Zur Einführung eines Grundrechtskataloges im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland [1 ed.] 9783428471348, 9783428071340

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Zur Einführung eines Grundrechtskataloges im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland [1 ed.]
 9783428471348, 9783428071340

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MICHAEL H. W. KOCH

Zur Einführung eines Grundrechtskataloges im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland

Veröffentlichungen des Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von Jost Delbrück und Rüdiger Wolfrum Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel 112

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Daniel Bardonnet Universität Paris 11 Rudolf Bernhardt Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg Lucius Caflisch Institut universitaire de hautes etudes internationales, Genf

John Norton Moore Universität Virginia, Charlottesville Fred L. Morrison Universität Minnesota, Minneapolis Albrecht Randelzhofer Freie Universität Berlin

Antonius Eitel Bonn

Krzysztof Skubiszewski Polnische Akademie der Wissenschaften, Warschau und Posen

Luigi Ferrari Bravo Universität Rom

Christian Tomuschat Universität Bonn

Louis Henkin Columbia Universität, New York

Grigorij Tunkin Universität Moskau

Tommy T. B. Koh Washington, D. C.

Sir Arthur Watts London

Zur Einführung eines Grundrechtskataloges im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland

Von

Dr. Michael H. W. Koch

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Koch, Michael H. W.: Zur Einführung eines Grundrechtskataloges im Vereinigten Königreich von Grossbritannien und Nordirland / von Michael H. W. Koch. - Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Veröffentlichunien des Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel; Bd. 112) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07134-4 NE: Institut für Internationales Recht (Kiel): Veröffentlichungen des Instituts ...

Alle Rechte vorbehalten

© 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0720-7263 ISBN 3-428-07134-4

Meinen Eltern und meiner lieben Frau gewidmet

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 1990 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn als Dissertation angenommen worden. Mein Dank gilt an erster Stelle Herrn Professor Dr. Christian Tomuschat, dem ich die Anregung für das Thema verdanke und der mich in großzügiger Weise gefördert und ermuntert hat. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich dem Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel, wo ich die Arbeit im wesentlichen geschrieben habe. Danken möchte ich den Direktoren des Instituts, Herrn Professor Dr. lost Delbrück und Herrn Professor Dr. Rüdiger Wolfrum, für zahlreiche Anregungen, die Gewährung von persönlichen und zeitlichen Freiräumen und ihre Zustimmung zur Aufnahme dieses Buches in die Veröffentlichungsreihe des Instituts. Dank abzustatten habe ich nicht weniger meinen Kollegen, den damaligen Assistenten des Instituts, Dr. Klaus Bockslaff, Dr. Klaus Dicke, Dr. Ursula Heinz, lngrid lahn, Professor Dr. Rainer Lagoni und Tobias StolI, die für immer anregende Diskussionen auch zu ungewöhnlichen Tages- resp. Nachtzeiten jederzeit zur Verfügung standen und mir erfolgreich die gewagteren meiner Einfalle ausredeten; ohne ihre selbstverständliche Freundschaft wäre diese Arbeit nicht fertig geworden. Frau Rotraut Wolf schließlich danke ich für die nimmermüde Sorgfalt, mit der sie die Reinschrift meiner Arbeit besorgte. Stets werde ich mit besonderem Vergnügen an meine Jahre im Institut zurückdenken. Meinen Eltern danke ich für ihre jahrelangen Ermunterungen und ihre großzügige finanzielle Unterstützung der Drucklegung dieser Arbeit. Besondere Dankbarkeit schulde ich meiner seinerzeitigen Kollegin und jetzigen Frau, Ingrid JahnKoch, für ihr festes Vertrauen, daß sogar dieses Werk eines Tages zu einem guten Ende gebracht werden könne. Da ich mich mit dem Thema dieses Buches der englischen Rechtswelt zugewandt habe, mag es, einer schönen angelsächsischen Sitte entsprechend, angebracht sein hinzuzufügen, daß "all the achievements of this work are those of my teachers, colleagues and friends while its faults are all mine". San Francisco, im August 1990

Michael H. W. Koch

Inhaltsverzeichnis Einleitung ..............................................................................

19

1. Kapitel

Der Grundrechtsschutz im Vereinigten Königreich: Das nationale Recht § 1 Grundrechtsschutz durch Verfassungsrecht ...................................

25

1. Formelles und materielles Verfassungsrecht ..............................

25

2. Der Grundsatz der Parlamentssouveränität ................................

31

§ 2 Grundrechtsschutz durch Gesetzesrecht .......................................

34

§ 3 Die verfassungspolitischen Prämissen der Parlamentssouveränität als Mittel zu deren Begrenzung ...........................................................

41

§ 4 Common law und Grundrechte ................................................

45

§ 5 Wesen und Werden des britischen Grundrechtsverständnisses ........... ...

53

1. Die geschriebene Verfassung und die englische Revolution .............

53

2. Grundrechte nur als ResiduaIrechte? ......................................

61

2. Kapitel

Der Grundrechtsschutz im Vereinigten Königreich: Das internationale Recht § 6 Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ....... ............ .... .................. ... .... .... ..... ....

66

1. Die Einwirkung der EMRK auf das britische Recht ......................

66

2. Exkurs: Völkerrechtliche Pflicht zur Inkorporierung der EMRK durch act of Parliament? ...............................................................

76

3. Das Vereinigte Königreich vor den Organen der EMRK: eine Bilanz.. a) Einige statistische Überlegungen ....................................... b) Die Auswirkungen der Verfahren vor den Organen der EMRK auf die britische Rechtsordnung ............................................ aa) Die innerstaatlichen Rechtswirkungen der Entscheidungen der Konventionsorgane .................................................

87 87 90 90

10

Inhaltsverzeichnis bb) Die innerstaatliche Umsetzung der Entscheidungen der Konventionsorgane im Vereinigten Königreich ............... ............

92

cc) Die Entscheidungen der Konventionsorgane als Motor für die Durchsetzung neuer menschenrechtlicher Forderungen im Vereinigten Königreich ................................................

98

dd) Die weiteren politisch-geistigen Folgen der Entscheidungen der Konventionsorgane .................................................

1()()

§ 7 Die Verträge über die Europäischen Gemeinschaften (EG) ... ........... ...

102

1. Das Gemeinschaftsrecht als grundrechtliche Rechtsquelle ...............

102

2. Die Rezipierung der mit dem Gemeinschaftsrecht begründeten Grundrechte ........................................................................

105

§ 8 Weitere völkerrechtliche Menschenrechtsschutzsysteme .....................

111

1. Die Europäische Sozialcharta (ESC) ......................................

112

2. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (lPbürgR)

115

3. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (lPwirtR) ....................................................................

120

4. Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD) ...................... ......... .............

121

§ 9 Menschenrechtsschutz durch Völkergewohnheitsrecht? ........ ...... .... ....

123

§ 10 Die Bedeutung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes für das britische Recht: Zusammenfassung ...........................................

127

3. Kapitel

Für und Wider einer Bill or Rights: Eine Analyse (Erster Teil) § 11 Grundrechtspraxis, Grundrechtsstandard und menschenrechtlicher Wertebestand ..........................................................................

131

§ 12 Die Schöpfung des Grundrechtsstandards ....................................

135

1. Der menschenrechtliche Konsens im Verhältnis zum Grundrechtsstandard

135

a) Die Erweiterung des menschenrechtlichen Konsenses ................

135

b) Die Funktion der Grundrechtsinnovation ........ ...... ............ ....

138

2. Das Gebot der Rechtssicherheit als ein Beispiel für menschenrechtliche Umsetzungsdefizite im Vereinigten Königreich .. .... ... .... .......... ...

140

3. Die institutionellen Regelungen zur Sicherung der Funktion der Grundrechtsinnovation .............................................................

148

a) Die Hinwendung zum modemen Parteienstaat in ihren Auswirkungen auf die Grundrechtsinnovation .........................................

148

Inhaltsverzeichnis

11

b) Die Träger der Grundrechtsinnovation im Vereinigten Königreich

155

c) Verzichtbarkeit von Grundrechtsinnovation? ..........................

161

aa) Grundrechtsinnovation als Antwort auf gesellschaftliche Wandlungen..... ............... ...... ................ ...... ...............

162

bb) Allgemeine Handlungsfreiheit des Staates oder einzelfallbezogene Ermächtigung durch Gesetz: Gesetzesvorbehalt und Grundrechtsinnovation ...........................................................

163

§ 13 Die Durchsetzung des Grundrechtsstandards .................................

168

1. Testfall 1: Die farbige Bevölkerungsgruppe ... ............... ....... .....

169

2. Testfall 2: Die katholische Minderheit in Nordirland ....................

173

§ 14 Die Sicherung des menschenrechtlichen Wertebestandes gegen dessen Derogation .... .............. ......... ....... ................. ............ ............

178

1. Die EMRK und die Vereinbarkeit des britischen Rechts mit dem menschenrechtlichen Wertebestand ..... ................ ............ .... ........

178

2. Die institutionellen Vorkehrungen zur Sicherung des menschenrechtlichen Wertebestandes ..............................................................

181

§ 15 Zusammenfassung und Überleitung ... ............... .... ......... .... ........

185

4. Kapitel

Zwischen Parlamentssouveränität und verfassungsrechtlicher Wirkungslosigkeit: die Typologie einer britischen Bill or Rights § 16 Modelle für eine Bill of Rights ...............................................

190

1. Eine Bill of Rights als einfaches Gesetz? .................................

190

2. Verfahren für einen erhöhten Bestandsschutz .............................

194

§ 17 Die sog. Kleine Lösung ........................................................

197

1. Die Kleine Lösung als Mittel zur Überwindung der verfassungsstrukturellen Defizite des Vereinigten Königreichs .................................

197

2. Die Kleine Lösung und die Parlamentssouveränität ......................

201

a) Die Interpretationsregel .................................................

201

b) Der Ausschluß impliziter Derogation ..................................

201

3. Die Kleine Lösung vor den Gerichten: Die Erfahrungen mit der Canadian Bill of Rights von 1960 .................................................... 204 a) Der Grundrechtsschutz in Kanada vor 1960 .......... .................

205

b) Die Canadian Bill of Rights von 1960 .................... ........ .....

209

c) Folgerungen .............................................................

218

Inhaltsverzeichnis

12 § 18 Die sog. Große Lösung

1. Die verfassungspolitischen Möglichkeiten der Großen Lösung im Konflikt mit der Parlamentssouveränität ..... . . . . . . . . . . .. . . . . .. .. . . . . . . . . .. .. . . . . . .. 2. Die Parlamentssouveränität auf dem Prüfstand der britischen Verfassungspraxis: Versuch einer Falsifizierung .... .................... ......... a) Fallgruppe 1: Veränderungen des funktionalen Geltungsbereichs der britischen Gesetzgebung ................................................ b) Fallgruppe 2: Veränderungen des territorialen Geltungsbereichs der britischen Gesetzgebung ................................................ c) Fallgruppe 3: Veränderungen von Zusammensetzung und Entscheidungsmodus des ,.King-in-Parliament" .... ........... ....... .......... aa) Die orthodoxe Lehre ............................................... bb) Die sog. ,,Neue Lehre der Parlamentssouveränität" (New View of Parliamentary Sovereignty) .......... .......... ........ .........

220 220 223 223 228 235 236 238

3. Eine rechtslogische Analyse des Problems der Selbstbindung .. ......... a) Systematische Zusammenfassung der zum Problem der Selbstbindung vertretenen Lehrmeinungen ............................................. aa) Die orthodoxe Lehre........................ ........ ............... bb) Die ,,Neue Lehre" ............................. ......... ............ cc) Die Lehre von H. G. Petersmann ................................. b) Rechtsmacht oder verfassunggebende Gewalt: zwei Wege zur Vornahme von Selbstbindungen des Parlaments? .........................

241

§ 19 Die sog. Revolutionäre Lösung .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .

257

1. Die Einführung einer Bill of Rights durch Rückgriff auf die pouvoir constituant ................................................................... a) Träger der pouvoir constituant ......................................... b) Verfahren.............. .......... ............................ ............ c) Doch formelles Verfassungsrecht im Vereinigten Königreich? ...... d) Die Iustiziabilität einer Bill of Rights gegenüber dem Verfassungsgebungsorgan Parlament ................................................ e) Der Rückzug des Parlaments als Verfassungsgebungsorgan aus der Verfassung ............................................................... 2. Zwischenergebnis und Zusammenfassung ................................. 3. Die Ausschaltung der verfassunggebenden Funktion des Parlaments durch "pragmatische Verfahren" .................................................. a) Die Sicherung des Vorrangs einer Bill of Rights durch die Schaffung einer neuen Verfassungskonvention ................ .................... h) Der Schutz der Bill of Rights vor Änderungen ....................... c) Die Sicherung des Vorrangs einer Bill of Rights durch institutionelle Vorkehrungen ........................................................... d) Noch einmal: Parlamentssouveränität und formelles Verfassungsrecht

241 241 243 247 249

257 258 262 272 276 280 282 284 284 285 290 293

Inhaltsverzeichnis

13

5. Kapitel

Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (Zweiter und letzter Teil) § 20 Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratieprinzip und Gewaltenteilungsgrund-

satz ..............................................................................

296

1. Die Einwände gegen eine britische Verfassungsgerichtsbarkeit .........

296

2. Die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative in der britischen Verfassung .................................................................. 300 § 21 Die These vom Vorrang der Politik gegenüber dem Recht........ ..........

307

1. Verfassungsrecht und Politik...................................... .........

307

2. Die Entscheidung über die Einführung einer Bill of Rights als Dezision 311 Bibliographie .........................................................................

317

I. Literatur ....................................................................

317

11. Regierungsamtliche Veröffentlichungen ..................................

338

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. ABI. Abs. AC AFDI AJCL AJIL All ER Allg. Anm. Art. Aufl. Bd. bes. BGBI. BLD BNAA BrownI. & Golds. BT-Drs. BVerfG BVerfGE BYBIL

c.

CA Can. Bar Rev. CERD Ch ChD

CU

CMLR CMLRev. Cmnd. coI. (bzw. cols.) CP Crim.LR

anderer Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz Appeal Cases (Report) Annuaire fran~ais de droit international American Journal of Comparative Law American Journal of International Law All England Report Allgemein Anmerkung Artikel Auflage Band besonders Bundesgesetzblatt Bulletin of Legal Developments British North America Act Brownlie and Goldsmith (Report) Bundestags-Drucksache Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts British Yearbook of International Law chapter Court of Appeal Canadian Bar Review Convention Against the Elimination of All Forms of Racial Discrimination Chancery Report Chancery Division Cambridge Law Journal Common Market Law Report Common Market Law Review Command-Papers (= Papiere des Parlaments) column(s) (= Spalte[nD Court of Common Pleas (Report) Criminal Law Report

Abkürzungsverzeichnis

Deb. ders./dies. Diss. DH DLR Doc. Dok.

Debatten des House of Cornrnons oder des House of Lords derselbe/dieselben Dissertation Droits de I'hornrnes Dominion Law Report Document Dokument Döv Die Öffentliche Verwaltung dt. deutsch DuR Demokratie und Recht DVBI Deutsches Verwaltungsblatt EA Europa-Archiv EAG Europäische Atomgemeinschaft ECHR YB Yearbook of the European Commission on Human Rights ECOSOC United Nations Economic and Social Council EG Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS Europäische Menschenrechtskonvention EMRK ER England Report ESC Europäische Sozialcharta et al. et alia ETS European Treaty Series EuGH Europäischer Gerichtshof EuGHMR Europäischer Menschenrechtsgerichtshof EuGH Slg. Sarnrnlung der Entscheidungen des EuGH Europäische Grundrechte-Zeitschrift EuGRZ Europarecht EuR Eur. Cornrn. H. R. European Cornrnission of Human Rights Europ. European EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ex parte ex p. FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende ff. Fußnote FN. Festschrift FS (United Nations) General Assembly Official Records GAOR Grundgesetz GG gegebenenfalls ggfs. German Yearbook of International Law GYIL House of Cornrnons H.C. House of Lords H.L. Halsbury's Laws of England HLE Harvard Law Review HLR Her Majesty's Stationary Office H.M.S.O.

15

16 Horne Dept HRJ HRU HSE ICLQ ILO intern 'I IPbürgR IPwirtR IR

J. JöR NP JuS JZ KB

L.

lit.

u.

LQR MinKtee MLR M.R. m.w.N. NILR NJW NU no. N.Y. NYBIL ord. p. PC PL Q. QB QBD RabelsZ RdC ROH Rev. rev. Rs. Rz

S.

Abkürzungsverzeichnis Horne Department Human Rights Journal Human Rights Law Journal Halsbury's Statutes of England International and Comparative Law Quarterly International Labour Organization international Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Ireland Reports Journal Jahrbuch für öffentliches Recht, neue Fassung Juristische Schulung Juristenzeitung King's Bench (Report) Law Buchstabe Lord Justice Law Quarterly Review Ministerkomitee Modern Law Review Master of the Rolls mit weiteren Nachweisen Netherlands International Law Review Neue Juristische Wochenschrift New Law Journal numero, number New York Netherlands Yearbook of International Law ordinary page Privy Council Public Law Quarterly Queen's Bench (Report) Queen's Bench Division Rabels Zeitschrift Recueil des Cours de I' Academie de droit international Revue de droit de I'homme Review revue Rechtssache Randziffer Seite

Abkürzungsverzeichnis SA Sc S.C. SCR sec. Sero Sess.{sess. Slg. SLT sog. Sol J. Sp suppl. TLR transn'l U.

a.

UN

UNESCO UK U. S.

V.

v. VC vgl. Vict. VN

WHO WLR WVK YB ZaöRV Z. B. ZParl. ZPolit.

2 Koch

17

South Africa Report scottish Court of Session Supreme Court [of Canada] Report section Series Session Sammlung Scottish Law Times sogenannt(e)(es)(er) Solicitor's Journal Spalte supplement Times Law Report transnational unter anderem United Nations United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Kingdom United States [Supreme Court] Report Vertrag versus Vice Chancellor vergleiche Königin Victoria Vereinte Nationen World Health Organization Weekly Law Report Wiener Vertragsrechtskonvention Yearbook Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Politik

Einleitung Keine ausländische Verfassungsordnung hat in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert eine auch nur annähernd ähnliche Beachtung gefunden wie die britische. Eine erstaunliche Zahl von umfassenden Lehrbüchern über das britische Verfassungsrecht, aber auch viele kleinere Arbeiten aus deutscher Feder belegen dieses außergewöhnliche Interesse, für das sich im wesentlichen zwei Gründe anführen lassen. Zum einen erfüllte die Praxis der britischen Verfassungsordnung bis in die jüngste Vergangenheit für alle parlamentarischen Demokratien Vorbildfunktion, die gerade in dem demokratisch unterentwickelten Deutschland dankbar aufgegriffen wurde. Die im Vereinigten Königreich über Jahrhunderte ungebrochen tradierten Grundsätze und Spielregeln parlamentarischer Demokratie wurden von der bürgerlich-liberalen Opposition im Deutschen Reich allgemein bewundert, die britische Verfassung empfahl sich als Beispiel für einen auch in Deutschland anzustrebenden staatlichen Umbau. Zum anderen haben die zahlreichen Besonderheiten der britischen Verfassung immer wieder die analytische Neugierde besonders deutscher Staatsrechtler herausgefordert. Einmal also war es die britische Verfassung als herausragendes Beispiel für den Typ des demokratisch-parlamentarisch verfaßten Staates, später waren es die das Vereinigte Königreich gegenüber diesem Verfassungstypus auszeichnenden Besonderheiten, welche dem Vereinigten Königreich die besondere Aufmerksamkeit der deutschen Staats- und Verfassungslehre sicherten. Seitdem hat sich das Schwergewicht des Interesses ganz deutlich zugunsten jener eben angesprochenen, das Vereinigte Königreich kennzeichnenden Unterschiede verschoben. Die Zahl der demokratisch organisierten Staaten hat sich seit dem 19. Jahrhundert vervielfacht. Dadurch verlor das Vereinigte Königreich seine früher eingenommene Rolle als Vorbild. Heute muß sich die britische Verfassung in Hinsicht auf ihre verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Effektivität einem Vergleich mit anderen Staaten stellen: aus Nachahmern sind Konkurrenten geworden. Diese neue Situation offenbart aber, daß das Vereinigte Königreich in vielerlei Hinsicht einen Sonderweg eingeschlagen hat, mehr noch: daß das Land wichtige verfassungsrechtliche Entwicklungen, die andernorts erprobt und zur Reife gebracht wurden, entweder gar nicht oder nur in rudimentärer Form aufnehmen wollte und so manchem Beobachter - übrigens auch aus der britischen Staatslehre - den Eindruck vermittelt, den Anschluß an wesentliche Entwicklungen des Verfassungsrechts verloren zu haben. Eine der in diesem Zusammenhang besonders auffalligen verfassungsrechtlichen Abweichungen von dem von anderen demokratischen Staaten gebotenen Erscheinungsbild ist das Fehlen eines Grundrechtskataloges. 2*

20

Einleitung

Grundrechtskataloge, d. h. die Zusammenfassung in einem Dokument der einem staatlichen Gemeinwesen und seinen Organen vorgegebenen grundlegenden Rechte des Bürgers, finden sich freilich heute nicht nur in Demokratien, sondern mittlerweile in fast allen Staaten der Welt. 1 Dieser Sachverhalt macht das Beiseitestehen des Vereinigten Königreichs nur um so auffälliger. Die Übernahme des Instruments des GfWldrechtskataloges in das Völkerrecht - zunächst noch zaghaft durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, umfassend in den beiden Menschenrechtspakten von 1966 und den anderen universal angelegten Menschenrechtsschutzverträgen und schließlich sogar in Verknüpfung mit dem Institut einer Quasi-Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Europäische Menschenrechtskonvention - hat auch das Vereinigte Königreich mit der Wirkung und Funktion von Menschenrechtserklärungen bekannt gemacht. Spätestens seit dem 2. Weltkrieg ist aber auch das Vereinigte Königreich selbst tiefgreifenden Wandlungen ausgesetzt gewesen. Die Demontierung des britischen Weltreichs, der Verlust der militärischen, vor allem der maritimen, aber ebenso der politischen Großmachtstellung hat dem aus diesen Quellen über Jahrhunderte genährten Selbstverständnis und Selbstvertrauen des Landes schwere Wunden geschlagen. Der britischen Wirtschaft ist es schlecht ergangen. Der ehedem genossene Wohlstand ist einer neuen Armut 2 und damit einhergehenden erheblichen sozialen Konflikten gewichen. 3 Auf dem Hintergrund dieser Lage ist seit dem Ende der 60er Jahre Kritik an der gegenwärtigen britischen Verfassungsordnung im Vereinigten Königreich selbst laut geworden mit dem Ziel, eine Reihe 1 Einzige sonstige Ausnahmen sind Israel und Neuseeland, deren Verfassungsordnungen ebenfalls keine Grundrechtskataloge kennen. Diese beiden Staaten teilen mit dem Vereinigten Königreich als weitere Besonderheit das Fehlen eines geschlossenen Verfassungsdokuments; in Israel ist die Verfassung auf acht sog. Grundgesetze verteilt, in Neuseeland wurde ein Constitution Act erstmals 1986 vorgelegt, ist bislang aber noch nicht in Kraft getreten; siehe dazu Blaustein I Flanz, Constitutions ofthe World, Stichworte: Israel, Neuseeland. Auch in Neuseeland gibt es allerdings eine Diskussion zur Einführung einer Bill of Rights, siehe nur Palmer, A Bill of Rights for New Zealand, in: Keith, Essays on Human Rights, S. 106 ff. 2 Eindrucksvoll ist dieser Verlust vor allem mit einem Vergleich zu anderen Nationen zu belegen: genossen die Briten noch 1939 nach den US-Amerikanern das höchste ProKopf-Einkommen der Welt, ist das Vereinigte Königreich Mitte der 80er Jahre auf den 19. Rang abgerutscht. Klassische Industrieerzeugnisse, die einstmals die Exportstärke des Landes begründeten, haben heute sogar auf den britischen Inseln selbst zugunsten ausländischer Produkte dramatisch an Attraktivität eingebüßt. Siehe hierzu mit vielen Zahlen Informationen zur politischen Bildung: Großbritannien, 1. Quartal 1987 (Bundeszentrale für politische Bildung). 3 Diese Stichworte sind die wesentlichen Elemente einer ganzen Reihe von außerordentlich düster gestimmten Darstellungen, die erstmals in den 70er Jahren erschienen und unter Schlagworten wie "die britische Krankheit" überhaupt das Ende des Vereinigten Königreichs drohen sahen; siehe etwa den programmatischen Titel einer Aufsatzsammlung von Kramnick aus dem Jahre 1979, Is Britain Dying?; siehe ferner Setzer, Zur Lage des parlamentarischen Regierungssystems in Großbritannien, in: Frankfurter Hefte 36 (4/1981), S. 21 ff.; Dürr, "Britische Krankheit", in: Politik & Zeitgeschichte B 49/ 82, s. 3 ff.; de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 26.

Einleitung

21

von Reformen herbeizuführen. Ein zentraler Punkt dieser Kritik betrifft die Möglichkeiten des britischen Verfassungssystems, dem Bürger umfassend die ihm zustehenden Grundrechte zu sichern und diesen in der täglichen Verwaltungspraxis den ihnen zukommenden Platz einzuräumen. 4 Nicht nur außerhalb der Regierungsgeschäfte stehende Kritiker, sondern Parlamentarier, Wissenschaftler und Richter sehen beunruhigende Zeichen, die auf einen Verfall der B ürgerfreiheiten hinweisen; der Nordirland-Konflikt und die Behandlung der farbigen Immigranten, aber auch die allgemein zunehmenden Eingriffe des Staates in die Sphäre des Bürgers im Zeichen des Wohlfahrtsstaates sind wichtige Beispiele für die damit bezeichnete Entwicklung. Zur Beseitigung dieser Mängel haben viele Kritiker die Einführung eines britischen Grundrechtskataloges, einer Bill oiRights 5 , vorgeschlagen. 6 Besonders wichtig für die Verbreitung dieses Gedankens waren ein 1974 erschienenes Buch des Lordrichters Scarman 7 und eine 1976 gehaltene Vorlesung von Lord Hai/sharn oi St. Marylebone,8 dem zweimaligen Lord Chancellor, die sich beide für eine grundsätzliche Neuordnung des staatlichen Lebens aussprachen, als einen wichtigen Teil deren sie eine Bill of Rights empfahlen. Zur gleichen Zeit sind Versuche gemacht worden, einen britischen Grundrechtskatalog durch entsprechende Gesetzesvorlagen in das Gesetzgebungsverfahren einzuführen und so erste Schritte zur politischen Verwirklichung zu tun. Als Vorläufer dieser Bemühungen kann ein Entwurf aus dem Jahre 1947 angesehen werden,9 der freilich noch sehr bruchstückhaft angelegt war und keinen umfassenden Grundrechtskata4 Ein gutes Beispiel für die dabei vorherrschende Stimmungslage zeigt der Artikel von Smythe, Britain's Civil Liberties - An Official Secret, in: Civil Liberties 1 (1973), S. 162 ff. 5 Nicht zu verwechseln mit der berühmten Bill 0/ Rights von 1689 (1 Will. & Mar., sess. 2, c. 2, siehe § 2, Anm. 47), die allerdings auch einige grundrechtliche Elemente enthielt und mit der die Glorious Revolution von 1688 ihren legislativen Abschluß fand. 6 Siehe folgende Monographien (auf eine Aufführung der Aufsatzliteratur wird hier verzichtet): Lester, Democracy and Individual Rights; Zander, A Bill ofRights?; Wallington / McBride, Civil Liberties; Campbell, Do We Need a Bill of Rights?; Jaconelli, European Convention on Human Rights - Text of a British Bill of Rights?; auch eine deutsche Dissertation hat sich dieses Themas angenommen und sich für eine Bill of Rights ausgesprochen, siehe Geisseler, Reformbestrebungen im englischen Verfassungsrecht. 7 English Law The New Dimension, 1974. Für eine Zusammenfassung und Aufarbeitung der Ansichten Lord Scarmans, siehe v. Simson, Das Common Law als Verfassungsrecht, in: Staat 16 (1977), S. 75 ff. 8 Abgedruckt auszugsweise in The Times v. 15.10.1976, S. 4. 9 Preservation 0/ the Rights 0/ the Subject Bill, eingebracht im Oberhaus vom Marquess 0/ Reading (Liberale Partei), die sich während der 2. Lesung eine vernichtende Kritik des damaligen Lord Chancellors gefallen lassen mußte (H. L. Deb. vol. 147 cols. 762-810 [15.5.1947], bes. cols. 798-809) und aus Zeitmangel nicht weiter behandelt wurde. Unter anderem Namen (Liberties 0/ the Subject Bill) wurde der gleiche Entwurf neu eingebracht vom Viscount Samuel (ebenfalls Liberale Partei); nach zwei Lesungen (H. L. Deb. vol. 167 col. 476 [24.5.1950] und cols. 1041-1114 [27.6.1950]) war ihr aber das gleiche Schicksal beschieden.

22

Einleitung

log darstellte. Neuere Versuche nach 1969 verfolgten demgegenüber weitergesteckte Ziele und formulierten erstmals eine umfassend angelegte Bill of Rights. 10 Dabei wurde die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als mögliches Muster für eine Bill of Rights entdeckt. Weitere Versuche, dem Land einen GrundrechtskataIog zu geben, sahen daher regelmäßig vor, die EMRK als Gesetz in die britische Rechtsordnung zu übernehmen; unterschiedlich waren indes die jeweils vorgesehenen institutionellen Absicherungen. Einen Höhepunkt der politischen Bemühungen um die Einführung einer Bill ofRights markierte die Einrichtung eines vom House of Lords angeordneten Select Committee on a Bill 0/ Rights im Mai 1977, das den Vorschlag einer Übernahme der EMRK als britische Bill of Rights umfassend unter juristischen und politischen Gesichtspunkten prüfen sollte. Der Ausschuß fand sich zu einer vorsichtigen Zustimmung zu der eingebrachten Vorlage bereit. 11 Und gleichwohl ist bis auf den heutigen Tag keiner der zahlreich unternommenen Vorstöße für die Einführung einer Bill of Rights zu einem erfolgreichen Ende geführt worden; entsprechende Gesetzesvorlagen wurden entweder im House of Commons abgelehnt oder blieben wegen Zeitmangels unerledigt. Dieses Ergebnis mag zunächst überraschen angesichts des Umstandes, daß im Laufe einer langen, intensiv geführten politischen Debatte 12 um eine Bill of Rights alle großen Parteien zu irgendeinem Zeitpunkt sich für dieses Projekt ausgesprochen haben. \3 Das Maß an parteipolitischer Unterstützung variierte 10 Für minutiöse Schilderungen der zahlreich unternommenen parlamentarischen Initiativen, siehe Zander, Bill of Rights, S. 1-26; sowie ferner Abernathy, Should the UK Adopt aBill ofRights? in: AJCL 31 (1983), S. 431 ff. (433,435 ff.); Geisseler, Reformbestrebungen, S. 56 ff.; Fitzgerald, An English Bill of Rights?, in: Georgetown L. J. 70 (1981/82), S. 1229 ff. (1246-1254); Lippmann, Debate Over a Bill of Rights in Great Britain, in: Universal Human Rights 2 (4/1980), S. 25 ff.,jeweils mit zahlreichen Belegen aus den Debatten im House of Commons und im House of Lords. Der wichtigste dieser Versuche war der von Lord Wade, der wiederholt Entwürfe für eine Bill of Rights dem House of Lords zur Beratung vorlegte; eine Wiedergabe des Textes der Wadeschen Bill of Rights findet sich bei Wade, Introducing a Bill of Rights, in: Campbell, A Bill of Rights? S. 17 ff. (20 ff.); für Erläuterungen von Lord Wade selbst hierzu, siehe ebenda und A Bill of Rights for the UK, in: Parliamentarian 61 (1980), S. 65 ff. 11 Report of the Select Committee on Bill of Rights, H. M. S. O. 1978; eine Zusammenfassung der wesentlichen Schlußfolgerungen aus dem Report fmden sich in Human Rights Rev. 3 (1978), S. 139 ff. 12 Smythe, Case for a New Bill ofRights, in: Solicitor's J. 120 (1976), S. 324 f. (324), spricht - wohl etwas übertreibend - von einer "almost obsessive public debate"; tatsächlich hat das Thema es zu keinem Zeitpunkt vermocht, die Aufmerksamkeit einer ganz breiten Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. \3 Am konsequentesten in ihrem Einsatz für eine Bill of Rights wie auch für andere verfassungsrechtliche Reformvorhaben - ist die Alliance (bestehend aus Liberalen und Sozialdemokraten - SDP -), siehe deren Bericht, Reform of the Constitution von 1982, vorgestellt bei Bradley, Proposals for Constitutional Reform, in: PL 1982, S. 529 ff. (533); sowie Blackburn, Constitutional Proposals in the 1983 Election, in: PL 1983, S. 557 ff. (560 f.); für die Konservativen, siehe Hogg, New Charter: Some Proposals for Constitutional Reform; für Labour, die dem Bill of Rights-Projekt von allen

Einleitung

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jedoch stets erheblich je nachdem, ob die betreffende Partei in der Regierungsverantwortung stand oder in der Opposition; 14 bezeichnenderweise fanden sich verläßliche Förderer einer Bill of Rights allein in der Liberalen Partei, und seit deren Gründung auch bei den Sozialdemokraten, zwei Gruppierungen also, die entweder noch nie oder schon lange nicht mehr eine Regierung stellten. Ganz offensichtlich fehlt es also (mindestens bislang) an dem ernsthaften Vorsatz, den Ankündigungen Taten folgen zu lassen. Darüber hinaus mag der seit 1979 durch die Regierung Thatcher bewirkte psychologische Meinungsumschwung, eine seitdem wieder ansteigende Selbstbewußtseinskurve der Briten, die Stimmung zuungunsten grundlegender Reformen der Verfassung verändert haben. 15 Ohne Zweifel ist es jedenfalls um die Rufer nach einer Bill ofRights einsamer geworden in den letzten Jahren. Diese Zurückhaltung findet ihren Widerhall in der wissenschaftlichen Literatur, die bis heute dem Plan einer Bill of Rights gespalten gegenübersteht. Als Ergebnis dieser Debatte steht eine reiche Fülle von Stellungnahmen zur Verfügung, die unter verschiedensten Gesichtspunkten Wert und Unwert einer Bill ofRights für die britische Verfassung untersucht haben. Diese Auseinandersetzung bleibt oft allerdings bruchstückhaft und unsystematisch und läßt insbesondere eine Auseinandersetzung mit grundlegenden verfassungsrechtlichen Strukturelementen missen, ein Umstand, bei dem die manchmal aber auch etwas voreilig behauptete "Theorieunwilligkeit" der britischen Staatsrechtswissenschaft eine Rolle spielen mag. Im folgenden sollen Pro und Contra dieser Auseinandersetzungen auf dem sehr spezifischen Hintergrund der britischen Verfassungsentwicklung untersucht werden. Dabei soll es nicht das Ziel sein, den konkreten Inhalt der gegebenenfalls in eine Bill of Rights aufzunehmenden Grundrechte festzulegen; 16 vielmehr wird es allein darum gehen, was ein Grundrechtskatalog für das Vereinigte Königreich überhaupt ausrichten kann, und - als logische Voraussetzung hiervon - wie (wenn überhaupt) sich ein solcher Grundrechtskatalog in die britische Verfassung Parteien mit der größten Reserve gegenüberstehen, siehe Lester, Democracy and Individual Rights, passim. Siehe hierzu auch Jones, British Bill of Rights, in: Parliamentary Affairs 43 (1990), S. 27 ff. (32 f.). 14 Siehe Norton, Constitution in Flux, S. 254, der hierin sicher zu Recht den entscheidenden Grund für das bisherige Scheitern aller Bemühungen um Einführung einer Bill of Rights sieht. 15 Viele Beobachter nicht nur auf der Linken - meinen allerdings, daß die von Frau Thatcher herbeigeführte Umgestaltung letztlich nur oberflächlich sei und die eigentlichen Probleme mehr verdecke, als wirklich beseitige. Als ein Beispiel für diese weit verbreitete Ansicht, siehe Thomas, Englands Verfallprozeß geht weiter, FAZ v. 14.4.1990, S. 5. 16 Dies mag auch deswegen gerechtfertigt sein, weil in der Bill of Rights-Debatte vielleicht bezeichnenderweise - alle mit dem konkreten Inhalt der zu verbürgenden Grundrechte zusammenhängenden Fragen nur relativ wenig Interesse gefunden haben; Ausnahmen finden sich bei Stacey, Bill of Rights, S. 30 ff.; Pogany, Content of a Bill ofRights, in: Juridical Rev. 23 (1978), S. 12 ff. (mit ausführlicher Erörterung zur Aufnahme sozialer und wirtschaftlicher Rechte).

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Einleitung

möglichst hannonisch einfügen lassen könnte. Alles weitere muß anderen Untersuchungen vorbehalten bleiben. Zuletzt ist es vielleicht nicht unangebracht, noch ein allgemeines Wort über die Absicht dieser Untersuchung anzubringen. Unter dem gemeinsamen europäischen Dach (auch wenn dieses von manchen Briten ohne rechte innere Wärme getragen wird) ist es wohl gerechtfertigt, wenn auch aus einer deutschen Perspektive die Verfassungsordnung des Vereinigten Königreichs zum Gegenstand einer in Anbetracht der Materie notwendig kritischen Untersuchung gemacht wird. Mit besserwisserischer Nörgelei oder gar ,,Rechtsimperialismus" hat das nichts zu tun. Die Auseinandersetzung mit einer so alten und ehrwürdigen Rechts- und Staatskultur wie der britischen schafft vielmehr notwendig Achtung und Zuneigung einem Gemeinwesen gegenüber, das nicht nur in seinen besten Stunden der um die Freiheit sich mühenden Menschheit wahrlich Großes und Nachahmenswertes geboten hat. Hierzu bekennt sich die vorliegende Arbeit ganz ausdrücklich.

Erstes Kapitel

Der Grundrechtsschutz im Vereinigten Königreich: Das nationale Recht § 1 Grundrechtsschutz durch Verfassungsrecht 1. Formelles und materielles Verfassungsrecht Das Vereinigte Königreich 1 hat keine geschriebene Verfassung: mit dieser Feststellung pflegen Abhandlungen, die sich die Beschreibung des englischen Rechtssystems zum Ziel gesetzt haben, zu beginnen. 2 Diese den kontinentaleuropäischen Juristen immer wieder herausfordernde Behauptung ist aber zugleich mißverständlich, zumindestens ergänzungs- und erklärungsbedürftig. Einen allgemein anerkannten Verfassungsbegriffhat die Allgemeine Staatslehre bislang nur in Teilen herausbilden können. Trotz mancher Abweichungen im Detail und einer für viele Einzelfragen bedeutsamen unterschiedlichen Schwerpunktsetzung wird man als Arbeitshypothese Verfassung zunächst als die Gesamtheit der mit normativer Kraft ausgestatteten Grundprinzipien der Staatsordnung verstehen können. 3 Dieser Verfassungsbegriff knüpft an Normen an. Er steht 1 Gleich am Anfang sei ein Wort über die korrekte Bezeichnung des Staates gesagt, dessen Verfassungsordnung den Gegenstand dieser Arbeit bildet. Seit dem Union with Ireland Act 1800 lautet dessen Name "United Kingdom of Great Britain and Ireland", seit dem Government 0/ Ireland Act von 1920 nur noch "... and Northern Ireland". "Großbritannien" (Great Britain) umfaßt dagegen nur England, Wales und Schottland; siehe HLE 8, § 802. Die verschiedenen Landesteile haben in einem gewissen Umfang voneinander unterschiedliche Rechtsordnungen; dies gilt insbesondere für Schottland, das sich mit dem Act 0/ Union von 1707, der Schottland und England miteinander verband, seine mehr römisch-rechtlich inspirierte Rechtsordnung in Grenzen hat bewahren können. Für den rein verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen Ansatz dieser Arbeit sind diese Unterschiede indes bedeutungslos; aus der Sicht des einzelnen Rechtsadressaten können sich im konkreten Fall allerdings wichtige Abweichungen in Schottland ergeben; siehe ausführlich zum Grundrechtsschutz in Schottland Kingston / lmrie, Grundrechte im Vereinigten Königreich, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und USA, S. 715 ff. (715 f., 811-884). Siehe ferner MitchelI, Constitutional Law, S. 20 ff., 23f. 2 Stellvertretend für viele Yardley, The British Constitution and the Rule of Law, in: JöR 13 NP (1964), S. 129 ff. (129).

