s Council 701 – Jewish Refugees Committee 698, 700, 927 – Jewish Relief Association 903 f. – Jewish Representative Council for the Boycott of German Goods 703 – Jews’ Temporary Shelter 927 – Reichsvertretung (Reichsvereinigung) der Deutschen Juden 921 – Verband der deutschen Juden 921 – World Jewish Congress 946 „Kapitulationen“ 448, 453 Karlsbader Beschlüsse 51 Katholische Kirche 659 Kellogg-Briand-Pakt 108

1141

Kempetai (japanische Militärpolizei) 846, 849, 853 f. „Klassenfeinde“ 165, 414, 793 f. Komitee für Einheit und Fortschritt 448, 451, 459 Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen 106 Kommunismus – in Großbritannien 1918–39 692, 694 – in Großbritannien 1939–45 755 – in Frankreich 1939–45 783 Kommunistische Internationale 65 Konferenzen – Haager Konferenz (1899) 90 – Haager Konferenz (1907) 98, 575 – Zimmerwalder Konferenz (1915) 581 – Konferenz von Versailles und Vertrag (1919) 104, 107, 448, 476, 500 – Konferenz von Den Haag (1930) 112 – Konferenz des IKRK in Tokio (1934) 113 – Konferenz von Evian (1938) 909, 921, 973 – Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (1975) 123, 1037 Konfinierung – in Italien im Ersten Weltkrieg 473, 476 – in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg 428, 430–432, 446 Konflikte in Großbritannien 1918–39 688, 692–994 „konservative Wende“ 53 Konstitutionelle Demokraten („Kadetten“) 369, 373, 409 „konstitutionelle Diktaturen“ 139 f. Konstruktion von Kontinuität 19 Kontingenz – allgemein 47 f. – „Kontingenz der Zeit“ 47 – „Kontingenzmanagement“ 49 f. – Bewusstsein 49, 56 – im Ersten Weltkrieg 49 – im Zweiten Weltkrieg 49 Konzentrationslager – Begriff 175, 828 f. – auf den Philippinen 179 – auf Kuba 177 – im Burenkrieg 177, 1004

1142  Sachregister

– in Deutsch-Südwestafrika 179 – in Kolonien 177 – in Russland 415 – Wurzeln 176 – Forderungen im Ersten Weltkrieg 317 „Kopenhagener Schule“ (der Sicherheitsforschung) 41 „Krieg gegen den Terror“ (War on Terror, USA) 3–8, 1039, 1041 Kriegführung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 79 „Kriegs-Etappen-Ordnung“ 323 Kriegsgesetze (in Österreich-Ungarn) 423 f. Kriegskulturen – allgemein 154 f., 1005, 1042 – im Ersten Weltkrieg 158, 183 – im Zweiten Weltkrieg 183 Kriegsmobilisierung – allgemein 142, 1008, 1032, 1035 – in den beiden Weltkriegen 143 f., 154 f. – im Ersten Weltkrieg 146–150, 157 f., 347 f., 378, 532, 1016 „Kriegsnotwendigkeit“ 97–99, 101, 158, 377, 458, 610, 745 f., 797, 825, 1004 Kriegsopfer in Serbien 21 Kriegsrecht – im Deutschen Bund 51 – Rechtspositivismus im Kriegsvölkerrecht 80, 97 Kriegsüberwachungsamt (ÖsterreichUngarn) 422, 424 f., 427 f. Krimkrieg 82 f. Krisen und Wahrnehmungen 64 Ku-Klux-Klan 493, 807 f., 813 Kulturgeschichte 35 labour battalions (Australien) 875 Labour Party und Reformpolitik 268 Lager – Begriff 10 f. – „Lagergesellschaft“ 320 – „Zivilgefangenenlager“ in Deutschland ab 1914 312 f. – Ermordung von Internierten 1012 – Flucht 321 – im befreiten Italien 1943–45 805 f. – im Ersten Weltkrieg 16, 180

– im Zweiten Weltkrieg 16, 181 – im Empire im Ersten Weltkrieg 338, 517– 519, 552–554, 558–560, 567, 570 – im Deutschland im Ersten Weltkrieg 39, 229, 298, 307, 312–320, 324, 329, 334, 339, 603, 643, 648, 663, 673, 684 – in Frankreich im Ersten Weltkrieg 350–353, 362 – im Osmanischen Reich 457, 459, 461, 466 – in Österreich-Ungarn 429, 435–439, 445 – im faschistischen Italien und in den besetzten Gebieten 800–805, 952–955 – in Australien im Ersten Weltkrieg 525–529 – in Australien im Zweiten Weltkrieg 869– 872, 877 – in Belgien im Zweiten Weltkrieg 956 – in Brasilien im Ersten Weltkrieg 508 – in den Kolonien (allgemein) 15 – in den europäischen Kolonien im Ersten Weltkrieg 15 – in den europäischen Kolonien im Zweiten Weltkrieg 895–899, 904 f. – in den britischen Kolonien im Ersten Weltkrieg 338 – in den italienischen Kolonien 800, 803 – in den Niederlanden im Ersten Weltkrieg 592 f. – in den Niederlanden im Zweiten Weltkrieg 916 f. – in den USA im Ersten Weltkrieg 490 – in den USA im Zweiten Weltkrieg 812, 826–831, 841 – in der NS-Diktatur 761 f., 766, 770–775, 947, 1005 – in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg 910 f. – in Frankreich 1938–45 779–792 – in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 240, 243, 250, 252–260, 287, 571, 640, 648, 684 – in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg 725, 727–736 – in Japan im Ersten Weltkrieg 513 f. – in Japan und im besetzten Südostasien im Zweiten Weltkrieg 847–856, 958–966 – in Kanada im Ersten Weltkrieg 547 f.