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1. Kap.: Das nationale Recht

damit in einem Gegensatz zu der von C. Schmitt entwickelten Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz, mit der die Verfassung als vorrechtliehe Entscheidung über "das Ganze der politischen Einheit hinsichtlich ihrer besonderen Existenzform"4 von den diese nur ausführenden Verfasssungsgesetzen abgegrenzt wird. 5 Damit wird die Verfassungsrechtssetzung, die historisch in den allermeisten Fällen in einem auch äußerlich einheitlichem Vorgang durch Ausarbeitung einer geschlossenen Verfassungsurkunde erfolgte, in einen politischen und einen rechtlichen Bestandteil zerlegt, wobei letzterer ersterem unterstellt wird. Das ist sicherlich insoweit berechtigt, als der Verfassung in der ihr konkret gegebenen Gestalt bestimmte politische Entscheidungen in Hinsicht auf eben diese Gestalt zu Grunde liegen müssen. Mit K. Stern muß man dem Schmittsehen Verfassungsverständnis indes entgegenhalten, daß die in der Verfassung (im Sinne C. Schmitts) enthaltenen politischen Entscheidungen nur dann eine konstituierende Wirkung entfalten können, sofern sie eine normative Niederlegung erfahren,6 andernfalls ihnen jede praktische Wirkung versagt bleibt. Nur da kann also von Verfassung gesprochen werden, wo auch eine entsprechende verfassungsgesetzliche Regel vorliegt; mit dieser Erkenntnis verliert die Schmittsehe Unterscheidung aber jede operationalisierbare Funktion. 7 3 So Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 17; Scheuner, Stichwort: Verfassung, in: Staatslexikon VIII, Sp. 117 ff. (118); Jellinek, Allg. Staatslehre, S. 505. Schwierigkeiten mit dem materiellen Verfassungsbegriff ergeben sich einmal um die Frage der Begründung und Herleitung der "Grundprinzipien", zum anderen bei der Bestimmung dessen, was "Grundprinzip" in diesem Sinne sein soll; hierzu vgl. etwa Krüger, Subkonstitutionelle Verfassungen, in: DÖV 1976, S. 613 ff. 4 Schmitt, Verfassungslehre, S. 21. Die damit angesprochene Aufgabe der Verfassung, die "bestehende Vielfalt" der in der sozialen Wirklichkeit vorgefundenen Erscheinungen zu einer "politischen Einheit" zu verbinden, wird in der jüngeren Lehre vor allem auch von Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 6 ff. betont. 5 Schmitt, Verfassungslehre, S. 76. Mit der scharfen Trennung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz, welche Schmitt für den ,,Anfang jeder weiteren Erörterung" des Verfassungsbegriffs hält (a. a. 0., S. 21), geht es Schmitt im Kern darum, die ,,Relativierung des Verfassungsbegriffs" als Folge einer Ersetzung der "einheitlichen Verfassung im Ganzen" durch die nach "formalen Kennzeichen" definierten Verfassungsgesetze zu verhindern (a. a. 0., S. 11); gleichzeitig sollen so die Grenzen der verfassungändernden Gewalt deutlich gemacht werden, deren Kompetenz sich nur auf Verfassungsgesetze, niemals aber auf die Verfassung selbst erstrecken könne (a. a. 0., S. 25). 6 Stern, Staatsrecht I, S. 71. 7 Das gilt auch für die von Schmitt mit seinem Verfassungsverständnis bezweckte Begrenzung der verfassungändernden Gewalt (siehe oben Anm. 5). Denn seiner Lehre zufolge ist ja auch die Verfassung selbst änderbar, allerdings nur durch die verfassunggebende, nicht durch die nur verfassungändernde Gewalt (Verfassungslehre, S. 75 ff.); da diese in der Art ihrer Ausübung aber völlig frei ist (a. a. 0., S.82), wird sie sich in solchen Staatsordnungen, die das Institut der verfassungändernden Gewalt kennen, natürlicherweise häufig dieses Instituts bedienen, um die gewünschten Änderungen herbeizuführen. Dann aber ist formal das Tätigwerden verfassunggebender Gewalt von dem Tätigwerden bloß verfassungändernder Gewalt nicht mehr zu unterscheiden und mithin die von Schmitt angestrengten Bemühungen zur Begrenzung der verfassungändernden Gewalt ohne praktische Konsequenz.

§ 1 Grundrechtsschutz durch Verfassungsrecht

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Mit dem eben vorgestellten materiell zu nennenden Verfassungsbegriff 8 konkurriert ein formeller Verfassungsbegriff, der wiederum in mindestens zwei Hauptvarianten vertreten wird. Die eine dieser beiden Ausdeutungen stammt von Georg lellinek; ihm zufolge gehört ein in Gesetzesform gefaßter Rechtssatz dann zur Verfassung (im formellen Sinne), wenn seine Änderung oder Aufhebung im Vergleich zum sonstigen Gesetzesrecht durch besondere Verfahren erschwert wird, der betreffende Rechtssatz somit über eine erhöhte Bestandskraft verfügt. 9 So definiert kennt das Vereinigte Königreich kein formelles Verfassungsrecht. Recht kann in Großbritannien zwar auf durchaus unterschiedliche Weise gesetzt werden, aber es gibt keinerlei privilegierte Normenbestände, die durch eine einfache Parlamentsmehrheit nicht abänderbar wären. Eine erhöhte Bestandskraft ist somit ausgeschlossen, weil nur ein und dieselbe Art qualitativen Bestandsschutzes unterschiedslos für jedes vom Parlament gesetzte Recht gilt. 10 Freilich wäre es unzulässig, aus diesen Gegebenheiten auf das Nichtvorhandensein auch einer materiellen Verfassung zu schließen. 11 Die Frage nach dem Bestehen einer 8 Einen gegenüber der herrschenden Meinung abweichenden materiellen Verfassungsbegriff vertritt H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 228, der damit allein jene Rechtsvorschriften erfaßt wissen will, die "die Erzeugung der generellen Rechtsnormen" regeln, also innerhalb des Stufenbaus der Rechtsordnung die positivrechtlich höchste Stufe ausmachen, von der alle anderen Rechtsnormen ihre Legitimität herleiten. Damit scheinen etwa Grundrechte aus dem materiellen Verfassungsbegriff ausgeschieden zu sein. Grundrechte versteht Kelsen indessen als jene Bereiche, über die Regelungen zu treffen, dem (einfachen) Gesetzgeber verboten ist (a. a. 0., S. 230); in diesem Sinne bestimmen also auch Grundrechte über die (Nicht-)Erzeugung von Normen und können so doch zum materiellen Verfassungsbegriff hinzugenommen werden. 9 Siehe Jellinek, Allg. Staatslehre, S. 532 ff., bes. S. 534; ihm folgend Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 32; Stern, Staatsrecht I, S. 72 f.; Krüger (Anm. 3), S. 613 ff.; Badura, Staatsrecht, Rz 7. Ebenso aber auch Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 228 f. Für eine Stimme aus der britischen Lehre, die sich ähnlich äußert, sieheJennings, Law & Constitution, S. 76. Zu den besonderen Komplikationen des Verfassungsbegriffs in der englischen Lehre, siehe Ridley, There is No British Constitution, in: Parliamentary Affairs 41 (1988), S. 340 ff. (340 f.). 10 Man sollte übrigens vorsichtig sein mit der Behauptung, daß England auch in der Vergangenheit nie (geschriebenes) formelles Verfassungsrecht gekannt habe (so aber Thelen, Vereinbarkeit des EWGV mit der britischen Verfassung, S.7). Während der Zeit des Cromwellschen Commonwealth (1649-1660) gab es mehrere, allerdings recht kurzlebige Verfassungsurkunden; eine davon, The Instrument ofGovernment vom Dezember 1653 bestimmte, daß das darin vorgesehene wichtigste Exekutivorgan, der sog. Protector - Cromwell selbst - nur dann ein Vetorecht gegen die Gesetze des Parlaments zur Verfügung stand, wenn durch das Gesetz das Instrument of Govemment verletzt wurde. Hierzu siehe Keir, Constitutional History, S. 225 f.; Gardiner, Oliver Cromwell, S. 158-161; Plucknett / Taswell-Langmead, English Constitutional History, S. 466. Mehr hierzu, siehe unten § 5, Ziffer 1. 11 Das wird auch von de Tocqueville in einer berühmten Passage seines De la democratie en Amerique I, S. 101, nicht getan, wie eine genaue Lektüre zeigt: ,,En Angleterre, on reconnait au parlement le droit de modifier la constitution. En Angleterre, la constitution peut donc changer sans cesse, ou plutöt elle n' existe point." (Hervorhebung vom Verfasser) Der Hinweis auf die Kompetenz zur Änderung der Verfassung macht deutlich, daß Tocqueville (unausgesprochen) vom formellen, nicht vom materiellen Verfassungsbegriff ausging. Ähnlich Jennings, Law & Constitution, S. 65. Anders dagegen Kastari,

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1. Kap.: Das nationale Recht

materiellen Verfassung ist vielmehr anband der Verfassungspraxis zu beantworten. Hier zeigt sich, daß zwar wichtige Regeln der britischen Staatsordnung in keinerlei schriftlicher Rechtsnorm fixiert wurden, ja nicht einmal gewohnheitsrechtlieh verankert sind. Gleichwohl heißt dies nicht, daß die Funktionen der britischen Staatsorgane in diesen nicht kodifizierten Bereichen von der jeder Bindung ledigen Willkür ihrer Träier bestimmt würden. Vielmehr sind die Amtsträger auch insoweit genauen Regeln unterworfen, die sich in einigen Fällen sogar als besonders dauerhaft gezeigt haben, allerdings nicht mit rechtlichen, sondern mit politisch-moralischen Sanktionen bewehrt sind. 12 Die englische Staatsordnung weist daher eine ähnliche Normdichte auf wie andere Verfassungen vergleichbarer Länder,13 bedient sich jedoch in größerem Umfang außerrechtlieher Durchsetzungsmechanismen. 14 Das Typische der englischen Verfassung ist somit das Fehlen einer selbständigen und besonderen Regeln unterworfenen Verfassungsrechtsquelle; die Verfassung entstammt den gleichen Quellen wie alle anderen Rechtssätze auch. 15 Diese Feststellung gibt Anlaß zu der Frage, ob unter diesen Umständen nicht die Gesamtheit aller Gesetze als formelles Verfassungsrecht im lellinekschen Sinne zu verstehen ist, ein Gedanke, der auch schon bei Tocqueville anklingt. 16 Dem ist indes entgegenzuhalten, daß die vom Begriff des formellen Verfassungsrechts vorausgesetzte Existenz einer Normenpyramide in einem bestimmten Sinne zu Über die Normativität und den hierarchischen Vorrang der Verfassungen, in: FS Leibholz II, S. 51 ff. (54 f.), der die Meinung äußert, daß "dem Hauptteil der Verfassung Englands die eigentliche rechtliche Normativität fehlt" (55). 12 Dies trifft vor allem auf die sog. Conventions (Konventionen) zu; dazu siehe umfassend Meyn, Verfassungskonventionalregeln im Verfassungssystem Großbritanniens. \3 Strittig ist allerdings der genaue Umfang dessen, was Verfassungsrecht sein soll, siehe etwa MarshalI, Constitutional Theory, S. 3 -12; Meyn, Verfassungskonventionalregeln im Verfassungssystem Großbritanniens, S. 204 ff.; problematisch ist dabei insbesondere die Einordnung der zahlreichen Verfassungskonventionen. 14 Überhaupt muß man davon ausgehen, daß jeder Staat eine materielle Verfassung hat, Verfassung in diesem Sinne also ein konstituierendes Merkmal von Staatlichkeit ist, siehe Heller, Staatslehre, S. 270 ff.; lellinek, Allg. Staatslehre, S. 505; Munro, What is a Constitution? in: PL 1983, S. 563 ff. (563). 15 Daraus ergeben sich natürlich Probleme für die Abgrenzung von Verfassungs- und Verwaltungsrecht, siehe Dicke, Englisches Verfassungsverständnis, in: DÖV 1971, S. 409 ff., der hierzu prägnant festsstellt (410): "Versteht man auf dem Kontinent das Verwaltungsrecht als Konkretisierung des [höherrangigen] Verfassungsrechts, so müßte der Brite das Verfassungsrecht als Abstrahierung des Verwaltungsrechts begreifen ..." Deswegen gibt es übrigens auch geschriebenes Verfassungsrecht im Sinne der eingangs zitierten Behauptung, nämlich Verfassungsrecht, das sich in Gesetzen findet (z. B.'die Parliament Acts von 1911 und 1949 über die Mitwirkung des Oberhauses an der Gesetzgebung); so auch Schmitt, Verfassungslehre, S. 14 f.; Finer, Comparative Govemment, S. 146; MitchelI, Constitutional Law, S. 10. 16 Im Anschluß an die in Anm. 11 zitierte Passage heißt es weiter: ,,Le parlernent, en m~me temps qu'il est corps legislativ, est corps constituant." Deutlich aufgeworfen wird die Frage bei Thelen, Vereinbarkeit des EWGV mit der britischen Verfassung, S. 216 f.

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spezifizieren ist. Verfassungsrecht in diesem Sinne ist nicht gleichzusetzen mit demjenigen Normenbestand, der innerhalb der Normenpyramide den jeweils höchsten Platz einnimmt (dann hätte in der Tat jeder Staat notwendigerweise durch besondere Bestandskraft geschütztes formelles Verfassungsrecht); zusätzlich kommt es vielmehr auf den von den Gesetzen eingenommenen Rang an. In anderen Worten: von formellem Verfassungsrecht kann nur dort gesprochen werden, wo es eine gegenüber dem Gesetz höherrangige Rechtsquelle gibt, weil nur unter dieser Voraussetzung eine Rechtsbindung auch des Gesetzgebers und damit der Gesamtheit staatlicher Organe herbeigeführt werden kann, was der eigentliche Sinn des Verfassungsrechts ist (dazu gleich). Insofern ist also nicht maßgeblich, ob das britische Parlament überhaupt berechtigt ist, als "Konstituante" zu fungieren, oder als solche verstanden werden kann, 17 denn jedenfalls wäre das rechtliche Ergebnis solchen Tätigwerdens formal von dem nur gesetzgeberischen Handeln nicht unterscheidbar. 18 Der Jellineksche formelle Verfassungsbegriff, der im Vorstehenden vorausgesetzt wurde, ist nun allerdings von verschiedenen Seiten aus angegriffen worden. Als nur "äußerlich und nebensächlich" hat C. Schmitt die von Jellinek aufgestellte Defmition bezeichnet, 19 weil so "die Bestimmungen über Verfassungsänderungen . . . der wesentliche Kern und der Inhalt der Verfassung wären und die ganze Verfassung ... nur ein Provisorium und in Wahrheit nur ein Blankettgesetz, welches gemäß den Bestimmungen über Verfassungsänderungen jeweils ausgefüllt würde."20 Tatsächlich wird man mit einem so verstandenen formellem Verfassungsbegriff jenen Staatsordnungen nicht gerecht, die wie das Vereinigte Königreich ihren (materiellen) Verfassungen keine erhöhte Bestandskraft gegeben haben und folglich in diesem Sinne ohne "Verfassung" wären. 21 Das erfordert die Suche nach einem anderen Kriterium, die bei den von jeder Verfassung wahrzunehmenden Funktionen anzusetzen hat. Verfassung bedeutet ja vor allem die Niederlegung von Grundlagen: 22 solchen, die die Einrichtung und Ausübung staatlicher Macht bestimmen, und anderen, die etwa durch die Schaffung objektiver Werte Leitlinien und Orientierungsmarken aufrichten und so dem staatlichen 17 Insofern unzutreffend Thelen, Vereinbarkeit des EWGV mit der britischen Verfassung, S. 216, Zu diesem Problem, siehe im übrigen unten § 19, Ziffer l. 18 Das ist aber immer das maßgebliche Kriterium, vgl. wiederum Jellinek, Allg. Staatslehre, S. 534. 19Verfassungslehre, S. 1l. 20 a. a. 0., S. 19. Diese Beobachtungen sind durchaus zutreffend; allerdings gelten sie ebenso bei der von Schmitt vorgeschlagenen Konstruktion, bei der ja die Verfassung (in seinem Sinne) ebenso unter dem Vorbehalt der wesensmäßig unkontrollierbar bleibenden verfassunggebenden (statt: verfassungändernden) Gewalt steht; die Wirkungen sind hier also genau gleich. 21 So auch Stern, Staatsrecht I, S. 72. Auch Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 229 f., hält das lellineksche Kriterium der erhöhten Abänderbarkeit deswegen offenbar nicht für konstitutiv. 22 Von allen Funktionen einer Verfassung ist dies vielleicht die evidenteste; siehe Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 17.

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und gesellschaftlichen Leben Ziel und Richtung geben. Das gilt freilich auch für viele einfach-gesetzliche Rechtsvorschriften. Regeln der Verfassung zeichnen sich demgegenüber durch eine besondere Dignität aus, die allein es rechtfertigt, sie überhaupt unter den Begriff "Verfassung" zu subsumieren. 23 Diese Dignität wiederum resultiert nur daraus, daß die in der Verfassung zusammengefaßten Normen einen Vorrang gegenüber allen anderen innehalten: Verfassung als "Grundgesetz" des Staates und "Norm der Normen", die in der "Abfolge der Rechtserzeugungsstufen" die Bedingungen und Voraussetzungen festlegt, unter denen alle anderen Rechtsnormen gesetzt werden. 24 Verfassung in diesem Sinne ist nicht irgendeine, sondern allein "die höchstrangige normative Aussage über die Grundprinzipien der Herrschafts- und Wertordnung im Staat."25 Tritt man mit diesem Verfassungsbegriff an das Vereinigte Königreich heran, so zeigen sich bei der Subsumtion allerdings ähnliche Schwierigkeiten wie beim materiellen Verfassungsbegriff. In anderen Ländern nämlich gibt es eine Verfassungsurkunde, also das, was man im engeren Sinne als geschriebene Verfassung bezeichnet, die den Sinn hat, eben jene "höchstrangigen Normen" identifizieren und kenntlich machen zu helfen. Eine solche Verfassungsurkunde kennt das Vereinigte Königreich nicht. Muß das bedeuten, daß es übergeordnete Normen im Vereinigten Königreich nicht geben kann? "Übergeordnet" kann hier nicht bedeuten: mit besonderer formeller Bestandskraft versehen, denn dann entfiele jeder Unterschied zum lellinekschen Verfassungsbegriff. Unter den Bedingungen des Vereinigten Königreichs kann sich die besondere normative Qualität der Verfassung daher nur politisch-moralisch niederschlagen. Da eine Verfassungsurkunde fehlt, müssen die zur Feststellung dieser besonderen "politisch-moralischen" Normativität notwendigen Prüfungen an der einzelnen positiven Norm ansetzen, können also nur von Fall zu Fall vorgenommen werden. Gibt es solches Gesetzesrecht, das dann als formelles Verfassungsrecht zu bezeichnen wäre? Gehören hierzu insbesondere die Grundrechte? Zwar finden sich in verschiedenen Gesetzen einzelne grundrechtliche Normierungen (dazu gleich mehr), aber in Abwesenheit eines geschlossenen Grundrechtskataloges sind eine Reihe von Grundrechten, die in fast alle staatlichen und völkerrechtlichen Grundrechtskataloge aufgenommen wurden und denen sich auch das Vereinigte Königreich verpflichtet fühlt, dort nirgendwo durch Gesetz niedergelegt worden, so zum Beispiel die Meinungsfreiheit. Zwar wird den Menschenrechten auch im Vereinigten Königreich ein besonderes Gewicht beigemessen; um sie als Teil einer Verfassung im formellen Sinne zu bezeichnen, fehlt es ihnen nach dem eben Gesagten aber an der von diesem Begriff unumgänglich vorausgesetzten Stern, Staatsrecht I, S. 81. So Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 228 ff., 283 f.; ähnlich Allot, The Courts and Parliament: Who Whom? in: CU 38 (1979), S. 79 ff. (79). 25 Stern, Staatsrecht I, S. 78 (Hervorhebung vom Yerf.). 23

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§ 1 Grundrechtsschutz durch Verfassungsrecht

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notwendigen Verrechtlichung. 26 Es bleibt also festzuhalten: vom Verfassungsrecht her hat die britische Rechtsordnung den Grundrechten keinerlei Schutz zu bieten. 2. Der Grundsatz der Parlamentssouveränität Mit diesem Ergebnis ist nun allerdings noch nicht gesagt, daß das Vereinigte Königreich nicht doch wenigstens im staatsorganisatorischen Bereich formelles Verfassungsrecht kennt. Zwar gibt es ein Staatsorganisationsstatut ebensowenig wie einen Grundrechtskatalog; in entsprechender Weise fehlt es im Vereinigten Königreich an einer gesetzesrechtlichen Durchnormierung auch nur der wichtigsten Regeln über Bildung und Verfahren der wesentlichen staatlichen Organe. Und doch gibt es einen Kandidaten für formelles Verfassungsrecht auch im Vereinigten Königreich, womit zugleich erklärt wird, warum es eine jedenfalls rechtlich gesicherte besondere Bestandskraft von einzelnen Rechtsnormen dort nicht geben kann: gemeint ist der Grundsatz der Parlamentssouveränität (sovereignty of Parliament, auch supremacy of Parliament)27. Dieses Prinzip, auf das näher einzugehen im weiteren noch reichlich Anlaß sein wird, sei an dieser Stelle nur kurz vorgestellt. In seiner kürzesten Form besagt es, daß das Parlament befugt ist, jedes ihm genehme Gesetz gleich welchen Inhalts zu verabschieden oder ebenso jedes bestehende Gesetz wieder zu beseitigen (der positive Aspekt der Parlaments souveränität). 28 Dieser Grundsatz selbst allerdings steht nicht zur Disposition des Parlaments. Die Grenze seiner solcherart konstituierten Allmacht findet es somit in dem Verbot, besser gesagt: in der Unmöglichkeit, eben diese Allmacht zu beseitigen, woraus folgt, daß das Parlament sich selbst nicht zu binden vermag, kein Gesetz also durch eine in ihm enthaltene Klausel dem 26 Lester, Democracy and Individual Rights, S.4, meint, daß ,,many of the basic values which have optimistical1y come to be known as ,human rights' ... cannot indeed be properly regarded as rights." Beispiele hierfür finden sich bei Minutes of Evidence, Report of the Select Committee on a Bill of Rights, S. 145. 0' Higgins, Civil Liberties, S. 2, meint daher auch, man möge im Vereinigten Königreich besser von "civilliberties" als von "civil rights" sprechen; so auch Kingston / Imrie (Anm. 1), S. 721, 735 f. Siehe hierzu ferner Daintith, Protection of Human Rights in the UK, in: HRJ 1 (1968), S. 275 ff. (277 f.). 27 Welchen dieser beiden Begriffe man bevorzugt, ist im wesentlichen Geschmackssache, siehe MitchelI, Constitutional Law, S. 64 Anm. 4; Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 64; de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 63 f. - Nur vorab sei hier festgestellt, daß mit "Souveränität" in diesem Zusammenhang organschaftliche Souveränität gemeint ist (dazu siehe mehr § 19, Ziffer 1 a». In einem anderen Sinne verwenden den Begriff ,'parlaments souveränität" dagegen Loewenstein, Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England nach der großen Reform, in: Archiv für Sozialwissenschaft & Sozialpolitik 51 (1924), S. 614 ff. und Streifthau, Souveränität des Parlaments, nämlich als Gegensatz zu Begriffen wie Volkssouveränität oder Fürstensouveränität. 28 Zu den beiden Aspekten der Parlamentssouveränität, siehe Petersmann, Souveränität des britischen Parlaments,. S. 266 f.

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1. Kap.: Das nationale Recht

derogierenden Zugriff eines späteren Parlaments wirksam entzogen werden kann. 29 Daraus folgt des weiteren, daß jede inhaltliche Kontrolle parlamentarischer Gesetze durch die Gerichte oder jede andere Instanz entfällt. 30 Die Gerichte bleiben auf die bloße Anwendung der statutes beschränkt, niemand hat das Recht, parlamentarisches Recht als "ungültig" zu verwerfen (der negative Aspekt der Parlamentssouveränität). ,,Parlament" als das britische Gesetzgebungsorgan und das durch die Parlamentssouveränität berechtigte Rechtssubjekt steht hier übrigens als Kurzfassung für die sog. "Queen-(bzw. King-)in-Parliament" und meint das durch Gesetze und Verfassungskonventionen geregelte verfassungsgemäße Zusammenwirken beider Kammern des Parlaments, des House of Lords (Oberhaus) und des House of Commons (Unterhaus), mit dem Monarchen zur Inkraftsetzung von Gesetzen. 31 Innerhalb dieser Trias nimmt das Unterhaus allerdings den maßgeblichen Platz ein; ein königliches Veto gegen ein Gesetz ist seit dem Jahre 1708 nicht mehr eingelegt worden und sein Gebrauch mittlerweile durch Verfassungskonvention ausgeschlossen,32 während das House of Lords seit den beiden Parliament Acts von 1911 und 1949 bestenfalls über ein aufschiebendes Vetorecht verfügt. Seinen klassisch zu nennenden Ausdruck fand das Prinzip der Parlamentssouveränität in dem 1885 erstmals erschienenen Lehrbuch A. V. Diceys mit dem bescheidenen Titel: "Introduction to the Study of the Law of the Constitution" 33, das seitdem zehn weitere Auflagen sowie zahlreiche Neudrucke erfahren hat und eine außerordentlich breite, ja übermächtige Wirkung entfalten konnte. 34 Dicey 29 Aus den zahllosen Äußerungen in diesem Sinne, siehe nur Wade I Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 64 f.; Wade, The Basis of Legal Sovereignty, in: CU 13 (1955), S. 172 ff.; Loewenstein, Staatsrecht & Staatspraxis I, S. 65 f. - Merkwürdigerweise findet sich nur recht wenig case 1aw, das den so definierten Grundsatz der Parlamentssouveränität festlegt. Dies ist jedoch keineswegs ein Beleg für eine hier bestehende Unsicherheit, sondern zeigt im Gegenteil, daß dieser Rechtssatz so unumstritten ist, daß er vor Gericht kaum je ernsthaft angefochten wird. Die üblicherweise angeführten Fälle sind Lee v. The Bude and Torrington Junction Railway Company (1871) LR 6 CP 576; Edinburgh & Dalheith Railway Co. v. Wanchope [1842] 8 Cl. & Fin. 710, 8 ER 279; Ellen Street Estates Ltd. v. Minister 0/ Health [1934] 1 KB 590; Vauxhall Estates Ltd. v. Liverpool Corporation [1932] 1 KB 733. 30 In einem ganz engen Rahmen kann freilich auch im Vereinigten Königreich nicht auf eine Gesetzeskontrolle verzichtet werden, denn jedes rechtsanwendende Organ muß zunächst darüber entscheiden, was "Gesetz" (oder allgemeiner: ,,Recht") ist und nicht nur vorgibt, Gesetz (oder Recht) zu sein; siehe hierzu Raschauer, Gesetzeskontrolle im britischen Recht, in: Staat 13 (1974), S. 239 ff. (240 ff.). Siehe hierzu näher mit weiteren Belegen § 13, Ziffer 3 a) bb). 31 Wade I Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 64. Zur sehr aufwendigen Zeremonie beim Zusammenwirken dieser drei Teilorgane im Rahmen der Gesetzgebung, siehe Jennings, Law & Constitution, S. 137 f. 32 Wade I Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 20. 33 Siehe dort S. 39 ff. 34 Zur Wirkungsgeschichte Diceys, siehe Johnson, Dicey and His Influence on Public Law, in: PL 1985, S. 717 ff.

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war jedoch nur der Wegbereiter der Parlarnentssouveränität, keineswegs ihr Erfinder. Im 1. Buch seiner "Commentaries on the Laws of England", schrieb Sir William Blackstone schon 1765 3s über die Souveränität des Parlaments, welche er allerdings noch unter einen naturrechtlichen Vorbehalt stellte. Aus noch weiter zurückliegender Zeit zitiert Maitland 36 den englischen Staatsmann Sir Thomas Smith, der bereits im Jahre 1589 dem Parlament "absolute power" habe zusprechen wollen, so daß man meinen könnte, hier vielleicht den ersten Apologeten dieser Idee vor sich zu haben. 37 Wie die lebhaft zu diesem Thema geführte Debatte gezeigt hat, verbergen sich hinter der Parlaments souveränität allerdings zahlreiche schwierige Fragen, ja es scheint, daß dieses Prinzip für die britische staatstheoretische Literatur zu einem Brennspiegel fast sämtlicher rechtsphilosophischer und rechtstheoretischer Probleme hat werden können. Undeutlich sind der Geltungsgrund des Prinzips, seine historische Herleitung, seine exakte Reichweite, von einigen Autoren wird sogar seine logische Widerspruchsfreiheit in Zweifel gezogen. Gleichwohl hat seine glasklare und bestechende Einfachheit dem Grundsatz der Parlamentssouveränität eine Faszination zu vermitteln vermocht, die ihm in der englischen Verfassungslehre einen Einfluß ohnegleichen sichert. Da die Parlamentssouveränität vermöge des Verbots der Selbstbindung auch das britische Parlament und damit alle britischen Staatsorgane verpflichtet, scheinen hier in der Tat alle Voraussetzungen für formelles Verfassungsrecht vorzuliegen. Demgegenüber kann auch nicht der Hinweis verfangen, daß die Parlamentssouveränität in keinem Gesetz niedergelegt wurde; auch so verfügt sie über ausreichend scharfe Konturen, um in der politischen und rechtlichen Wirklichkeit mit vorhersehbaren Ergebnissen operabel gemacht werden zu können. 38 Anderer3S S. 156 f. - Blackstone (1723 -1789) wird immerhin von der Encyclopaedia Britannica (1962) als "the most famous of English jurists" bezeichnet. 36 Constitutional History of England, S. 298. 37 Widersprochen wurde dieser Ansicht von Gough, Fundamental Law, S. 7 f. Siehe ferner Allot (Anm. 25), S. 111 ff. 38 So etwa Jennings, Law & Constitution, S. 65. Freilich bietet ein formelles Verfassungsrecht, das nur aus einer einzigen Vorschrift besteht, ein etwas merkwürdiges Bild und wäre wohl einzig unter den verschiedenen Staatsordnungen der Welt. Naheliegender ist es daher vielleicht, für das Vereinigte Königreich überhaupt auf den Begriff des formellen Verfassungsrechts zu verzichten und im Sinne Kelsens die Parlamentssouveränität als Grundnorm zu verstehen (siehe dessen Reine Rechtslehre, S. 228). In der Tat scheint die britische Verfassung mit dem Prinzip der Parlamentssouveränität wie kaum eine andere dem von Kelsen entworfenen System zu entsprechen, das sich folgerichtig bei vielen britischen Autoren großer Beliebtheit erfreut und gerne zur Begründung der Parlamentssouveränität herangezogen wird; siehe etwa Thelen, Vereinbarkeit des EWGV, S. 147 ff.; Dias, Legal Politics: Norms Behind the Grundnorm, in: CU 26 (1968), S. 233 ff. (237); Winterton, British Grundnorm: Parliamentary Supremacy Re-Examined, in: LQR 92 (1976), S. 591 ff.; ders., Parliamentary Supremacy and the Judiciary, in: LQR 97 (1981), S. 265 ff. (271 f.). Der Gleichsetzung der Parlamentssouveränität mit der Kelsenschen Grundnorm scheint jedoch zu widersprechen (siehe Fazal, Entrenched Rights and Parliamentary Sovereignty, in: PL 1974, S. 294 ff. [304 f.D, daß Kelsen die

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seits ist damit noch einmal klar gemacht, daß die Grundrechte unter diesen Umständen tatsächlich im Vereinigten Königreich vom Verfassungsrecht39 keinerlei Schutz zu erwarten haben.

§ 2 Grundrechtsschutz durch Gesetzesrecht Unter der Herrschaft der Parlamentssouveränität mußte das in Gesetzesform gesetzte Recht des Parlaments (Parlament hier als das Subjekt der Parlamentssouveränität, d. h. als Queen-in-Parliament), das sog. statute law, eine gegenüber jeder anderen Rechtsquelle durchschlagende Kraft erhalten. Die Normierung eines Grundrechts durch Parlamentsgesetz, entweder kasuistisch oder auch in einem geschlossenen Katalog, schafft somit lückenlosen Schutz gegenüber jedem staatlichen Organ. Wegen der Unbeschränktheit der legislativen Kompetenz des Parlaments kann darüber hinaus eine Verpflichtung auch Privater zur Beobachtung solcher Grundrechte angeordnet werden, ohne daß sich diese ihrerseits demgegenüber auf irgendwelche vorrangigen Grundrechte berufen könnten. 40 Schließlich sei noch auf einen weiteren, eine Normierung von Grundrechten in Gesetzesform begünstigenden Umstand hingewiesen. Aus dem Verbot der Selbstbindung des Parlaments folgt, daß die intertemporale Konfliktregel "lex posterior derogat legi priori" strikt anzuwenden ist, damit sich die Parlamentssouveränität bei jedem legislatorischen Tätigwerden unbeschränkt und stets aufs neue zu aktualisieren vermag. Jedes Gesetz kann jedes andere ältere nicht nur Grundnorm fiktiv versteht (a. a. 0.), die Parlamentssouveränität dagegen ein sehr real wirkender Rechtssatz ist. Uberdies gibt es neben dem Parlament noch als weiteres rechtsschöpfendes Organ die Gerichte, deren diesbezügliche Kompetenz nicht auf die Parlamentssouveränität rückführbar ist, so daß es eigentlich zwei "Grundnormen" gibt, siehe Harris, When and Why Does the Grundnorm Change? in: CU 29 (1971), S. 103 ff. (109, Ill). Diesem Problem soll jedoch an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. 39 Im übrigen ist der Begriff "Verfassung" als technischer Ausdruck im englischen Sprachgebrauch nur selten anzutreffen; vgl. Maitland, Constitutional History, S.527, der behauptet, daß der Begriff sich in keinem Gesetz fmden lasse und in keiner Gerichtsentscheidung definiert werde, eine Feststellung, die wahrscheinlich heute ebenso zutrifft wie 1908, als Maitland dies schrieb. Das ist auch einleuchtend, denn da im Vereinigten Königreich - einmal abgesehen von der Parlamentssouveränität - nur ein materieller Verfassungsbegriff Sinn macht, dieser aber rechtlich nicht weiter instrumentalisierbar ist, sondern nur einer soziologisch-faktischen Kategorisierung dient, bleibt der Begriff der Verfassung im Vereinigten Königreich ohne irgendwelche rechtspraktischen Konsequenzen. 40 Da es Grundrechte nicht gibt, stellt sich im Vereinigten Königreich auch nicht das Problem der Drittwirkung, wofür es folglich dort nicht einmal einen Begriff gibt und stattdessen der deutsche Ausdruck Verwendung findet; siehe z. B. Kerridge, Incorporation of the European Convention on Human Rights into United Kingdom Domestic Law, in: Furmston et al., The Effect on English Law of Membership of the E. C. and of Ratiftcation of the European Convention, S. 247 ff. (257 f.); Jaconelli, Bill of Rights, S. 272 ff.; Kingston I Imrie (Anm. I), S. 762 ff.

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kraft ausdrücklicher Anordnung, d. h. also explizit abändern, vielmehr ist auch im Falle eines nur impliziten Widerspruchs dem neueren Gesetz der Vorrang einzuräumen. 41 Insofern ist die aus der Parlamentssouveränität gezogene Folgerung, daß es unter seiner Herrschaft ein irgendwie herausgehobenes Regelwerk, an dem das vom Parlament gesetzte Recht sich messen lassen muß, nicht geben könne, um eine Nuance zu präzisieren. Denn tatsächlich genießt jedes statute zunächst einmal einen solchen herausgehobenen Status, allerdings nur solange, wie es das neueste, das letzte Parlamentsgesetz ist, weil jede einmal eingeräumte Rechtsposition ständig zur Disposition des britischen Parlaments steht und deswegen stets auf dem Hintergrund aller zeitlich nachfolgenden Gesetze gelesen werden muß. Erläßt das Parlament daher ein grundrechtsschützendes statute, so muß es, anders als der deutsche Gesetzgeber, bei einem entsprechenden Vorhaben nie befürchten, daß die (privaten) Normadressaten, die durch die betreffende Grundrechtsgarantie in die Pflicht genommen werden, sich auf eine andere ihnen verbürgte grundrechtliehe Position berufen und damit einen Ausgleich etwa im Sinne der durch das Bundesverfassungsgericht entworfenen Formel von der "praktischen Konkordanz" erzwingen. 42 Andererseits steht all diesen Vorteilen legislativen Grundrechtsschutzes der Nachteil gegenüber, daß auf diesem Wege nur ein Schutz durch, nicht aber gegen den Gesetzgeber zu bewerkstelligen ist. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß der britische Gesetzgeber gegenüber allen anderen Rechtssubjekten einen durch nichts zu beschränkenden Grundrechtsschutz zu schaffen vermag, vor ihm selbst aber, gewissermaßen als Kehrseite dessen, gar keine Garantie Bestand haben kann. Auf diesem Hintergrund hat das Parlament eine ganze Anzahl von Gesetzen geschaffen, welche bestimmte Grundrechte definieren und, in den meisten Fällen allerdings jeweils sehr unterschiedliche, Verfahren zu ihrer Sicherung und Durchsetzung bereitstellen. Solche Gesetze, von denen manche schon sehr alt sind, haben stets nur einzelne, manchmal recht eng begrenzte Grundrechte zum Gegenstand und sind Antworten auf ganz konkret sich stellende politische Forderungen. Durchweg fehlt es somit an dem Versuch, mit der Positivierung eines Grundrechts eine grundsätzliche, über den Tag und Anlaß hinausweisende grundrechtliche Vorgabe zu liefern. Im Vordergrund steht das "nur" pragmatische Bemühen, konkrete, unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten für unbefriedigend gehaltene Gegebenheiten zu beseitigen. Die Gesamtheit jener gesetzlichen (und untergesetzlichen) Regeln darstellen zu wollen, die für den Grundrechtsschutz von Bedeutung sind, würde nichts weniger als ein umfängliches Lehrbuch des britischen Verwaltungsrechts erfor41 Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 71 f.; Phillips, Constitutional & Administrative Law, S. 54 ff. 42 In diesem Sinne Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 354.

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dem. 43 Daher werden im folgenden exemplarisch nur einige wenige Gesetze dargestellt, um daran die Methode des gesetzlichen Grundrechtsschutzes zu verdeutlichen. Ein besonders altehrwürdiges Beispiel für eine solche Gesetzgebung ist der

Habeas Corpus Act 44 von 1679. Durch die Möglichkeit, in einem bestimmten

Rahmen eine richterliche Überprüfung von Inhaftierungen herbeizuführen, sollte mit diesem Gesetz ein Schutz vor willkürlich angeordneter Haft geschaffen werden. 45 Heute allerdings spielt dieses Verfahren in der Praxis wegen zahlreicher spezialgesetzlicher Normierungen nur noch eine untergeordnete Rolle, was allerdings nichts an der Bedeutung geändert hat, die der Habeas Corpus-Akte im Bewußtsein des Briten zukommt als Ausdruck der von ihm genossenen Freiheit. 46 Andere Beispiele für ähnlich alte Grundrechtsverbürgungen finden sich in der Bill 0/ Rights von 1689 47 • Allerdings gilt auch für dieses Regelwerk, daß es reichlich die Patina der Geschichte angesetzt hat. Zwar bleibt es nach wie vor gültiges Recht, wurde aber in vielen Bereichen durch späteres Gesetzesrecht abgelöst und kann daher für den Rechtsalltag nurmehr eine gegen Null tendierende praktische Bedeutung in Anspruch nehmen. Dieser Umstand hindert jedoch nicht die Instrumentalisierung dieser und anderer ähnlich ehrwürdiger Gesetzeswerke als stark integrativ wirkende, mit erheblicher, auch emotionaler Kraft versehene Kristallisationspunkte britischen Staatsbewußtseins. Für die gegenwärtige Praxis ungleich wichtiger sind mehrere modeme statutes. 48 Einer etwas ausführlicheren Darstellung bedürfen in diesem Zusarnmen-

43 Zu den weiteren mit einem solchen Vorhaben verbundenen Schwierigkeiten, siehe unten § 12, Ziffer 2. Immerhin einen Überblick - wenn auch kursorisch - über viele der gesetzlichen Vorschriften zum Grundrechtsschutz vermitteln die beiden beim Ausschuß für Menschenrechte des IPbürgR eingereichten Berichte, UN Doc. CCPR/C/1/ Add. 17 und CCPR/C/32/ Add. 5; dazu näheres siehe § 8, Ziffer 2; für Gesamtdarstellungen des für die Grundrechte einschlägigen Rechts, siehe Trautwein, Grundrechtsproblematik im englischen Recht, S. 67-228; Kingston/ Imrie (Anm. 1), S. 735 ff., 825 ff. 44 31 Car. 2, c. 2, eine auszugsweise deutsche Übersetzung ist enthalten in MayerTasch, Verfassungen Europas, S. 236 ff. 45 Für eine umfassende Darstellung der Entstehungsgeschichte, Wirkungsweise und Praxis dieses Gesetzes, siehe Riedei, Habeas Corpus-Akte, in: EuGRZ 7 (1980), S. 192 ff.; de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 452 ff.; ein Beispiel eines auf Grund der Habeas Corpus-Akte erlassenen Gerichtsbefehls ist abgedruckt bei Dicey, Introduction to the Constitution, S. 214. 46 Riedel (Anm. 45), S. 195 f. 47 1 Will. & Mar. 2, c. 2; deutsche Übersetzung in Mayer-Tasch, Verfassungen Europas, S. 238 ff.; siehe etwa das dort verbürgte Recht, ohne die Gefahr der Verhaftung oder Verfolgung beim König Petitionen einreichen zu dürfen (Ziff. 5) usw. usf. - Die berühmte Magna Charta vom 15. Juni 1215 (eine auszugsweise deutsche Übersetzung fmdet sich in a. a. 0., S. 229 ff.) sei hier ausdrücklich nicht genannt, weil es bei der Magna Charta noch an der subjektiv-rechtlichen Ausgestaltung fehlt, mithin an einem wesentlichen Merkmal von Grundrechten. 48 Außer den verschiedenen, sogleich behandelten Race Relation Acts sei hier als weiteres typisches Beispiel verwiesen auf den Sex Discrimination Act (1975 c. 65), der

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hang vor allem die gesetzgeberischen Versuche zur Bewältigung der Rassenprobleme. Den Hintergrund zu diesen Bemühungen bilden die seit etwa zwei Jahrzehnten massiv auftretenden Schwierigkeiten bei der Integration der farbigen Bürger, Gastarbeiter und Immigranten. 49 Zunächst, nach dem Weltkrieg, in Zeiten des Arbeitskräftemangels, unter einem großzügigen Staatsangehörigkeitsgesetz so, welches die Bürger des Commonwealth innerhalb des Vereinigten Königreichs den britischen Bürgern ganz gleichstellte, willkommen, 51 wurden die immer zahlreicher ins Land strömenden Menschen aus den ,,nicht-weißen" Staaten des sog. New Commonwealth zunehmend unerwünscht und sahen sich zahlreichen offenen oder auch versteckten diskriminierenden Praktiken ausgesetzt. Die hiervon Betroffenen stammen vorwiegend aus dem karibischen Raum, aus Indien und Pakistan oder gehören auch zu denjenigen Asiaten, die im Zuge der dortigen Nationalisierungsmaßnahmen ihre ostafrikanische Heimat (Uganda etc.) verlassen mußten. Zahlenmäßig handelte es sich im Jahre 1966 um knapp 1 Million Menschen, seit dem Anfang der 80er Jahre hat sich die farbige Bevölkerungsgruppe zwischen 2,1 und 2,4 Millionen stabilisiert, wovon 1986 etwa 40 % bereits im Vereinigten Königreich geboren waren. 52 Ein erster Versuch, den ständigen Benachteiligungen, die diese Menschengrup-

pe im täglichen Leben zu erleiden hat, entgegenzuwirken, wurde mit dem Race

Relations Act von 1965 53 gemacht. In den nur 8 Artikeln dieses Gesetzes wurde Diskriminierung durch die Verweigerung des Zugangs zu bestimmten öffentlichen Einrichtungen ("places of public resort") wie Gaststätten, Sportplätzen oder Transportmitteln verboten, und zwar auch gerade dann, wenn es sich um private in manchem den Race Relation Acts ähnelt, und dem Data Protection Act von 1984 (dazu siehe Austin, The Data Protection Act, in: PL 1984, S. 618 ff.). 49 Für weitere Einzelheiten zu den Rassenproblemen im Vereinigten Königreich, siehe § 13, Ziffer 1. so Der British Nationality Act von 1948 (11 & 12 Geo. 6, c. 56) geht aus von dem Begriff des "British subject" (der Terminus ,,Nationality" wird dagegen nur im Titel des Gesetzes, nicht in dessen Vorschriften verwendet, siehe HLE 4, § 903 Anm. 1), der mit dem Begriff "Commonwealth Citizen" ausdrücklich gleichgesetzt wird. Diesen Status erwirbt jede Person, die entweder "citizen of the United Kingdom and Colonies" oder Bürger eines der in sec. 1 § 3 aufgezählten Länder des Commonwealth ist, wobei für die Festlegung, wer Bürger dieser Länder ist, auf deren Staatsangehörigkeitsrecht verwiesen wird. Für weitere Einzelheiten hierzu, siehe HLE 8, §§ 901 ff., HSE 1, S. 862 ff. SI Nach common law durfte nur Fremden ("aliens") der Zugang zum Vereinigten Königreich verwehrt werden (siehe Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 442 f.), während "British subjects" einen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt hatten. Durch die sehr weiten Voraussetzungen für die Erlangung dieses Status nach dem Gesetz von 1948 (siehe Anm. 50) kam daher auch ein entsprechend großer Personenkreis in den Genuß eines Einreiserechts. S2 Nuscheler, Rassistische und faschistische Auswüchse der britischen Krise, in: Politik und Zeitgeschichte B 44/79 (3.11.1979), S. 3 ff. (8); 6. Bericht, CERD/C/66/ Add. 13, S. 18; 7. Bericht, CERD/C/91/ Add. 24, § 10; 8. Bericht, CERD/C/118/ Add. 7, § 10; 10. Bericht, CERD/C/172/Add. 11, S. 9, § 19. 53 1965 c. 73.