Sachregister 

– in Kanada im Zweiten Weltkrieg 884–886, 889 f. – in Lateinamerika im Zweiten Weltkrieg 841–843 – in Neuseeland im Ersten Weltkrieg 535– 538 – in Neuseeland im Zweiten Weltkrieg 881 f. – in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg 428, 438 – in Rumänien im Ersten Weltkrieg 447, 478–480 – in Russland im Ersten Weltkrieg 419 – in der Sowjetunion 798 f. – Insassen in den beiden Weltkriegen 182 – Inspektionen im Ersten Weltkrieg 184, 330, 332, 360 f., 439, 485, 513, 538, 660, 673, 684 – Inspektionen im Zweiten Weltkrieg 184 – Inspektionen (allgemein) 184, 330, 332, 360 f., 1033 – Konzentrationslager siehe Konzentrationslager – Lebensbedingungen 15, 328, 360, 433, 444 – Lebensbedingungen im Ersten Weltkrieg 313, 319 – räumliche Dimension 181 – rechtlicher Status 21 f. – Selbstorganisation und kulturelle Aktivitäten 316, 319, 731 – Sinti und Roma im Ersten Weltkrieg 327 – Spannungen und Konflikte 321, 335, 829 f., 905, 968, 977 – Sterberate 315, 1004 – im „Dritten Reich“ 947 f. League for the Freedom and Dignity of Men 756 League of Nations Union 695 Leipziger Prozesse 105 Les Républicains 7 Lever Food and Fuel Control Act (USA, 1917) 493 „Lieber-Code“ 83 Liga da Defesa Nacional 508 Liga da Resistencia Nacional 508 Liga pelos Alliados 506

1143

Ligue des Droits de l’Homme 359, 663, 778 Ligue pour la Défense des Droits de l’homme (Ligue des Droits de l’homme) 89 Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen 366 Local Government Boards 637, 659 London School of Economics and Political Science 725 London Society for Women’s Suffrage 650 Londoner Statut 117 Luftsicherheitsgesetz (Deutschland, 2005) 6 Lusitania – Versenkung 225 – Reaktionen auf Versenkung in Großbritannien 225–229, 247 – Reaktionen auf Versenkung weltweit 396, 472, 520, 534, 546, 559–561, 563, 567, 569 Lynchmorde 496, 499 M.O.5 / MI5 217, 278, 286, 690, 694–697, 705, 711 f., 715–720, 726–728, 740 f., 753, 879 Magna Charta 72, 269 „Martens-Klausel“ 91, 94 Massaker – im Osmanischen Reich 450, 459, 461, 468 – in Russland 402 – von Japanern im Zweiten Weltkrieg 844– 849, 853 Menschen- und Bürgerrechte – Französische Revolution 18, 74, 1036 – im 18. Jahrhundert 74 – Universalisierung 18 – Vereinte Nationen 18 – Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte 5 Menschenrechte – Begriff 71 – als Legitimation 19 – in der Gegenwart 13, 1040 – Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) 122 – Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 118, 1025 f. – Menschenrechtsverletzungen 3, 19 – neuere Forschung 20

1144  Sachregister

– und Diskurs 19, 1041 – 1945–60 1026, 1036 – in den 1960er und 1970er Jahren 123, 1036 Metropolitan Police 191 Metropolitan Police Act (Großbritannien, 1933) 696 Middle Class Union 291 Middle East Relief and Refugee Administration 892 Migration – Entwicklungen 23 – Flucht im Ersten Weltkrieg 20 – Regulierung 23 – Vertreibung siehe Flucht und Vertreibung Militarisierung – in Deutschland nach 1918 341, 760, 1005 – in Japan im Zweiten Weltkrieg 844, 847 Militärjustiz 422 Military Intelligence Division (USA) 493, 505, 808 Military Operations Directorate (M.O.5) 202 Military Service Act (Großbritannien, 1917) 219 Minderheiten – Albaner 455 – Armenier 25, 393, 451, 453–455, 668 – Bosnier 455 – Georgier 455 – Griechen 452, 455 – Kurden 468 – Rohingya (Myanmar) 11 – Ruthenen 420, 426, 430 f., 433, 436–439 – Tscherkassen 455 – Uiguren (China) 11 – im Ersten Weltkrieg 25, 146, 149, 367 – im Zweiten Weltkrieg 25 – in Italien im Ersten Weltkrieg 470 f. – in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg 429 – im Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg 449 – Repressionen siehe Repression – und Menschenrechte 9 – und Vorurteile 426 Ministry of Munitions 147 Ministry of Reconstruction 223

MO9 / MI9 221 Mobilisierung, populistische 161, 172, 223 f., 496 f., 1015, 1031 f., 1041 Morning Post 201 Movement for the Care of Children (Refugee Children’s Movement) 930–932, 993 Munitions of War Act 148, 218 Musicians Refugee Committee 930 Narodnaja volja 51 Nationaal-Socialistische Beweging 853, 916 National Citizens’ Union 292 National Civic Federation 495 National Civil Liberties Bureau 662 National Committee on Prisons and Prison Labor 488 National Council Against Conscription 264 National Council for Civil Liberties 692, 694– 696, 703, 748–750, 756, 979 National Council of Social Service 982 National Defence Committee (British Workers’ League) 236, 290 national efficiency 195 National Joint Committee for Spanish Relief 920 National Origins Act (Johnson-Reed Act) 807 National Party 235 National Peace Council 672 National Registration Act (Großbritannien) 147, 210 National Relief Fund 659 National Review 201, 233 National Security (Aliens Control) Regulations (Australien, 1939) 864, 876 National Security Act (Australien, 1939) 864, 878 National Security Agency (USA) 6 National Service League (Großbritannien) 193 National Service League (USA) 484 National Unemployed Workers’ Movement 287, 692 National War Aims Committee (Großbritannien) 263 Nationalismus und Militarismus – in beiden Weltkriegen 1014

Sachregister

– im Ersten Weltkrieg 145, 149, 231, 251, 275, 295, 299, 366, 379, 408, 469, 550, 679, 688, 1004, 1016, 1019, 1022 – nach 1918 477 – im Zweiten Weltkrieg 749, 844 Nationality Act (Australien, 1920) 531 Nationalstaat – als Kategorie 36 – Eingebürgerte 54 – rechtliche Integration 24 – und Ausschluss 24, 151 – und Minderheiten 25, 150 – und politische Loyalität 149 f. – und Staatsbürgerschaft 14, 24, 151, 1004 – und Wehrpflicht 24 Nativism (USA) 483, 488, 499, 807 Naturalisation Act (Großbritannien, 1870) 190 Naturalization Act (USA, 1790) 482 Navy League (Großbritannien) 242 Navy League (USA) 496 Near East Relief 185 Nederlandsche Anti-Oorlog-Raad 171 Neutrale Staaten – Rolle 330, 439 – Vatikan 337, 606 Neutralität als Konzept 575 Neutralitätspolitik – der Niederlande im Ersten Weltkrieg 591, 593 – der Schweiz im Ersten Weltkrieg 578, 582, 587 f. – der Schweiz im Zweiten Weltkrieg 912 Neutrality Committee 209 Neutrality League 209 New Guard (Australien) 862, 866 New Scotland Yard (Großbritannien) 205 Nichtregierungsorganisationen 36 Nisei 482 Nisei Mass Evacuation Group 889 No-Conscription Fellowship 264 f., 631 Notrecht des Staates 329 Notstandsgesetz (Österreich-Ungarn, 1912) 422 NS-Auslandsorganisation 174, 838, 901, 914 Nuklearkatastrophe in Japan 2011 1



1145

Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 117, 1025 Ochrana 421 Oeuvre de Secouraux Enfants 993 Office of Naval Intelligence 816, 823 Official Secrets Act (Großbritannien, 1911) 207 Official Secrets Act (Großbritannien, 1920) 284 Oktoberrevolution (Russland) – Folgen in Russland 409, 1018 – Folgen in Großbritannien 264, 266 – Folgen in Frankreich 356 – Folgen in der Schweiz 585 Oktoberverband („Oktobristen“) 369, 373, 410, 412, 418 one hundred percent Americanism 485, 806 „Opfer“ 998, 1030 Orders-in-Council (in Kanada) 543 Organisation for National Security (Neuseeland) 879 Oxford Manual 87 P.M.S.2 (Parliamentary Military Secretary Department, No. 2 Section) 218 f. Panslawismus 370 „Pariser Schule“ (der Sicherheitsforschung) 41 Parliamentary Alien Immigration Committee 197 Partito Nazionale Fascista 165, 726, 740, 885 Pazifismus im Ersten Weltkrieg 169–171, 187, 262 f., 609 People’s Relief Committee 661 Performanz 35 Pioneer Corps 733, 737, 745, 751 f., 935, 1030 Piraten 50 Pirogow-Gesellschaft 670 Pittsburgh Movement 496 Politikgeschichte (neue) 35 f. Polizeistaat 46 Preparedness Movement 484 Prevention of Violence (Temporary Provisions) Act (Großbritannien 1939) 696 Prisoners of War Employment Committee (Großbritannien) 258