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Einrichtungen handelte. Um die Einhaltung dieser Vorschriften zu sichern, wurden ein Race Relations Board und, ihm nachgeordnet, örtliche Vermittlungsausschüsse (conciliation committees) errichtet, welche Beschwerden entgegennahmen, um diese gegebenenfalls - sollte eine gütliche Einigung nicht möglich sein - an die Strafverfolgungsbehörden (Attorney General bzw. Lord Advocate) weiterzuleiten. Schließlich stellte das Gesetz die Aufstachelung zum Rassenhaß unter Strafe. Wegen der nur beschränkten Reichweite des Gesetzes erwies sich seine Revision sehr bald als notwendig. 54 Diese wurde mit dem (2.) Race Relations Act 55 von 1968 in Angriff genommen, der nunmehr fast sämtliche Bereiche einem zudem umfassenderen Diskriminierungsverbot unterwarf. Dem Race Relations Board wurde das Recht zuerkannt, auch ex officio, ohne Antrag eines Betroffenen, ein Verfahren einzuleiten und selbständig den Erlaß gerichtlicher Verfügungen (injunctions) zu erwirken. 56 Aber auch dieses Gesetz erwies sich den gestellten Anforderungen als nicht gewachsen, 57 so daß im Jahre 1976 ein weiterer (3.) Race Relations Act 58 verabschiedet wurde. Dieses neue, auch bereits von seinem Umfang her mit 80 Artikeln und 5 Anlagen deutlich ambitioniertere Gesetz erweiterte den Begriff der Diskriminierung um seine indirekten Varianten, gewährte auch den Opfern von diskriminierenden Maßnahmen selbst das Recht zur Anrufung der Gerichte und schuf eine neue Behörde, die Commission for Racial Equality, die den alten Race Relations Board ersetzte und mit ausgeweiteten Kompetenzen ausgestattet wurde. 59 Trotz all dieser mit zunehmender Intensität betriebenen Anstrengungen sieht sich das Parlament ernst zu nehmender Kritik ausgesetzt. 60 Dieselben Menschen nämlich, die durch die Race Relations Acts dem Schutz des Gesetzes unterstellt wurden, werden auf der anderen Seite seit 1962, als von der bis dahin geltenden Freizügigkeit zwischen Commonwealth und Vereinigtem Königreich Abschied genommen wurde, 61 durch die verschiedenen, die Einwanderung aus den farbigen Für weitere Einzelheiten zu dem Gesetz, siehe Delbrück, Rassenfrage, S. 279 ff. 1968 c. 71. 9. Bericht an den UN-Rassendiskriminierungsausschuß, UN Doc. CERD/C/l49/Add.7, §§ 14, 51. 56 Zu diesem Gesetz und seiner Bewertung, siehe Delbrück, Rassenfrage, S. 282 ff.; Macdonald, Race Relations, S. 5; L'immigration en Grande-Bretagne, in: notes et etudes, no. 3616 (1969), S. 38 ff. 57 Allerdings müssen dies auch die britischen Gerichte verantworten; dazu siehe Griffith, Politics of the Judiciary, S. 87 ff. mit einer Reihe von Beispielen für die durchweg sehr engherzige Auslegung, die die Vorschriften des Race Relations Act von hohen und höchsten Gerichten erfahren haben. 58 1976 c. 74. 59 Für eine detaillierte Behandlung des Gesetzes, siehe Macdonald, Race Relations. 60 So etwa durch Hewitt, Abuse of Power, S. 188 ff. 61 Durch den Commonwealth Immigrants Act 1962 (10 & 11 Eliz. 2, c. 21) wurde erstmals die im Hinblick auf Einreise und Aufenthalt geübte Gleichbehandlung aller "British subjects" (siehe Anrn. 50) aufgegeben; im weiteren hatten alle Personen, die nicht auch Bürger (citizens) des Vereinigten Königreichs oder aber im Vereinigten Königreich geboren waren, bei Einreise um ein Visum nachzusuchen. Durch den Com54 55

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Ländern des Commonwealth stark einschränkenden, Gesetze mannigfaltig benachteiligt. 62 Damit zeigen die Anstrengungen, auf kodifIkatorischem Wege zur Lösung der Rassenfrage beizutragen, exemplarisch Glanz und Elend gesetzgeberischen Handeins unter der Herrschaft der Parlamentssouveränität. Da der Anordnung der Drittwirkung für die aufgestellten Diskriminierungsverbote keine vorrangigen Grundrechtspositionen der hierdurch verpflichteten Privaten entgegengestellt werden konnten, hatte das Parlament die Möglichkeit, seinen Willen gegenüber den insoweit wehrlosen Bürgern ohne Einschränkung durchzusetzen und damit mehr zu erreichen, als ein durch eine höherrangige Verfassung gebundenes Legislativorgan hätte erzwingen können. Andererseits erinnert das Parlament, das sich doch scheinbar so energisch gegen jeden Rassismus engagiert hat und doch selbst glaubt, auf diskriminierende Einwanderungsgesetze nicht verzichten zu können, auf fatale Weise an jenen sprichwörtlichen Mann, dessen linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. 63 Hier zeigt sich deutlich, wie die vom britischen Parlament genossene rechtlich absolute Freiheit auch zu einer Bürde werden kann. Das Fehlen einer formellen Verfassung bedeutet, daß es nichts gibt, was die einzelnen parlamentarischen Entscheidungen miteinander programmatisch verklammert und damit in einem gewissen Umfang die Gleichgerichtetheit kodifIkatorischer Bemühungen zu erzwingen in der Lage wäre. monwealth Immigrants Act von 1968 wurde diese Regelung noch verschärft, weil nunmehr auch solche Personen der Visaregelung unterworfen wurden, die, obzwar Inhaber eines Passes des Vereinigten Königreichs, nicht wenigstens einen Eltem- oder Großelternteil nachweisen können, der seinerseits bereits ein Bürger des Vereinigten Königreichs war. Auf diesem Wege hoffte man, die Inder, die Ende der 60er Jahre aus ihrer ostafrikanisehen Heimat vertrieben wurden, aber bei Unabhängigkeit dieser Gebiete für die Staatsbürgerschaft des Vereinigten Königreichs optiert hatten, fernzuhalten; weitere Verschärfungen wurden mit dem British Nationality Act von 1981 eingeführt. Damit gibt es endgültig zwei Klassen von britischen Bürgern. Übrigens hat das Vereinigte Königreich auch aus diesem Grunde bislang von einer Ratifikation des Protokolls Nr. 4 zur Europäischen Menschenrechtskonvention abgesehen. Näheres zu der Entwicklung der höchst verwickelten Gesetzgebung auf diesem Gebiet fmdet man in Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 437 ff.; Hewitt, Abuse of Power, S. 190 ff. - Zu den älteren Fremdengesetzen, die allerdings keine britischen Staatsbürger betrafen, und ihren Auswirkungen, siehe Lester, Democracy and Individual Rights, S. 3 ff. 62 Die seit 1962 auf diesem Feld verabschiedete Gesetzgebung hat allseits heftige Kritik erfahren, siehe etwa Hewitt, Abuse of Power, S. 190 ff.; Lester, Democracy and Individual Rights, S. 4; 1976 meinte sogar der damalige Horne Secretary: "we have no modern citizenship law ... successive Governments have attempted to adapt archaie categories in a pragmatic and piecemeal way to the twists and tums of immigration policy ... The effect of this anomalous legal tangle on . .. human rights has been extremely hannful ..." (abgedruckt in: Human Rights Rev. 1 [1976], S. 189 ff. [193]). 63 Bezogen auf die Tätigkeit des Parlaments zur Rassenfrage sollte dieses Bild allerdings nicht überstrapaziert werden, denn die einerseits mit den Race Relations Acts betriebene anti-rassistische Integration und die andererseits - durch die Immigration Acts angestrebte diskriminierende Ausschließung farbiger Staatsbürger stellen durchaus zwei Elemente eines zumindestens als einheitlich empfundenen politischen Konzepts dar; siehe L'immigration en Grande-Bretagne (Anm. 56), S. 16, 24 und Hewitt, Abuse of Power, S. 191.

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Die Race Relations Acts sind aber noch in einer weiteren Hinsicht typisch für den britischen Grundrechtsschutz durch Gesetz. Hier wurden nicht einfach nur bestimmte materielle Rechte eingeräumt, um deren Überwachung dann den ordentlichen Gerichten zu überantworten. Vielmehr schuf der Gesetzgeber gleichzeitig Organe, die, mit bestimmten verfahrensrechtlichen Kompetenzen ausgestattet, die praktische Implementierung sicherstellen sollen. Auf eine solche auch institutionelle Absicherung, im Gegensatz zu einer nur materiell-rechtlichen Normierung, wird ganz allgemein im Vereinigten Königreich großer Wert gelegt. Dies zeigt sich etwa auch in dem Parliamentary Commissioner Act von 1967 64 , der die britische Variante des skandinavischen Ombudsman ins Leben rief. Auch bei diesem Vorhaben hatte der Gedanke Pate gestanden, daß eine praktisch wirkende Einrichtung zur Kontrolle der Verwaltung besser sei als für sich abstrakt bleibende materielle Verbotsvorschriften. Allerdings zeichnet sich der britische Ombudsman durch eine Reihe von Besonderheiten aus, die vor allem daher rühren, daß man keinesfalls ein zu den Kontrollfunktionen des Parlaments in Konkurrenz tretendes Organ schaffen wollte und daher - folgerichtig - den neuen Ombudsman lediglich als Ergänzung und zur Unterstützung parlamentarischer Bemühungen um Aufsicht über die Exekutive konzipierte. Außerdem bestanden Befürchtungen, daß der Ombudsman das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit schwächen könne. Dieser Ansatz schlägt sich insbesondere darin nieder, daß der Ombudsman in aller Regel weder von sich aus tätig werden kann noch unmittelbar auf Grund der Eingabe eines sich beschwert fühlenden Bürgers. Vielmehr hat der Parliamentary Commissioner (so die offizielle Bezeichnung, die durchaus Programm ist) abzuwarten, bis er von einem Mitglied des Parlaments, das seinerseits von einem Bürger auf einen Mißstand aufmerksam gemacht wurde, einen Auftrag zur weiteren Untersuchung erhält (sec. 6). Die damit sehr engen Kompetenzen des Ombudsman, die durch andere Regelungen auch noch weiter eingeschränkt wurden, sind denn auch wohl in erster Linie dafür verantwortlich zu machen, daß dessen Arbeit insgesamt eher zurückhaltend beurteilt wird. 6s Insofern zeigt sich erneut, wie die dem Parlament mittels seiner Souveränität zukommende überragende Stellung geeignet ist, einer freien Entfaltung auch des "nur" durch Gesetz begründeten Grundrechtsschutzes im Wege zu stehen. 66 64 1967 c. 13 - Ausführlich zu der höchst interessanten Entstehungsgeschichte dieses Gesetzes, siehe Stacey, British Ombudsman, S. 3 ff. Für nähere Einzelheiten, siehe Craig, Administrative Law, S. 239 ff.; Lloyd 0/ Hampstead, Parliamentary Commissioner, in: Current Legal Problems 21 (1968), S. 53 ff.; Kingston / lmrie (Anm. 1), S. 799 ff. 6S Siehe Stacey, British Ombudsman, S. 307 ff.; Smythe, Britain's Civil Liberties, in: Civil Liberties 1 (1973), S. 162 ff. (173 f.); Phillips, Constitutional & Administrative Law, S. 513; Riedel, Kontrolle der Verwaltung, S. 170 ff. Unbestreitbar ist aber wohl, daß der Parliamentary Commissioner die im übrigen sehr mageren personellen und materiellen Ressourcen des britischen Abgeordneten, die für eine effektive Kontrolle der Exekutive kaum ausreichen, ein wenig erweitern kann. Auch hieran sieht man, daß der Ombudsman weniger den Bürger als die Parlamentarier stärken sollte.

§ 3 Die verfassungs politischen Prämissen

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§ 3 Die verfassungspolitischen Prämissen der Parlaments-

souveränität als Mittel zu deren Begrenzung

Die vorangehenden Ausführungen belegen, warum das britische Parlament durchaus zu Recht als absoluter Diktator bezeichnet werden darf und die britische Verfassungsordnung als gewählte Diktatur. 67 Dem Parlament ist schlechterdings jede Art von Gesetz erlaubt ,,no matter how preposterous its content" . 68 Es könne zwar nicht einen Mann in eine Frau umwandeln; würde es solches gleichwohl anordnen, dann wären Männer aber vom Recht hinfort wie Frauen zu behandeln. 69 Und in der Tat hat das britische Parlament auch in diesem Jahrhundert einige bemerkenswerte Gesetze beschlossen: 70 so etwa, als es wegen des 2. Weltkrieges seine eigene Legislaturperiode von fünf auf fast zehn Jahre verlängerte und zwischen 1935 und 1945 folglich keine Parlamentswahlen stattfanden. Das Vereinigte Königreich ist indes unstreitig ein freies Land, dessen Bürger sogar ganz besonders stolz sind auf eine lange liberale Tradition. Wenn es auch so sein mag, wie von einer zunehmenden Zahl von Kritikern des britischen Systems behauptet, daß nämlich dieser Stolz durch die Verfassungswirklichkeit häufig nicht oder nicht mehr bestätigt wird, so steht doch außer Frage, daß das Parlament insgesamt nur zurückhaltend von den ihm gewährten außerordentlichen Befugnissen Gebrauch gemacht hat. Diese legislative Zurückhaltung, genauer gesagt: die feste Überzeugung, daß diese Zurückhaltung, begründet in dem Bewußtsein von dem überragenden Wert der individuellen Freiheit, als handlungsleitende Maxime von jedem britischen Parlament befolgt werde, war die entscheidende Prämisse der politischen (i. S. von metajuristischen) Rechtfertigung der Parlamentssouveränität etwa bei Dicey.71 Zwar war Dicey auch von der Vorstellung des Rechtsphilosophen Austin 72 beeinflußt 73, derzufolge aus logischen Erwä66 Überhaupt muß aber bezweifelt werden, ob das Parlament geeignet ist, als Ersatz für einen gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutz herzuhalten, siehe Lester, Democracy and Individual Rights, S. 16 f. 67 So ein berühmt gewordenes Wort von Lord Hailsham 0/ St. Marylebone, in: The Times vom 15.1. 1976, S. 4. 68 de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 70. 69 So Jennings, Law & Constitution, S. 170. 70 Weitere Beispiele fmdet man bei a. a. 0., S. 146 f. und Loewenstein, Staatsrecht & Staatspraxis I, S. 69 ff. 71 Siehe Introduction to the Constitution, S. 76- 85, wo Dicey die trotz aller rechtlichen Allmacht vorhandenen inhärenten Begrenzungen der Parlamentssouveränität mit der Idee der Volkssouveränität (dazu mehr in § 18, Ziffer 3 b) und § 19, Ziffer 1) verbindet. Insofern muß zwischen ,,rechtlicher" und "politischer" Souveränität unterschieden werden, nur erstere liegt beim Parlament, letztere aber beim Wahlvolk, oder wie Dike, The Case Against Parliamentary Sovereignty, in: PL 1976, S. 283 ff. (289) humorvoll feststellt: " ... it does sound strange ... to talk of a legally sovereign Parliament, which is elected by a politically sovereign electorate, and can be dissolved by a Monarch who is nominally sovereign." 72 Siehe dessen Lectures on Jurisprudence. Dazu siehe Streifthau, Souveränität des Parlaments, S. 43 ff.; Allot (Anm. 25), S. 109 ff.

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gungen in jeder Staatsordnung irgendein Organ souverän sein müsse. 74 Wegen des Prinzips der Volkssouveränität, das vor allem in der Schöpfung einer (geschriebenen) Verfassung seinen Ausdruck findet, ist diesem Umstand aber auch in Verfassungsordnungen mit Verfassungsurkunde Rechnung getragen, auch wenn dort - anders als im Vereinigten Königreich - dieses somit im gleichen Sinne wie das britische Parlament souveräne "Organ" (das Volk) unter der Herrschaft der einmal zustande gebrachten (formellen) Verfassung keinen Platz mehr hat. 75 Mehr als solche mehr rechtstheoretischen Überlegungen ist für die englische Lehre aber die Überzeugung ausschlaggebend, daß eine Grundrechte garantierende Verfassungsurkunde per se gar nichts bewirke und allemal allein der dahinter stehende Wille darüber befinde, wie frei ein Gemeinwesen sei. 76 Es war also wesentlich eine tiefe Skepsis gegenüber dem Eigenwert geschriebenen und nur materiellen Rechts als Mittel zum Schutz der Freiheit,77 die Dicey und mit ihm alle späteren Anhänger der Diceyschen Lehre zur Parlamentssouveränität18 dazu bewog, besser ganz auf eine bloß papierene Verfassung zu verzichten, da ohnehin in letzter Instanz der Wille von Menschen über das Maß der den Bürgern eines Landes zugeteilten Freiheit entscheide. In Konsequenz der Feststellung, daß der letzte Geltungsgrund der Freiheit im Metajuristischen zu verorten sei, eine Tatsache, die eine geschriebene Verfassung nur verdecke, wird also auch deren Schutz ins Metajuristische, ins Politische verlagert und damit der juristischen Souveränität des Parlaments die politische Souveränität des Volkes gegenübergestellt. 79 Als Folge dieser Sicht wird all jenen politischen Mitteln ein besonderer Schutz versichert, die geeignet sind, das Parlament und seine Mitglieder zu mahnen und dazu anzuhalten, die ihnen zugewiesene Macht im Sinne der Freiheit zu gebrauchen. 80 Mit diesem Ansatz geht es also nicht darum, Recht unmittelbar zur 73 Siehe Introduction of the Constitution, S. 71, wo Dicey selber zugesteht, daß seine Lehre "sounds like a mere application to the British constitution of Austin's theory of constitution ..." 74 Für eine kurze Rezeptions- und Ideengeschichte der Souveränitätslehre im Vereinigten Königreich, siehe Allot (Anm. 25), S. 102 ff. 75 Kriele, Staatslehre, S. 113; zu überlegen wäre, ob zu ,,Parlament" nicht "Volk", sondern besser "verfassunggebende Versammlung" in Parallele gesetzt werden müßte; an der gezogenen Schlußfolgerung würde dies indes nichts ändern. 76 Zum Beispiel Lester, Democracy and Individual Rights, S. 13. 77 Siehe wiederum Dicey, Introduction to the Law of the Constitution, S. 198 ff., bes. 199: "The Habeas Corpus Acts declare no principle and define no rights, but they are for practical purposes worth a hundred constitutional articles guaranteeing individual liberty." 78 Die neueren Lehren zur Parlamentssouveränität, die eine Fortentwicklung, in manchen Teilen vielleicht auch eine Überwindung der Diceyschen Lehren darstellen, insbesondere der sog. ,,new view", kommen in § 18, Ziffer 2 c) bb) ausführlich zu Wort. 79 Zu dieser für Dicey grundlegenden Unterscheidung, siehe Law of the Constitution, S.74. 80 Lester, Democracy and Individual Rights, S. 3; Finer, Comparative Govemment, S. 183 ff.

§ 3 Die verfassungspolitischen Prämissen

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Begrenzung von Macht einzusetzen; das Recht greift vielmehr erst auf einer späteren Stufe ein (oder einer früheren, das ist Ansichtssache) zum Schutz des politischen Prozesses, der seinerseits erst die nötige Machthemmung bewirken soll. Grundrechtsschutz erfolgt weniger als repressive Ergebniskontrolle, sondern vor allem durch präventive Ergebnisverhütung. Infolgedessen wird im Vereinigten Königreich einer freien Presse, ungehinderter Meinungsäußerung, dem Recht zur Gründung von und Beteiligung an Vereinen und Parteien, kurz: den sog. politischen Rechten, ein ganz besonderes Gewicht beigemessen, was sich deutlich zeigt an der demgegenüber weitaus geringeren Bedeutung, die anderen, gar sozialen Menschenrechten entgegengebracht wird. 81 Diese Abschichtung innerhalb der Gesamtheit dessen, was auch im Vereinigten Königreich mit dem Begriff der Menschenrechte (human rights) bezeichnet wird, bedeutet aber keineswegs, daß die nicht in diesem Sinne "politischen" Rechte in die britische Rechtsordnung keinen Eingang gefunden hätten: auch das Vereinigte Königreich hat im großen Stil Sozialgesetzgebung entworfen, um noch einmal den Bereich der sozialen Menschenrechte anzusprechen. Gleichwohl ist die Unterscheidung zwischen politischen und anderen Bürgerrechten auf dem Hintergrund der geschilderten Konzeption völlig einleuchtend. Die politischen Grundrechte empfangen damit eine doppelte Sinngebung: einmal wie alle Menschenrechte als grundlegende Freiheitsrechte, in denen sich Menschenwürde realisiert. Zum anderen - und hierin liegt ihre Besonderheit - wird ihnen, zu ihrem menschenrechtlichen Eigenwert hinzutretend, die Funktion zugewiesen, jene politischen Bedingungen zu schaffen, die die Artikulation, Positivierung und Implementierung aller menschenrechtlichen Forderungen erst ermöglichen. Freilich ist diese Betonung eines freiheitlichen politischen Prozesses als Werkzeug der Machtbegrenzung und damit als sozusagen mittelbarer Grundrechtsschutz nichts allein Britisches: den gleichen Gedanken hat auch das deutsche Bundesverfassungsgericht ausgedrückt, wenn es etwa die "für eine freiheitlichdemokratische Staatsordnung" "schlechthin konstituierend[e]" Bedeutung der Meinungsfreiheit herausgehoben hat. 82 Immerhin könnte man erwarten, daß die 81 Siehe etwa die bei dem Lehrbuch von de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 405 ff. unter dem Abschnitt "Civil Rights and Freedoms" behandelten Grundrechte: vergeblich sucht man hier etwa nach Ausführungen zum Eigentum oder überhaupt zur Wirtschaftsverfassung oder zum Gleichheitsgebot etc. 82 So etwa BVerfGE 7, 198 (208), und dem folgend Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 387. Allerdings läßt sich diese Kennzeichnung des BVerfG noch in einem anderen Sinne verstehen, womit auf eine weitere, eine dritte Bedeutung der Meinungsfreiheit im besonderen, und der politischen Grundrechte im allgemeinen hingewiesen wird, die sich allerdings praktisch mit der hier gemeinten weitgehend deckt: politische Grundrechte nämlich als notwendige Prämisse eines besonderen, und zwar des demokratischen Staatsorganisationsprinzips. Mit diesen beiden Bedeutungen nichts zu tun hat dagegen das ganz anders gelagerte Problem des sog. "Ur-Grundrechtes" (dazu etwa Kriele, Staatslehre, S. 151 ff.), also die Frage nach demjenigen Grundrecht, welches historisch (oder auch logisch) der Ursprung aller weiterer Grundrechte ist.

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britische Rechtsordnung gerade den politischen Menschenrechten und Rechtsinstituten einen ganz besonders effektiven Schutz gewährt, wovon die Briten selbst auch in der Regel überzeugt sind. Allerdings mag man auch hieran Zweifel haben, etwa wenn man die weit in die Meinungsfreiheit hineingreifenden Wirkungen des, allerdings auch von englischen Beobachtern kritisierten, Official Secrets Act verfolgt. 83 Eine ins Einzelne gehende Analyse des einschlägigen Rechtsbestandes zu den hiermit angeschnittenen Regelungsbereichen verbietet die begrenzte Zielsetzung dieser Arbeit. Auch ohne umfängliche Untersuchung läßt sich feststellen, daß als Ausfluß dieses Rechtsverständnisses einem Konzept wie dem der wehrhaften Demokratie von britischer Seite nur wenig Sympathie entgegengebracht wird. Das ist konsequent, denn mit diesem Konzept wird der Versuch gemacht, nach materiellinhaltlichen Kriterien den politischen Prozeß zu verkürzen, diesen also selektiv zu begrenzen. 84 Ein solches Vorgehen muß für denjenigen unannehmbar sein, der das möglichst freie Spiel der Politik als wesentlichen Schutz gegen ein rechtlich völlig ungebundenes Parlament instrumentalisieren will. Demzufolge gibt es keine gesetzliche Handhabe zum Verbot von Parteien oder Vereinen. Auch die schon erwähnte Strafandrohung gegenüber rassistischer Propaganda, welche ja auch eine bestimmte Meinung um ihres als Ergebnis einer "politischen" Wertung für unerwünscht befundenen Inhalts willen zu verhindern sucht, und damit eine deutliche Verwandtschaft zum Konzept der wehrhaften Demokratie zeigt, bleibt aus genau diesem Grunde umstritten. 85

83 Dazu siehe Hewitt,. Abuse of Power, S. 81 ff.; Lester, Democracy and Individual Rights, S. 5; Wilberforce, Need for a Constitution in the UK, in: Israel L. Rev. 14 (1979), S. 269 ff. (276 f.); sowie die heftige, ja leidenschaftliche Kritik bei Smythe, Britain's Civil Liberties, in: Civil Liberties 1 (1973), S. 162 ff. (S. 170 ff.). Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die in mehreren Instanzen abgehandelte Spycatcher-Afflire, siehe Attorney-General v. Guardian Newspapers Ltd. [1988] 2 WLR 805 für die Entscheidung des Court of Appeal, und in [1988] 3 WLR 776 für die Entscheidung des House of Lords; kurze Darstellungen des Verfahrensablaufs fmden sich bei Williams, To Catch a Spy, in: CU 47 (1988), S. 2 ff.; ders., Confidentiality and Secrecy, in: CU 47 (1988), S. 329 ff. und ders., Spycatcher, in: CU 48 (1989), S. 1 ff. U. a. ging es hier um die Frage, ob einer englischen Zeitung der Abdruck der Memoiren des ehemaligen Geheimdienstoffiziers Peter Wright gestattet werden dürfe. Dieses Ansirmen wurde zwar letztlich von allen Gerichten zurückgewiesen. Ratio decidendi dabei war aber nicht die Meinungsfreiheit der betroffenen Zeitung, sondern allein die Überlegung, daß ein Verbot nichts mehr ausrichten konnte angesichts der bereits erfolgten oder unmittelbar bevorstehenden Veröffentlichung des Buches in einer Reihe anderer Staaten. 84 Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 694. 85 Ein Beispiel hierfür ist die Ablehnung von Vorschriften, mit denen ,,rassistische" Propaganda oder andere Meinungsäußerungen verboten werden; siehe Wallington / McBride, Civil Liberties, S. 14.

§ 4 Common law und Grundrechte

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§ 4 Common law und Grundrechte In der Verfassungsordnung des Vereinigten Königreichs ist nicht nur das Parlament, sondern sind auch die Gerichte zur Rechtsschöpfung berufen: 86 Urteile geben nicht nur Auskunft über das Recht, sondern das, was sie feststellen, ist das Recht. 87 Dieser zunächst gewaltig anmutende Unterschied ist allerdings bei näherem Hinsehen von relativ geringer Bedeutung. Das läßt sich etwa daran ablesen, daß in der auch bei uns geführten Diskussion um die richtige dogmatische Einordnung der der Rechtsprechung offenbar zukommenden rechtsschöpfenden Funktion zum Teil auf ganz ähnliche Erklärungsmodelle zurückgegriffen wird, zum Teil sogar noch wesentlich extremere Positionen vertreten werden. 88 Einen bedeutsameren Unterschied zwischen etwa der deutschen und der britischen Rechtsordnung markiert die stare decisis-Doktrin, mittels derer die höchstgerichtlichen Präjudizien für die Untergerichte verbindlich gemacht werden. 89 Allerdings gilt auch hier, daß das, was im Vereinigten Königreich normativ vorgegeben ist, im Gerichtsalltag der Bundesrepublik aufgrund praktischer Sachzwänge fast ebenso herbeigeführt wird. Auch ein deutsches Gericht wird es sich sehr sorgfaItig überlegen, bevor es gegen eine gefestigte Rechtsprechung seines Obergerichts entscheidet. 90

Eigentlich verantwortlich für die besondere verfassungsrechtliche, vor allem auch verfassungspolitische Stellung des britischen Richters ist daher ein noch anderer Umstand, nämlich die Überweisung ganzer Sachgebiete zur alleinigen, eigenständigen Reglementierung durch die Gerichte. Die britischen Gerichte haben also einen eigenen RechtsetzungsauJtrag. Sie schlüpfen nicht bloß in die Rolle des Lückenfüllers bei legislatorischen Versäumnissen, um durch Ergänzung oder Gesetzesanalogie ein non liquet im Recht zu verhindern; sie werden nicht nur in der Not als Rechtsetzungsorgan tätig, sondern nehmen systematisch eine ihnen ganz bewußt übertragene Aufgabe wahr, als deren Ergebnis eben das common law 91 , das Richterrecht, entstehen konnte. In einem bestimmten Sinne 86 Aus der Parlamentssouveränität folgt also kein Rechtssetzungsmonopol des Parlaments, so richtig Thelen, Vereinbarkeit des EWGV mit der britischen Verfassung, S. 217, Anm. 84, der sich insofern zu Recht gegen Giesen, Auswirkungen des Beitritts Großbritanniens zur EWG, S. 32 ff., wendet. Mißverständlich insofern auch Kingston Ilmrie

(Anm. 1), S. 761. 87 Siehe Dike (Anm. 68), S. 290; Dicke (Anm. 15), S. 409.

88 Siehe hierzu Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, in: JZ 40 (1985), S. 149 ff. 89 Siehe die knappe Zusammenfassung bei Blumenwitz, Einführung, S. 24 ff. 90 Siehe Dicke (Anm. 15), S. 409 f.; Geisseler, Reformbestrebungen, S. 22. 91 Der Begriff common law kann in dreierlei Bedeutungen verwendet werden: erstens, als Bezeichnung des gesamten Rechts der angelsächsischen Völkerfamilie im Gegensatz zum Zivilrecht (civillaw) der kontinentaIeuropäischen Länder; zweitens, als dasjenige Recht, welches von den Richtern kraft eigenen Rechtsetzungsauftrages entwickelt wurde in Abgrenzung zum Parlamentsrecht, dem schon vorgestellten statute law; drittens, in einer ganz engen Bedeutung, die nur noch historisch von Interesse ist, im Unterschied

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ist es allerdings falsch, von einer Übertragung dieser Aufgabe zu sprechen, denn es ist keineswegs so, daß den Gerichten etwa per Gesetz und im Wege von Rechtsetzungsdelegation des Parlaments eine entsprechende Kompetenz zugewiesen wäre. 92 Vielmehr gilt der Rechtsetzungsauftrag der Gerichte nur so lange, wie das Parlament die betreffende Materie nicht seinerseits durch statute eigenen Regeln unterworfen und damit die Regelungskompetenz insoweit den Gerichten entzogen hat. Das Verhältnis dieser beiden Organe zueinander bestimmt sich also ähnlich wie das von Bund zu Land im Rahmen der sog. konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Art. 72 GG; allerdings gilt dies mit den beiden Unterschieden, daß erstens die britische Regelung sich auf alle Sachgebiete erstreckt und zweitens genauer von einer konkurrierenden Rechtsetzungsbefugnis die Rede sein müßte, denn Gesetze können auch im Vereinigten Königreich von Gerichten nicht erlassen werden. 93 Eine solche Konkurrenz zweier zur Rechtsetzung berufener Organe verlangt eine Kollisionsnorm, und im Falle des Vereinigten Königreichs folgt diese aus der Parlamentssouveränität, die den Vorrang des statute law begründet: bei Widerspruch wird common law von statute law verdrängt. Das common law hat zwar häufig den ersten, das statute law aber den besseren Zugriff. Dabei wird das common law als ein an sich lückenloses Rechtssystem begriffen, zu dem die statutes lediglich Ausnahmen aufstellen 94 - eine der Wirklichkeit kaum standhaltende Fiktion, wie gleich noch zu zeigen sein wird. Für den Grundrechtsschutz bedeutet dies, daß nur in solchen Bereichen, die vom statute law offen gelassen bleiben, der englische Richter durch das von ihm autonom gesetzte Recht dem Bürger etwa bei der Abwehr freiheitsverletzender Eingriffe seitens der Exekutive beistehen kann. Finden solche Eingriffe aber Ermächtigung und Grundlage in einem statute, so muß das common law zurückstehen und hat der Richter sich auf die exakte Anwendung des Gesetzes zu beschränken. Grundrechtsschutz gegen das Parlamentsrecht ist also auch durch common law nicht möglich. 95 zur sog. equity als das alte gemeine Recht. Im folgenden soll common law immer nur in dem zweiten Sinne verwandt werden. Case law bezeichnet demgegenüber die Gesamtheit des zu einer bestimmten Frage vorliegenden gerichtlichen Entscheidungsbestandes und zwar gleich, ob es um eine Auslegung von common und / oder statute law geht. 92 Thelen, Vereinbarkeit des EWGV mit der britischen Verfassung, S. 217. 93 Siehe allerdings zu den sog. Judges' Rules, Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 57 f., 482 f. 94 Siehe Lord Scarman, English Law - The New Dimension, S. 3 f. Dicey, Introduction to the Constitution, S. 197 stellte sich auf den Standpunkt, daß im übrigen auch die Gesetze nichts anderes seien als ,judgments pronounced by the High Court of Parliament" "passed to meet special grievances", auch die Gesetzgebung somit nur Rechtsprechung sei (dazu siehe unten § 20, Ziffer 2). Die damit geleugnete kategoriale Unterschiedlichkeit dieser beiden Rechtsetzungs- (oder Rechtserkennungs-)verfahren hat weitreichende Auswirkungen z. B. auf die Art und Weise, wie man im Vereinigten Königreich bei der Abfassung von Gesetzestexten vorgeht; dazu gleich und in § 20, Ziffer 2. 95 Siehe die Äußerung von Willes, J., in Lee v. Bude & Torrington Railway Co. (1871) LR 6 CP 577 auf S. 582: ,,Are we to act as regents over what is done by Parliament

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Spätestens hier muß allerdings aus praktischer Sicht einiges an dem eben skizzierten Modell über die verfassungsrechtliche Stellung von Richter und common law zurechtgerückt und damit der negative Befund in Hinsicht auf die Möglichkeiten des common law noch ganz erheblich verstärkt werden. Ähnlich wie übrigens im Falle der konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Art. 74 GG, wo der Bund die diesem Regime unterstellten Sachgebiete mittlerweile mit ganz wenigen Ausnahmen seinen Gesetzen unterstellt hat, hat auch der britische Gesetzgeber immer weitere Felder per Gesetz reglementiert und damit dem alten common law entzogen. 96 Häufig hat das Parlament dabei lediglich die zu einem bestimmten Problemkreis im common law entwickelten Regeln im wesentlichen unverändert übernommen und mit seinen Gesetzen nur systematisiert und zusammengefaßt. 97 Häufiger aber sah sich der Gesetzgeber auch veraniaßt, bis dahin bestehende Regeln des common law durch Gesetz abzuändern, besser: jene zu derogieren, denn in einem solchen Fall wird keineswegs das alte common law ausdrücklich aufgehoben: es wird einfach gegenstandslos. Ein wichtiger Grund für diese Entwicklung ist in einer merkwürdigen Schwäche des common law begründet. Seine Regeln können nämlich von den Gerichten selbst nur sehr begrenzt abgeändert werden und in den meisten Fällen nicht mit der bei der allgemeinen Akzeleration der modemen Lebensverhältnisse notwendigen Geschwindigkeit. Hier ist das Parlament, welches ohne die Fesseln einer Selbstbindung seinen Aufgaben nachkommen kann, gegenüber dem Richter, der auf die stare decisis-Doktrin verpflichtet ist, die die meisten Spruchkörper auch an ihre eigenen Entscheidungen bindet,98 natÜflicherweise überlegen. Im Laufe der britischen Rechtsentwicklung mußte das Parlament besonders in solchen Bereichen tätig werden, wo das common law bislang überhaupt nichts zu bieten hatte, seiner Natur wegen auch gar nichts bieten konnte. 99 Dies gilt etwa für das gesamte Sozialversicherungsrecht, dem im Vereinigten Königreich keine geringewith the consent of the Queen, Lords and Commons? I deny that any such authority exists." - Auch aus der Sicht der Parlamentssouveränität unproblematisch ist dagegen die richterliche Überprüfung von Verordnungsrecht und anderer in Vollzug eines parlamentarischen Rechtsetzungsauftrages veranlaßter Rechtsnormen; dazu s. § 12, Ziffer 2. 96 Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis 11, S. 29; dies ist ein allgemein beklagter Vorgang, siehe nur Lord Scarman, English Law - The New Dimension. 97 Das sind die sog. consolidating statutes; der hier angesprochene Vorgang entspricht übrigens ziemlich genau der Entwicklung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen in Deutschland und der späteren Kodifizierung dieses allein durch die Gerichte entwickelten Rechts im sog. AGB-Gesetz; man sieht, auch hier gibt es durchaus Parallelen zwischen deutschem und britischem Recht. Überhaupt werden die selbstverständlich vorhandenen Unterschiede zwischen Ländern des common law und des kontinentaleuropäischen Rechtskreises gelegentlich allzu dramatisch herausgestrichen, siehe etwa den als Hilfe für deutsche Studenten in den U.S.A. gedachten Artikel von Martinek, Der Rechtskulturschock, in: JuS 24 (1984), S. 92 ff. 98 Dazu mehr unten Anm. 102. 99 Hier insbesondere setzt die Kritik Lord Scarmans an, siehe dessen English Law - The New Dimension, S. 29 ff. Ähnlich schon MitchelI, Constitutional Law, S. 55.

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re Bedeutung zukommt als in anderen Wohlfahrtsstaaten. Insgesamt verbleibt dem common law damit gerade im Bereich des für den Grundrechtsschutz maßgeblichen Verhältnisses Staat-Bürger nur noch eine geringe Bedeutung. 100 Im übrigen muß man sich vor Augen halten, daß der britische Richter in solchen Bereichen, wo das Gesetzesrecht noch nicht eingegriffen hat, keineswegs nach eigenem GutdUnken neue Regeln erfinden kann. Vor allem wegen der stare decisis-Doktrin ist er gehalten, nach Präjudizien Ausschau zu halten, die auf den ihm vorgelegten Fall Anwendung finden könnten. Allein dann, wenn sich solche nicht auftreiben lassen, nimmt er eine genuin rechtsetzende Funktion wahr; auch hier allerdings wird sich das Gericht nach Möglichkeit an frühere, nicht unmittelbar einschlägige, aber doch parallele cases anlehnen, um diese behutsam fortzuentwickeln und für den zur Entscheidung anstehenden Fall anwendbar zu machen. 101 Aus der Bindung der Gerichte auch an ihre eigenen Präjudizien 102 ergeben sich für diesen Vorgang weitere Grenzen, welche ein allzu forsches Hinausgreifen über schon bestehendes Recht verhindern und damit die Möglichkeiten der Gerichte im Rahmen eines innovativen Grundrechtsschutzes weiter beschneiden.