1146 

Sachregister

Prisoners of War Department (im Foreign Office) 597 f., 604, 627 Prisoners of War Information Bureau (Großbritannien) 269 Prisoners of War Relief Agency 636, 653 Prisoners of War Agency 675 Progressive Citizens’ League 816 Progressive Era (USA) 489, 496 Prohibition (USA) 492 f. Propaganda – gegen „Feinde“ 62, 150, 378 f., 382, 408, 530, 534, 1015 f., 1019, 1034, 1042 – im Ersten Weltkrieg in Deutschland 23 – in Lagern 419 – in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg 432 – Propagandakrieg 23, 143 f., 148, 439, 563, 1037 – und Medialität 22 – und Presse 155, 225 f. „Protokolle der Weisen von Zion“ 279 Prozesse von Konstantinopel 106 Public Order Act (Großbritannien 1936) 693, 695 Rassismus – allgemein 1004 – im faschistischen Italien 477, 803 – in Deutschland 324, 685, 1006, 1012 f. – in Österreich-Ungarn 434 – in Großbritannien 282 – in den Dominions 199, 521, 540, 551, 861, 873, 876 – in den Kolonien 562–564, 567 f., 573 – in den USA 807, 822, 997, 1010 – in Japan 846, 963 – in Südamerika 844 – in den Kolonien 515 Räterepublik 447 Rationalisierung 46 rebus sic stantibus 329 Rechtsstaat 46 Red Scare (USA) 501, 807, 836 Red Scare (Kanada) 551 Reformen im Osmanischen Reich 448, 453, 462 f. Refugee Children’s Movement 992

Refugee Joint Consultative Committee 929 Registration of Aliens Act (Neuseeland, 1917) 539 Regulators of Aliens Act (Großbritannien, 1793) 189 „Reichsdeutsche Gemeinschaft“ 914 Reichssicherheitshauptamt 765, 943, 1006 „Reichstagsbrandverordnung“ 760 f. Reichsvereinigung ehemaliger Kriegsgefangener 183 f. Religious Society of Friends (Quäker) – Library 37 – Gründung 76 – Aktivierung der Internierten 635, 639 – Aktivitäten in den Niederlanden 643 – Ambulanzeinheiten 641 – American Friends Service Committee 641, 979 – Entlassung und Repatriierung von Gefangenen 633, 638–641 – Fürsorge für Angehörige von Internierten 637 f. – Gefangenenfürsorge 631, 634–636, 976– 979 – Hilfe für Verfolgte des NS-Regimes und deutsche Flüchtlinge 971–978 – humanitäre Hilfe 593, 595, 672 – im späten 18. und 19. Jahrhundert 76 – Lagerinspektionen 634- 636, 976 f. – Motivation 632 – Hungerhilfe in Russland 642 – Nothilfe für die Flüchtlinge in Russland 642 – im Spanischen Bürgerkrieg 973 – Society of Friends of Russian Freedom 642 – und Nationalismus 630 f. – Vermittlung zwischen Regierungen 637 – Widerstand gegen Aktivitäten 679, 976 – Wiederaufbauhilfe 641, 643 – Zentrale 632 – Ziele 630 Repatriation Committee 920 Repatriierung – aus Australien 861 – aus den britischen Kolonien 561, 571 f., 897, 904

Sachregister 

– aus den Dominions 538 – aus Großbritannien 240 – aus Frankreich 351, 363 – aus Russland 414, 629 – aus Rumänien 480 – aus der Schweiz 582, 587 Repressalien 122, 137, 143 f., 169, 182, 251, 550, 598, 683 f., 736, 803, 934, 981, 1033 f. Repression – „innerer Feinde“ in den beiden Weltkriegen 140, 142, 148 f., 154–160, 163 f., 166–168, 356, 374, 413 f., 499– 501, 523, 765–769, 794 f., 815, 861, 1004 f., 1007, 1011–1014, 1017, 1038 – als wechselseitige Dynamik 312, 1038 – in Lagern 562 – Rechtfertigung 17 – von Juden 447, 762–766 – von Minderheiten 161, 163, 168, 274, 297, 299, 301, 357 f., 360, 363–365, 393, 412 f., 416 f., 441, 444, 472, 546, 555, 793, 1007, 1012 f., 1016, 1032 – ziviler Feindstaatenangehöriger 65, 133– 135, 140, 172, 237 f., 243, 248, 273 f., 349, 355, 407 f., 470 f., 487, 516, 534, 542 f., 547, 555, 562, 715 f., 737, 769, 817, 825, 877, 881, 883, 887, 902, 1005–1008, 1013, 1017 – in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg 429, 434, 441, 446 – in Russland 396–398, 402, 407 f., 413, 416–418 – in den USA im Ersten Weltkrieg 499–501 Repressionspolitik – Kritik 444 – Reaktivität 317 – in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 262–264 – im Empire im Ersten Weltkrieg 516, 520, 522, 528, 534, 542 f., 546 f., 551, 555 – in Frankreich im Ersten Weltkrieg 349, 355 f. – in Italien im Ersten Weltkrieg 470–472 – in den USA im Ersten Weltkrieg 487 – „innerer Feinde“ in der Sowjetunion 793 f. – im „Dritten Reich“ 761–765

1147

– in Argentinien 509 – in Brasilien 508 – in Deutschland im Ersten Weltkrieg 299, 301, 305 Résistance 131 Responsibilty to Protect (Schutzverantwortung) 67, 1028 Restoration of Order in Ireland Act (1920) 288 Returned Sailors, Soldiers and Airmen’s Imperial League (Australien) 872 Revocation of Naturalisation Bill (Neuseeland, 1917) 539 Revolution von 1848/49 54 Revue de droit international et de législation comparée 88 Reziprozität 137, 143, 685, 736 Reziprozitätsprinzip 122, 338, 361, 599, 617 f., 833 f., 887, 946, 980, 997, 1002, 1033 Right Club 719 Rijksdienst voor Werkloosheidsverzekering en Arbeidsbemiddeling 913 Risiko – „Risikogesellschaften“ 49 – Risikokultur 48 – Wahrnehmungen 41, 64 Rockefeller Foundation 498, 612, 662 f., 687 Rotes Kreuz (nationale Verbände) – humanitäre Hilfe 411, 439 – Indien 676 – Dänemark 625 f., 675, 947 f. – Deutschland 660, 938 f., 949 – Großbritannien siehe British Red Cross Society – Japan 682, 959, 984 – Niederlande 676 – Schweden 623–626, 947 f., 950 – Russland 667, 669 – Schweiz 582, 938 – Niederlande 592 – Frankreich 956 Rotes Kreuz (Internationales Komitee) – allgemein 37, 420 – Gründung 84, 610 – „Schwesternreisen“ 439

1148  Sachregister

– Delegierte 613 f., 936, 958, 960 f., 965–967 – Entlassung und Repatriierung von Gefangenen 621, 628, 687 f., 965, 968, 671 – Gefangenenfürsorge 614, 620–623, 939, 942, 946, 955, 959 f., 962–964, 968, 970 f., 997, 1021 – Gründung 84, 610 – Hilfe für Internierte 529 – Informationsdienst 592, 615–618, 628, 936 f., 940 f., 946 – interne Konflikte 682 – Lagerinspektionen 618–622, 937, 943– 947, 952–961, 964, 967–970 – und Holocaust 948 f., 956 – und Völkerbund 675 – und Kritik 4 – und nationale Gesellschaften 611–613, 621, 627, 629, 938, 950, 996 – und Nationalismus 186 – und Schweizer Nationalismus 85, 938, 1021 – Vermittlung zwischen Regierungen 618, 628, 1021 – Widerstand von Regierungen 621, 627, 939, 941–946, 953–958, 960–967, 986–989, 996 – Ziele 611 – Auswirkungen der beiden Weltkriege 677, 682, 687 – im Abessinienkrieg 936 – im Spanischen Bürgerkrieg 936 – in Russland 623, 626, 935 Rotes Kreuz (Liga der Rotkreuz-Gesellschaften) 682, 938 Royal Canadian Mounted Police 885 f. Rüstungsindustrie 321 Ruhleben Prisoners’ Release Committee 313 Russian Famine Relief Fund 672 Russifizierung – vor 1914 149, 368–373 – im Ersten Weltkrieg 375, 403 – im der Sowjetunion 793 f., 799 Sabotage 16 Saisonarbeiter – Polen aus Russland in Deutschland 308 – Rückkehrverbot in Deutschland im Ersten Weltkrieg 308

Sansei 482 Save the Children Fund 185, 672 f., 1024 Schiedsgerichtshof (Den Haag) 109 Schutzbriefe 50 „Schutzhaft“ 160, 172, 298, 341, 760 f. „Schutzhaftgesetz“ (Deutschland, 1916) 333 Schutzmächte 361, 411, 513, 571, 576, 579, 600–607, 610, 736 f., 867, 900, 922, 943, 959 f., 963, 966, 980–982, 996, 1002 Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlingshilfe 992 Schweizerischer Vaterländischer Verband 911 Secours National 657 Secours Suisse aux Enfants 956 Secret Service Bureau (Großbritannien) 203, 211, 213 securitization und desecuritization 2, 40 security governance 41 Sedition Act (USA, 1918) 807, 810 Seeversicherung 50 „Selbstbestimmung“ 124, 164, 1005 Semgor 667–669 Semstwa 368, 401, 410, 642, 664–666, 678 Serbian Relief Fund 651 Service œcuménique d’entraide 926 She’erit Hapletah 1000 Sicherheit – Konzept 39 f. – Begriffsgeschichte 44 – Forschung 58, 63 f., 1041 – als Konstruktion 1014, 1038, 1041 – Erwartungen 46 – und Freiheit 1, 276 f. – und Humanität / Menschenrechte 69, 282, 726, 1006 – als Argument / Legitimation 17, 323, 351, 487, 497, 528, 697, 718 f., 820 f., 881, 890, 892 f., 1002 f., 1007, 1013 f., 1022, 1041 – als Rechtfertigung 17, 43, 458, 546 – im 19. Jahrhundert 49, 51, 64 – im Deutschen Bund 51 – im Dreißigjährigen Krieg 45 – im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 44