Dieser Befund soll aber nicht die historische und d. h. eben auch im wesentlichen abgeschlossene Leistung des englischen Richters bei der Schöpfung und Erarbeitung neuer, die Menschemechte praktisch umsetzender Schutzrechte abwerten. Viele dieser Grundsätze haben ihren Eingang in zahllose Rechtsordnungen anderer Länder gefunden, wie zum Beispiel der Grundsatz, daß jedermann für unschuldig zu gelten habe, bis er durch ein ordentliches Gericht verurteilt 100 Man siehe etwa die verschiedenen Abschnitte im Besonderen Teil des klassischen Lehrbuchs von Plucknett, History of the Common Law, nämlich ,,Procedure", "Crime and Tort", ,,Real Property", "Contract", ,,Equity", "Succession", alles Gebiete des Zivilund Strafrechts. 101 Siehe die treffende Beschreibung dieses langsamen Fortentwicklungsprozesses aus einer hegelianischen Sicht bei Kriele, Gesetzprüfende Vernunft und Bedingungen rechtlichen Fortschritts, in: Staat 6 (1967), S. 45 ff. (53 ff.). 102 Das House of Lords hat in einer Erklärung vom 26.7.1966, in: [1966] 3 All ER 77 allerdings festgestellt, hinfort nicht mehr durch seine selbst gesetzten Präjudizien gebunden zu sein, sondern hat - nur sich selbst - ein Abweichen erlaubt, "when it appears right to do so". Eine Bindung auch an die eigenen Präjudizien und die damit einhergehende Unbeweglichkeit ist die logische Folge aus der Qualifizierung der in den Präjudizien enthaltenen Regeln als Recht, genauer: Gewohnheitsrecht, (siehe Bydlinski [Anm. 88], S. 150) und in der Tat ein entscheidender rechtspolitischer Einwand gegen eine solche Qualifizierung, siehe Tomusehat, Verfassungsgewohnheitsrecht? S. 151 ff. Siehe ferner Kriele (Anm. 101), S. 57, Anm. 24, der mit der Selbstbindung der Gerichte eine der Bedingungen für die Vernünftigkeit des Präjudizien-Systems in Gefahr sieht. Kriele will überhaupt eine Bindung nur im Sinne einer Argumentationslast gelten lassen: denjenigen, der sich gegen eine gefestigte Regel des common law stelle, treffe die Pflicht, die Unzulänglichkeit der alten und die Überlegenheit einer von ihm angebotenen neuen Regel nachzuweisen; dieses Konzept widerspricht deutlich der stare decisis-Dokrin in ihrer jetzt gültigen Fassung. Auch Plucknett, History of the Common Law, S. 350, beklagt, daß wegen stare decisis "the custom of the common law is in some danger of losing its old adaptability. If judicial decision is a source of law, it would not be inappropriate to describe it in this connection as a source phrijiante."

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ist, oder auch, daß niemand gezwungen werden darf, gegen sich selbst auszusagen. 103 Hier zeigt sich ganz deutlich die Führerschaft, welche der englischen Rechtskultur im Bereich praktizierten Menschenrechtsschutzes über Jahrhunderte zuzusprechen war. Im übrigen heißt dieses Ergebnis nicht, daß dem englischen Richter im Bereich des Grundrechtsschutzes nichts zu tun bliebe. Im Vorstehenden war vom common law vor allem als einer vom Gesetzesrecht zu trennenden, autonomen Rechtsquelle die Rede. Mit der in den letzten Jahrzehnten eingetretenen bedeutenden Zunahme des Gesetzesrechts hat der englische Richter in entsprechendem Maße die Aufgabe der Gesetzesauslegung übernommen. Insoweit haben britische Gerichte zwei Aufgaben: Rechtsetzung und Fortentwicklung im Bereich des common law einerseits, Durchsetzung und Anwendung von comrnon und statute law andererseits, wobei letzteres heute das weitaus wichtigere Tätigkeitsfeld geworden ist. Damit stellt sich für den britischen Richter das Problem des Grundrechtsschutzes neu und unter anderen Vorzeichen. Das Instrument, dessen sich die Gerichte bei der Verfolgung dieses Zieles bedienen, ist die sog. Interpretationsregel. Damit hat es folgende Bewandtnis: Ziel jeder Auslegung ist es "to ascertain the intention of the legislature as expressed in the statute" 104; das oberste Ziel hierbei ist die Befolgung höchstmöglicher Worttreue bei weitgehender Ausschaltung anderer, von außen an den Wortlaut herangetragener Faktoren. lOS So sind beispielsweise Vorgehensweisen nach der Art der sog. historischen Auslegung unzulässig. 106 Ebenso verwehrt ist es den Gerichten, einem Gesetz eine andere Ausdeutung zu geben, als dies die natürliche Bedeutung der dort verwendeten Worte nahelegt, etwa weil das Gericht meint, so der "eigentlichen" Absicht des Parlaments besser entsprechen zu können. 107 Als eiserner Grundsatz gilt: immer dann, wenn der Wortlaut aus sich heraus verständlich und eindeutig ist, hat jede weitere Auslegung zu unterbleiben. Gegenüber der grammatikalischen Interpretation sind alle anderen Verfahren somit subsidiär, also anders als nach deutscher Vorstellung nicht gleichberechtigt. Hieraus resultiert die seltsame Starrheit 108 beim Umgang mit dem Gesetz, welche Siehe Kingston / Imrie (Anm. 1), S. 721 ff. HLE 44, § 856; hierzu siehe ferner MarshalI, Constitutional Theory, S. 74 ff. lOS Dike (Anm. 71), S. 291 behauptet mit Verweis auf Dicey, Law ofthe Constitution, S. 413 f., diese den Gerichten zukommende Aufgabe der Interpretation relativiere die Parlamentssouveränität: " ... it is not really cynical to say that what judges obey is not statute but their interpretation of statute. " Hier wird indes übersehen, daß das Parlament die von den Gerichten vorgenommenen Auslegungen, erscheinen ihm diese nicht sinnvoll, keineswegs dulden muß, sondern das Parlament auch nachträglich noch solche Auslegungen durch Gesetz korrigieren kann (siehe dazu gleich den Burmah Oil Case, Anm. 119); so auch Dicke (Anm. 15), S. 410. Unter der Herrschaft der Parlamentssouveränität ist auch die Macht der Gerichte nur eine vom Parlament geduldete. 106 HLE 44, § 901 mit Angaben zum einschlägigen case law. 107 HLE 44, § 864. 108 Der amerikanische Richter des Supreme Court, Mr. Justice Franlifurter, sprach auch einmal von dem ,,hölzernen Ansatz" (wooden approach) der englischen Juristen (zitiert bei MarshalI, Constitutional Theory, S. 74). 103

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gespeist wird durch das Bemühen um äußerste Präzision bei der Bestimmung des Gesetzeswortlauts, 109 so daß das Studium englischer Entscheidungen dem deutschen Juristen deutlich vor Augen führt, wie oft deutsche Rechtsprechung - gerade im Bereich des öffentlichen Rechts --, verglichen mit britischen Usancen, im Grunde sehr allgemein argumentiert. Die oftmals bestechende Brillianz des englischen Juristen entfaltet sich denn auch gerade bei der für ihn grundlegenden Aufgabe denkbar wortgetreuester Auslegung; gelegentlich scheint dabei allerdings der Schritt zur Sophisterei nur noch sehr klein zu sein. Was aber macht ein Gericht, wenn der Wortlaut mehrdeutig ist? Um diese Kalamität abzuwenden, gibt es eine Reihe von Interpretationsregeln, von denen die im Zusammenhang dieser Arbeit interessierenden sämtlich auf einer Vermutung aufbauen, derzufolge dem Parlament bis zum Beweis des Gegenteils, also bis zur Verabschiedung eines insoweit eindeutigen gesetzlichen Wortlauts, unterstellt wird, eine bestimmte Absicht mit dem betreffenden Gesetz nicht zu verfolgen. Zwei Beispiele mögen hier genügen, um die Funktionsweise solcher Interpretationsregeln zu demonstrieren. In der Entscheidung des House of Lords in Morris v. Beardmore llO ging es um sec. 8 (2) des Road Traffic Act von 1972, welcher vorsieht: If an accident occurs owing to the presence of a motor vehicIe on a road ... , a

constable in uniform may require any person who he has reasonable cause to believe was driving ... the vehicIe ... to provide a specimen of breath for a breath test ...

Die Besonderheit des Falles bestand nun darin, daß Beardmore, nachdem er als Führer eines Fahrzeugs einen Verkehrsunfall mitverursacht hatte, nicht gleich am Tatort dem Atemtest unterworfen wurde, sondern sich zwischenzeitlich in seine Wohnung begeben hatte und erst dort von mehreren Polizeibeamten zur Abgabe einer Atemluftprobe aufgefordert wurde, und zwar obwohl Beardmore die Beamten mehrfach zum Verlassen seiner Wohnung aufgefordert hatte. Die Frage war folglich, ob sec. 8 (2) die Polizei zum Betreten einer Wohnung gegen die Wünsche des Inhabers und damit zu einer Handlung berechtigt, die ihrerseits durch common law verboten ist und für die die Beamten auch keine aus einem anderen Gesetz herzuleitende Rechtfertigung vorzuweisen hatten. Das House of 109 Hierzu Zander, Bill of Rights, S. 58 f. Aus diesem Grunde enthalten Gesetze in der Regel sehr umfängliche Definitionen der jeweils verwendeten Begriffe. Dabei mutet es oft seltsam an, daß Ausdrücke, die kaum einer mehrdeutigen Auslegung zugänglich erscheinen oder aber offensichtlich auch über den ganz engen Wortsinn hinaus verstanden werden wollen, gleichwohl umständlich umschrieben werden; für Beispiele, siehe etwa den Interpretation Act von 1978 (1978 c. 30), wo etwa in sec. 6 bestimmt wird, daß der Gebrauch eines Wortes im Singular auch den Plural umfaßt und (wie ausdrücklich hinzugefügt wird) umgekehrt oder in sec. 9: immer dann, wenn in einem Gesetz auf eine Tageszeit Bezug genommen wird, sei Greenwich-Zeit gemeint (was denn wohl sonst, fragt man sich da). 110 [1980] 2 All ER 753.

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Lords konnte dem Wortlaut des Gesetzes kein eindeutiges Ergebnis entnehmen und sah sich daher veraniaßt, ein Recht zum Eindringen in fremde Wohnungen abzulehnen, weil dem Parlament grundsätzlich unterstellt werden müsse, daß es auch Polizisten nicht zu Handlungen ermächtigen wolle, die durch common law verboten sind; 111 andernfalls müsse das Parlament seinen diesbezüglichen Willen eindeutig kund tun. In Finnigan v. Sandijord/Clowser v. Chaplin 112 hatte sich das House of Lords ein weiteres Mal mit dem Road Traffic Act auseinanderzusetzen, diesmal mit dessen sec. 8 (5): If a person required under subsection (1) or (2) above to provide a specimen of

breath for a breath test fails to do so and the constable has reasonable cause to suspect hirn of having alcohol in his body, the constable may arrest hirn without warrant ...

Auch hier wieder ist dem Wortlaut nicht zu entnehmen, ob die Ermächtigung zur Vornahme einer Festnahme das Recht zum Betreten fremder Wohnungen miteinschließt; die zitierte Vorschrift läßt an sich beide Deutungen zu. Auch hier entschied das Gericht für eine restriktive Auslegung, denn where Parliament considers it appropriate that apower of arrest without warrant should be reinforced by apower to enter private premises, it is in the habit of saying so specifically, and that the omission of any such power is deliberate. 113 Gleichzeitig wurde dieser Feststellung ausdrücklich allgemeine Geltung zugesprochen 114, so daß dieses Ergebnis mit der Autorität des höchsten Gerichts des Landes als feste Regel des common law zu gelten hat. Es ließen sich eine ganze Reihe ähnlicher Entscheidungen nennen, die alle von dem Bemühen getragen sind, gesetzliche Eingriffe in als besonders grundlegend empfundene Rechtspositionen durch eine restriktive Auslegung zu begrenzen, und zwar insbesondere dort, wo solche Rechtspositionen ursprünglich durch das alte common law geschützt waren, aber dem überlegenen Geltungsanspruch des Parlamentsrechts haben weichen müssen. 115 In entsprechender Weise wird zum Beispiel vermutet, daß das Parlament keine Enteignung ohne Entschädigung anordnet 116 usw. 117 Insoweit nehmen hier bestimmte, meistenteils auch durch das alte common law geschützte Rechtspositionen des Bürgers den Platz freilich nur [1980] 2 All ER 753, auf S. 757 (Lord Diplock), S. 763 (Lord Scarman). [1981] 2 All ER 267. 113 [1981] 2 All ER 267, auf S. 270 (Lord Keith 0/ Kinkei); siehe ferner die kurze Stellungnahme von Lord Scarman a. a. 0., S. 271. 114 [1981] 2 All ER 267, auf S. 271 (Lord Keith 0/ Kinkel). 115 Siehe hierzu das in HLE 8, § 829 und § 991 sowie in HLE 44, § 905 f. zitierte case law. Ferner Trautwein, Grundrechtsproblematik im englischen Recht, S. 51 f. 116 Dazu siehe etwaLimb & Co (Stevedores) v. British Transport Docks Board [1971] 1 All ER 828, auf S. 837 f. (Baker J.). 117 Weiteres zu den Interpretationsregeln erfährt man bei Daintith (Anm. 26), S. 299 ff. 111

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materiellen Verfassungsrechts 118 ein, das zudem in seiner Gesamtheit unter einem umfassenden Gesetzesvorbehalt steht. Daß allerdings mit Interpretationsregeln der geschilderten Art letztendlich nur wenig mehr erreicht werden kann, als das Parlament zur Ojfenlegung seiner gegebenenfalls freiheitsgefährdenden Absichten zu zwingen, zeigt Burmah Oi! Company, Ltd. v. Lord Advocate. 119 Einige Erdölgesellschaften hatten auf Befehl der britischen Behörden Raffinerien und andere Anlagen in der Umgebung von Ragoon/Burma im Jahre 1942 selbst zerstören müssen, um zu verhindern, daß diese kriegs wirtschaftlich wichtigen Installationen intakt in die Hände der siegreich vorrückenden Japaner fielen. Für diese Maßnahme gab es unter den obwaltenden Umständen keinerlei gesetzliche Ermächtigung; sie konnte allein auf die durch common law definierte allgemeine exekutive königliche Prärogative gestützt werden. Die Rechtmäßigkeit der Anordnung selbst stand somit außer Zweifel; gestritten wurde allein, ob die Krone den Ölgesellschaften eine Entschädigung schuldete, was das Gericht nach einer ausführlichen Begründung bejahte. Das Parlament reagierte prompt mit dem War Damage Act, 1965 120 , welcher - nur aus zwei kurzen Paragraphen bestehend - das vom House of Lords aus dem common law hergeleitete Entschädigungsrecht expressis verbis aufhob, und zwar - für einen deutschen Juristen kaum glaublich - rückwirkend: Kühl heißt es in sec. 1 (2), daß im Falle bereits eingeleiteter Verfahren auf die Gewährung einer Entschädigung bei Antrag einer Partei (application of any party) das Verfahren einzustellen sei. 121 Besser hätte man die Ohnmacht der britischen Richter gegenüber dem Parlament nicht bloßlegen können. 122

118 HLE 44, § 905 spricht von "statutes affecting constitutional rights"; MitchelI, Constitutional Law, S. 9 meint sogar, über die Interpretationsregeln werden bestimmte Gesetze jedenfalls gegenüber impliziter Derogation praktisch änderungsfest gemacht. Insoweit sind die Interpretationsregeln auch ein Ausdruck der ,,rule of law", des Rechtsstaatsprinzips, das anders als bei uns gegenüber dem Parlament wegen der Parlamentssouveränität nicht zum Zuge kommen kann, insoweit auch nur sehr begrenzt über Rechtsqualität verfügt. Siehe hierzu MitchelI, Constitutional Law, S. 50-62, bes. 56; Jennings, Law & Constitution, S. 42 ff., bes. 57 und 60, siehe ferner 305 ff. Für einen Vergleich von Rechtsstaatsprinzip und ,,rule of law", siehe MacCormick, Der Rechtsstaat und die rule of law, in: JZ 39 (1984), S. 65 ff. 119 [1964] 2 All ER 348 (HL). Siehe die Urteilsanmerkung von Frowein, in: ZaöRV 25 (1968), S. 735 ff. 120 1965 c. 18. 121 Allerdings war das Gesetz, besonders die Rückwirkungsanordnung, die zunächst vom House of Lords sogar abgelehnt worden war, außerordentlich umstritten und gab Anlaß zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Häusern des Parlaments, siehe hierzu Frowein (Anm. 119), S. 742 ff. mit vielen Belegen. 122 Daintith (Anm. 26), S. 300 meint denn auch: ,,At the present time, the influence of presumptions is small".

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§ 5 Wesen und Werden des britischen

Grundrechtsverständnisses

1. Die geschriebene Verfassung und die englische Revolution Von Klaus Stern stammt die Feststellung, daß erst die Verknüpfung von Verfassungs- und Grundrechtsidee das "staatstheoretisch wahrhaft Neue zu Ausgang des 18. Iahrhunderts"l23 ausmacht und damit die moderne Verfassungsentwicklung einleitete. Verfassung meint hier die bewußte und rationale Gestaltung der Totalität staatlichen Seins im Gegensatz zu der mäandernden, unsystematischen und meistenteils nur jeweils sehr partielle Bereiche ergreifenden Entwicklung mittelalterlicher oder ffÜhneuzeitlicher Staatlichkeit. l24 Verfassung in diesem Sinne bedeutet zwangsläufig geschriebene, genauer: in einem einzigen Dokument zusammengefaßte Verfassung. Gleichzeitig ist damit notwendig der Weg zur formellen Verfassung gewiesen, weil nur so die Integrität der Verfassung gegenüber der gewöhnlichen, nicht materiell-verfassungsrechtliche Fragen betreffenden Rechtsetzungstätigkeit geschützt werden kann. Beides sucht man im Vereinigten Königreich bekanntlich vergeblich. Diese Entwicklung ist eigentlich erstaunlich. Zum einen haben fast alle ehemaligen Kolonien des Vereinigten Königreichs sich eine geschriebene Verfassung zugelegt, in den allermeisten Fällen sogar auf Veranlassung des Vereinigten Königreichs, wo die entsprechenden Texte häufig auch ausgearbeitet wurden. Mit dem ludicial Committee of the Privy Council, einem höchst merkwürdigen Organ, steht sogar ein von britischen Richtern besetztes Gericht bereit, das auch heute noch für eine Reihe kleinerer Länder des Commonwealth die Aufgabe eines Verfassungsgerichtshofs wahrnimmt. 125 Innerhalb des angelsächsischen Rechts123 Stern, Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modemen Verfassung, in: FS Eichenberger, S. 197 ff. (205). 124 Stern (Anm. 123), S. 198 ff.; ähnlich lellinek, Allg. Staatslehre, S. 521; Heller, Staatslehre, S. 270 f. Verfassung in diesem Sinne ist somit zu unterscheiden vom materiellen Verfassungsbegriff. 125 Dieses Gericht war im Mittelalter entstanden als ein besonderes Privileg der normannisch besiedelten Gebiete der englischen Krone auf dem Festland; als den Eroberern und Beherrschern des 1066 in Besitz genommenen angelsächsischen Englands sollten jene Gebiete einen besonderen, unmittelbaren Zugang zum König haben, folglich wurde ein eigenes den ,,Engländern" versperrtes Gericht eingesetzt. Nach dem Verlust aller Besitzungen in Frankreich als Folge des Hundertjährigen Krieges reduzierte sich die Zuständigkeit des Judicial Committee auf die Channel Islands als dem einzig verbleibenden normannischen Territorium. In einem jener für die britische Rechtsgeschichte typischen Winkelzüge, mittels derer eigentlich längst überlebten Institutionen in völlig gewandelten Verhältnissen überraschend neues Leben eingehaucht wird, unterstellte man die im Zuge des englischen Ausgreifens nach Übersee neu der Krone hinzueroberten Gebiete dem Judicial Committee mit der Folge, daß dieses zwischenzeitlich völlig bedeutungslos gewordene Gericht auf dem Höhepunkt des britischen Weltreichs seine Jurisdiktion über ein Viertel der Menschheit ausdehnen konnte. Es war daher vielleicht in der Tat "the most powerful court of the modem world" (Morris, Pax Britannica Bd.

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kreises hat dessen Mutterland daher deutlich eine Ausnahmestellung inne. 126 Im übrigen ist der Wunsch der allermeisten ehemaligen Kolonien, sich im Gegensatz zu der Praxis des Vereinigten Königreichs eine geschriebene Verfassung zuzulegen, keineswegs Ausdruck eines Strebens nach Ablehnung des britischen Rechtssystems im allgemeinen, an dem im Gegenteil gerne festgehalten wird, was ja gerade dessen Weltgeltung begründet hat. Zum anderen finden sich in der englischen Rechts- und Verfassungsgeschichte selbst Ansätze zu einer geschriebenen Verfassung, und zwar ein rundes Jahrhundert früher als anderswo, in jener Epoche, die man das heroische Zeitalter der englischen Verfassung nennen darf, welche etwa den Zeitraum vom Beginn der Stuart-Herrschaft 1603 bis zum erfolgreichen Abschluß der Glorreichen Revolution mit der Thronbesteigung von Wilhelm III. und Maria im Jahre 1689 umfaßt. Bereits während des englischen Bürgerkrieges, erst recht während des Cromwellschen Commonwealth nach der Hinrichtung König Karls I. wurde die Idee eines "fundamentallaw" in England intensiv diskutiert 127 und fand ihren Niederschlag in dem 1647 vorgelegten Entwurf eines Agreement 0/ the People 128 und in dem 2, S. 194), der in einzigartiger Weise der englischen Welt den Stempel britischer Zivilisation aufzudrücken suchte: "as the members of the Committee looked out from their table across their quarter of the world, it must sometimes have seemed that the dream of a universal civilization was half-way to fullfilment" (Morris, Pax Britannica Bd. 2, S. 195). Zur Rechtsprechung des Privy Council insbesondere im Zusammenhang mit formellverfassungsrechtlichen GrundreChtskatalogen in den Verfassungen einzelner Commonwealth-Länder, siehe Beth, The Judicial Committee of the Privy Council and the Development of Judicial Review, in: AJCL 24 (1976), S. 22 ff.; ders., The Judicial Committee as Constitutional Court for the British Empire 1833 -1971, in: Georgia J. Intern'l L. 7 (1977), S. 47 ff.; de Smith, The Judicial Committee as a Constitutional Court, in: PL 1984, S. 557 ff.; F awcett, The Judicial Committee and Human Rights, in: RDH 2 (1969), S. 177 ff.; lennings, The Statute of Westminster and Appeals to the Privy Council, in: LQR 52 (1936), S. 173 ff. 126 So auch Riedel, Bill of Rights Fallacy? in: MitchelI, S. 38 ff. (44), der diese Gegebenheiten zu Recht gegen die gelegentlich geäußerte These anführt, eine geschriebene Verfassung, bes. eine Bill of Rights, sei "unbritisch". Siehe weiteres hierzu in § 20, Ziffer 1, bes. Anm. 2. 127 Grundlegend hierzu Gough, Fundamental Law, passim. 128 Dieser von der siegreichen Parlamentsarmee angenommene Verfassungsentwurf war Ausdruck der radikalen Ideen der sog. Levellers und ihres Führers, lohn Lilburne, und sah u. a. ein allgemeines (!) (Männer-)Wahlrecht sowie die Abschaffung von Oberhaus und Monarchie vor. Er basierte auf einer dem Gedanken der Volkssouveränität zum mindestens sehr nahen Konzeption und enthielt eine Reihe sog. ,,native rights" (modem gesagt: Bürger - im Gegensatz zu Menschenrechten) und andere Regelungen, die vom Parlament nicht abgeändert werden durften; siehe hierzu Keir, Constitutional History, S. 220 f.; Lavell, Constitutional History, S.38, 342 f.; Gough, Fundamental Law, S. 112 ff., S. 123 ff. Das Agreement ofthe People war jedoch keineswegs einzigartig in seiner Zeit; vielmehr wurden damals in der hitzigen, geistig höchst fruchtbaren Endphase des englischen Bürgerkrieges eine ganze Reihe weiterer Verfassungsvorschläge diskutiert, die allesamt ähnliche "formell-verfassungsrechtliche" Begrenzungen vorsahen; siehe Gough, ebenda. Zur politiSChen Philosophie der Levellers, siehe Levy, Freedom, Property and the Levellers, in: Western Political Q. 3 (1983), S. 116 ff.

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für sieben Jahre geltenden Instrument ofGovernment 129 von 1653, die beide den Versuch machten, in genau der Manier der amerikanischen Verfassungsväter von 1776 oder der französischen Revolutionäre von 1789 in einem Wurf die Grundlagen des Staates zu definieren und zu begründen. 130 Diese Bemühungen wiederum fußten auf einer noch älteren Auseinandersetzung zwischen common law-Richtern und den Ansprüchen der Stuart-Könige auf Anerkennung einer über dem Gesetz stehenden Souveränität des Monarchen,131 die in einer Reihe allesamt berühmter Rechtsentscheidungen gipfelte. Vielleicht am deutlichsten wurde der Anspruch eines über dem gewöhnlichen Recht stehenden "fundamental law" vom damaligen Chief Justice Sir Edward Coke in dem College of Physician' s Case 132, besser bekannt als Dr. Bonham' s Case. In diesem Verfahren aus dem Jahre 1610 hatte ein Arzt, eben jener Dr. Bonham, sich gegen seine Inhaftierung durch das Royal College of Physicians gewendet, dem durch Gesetz die Befugnis zugewiesen worden war, gegen entweder unfähige oder nicht von dem College zugelassene Ärzte mit Geldstrafen vorzugehen und diese gegebenenfalls in Haft nehmen zu lassen. Die Pointe dieses ansonsten eher banalen Falles um Eifersüchteleien zwischen der University of Cambridge (von der Dr. Bonham seinen Grad erhalten hatte) und dem Royal College war eine in dem Gesetz vorgesehene Regelung, derzufolge das College die Hälfte der von diesem selbst festgesetzten Geldstrafen einbehalten durfte. Nach Ansicht von Chief Justice Coke machte dieser Umstand das College bei seiner Entscheidung in der Angelegenheit des Dr. Bonham zum Richter in eigener Sache, was einer Regel des common law widerspricht (,,Demo iudex in causa sua debet esse"). Coke sah sich daher veraniaßt, zugunsten des Klägers zu urteilen; zu dem von ihm insoweit festgestellten Widerspruch von common und statute law führte er aus: And it appears in our books that in many cases the common law will controul acts of parliament and sometimes adjudge them to be utterly void: for when an act of parliament is against common right or reason, or repugnant or impossible to be performed, the common law will controul it and adjudge such act to be void. 133 129 Dazu Keir, Constitutional History, S. 225 f.; LovelI, Constitutional History, S. 345 ff. Diese Verfassung enthielt eine Bill of Rights, war in mancherlei Hinsicht allerdings ein Rückschritt gegenüber dem Agreement ofthe People, was sich am Deutlichsten an den Voraussetzungen für die Ausübung des aktiven Wahlrechts zeigte, nämlich Besitz im Wert von mindestens f, 200. 130 So auch die Würdigung dieser Verfassungen bei Stern, Grundideen europäischamerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 11. 131 Zu der Auseinandersetzung zwischen common law-Juristen und dem königlichen Souveränitätsdogma, entwickelt und vertreten vor allem von Thomas Hobbes, siehe Kriele, Herausforderung des Verfassungsstaates. 132 8 Co. 114 a = 2 Brownl. & Golds. 255 (C. P. 1610) = 123 ER 928; der Fall wird in seinen wesentlichen Teilen wiedergegeben bei Plucknett, Bonham's Case and Judicial Review, in: HLR 40 (1926), S. 30 ff. (32 ff.) und Thorne, Dr. Bonham's Case, in: LQR 54 (1938), S. 543 ff. (543 ff.). 133 8 Co. 114 a auf S. 118 a = 2 Brownl. & Gold S. 255, auf S. 265 = 123 ER 928 auf S. 933 f.

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Mit diesen Worten wird 200 Jahre vor der epochalen Entscheidung des Supreme Court der Vereinigten Staaten in Marbury v. Madison, die gemeinhin als die Geburtsstunde praktizierter Verfassungsgerichtsbarkeit gilt, eine ebensolche Kompetenz in Anspruch genommen, nämlich das Recht, ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze inhaltlich (und nicht nur formell) einem höherrangigen Nonnenbestand zu unterwerfen. Anders als sein amerikanischer Kollege, Chief Justice MarshalI, dem mit der amerikanischen Verfassung ein klar umrissener Normenbestand zur Verfügung stand, hatte Coke in dieser Hinsicht offensichtlich Schwierigkeiten und mußte insofern auf die sehr allgemeinen Kategorien "common right" und "reason" verweisen, von dem extrem subjektivistisch klingenden Prädikat ,,repugnant", das überhaupt nicht recht einzuordnen ist, ganz zu schweigen. Sorgfältige Untersuchungen haben gezeigt, daß die von Coke angezogenen Präjudizien seinen Schluß nicht tragen,134 was nicht hinderte, daß der gleiche Gedanke noch in einer Reihe weiterer Fälle ausgesprochen wurde 135. Gleichwohl war es diesen hoffnungsvollen Ansätzen zur Entwicklung eines modemen Verfassungsbegriffs beschieden, in der weiteren Folge der Ereignisse im wesentlichen folgenlos zu versickern: der Commonwealth mit seiner republikanischen Verfassung blieb Episode, und Dr. Bonham' s Case wurde nicht zum englischen Marbury v. Madison. 136 Das ist um so überraschender, als sich in den 40er Jahren des 17. Jahrhunderts aufgrund des Streits zwischen Karl I. und dem Parlament ein revolutionäres Konfliktpotential aufgebaut hatte, das nicht weniger heftig als bei den französischen und amerikanischen Revolutionären des ausgehenden 18. Jahrhunderts nach grundsätzlichen Lösungen drängte und sich in einem erbittert geführten Bürgerkrieg auch (zunächst) in diesem Sinne durchzusetzen wußte. 137 Lagen hier nicht die jeweils gleichen historischen Konstellatio134 Siehe Plucknett (Anm. 132), S. 35 - 48; Allot (Anm. 25), S. 82 f.; etwas anders dagegen Dike (Anm. 7), S. 284 ff. 135 Zu dem weiteren case law, siehe Plucknett (Anm. 132), S. 49 ff. Sehr viel zurückhaltender wird Dr. Bonham' s Case von Thorne (Anm. 132), 548 ff. beurteilt, der das Diktum des Chief Justice mehr als die Anwendung strikter, aber durchaus gängiger Interpretationsregeln verstanden wissen will, nicht als den Versuch "fundamental law" gegenüber Gesetzesrecht aufzurichten. Thornes Ansicht zufolge verhält es sich vielmehr so, daß "later doctrines of natural law have been reflected backward upon Coke's statement, giving it a content it did not in fact have." (a. a. 0., S. 545); in diesem Sinne auch Gough, Fundamental Law, S. 32 ff. Diese Ansicht widerspricht jedoch dem eindeutigen Wortlaut der Passage. Zudem geht es hier nicht darum, Coke für die naturrechtliche Tradition zu reklamieren, wie Thorne meint. Das müßte schon daran scheitern, daß Coke - wie alle common law-Juristen - sich durchaus auf positives Recht, eben das common law, berief (siehe Kriele, Herausforderung des Verfassungsstaates, S. 23); die von Coke angesprochene Frage betraf vielmehr die Rangordnung zwischen zwei gleichermaßen positiv-rechtlich bestehenden Rechtssatzssystemen (common und statute law); mit Naturrecht hat das nichts zu tun. Hierzu auch Allot (Anm. 25), S. 84, 94 f. 136 Allot (Anm. 24), S. 85 behauptet, Dr. Bonham' s Case sei nicht in einem einzigen Fall als Präjudiz für die richterliche Verwerfung eines Gesetzes herangezogen worden; dazu siehe auch Dike (Anm. 71), S. 286 f. 137 Gerade die Levellers nehmen mit ihrer politischen Vorstellungswelt in vielem die Ideen der französischen Jakobiner vorweg, siehe oben Anm. 119.

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nen vor, die demnach die gleichen Ergebnisse hätten zeitigen müssen? Die eingängigste, aber wohl auch aussageloseste Erklärung für den insoweit abweichenden Verlauf der englischen Revolution liefern die bekannten völkerpsychologischen Überlegungen: die Engländer seien eben letztendlich zu pragmatisch, so wird argumentiert, um eine Revolution bis zur letzten Konsequenz zu treiben, wenn sich ein vernünftiger Mittelweg biete, der einen Ausgleich zwischen allen beteiligten Interessen ermögliche. Darmstaedter 138 hat zu solchen Betrachtungen zum englischen Nationalcharakter eine scharfsinnig vorgetragene Begründung über die ganz unterschiedlichen Prämissen der deutschen und englischen Staatsphilosophie geliefert. In Deutschland gehe man "von der logischen Apriorität der Allgemeinbegriffe gegenüber der Tatsachenerfahrung" 139 aus. Der Engländer lehne solches Ansinnen ab "und läßt nur die Erfahrung als Erkenntnisgrundlage gelten". 140 Folglich gelange man in England zu einem Verständnis allein von der Realdialektik im Gegensatz zu der dort nicht nachvollziehbaren Hege/schen Begriffsdialektik, 141 woraus sich notwendig ein Politikverständnis herleite, welches auf Ausgleich aller Interessen ziele,142 während nach deutscher Vorstellung dieser Ausgleich gewissermaßen ins Begriffliche vorverlagert werde und die politische Wirklichkeit in krassen, nicht überbTÜckbaren Gegensätzen auftreten lasse. Weil man in England aber stets von dem Erkenntniswert des empirisch Vorgefundenen, im Rahmen der Staatsphilosophie also von der in der jeweiligen historischen Gestalt dem Betrachter entgegentretenden konkreten Staatlichkeit seinen Ausgangspunkt nehme, seien nach englischem Verständnis "Allgemeinbegriffe nur Produkte dieser Erfahrung ... , nicht aber deren Voraussetzung". 143 Damit scheint nun in der Tat der ausgebliebene Durchbruch der modemen Verfassungsidee im England des 17. Jahrhunderts ausreichend erklärt. Denn zu deren praktischer Implementierung bedurfte es eben jener dort fehlenden Bereitschaft, einen abstrakt entworfenen Plan über die ideale Beschaffenheit des Staates als Voraussetzung und Grundlage der nach dieser Maßgabe gestalteten Staatswirklichkeit anzuerkennen. Auch im übrigen haben die Ausführungen Darmstaedters viel für sich vorzuweisen. So wird niemand an dem mit einer gelegentlich ermüdenden Gleichförmigkeit von allen britischen Denkern vertretenen Empirismus vorbeisehen können. Gegen Darmstaedter ließe sich einwenden, daß er selbst mit seiner Theorie deutlich jene von ihm mit den Deutschen identifizierte Neigung zur Begriffsdialektik zur Schau stellt und vielleicht allzu trennscharf 138 Der englische Staatsgedanke und die deutsche Theorie, in: FS Laun, S. 537 ff. 139 a. a. 0., S. 539. 140 a. a. 0., S. 542. Darmstaedter will sogar bezweifeln, daß die logische Apriorität der Allgemeinbegriffe "dem Engländer ... überhaupt in ihrem letzten Sinne zugänglich ist" (a. a. 0., S. 540). 141 a. a. 0., S. 544. 142 a. a. 0., S. 545 ff. 143 a. a. 0., S. 543.

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und ohne vennittelnde Übergänge deutsche und englische Staatsphilosophie einander gegenüber stellen zu können glaubt. Auf einer etwas ernsthafteren Ebene ist auf den Widerspruch hinzuweisen, daß die der "nüchterne[n] englische[n] Dialektik" bescheinigte Abneigung gegenüber "dem Eingreifen der Revolution" 144 in gleicher Weise für die amerikanischen Revolutionäre von 1776 hätte zutreffen müssen, denn die Verfasser der Declaration of Independence von Philadelphia wurzelten in denselben ideengeschichtlichen Traditionen und bezogen von den in England ein Jahrhundert zuvor entwickelten Ansätzen entscheidende Impulse. 145 Entscheidend ist aber, daß die Glorreiche Revolution von 1688 als Endpunkt der Epoche der Verfassungskämpfe in jedem Sinne dieses Wortes eine ,,Revolution" war, nur eben mit einem anderen Ergebnis als 1776 und 1789, die These von der nur evolutionären englischen Rechtsgeschichte insoweit also nicht greift. 146 Als Wilhelm Ill. von Oranien und seine Frau Maria (Il.) am 18.2.1689 die Krone Englands entgegennahmen, waren drei Monate vergangen, seitdem Jakob Il. am 22.12.1688 dem Land fluchtartig den Rücken gekehrt hatte. 147 In dieser Zeit war England ohne König, das nahtlose Legitimität vennittelnde Prinzip des ,,Le roi est mort, vive le roi" somit unterbrochen. Das Parlament aber, aus dessen Händen die beiden neuen Monarchen ihre Herrschaft empfingen, war nach des alten Königs Flucht einberufen worden von einer völlig außerhalb jeder Verfassung stehenden Versammlung einiger Lords, aller Personen, die während der Regierung Karls Il., des Vorgängers Jakobs Il., Parlamentsmitglieder gewesen waren, und einer Reihe weiterer Persönlichkeiten. 148 All dies belegt den Bruch jeder verfassungsrechtlichen Legitimität. 149 Auch im übrigen hatte sich in den vergangenen 40 Jahren höchst Irreguläres getan: die Engländer schlugen ihrem König den Kopf ab, ein Ereignis, welches damals in ganz Europa ganz wie 1793 allgemeines Entsetzen hervorrief; 150 danach gab es für über 20 Jahre überhaupt a. a. 0., S. 546. Zu den geistigen Verbindungen zwischen beiden Ereignissen, siehe die vorzügliche Arbeit von Reid, The Concept of Arbitrary, the Supremacy of Parliament and the Coming of the Arnerican Revolution, in: Hofstra L. Rev. 5 (1977), S. 459 ff. 146 So vor allem auch Riedel (Anm. 127), S. 45. 147 Plucknett, Constitutional History, S. 502. 148 Zu diesen Ereignissen, siehe Plucknett, Constitutional History, S. 497 ff. Die Crux der Lage bestand darin, daß das letzte Parlament 1685 vom König (völlig legal) aufgelöst worden war, die Einberufung eines neuen Parlaments, damals (wie heute), des "writ of the King", einer königlichen Anweisung also bedurfte, ein König aber fehlte. 149 In diesem Sinne auch Maitland, Constitutional History , S. 283; LovelI, Constitutional History, S. 394 f.; Allot (Arun. 25), S. 97 f. und ganz klar Ridley (Anm. 9), S. 344 und 347. 150 Auch im übrigen gibt es mancherlei Parallelen zwischen der Großen Französischen Revolution und den Auseinandersetzungen in England: hier wie dort wurde ein König enthauptet; hier wie dort wurde das eigentliche Anliegen, die Herbeiführung einer der Volksvertretung gegenüber verantwortlichen Regierung, mit dem weiteren Fortgang der Ereignisse immer mehr aus den Augen verloren, um schließlich in der Herrschaft eines einzigen Mannes zu münden; hier wie dort wurde nach 21 Jahren die Restauration mit der Wiedereinsetzung der alten Herrscherhäuser eingeleitet usw. 144

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keinen Monarchen, und die Restauration von 1660 mit der Rückkehr Jakobs 1/. vollzog sich ebenfalls unter Bruch des Verfassungsrechts. 151 All dem wird man füglich die Einordnung als Revolution kaum verwehren können. Warum diese gleichwohl nicht mit einer geschriebenen Verfassung endete, sondern an deren Stelle in den Sieg des Prinzips der Parlaments souveränität mündete, bedarf daher noch einer anderen Erklärung, die sich auch rasch auftut, wenn man das englische 1642 (den Beginn des englischen Bürgerkriegs) mit dem amerikanischen 1776 und dem französischen 1789 vergleicht. Die englischen Revolutionäre operierten von innerhalb der englischen Verjassungsordnung. Zwar war das Parlament von 1642 keineswegs gleichzusetzen mit den Roundheads, welche gegen den König den Bürgerkrieg ausfochten, aber in seiner Mehrheit eben doch. Die amerikanischen Kolonisten dagegen waren ganz ohne Platz in der Verfassungsordnung des Großbritanniens von 1776, was schon durch ihren alles Weitere auslösenden Schlachtruf ,,no taxation without representation" belegt wird. Und auch die französischen Revolutionäre mußten sich einen solchen Platz erst erstreiten, denn die Etats generaux, die ihnen als Plattform dienten, waren seit 1614 nicht mehr einberufen worden. Die Amerikaner und Franzosen traten somit von außerhalb gegen die bestehende Staatsordnung an. In England, wo Parlament gegen König stand, richtete sich die Kritik nur gegen die Ansprüche des Königs. Im absolutistischen Frankreich Ludwigs XVI. war dagegen der König identisch mit dem Staat ("l'etat, c'est moi"), Kritik am König bedeutete somit zwangsläufig Kritik am Staat in seiner Gesamtheit. Die amerikanischen Kolonisten sahen sich zwar anderen Gegebenheiten gegenüber, weil sie sich mit dem verfassungsrechtlichen Ergebnis jener Revolution von 1688/89 auseinanderzusetzen hatten, also einer Verfassungsordnung, in der sich König und Parlament die Macht teilten. Ohne eigene Vertretung im Parlament kamen sie aber zu einer Erkenntnis, die in England nur ganz vereinzelt zum Abschluß des Bürgerkriegs aufgetaucht war,152 daß nämlich ein willkürlich regierendes Parlament nicht weniger gefährlich für die Bürgerfreiheiten sein kann als ein autokratischer Fürst l53 und daß die Ereignisse von 1688/89, um des Königs Willkür zu enden, dem Parlament mit der ihm zugewiesenen Souveränität das Mittel zu einer ebensolchen Willkür in die Hand gegeben hatten. Die Glorious Revolution hatte die Gefahr, welche von unbegrenzter Macht ausgeht, nicht beseitigt, sondern nur verschoben. 154 Die Tradition dieses Kampfes gegen einen sich freiheitsfeindlich gebärdenden König, die die Einwanderer als Teil ihres politisch-geistigen Rüstzeuges in ihre neue Heimat mitgebracht hatten,155 verband sich mit den neuen 151 Auch hier schon wurde ein Parlament ohne "the King's writ" gewählt, siehe hierzu Maitland, Constitutional History, S. 282 f. 152 Dazu siehe Reid (Anm. 145), S. 473 ff. bes. 477. 153 Siehe Fitzgerald, An English Bill of Rights? in: Georgetown L. J. 70 (1982), S. 1229 ff. (1238); Reid (Anm. 145), S. 467 ff. und 486 ff. 154 a. a. 0., S. 494.

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1. Kap.: Das nationale Recht

Einsichten. Das Ergebnis erlaubte es erstmals, den Staat als solchen, nicht nur Teile desselben, zu hinterfragen und von Grund auf neu zu entwerfen. Die englische Revolution unterschied sich somit von ihren amerikanischen und französischen Nachfolgern darin, daß sie ihre Beobachtungen und Erfahrungen über die Gefahren unkontrollierter Macht auf ein Staatsorgan, mithin nur auf einen Teil des Staates bezog, letzteren dagegen allgemeiner und damit auch radikaler eine Auflehnung gegen den Staat schlechthin zugrunde lag. Diese verschiedenen Stoßrichtungen mußten notwendig auch verschiedene Ergebnisse zeitigen. Denn nur derjenige, der die Staatswirklichkeit von Grund auf in Frage stellt, hat die geistige Voraussetzung geschaffen, um einen ganz neuen Staat, d. h. also eine Verfassung im eingangs definierten Sinne, zu entwerfen. Bei einer Auseinandersetzung nur innerhalb der bestehenden Staatsorganisation wird es dagegen genügen, das als Ergebnis dessen durchgesetzte Revirement im Verhältnis der Kompetenzen der Staatsorgane zueinander in einem verglichen mit der Gesamtverfassung (im materiellen Sinne) nur partiellen Regelwerk festzuhalten. Und hiermit ist in der Tat Inhalt und Bedeutung der Bill 0/ Rights von 1689 genau umschrieben: dieses Verfassungsdokument, welches das Ergebnis des englischen Verfassungskampfes verkörpert, beschränkte in wichtigen Bereichen die Prärogativrechte des Königs und markiert gleichzeitig den Beginn praktizierter Souveränität des ,,King-in-Parliament".156 Die englische Revolution und das sie tragende Parlament konnten auch ohne geschriebene Verfassung siegen. Die zaghaften Versuche, dem common law oder auch nur Teilen desselben einen Vorrang vor dem statute law einzuräumen, konnten das mit der Bill 0/ Rights gefundene Arrangement nur stören. Solange der König gegenüber dem Parlament als Gesetzgebungsorgan das Übergewicht hatte, konnte das von den Richtern entwickelte und somit jenseits des königlichen Einflusses stehende common law als geeignetes Mittel erscheinen, die Prätentionen des Königs zu begrenzen. Nachdem das Parlament seinen Sieg erstritten hatte und als entscheidende Instanz der Gesetzgebung feststand, hätte das Festhalten an dem Vorrang des common law die Macht des Parlaments, nicht die des Königs beschnitten. 157 Noch ein weiteres trat hinzu. Die Prärogative des Königs, mit denen die Stuarts ihre Ansprüche rechtlich stützten, ruhte ebenfalls auf common law. Sofern man diesem einen Vorrang gegenüber dem Gesetzesrecht zugewiesen hätte, wäre im gleichen Zuge dem Parlament das Recht zur Definierung, vor allem aber zur Begrenzung der königlichen Prärogative genommen worden, weil jedes Parla155 a. a. 0., S. 472 ff.; Fitzgerald (Anm. 153), S. 1237; dabei spielten die die verschiedenen ,,Pflanzungen" (plantations) begründenden Charters eine große Rolle, die eine Aufzählung der den Besiedlern der Neuen Welt gewährten Rechte und Freiheiten enthielten, um diese unter gesicherten Rechtsverhältnissen zur Auswanderung zu veranlassen; dazu a. a. 0., S. 1238. 156 Für weitere Einzelheiten hierzu, siehe Plucknett, Constitutional History, S. 502 ff. 157 a. a. 0., S. 52 f.; Winterton (Anm. 38 - LQR 92 -), S. 594 f.

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mentsgesetz, welches solches angestrebt hätte, dann an dem insoweit abweichenden common law hätte scheitern müssen. ISS Nach dem Sieg des Parlaments zog man es daher vor, den in Dr. Bonham' s Case entworfenen Ansatz zu vergessen 159, um seine Vollendung der neuen amerikanischen Republik zu überlassen. 160 Auch hieran wird klar, wie die Errichtung formellen Verfassungsrechts scheitern mußte an der eben nur begrenzten Zielsetzung der englischen Revolutionäre.

2. Grundrechte nur als Residualrechte? Welchen Status haben Grundrechte in einer Verfassungsordnung ohne formelles Verfassungsrecht? Wenn man mit Stern die entscheidende Wirkung der Grundrechte darin sieht, den an sich "wertneutralen Konstitutionalismus" zu einem "Grundrechtskonstitutionalismus" zu wandeln,161 von dem her der Staat seine Legitimation empfängt, so kann in Hinsicht auf das Vereinigte Königreich nur festgestellt werden, daß Grundrechten dort eine solche Funktion nicht zukommen kann, eben weil es überhaupt an jedem Konstitutionalismus fehlt. 162 Damit kann die eingangs gestellte Frage allerdings nicht abgetan werden. Denn Grundrechte erschöpfen sich nicht in der von Stern umrissenen Funktion. Normtechnisch lassen sie sich, will man sie nicht in den Stand verfassungskräftiger Rechte erheben, auf zwei weiteren Ebenen festmachen: die eine über-, die andere unterhalb des formellen Verfassungsrechts. Zur ersten dieser beiden Möglichkeiten ist zuerst einmal festzuhalten, daß mit dem dort angedeuteten Rangverhältnis keine rechtliche Normenhierarchie gemeint ist. Sicherlich ist über der (formellen) Verfassung stehendes Recht jedenfalls rechtskonstruktiv denkbar, in einem Rechtssystem, welches nicht einmal Verfassungsrecht kennt, aber wohl kaum sinnvoll. Grundrechte in diesem Sinne meint vielmehr Grundrechte als vor- und überstaatliches Recht, als nichtpositiviertes Recht. Insoweit verbietet es sich hier, von ,,Recht" in des Wortes engerer Bedeutung zu sprechen, es sei denn, die Verfassungsordnung hielte einen Weg 158 Dies führte zu einer merkwürdigen Vertauschung der Fronten: nicht mehr das Parlament, sondern der König berief sich auf ein "fundamentallaw", siehe Reid (Anm. 145), S. 477 ff. u. a. mit höchst aufschlußreichen Schilderungen der von beiden Seiten während des Prozesses gegen KarlI. eingenommenen Rechtsauffassungen. Im gleichen Sinne wurden zugunsten der königlichen Prärogative auch in Godden v. Haies (2 Show. 475 = 89 ER 1050) argumentiert, einem Fall, der am Vorabend der Glorious Revolution im Jahre 1686 beträchtlich zur Erhöhung der politischen Spannungen beitrug. 159 Dazu siehe Plucknett (Anm. 132), S. 53 ff. 160 Zu dem Einfluß auf die Eritwicklung der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit, siehe Plucknett (Anm. 132), S. 61 ff. und Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S. 28 ff. 161 Siehe dessen Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, S.21.

162 Zu der Frage, inwieweit das Vereinigte Königreich unter diesen Umständen als "Verfassungsstaat" zu verstehen ist, siehe § 15.

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1. Kap.: Das nationale Recht

bereit, um auch diese Normen in das positive Recht zu rezipieren. Derartige Fenster in solche, dem Juristen eigentlich verschlossenen, Bereiche enthält das Grundgesetz etwa in Art. 1 Abs. 2 mit dem Verweis auf "unveräußerliche Menschenrechte" und in Art. 20 Abs. 3, welcher eine Bindung der Rechtsprechung an "Gesetz und Recht" vorsieht. Außerhalb dieses Ansatzes zur Instrumentalisierung außerrechtlicher Normen ist in der Verfassungsgeschichte vor allem mit der Declaration des droits de l' homme et du citoyen vom 26.8. 1789 noch ein anderer Weg beschritten worden. Die dort niedergelegten Rechte des Menschen wurden zwar dem Staat als höherrangige Handlungsanleitung vorangestellt, auf eine juristische Operationalisierung dieser Höherrangigkeit wurde aber verzichtet. Die Declaration war deswegen bis in die V. Republik nicht einklagbar; 163 insbesondere blieb eine an ihr als Maßstab ausgerichtete materiell-inhaltliche Normenkontrolle ausgeschlossen. 164 Gerade diese Art naturrechtlich inspirierter Menschenrechtserklärung hat bei den Briten seit Edmund Burkes, Reflexions on the Revolution in France, nur strikte Ablehnung erfahren, gelegentlich garniert mit ausgesprochen spöttischen, ja herablassenden 165 Kommentaren. Durchaus zu Recht wurde in England ver163 Siehe hierzu ausführlich Cappelletti, The ,Mighty Problem' of Judicial Review, in: Legal Issues of Europ. Integration 1979/2, S. 1 ff. (3 ff.); ders. / Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, in: JöR NF 20 (1971), S. 65 ff. (71 f.); Favoreu, Actualite et legitimite du contröle juridictionnel des lois, in: revue du droit public 1984, S. 1147 ff. (1174 f.). Diese lange Zutiickhaltung gegenüber einer normenkontrollierenden Verfassungsgerichtsbarkeit hatte im wesentlichen zwei Ursachen, eine historisch, die andere mehr staatstheoretisch begründet. Im vorrevolutionären Frankreich hatten die "parlaments", die obersten Gerichte, immer wieder das Recht zur Verwerfung von Gesetzen erfolgreich in Anspruch genommen; dabei dienten die ungeschriebenen "lois fondamentales" als Prüfungsmaßstab. Deren Anwendung erfolgte vor allem zur Verteidigung der bestehenden feudalen Gesellschaftsordnung und gegen auch nur bescheidene Reformgesetze; auf diese Weise wurde das Institut der Normenkontrolle mit dem Odium des Reaktionären und Rückwärtsgewandten belastet. Hinzu kam der in Frankreich stets besonders ernst genommene Gewaltenteilungsgrundsatz, der nach Ansicht der Revolutionäre von 1789 eine normenkontrollierende Gerichtsbarkeit verbot. Diese in einer langen Tradition gewachsene Haltung ist in einer behutsamen verfassungspolitischen Entwicklung seit dem 2. Weltkrieg revidiert worden, so daß auch Frankreich - mindestens seit den frühen 70er Jabren - heute über eine echte Verfassungsgerichtsbarkeit verfügt; siehe hierzu Cappelletti (a. a. 0.), S. 4 ff. 164 Dazu und zu dem berühmten Streit zwischen J ellinek und Boutmy über den ideengeschichtlichen Stellenwert der französischen Menschenrechtserklärung, siehe Kriele, Staatslehre, S. 149 ff. 165 Bei Dicey, Introduction to the Constitution, S. 198, findet sich folgende Passage: ,,Now most foreign constitution-makers have begun with declarations of rights. For this they have been in no wise to blame." In diesem Zusammenhang darf auch ein vielzitierter Ausspruch von Jeremy Bentham nicht fehlen: ,,Natural rights is simple nonsense; natural and irnprescriptible rights rhetorical nonsense, nonsense upon stilts ..." (zitiert bei Riedel [Anm. 127] Anm. 39). Ein moderneres Beispiel liefert ein Interview des Member of Parliament Enoch Powell: "There is no such thing as human rights" und "all ta1k about human rights [is] a stringing together of sound without rational meaning ... The only rights which exist are those recognised in a particular society ..." (Sunday Times,

§ 5 Wesen und Werden des britischen Grundrechtsverständnisses

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merkt, daß gleichzeitig mit der französischen Menschenrechtserklärung eine Epoche eingeleitet wurde, die durch weitaus gravierendere FreiheitseinbTÜche gekennzeichnet war, als jene Staatsordnung, welche die Revolutionäre gerade um ihres Despotismus willen abzulösen suchten. 166 Aus dem gleichen Grunde zeigen sich die heutigen Briten auch gegenüber internationalen Instrumenten des Menschenrechtsschutzes oft eher reserviert. 167 Mehr noch widerspräche eine Erklärung in der Art derer von 1789 einem fundamentalen Axiom englischen Rechtsdenkens, daß nämlich nur da von einem Recht gesprochen werden kann, wo ein Verfahren bereit steht, dieses Recht auch durchzusetzen. 168 Sehr viel differenzierter hat dagegen die Frage beantwortet zu werden, inwieweit überpositive Grundrechte durch Verweis Eingang in und Einfluß auf das britische Recht - zumindestens auf seine Auslegung - nehmen können. Zwar gibt es naturgemäß nichts in der Art der schon genannten grundgesetzlichen Vorschriften. Anders verhalten sich die Dinge dagegen im common law. Denn unausgesprochen und als solches wohl auch unerkannt sind richterliche Hilfsmittel wie die schon erörterten Interpretationsregeln oder der mittlerweile sehr bedeutende Prüfungstopos der sog. "natural justice" 169 nichts anderes als die juristische 27.2.1977). Für weitere Beispiele ähnlicher Art, siehe die Zitate bei Ezejojor, Human Rights, S. 154 ff.; de Smith, Fundamental Rights I, in: ICLQ 101 (1961), S. 83 ff. (84 f.). 166 Eine Beobachtung, die auch Dicey, Introduction to the Constitution, S. 199, nicht ausläßt. Wichtig waren in diesem Zusammenhang auch die eigenen Erfahrungen der Engländer mit naturrechtlich inspirierten Revolutionären während des Cromwellschen Commonwealth, dem ja ebenfalls eine Bill of Rights zu Grunde gelegt worden war, die in praxi nicht nur keinerlei Wirksamkeit entfalten konnte, sondern von einem allgemeinen Zustand der Rechtlosigkeit und Willkür begleitet war, wie es ihn weder vor- noch nachher in England gegeben hat. 167 Ihren beredten Ausdruck findet diese Haltung in den anläßlich der Inkraftsetzung der EMRK innerhalb des britischen Kabinetts zirkulierten Papieren, die vor einigen Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden und bei Lester, Fundamental Rights, in: PL 1984, S. 46 ff. (49 ff.) ausgewertet wurden; zu einem der Entwürfe für die spätere EMRK heißt es da etwa: ,,Any student of our legal institutions . . . must recoil from this document with a feeling of horror" (a. a. 0., S. 52). Letztlich wurde die EMRK vor allem unterzeichnet, weil man glaubte, ein Fernbleiben politisch nicht rechtfertigen zu können. 168 Loewenstein, Staatsrecht & Staatspraxis H, S. 261 f.; Fuß, Grundrechtsschutz, S. 36 f.; Geisseler, Reforrnbestrebungen, S. 38 f.; de Smith (Anm. 165), S. 86 ff. 169 Hinter dieser bei der englischen Ablehnung allen Naturrechts erstaunlichen Bezeichnung verbergen sich im wesentlichen zwei im common law entwickelte Regeln, welche ein Mindestmaß prozeduraler Gerechtigkeit bei allen Arten von Verwaltungsverfahren sichern sollen. Einmal ist dies das Gebot des rechtlichen Gehörs, zum anderen das schon aus Dr. Bonham' s Case bekannte Prinzip, demzufolge niemand Richter in eigener Sache sein darf. Siehe hierzu ausführlich Riedel, Kontrolle der Verwaltung, S. 106 ff.; Craig, Administrative Law, S. 253 ff.; Yardley, Administrative Law, S. 87 ff. Die Bedeutung dieser Regeln als Mittel der gerichtlichen Verwaltungskontrolle hat in den letzten Jahren stetig zugenommen (a. a. 0., S. 96 ff.) und erfaßt heute z. B. alle Fälle von Voreingenommenheit ("bias") (Craig, Administrative Law, S. 291 ff.) etc. Für einige Beispiele, siehe Webber, Natural Justice in Recent English Case Law, in: Current Legal Problems 17 (1964), S. 17 ff.

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1. Kap.: Das nationale Recht

Effektuierung bestimmter überpositiver, dem staatlichen Tun als grundlegend vorangestellter menschenrechtlicher Positionen, die allerdings zur Gänze ohne Rest zur Disposition des Gesetzgebers gestellt bleiben. 170 Oben war gesagt worden, daß Grundrechte auch auf der unterverfassungsrechtlichen Ebene angesiedelt werden können. Gemeint ist damit die Positivierung von Grundrechten als (einfaches) Gesetzesrecht. Dem steht normtechnisch sicherlich nichts im Wege; freilich ist damit dann auch gleich das Einverständnis verbunden, daß es eine Bindung des Gesetzgebers an solche Grundrechte nicht gibt. Immerhin wird die Existenz solcher GrundrechtsverbÜTgungen im Vereinigten Königreich nach dem im Abschnitt zum "Grundrechts schutz und statute law" Gesagten ohne weiteres anzunehmen sein. Dem scheint aber nun eine häufig vorgebrachte Behauptung zu widersprechen, derzufolge Grundrechte im Vereinigten Königreich nur als sog. Residualrechte gelten können: 171 ein Recht, irgendetwas zu tun, gebe es nur soweit (und solange), wie das Parlament dieses Tun nicht verbiete, die vom englischen Bürger genossene Freiheit definiere sich somit als derjenige Bereich, welcher nach Abzug aller durch statute (und comrnon) law angeordneten Verbote, Beschränkungen etc. von der allgemeinen Handlungsfreiheit verbleibe. Diese extrem positivistische Sicht hat zunächst einmal zur Folge, daß jeder qualitative Unterschied zwischen den banalsten und erhabensten menschlichen Tätigkeiten gänzlich eingeebnet wird, 172 was sich mit dem Begriff des Grundrechts (im materiellen Sinne) nur schlecht zu vertragen scheint. Richtig an dieser Theorie ist, daß es vor dem Parlament keinen Grundrechtsschutz gibt. Grundrechtsschutz beschränkt sich aber nun keineswegs auf die Abwehr legislativer Eingriffe in die Bürgerfreiheiten. Mindestens ebenso wichtig, wegen des weitaus engeren unmittelbaren Kontakts zwischen Exekutive und Bürger vielleicht sogar wichtiger, sind jene Vorkehrungen, die dem Schutz vor der Verwaltung dienen. Vorschriften dieses Typs, welche eine bestimmte Freiheit als Recht positiv begründen, hält auch das britische Recht in zahlreichen Vorschriften des comrnon 170 So auch MitchelI, Sovereignty of Parliament Yet Again, in: LQR 79 (1968), S. 196 ff. (199). 171 Diese griffige Fonnel fmdet besonders bei ausländischen Beobachtern des britischen Rechts Anklang; so etwa Crombach, Civil Liberties in England, in: DVBl 88 (1973), S. 561 ff. (562); Trautwein, Grundrechtsproblematik im englischen Recht, S. 60; Geisseler, Refonnbestrebungen, S. 131 f.; Taliadouros, The System for the Protection of Human Rights in the Member States of the EEC, in: Revue hellenique de droit internationale 35/36 (1982/83), S. 191 ff. (213). Siehe aber auch Brown, A Bill of Rights for the United Kingdom? in: Parliamentarian 58 (1977), S. 79 ff. (81); Barendt, Dicey and Civil Liberties, in: PL 1985, S. 596 ff. (599); Kingston Ilmrie (Anrn. 1), S. 720 f.; Norton, Constitution in Flux, S. 244. 172 Was trefflich durch folgende Stelle bei Jennings, Law & Constitution, S.262, belegt wird: "There is no more a ,right to free speech' than there is a ,right to tie up my shoe-Iace'; or if there is a right of free speech, there is also a right to tie up my shoe-Iace."

§ 5 Wesen und Werden des britischen Grundrechtsverständnisses

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und statute law bereit - einige davon wurden genannt - , etwa im Bereich des Strafrechts sowie im Deliktsrecht (torts). Beispielsweise genießt das Eigentum umfassenden Schutz. Seine Verletzung durch eine Maßnahme der Exekutive löst Schadensersatzpflichten aus und begründet gegebenenfalls einen Anspruch auf Wiederherstellung des vorherigen Zustandes, allerdings immer nur soweit, wie solche (common law) Rechte durch statute nicht beseitigt wurden. Andererseits gibt es auch solche Freiheiten, die gemeinhin in jedem Grundrechtskatalog einen festen Platz einnehmen, im Vereinigten Königreich aber keine positive Begründung erfahren haben, zum Beispiel die Meinungsfreiheit, 173 deren Verletzung durch den Staat an sich daher folgenlos bleibt, auch keinen Unterlassungsanspruch begründet. Das wiederum ist nichts eigentümlich Britisches, denn auch in der Bundesrepublik gibt es keinerlei Vorschrift, welche die Verletzung der Meinungsfreiheit schadensersatzpflichtig machen oder unter Strafe stellen würde. Dies zeigt, daß der Begriff der Residualrechte einen nennenswerten Erklärungswert nur insofern hat, als er noch einmal auf die allerdings nun hinlänglich erörterte Tatsache verweist, daß es keine auch gegen das Parlament gerichteten Bürgerrechte gibt. Neues vermag er dieser Erkenntnis nicht hinzuzufügen.

173 Deutlich wurde dies in der Spycatcher-Entscheidung des House ofLords, Attorney General v. Guardian Newspapers Ltd. [1988] 3 WLR 776 (siehe Anrn. 83 hierzu); mangels eines im britischen Recht auffindbaren Ansatzpunktes für die Begründung eines

Rechtes auf Meinungsfreiheit mußte das Gericht insoweit auf die EMRK zurückgreifen mit der Folge, daß in diesem Fall, der die Meinungsfreiheit direkt und unmittelbar berührte, der Topos der Meinungsfreiheit fast keinerlei Rolle spielte. 5 Koch

Zweites Kapitel

Der Grundrechtsschutz im Vereinigten Königreich: Das internationale Recht Mit einer Betrachtung allein des innerstaatlichen Rechts kann sich angesichts der mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg auszumachenden Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes die hier beabsichtigte Beschreibung des gegenwärtigen Grundrechtssystems im Vereinigten Königreich nicht begnügen. An den Beitritt des Vereinigten Königreichs zu verschiedenen multilateralen völkerrechtlichen Vertragswerken, welche einzelne Menschenrechte niederlegen, ist die Schlußfolgerung geknüpft worden, hier sei in einer revolutionären Veränderung (,,revolutionary change") 1 die Allmacht des Parlaments gebrochen worden, weil die Gesetze des Parlaments sich nunmehr an bestimmten Völkerrechtsverträgen messen lassen müßten, was diesen in der Tat eine außerordentlich bedeutsame Stellung im Vereinigten Königreich verschaffen müßte. Ganz unabhängig von dieser mehr verfassungstheoretischen Frage ist aber der praktische Einfluß solcher völkerrechtlicher Regelwerke auf das Vereinigte Königreich unabweisbar.

§ 6 Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) 1. Die Einwirkung der EMRK auf das britische Recht Die EMRK 2 wurde am 4. 11. 1950 vom Vereinigten Königreich unterzeichnet und von diesem als erstem Land auch bereits am 22.2. 1951 mit Wirkung vom 1 So zum Beispiel Mann, Bill of Rights, in: NU 122 (1972), S. 289 ff. (289). Ähnlich Black, Is There Already a British Bill ofRights? in: LQR 89 (1973), S. 178 ff.; Crombach, Civil Liberties in England, in: DVBI 88 (1973), S. 561 ff. (564); Kewenig, EMRK und die Kontrolle des nationalen Gesetzgebers in Großbritannien, in: NJW 21 (1968), S. 2179 f. (2180); Gilmour, Sovereignty of Parliament and the European Commission of Human Rights, in: PL 1968, S. 62 ff. (72 f.). 2 Text in BGBI. 1952 11 S. 686 ff., geändert durch Protokoll Nr. 3 vom 6.5.1963, BGBI. 196811 S. 1116 und durch Protokoll Nr. 5 vom 20.1.1966, BGBI. 196811 S. 1120; ETS no. 5, 45 und 55. In dieser Fassung gilt die EMRK heute auch für das Vereinigte Königreich. - Die Konvention ist am 3.9.1953 nach Hinterlegung der zehnten RatifIkationsurkunde (siehe Art. 66 Abs. 2 EMRK) in Kraft getreten.

§ 6 EMRK

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08.3.1951 ratifiziert 3 • Die gemäß Art. 25 Abs. 1 EMRK notwendige Erklärung, um auch Privatparteien Aktivlegitimation vor der Menschenrechtskommission einzuräumen, wurde erstmals, befristet auf fünf Jahre (siehe Art. 25 Abs. 2 EMRK), am 14. Januar 1966 4 abgegeben, anschließend mit jeweils unterschiedlicher Laufzeit verlängert, zuletzt mit Wirkung vom 14.1.1986 wiederum für fünf Jahre; jeweils parallel hierzu wurde gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK durch Erklärung die Gerichtsbarkeit des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes (EuGHMR) anerkannt. 5 Allerdings hat das Vereinigte Königreich die EMRK bislang nicht in sein Landesrecht übernommen. Anders als in der Bundesrepublik, wo die völkerrechtliche Ratifikation als Bedingung für ihre verfassungsrechtliche Wirksamkeit unter den Voraussetzungen von Art. 59 Abs. 2 GG der Zustimmung (bzw. Mitwirkung) der Gesetzgebungsorgane bedarf und hiermit dann auch gleich die Inkorporierung des Vertrages in das innerdeutsche Recht bewerkstelligt wird, kommt im Vereinigten Königreich die Ratifikation innerstaatlich ohne Mitwirkung des Parlaments aus und bleibt somit auch verfassungsrechtlich (nicht nur völkerrechtlich) eine ausschließliche Prärogative der Krone. 6 Diese konsequente Trennung zwischen der verfassungsrechtlichen Kompetenz zur völkerrechtlichen Inkraftsetzung einerseits und innerstaatlichen Rechtsumsetzung andererseits hat zur Folge, daß die Ratifikation unabhängig von der Inkorporierung vollzogen wird. Hierzu bedarf es eines Act of Parliament,7 weil sonst die Exekutive unter Umgehung des Parlaments britisches Recht zu setzen vermöchte. 8 Die EMRK ist somit kein 3 Siehe BGBl. 1954 II S. 14. - Vorbehalte gegenüber der Konvention (siehe Art. 64 EMRK) hat das Vereinigte Königreich nicht angebracht. 4 Text in ICLQ 15 (1966), S. 539 ff. Vor diesem Schritt mußten erheblich politische und juristische Vorbehalte überwunden werden, siehe Lester, Fundamental Rights, in: PL 1984, S. 46 ff. (58 ff.). 5 Siehe BGBl. 1986 II S. 492 und 743. - Das Vereinigte Königreich hatte mit Stand vom 1. Juli 1987 die Zusatzprotokolle Nr. 1, 2 und 8 zur EMRK ebenfalls ratifiziert (das Protokoll Nr. 1 hat das Vereinigte Königreich allerdings mit einem Vorbehalt versehen; siehe European Commission of Human Rights, Documents & Decisions Bd. 1 [1955 -1957], S. 45), das Protokoll Nr. 4 lediglich unterzeichnet (Council of Europe, Legal Affairs, Chart Showing Signatures and Ratifications ofCouncil ofEurope Conventions and Agreements, Stand: 1. 7.1987). 6 Siehe Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rz. 160 u. 398; Dahm, Völkerrecht I, S. 58; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht 1/1, S. 108; Brownlie, International Law, S. 49 f. m. w. N. auf das einschlägige case law. 7 Siehe hierzu die Entscheidung des Privy Council in Attorney-General for Canada v. Attorney-General for Ontario [1937] AC 326, wo Lord Atkin auf S. 347 ausführt: " ... there is a well-established rule that the making of a treaty is an executive act, while the performance of its obligations, if they entail alteration of the existing domestic law, requires legislative action. Unlike some other countries, the stipulations of a treaty duly ratified do not ... , by virtue of the treaty alone, have the force of law." Siehe ferner hierzu McWhirter v. Attorney-General (CA) [1972] CMLR 882 ff. (S. 886-887). 8 Diese immer wieder vorgebrachte Grund (siehe nur Brownlie, International Law, S. 49) für die strikte Trennung zwischen Ratifikation und innerstaatlicher Rechtsgeltung ist allerdings nicht überzeugend; denn auch die Gerichte dürfen ohne (allerdings nicht

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2. Kap.: Das internationale Recht

Teil des von britischen Gerichten anzuwendenden Rechts. Deswegen ist es auch nicht möglich, die Aussetzung einer exekutiven Maßnahme mit dem Hinweis zu erwirken, andernfalls sei die Ausübung des Beschwerderechts vor der Europäischen Kommission entweder unmöglich oder gegenstandslos. 9 Dieses Ergebnis bedeutet indes nicht, daß die EMRK gerichtlicherseits überhaupt nicht zur Kenntnis genommen werden darf. Um nämlich das Auseinanderklaffen von Völkerrecht und Landesrecht, wie es nach der britischen Verfassungsordnung immer dann entstehen kann, wenn ein von der Krone ratifizierter Vertrag nicht vom Parlament als Gesetz übernommen wird, 10 in seinen Konsequenzen möglichst zu mildern, ist im common law eine Interpretationsregel entwickelt worden, derzufolge Landesrecht so auszulegen ist, daß es nicht in Widerspruch zu den von der Krone übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen gerät. 11 Prämisse dieser Regel ist die dem Parlament unterstellte Absicht, kein Recht setzen zu wollen, welches im Widerspruch zu einer rechtmäßig eingegangenen völkerrechtlichen Pflicht stünde und damit das Vereinigte Königreich den Rechtsfolgen einer Völkerrechtsverletzung aussetzen müßte. Diese Vermutung ist aber widerlegt, wenn ein Gesetz nur eine Auslegung zuläßt. Insoweit wird also auch gegenüber dem Völkerrecht die Parlamentssouveränität gewahrt. Die Interpretationsregel kommt erst dann zum Zuge, wenn die Auslegung des Gesetzes als solche kein eindeutiges Ergebnis ergibt. Immerhin hat es jedoch bis 1974 gedauert, 12 bevor sich ein britisches Gericht dieser Interpretationsregel besann, um die EMRK erstmals zur Entscheidung gegen) das Parlament Recht setzen, das Parlament hat kein Rechtsetzungsmonopol (siehe Kap. 1, Anm. 86). Die Parlamentssouveränität ließe sich ohne Schwierigkeiten wahren, indem man völkerrechtlichen Verträgen mit der Ratifikation zwar innerstaatliche Geltung einräumt, sie aber innerhalb der Normenhierarchie auf einen Platz unterhalb der statutes verweist. An dem im Vereinigten Königreich geübten strengen Dualismus ändert das nichts. 9 So entschieden in Malone v. Metropolitan Police Commissioners [1979] Ch 344 (S. 354) = [1979] 2 All ER 620 (S. 628). Siehe ferner R. v. Chief Immigration Officer, Heathrow Airport, ex p. Salamat Bibi (CA) [1976] 3 All ER 843 (S. 847 von Lord Denning, M. R., S. 848 von Roskill, U., S. 850 durch Geoffrey Lane, U.); R. v. Secretary of State for the Home Dept., ex p. Kirkwood [1984] 2 All ER 390 (dazu siehe die Urteilsanmerkung Warbrick, in: PL 1984, S. 539 ff.); R. v. Secretary of State for the Home Dept., ex p. Fernandes (CA) The Times 21.11.1980. 10 Einer ungeschriebenen Regel zufolge werden allerdings solche völkerrechtlichen Verträge, die eine Ratifikation vorsehen, zunächst dem Parlament mindestens zur Kenntnisnahme vorgelegt (die sog. ,,Ponsonby rule"), siehe Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 320 f. 11 Allgemein hierzu siehe Langan, Interpretation of Statutes, S. 183 -185; Jennings, Law & Constitution, S. 173 ff. Case law zu dieser Regel gibt es reichhaltig, aus neuerer Zeit ist vor allem zu nennen Salomon v. Commissioners of Customs and Excise (CA) [1967] 2 QB 116 (S. 143) = [1966] 3 All ER 871 (S. 875). 12 Eine Kompilation des Europarates aus dem Jahre 1969, in der möglichst vollständig alle sich mit der Konvention befassenden Passagen aus den Entscheidungen nationaler Gerichte der Unterzeichnerstaaten zusammengetragen wurden, enthält nicht ein einziges Zitat eines britisches Urteils. - Soweit feststellbar, erfolgte die erste Erwähnung der

§ 6 EMRK

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eines Rechtsstreites heranzuziehen \3. Seitdem ist die Konvention in Anwendung der eben erläuterten Interpretationsregel in einer ganzen Reihe von Fällen als Entscheidungsgrundlage verwendet worden. 14 Damit hat sich erwiesen, daß dieser Weg durchaus eine Einbruchstelle für die Konvention in das innerbritische Recht bietet, welche bei einer entsprechend offensiven Handhabung durch die Gerichte der Konvention eine Stellung verschaffen könnte, die sich in ihren Wirkungen kaum von einer echten Inkorporierung unterscheidet 15. EMRK überhaupt 1972 in Cassell & Co Ltd. v. Broome et al. (HL) [1972] 1 All ER 801 (S. 876) = [1972] AC 1027 (S. 1033), wo Lord Kilbrandon in einem erstaunlich "unenglisch" anmutenden Diktum von einem "constitutional right of free speech" sprach, von dem auszugehen sei "at least since the European Convention was ratified". 13 R. v. Miah (CA) [1974] 1 All ER 1110 (S. 1116) und Waddington v. Miah (HL) [1974] 2 All ER 377 (S. 379). Allerdings spielte die EMRK (im gleichen Zuge wird übrigens auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 genannt) in diesem Fall keine sehr gewichtige Rolle; mit ihr wurde lediglich ein Ergebnis bestätigt, von dem die beiden Gerichte erkennbar ohnehin schon überzeugt waren (so auch Watson, European Convention on Human Rights, in: Texas Inter'l L. J. 12 [1977], S. 61 ff. [64]). 14 Siehe Birdi v. Secretary ofStatefor Home Affairs (CA) vom 11.2.1975, nichtveröffentlichte Entscheidung, zusammengefaßt in Current Law Year Book 1975, no. 14 = Sol J. 119 (1975), S. 322. In diesem Fall hatte Lord Denning angekündigt "that if an Act of Parliament did not conform to the Convention, I might be inclined to hold that it was invalid." (zitiert in R. v. Home Secretary, ex p. Bhajan Singh (CA) [1976] QB 198, S. 206 = [1975] 2 All ER 1081, S. 1083); dieses Diktum, das in seiner lakonischen Radikalität an den Ausspruch von Chief Justice Coke in Dr. Bonham' s Case erinnert, hat Lord Denning in der Bhajan Singh-Entscheidung (a. a. 0.) aber ausdrücklich wieder zurückgenommen. Siehe ferner R. v. Secretary of State for the Home Dept., ex p. Phansopkar / R. v. Secretary of State for the Home Department, ex p. Begum (CA) [1976] QB 606 (S. 626) = [1975] 3 All ER 497 (S. 512); Pan-American World Airways v. Department ofTrade [1976] I Lloyd's Rep 257 (S. 261); R. v. Chief Immigration Officer Heathrow Airport, ex p. Salarnat Bibi (CA) [1976] 3 All ER 843 (S. 847 ff.); in diesem Fall haben sich alle drei Richter des Court of Appeal der Anwendung der Interpretationsregel angeschlossen, die betreffenden Ausführungen sind aber nur dicta; R. v. Secretary of State for the Home Dept., ex p. Hosenball (CA) [1977] 3 All ER 452 (S. 457); Ahmed v. Inner London Education Authority (CA) [1978] QB 36 (S. 41,45 und besonders die abweichende Meinung von Scarman, U. aufS. 48 ff.) = [1978] 1 All ER 574 (S. 577, 581, 583 ff.); Ostreicher v. Secretary of State for the Environment [1978] 1 All ER 591 (S. 594); R. v. Hull Prison Board of Visitors, ex p. St. Germain / R. v. Wandsworth Prison Board ofVisitors, ex p. Rosa (CA) [1979] QB 425 (S. 464 f.) = [1979] 1 All ER 701 (S. 724); UKAPE v. ACAS (CA) [1979] 2 All ER 478 (S. 485 f.); dieses Urteil wurde vom Oberhaus aufgehoben [1980] 1 All ER 6J2 (S. 622) = [1981] AC 424 = [1980] 2 WLR 254; Allgemeine Gold- und Silberscheideanstalt v. Customs and Excise Commissioners (CA) [1980] QB 390, [1980] 2 All ER 137 (S. 141 f.); Williams v. Home Office (No. 2) [1981] 1 All ER 1211 (S. 1244 f.); Guilfoyle v. Home Office [1981] 1 All ER 943 (S. 948 f.); R. v. Secretary of State for the Home Departments, ex p. Andersen (QBD) [1984] 1 All ER 920 auf S. 928; Attorney-General v. Guardian Newspapers Ltd. (No. 2) [1988] 3 WLR 776 auf S. 783, 798 und 808 (diese Entscheidung betraf die Memoiren des ehemaligen Geheimdienstoffiziers Peter Wright, der unter dem Titel "Spycatcher" aufsehenerregende Ermittlungen über MI5, die britische Spionageabwehr, veröffentlichte). In anderen Entscheidungen wurde auf die EMRK Bezug genommen, ohne allerdings bei der Entscheidungsfindung eine Rolle zu spielen, siehe etwa Shah v. Barnet London Borough Council (HL) [1983] 1 All ER 226 auf S. 239 f. Auf eine fallweise Analyse

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Die Rezipierung der EMRK durch die britischen Gerichte hat eine erstaunlich große Zahl von Abhandlungen zu diesem Thema provoziert. 16 Durchweg ist man dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß die Konvention, entgegen den sich aus der Interpretationsregel ergebenden Chancen, bislang nur einen verhältnismäßig bescheidenen Einfluß auf die Auslegung britischen Rechts gewinnen konnte. Es ist wohl vor allem die Behandlung von vier die Reichweite der Interpretationsregel bestimmenden Fragen, welche über die Bedeutung der EMRK im Rahmen der Auslegung von statute law entscheiden. Erstens ist es für eine konventionsfreundliche Rechtsprechung wichtig, ob bereits bei der Entscheidung über das Vorliegen einer Mehrdeutigkeit im Sinne der Interpretationsregel (und dies ist ja die Voraussetzung für ihre Anwendung) die EMRK herangezogen werden darf oder ausschließlich nur zur Auflösung einer zuvor ohne Bezug auf die EMRK festgestellten Mehrdeutigkeit. Im ersten Falle wäre die EMRK bei allen grundrechtsrelevanten Entscheidungen in den Rang eines gleichberechtigten Auslegungsmittels erwachsen, was ihr naturgemäß einen weitaus größeren Einfluß sichern würde, als wenn sie nur nach Versagen der eigentlichen (im wesentlichen wörtlichen) Auslegung als ultima ratio eingreifen könnte. Dem case law ist zu entnehmen, daß eine solch weitreichende Operationalisierung völkerrechtlicher Verträge nicht möglich istY Der im englischen dieses case law wird hier angesichts der reichlich vorhandenenen Literatur verzichtet, siehe unten Anrn. 16. 15 Eine, so allerdings nicht zu überspringende, Hürde ergibt sich daraus, daß die EMRK niemals unmittelbar zum Gegenstand eines Prozesses gemacht werden kann; es ist also nicht möglich, etwa ein Urteil zu erwirken, in dem die Verein-(oder Unverein)barkeit beispielsweise eines Gesetzes mit der Konvention festgestellt würde; siehe Uppal v. Home Office vom 20.10.1978, unveröffentlichte Entscheidung, zusarnmengefaßt in The Times, 21.10.1978, zitiert mit der hier interessierenden Passage in Malone v. Metropolitan Police Commissioner [1979] Ch 344 (S. 353) = [1972] 2 All ER 620 (S. 627); das Urteil wurde durch den Court of Appeal in einem Urteil vom 10. 11. 1978 bestätigt, ebenfalls unveröffentlicht, zusarnmengefaßt in The Times, 11. 11. 1978 = Sol J. 123 (1978), no. 2321. Auch in der Malone-Entscheidung wurde dieses Ergebnis noch einmal bekräftigt und dabei ein sehr sinniger Vergleich mit einem durch den Schiedsrichter während eines Fußballspiels angeordneten Strafstoß gezogen: den könne ein Gericht ebensowenig überprüfen. 16 Finnie, European Convention on Human Rights, in: J. L. Society of Scotland 25 (1980), S. 434 ff.; Jacobs, European Convention in English Courts, in: EuGRZ 2 (1975), S. 569 ff.; Drzemczewski, European Human Rights Law, in: RDH 9 (1976), S. 123 ff.; ders., European Human Rights Law and the UK, in: LQR 92 (1976), S. 33 ff.; ders., Implementation of the UK's Obligations under the European Convention, in: RDH 12 (1979), S. 95 ff.; ders., European Convention in Domestic Law, S. 177 ff.; Dale, Human Rights in the United Kingdom - International Standards, in: ICLQ 25 (1976), S. 292 ff. (304 ff.); Wallington, European Convention and English Law, in: CLJ 33 (1975), S. 9 ff.; Watson (Anrn. 13), S. 61 ff.; Shawcross, United Kingdom Practice on the European Convention of Human Rights, in: rev. beIge de droit international 1965, S. 297 ff. Die folgenden Ausführungen folgen vor allem der gründlichen Untersuchung von Duffy, English Law and the European Convention on Human Rights, in: ICLQ 29 (1980), S. 585 ff. 17 Das läßt sich daraus entnehmen, daß sogar dann, wenn ein Gesetz nicht nur einfach den völkerrechtlichen Vertrag formell übernimmt (und ihn etwa in einem Anhang zu

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Recht sehr begrenzte Kanon der Auslegungsmiuel wird durch die EMRK somit nicht erweitert. Tatsächlich allerdings wird diese an sich zwingende Rechtsfolge häufig übersehen, die Konvention also auch dann bereits erörtert, wenn eine Mehrdeutigkeit des anzuwendenden Gesetzes noch gar nicht festgestellt oder sogar ausdrücklich verneint wurde. 18 Man wird dies gleichwohl nicht als ein auch nur vorsichtiges Abrücken von der allgemeinen Regel zugunsten mehr konventionsfreundlicher Ergebnisse verstehen können. Zum einen bleibt diese Vorgehensweise als solche durchweg unerörtert. Zum anderen neigt der englische Richter - genau wie sein deutscher Kollege - dazu, gelegentlich aus Gründen der Prozeßökonomie und um seinem Urteil eine größere Überzeugungskraft zu geben, einen im Verlauf des Verfahrens vorgetragenen Rechtseinwand mit einern Argument zu erledigen, das nach Lage der Dinge gar nicht mehr nötig wäre, weil bereits ein in der Prüfungsfolge vorgehendes Tatbestandsmerkmal nicht vorliegt. Schließlich ist auch kein Fall ersichtlich, in dem die (im Sinne der allgemeinen Regel) vorzeitige Erörterung der Konvention bereits im Zusammenhang mit der Auslegung der betreffenden Gesetzesvorschrift zu einern anderen Ergebnis geführt hat, als dies auch ohne die Bezugnahme auf die EMRK zu erwarten gewesen wäre. Zweitens ist es wichtig, ob die britischen Gerichte bei der Auslegung der Konvention die Entscheidungen der durch die EMRK geschaffenen Kontrollorgane berücksichtigen. Von diesen Institutionen wird man eine vergleichsweise weitergehende Interpretation der Vorschriften der EMRK erwarten können,I9 dies auch schon deswegen, weil im britischen Recht grundsätzlich nur eine wörtliche Auslegung (literal interpretation) stattfindet,20 während beispielsweise teleologische Erwägungen ausgesprochen verpönt sind. Deswegen wäre die Berücksichtigung der Entscheidungen der Konventionsorgane einer offensiven Auslegung der EMRK im Vereinigten Königreich ausgesprochen förderlich und dem statute abdruckt), sondern dessen Inkorporierung durch die Auflistung der entsprechenden materiellen Vorschriften durchführt, der Vertragstext gleichwohl bei eindeutigem Gesetzestext nicht als Auslegungsmittel herangezogen werden darf; siehe Ellermann Lines Ltd. v. Murray (HL) [1930] All ER 503; Brownlie, International Law, S. 50 f. 18 Ein gutes Beispiel hierfür ist Allgemeine Gold- und Silberscheideanstalt v. Customs and Excise Commissioners [1980] 2 All ER 138 (S. 141 f.). 19 Ein überzeugendes Beispiel hierfür ist R. v. Secretary of State for the Horne Dept., ex p. Bhajan Singh (CA) [1975]2 All ER 1081 = [1976] QB 198, wo sogar der besonders liberale Lord Denning, wegen seiner oftmals weitgehenden Rechtsauslegungen häufig gescholten, feststellte, Art. 12 EMRK gebe einem Strafgefangenem wegen Art. 5 EMRK keinen Anspruch auf Durchführung einer Eheschließung, eine Auslegung, die von der Kommission in einem anderen Fall (Hamer v. United Kingdom, no. 7114/75) glatt abgelehnt wurde (Decisions & Reports Bd. 10, S. 174 ff.; ECHR YB Bd. 21 (1978), S. 303 ff.). 20 Siehe hierzu Langan, Interpretation of Statutes, S. 28 ff.; Cross, Statutory Interpretation, S. 42 ff.; zu den Gründen hierfür siehe MarshalI, Constitutional Theory, S. 77 ff. Anders als etwa in den USA ist in England die historische Auslegung schlicht unzulässig, siehe Langan, Interpretation ofStatutes, S. 50 f. und Lord Denning in Escoigne Properties Ltd. v. Inland Revenue Commissioners [1958] AC 549 (S. 565).