Sachregister

– in der Krise des fin de siècle um 1900 47 – in der Moderne 48 – Sicherheitsängste 327, 456 f., 467, 470, 481, 532, 541, 546, 557, 793, 805, 809, 821, 838 f., 872, 887, 1006 f., 1013, 1042 – und Revolutionsfurcht 65, 808 – und Staat 64 – in der Frühen Neuzeit 63 – Versorgungssicherheit 1 Sicherheitsapparat – in beiden Weltkriegen 1034 – im „Dritten Reich“ 762, 769 – im faschistischen Italien 800 f. – in Australien im Zweiten Weltkrieg 864, 873, 878 – in den Niederlanden im Ersten Weltkrieg 588–590 – in den Niederlanden im Zweiten Weltkrieg 913 – in den USA im Ersten Weltkrieg 493–495, 501 – in den USA im Zweiten Weltkrieg 816, 825 f. – in den USA nach dem Ersten Weltkrieg 809 f. – in der Schweiz im Ersten Weltkrieg 585 f. – in der Sowjetunion 795 – in Deutschland im Ersten Weltkrieg 298 – in Frankreich vor 1914 und im Ersten Weltkrieg 345, 349 – in Frankreich 1938–45 779, 786 – in Großbritannien vor 1914 191, 202 f., 205–208 – in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 216–221, 237, 275, 277 – in Großbritannien 1918–39 690–695, 705 – in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg 707, 722 – in Japan im Zweiten Weltkrieg 846 – in Kanada im Ersten Weltkrieg 543, 546 – in Kanada im Zweiten Weltkrieg 883–885 – in Russland im Ersten Weltkrieg 375, 383 Sicherheitsdilemma 46 Sicherheitsgesellschaft 2 f. Sicherheitskultur – Konzept 1011



1149

– allgemein und im Vergleich 40 f., 43, 63, 65, 1010, 1035 – im Ersten Weltkrieg 450, 1017 – gegenwärtig 19, 759, 1042 – im Empire 549, 898, 903, 905 – im Ersten Weltkrieg 162, 213, 237, 241, 275 – im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich 467 f. – im Ersten Weltkrieg in Russland 418 – nach dem Ersten Weltkrieg 341 f. – im NS-Regime 767, 797, 948, 1011 – in Australien im Zweiten Weltkrieg 863– 865, 877 f. – in Frankreich im Ersten Weltkrieg 362 – in Frankreich 1938–45 783 f. – in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg 706, 710, 720, 723, 748, 758 – in Kanada im Zweiten Weltkrieg 884 f. – in Neuseeland im Zweiten Weltkrieg 882 – Kritik 65, 428, 744 f., 748 f., 752, 759, 781, 809, 836, 866, 878 – Stellenwert 68 – und Humanität / Menschenrechte 19, 710, 749, 782, 1002 Social Credit Party 694 social engineering 49, 65, 524, 676 Socialist League 697 Sociedade Beneficente Alemã o Gerente (Brasilien) 560 Société internationale pour l’améloriation du sort des prisonniers de guerre 86 Society for the Suppression of the Immigration of Destitute Aliens 198 Society of Friends (Quäker) „Sonderorganisation“ / „Spezialorganisation“ (Osmanisches Reich) 455, 457– 459, 468 Souveränität (Nationalstaat) 19, 949, 1024– 1026, 1033 Sozialdarwinismus 324 „Sozialistengesetz“ 53 Spanische Grippe 133 Spanish Medical Aid Committee 920 Spartakusbund 171 Special Branch (Großbritannien) 191, 211, 690, 697, 710