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würde überdies zur Wahrung einer europaeinheitlichen Rechtspraxis beitragen. Eine ausdrückliche Entscheidung darüber, ob ein solches Heranziehen des case law der Kontrollorgane der EMRK durch britische Gerichte zulässig ist, fehlt. In einer Reihe von Entscheidungen - zu nennen ist hier vor allem Malone v. Metropolitan Police Commissioners 21 - haben die Gerichte, auch ohne auf die Frage grundsätzlich einzugehen, sich allerdings der Entscheidungen der Konventionsorgane bedient. 22 Hier zeichnet sich demnach eine der Anwendung der EMRK förderliche Entwicklung ab. 23 Drittens wäre zu klären, ob die EMRK zur Interpretierung auch solcher Gesetze herangezogen werden darf, die bereis vor der Ratifizierung der Konvention vom Parlament verabschiedet wurden. Eine solche Anwendung der Interpretationsregel verbietet sich eigentlich; offensichtlich ist es unmöglich, dem Parlament zu unterstellen, einen bestimmten völkerrechtlichen Vertrag, der noch gar nicht vorhanden ist, durch seine Gesetze nicht verletzen zu wollen. 24 Diesem Einwand könnte man durch die Verallgemeinerung der Vermutung begegnen: nicht auf den einzelnen Vertrag bezieht sich der dem Parlament unterstellte völkerrechtsfreundliche Wille (ohnehin eine etwas lebensfremde Fiktion, setzt sie doch voraus, 21 [1979] Ch 344 (S. 362-365), [1979]2 All ER 620 (S. 635 -636) mit einer ausführlichen Darstellung der Entscheidung des EuGHMR in der Sache Klass. 22 R. v. Secretary 0/ State tor Home Dept., ex p. Bhajan Singh [1976] QB 198 (S. 208 mit Bezug auf den Fall Golder); R. v. Secretary 0/ State tor Home Dept., ex p. Hosenbalt [1977] 3 All ER 452 (S. 457 mit Bezug auf den Fall Agee); Ostreicher v. Secretary 0/ State tor the Environment [1978] 1 All ER 591 (S. 594 mit Bezug auf den Fall Prats, die "by analogy to the instant case" angewendet wurde); R. v. Hult Prison Board 0/ Visitors, ex p. St. Germain [1979] QB 425 (S. 464 f. mit Bezug auf den Fall Kiss) = [1979] 1 All ER 701 (S. 724); Chealt v. APEX [1982] 3 All ER 855 (S. 872 mit Bezug auf den Fall Young et al.), sowie derselbe 'Fall vor dem Court of Appeal [1983] 3 All ER 875 (S. 879); Schering Chemicals v. Falkman Ltd. (CA) [1981] 2 All ER 321 (S. 381 mit Bezug auf den Fall Sunday Times); Gold Star Publications Ltd. v. Director 0/ Public Prosecutions (HL) [1981] 1 WLR 732 = [1981] 2 All ER 257 auf S. 259, 265; R. v. Secretary 0/ State tor the Home Department, ex p. Anderson (QBD) [1984] 1 All ER 920 auf S. 925, 928; Raymond v. Honey (HL) [1982] I All ER 756 auf S. 759. Siehe ferner auch die Ausführungen von Lord Scarman in UKAPE v. ACAS (HL) [1980] 1 All ER 612 (S. 622), zu dieser Entscheidung, siehe Ress, Wirkungen der Urteile des EuGHMR im innerstaatlichen Recht, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 227 ff. (287). 23 So auch Watson (Anm. 13), S. 67. Jacobs, The Convention and the English Judge, in: Matscher / Petzold, Protecting Human Rights, FS Wiarda, S. 273 ff. (275), bedauert demgegenüber, daß das reiche case law der EMRK nicht viel stärker von britischen Gerichten herangezogen wird. - Die hier behandelte Frage, nämlich inwieweit britische Gerichte sich bei der Auslegung der Konvention durch die Entscheidungen der Straßburger Organe gebunden fühlen, ist scharf von dem ganz anders gelagerten Problem zu trennen, ob die Entscheidungen der Konventionsorgane über die darin getroffenen Auslegungen der EMRK hinaus nicht nur völkerrechtlich, sondern auch im innerstaatlichen Raum unmittelbare Rechtswirkungen entfalten und etwa mit der EMRK für unvereinbar befundenes britisches Recht ohne die Notwendigkeit eines entsprechenden britischen Umsetzungsaktes derogieren; dazu siehe unten Ziffer 3 b) aa). 24 So Watson (Anm. 13), S. 63, bes. Anm. 17.

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daß sich jeder Parlamentarier bei jeder Abstimmung sich jeweils auf sämtliche bis dato eingegangenen Verträge besinnt), sondern ganz generell auf das Völkerrecht schlechthin,25 und damit unabhängig von dessen jeweiligem Stand. Das case law hierzu ist nicht eindeutig. 26 Insofern wird man dieses Problem als noch nicht geklärt anzusehen haben. Viertens schließlich läßt sich im Hinblick auf die mit der Interpretationsregel verbundene Rechtsfolge eine weitere oder engere Ausdeutung unterscheiden je nachdem, ob die gewählte Interpretation nur Widersprüche zur EMRK zu vermeiden hat oder aber offensiv sich bemühen soll, deren Ziele aktiv umzusetzen. In der ganz überwiegenden Zahl der Fälle haben sich die Gerichte nur im Sinne der engeren Lösung entschieden,27 vor allem wohl deswegen, weil sonst der Konvention ein Einfluß eingeräumt würde, der sich nur mehr graduell von einer nur dem Parlament obliegenden regelrechten Inkorporierung unterscheiden wür-

de.

All dies zeigt einen insgesamt eher zurückhaltenden Gebrauch der Interpretationsregel durch die Gerichte, die die ihnen insoweit zur Verfügung stehenden Spielräume nur sehr vorsichtig genutzt haben, um nicht das Gesetzgebungsmonopol des Parlaments zu gefährden. Dies wäre allerdings kein durchschlagendes Hindernis für die Instrumentalisierung der EMRK als Mittel zur Begrenzung von behördlichem Ermessen, eine Frage, die in weitgehender Parallele zur Anwendung der Interpretationsregel auf Gesetze erörtert worden ist. Nachdem in einen einzigen Fall Lord Denning mit sehr deutlichen Worten in diesem Sinne Stellung bezogen hatte,28 ist dieser hoffnungsvolle Ansatz zur Begrenzung des im Verei25

Duffy (Anm. 16), S. 593.

26 In Ahrnad v. Inner London Education Authority [1978] QB 36 = [1978] 1 All ER

574 ging es um ein Gesetz aus dem Jahre 1944; die Erörterung der EMRK in diesem Zusammmenhang blieb jedoch folgenlos. Allein Lord Scarman sah sich wegen der EMRK zu einer von der Mehrheit abweichenden Auslegung des fraglichen Gesetzes veraniaßt; dabei wurde die Frage der Anwendbarkeit der EMRK in diesem Fall von ihm zwar angesprochen, aber nicht weiterverfolgt, sondern - wie es scheint - im folgenden einfach als gegeben unterstellt; siehe [1978] QB 36 (S. 48 ff.) = [1978] 1 All ER 574 (S. 584 ff.). 27 Für eine dynamische Anwendung der EMRK könnte man sich allenfalls auf einige Dikta von Lord Scarman berufen, so etwa in R. v. Secretary of State for the Horne Dept .• ex p. Phansopkar / R. v. Secretary of State for the Horne Dept .• ex p. Begurn (CA) [1976] QB 606 (S. 626) = [1975] 3 All ER 497 (S. 512): " ... in my judgment it is the duty of the courts ... to construe statutes in a manner which promotes. not endangers, those rights." Siehe ferner auch seine Ausführungen in Ahmad v. Inner London Education Authority [1978] QB 36 (S. 48 ff.), [1978] 1 All ER 574 (S. 583 ff.), wo er allerdings überstimmt wurde. 28 R. v. Secretary of State for the Horne Dept.• ex p. Bhajan Singh (CA) [1976] QB 198 (S. 206) = [1975] 2 All ER 1081 (S. 1084): ,,1 would add that the immigration officers ... in exercising their duties ought to bear in mind the principles stated in the Convention." Ähnlich Lord Scarman, U. in R. v. Secretary ofStatefor the Horne Dept .• exp. Phansopkar / R. v. Secretary ofStatefor the Horne Dept .• ex p. Begurn (CA) [1976] QB 606 (S. 626) = [1975] 3 All ER 497 (S. 512).

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nigten Königreich oftmals erstaunlich weiten und kaum anband irgendwelcher materiellen Kriterien überprütbaren exekutiven Ermessens 29 in späteren Entscheidungen wieder zurückgenommen worden. 30 Überzeugend ist dieses Ergebnis nicht. Denn wenn dem Parlament eine völkerrechtsfreundliche Haltung bei der Abfassung seiner Gesetze unterstellt wird, so müßte doch weiter gefolgert werden, daß das Parlament eine ebensolche Haltung (unausgesprochen) auch von den seinen Willen vollstreckenden Beamten verlangt. Auch die bei einer allzu forschen Instrumentalisierung der EMRK im Rahmen der Interpretation mehrdeutiger Gesetze wegen der Gewaltenteilung sich ergebenden Bedenken können hier nicht auftreten. Denn eine Beschränkung des exekutiven Ermessens würde nur die Krone treffen, was deswegen sehr viel weniger problematisch ist, weil es ja auch die Krone war, die die EMRK ratifizierte. 31 Die Achtung vor der Parlaments souveränität sollte ebensowenig bei dem von den Gerichten selbst geschöpften Richterrecht der Anwendung der EMRK entgegenstehen, so daß man für das Verhältnis zwischen Völkervertragsrecht und common law die Anwendung einer entsprechenden Interpretationsregel im Falle mehrdeutiger Präjudizien erwarten könnte. 32 Tatsächlich ist die Anwendung der genannten Interpretationsregel im common law sehr viel unsicherer. Das mag auf den ersten Blick überraschen, denn es ist nicht recht ersichtlich, warum die Vermutung der Völkerrechtstreue für common law weniger gelten sollte als für statute law. Die beiden Rechtszweige unterscheiden sich aber rechtstheoretisch wesentlich durch ihren Geltungsgrund: statute law ist gewordenes Recht. Es gilt, weil das Parlament es so will. Eine Regel des common law ist dagegen schon immer Recht gewesen, wenn auch als solches unerkannt, bis die Analyse des Richters sie zu Tage fördert und entdeckt. Nicht der Wille des Richters ist es also, der dem common law seine Legitimität liefert, sondern dessen wie immer begründete, besondere Begabung zur Auffindung von Recht. 33 Da also nicht der Siehe hierzu § 12 Ziffer 2. Seine Ausführungen in Bhajan Singh (Anrn. 30) hat Lord Denning in R. v. Chief Immigration Officer Heathrow Airport, ex p. Salamat Bibi (CA) [1976] 3 All ER 843 (S. 847 ff.) sogar ausdrücklich wieder zurückgenommen; in diesem Fall hat der Court of Appeal überdies festgestellt, daß ein Beamter der Einwanderungsbehörde in keiner Weise Beschränkungen durch die EMRK unterliege (a. a. 0., S. 848 f.); da diese Ausführungen zur ratio decidendi des Falles gehörten, sind sie für den Court of Appeal und alle Untergerichte bindend und der Punkt damit, jedenfalls bis zu einer Entscheidung des House of Lords, in diesem Sinne erledigt. 31 So Warbrick (Anm. 9), S. 543, bes. Anrn. 15. Allerdings scheint sich so höchstens eine objektiv-rechtliche Bindung konstruieren zu lassen, aber kein subjektiver Anspruch des betroffenen Bürgers . • 32 In diesem Sinne Lord Denning in der Salamat Bibi-Entscheidung [1976] 3 All ER 843 (S. 847): "... ifthere is any ambiguity in our statutes or uncertainty in our [common] law, ~en these courts can look to the convention as an aid to clear up this ambiguity ..." Ahnlich ein weiteres Dictum desselben Richters in der Hosenball-Entscheidung [1977] 3 All ER 452 (S. 457). 33 Siehe hierzu § 20 Ziffer 2. 29

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Wille eines Organs Geltungsgrund des common law ist, fehlt es für eine Vermutung der Art, wie sie der Interpretationsregel zu Grunde liegt, an dem notwendigen Anknüpfungssubjekt. Denn der Richter muß eine einmal "gefundene" Regel des common law auch dann anwenden, wenn sie Völkervertragsrecht widerspricht, eben weil er insoweit kein Ermessen hat. Allerdings ist dieses zunehmend schon als sehr wirklichkeitsfremd empfundene Verständnis in neuerer Zeit in steigendem Maße der Vorstellung gewichen, daß der Richter, sofern er nicht ihn bindende Präzedenzien anwendet, ebenso wie das Parlament neues Recht entwickelt, dabei allerdings auf andere, im Zweifel schärfere Begründungskriterien verpflichtet ist. Dann aber bietet sich auch im Rahmen des common law die Chance, die Interpretationsregel zum Zuge kommen zu lassen. Einige bescheidene Ansätze dazu finden sich. 34 Offensichtlich nicht anwendbar ist die Interpretationsregel, wenn weder common noch statute law eine Regelung für einen zur Entscheidung anstehenden Fall anbieten. Hier gibt es ja nichts, was interpretiert werden könnte. In diesem Bereich könnte der Instrumentalisierung der Konvention auch nicht die ansonsten gefahrdete Integrität einer anderen Rechtsquelle entgegengesetzt werden. Wenn eine Behörde im sozusagen rechtlichen Niemandsland tätig wird, könnte sich hier somit für die EMRK ein potentiell sehr fruchtbares Anwendungsfeld ergeben. Dies ist aber in Malone v. Metropolitan Police Commissioners ausdrücklich abgelehnt worden: obwohl das Abhören von Telephongesprächen weder durch statute noch durch common law einer Regelung unterworfen ist, war das Gericht nicht bereit, diese Lücke durch eine eigenständige Anwendung der EMRK aufzufüllen,35 wobei auch hier wieder ausschlaggebend war, daß das Gericht meinte, andernfalls parlamentarische Funktionen zu usurpieren. 36 Damit ist jedenfalls auch dieser Bereich für eine Anwendung der EMRK verschlossen. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß die EMRK trotz der bisher ausgebliebenen Inkorporierung, in das innerbritische Recht einzusickern vermochte. Meistenteils wird die Konvention jedoch höchstens als Hilfsargument herangezogen; 37 ein 34 R. v. Lemon / R. v. Gay News Ltd. (HL) [1979] AC 617 (S. 664) = [1979] 1 All ER 898 (S. 926); eine prinzipielle Auseinandersetzung dieses Problems fand hier allerdings nicht statt; ähnlich Science Research Council v. Vyas (HL) [1980] AC 1028 (S. 1068) = [1979] 3 All ER 673 (S. 682). 35 [1979] 2 All ER 620 (S. 648 f.). Siehe zu dieser Entscheidung Duffy (Anm. 17), S. 609 ff. und bes. Anm. 135 mit weiterer Literatur zu dem Fall. 36 Zu den weiteren Implikationen dieses hochinteressanten Falles, siehe § 12 Ziffer 3 c) bb). 37 Etwa wenn wie in Cheall v. APEX [1982] 3 All ER 875 (S. 878 f.) die Konvention zitiert wird nur als zusätzliche Bestätigung für das Bestehen eines Rechts auf Vereinsfreiheit nach common law, eines Ergebnisses somit, das ohnehin schon feststand. Unverständlich ist angesichts dessen die Ansicht Watsons (Anm. 13), S. 71 ff., demzufolge "the Convention has been incorporated into English law via the principles of Magna Charta" (S. 71) und sei ,judicially enforced" (S. 72), und das wegen einer eher beiläufig gefallenen Bemerkung von Lord Scarman in der Phansopkar I Begum-Entscheidung des Court of

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maßgeblicher, streitentscheidender Einfluß bleibt ihr verwehrt. 38 Die bescheidene Wirkung der Konvention zeigt sich auch daran, daß es immer wieder die gleichen, zahlenmäßig sehr wenigen Richter sind, die sie zitieren; in vielen Entscheidungen, die von ihrem Gegenstand die Anwendung der EMRK, jedenfalls eine Bezugnahme, ausgesprochen nahelegen, bleibt sie unerwähnt 39 • Trotz durchaus bereitliegender Ansätze für einen wesentlich expansiveren Gebrauch der EMRK,4O bleibt deren energische Instumentalisierung für die Zwecke des Grundrechtsschutzes eine bislang uneingelöste Hoffnung. 41

2. Exkurs: Völkerrechtliche Pflicht zur Inkorporierung der EMRK durch act of Parliament? Der zur Zeit politisch wohl noch hoffnungsvollste Ansatz zur Einführung einer Bill of Rights im Vereinigten Königreich sieht vor, die EMRK durch Gesetz zu innerstaatlichem Recht zu machen. 42 Neben manchen anderen Erwägungen wird Appeal ([1975] 3 All ER 497 auf S. 510 f.), wo dieser die EMRK und die Magna Charta im gleichen Atemzug nannte. Einmal abgesehen von der späteren Praxis der Gerichte, die auf die anfangs tatsächlich etwas forscheren Dikta verschiedener Richter folgte, und die von Watson allerdings noch nicht berücksichtigt werden konnte (seine Arbeit ist auf dem Stand von 1977), sind die angezogenen Äußerungen Lord Scarmans bei weitem zu allgemein, um daraus eine Kompetenz der Gerichte zur innerstaatlichen Inkraftsetzung völkerrechtlicher Verträge herleiten zu können. 38 So auch Lester, Fundamental Rights, in: PL 1984, S. 46 ff. (66 ff.); Jacobs (Anm. 23), S. 273 ff. 39 Zum Beispiel Re X (a minor) [1976] 1 All ER 697, wo es um das Recht auf Meinungsfreiheit ging, wobei weder ein Gesetz noch eine einschlägige Präjudizentscheidung dem Gericht irgendeine bindende Vorgabe lieferte. 40 Auf eine andere Möglichkeit, um der EMRK Eingang in das britische Recht zu verschaffen, hat Duffy (Anm. 16), S. 605 ff. hingewiesen: er bezieht sich auf Blathwayt v. Baron Crawley (HL) [1976] AC 397 (S. 425 f.) = [1975] 3 All ER 625 (S. 636), wo auf die Frage eingegangen wurde, ob die EMRK ein Teil des britischen ordre public sei. Allerdings war dieser Gesichtspunkt in dem Fall mit einigen Besonderheiten vermengt, so daß die im übrigen diesen Gedanken zurückweisende Entscheidung des Rouse of Lords durchaus nicht abschließend sein muß. Im übrigen ist hier für den Grundrechtsschutz wohl nicht viel zu holen; skeptisch insofern auch Duffy, ebenda. 41 Vielleicht nicht untypisch für die Empfindungen des englischen Richters gegenüber der Konvention ist folgendes Zitat von Lord Denning, bei dem man nur schwer ein gewisses Maß insularer Xenophobie übersehen kann: "The Convention is drafted in a style very different from the way which we are used to in legislation. It contains wide general statements of principle. They are apt to lead to much difficulty in application; because they give rise to much uncertainty. They are not the sort of thing which we can easily digest ... So it is much better to stick to our own statutes and principles ... ([1976] 3 All ER 843, auf S. 847 f.). Ähnlich Lord Diplock in Henn and Darby v. DPP [1981] AC 850, auf S. 905. - Bezeichnend ist aber ebenso, daß der Court of Appeal in Guilfoyle v. Horne Office [1981] 1 All ER 943 entschied, das Einreichen einer Beschwerde bei der Straßburger Kommission sei nicht Teil eines ,,legal proceeding" i. S. der britischen Prison Rules, dies u. a. weil die Kommission keinerlei Entscheidung treffe, die "vollstreckbar" sei, dabei übersehend, daß dies für den Gerichtshof ebenso gilt.

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eine solche Vorgehensweise auch damit begründet, daß das Vereinigte Königreich mit Ratifizierung der Konvention eine völkerrechtliche Pflicht zu deren Inkorporierung übernommen habe. Die Verwendung der EMRK als nationalem Grundrechtskatalog würde folglich - so heißt es - nicht nur den britischen Grundrechtsschutz befördern, sondern in einem Zuge auch die längst überfällige Erfüllung einer völkerrechtlichen Pflicht herbeiführen. 43 Zur Frage, inwieweit der EMRK eine Rechtspflicht der Staaten auf Übernahme der Konvention als solcher in die innerstaatliche Rechtsordnung entnommen werden kann, liegen zahlreiche Stellungnahmen aus der Lehre vor; die wohl herrschende Meinung steht einer solchen Folgerung ablehnend gegenüber. 44 Die Beurteilung dieses Streits hat zunächst davon auszugehen, daß das Völkerrecht den Staaten keine generelle Vorgabe gibt, wie und auf welchem Wege sie ihre völkervertraglich eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen haben. Es gibt aus allgemeinem Völkerrecht keine Pflicht, Völkerrechtsverträgen als solchen auch innerstaatliche Geltung zu verschaffen, solange auch mit anderen Mitteln den aus dem jeweiligen Vertrag fließenden Pflichten entsprochen werden kann. 45 Hiervon Abweichendes kann aber in dem Vertrag selbst vorgesehen werden. Denn die völkerrechtliche Vertragsfreiheit erlaubt es den Staaten nicht nur, durch Vertrag neue Pflichten zu begründen; ebenso ist es in das Ermessen der Staaten gestellt, durch Vertrag die innerstaatliche Implementierung solcher Pflichten bestimmten Regelungen zu unterwerfen. 46 Bezogen auf die Konvention wird nun von manchen Stimmen aus der Lehre behauptet, Art. 1 und 13 der EMRK könne eine Pflicht zur Inkorporierung entnommen werden. 47 Die Konvention schaffe nicht nur für die beteiligten Staaten 42 Gemeint ist die von Lord Wade vorgelegte Bill of Rights (siehe Einführung, Anm. 13); siehe Wade, A Bill of Rights for the UK, in: Parliamentarian 61 (1980), S. 65 ff. (68 f.); ebenso aber auch z. B. der Vorschlag des Menschenrechtsausschusses der Labour Party, Charter of Human Rights, S. 7. 43 Zum Beispiel Si/kin, The Rights of Man and the Rule of Law, in: Northern Ireland Legal Q. 28 (1977), S. 3 ff. (12 f.). Ähnlich Black (Anm. 1), S. 178 f.; Carson, Towards a Rights Guarantee for Britain, in: N. Y. Law Forum 16 (1970), S. 605 ff. (612 f.). 44 Für eine Auflistung der Literatur hierzu bis 1983, siehe Ros, Unmittelbare Anwendbarkeit der EMRK, S. 57 f. Anm. 4. Siehe ferner Geisseler, Reformbestrebungen, S. 86 ff. 45 Menzeillpsen, Völkerrecht, S. 57; Srensen, Die Verpflichtungen eines Staates im Bereich seiner nationalen Rechtsordnung auf Grund eines Staatsvertrages, in: 2. Int. Kolloquium über die EMRK, S. 15 ff. (21). 46 Srensen (Anm. 45), S. 21 ff.; Verdross, Die Stellung der EMRK im Stufenbau der Rechtsordnung, in: 2. Int. Kolloquium über die EMRK, S. 45 ff. (48). 47 Vor allem Golsong ist wiederholt mit dieser Ansicht hervorgetreten, siehe Golsong , Die EMRK, in: JöRNF 10 (1961), S. 123 ff. (129); ders., Irnplementation ofInternational Protection of Human Rights, in: RdC 110 (1963 ill), S. 1 ff. (138); ders., European Convention before Domestic Courts, in: BYBIL 38 (1962), S. 445 ff.; ders., L'effet direct, ainsi que le rang en droit interne des normes de la Convention europeenne des droits de l'homme, in: Les recours des individues devant les instances nationales en cas de violation du droit europeen, S. 59 ff. (65 und 77); siehe ferner Buergenthal, Der Rang der EMRK in der innerstaatlichen Rechtsordnung, in: J. intern'l Juristen-Kommission 7 (1966), S. 61 ff. (107); Black (Anm. 1), S. 178.

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Rechte und Pflichten. Art. 1 mache ausdrücklich auch die Individuen zu Adressaten der nachfolgend aufgeführten Rechte; das aber verlange notwendigerweise, die Konvention zu innerstaatlichem Recht zu machen, weil andernfalls die Individuen keine Möglichkeiten hätten, sich ihrem Staat gegenüber auf diese Rechte auch zu berufen. Gleiches sei aus Art. 13 zu folgern. Denn "eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz" im Falle der Verletzung einer der in der "Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten" könne es nur dann geben, wenn bei dieser Gelegenheit die EMRK als materielle Entscheidungsgrundlage, d. h. als innerstaatlich geltendes Recht, zur Verfügung stehe. Diese Begründungen machen zunächst einmal deutlich, daß keiner Bestimmung der EMRK eine ausdrückliche Inkorporierungspflicht entnommen werden kann. 48 Das muß festgehalten werden, denn schließlich stand der Aufnahme einer entsprechenden Vorschrift nichts im Wege, hätten die Vertragspartner eine Pflicht zur Übernahme der Konvention in ihr innerstaatliches Recht wirklich gewollt. Immerhin hätte eine solche Pflicht recht weitreichende verfassungsrechtliche Folgen (ganz besonders für das Vereinigte Königreich) und hätte es daher unbedingt verdient, mit unmißverständlicher Deutlichkeit in den Konventionstext aufgenommen zu werde. Das Fehlen einer solchen ausdrücklichen Regelung spricht unter diesen Umständen daher gegen eine solche Pflicht. Was ist aber nun von den aus den Art. 1 und 13 EMRK gezogenen Schlüssen zu halten? Richtig ist, daß mit Art. 1 EMRK das Individuum zum Berechtigten, nicht nur Begünstigten der durch die Konvention definierten Rechte gemacht wurde. Dies ist das eigentlich Neue der Konvention, welche eben nicht nur Staatenverpflichtungen und als Korrelat dessen, Staatenrechte, begründete, sondern vor allem dem einzelnen Bürger unmittelbar wirkende Rechte zuweisen wollte. 49 Weiter wird durch den Wortlaut des Art. 1 EMRK klargestellt, daß die Grundrechte self-executing sein sollen, zu ihrer Anwendbarkeit somit keinerlei konkretisierender Akte der Staaten bedürfen. 50 Es sind diese beiden Regelungen, welche vor allem veraniaßt haben, daß die Konvention allgemein als wichtiger Markstein auf dem Weg zur Einräumung einer (partiellen) Völkerrechtssubjektivität des Menschen gewürdigt wird. 51 So auch ausdrücklich Ros, Unmittelbare Anwendbarkeit der EMRK, S. 57. Dahm, Völkerrecht I, S. 432; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht I/l, S. 94; Partseh, Rechte und Freiheiten der EMRK, S. 32 ff. Siehe ferner die Stellungnahme des Hauptdelegierten der Menschenrechtskommission im Nordirland-Fall, Sero B: Pleadings, Oral Arguments & Documents Bd. 23-III, S. 308 ff. (1), sowie den Bericht der Kommission in der gleichen Sache, Sero B: Pleadings, Oral Arguments & Documents Bd. 23I, S. 8 ff. (491). Etwas zurückhaltender dagegen Walter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 23 ff., bes. 29, 37 f. 50 Ros, Unmittelbare Anwendbarkeit der EMRK, S. 4 f.; Golsong: in JöR (Anm. 47), S. 128 und bes. 131, Anm. 41 mit einer umfassenden Auflistung der deutschen Rechtsprechung hierzu; Fawcett, Application of the European Convention, S. 5 meint dagegen, jede Vorschrift der EMRK müsse in Hinsicht darauf, ob sie selfexecuting sei, gesondert geprüft werden. 48

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Allerdings erschöpft sich der Gehalt von Art. 1 EMRK keineswegs mit diesen beiden Aussagen. Denn die Erfüllung der den Staaten gegenüber dem Individuum damit aufgegebenen Pflichten bringt notwendig die innerstaatliche Rechtsordnung ins Spiel: nur wenn diese den in der EMRK definierten Grundrechten entspricht, hat sich der Staat seiner Verpflichtung entledigt. 52 Anderes wäre nur denkbar, wenn die in Abschnitt I definierten Grundrechte bereits mit dem völkerrechtlichen Inkrafttreten der EMRK unmittelbar auch als innerstaatliche Rechte dem Individuum zuwachsen würden, also ohne daß es überhaupt irgendeines weiteren Tätigwerden auf der Ebene des innerstaatlichen Rechts bedürfte; damit würde die Trennung zwischen völkerrechtlichem Inkrafttreten und innerstaatlichem Inkraftsetzen aufgegeben. Prämisse einer solchen Konstruktion, die weit über die bloße Gewährung einer völkerrechtssubjektiven Stellung des Individuums hinausgehen würde, ist im Sinne des Streites über das Verhältnis von Landesrecht zu Völkerrecht der strenge Monismus. Unabhängig davon, wie man sich allgemein zur Vertretbarkeit des Monismus stellt, geht die EMRK offenbar von einem anderen Verständnis aus, wie etwa Art. 57 EMRK belegt, der klar die Notwendigkeit staatlicher Umsetzungsmaßnahmen voraussetzt. 53 Damit ist der Kern des Problems erreicht. Denn hier stellt sich nun die Frage, ob die durch Art. 1 geforderte Umsetzung ausschließlich durch Inkorporierung der EMRK erfolgen darf, weil jede andere sprachliche Beschreibung der Konventionsrechte notwendig Abweichungen zur Folge hätte. Richtig ist, daß der mit den Grundrechten der EMRK markierte und staatlicherseits zu achtende Freiheitsraum kompromißlos und ohne den geringsten Abzug zu geWährleisten ist. 54 Hieraus folgt aber keinesfalls, daß dieser einheitlich anzustrebende Rechtszustand nur einer einzigen sprachlichen Umschreibung zugänglich ist. Es ist geradezu ein Axiom der Rechtswissenschaft, daß jeder sprachliche Ausdruck, mag er auf den ersten Blick noch so klar scheinen, bei näherer Betrachtung Vieldeutigkeiten offenbart. Umgekehrt gilt, daß auch an sich verschiedene begriffliche Bezeichnungen im gleichen Sinne ausgelegt werden können. Für die EMRK als einen völkerrechtlichen Vertrag trifft diese Erkenntnis noch in beson51 Siehe nur Verdross / Simma, Völkerrecht, § 425, die allerdings auch meinen (a. a. 0., § 424), daß von einer "völkerrechtlichen Berechtigung von Individuen im eigentlichen Sinne" nur dann gesprochen werden dürfe, wenn "von einem Staat in einem völkerrechtlichen Verfahren ein bestimmtes Verhalten" gefordert werden könne; hier werden also vor allem die völkerrechtlichen, im Gegensatz zu den innerstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeiten betont. Dem ist entgegenzuhalten, daß auch das zwischenstaatliche Völkerrecht für weite Bereiche keinerlei Rechtsfeststellungs- und/ oder Durchsetzungsinstanzen kennt. Im übrigen sind Verdross / Simma der Meinung, daß das von der Konvention geschaffene Rechtsschutzsystem den von ihnen genannten Bedingungen entspricht (a. a. 0., § 425); in der Sache ergibt sich daher kein anderes Ergebnis. 52 Fawcett, Application of the European Convention, S. 3. 53 Siehe hierzu die sorgfältige Analyse bei Walter, Europäische Menschenrechtsordnung, S. 16 ff. bes. 21 ff. und Go/song, in: Recours des individues (Anrn. 47), S. 61 ff. 54 Insoweit ist Ress (Anrn. 22), S. 233 f. unbedingt zuzustimmen.

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derem Maße zu; verbindlich für dessen Auslegung sind nämlich nur die französische und englische Fassung seines Textes. 55 Man wird aber kaum von einem Vertrags staat erwarten können, einen Vertrag ohne vorherige Übersetzung in seine Landessprache in das nationale Recht zu übernehmen. Hier müssen sich notwendig weitere Abweichungen einstellen. 56 Und schließlich gilt es auch dem Art. 60 EMRK gebührend Rechnung zu tragen. Dieser Vorschrift ist zu entnehmen, daß die EMRK nur als Mindeststandard verstanden werden darf. ~7 Die Staaten bleiben also aufgefordert, ihren Bürgern über die EMRK hinausreichende Freiheiten einzuräumen. Auch dies impliziert notwendig eine vom Wortlaut der EMRK abweichende sprachliche Umschreibung des jeweils gewährleisteten Freiheitsraums. All dies macht unabweislich deutlich, daß selbst bei Inkorporierung der EMRK eine sprachlich getreue Umsetzung nicht erreichbar ist. Entscheidend ist allein das tatsächliche Ausmaß der positiv 58 gewährleisteten Freiheiten, gleich mit welchen Worten und welchen normtechnischen Mitteln diese vermittelt werden. 59 Daß demgegenüber der Versuch, dem Art. I allein durch das formale Mittel der Inkorporation gerecht zu werden, für die Zwecke der EMRK unzureichend ist, sondern es ständiger und fortlaufender Bemühungen um Ausrichtung allen staatlichen Tuns an den Maßstäben der Konvention bedarf,60 zeigt auch eine andere zu Recht und wiederholt schon angebrachte Überlegung. Denn die Übernahme der Konvention in innerstaatliches Recht würde ja keineswegs sicherstellen, daß die EMRK nicht durch späteres Recht derogiert würde. Ihr müßte daher nicht nur Gesetzesrang, sondern der Status formellen Verfassungsrechts, ja sogar Überverfassungsrang eingeräumt werden. 61 I 62 Eine solche, zum Beispiel für das Siehe den Schlußsatz der EMRK. Und z~ar sogar dann, wenn mehrere Länder in ein und dieselbe Sprache übersetzen; siehe eine Ubersicht über die verschiedenen Abweichungen in den Ubersetzungen der drei deutschsprachigen Vertragsstaaten in: Miehsler I Petzold, EMRK I, EMRK. 57 Dazu Partsch, Rechte und Freiheiten der EMRK, S. 34 ff. 58 Zu dem Streit, ob die EMRK positive Gewährleistungen der Grundrechte verlangt oder aber das (negative) Unterlassen von grundrechtsverletzenden Gesetzen genügen läßt, siehe unten Anm. 80. 59 Im Sinne dieser Unterscheidung von "Substanz und Form" äußert sich auch Srensen (Anm. 45), S. 24; ähnlich Jaconelli, Bill ofRights, S. 258 und ders., European Convention - Text of a British Bill of Rights? in: PL 1976, S. 226 ff. (235). 60 So auch Verdross I Simma, Völkerrecht, § 425. 61 Ros, Unmittelbare Anwendbarkeit der EMRK, S. 58. Eine solche Forderung wird von einigen Stimmen in der Literatur konsequenterweise tatsächlich erhoben, siehe etwa Verdross (Anm. 46), S. 51; Pinto, Konsequenzen der gleichzeitigen Anwendung der EMRK im innerstaatlichen Recht und Völkerrecht, in: 2. Int. Kolloquium zur EMRK, S. 245 ff. (245); Golsong, in: Recours des individues (Anm. 47), S. 77. 62 Zu dem Problem, inwiefern Art. 13 EMRK auch ein Recht zur Überprüfung von Gesetzen (in der Art der bundesdeutschen Verfassungsbeschwerde etwa) und nicht nur von Verwaltungsakten u. ä. verlangt, eine Frage, die eng mit dem von der Konvention im innerstaatlichen Recht einzunehmenden normtechnischen Rang verknüpft ist, siehe Bleckmann, Grundrechtslehren, S. 23. 55

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Vereinigte Königreich in ihren Folgen wahrlich dramatische Verpflichtung der EMRK entnehmen zu wollen, die auf interpretatorisch derartig schwachen Füßen steht, hieße aber endgültig den Bereich desjenigen zu verlassen, was erlaubterweise als allein durch Implikation begründete Pflicht aus einem völkerrechtlichen Vertrag herausgelesen werden darf. Etwas anderes kann auch nicht Art. 13 EMRK entnommen werden. Diese Norm besagt zunächst nichts weiter, als daß der Bürger Anspruch auf ein bestimmtes Maß an Gerichts- oder gerichtsähnlichem Schutz hat: die Einhaltung der von der EMRK beschriebenen Grundrechte sollen auch innerstaatlich kontrolliert werden können. 63 Um diesem Gebot Rechnung zu tragen, reicht es offensichtlich nicht aus, lediglich bestimmte Kontrollmaßnahmen zu errichten. Es liegt auf der Hand, daß auch die perfektesten Vorkehrungen zur institutionellen Überwachung von Grundrechten wenig nützen, wenn die dabei angewandten materiellen Grundrechte selbst unzureichend sind. Deswegen sieht Art. 13 nicht nur ein Kontrollverfahren vor, sondern verlangt ausdrücklich, daß dort auf der Grundlage der in "der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten" entschieden werden muß. Ein Überwachungssystem, welches nur solche Rechte kontrollieren dürfte, die gegenüber denen der Konvention defizitär wären, würde somit Art. 13 EMRK auch dann nicht erfüllen, wenn dieses System die aus dieser Vorschrift fließenden Bedingungen in Hinsicht auf die notwendige institutionelle Ausgestaltung erfüllen sollte. Insofern also ist der von den Vertretern einer Inkorporationspflicht behauptete Zusammenhang zwischen dem institutionellen Grundrechtsschutz und dem dort anzuwendenden materiellen Recht zu bestätigen. Was nun aber die für dieses materielle Recht zu wählende sprachliche Umschreibung betrifft, ist man wieder bei dem schon eben behandelten Punkt angelangt, ohne daß sich irgendwelche gegenüber Art. 1 neuen Gesichtspunkte zeigen. 64 Insbesondere geht die Behauptung fehl, daß Art. 13 EMRK, würde man ihm keine Inkorporierungspflicht entnehmen, ohne Funktion wäre. 65 Zwar wären die Staaten auch ohne diese Vorschrift gehalten, die Konventionsrechte innerstaatlich zu gewährleisten, ein selbständiger Anspruch auf eine innerstaatliche Kontrolle dieser Rechte ergibt sich jedoch erst und allein aus Art. 13. Weiter schiene es außerdem ausgesprochen unsystematisch, Art. 13 eine Pflicht zur Inkorporation zu entnehmen. Denn damit würde anders als in sämtlichen anderen Vorschriften 63 Klar ist, daß der in Art. 13 eingeräumte Rechtsschutz nicht erst und nur in solchen Fällen einsetzt, wo es zu einer Verletzung der materiellen Grundrechte tatsächlich gekommen ist, ausreichend ist vielmehr, daß behauptet wird, eine solche Verletzung habe stattgefunden. 64 Allerdings ist die Vorschrift des Art. 13 insofern innerhalb des Abschnitts I der Konvention atypisch, als sie - anders als die sonst dort genannten Grundrechte nicht ohne besondere staatliche Implementierungsmaßnahrnen anwendbar ist, denn die "Instanz", die über die Beschwerden entscheiden soll, muß durch staatliches Recht geschaffen werden; siehe Partseh, Rechte und Freiheiten der EMRK, S. 40 f. 65 So aber Buergenthal (Anm. 47), S. 107, Anm. 205 und ähnlich Golsong, in: JöR (Anm. 47), S. 129.

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des Abschnitts I (betitelt: ,,Menschenrechte und Grundfreiheiten") kein Grundrecht im eigentlichen Sinne begründet, sondern vielmehr eine den Status der Konvention als Ganzes bestimmende Regelung getroffen; 66 dergleichen hätte in den Art. 1 der Konvention gehört. Schließlich ist auch der etwas abseits stehenden Regelung des Art. 57 EMRK zu entnehmen, daß die EMRK offenbar von mehr als nur einem Weg zu ihrer innerstaatlichen Implementierung ausgeht. Auch dies ist ein deutliches Zeichen gegen eine Inkorporierungspflicht,67 welche, würde sie bestehen, den Staaten jede Freiheit in der Wabl ihrer Mittel genommen hätte. 68 Die Auslegung der Konvention gemäß Art. 31 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK)69 kann somit keinerlei Hinweise für eine Inkorporierungspflicht zu Tage fördern. Aber auch bei Hinzuziehung der in Art. lAbs. 3 WVK genannten Materialien ergeben sich ausschließlich Indizien gegen, nicht für eine Pflicht zur Übernahme der Konvention. Wichtig ist hier vor allem die Staatenpraxis. Nicht nur das Vereinigte Königreich, sondern ebenso Dänemark, Irland, Island, Malta, Norwegen und Schweden, d. h. also sieben der 22 Vertragsstaaten der Konvention haben diese 70 nicht in ihr nationales Recht übernommen. Dies zeigt, daß die Staaten offenbar nicht von einer entsprechenden Pflicht ausgehen, zumal bislang keinerlei staatlicherseits vorgebrachte Einwände oder Proteste wegen des Ausbleibens dieses Schrittes bekannt geworden sind. Der Gerichtshof hat sich in zwei Entscheidungen zur Frage der Inkorporierung geäußert. In der Sache Swedish Engine Drivers' Union hatte der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 13 EMRK mit der Behauptung gerügt, diese Vorschrift verpflichte die Staaten zur Übernahme der Konvention in ihr nationales Recht, was imm Königreich Schweden bislang unterblieben sei. 71 Sowohl Kom66 Diese Feststellung gilt nicht für das in Art. 13 niedergelegte Recht auf ein bestimmtes Kontrollverfahren (siehe Jacobs, European Convention, S. 215), das als echtes, einen subjektiven Anspruch begründendes Grundrecht ausgestaltet ist. 67 So auch Partsch, Rechte und Freiheiten der EMRK, S. 43. - Bisher hat es drei Anfragen des General-Sekretärs gemäß Art. 57 gegeben, siehe die Dokumente des Europarates Doc. H (67) 2 vom 10.1.1967 (siehe dazu auch Council of Europe, Consultative Assembly, Documents [19th sess.], Doc. 2328 und Council of Europe, Consultative Assembly, Official Reports [19th sess.], 1968 Bd. m, S. 827 f. mit der dazu ergangenen Resolution 362), Doc. H (72) 2 vom 17.2.1972 und Doc. H (76) 15 vom 15.10.1976 jeweils mit einer Zusammenfassung der eingegangenen Staatenberichte. 68 Interessante Hinweise für die Auslegung von Art. 13 EMRK ergeben sich bei einer Analyse der weitgehend wortgleichen Vorschrift des Art. 2 Abs. 3 lit. a) des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte (BGBL 1976 II, S. 1534); dazu siehe unten Anrn. 241 ff. und dazugehörenden Text. 69 Auch der EuGHMR hat, unabhängig davon, ob und für welche der Unterzeichnerstaaten die WVK als Vertrag in Kraft getreten ist, diese ohne Bedenken für die Bestimmung der bei der Konvention zu beobachtenden Auslegungsmethoden herangezogen; siehe die Entscheidung des Gerichtshofes in der Sache Golder, Sero A: Judgments & Decisions Bd. 18, S. 5 ff. (35 f.). 70 Stand: April 1989. 71 Siehe den Bericht der Kommission vom 27.5.1974 in Sero B: Pleadings, Oral Arguments & Documents Bd. 18, S. 8 ff. (53 f.) zu den Ansichten des Beschwerdeführers und Schwedens.

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mission 72 als auch Gerichtshof?3 wiesen diese Ansicht zurück, letzterer mit der lakonischen Feststellung, daß neither Article 13 nor the Convention in general lays down for the Contracting States any given manner for ensuring within their intemallaw the effective implementation of any of the provisions of the Convention. 74 Nach dieser völlig eindeutigen Stellungnahme des Gerichtshofes scheint ein weiteres Festhalten an der Inkorporierungspflicht kaum noch möglich. Neue Hoffnung schöpften dessen Verfechter allerdings aus der Entscheidung des Gerichtshofes in der Sache Irland v. United Kingdom 75 • Hier ging es indes genau genommen um eine etwas andere Frage. Der beschwerdeführende Staat, Irland, hatte vorgetragen,76 daß eine Verletzung von Art. 1 EMRK auch unabhängig vom Vorliegen (oder Nichtvorliegen) eines Eingriffs der in Teil I der EMRK genannten Grundfreiheiten möglich sei. Art. 1 verpflichte die Staaten, positive Maßnahme zur Implementierung der Konvention zu unternehmen; blieben diese aus, so sei dies auch dann konventionswidrig, wenn eine konkrete Verletzung der Grundrechte noch nicht ausgemacht werden könne, also keine im Sinne von Art. 25 EMRK beschwerte Person erkennbar sei. 77 Irland meinte also keinesfalls, daß dem Konventionstext als solchem innerstaatliche Rechtskraft verliehen werden müsse, 78 sondern rügte vielmehr das Fehlen überhaupt jeder Umsetzungsmaßnahme. Die Kommission konnte sich im übrigen der Ansicht Irlands nicht anschließen. Sie stellte fest, daß Art. 1 den Staaten keine zu den in Teil I der EMRK hinzutretenden Pflichten auferlege,79 eine Ansicht, die man so nicht unbedingt teilen muß80. Die Kommission führte weiter aus: a. a. 0., § 98 ohne nähere Begründung. 73 Urteil vom 6.2.1976; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 20, S. 4 ff. (49 f.); das Urteil erging einstimmig. 74 a. a. 0., § 50. Auf eine Analyse der mit dieser Frage in der Literatur und anderswo aufgeworfenen Probleme wurde allerdings auch in dem Urteil bedauerlicherweise verzichtet. 75 Urteil vom 18.1.1978; Ser. A: Judgments & Decisions Bd. 25, S. 5 ff. Näheres zu diesem Urteil im übrigen, siehe § 13 Ziffer 2. 76 Siehe das Memorial Irlands, in: Sero B: Pleadings, Oral Arguments & Documents Bd. 23-II, S. 17 ff. (Teil I, S. 21 ff.). 77 a. a. 0., S. 23 lit. j. (i). 78 Das wäre auch kaum möglich gewesen, denn Irland hat selber bisher von einer Inkorporierung der Konvention abgesehen, siehe dazu die Bemerkungen in dem Memorial des Vereinigten Königreichs, in: Sero B: Pleadings, Oral Arguments & Documents Bd. 23-11, S. l00ff. (§ 1.47). 79 Siehe den Bericht der Kommission vom 25.1.1976, Ser. B: Pleadings, Oral Arguments & Documents Bd. 23-1, S. 8 ff. (491 ff.): "This means that Article 1 ... can only be invoked together with, and in relation to, other Articles ... Article 1, even in conjunction with other Articles, should not be seen as a provision which can be the subject of aseparate breach." (S. 491). 80 Siehe die insoweit abweichende separate opinion der Kommissionsmitglieder Sperduti und Opsahl, Sero B: Pleadings, Oral Arguments & Documents Bd. 23-1, S. 503 ff. sowie die separate opinions von Ermacora, S. 505 f. und von Mangan, S. 507 f. Richter 72

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2. Kap.: Das internationale Recht [by Art. 1] the High Contracting Parties made it c1ear that this treaty by its ratification creates rights of individuals under international law. These rights are protected by the organs of the Convention. Of course, states may also secure human rights by incorporating the Convention into their domestic law. (Hervorhebung durch Verf.) 81

Deutlich wird hier bestätigt, daß es Art. 1 um die völkerrechtliche, nicht um die innerstaatliche Absicherung der Grundrechte zu tun ist. Aus dieser Sicht stellt sich die Inkorporierung der EMRK nur als ein mögliches, aber keineswegs zwingend gebotenes Mittel zur innerstaatlichen Implementierung dar. 82 Bedauerlicherweise ist die Stellungnahme des Gerichtshofes weniger klar ausgefallen. In der entscheidenen Passage seines Urteils heißt es: ... the drafters of the Convention also intended to make it c1ear that the rights and freedoms set out in Section 1 would be directly secured to anyone within the jurisdiction of the Contracting States ... That intention fmds a particularily faithful reflection in those instances where the Convention has been incorporated into domestic law ... 83 Hier fehlt allerdings ein Hinweis auf die den Parteien zustehende Mittelfreiheit bei der Implementierung der EMRK; in der Tat läßt sich dem letzten Satz der zitierten Passage durchaus entnehmen, daß der Gerichtshof die Inkorporierung favorisiert. Festzuhalten ist demgegenüber, daß auch das Gericht keine Inkorporierungspflicht behauptet hat, andernfalls hätte das Vereinigte Königreich auch

O'Donoghue schloß sich deren Auffassung an, Sero A: Judgments & Decisions Bd. 25, S. 102 ff. (l09). Bei diesem Streit geht es zunächst um die Frage, ob ein Gesetz auch in abstracto durch die Straßburger Organe geprüft werden dürfe; der Gerichtshof nahm zu dieser Frage eine vermittelnde Position ein, siehe Sero A: Judgments & Decisions Bd. 25, S. 5 ff (§ 240). Das ist allerdings nur der negative Aspekt des von Irland angeschnittenen Problems, nämlich ob ein die EMRK verletzendes Gesetz per se konventionswidrig sein kann, also unabhängig davon, ob eine Verletzung in concreto schon eingetreten ist. Den verschiedenen separate opinions ging es jedoch vor allem um die aus Art. 1 fließenden positiven Pflichten, also darum, ob über die bloße Unterlassung konventionswidriger Gesetze hinaus die Staaten gehalten sind, durch Gesetz die Grundrechte der Konvention auch innerstaatlich als subjektive Rechte zu begründen, weil es sonst nichts gäbe, auf dessen Grundlage die nach dieser Vorschrift einzurichtende Kontrollinstanz entscheiden könnte. Wegen Art. 13 EMRK ist dies zu bejahen. 81 Sero B: Pleadings, Oral Arguments & Documents Bd. 23-1, S. 8 ff. (491). 82 Siehe in ähnlichem Sinne das Memorial des Vereinigten Königreichs, in: Sero B: Pleadings, Oral Arguments & Documents Bd. 23-11, S. 100 ff. (§ 1.47) und vor allem das Memoire final du delegue principal de la Commission sur I' artic1e I de la Convention, in: Sero B: Pleadings, Oral Arguments & Documents Bd. 23-ill, S. 308 ff.: "Certes, celle-ci [la Convention] n'oblige pas formellement les Etats Parties a l'integrer dans leurs ordres juridiques internes . . . Les Etats sont, en principe, libres de choisir les moyens qui leur conviennent le mieux pour assurer la jouissance effective des droits et libertes reconnus dans la Convention." (a. a. 0., S. 310) Wichtig ist schließlich, daß auch die verschiedenen separate opinions (siehe Arlm. 81) in dieser Frage keine andere Ansicht vertraten, siehe etwa die separate opinion von Sperduti / Opsahl (Arlm. 81), S. 505: "The Convention does not formally oblige the States Parties to incorporate it in their domestic legal systems or give it any particular status in the hierarchy of their sources of law. The States are, in principle, free to choose the means which best suit them ... " 83 Sero A: Judgments & Decisions Bd. 25, S. 5 ff. (§ 239).

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aus diesem Grunde verurteilt werden müssen. Im übrigen zeigen auch die beiden als Belege angezogenen früheren Entscheidungen - u. a. der eben besprochene Swedish Engine Drivers' Union Fall-, 84 daß der Gerichtshof eine solche Pflicht nicht begründen wollte. 85 Von den Befürwortern einer Inkorporationspflicht wird gerne auch auf die travaux preparatoires der Konvention verwiesen. 86 Auf deren ins einzelne gehende Analyse soll hier verzichtet werden, nachdem mindestens zwei Untersuchungen 87 gezeigt haben, daß hier schon deswegen nichts zu holen ist, weil aller Wahrscheinlichkeit nach dieser Punkt bei den Verhandlungen gar nicht erörtert oder erwogen wurde 88. Im übrigen bleiben die in Art. 32 WVK genannten Voraussetzungen für die Heranziehung der historischen Auslegungsmethode nachzuweisen,89 was angesichts des oben Ausgeführten gänzlich hoffnungslos scheint. Es gibt allerdings noch einen weiteren Argumentationsstrang, welcher dem eben Gesagten zum Trotz geeignet sein könnte, eine Inkorporierungspflicht jedenfalls für die Zukunft zu begründen, und der deshalb abschließend gewürdigt werden soll. Zu Recht wird in der Literatur ebenso wie in der Rechtsprechung des EuGHMR die besondere Natur der Konvention betont. Aus ihrem Wesen als ein dem Menschenrechtsschutz dienender Vertrag folge, daß die Auslegung sich um ständige Fortentwicklung des niedergelegten Rechtsbestandes zu bemühen habe; neuere Auffassungen und veränderte Verhältnisse seien zu berücksichtigen, auch wenn dabei die jeweils vorgenommene Ausdeutung den ursprünglichen Willen der Vertragsparteien hinter sich lasse und über die klassischen Auslegungskriterien der Art. 31 f. WVK hinausgreife. Dieser Auffassung ist zu folgen. 90 Bedeutet dies aber, daß - wie durchaus schon behauptet _91 der Gerichts84 Der andere Fall war die Sache De Wilde I Ooms I Versyp (der sog. LandstreicherFall), Urteil vom 18.11.1970, Ser. A: Judgments & Decisions Bd. 12, S. 6 (82), der zu der hier interessierenden Frage allerdings nichts hergibt. - Seinen ablehnenden Standpunkt gegenüber einer Inkorporierungspflicht hat der Gerichtshof schließlich in der Sache Lithgow et al. (Urteil v. 22.5.1984), Ser. A: Judgments & Decisions Bd. 102, S. 5 ff. (205) erneut mit eindeutiger Klarheit bestätigt - und hier sogar mit Blick auf das Vereinigte Königreich. 85 Ros, Unmittelbare Anwendbarkeit der EMRK, S. 64 f. 86 Siehe etwa Golsong, in: JöR (Anm. 47), S. 129. 87 Ros, Unmittelbare Anwendbarkeit der EMRK, S. 59 ff. und Drzemczewski, European Convention in Domestic Law, S. 48 ff. 88 Siehe die in Anm. 88 zitierten FundsteIlen und Robertson, Advisory Opinions of the Court of Human Rights, in: FS Cassin, S. 225 ff. (238 f.). 89 Zu diesen Voraussetzungen siehe das Urteil des EuGHMR vom 1.7. 1961 in der Sache Lawless, Ser. A: Judgments & Decisions 1960-61, S. 27 ff. (52 f.): " ... having ascertained that the meaning of this text is in keeping with the purposes of the Convention, the Court cannot, having regard to a generally recognized principle regarding the interpretation of international treaties, resort to the preparatory work"; das entspricht genau der Regelung des späteren Art. 32 WVK. 90 Näheres hierzu siehe in § 12 Ziffer 3 b) und besonders Scheuner, Fortbildung von Grundrechten in internationalen Konventionen, in: FS Schlochauer, S. 899 ff. (901 ff. bes. 907 ff. und 926).

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hof in Fortentwicklung des Konventionstextes irgendwann in der Zukunft eine Inkorporierungspflicht feststellen darf? Gelten also die besonderen Auslegungsgrundsätze, welche als Ergebnis der suigeneris-Natur 92 der Konvention bei ihrer Auslegung zu beobachten sind, auch in diesem Punkt? Hier ist zwischen zweierlei Arten von Konventionsnormen zu unterscheiden. Zunächst einmal gibt es als Herzstück der Konvention die in Abschnitt I niedergelegten "Menschenrechte und Grundfreiheiten". Auf diese Bestimmungen finden die besonderen Auslegungsregeln kraft der diesen Normen beigelegten besonderen Qualität Anwendung. Von diesen Vorschriften sind aber jene sorgfaltig zu scheiden, die als Metanormen dem Abschnitt I überhaupt erst dessen besondere Qualität vermitteln und damit auch jene Eigenschaft, welche eine von den üblichen völkerrechtlichen Verträgen abweichende Auslegungstechnik allein rechtfertigt. Denn wie man etwa bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vorn 10.12.1948 klar erkennen kann, ist es nicht die Niederlegung bestimmter Menschenrechte an sich, welche diesen einen vom normalen völkerrechtlichen Vertrag abweichenden Status verleiht, sondern vielmehr der Wille der vertragsschließenden Staaten, wie er für die EMRK in Artikel 1 zum Ausdruck gekommen ist. 93 Diese Normen können selber aber nicht an diesem besonderem Status teilhaben, weil es insoweit an einer entsprechenden Anweisung der Vertragsparteien fehlt; sie dürfen mithin nur soweit ausgelegt werden, wie es ihr objektiver Erklärungswert in Verbindung mit den in Art. 31 f. WVK genannten Grundsätzen zuläßt. 94 Eine Fortentwicklung über dasjenige hinaus, was die Staaten selber zulassen, kann es hier daher nicht geben. Eine Inkorporierungspflicht ist aber - wie schon ausgeführt - kein Grundrecht, vielmehr würde sie der Gesamtheit der in Abschnitt I niedergeigten Grundrechte einen neuen Status verordnen, würde somit typologisch den in Art. 1 getroffenen Regelungen zuzuordnen sein. Damit verbietet sich die Schöpfung einer Inkorporierungspflicht auch im Zuge einer progressiven Rechtsfortbildung der Konvention. 95 91 So Bleckmann, Allg. Grundrechtslehren, S. 24, der allerdings merkwürdigerweise dem Art. 13 keine Inkorporierungspflicht entnehmen zu können glaubt (a. a. 0., S. 23). 92 So Drzemczewski, European Convention in Domestic Law, S. 22 ff. 93 Jacobs, European Convention, S. 9: "The whole of Section I ... does not in terms impose any obligations on States ... 1t is Article 1 which transforms this declaration of the rights of the individual into a set of obligations for the States ..." Siehe auch Golsong, in: ]öR (Anm. 47), S. 127. 94 Mit Scheuner (Anm. 90), S. 905 ff. ließe sich vielleicht auch sagen, daß nur der Abschnitt I ,,rechtsetzenden" Charakter hat, Art. 1 dagegen diejenige Vorschrift ist, die (im Unterschied zur Präambel der Allgemeinen Erklärung der VN) dem Abschnitt I diese Funktion zuweist. 95 Unberührt hiervon bleibt freilich die Möglichkeit gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. (a) und (b) WVK. etwa durch Staatenpraxis eine solche Pflicht zu begründen; angesichts der verfassungspolitischen Gewichtigkeit dieses Vorgangs wird man allerdings hiervon frühestens wohl dann ausgehen können, wenn alle Staaten die EMRK in ihr Recht übernommen haben. Auf diese Weise wäre also nur die Rückgängigmachung der Inkorporierung zu verhindern.

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3. Das Vereinigte Königreich vor den Organen der EMRK: eine Bilanz a) Einige statistische Überlegungen Das Vereinigte Königreich hat verhältnismäßig spät, erst im Jahre 1966, das Verfahren nach Art. 25 EMRK zugelassen. Gleichwohl haben die gegen das Land gerichteten, bei der Europäischen Kommission eingereichten Einzelbeschwerden rasch eine erstaunlich hohe Zahl erreicht. Bis Ende 1989 waren 3.285 Beschwerden bei der Kommission anhängig gemacht worden, die sich gegen das Vereinigte Königreich wandten; 96 das sind 20,6% der seit 1955 insgesamt registrierten Beschwerden. 97 Ein aussagekräftiger Vergleich läßt sich aber eigentlich nur ziehen, wenn man als Bezugsgröße die erst seit 1966 der Kommission vorgelegten Beschwerden berücksichtigt, denn vor diesem Datum konnte es ja keine das Vereinigte Königreich betreffenden Einzelbeschwerden geben: dann ergibt sich für das Vereinigte Königreich ein Anteil von knapp 25 %. 98 Verglichen mit anderen Vertragstaaten der Konvention, welche die Erklärung nach Art. 25 EMRK abgegeben haben, bedeutet dies, daß sich nur gegen die Bundesrepublik Deutschland eine größere Zahl von Beschwerden richteten: nämlich in dem Zeitraum von 1966 bis 1989 insgesamt 3.458, was bezogen auf diese Zeitspanne einen Anteil von 26 % ergibt. 99 Diese beiden Staaten liegen damit bei einem Vergleich mit allen anderen Konventionsstaaten weit an der Spitze. Betrachtet man statt der Gesamtzahl der Beschwerden deren jährliche Verteilung, so zeigt sich allerdings, daß das Vereinigte Königreich nun schon seit Jahren regelmäßig die Bundesrepublik übertrifft, wie die folgende Tabelle jeweils mit den jährlichen Beschwerdeeingängen erhellt. Hier schlägt sich nieder, daß nach Eröffnung der Einzelbeschwerde einige Zeit verstrich, bevor die sich daraus ergebenden prozessualen Möglichkeiten im Vereinigten Königreich hinreichend bekannt wurden. Ferner ist zu bedenken, daß, im deutlichen Unterschied zur Bundesrepublik mit ihrer in der Verfassung verankerten Verfassungsbeschwerde, den britischen Juristen sowohl das Verfahren als auch das von den Straßburger Organen angewandte materielle Recht ausgesprochen fremd anmutet und ganz ohne Gegenstück in den eigenen Rechts96 Für eine Aufsch1üsse1ung der Beschwerden nach den Staaten, gegen die sie sich richten, siehe ECHR YB 18 (1975), S. 284; 21 (1978),595; 24 (1981), 421; 26 (1983), 190; sowie die jährlich herausgegebenen Übersichten des Council of Europe, European Commission of Human Rights, Survey of Activities and Statistics (im folgenden: Council of Europe, Statistics). In den im Text genannten Zahlen werden nur die registrierten Beschwerden erfaßt. 97 Insgesamt sind der Kommission von 1955 bis Ende 1989 15.911 Beschwerden zugegangen (siehe Council of Europe, Statistics 1989). 98 Bei 13.213 insgesamt von 1966 bis 1989 eingegangenen Beschwerden. 99 Siehe die in Anm. 97 genannten Quellen.

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1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

132 190 152 128 112 138 140 145 224

(32%) (32%) (30%) (21 %) (18%) (19%) (16%) (14%) (15%)

Bundesrepublik Deutschland 109 98 93 115 106 106 108 113 169

(26%) (16%) (18%) (20%) (17%) (15%) (12%) (11 %) (11 %)

(Die Prozentzahlen in Klammem beziehen sich auf die insgesamt im jeweiligen Jahr angefallenen Beschwerden.)

traditionen ist. Andererseits ist es gerade dieser Umstand, der die Aussicht, mit einer Beschwerde gegen das Vereinigte Königreich in Straßburg erfolgreich zu sein, erhöht: anders als in der Bundesrepublik müssen britische Beschwerdeführer nicht zuvor den Filter der Verfassungsbeschwerde oder eines ähnlichen nationalen Rechtsschutzmittels passieren. Bestätigt wird diese Einschätzung, betrachtet man die Zahl der von der Kommission für zulässig erklärten (im Gegensatz zu den nur registrierten) Beschwerden, in dem Zeitraum von Anfang 1966 bis Ende 1989 insgesamt 632. 100 Hiervon betrafen 51 die Bundesrepublik (10%) und 201 das Vereinigte Königreich (41 %).101 Die Wahrscheinlichkeit, daß eine britische Beschwerde auch angenommen wird, ist also um ein Mehrfaches höher als bei einer deutschen Beschwerde. 102 Die gleiche Tendenz, wiederum verstärkt, setzt sich fort bei den Entscheidungen von EuGHMR und Ministerkomitee. Bis Ende Februar 1990 sind vom Gerichtshof 30 Urteile gefallt worden, die sich gegen das Vereinigte Königreich richteten; 103 100 a. a. O. Maßgeblich ist hier das Datum der Entscheidung der Kommission über die Zulässigkeit der Beschwerde. 101 Zu entnehmen der Aufstellung in Miehsler / Petzold, EMRK II, Stat 6 (mit einer Übersicht bis Ende 1981) sowie für die späteren Jahre, Council of Europe, Statistics 1984, 1985, 1986, 1987, 1989. 102 Die oben genannten Zahlen betreffend die registrierten Beschwerden lassen sich streng genommen nicht in Beziehung setzen zur Zahl der auch für zulässig erklärten Beschwerden, weil hier jeweils verschiedene Tatbestände zur Bestimmung des maßgeblichen Zeitraums zu Grunde gelegt werden; bei ersteren entscheidet das Datum der Registrierung (Anm. 97), bei letzteren der Zeitpunkt der Entscheidung der Kommission (Anm. 101). Würde man bei der Erfassung der zugelassenen Beschwerden ebenfallls das Datum der Registrierung maßgeblich sein lassen, wäre deren Zahl somit etwas höher als hier angegeben. Sieht man hiervon einmal ab, ergibt sich, daß ca. 6,1 % der gegen das Vereinigte Königreich gerichteten Beschwerden auch angenommen wurden, aber nur 1,4% derjenigen, die die Bundesrepublik Deutschland betrafen. 103 Die Fälle (in chronologischer Reihenfolge) Golder , H andyside, Tyrer, Young /

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in 22 (73%) dieser Fälle lO4 erkannte der EuGHMR auf eine Verletzung von Konventionsrecht. Die Bundesrepublik hatte sich im gleichen Zeitraum in insgesamt 19 Fällen vor dem Gerichtshof zu verantworten; 105 eine Verletzung der Konvention wurde aber nur in 8 (42 %) Fällen 106 festgestellt. Dieser Schluß drängt sich ebenso auf bei einer Auswertung der Entscheidungen des Ministerkomitees gemäß Art. 32 EMRK. 107 Hier wurde bis Ende 1987 über 16 das Vereinigte Königreich betreffende Beschwerden befunden und in elf Fällen Verletzungen der Konvention festgestellt; 108 die Bundesrepublik war in elf seit 1955 (bis 1987) dem Ministerkomitee zugeleiteten Fällen der Beschwerdegegner; H19 auf eine Verletzung der Konvention wurde nur in einem einzigen Fall erkannt. 110 Auch hier gilt, daß das Vereinigte Königreich betreffende Beschwerden in den letzten Jahren zugenommen haben. Zu nennen bleiben schließlich noch die Staatenbeschwerden, deren es bisher insgesamt 11 gegeben hat,l11 davon vier gegen das Vereinigte Königreich, vier gegen die Türkei, zwei gegen Griechenland und eine gegen Italien. Allerdings betrafen die beiden ersten dieser Beschwerden, beide bereits in den Jahren 1956 und 1957 von Griechenland anhängig gemacht, Zypern, seinerzeit eine britische Kronkolonie, wo die Engländer sich im Zuge der Dekolonisierung einer höchst verwickelten politischen Situation gegenübersahen mit zwei einander heftig befehdenden Bevölkerungsgruppen (Griechen und Türken); zum Zustand des fames I Webster, Dudgeon,X., Campbell I Cosans, Silver et al., Malone, Campbell I Fell, Ashingdane, Abdulaziz et al., fames et al., Lithgow et al., Rees, Agosi, Gillow, Weeks, Monnell I Morris, 0., H., W., B., R., Boyle I Rice, Soering, Chappell, Powell I Rayner und Granger. Außer Betracht bleiben hier die Entscheidungen des EuGHMR gemäß Art. 50 EMRK. 104 Gewonnen wurden vom Vereinigten Königreich die Fälle Handyside, fames et al., Lithgow et al., Rees, Agosi, Monnell I Morris, Chappell und Powell I Rayner. 105 Dies gilt für den Zeitraum seit 1955, als die Bundesrepublik die Erklärung gemäß Art. 25 EMRK abgegeben hat (BGBl. 1955 II, S. 914). Es handelt sich um die Fälle Wemhoff, König, Klass, Luedicke I Belkacem I Koc, Buchholz, Eckle, Pakelli, Axen, Öztürk, Barthold, Deumeland, Glasenapp, Kosiek, Lutz, Englert, Nölkenbockhojf, Intern Verlag I Beermann, Bock und Colak. 106 Die Fälle König, Luedicke I Belkacem I Koc, Pakelli, Eckle, Öztürk, Barthold, Deumeland und Bock. 107 Siehe dazu die Resolutionen des Ministerkomitees jeweils abgedruckt im ECHR YB (bis 1984) und bei Miehslerl Petzold, EMRK 11, MinKtee/E Art. 32 (bis 1981), sowie die Zusammenfassungen der Entschließungen ab 1985 in den jährlichen Berichten zur Tätigkeit des Europarates bei Schajfarzik (für das Jahr 1985), in: GYIL 29 (1986), S.477 ff. (511 f.) und Pardo-LOpez (für das Jahr 1986), in: GYIL 31 (1988), S. 639 ff. 108 Eine Verletzung der Konvention wurde festgestellt in den Fällen Hilton, Kiss, Hamer, Draper, McVeigh I O'Neill I Evans, B., Orchin, C. I Medway I Ball, Zamir, Farrant et al. und Byrne et al.; ohne eine Verurteilung des Vereinigten Königreichs wurden die Fälle Patel et al., X., Caprino, Kaplan und Arrowsmith abgeschlossen. 109 Gewonnen hat die Bundesrepublik die Fälle Grandrath, Zeidler-Kornmann, fentysch, Graf Solikow, Levy, Hätti, Brüggemann I Scheuten, Haase, Krzycki und Preikhzas. 110 hn Fall Neubeck. 111 Council of Europe, Statistics 1989.

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Rechts im Vereinigten Königreichs selbst gibt all das wenig her. ll2 Beide Beschwerden erledigten sich politisch, nachdem eine Lösung des Zypern-Problems erreicht worden war (jedenfalls soweit es das Vereinigte Königreich anging). 113 Die beiden anderen Staatenbeschwerden sind von der Republik Irland eingereicht worden und betrafen Nordirland. Nur das erste dieser Verfahren wurde durch eine das Vereinigte Königreich verurteilende Entscheidung des Gerichtshofes zum Abschluß gebracht. 114 Das zweite Verfahren entstand aus einem zu der ersten Beschwerde eingereichten zusätzlichen Schriftsatz Irlands und wurde als Ergebnis von Zusagen des Vereinigten Königreichs wieder zurückgenommen. 115 Insgesamt zeigt diese Aufschlüsselung der einzelnen Staatenbeschwerden im Gegensatz zu deren zahlenmäßigen Anteil ein für das Vereinigte Königreich doch günstigeres Bild.

b) Die Auswirkungen der Verfahren vor den Organen der EMRK auf die britische Rechtsordnung aa) Die innerstaatlichen Rechtswirkungen der Entscheidungen der Konventionsorgane Es ist bereits gezeigt worden, daß allein die Nichtübernahme der EMRK in das britische Recht nicht hat hindern können, daß die Konvention auf verschiedenen Wegen von der Rechtsprechung aufgenommen wurde, wenn auch sicherlich mit insgesamt eher bescheidenen Wirkungen. Welche Einflüsse sind im übrigen von den Entscheidungen der Straßburger Organe ausgegangen? Zunächst ist festzuhalten, daß die EMRK für die durch ihre Organe getroffenen Entscheidungen keinerlei Vollstreckungsverfahren etwa nach dem Vorbild von Art. 187 und 192 des Vertrages über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft kennt. Art. 53 EMRK statuiert allerdings eine Pflicht der Staaten, sich nach einer ,,Entscheidung des Gerichtshofs zu richten." Ähnliches gilt für die Entscheidungen des Ministerkomitees in seiner Funktion als Rechtsschutzorgan gemäß Art. 32 112 Womit die Gewichtigkeit der damals von Griechenland erhobenen Vorwürfe (z. B. Folter u. ä.) nicht bagatellisiert werden soll; auch im übrigen erinnert in manchem die damalige Lage in verhängnisvoller Weisy an den heutigen Nordirland-Konflikt. Ein besonderes Problem ergab sich auch deswegen, weil das Vereinigte Königreich gemäß Art. 15 EMRK Zypern von der Anwendung der Konvention ausgenommen hatte (eine weitere Parallele zu Nordirland, siehe § 13 Ziffer 2); zum Inhalt der Beschwerden (no. 176/56 und 299/57) siehe die Zusammenfassungen in: ECHR YB 2 (1958-1959), S. 174 ff. und 178 ff, sowie die Entscheidungen der Kommission in: a. a. 0., S. 182 ff. und 186 ff. 113 Siehe die beiden dazu ergangenen Resolutionen des Ministerkomitees Res (59) 12, in: ECHR YB 2 (1958-1959), S. 186 und Res (59) 32, in: a. a. 0., S. 196. 114 Urteil vom 18.1.1978; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 25, S. 5 ff. Hierzu noch später, siehe § 13 Ziffer 2. 115 Siehe die Entscheidung der Kommission vom 1. 10. 1972, Collection of Decisions Bd. 41, S. 3 ff. (bes. 90 ff.).

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Abs. 4 EMRK. Immerhin überläßt die EMRK die Durchführung der sich aus den Entscheidungen dieser beiden Organe ergebenen Konsequenzen nicht völlig den Staaten, sondern sieht gemäß Art. 54 EMRK eine Überwachung durch den Ministerrat vor. Hierbei handelt es sich aber um völkerrechtliche Pflichten. Irgendwelche unmittelbaren Rechtswirkungen im innerbritischen Recht können Entscheidungen der Konventionsorgane daher nicht entfalten, 116 eine Schlußfolgerung, die mittlerweile - allerdings nur obiter - auch vom House of Lords gezogen worden ist 117. Wie man an diesem Schluß, unter zugegebenermaßen recht ungewöhnlichen Bedingungen, vorbeikommt, zeigt ein Urteil des Manx Court of Appeal 118. Das Gericht hatte im Wege einer Berufung zu prüfen, ob das Untergericht zu Recht eine Verurteilung zur Prügelstrafe ausgesprochen hatte, nachdem der EuGHMR in der Sache Tyrer 119 einige Jahre früher Prügelstrafen als Mittel der Strafjustiz für mit der Konvention unvereinbar erklärt hatte. Das entsprechende Gesetz der Isle of Man war gleichwohl nicht abgeändert worden. Mit Bezug auf Tyrer meinte das Berufungsgericht, daß zwar das fragliche Gesetz trotz der Entscheidung des EuGHMR weiterhin in Kraft und rechtens sei, der Richter bei seiner Anwendung gleichwohl im Rahmen des ihm bei der Strafzumessung zustehenden Ermessens nach Möglichkeit diejenige Rechtsfolge zu wählen habe, welche nicht im Widerspruch zur Konvention stehe, so wie diese durch den Gerichtshof interpretiert worden sei. Dieser Weg, der den Entscheidungen der Konventionsorgane auf einem etwas verschlungenen Pfad doch noch eine gewisse unmittelbare innerstaatliche Wirkung verschafft, ist allerdings bislang - soweit erkennbar - nur in diesem Fall beschritten worden. Das ist verständlich, denn möglich ist dieses Verfahren nur, wenn die jeweilige konventionswidrige Rechtsnorm dem Rechtsanwender (hier dem Richter) ein Ermessen einräumt, dessen Konkretisierung unter Ausschluß konventions widriger Ergebnisse möglich ist. Zudem ist - wie schon erläutert - bei dem derzeitigen Stand des common law zweifelhaft, inwieweit die EMRK zur Begrenzung von Ermessensentscheidungen überhaupt herangezogen werden darf. 116 Solche Wirkungen sind allerdings wohl auch gar nicht durch die EMRK beabsichtigt, also auch dann nicht, wenn die Konvention als innerstaatliches Recht gilt, siehe Ress (Anm. 22), S. 253 f. 117 Attorney General v. BBC (HL) [1980] 3 All ER 161, siehe besonders Lord Fraser 0/ Tullybelton auf S. 176 und Lord Scarman auf S. 177 f. Hier ging es um einem dem Sunday Times-Fall (siehe im nächsten Abschnitt bb)) entsprechenden Sachverhalt; in diesem Fall war allerdings vor allem unklar, ob das Organ, gegen das sich der vermeintliche contempt of court gerichtet haben soll, überhaupt als Gericht im Sinne der contempt of court-Regeln anzusehen sei. Das House of Lords verneinte dies, so daß es auf Sunday Times ohnehin nicht mehr ankam. 118 Urteil vom 6.10.1981 in der Sache O'Callaghan; die Entscheidung ist unveröffentlicht, aber in wesentlichen Teilen wiedergegeben in Drzemczewski, European Convention in Domestic Law, S. 321 f. und in Ress (Anm. 22), S. 265 f., Anm. 150a. 119 Urteil vom 25.5.1978; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 26, S. 4 ff; Einzelheiten dazu siehe § 12 Ziffer 3 b).

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bb) Die innerstaatliche Umsetzung der Entscheidungen der Konventionsorgane im Vereinigten Königreich Damit ist die Aufgabe, die Entscheidungen von Ministerkomitee und Gerichtshof umzusetzen, vor allem der Krone, aber auch dem Parlament zugewiesen. Für diese Zwecke sind die Entscheidungen, die eine Verletzung der Konvention feststellen, in zwei Gruppen zu teilen je nachdem, ob bereits das der angefochtenen staatlichen Maßnahme zu Grunde liegende Recht für mit der EMRK in Widerspruch stehend befunden wurde oder aber erst dessen Anwendung im konkreten mit der Beschwerde vorgelegten Fall. Zwar hat der EuGHMR festgestellt, über Gesetze in abstracto nur unter engen Voraussetzungen urteilen zu dürfen; 120 die vor dem Gericht zur Entscheidung gestellten Sachverhalte haben jedoch stets einen Einzelfall, nicht eine Rechtsnorm als solche zum Gegenstand. Ebenso wie bei der deutschen Verfassungsbeschwerde ist es aber auch vor dem EuGHMR im Rahmen der inzidenter vorzunehmenden Prüfungen unvermeidlich, gegebenenfalls auch die einschlägigen Teile der jeweiligen Rechtsvorschriften anband der EMRK zu prüfen. Andererseits ist es ebenso möglich, nur die konkrete Anwendung einer bestimmten nationalen Rechtsnorm - deren Ergebnis also - mit der EMRK für unvereinbar zu befinden. In diesem Fall wird die Verantwortung für den konventionswidrigen Zustand nicht bei der Legislative und den durch diese zu verantwortenden Gesetzen zu suchen sein. Infolgedessen wird auch die Abstellung dieses Zustandes sich im Regelfall nicht durch eine Änderung der einschlägigen gesetzlichen Grundlagen bewerkstelligen lassen, sondern kann durch Gewährung von Schadensersatz oder eine sonstige in den Pflichtenkreis der Exekutive fallende, nur auf den Einzelfall abstellende Maßnahme erledigt werden. Typische Fälle hierfür sind die vom Gerichtshof in verschiedenen Urteilen gerügte überlange Dauer von strafrechtlichen oder anderen Gerichtsverfahren. 121 Ein Staat hingegen, der eine Verurteilung des Gerichtshofes hinnehmen mußte, weil das den vorgelegten Einzelfall regierende Recht nicht mit der EMRK in Einklang steht, hat ebenfalls dem obsiegenden Beschwerdeführer gegenüber das erlittene Umecht, nach Maßgabe der Entscheidung, im Rahmen von Art. 50 EMRK durch Entschädigung wiedergutzumachen. Die mit dem konventionswidrigen Recht begründete Völkerrechtsverletzung allerdings kann er nur durch die Änderung dieses Rechts abstellen, 122 will er im übrigen nicht gewärtigen, bei dessen Aufrechterhaltung fortlaufend weitere Verurteilungen des Gerichtshofes entgegennehmen zu müs120 Siehe die Ausführungen in dem Nordirland-Urteil, siehe oben Text zu Anm. 75 ff. Zu dem Streit, inwiefern im Rahmen der zwischenstaatlich geschuldeten Verpflichtungen auch Rechtsnormen als solche - jedenfalls im Verfahren der Staatenbeschwerde geprüft werden dürfen, siehe Anm. 80. 121 So geschehen etwa in dem Urteil des EuGHMR vom 15.7.1982 in der Sache Eheleute Eckle, Sero A: Judgments & Decisions Bd. 51, S. 6 ff. 122 Ress (Anm. 22), S. 235 ff.