1150  Sachregister

Special Defense Unit (USA) 813, 816 Special Intelligence Service 913 Spionage 16, 328, 718, 720, 820 f., 832, 1015 Spionagefurcht – allgemein 159, 161, 1006, 1014 f. – in Australien im Zweiten Weltkrieg 867 – in Neuseeland im Zweiten Weltkrieg 879, 881 – in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 245, 294 – in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg 711 f. , 716–718, 721 – in den britischen Kolonien im Zweiten Weltkrieg 902 – in Deutschland im Ersten Weltkrieg 300, 302 f., 312 – in Frankreich im Ersten Weltkrieg 345, 347 f. – in Frankreich 1938–45 781 – in Kanada im Zweiten Weltkrieg 885 – in Russland im Ersten Weltkrieg 378, 384 – in Italien im Ersten Weltkrieg 472 – im Osmanischen Reich 452, 457 – in den USA im Ersten Weltkrieg 485 – in den USA 1918–45 810, 814, 823 – in der Schweiz im Ersten Weltkrieg 585 – in den Niederlanden im Ersten Weltkrieg 589 – in den Niederlanden im Zweiten Weltkrieg 917 – in der Sowjetunion 793, 795 f. – in Lateinamerika im Zweiten Weltkrieg 839 Spionagegesetz (Deutschland, 1914) 310 Sprachpolitik im Ersten Weltkrieg 302, 379, 487, 508, 529, 534, 545 Staatsbürgerschaftsrecht – in Deutschland vor 1914 152 – in Deutschland im Zweiten Weltkrieg 153 – im 19. und frühen 20. Jahrhundert 151 Staatsintervention – im Ersten Weltkrieg 146, 148, 222 f., 1008 f., 1019 – in den beiden Weltkriegen 1010 f., 1034 „Stacheldrahtkrankheit“ 563, 620, 640 Streiks – in Deutschland im Ersten Weltkrieg 333

– in der Schweiz im Ersten Weltkrieg 587, 908 – in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 265–267, 278 – in Großbritannien nach 1918 284 f. Subversion (als Vorwurf) 428, 443 Supreme Court (Oberster Gerichtshof, USA) 6 Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force 987 „Tatjana-Komitee“ 668 Tennō (Kaiser Japans) 510, 846, 855 Terrorismus – im 19. Jahrhundert 51–53 – in der Gegenwart 1–8, 12, 1039, 1042 – Terrorismusbekämpfung 3, 11 Testo Unico di Pubblica Sicurezza 800 Tokioter Kriegsverbrecherprozess 858, 996 „Tolstojaner“ 389 f. „Totaler Krieg“ – Konzept 138, 145 – 1914–18 163, 326 – in den beiden Weltkriegen 141–144, 1006, 1042 „Totalisierungstendenzen“ 328, 1033 Trades Union Congress 756 Trading with the Enemy Act (Australien, 1914) 529 Trading with the Enemy Act (Großbritannien, 1939) 710, 901 Trading with the Enemy Act (Neuseeland, 1914) 540 Trading with the Enemy Act (USA, 1917) 491, 811 Transfer von Gefangenen im Empire 516, 520, 526, 557, 559–562, 870–873, 884, 893 f., 897 f., 966, 1004 f. Transfergeschichte 33 f. Trudowiki 409 Tschernobyl 43, 48 Tuberkulose 662 Turkifizierung 448 f., 452, 456 f., 462, 467 Überwachung und Repression (allgemein) 43, 289 Ultimatum – in Deutschland 1914 310 – Deutschland 1916 336

Sachregister 

– Japans 1914 316 Union des Internés Politiques Etrangers 990 Union Fédérale 1023 Union Générale des Israélites de France 926, 993 Union of Democratic Control 108, 169 f., 262 f., 631 United Evangelical Lutheran Church of Australia 877 United Nations Relief and Rehabilitation Administration 857, 859, 978, 998 United War Crimes Commission 117 Unlawful Associations Act (Australien, 1916) 523 Untersuchungskommissionen in Frankreich 1938–45 782, 785 Urbanisierung 46 USA Freedom Act (USA) 6 USA Patriot Act (USA) 4 Verbrechen gegen die Menschlichkeit – im 19. und 20. Jahrhundert 18 – im Ersten Weltkrieg 18, 1011 – im Zweiten Weltkrieg 18, 1013, 1025 f. – nach 1945 1026 f. Verein für das Deutschtum im Ausland 174, 506 Verein soziale Hilfsgemeinschaft 654 Vereine und Verbände – in Deutschland im Ersten Weltkrieg 335 – Frauenverbände 335 Verflechtungsgeschichte 33 f. Vergleichsgeschichte 33 f. Verrat – allgemein 62 – Landesverrat 24, 1042 Verschwörungsvorstellungen – allgemein 23 – und Antisemitismus 144, 165, 277, 327, 345, 387, 1018 – gegen „innere Feinde“ 156 f., 159, 224. 231–236, 267, 277, 346 f., 359 f., 383– 387, 391, 401, 448, 450, 454–457, 461, 463, 470, 474, 509, 795 f., 1019 Versicherheitlichung 2 Vertrag – von Lausanne 468, 1005 f.

1151

– von San Stefano 451 – von Sèvres 468 Vertrauen 56 Victorian International Refugee Emergency Council 968 Virginia Declaration of Rights 74 Völkerbund 108 f., 112 f., 188, 587, 675, 702, 895, 914, 918, 921, 938, 973–975, 1006, 1023–1025 Völkermord – an den Armeniern und Assyrern 25 f., 103, 159, 392, 456–469, 1005, 1016, 1020 – an den Juden 20, 25, 54, 1054 – an anderen Minderheiten 18, 20 Völkerrecht – allgemein 14 – Arbeitszwang 325 – Diskussion (1940er Jahre) 1025 f. – Grundsatz des pacta sunt servanda 329 – Haager Konvention 325, 329 – Haager Landkriegsordnung 610, 847 – im Ersten Weltkrieg 27, 172, 445 – Kriegsverbrechen 18, 996 Volksbund für das Deutschtum im Ausland 174, 838, 914 Volksbund für Freiheit und Vaterland 171 Volksbund zum Schutze der deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen 184, 677 Volksdeutsche Mittelstelle 174 „Volkstum“ im „Dritten Reich“ 153 Volstead Act (USA, 1919) 493 Waffentechnologie – im Ersten Weltkrieg 143 – im Zweiter Weltkrieg 143 War Book (Großbritannien) 208 War Charities Act (Großbritannien) – 1916 659, 681 – 1940 931 war crimes 117 War Establishments Committee 705 War Measures Act (Kanada) 541 f., 544, 551, 883 f., 890 War Precautions Act (Australien, 1914) 519, 521–524 War Problems Division (USA) 830

1152  Sachregister

War Propaganda Bureau (Großbritannien) 230 War Refugee Board 946 War Refugees Committee 657 f. War Regulations Act (Neuseeland, 1914) 533, 535 War Relief Committee 658 War Relocation Authority 829 War Resisters International 390 War Victims Relief Committee (Friends Relief Service) 631, 641, 978 Wartime Civil Control Administration 825 Wartime Elections Act (Kanada, 1917) 546 Weekly News 201 Wehrpflicht – Kampagne in Großbritannien 193 f. – Opposition in Großbritannien 264 Wellington Emergency Relief Committee 880 White Australia Policy 199, 527, 845, 861 Wirtschaft – Kriegswirtschaft 441, 446 – Wirtschaftsnationalismus und Restriktionen im Ersten Weltkrieg 418, 1008 – Boykott im Ersten Weltkrieg 506, 539 – Eingriffe in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg 434 – Enteignungen und Liquidierungen im Ersten Weltkrieg 261, 283, 299, 355, 403–407, 460, 475 f., 492, 529 f., 556 f., 570 – Enteignungen und Liquidierungen im Zweiten Weltkrieg 822, 840, 898, 900 f., 905 – Handelsverbote im Ersten Weltkrieg 260– 262, 299, 355, 403–406, 475, 491, 540, 557, 570 – Verbot von Geldtransfers im Zweiten Weltkrieg 711 – Verbot von Geschäften mit Feindstaatenangehörigen im Zweiten Weltkrieg 882 Wissenstransfer 17, 906, 1023, 1036 Women’s Anti-German League (Neuseeland) 537, 539 Women’s Auxiliary Committee (USA) 498 Women’s Christian Temperance Union 492

Women’s International League für Peace and Freedom – allgemein 100, 920 – Aktivitäten 649 – geschlechterspezifische Zuschreibungen 650 Women’s Peace Party 100 Women’s Social and Political Union 677 World Alliance for International Friendship through the Churches 974 World Council of Churches 978 Young Men’s Christian Association – humanitäre Hilfe (allgemein) 595 – humanitäre Hilfe in Lagern 518, 660, 675 f. – in Großbritannien 677 – Gründung und Entwicklung im 19. Jahrhundert 646 – Lagerinspektionen 647 – War Prisoners’ Aid (WPA) 330, 646, 649 – und Internierte 660 – Verhältnis zu Regierungen 330, 647 f., 950 f. – und Kooperation mit anderen Hilfsorganisationen 673 – World Alliance of YMCAs 646, 649 – Ziele 647 – Aktivierung von Internierten 646, 950–952 Zensur – im Ersten Weltkrieg 23 – im Zweiten Weltkrieg 23 – im Ersten Weltkrieg in Deutschland 333 – in Großbritannien im Ersten Weltkrieg 314 – in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg 424, 427, 443 f. – der Post aus den Lagern 319 Zentral-Ausschuss für Hilfe und Aufbau 994 Zionist Federation of Great Britain 927 f. Zivil- und Kriegsgefangene – Begriff 15 – in den beiden Weltkriegen 1037 Zivilgesellschaft – Konzept 126 f. – „Zivilhistoriographie“ 21 – und humanitäre Organisationen 125, 128 – Ressourcen und Barrieren 128, 1019–1021, 1032

Sachregister 

Zivilisation – Begriff und Konzept 75 – „Zivilisierung“ 676 Zwangsarbeit – in der Sowjetunion 798 – Sonderarbeitsrecht 326

1153

– ziviler Feindstaatenangehöriger im „Dritten Reich“ 775–777 – ziviler Feindstaatenangehöriger in Ostasien im Zweiten Weltkrieg 856 Zweiter Weltkrieg und Opfer 132