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sen. Damit haben diese Fälle, sofern der Staat die völkerrechtlich gebotene Konsequenz aus dem Urteil des Gerichtshofes zieht, eine der bundesverfassungsrechtlichen Normenkontrolle entsprechende Wirkung, sieht man davon ab, daß der EuGHMR keine Nichtigkeit feststellen oder unmittelbar herbeiführen kann. Es ist damit klar, daß Entscheidungen des EuGHMR, auch wenn sie eine Unvereinbarkeit von Rechtsnormen mit der Konvention in der Regel jedenfalls nicht ausdrücklich feststellen, diese Unvereinbarkeit aber in den Entscheidungsgründen als Voraussetzung einer Verurteilung darlegen, eine ungleich tiefere Wirkung in der jeweiligen nationalen Rechtsordnung hinterlassen als solche Urteile, die nur das Ergebnis einer Rechtsanwendung für mit der Konvention unvereinbar erklären. Bezogen auf das Vereinigte Königreich hat es Entscheidungen beiderlei Typs gegeben. Bei einer näheren Analyse zeigt sich allerdings, daß Entscheidungen, welche auch das einschlägige britische Recht verwerfen, weitaus in der Überzahl sind. 123 Wie denn auch nicht anders zu erwarten, sind in verschiedenen Bereichen auf Grund von Entscheidungen der Konventionsorgane (nicht nur von Gerichtshof und Ministerkomitee, sondern auch der Kommission) erhebliche Anpassungen an die Erfordernisse der Konvention vorgenommen worden. Ein ausgesprochen gutes Beispiel hierfür sind die britischen Vorschriften über den Strafvollzug, die ganz besonders häufig Gegenstand von Beschwerden bei der Kommission waren. Erstmals wurden die diesen Bereich regelnden Prison Rules geändert als Ergebnis des Urteils in der Sache Golder l24 • Bei dieser Gelegenheit erhielten Strafgefangene das Recht, jederzeit mit einem Rechtsanwalt in Verbindung zu treten, ohne daß es hierzu der Erlaubnis des Innenministers bedarf 125 .126 Mit der Befugnis der Gefängnisleitung, die Korrespondenz von 123 iones, British Bill of Rights, in: Parliamentary Affairs 43 (1990), S. 27 ff. (34), meint - allerdings ohne Angabe von Belegen -, insgesamt seien 80 britische Gesetze und Verordnungen als Ergebnis eines Verfahrens vor den Straßburger Instanzen geändert und angepaßt worden. 124 Urteil vom 21.2.1975; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 18, S. 5 ff.; siehe hierzu die Anmerkungen bei Pelloux, L'affaire Golder, in: AFDI 21 (1975), S. 330 ff. 125 Siehe hierzu die Resolution des Ministerkomitees vom 22.6.1976, Res (76) 35, abgedruckt in: Miehsler I Petzold, EMRK 11, MinKtee / E Art. 54, S. 28 ff. 126 Ähnliche Verletzungen wie in Golder wurden auch in der Sache Kiss (Beschwerde no. 6224/73, Entscheidung der Kommission vom 16.12.1976, Decisions & Reports Bd. 7, S. 55 ff.; der Bericht der Kommission in dieser Sache ist unveröffentlicht) und in der Sache Hilton (Beschwerde no. 5613/72, Entscheidung der Kommission vom 5.3.1976, Decisions & Reports Bd. 4, S. 177 ff.; auch hier ist der Bericht unveröffentlicht) vom Ministerkomitee festgestellt, siehe die Resolutionen vom 19.4.1978, DH (78) 3 (Kiss), in: ECHR YB 21 (1978), S. 642 ff. und vom 24.4.1979, DH (79) 3 (Hilton), in: ECHR YB 22 (1979), S. 442 ff. Auf Grund dieser beiden Entscheidungen waren daher weitere Änderungen der Prison Rules nicht notwendig, weil sie als Folge der GolderEntscheidung bereits erfolgt waren. Ein weiterer Fall mit wiederum demselben Sachverhalt war die Sache Knechtl (Beschwerde no. 4115/69, Einzelheiten dazu in: Council of Europe, Stock-Taking on the European Convention on Human Rights 1979, S. 36 f.), die durch Vergleich erledigt wurde.

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Strafgefangenen in verschiedener Fonn zu beschränken, zu kontrollieren und zu untersagen, hatte sich der Gerichtshof in den Fällen Si/ver et al. 127 und Campbell / Fell 128 auseinanderzusetzen. In beiden Entscheidungen wurden Verletzungen der Konvention festgestellt. Schließlich hatten auch die Entscheidungen des Ministerkomitees in den Fällen Hamer l29 und Draper l30 eine Änderung der Prison Rules zur Folge; 13l hier war es um das Recht gegangen, auch während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe im Gefängnis eine Eheschließung durchführen zu dürfen. Eine Reihe weiterer Entscheidungen bewirkten auch auf anderen Rechtsgebieten zum Teil recht weitgehende Anpassungen britischen Rechts. Am gewichtigsten vielleicht waren die Folgen des Urteils des EuGHMR in der Sache Sunday Times 132, das deswegen eingehender geschildert zu werden verdient. Der beschwerdeführenden Zeitung war durch den Divisional Court der Queen's Bench verboten worden, einen Artikel zu veröffentlichen, weil dieser nach Ansicht des Gerichts in ein laufendes Gerichtsverfahren eingegriffen hätte. 133 Gegenstand dieses Verfahrens war ein Rechtsstreit zwischen einem pharmazeutischen Unternehmen und einer Gruppe von Eltern, deren Kinder pränatale Schäden als Folge der Verabreichung eines von dem Unternehmen hergestellten Arzneimittels (Thalidomid) davongetragen hatten. Daraufhin waren Schadensersatzklagen der Eltern zwar bei Gericht anhängig, aber über Jahre nicht weiter vorangetrieben worden, dienten also lediglich dazu, während der zwischenzeitlich geführten Vergleichsverhandlungen auf das Unternehmen Druck auszuüben. Der Fall löste im Vereinigten Königreich lebhafte Diskussionen aus; das Unternehmen geriet wegen seiner als völlig unzulänglich empfundenen Vergleichsangebote in das Kreuzfeuer heftiger Kritik. In dem verbotenen Artikel wollte die Sunday Times diese Kritik unterstützen, um so das Unternehmen zu einem großzügigeren Vergleichsangebot bewegen zu helfen. Aus der Sicht deutschen Verwaltungs- und Verfassungsrechts scheint das Verbot eines Zeitungsartikels, eine Maßnahme, die tief in die Pressefreiheit hineingreift, kaum nachvollziehbar und unter den gegebenen Umständen überdies weder "erforderlich" noch "geeignet". Es entspricht aber seit jeher englischen Urteil vom 25.3.1983; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 61, S. 7 ff. Urteil vom 28.6.1984; Ser. A: Judgments & Decisions Bd. 80, S. 7 ff.; Näheres zu beiden Entscheidungen, siehe § 12 Ziffer 2. 129 Bericht der Kommission vom 13.12.1979, Decisions & Reports Bd. 24, S. 5 ff. und die Resolution des Ministerkomitees vom 2.4.1981, DH (81) 5, in: a. a. 0., S. 17 f. 130 Bericht der Kommission vom 10.7.1980, Decisions & Reports Bd. 24, S. 72 ff. und die Resolution des Ministerkomitees vom 2.4.1981, DH (81) 4, in: a. a. 0., S. 83 f. 131 Siehe die diesbezüglichen Angaben in den beiden Resolutionen des Ministerkomitees in den letzten beiden Anmerkungen. 132 Urteil vom 26.4.1979: Sero A: Judgments & Decisions Bd. 30, S. 5 ff. Für eine Zusammenfassung und Kommentierung dieser Entscheidung, siehe Bartseh, ,Contempt of Court' und die Grenzen der Pressefreiheit, in: EuGRZ 4 (1977), S. 464 ff. und Wong, The Sunday Times Case, in: J. Intern'l L. & Politics 17 (1984), S. 35 ff. 133 Siehe Attorney-General V. Times Newspapers, Ltd. [1979] 3 All ER 1136. 127 128

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Rechtsvorstellungen, die Integrität des richterlichen Entscheidungsfindungsprozesses (the process of law) rigoros mittels der Regeln über den sog. contempt of court zu schützen. 134 Dieses Recht, seinerzeit übrigens allein im common law begründet, sieht nicht nur die Ahndung bestimmter vor dem Gericht, d. h. in dessen physischer Gegenwart, begangener Verstöße gegen die gute Ordnung des Verfahrens vor, sondern untersagt ebenso solche von außerhalb des eigentlichen Verfahrens erfolgenden Einmischungen in den "process of law". Nun mag man mit ausgezeichneten Gründen bezweifeln, ob unter den insgesamt untypischen Umständen dieses Falles die Voraussetzungen eines contempt of court gegeben waren, jedenfalls ob seine Anwendung hier von der rechtspolitischen Funktion dieses Instituts noch gedeckt wurde. In der Berufungsinstanz verwarf denn auch der Court of Appeal 135 die Entscheidung des Divisional Court, wurde dann jedoch seinerseits durch das House of Lords 136 aufgehoben; außerdem gab es bereits damals Reformvorschläge, die darauf zielten, unter derartigen Umständen die Anwendung der contempt of court-Regeln auszuschließen. 137 Andererseits kann man sich nicht des Eindrucks verschließen - unabhängig davon, wie man die Vereinbarkeit des Veröffentlichungsverbots mit der EMRK beurteilen mag - , daß es hier weniger in einem quantitativen Sinne um ein mehr oder weniger an Grundrechtsschutz ging, sondern vielmehr qualitativ um die Entscheidung, welches von mehreren miteinander in Konkurrenz stehenden Grundrechten vorrangig zu schützen sei. Denn wie in den Entscheidungen aller Gerichte klar herausgestellt wurde,138 ist das Schutzobjekt der contempt of court-Regeln nicht (mehr) die persönliche Ehre und/oder die Unparteilichkeit der Richter; vielmehr geht es um die Prozeßparteien und deren berechtigte Erwartung in einen von außerhalb unangefochtenen, sich selbst überlassen bleibenden "process of law", dessen Funktion von niemandem usurpiert werden darf. Damit offenbaren sich die contempt of court-Regeln ihrerseits als Ausdruck einer menschenrechtlichen Forderung auf Vollzug formeller und materieller Gerechtigkeit, die durchaus in Konkurrenz zur Meinungsfreiheit treten kann. 139 Die Position des Vereinigten KönigDazu siehe HLE Bd. 9, §§ 1 ff.; Bartsch (Anm. 132), S. 464 f. Attorney-General v. Times Newspapers, Ltd. (CA) [1973] 1 All ER 815; das Gericht verwies insbesondere darauf, daß an der Erörterung des Falles ein berechtigtes öffentliches Interesse bestanden habe, ferner, daß der Prozeß jahrelang nicht aktiv betrieben oder verhandelt worden sei, ein Eingriff in ein laufendes Verfahren daher nicht stattgefunden habe, und schließlich, daß auch das Parlament die Angelegenheit bereits diskutiert hätte (Lord Denning, MR., auf S. 822 f.). Interessant ist übrigens, daß vor den britischen Gerichten die EMRK unerwähnt blieb. 136 [1979] 3 All ER 54. 137 Siehe dazu das Urteil des EuGHMR in Sero A: Judgments & Decisions Bd. 30, S. 5 ff. (§§ 36 f.). Bereits 1974 hatte ein eigens zur Sichtung und Prüfung des contempt of court-Rechts eingesetzter Ausschuß einen Bericht mit Reformvorschlägen vorgelegt; siehe Report of the Committee on Contempt of Court, Cmnd. 5794 (1974). 138 a. a. 0., § 57. 139 Eine solche Güterabwägung wurde auch von Bartsch (Anm. 132), S. 464 ff. für erforderlich gehalten. Kritisch gegenüber dem Institut des contempt of court in seiner 134

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reichs in dieser Sache war daher sehr viel vertretbarer als etwa in Golder oder Tyrer, was sich auch in der sehr knappen Mehrheit von nur 11 Richtern (gegen 9) niederschlug, die schließlich für eine Verletzung der Konvention votierten. Überdies war das Bemühen der Mehrheit unverkennbar, keinesfalls die Zulässigkeit des contempt of court schlechthin, sondern allein dessen Anwendung unter den ganz besonderen Umständen dieses Falles zu begrenzen. Common law kann von den Gerichten selbst nur unter engen Voraussetzungen abgeändert werden. Die sich aus dem Urteil des EuGHMR ergebenden notwendigen Anpassungen konnten daher sinnvollerweise nur durch das Parlament vollzogen werden, das die Gelegenheit wahrnahm, um den gesamten Rechtsbereich mit dem Contempt 0/ Court Act 140 einer nunmehr gesetzlichen Regelung zu unterwerfen; 141 dabei wurden auch die erwähnten Reformvorschläge verarbeitet und umgesetzt. Hier gab damit eine Entscheidung des Gerichtshofes den entscheidenden Anstoß, ein ganzes Rechtsgebiet neu zu durchdenken. Die Notwendigkeit zu einer weiteren Rechtsanpassung ergab sich im Anschluß an die Entscheidung des EuGHMR in der Sache Dudgeon 142. Als Ergebnis dieses Urteils wurde die Strafbarkeit homosexueller Handlungen in Nordirland gelockert und für Erwachsene aufgehoben 143. Geändert wurden ferner der Mental Health Act in Folge des Urteils des Gerichtshofes in der Sache X. 144, sowie der Criminal Law Act auf Grund der Entscheidung des Ministerkomitees in der Sache M cVeigh / 0' Neill / Evans l45 • Auch in dieser Hinsicht von besonderem Interesse ist die Entscheidung des EuGHMR in der Sache Malone 146. Bevor in diesem Fall Beschwerde bei der Gesamtheit dagegen Lord Scarman, Human Rights: The Current Situation, in: Campbell, Do We Need a Bill of Rights? S. 2 ff. (6 f.). 140 1981 c. 49. Für Einzelheiten zu den Vorschriften dieses Gesetzes, siehe HSE Bd. 51, S. 495 ff. 141 Siehe auch die Resolution des Ministerkomitees vom 2.4.1981, DH (81) 2, in: Miehsler I Petzold, EMRK 11, MinKtee / E Art. 54, S. 68 ff. 142 Urteil vom 22.11. 1981; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 45, S. 5 ff.; Näheres hierzu, siehe den nächsten Abschnitt cc). 143 Durch die Homosexual Offences (Northern Ireland) Order 1982; siehe dazu die Resolution des Ministerkomitees vom 27.10.1983, DH (83) 13, zusammengefaßt in: Council of Europe, Parliamentary Assembly, Working Papers (35th ord. sess.), Doc. 5169, S. 10 f. 144 Urteil vom 5.11.1981; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 46, S. 4 ff. Näheres hierzu, siehe § 12 Ziffer 2. Siehe ferner die Resolution des Ministerkomitees vom 23.3.1983, DH (83) 2, in: Conseil de I'Europe, feuille d'information, Doc. H / Inf. (83) 1 Bd. I, S. 52 f. Diesseibe Vorschrift des Mental Health Act war auch Gegenstand der Sache B. (Beschwerde no. 6870/75, Bericht der Kommission vom 7. 10. 1981, Resolution des Ministerkomitees vom 22.4. 1983, DH (83) 8); hier konnte daher auf eine neuerliche Anpassung der britischen Rechtsvorschriften verzichtet werden. 145 Bericht der Kommission vom 18.3.1981, Decisions & Reports Bd. 25, S. 15 ff.; Resolution des Ministerkomitees vom 24.3.1982, DH (82) I, in: a. a. 0., S. 57 ff.; geändert wurde sec. 62 des Criminal Law Act 1977.

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Europäischen Kommission eingelegt worden war, hatte die britische Regierung in einem Weißbuch die von Sir Rohert Megarry in seinem Urteil geäußerte Kritik 147 geprüft, um gegebenenfalls in dessen Sinne eine gesetzliche Regelung des Telephonabhörens anzustreben. Mit bezeichnenden Begründungen 148 lehnte die Regierung einen solchen Schritt aber ab und fand sich allein dazu herbei, im Rahmen einer selbst auferlegten Beschränkung, die natürlich nicht justitiabel gewesen wäre, gewisse materielle und formelle Mindestbeschränkungen zu beachten. 149 Nachdem der EuGHMR just dieses Fehlen jeder rechtsverbindlichen Regelung in seinem Urteil gerügt hatte, kündigte die Regierung in einem neuerlichen Weißbuch nunmehr die Einbringung eines Gesetzes an, welches u. a. ein Tribunal zur Überprüfung von Beschwerden, genaue materiellrechtliche Voraussetzungen für die Anordnung von Abhörmaßnahmen und anderes vorsehen wird. 150 Einen merkwürdigen Verlauf nahmen die Ereignisse nach der Verurteilung des Vereinigten Königreichs in der Sache Tyrer l51 • Die einzig mögliche Konsequenz aus diesem Urteil wäre die Abschaffung der Prügelstrafe, d. h. also ihre Tilgung aus den Strafgesetzen der Isle of Man gewesen. Stattdessen beschränkte sich der Chief Justice of the Isle of Man darauf, den Stellen, welche nach den Gesetzen der Insel die Prügelstrafe verhängen dürfen, von dem Urteil des EuGHMR Kenntnis zu geben und sie darauf hinzuweisen, daß jede weitere Verhängung einer Prügelstrafe einen Verstoß gegen die EMRK bedeute. 152 Erstaunlicherweise begnügte sich das Ministerkomitee mit dieser Lösung, beharrte also nicht auf Beseitigung der entsprechenden gesetzlichen Vorschriften. 153 Das 146 Urteil vom 2.8. 1984; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 82, S. 7 ff.; Näheres zum Sachverhalt siehe unten § 12 Ziffer 3 b), Anm. 97 und dazugehörender Text. 147 [1979] 2 All ER 620; Näheres hierzu, siehe § 12 Ziffer 3 b). Auch der Report of the Royal Commission on Crirninal Procedure, Cmnd. 8092 (1980) hatte eine gesetzliche Regelung dieses Bereichs dringend der Regierung anempfohlen (a. a. 0., §§ 3.56-3.60). 148 Siehe das Weißpapier, The Interception of Communications in Great Britain, Cmnd. 7873 (1980). Siehe auch die Wiedergabe dieser Diskussion in dem Urteil des EuGHMR, Sero A: Judgments & Decisions Bd. 82, S. 7 ff. (§§ 37 ff.). 149 Siehe hierzu das Weißpapier (Anm. 148), § 2; folgende materielle Voraussetzungen werden genannt: die Straftat, deretwegen ermittelt wird, muß hinreichend ernst (really serious) sein, andere Ermittlungsmethoden müssen versagt haben oder von vornherein keine Aussicht auf Erfolg bieten und die Abhörmaßnahme muß wahrscheinlich (likely) zu einer Verhaftung und Verurteilung führen; auffallig ist hier das Fehlen eines bestimmten Grades von Tatverdacht als weitere Voraussetzung. 150 Siehe BLD 20 (1985), S. 27. 151 Urteil vom 25.5.1978; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 26, S. 4 ff. Näheres hierzu, siehe den vorherigen Abschnitt aa) und unten § 12 Ziffer 3 b). 152 Siehe den Anhang zur Resolution des Ministerkomitees vom 13.10.1978, Res (78) 39, in Miehsler / Petzold, EMRK 11, MinKtee / E Art. 54, S. 54 ff. 153 Siehe, a. a. O. Diese Großzügigkeit des Ministerkomitees ist zumindestens bedenklich, wenn nicht sogar rechtswidrig. In der Sache Dudgeon etwa hatte die Mehrheit des Gerichtshofes festgestellt (siehe Anm. 142, 143), daß ein konventionswidriges Gesetz auch dann einen Konventionsbruch darstellt, wenn es nicht mehr vollstreckt wird; dies

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auf diesem Wege eine ausreichende Durchsetzung des Urteils nicht zu erreichen ist, zeigte dann in der Folge der schon dargestellte Fall O'Callaghan l54 • cc) Die Entscheidungen der Konventionsorgane als Motor für die Durchsetzung neuer menschenrechtlicher Forderungen im Vereinigten Königreich Über die durch die Entscheidungen vor allem des Gerichtshofs notwendig gewordenen Anpassungen des Rechts hinaus ist auf einer anderen Ebene eine weitere Folge solcher Entscheidungen auszumachen, die allerdings mit den eben beschriebenen Wirkungen weitgehend zusammenfällt, von der Bedeutung des sich damit vollziehenden Vorgangs her aber von jenen zu trennen ist. In einer Reihe von Fällen nämlich, die der Gerichtshof zu entscheiden hatte, war das jeweils einschlägige britische Recht zuvor bereits auch im Vereinigten Königreich unter kritischen Beschuß geraten und seine Abänderung im Sinne der späteren Entscheidung des Gerichtshof erwogen, aber aus verschiedenen Gründen schließlich nicht durchgeführt worden. Hier ist also die Konventionswidrigkeit der jeweiligen Norm im Vereinigten Königreich antizipiert worden, dies allerdings weniger unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Konventionswidrigkeit, sondern deswegen, weil man meinte, daß dieses Recht bestimmten als wesentlich erachteten menschenrechtlichen Forderungen nicht oder nicht mehr genüge. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Sache Dudgeon 155. Hier hatte sich ein Bürger Nordirlands beschwert gefühlt, weil in Nordirland (anders als - mittlerweile - in allen anderen Teilen des Vereinigten Königreichs) praktizierte Homosexualität unabhängig vom Lebensalter der Beteiligten und auch als privat vollzogene Handlung unter Strafe steht. Versuche, diese Regelung zu liberalisieren, scheiterten in erster Linie am Widerstand wesentlicher Teile der nordirischen Öffentlichkeit. 156 Gleichwohl wurde in der Zeit von 1972 bis 1980 ausschließlich in solchen Fällen gegen Homosexuelle strafrechtlich vorgegangen, die auch nach den Gesetzen des übrigen Vereinigten Königreichs eine Strafbarkeit nach sich gezogen hätten. 157 Der Gerichtshof entschied auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK. gilt hier um so mehr, als die Justizbehörden lediglich auf das Urteil des EuGHMR hingewiesen wurden, also offenbar kein Versuch erfolgte, wenigstens durch Erteilung einer behördeninternen Anweisung o. ä. dessen Beobachtung zu erzwingen. Merkwürdig ist ferner, daß die vom Vereinigten Königreich gemäß Art. 25 EMRK abgegebene Erklärung aus dem Jahre 1986 die Isle of Man nicht miturnfaßt (schon bei der entsprechenden Erklärung 1981 war die Isle of Man - damals erstmals - ausgenommen worden, siehe BGBl. 1981 11, S. 330), so daß die EMRK zwar auf der Insel anwendbar bleibt, aber von dort aus keine Beschwerde mehr bei der Kommission eingereicht werden kann. 154 Siehe oben Anm. 118. Mittlerweile wurde allerdings durch eine Ergänzung der Education Bill ein Verbot von Körperstrafen in Schulen gesetzlich verankert, siehe BLD 21 (1986), S. 137. 155 Urteil des EuGHMR vom 22. 11. 1981; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 45, S. 5 ff. 156 a. a. 0., §§ 21 ff.

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Der EuGHMR erinnerte in seiner Begründung daran, daß mittlerweile fast alle Staaten des Europarates privat vollzogene homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen straflos gestellt haben. 158 Unausgesprochen wirkte bei diesem Urteil daher wohl die Überlegung mit, daß das Recht des Vereinigten Königreichs einem mehr oder weniger einheitlichen europäischen Standard anzupassen sei. Das Merkwürdige an der nordirischen Regelung ist nun aber, daß man es zwar für unabdingbar erachtete, ein jede Fonn von Homosexualität verbietendes Gesetz bereitzuhalten, dieses aber gar nicht anwandte. 159 Erkennbar hatte es daher nicht die Funktion, einen bestimmten Sachverhalt zur Herstellung eines als notwendig erachteten Zustandes zu regeln; vielmehr sollte hier unter Verzicht auf Regelungsvollzug eine nonnative Vorgabe aufrecht erhalten werden, um damit den Moralvorstellungen von Teilen der Öffentlichkeit gerecht zu werden, obwohl jede Überzeugung von der sozialen Notwendigkeit der mit dieser Nonn eigentlich zu bewirkenden Steuerung abhanden gekommen war. Dies und die dem Verfahren vor den europäischen Organen vorangegangenen Bemühungen zur Refonnierung der Vorschrift belegen, daß hier der Versuch zur Implementierung einer als notwendig erkannten menschenrechtlichen Forderung gewissennaßen auf halber Strecke liegengeblieben war, man zwar auf diskrete Weise die weitere Anwendung der Vorschrift aussetzte, aber aus politischer Rücksichtnahme auf deren Abschaffung meinte verzichten zu müssen. 160 Die Bedeutung dieses Falles ergibt sich daraus, daß der Gerichtshof hier das Vereinigten Königreich dazu "zwingen" mußte, eine Konsequenz durchzuführen, deren Richtigkeit dort zwar erkannt, aber aus politisch-praktischen Gründen nicht durchgesetzt werden konnte. Jede Rechtsnonn ist auslegungs bedürftig, über jede Rechtsnonn läßt sich füglich streiten. Solchen Streit zu schlichten und einer autoritativen Erledigung zuzuführen, ist der Sinn eines jeden gerichtlichen Verfahrens. Davon unterscheiden sich Fälle wie die Sache Dudgeon dadurch, daß hier an und für sich gar kein Streit bestand, es also allein darum ging, ob die Änderung des fraglichen Gesetzes auch bereits durch die EMRK geboten wurde oder aber in das alleinige Ennessen der britischen Politik gestellt war. Insoweit 157 158

a. a. 0., §§ 29 ff. a. a. 0., § 49.

159 Weswegen Richter Matscher in seiner dissenting opinion (Ser. A: Judgments & Decisions Bd. 45, S. 33 ff.) meinte, hier läge gar kein Eingriff vor (a. a. 0., S. 35); ebenso Richter Walsh in seiner partially dissenting opinion, Sero A: Judgments & Decisions Bd. 45, S. 39 ff. (§§ I ff.). 160 Ebenfalls um die Strafbarkeit der Homosexualität ging es in der Entscheidung des Ministerkomitees in der Sache X. (Beschwerde no. 7215/75, Bericht der Kommsission vom 12.10.1978, Decisions & Reports Bd. 19, S. 66 ff.) vom 12.6.79, DH (79) 5, in: a. a. 0., S. 82: hier beklagte sich der Beschwerdeführer über die in England und Wales gültige Regelung, welche die Straffreiheit homosexueller Handlungen erst ab einem Lebensalter von 21 Jahren vorsieht, während die meisten europäischen Länder diese Schwelle bereits bei 18 Jahren ansetzen. Obwohl die Kommission insoweit eine gewisse Rückständigkeit der englischen Regelung feststellte, sah sie hierin ebenso wie das Ministerkomitee keinen Verstoß gegen die EMRK.

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wird hier überdies auf gewisse Defizite der britischen Staatsorganisation hingewiesen, die später noch näher erörtert werden sollen. 161 dd) Die weiteren politisch-geistigen Folgen der Entscheidungen der Konventionsorgane Schließlich gilt es noch eine letzte Auswirkung der Entscheidungen der Straßburger Organe zu bedenken. Gemeint sind hier die politischen Folgen, wie sie sich insbesondere in der Bill of Rights-Debatte selbst niedergeschlagen haben. Der Umstand, daß ein "ausländisches" Organ über das britische Recht zu Gericht sitzt und dabei in einer unerfreulich hohen Zahl von Fällen dessen Unzulänglichkeit, jedenfalls gemessen an den Maßstäben der Konvention, feststellt, hat ganz offensichtlich für britische Beobachter etwas zutiefst Beunruhigendes an sich und wird zudem als Schandfleck auf dem Schild der nationalen Ehre empfunden. 162 Dabei geht es manchmal, wie es scheinen will, weniger um das mit diesen Entscheidungen ausgesprochene Verdikt in Hinsicht auf die Qualität des britischen Grundrechtsschutzes, wird nicht so sehr Sorge vor den damit diagnostizierten Gefahren für die Freiheit im Vereinigten Königreich ausgedrückt, sondern die Tatsache moniert, daß es ein ausländisches und eben nicht britisches Gericht ist, das sich da zu dem Recht des Vereinigten Königreichs ausläßt. Die Ursachen hierfür sind im Psychologischen zu suchen. Ein Grund mag sein, daß man mit einem Verfahren wie dem des EuGHMR zuvor keinerlei Erfahrungen hat sammeln können. Angesichts ganz anderer Rechtstraditionen erscheint die Verwerfung parlamentarischen Rechts durch ein Gericht auch immer ein wenig wie unziemliche Kritik und Besserwisserei eines den politischen Wirklichkeiten mit seinen besonderen Verantwortlichkeiten enthobenen Organs. Darum vielleicht fällt es im Vereinigten Königreich schwerer als andernorts, das Ergebnis solcher richterlicher Kontrolle des Parlaments als normalen Bestandteil des politisches Lebens gelassen hinzunehmen. Jedenfalls kann kein Zweifel bestehen, daß das Wirken der Konventionsorgane, besonders des Gerichtshofes, die Forderung nach Übernahme der EMRK maßgeblich beflügelt hat, 163 weil man darin das nächstlieSiehe § 12 Ziffer 3, § 14, § 15. Si/kin (Anrn. 43), S. 12 etwa meint, daß in Straßburg die schmutzige Wäsche (dirty linen) des Vereinigten Königreichs gewaschen werde; ähnlich Zander, Bill of Rights, S. 37 f.; Smythe, Case for a New Bill of Rights, in: Solicitor's J. 120 (1976), S. 324 ff. (324); Samuels, Argument for a Bill of Rights in the UK, in: Andrews, Human Rights in Crirninal Procedure, S. 417 ff. (420); Labour Party, Charter ofHuman Rights, S.6. 163 Siehe etwa Jacobs, Towards a Bill ofRights, in: J. Law Reform 18 (1984), S. 29 ff. (33,35 f.). Zu den verschiedenen verfahrensmäßigen Möglichkeiten, dies zu bewerkstelligen, siehe Jaconelli (Anm. 59), S. 238 ff. 161

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gende Mittel sieht, um die Kompetenz zur Prüfung britischen Rechts in das Vereinigte Königreich zu verlagern und damit dem jetzigen als unbefriedigend empfundenen Zustand abzuhelfen. 164 Im übrigen liefern die Ergebnisse der vor den Straßburger Organen gegen das Vereinigte Königreich angestrengten Beschwerden vielen Beobachtern auch, neben anderem, den Beweis dafür, daß der britische Grundrechtsschutz unzureichend ist und es daher an der Zeit sei, durch Einführung einer Bill of Rights diesen Mängeln entscheidend abzuhelfen. Für die Vertreter dieser Auffassung bietet die Arbeit der Konventionsorgane zugleich wertvolles Anschaungsmaterial, um die Wirkungen eines Verfassungsgerichts auf das britische Recht zu studieren und dabei manche Vorbehalte diesem Institut gegenüber abzulegen. Insofern haben die durch die EMRK geschaffenen Kontrollinstanzen, die ja notgedrungenermaßen in einer gewissen Distanz zu den einzelnen Staaten operieren und zudem angesichts ihres relativ geringen Aufkommens an zu verhandelnden Fällen nur eine vergleichsweise bescheidene direkte Wirkung entfalten, dem Vereinigten Königreich die Chance geboten, das Institut der Verfassungsgerichtsbarkeit sozusagen probeweise zu erfahren. Auch dies ist eine sicherlich nicht zu unterschätzende Auswirkung der Tätigkeit der Konventionsorgane.

Ebenso wichtig ist, daß die EMRK, wie aus manchen zugegebenermaßen recht verstreuten Betrachtungen in dem einen oder anderen Urteil oder Aufsatz ersichtlich, die Briten erstmals in handgreiflicher Weise mit jener Vorstellung von Grundrechten in Berührung gebracht hat, die zu entwickeln das große Verdienst des 18. Jahrhunderts war und deren bisherige Ablehnung die Besonderheit der britischen Verfassungsordnung ausmacht. Als Beispiel für die sich hier anzeigende Umstellung möge die Entscheidung des House of Lords in Morris v. Beardmore genügen, wo Lord Scarman, nachdem er den dem britischen Recht jedenfalls als terminus technicus unbekannten Begriff ,fundamental rights and liberties" eingeführt hatte, im weiteren folgendes ausführte: I have deliberately used an adjective which has an unfamiliar ring in the ears of common lawyers. I have described the right of privacy as "fundamental". I do so for two reasons. First, it is apt to describe the importance attached by the common law to the privacy of the horne ... Second, the right enjoys the protection of the European Covention ... 165

164 Si/kin (Anm. 43), S. 12; Jaconelli (Anm. 59), S. 227. Jacobs (Anm. 23), S. 277 f. meint demgegenüber, daß manche britische Juristen die Entscheidung menschenrechtlicher Fragen durch ein internationales im Gegensatz zu einem nationalen Gericht bevorzugen und deswegen - gerade umgekehrt - aus diesem Grund gegen eine Inkorporierung der EMRK optieren. 165 [1980] 2 All ER 753, auf S. 763. Ähnlich stellt Forbes, J. in Hubbard v. Pitt [1975] 1 All ER 1056 auf S. 1066 f. fest: "There is indeed ... a democratic right to public assembly ... The right is ... specifically mentioned in Artic1e 11 of the European Convention on Human Rights ..."

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Zwar tritt der Gedanke des mit besonderer rechtlicher Bestandskraft ausgestatteten Grundrechts hier noch ganz schüchtern auf und wird zur Kaschierung seiner Modernität mit dem altehrwürdigen Mantel des cornmon law versehen; und doch machen solche und ähnliche Passagen deutlich, daß über die EMRK ein neues Verständnis von der Idee des Grundrechts sich anzubahnen im Begriff steht. 166 Auch dies wird man dem Konto der EMRK gutzuschreiben haben.

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1. Das Gemeinschaftsrecht als grundrechtliche Rechtsquelle Nach einem außerordentlich langwierigen politischen Entscheidungs- und Überzeugungsprozeß war das Vereinigte Königreich am 23.1.1972 mit Wirkung vom 01.1.1973 den drei Verträgen über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Europäischen Atomgemeinschaft beigetreten, 167 ein epochaler Einschnitt in der Geschichte des Landes, mit dem die endgültige Abwendung von dem überseeischen Empire und der Eintritt in die bislang etwas kühl-distanziert betrachtete Gemeinschaft der kontinentaleuropäischen Völker vollzogen wurde. Innerstaatlich implementiert wurde der Beitritt durch den European Communities Act 168 von 1972 (im folgenden der Einfachheit halber kurz als ,,Act" bezeichnet), mit dem die Verträge über die drei Europäischen Gemeinschaften zu unmittelbar geltendem Recht gemacht wurden 169 und damit anders als etwa die EMRK von 166 Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist auch, daß HLE 8, §§ 827 ff. die unter dem Abschnitt "Duties and Rights of the Subject" aufgelisteten Grundrechte zu einem wesentlichen Teil unter Rückgriff nicht auf britisches, sondern internationales Recht, vor allem mit Bezug auf die EMRK definiert. 167 BGBL II S. 1127 und 1144. 168 1972 c. 68. 169 Aus der Sicht des Europarechts ergeben sich hier besondere Probleme, weil im Vereinigten Königreich von den praktischen Folgen her das Verhältnis zwischen Landesund Völkerrecht nach der Theorie des Dualismus bestimmt wird, völkerrechtliche Verträge somit nur als britisches Landesrecht gelten, während das Gemeinschaftsrecht für sich in Anspruch nimmt, als originäre Rechtsquelle aufzutreten. Weiterhin stellte sich anläßlich der Diskussion um den Beitritt aus britischer Sicht die keineswegs nur technische Frage, ob die Verträge (wie nunmehr geschehen) durch eine einfache Anordnung des Parlaments nur unter Bezugnahme auf den Wortlaut der Verträge zu inkorporieren seien, oder aber, ob die Vertragstexte mit den Worten des britischen Parlaments in dem Inkorporationsgesetz aufzunehmen wären und möglichst auch gleich dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehendes britisches Recht aufzuheben sei (zu diesem Streit, siehe Petersmann, Souveränität des Britischen Parlaments, S. 177 ff.). Diese letztgenannte Vorgehensweise hätte die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zerstört und auch äußerlich deutlich werden lassen, daß jede einzelne Vorschrift des Gemeinschaftsrechts nur deswegen und nur soweit gilt, wie sie vom Parlament übernommen worden wäre; siehe Forman, European Communities Act 1972, in: CMLRev 10 (1973), S. 39 ff. (41); Towner, Com-

§ 7 Die Verträge über die Europäischen Gemeinschaften (EG)

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britischen Gerichten in vollem Umfang berücksichtigt und angewendet werden müssen. In sec. 2 (1) dieses Gesetzes wird überdies angeordnet, daß auch allem zukünftig von den zuständigen Organen der Gemeinschaft gesetztem Sekundärrecht, insbesondere also den Verordnungen, welche gemäß Art. 189 Abs. 2 EWGV "unmittelbar in jedem Mitgliedstaat" gelten, ohne weiteren Umsetzungsakt (without further enactment) Rechtskraft zukommt, so wie es in den Gemeinschaftsverträgen jeweils vorgeschrieben ist. 170 Die Europäischen Gemeinschaften haben zum vordringlichen Ziele die Schaffung einer europäischen Wirtschaftsintegration; Grundrechtsschutz spielte demzufolge zunächst keinerlei Rolle. Vor allem unter dem Einfluß des Europäischen Gerichshofes (EuGH) hat sich jedoch in dieser Hinsicht ein Wandel angebahnt; dabei ist auf eine Reihe zum Teil recht unterschiedlicher Rechtsquellen zurückgegriffen worden, 171 wobei es dem Gerichtshof gelang, zunächst bescheidene Ansätze zu einer ganzen Palette verschiedener Rechte aufzufächern. Im Hinblick auf die diese Arbeit interessierenden Problemstellungen ist allerdings eine Abschichtung vorzunehmen, welche den hier näher zu beleuchtenden Bereich erheblich eingrenzt. Denn meistenteils geht es bei der Diskussion um den Grundrechtsschutz in den Gemeinschaften allein darum, das Handeln der Gemeinschaftsorgane selbst bestimmten Grundrechten zu unterwerfen. Dieser Vorgang hat zwar auch für das Vereinigte Königreich seine Auswirkungen, weil munity Law and Revisions in Orthodox Constitutional Doctrine, in: Auckland L. Rev. 3 (1976), S. 50 ff. (52 f.). Außerdem verbarg sich hinter dieser Alternative die weitere Frage, wer über die (Un-)Vereinbarkeit von europäischem und britischem Recht zu entscheiden habe: das Parlament oder die britischen Gerichte. Hätte das Parlament selbst in einem Katalog alle älteren mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Statutes aufgelistet, wäre es für ein Gericht außerordentlich schwer gewesen, von sich aus die Derogierung von (älterem) britischem Recht durch das Gemeinschaftsrecht festzustellen, wenn das Parlament jenes Recht - vielleicht nur versehentlich - nicht in den Katalog aufgenommen hätte und damit implizit dessen Fortgeltung als angeordnet zu gelten hätte; hierzu Heald, Parlamentarische Souveränität und der Vertrag von Rom, in: EA 17 (1962), S. 843 ff. (850 f.), der sich allerdings gegen die mit dem Act gewählte Lösung ausspricht. 170 Zu den Regelungen im einzelnen, siehe Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 135 ff.; Hartley, European Community Law, S. 238 ff. 171 Eine besondere Rolle neben den Vorschriften des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts spielten dabei die "allgemeinen Rechtsgrundsätze", deren exakte Herleitung entweder aus Völkergewohnheitsrecht oder aus einer rechtsvergleichend ermittelten gemeinsamen Rechtsüberzeugung aller Mitgliedstaaten, freilich manche dogmatische Schwierigkeit bereitet. Aus der reichen Literatur hierzu, siehe Fuß, Grundrechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften, S. 71 ff.; Pescatore, Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften, in: EuGRZ 5 (1978), S. 441 ff.; Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 25 ff.; Groeben / Boeckh / Thiesing / Ehlermann, EWG-Vertrag Bd. 2, Anhang C (S. 1459 ff.), Rdn. 10 ff. Feger, Grundrechte im Recht der EG, S. 94 ff.; Hartley, European Community Law, S. 122 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen auch auf die Rechtsprechung des EuGH. Für britische Stimmen hierzu, siehe Drzemczewski, EEC and Human Rights, in: LQR 91 (1975), S. 311 ff.; Jaconelli (Anm. 59), S. 230 ff.

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so jene bislang allein britischer Hoheit unterliegenden Bereiche, die in die Kompetenz der Gemeinschaften übertragen wurden, in Folge dieser Entwicklung nunmehr gegebenenfalls anderen grundrechtlichen Anforderungen unterliegen. 172 Für die Zwecke dieser Arbeit ist indes allein von Bedeutung, wie britische Hoheitsausübung es mit den Grundrechten hält. Daher soll hier nur untersucht werden, welche Grundrechte dem EG-Recht zu entnehmen sind, die auch für die weiterhin mitgliedstaatlicher Kompetenz unterliegenden Bereiche gelten. Mit anderen Worten: nicht um Grundrechtsschutz vor den Gemeinschaften soll es hier gehen, sondern vor nationaler. britischer Hoheitsgewalt durch das Gemeinschaftsrecht. 173 Unter Beachtung dieser Einschränkung ist daher nunmehr der über das Gemeinschaftsrecht dem britischen Recht vermittelte zusätzliche grundrechtliehe Regelbestand festzustellen. In dieser Hinsicht am offensichtlichsten ist wohl die Vorschrift des Art. 119 EWGV, welche den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit aufstellt und schon von ihrer Formulierung her sich erkennbar als gegen die Mitgliedstaaten gerichtetes subjektives Recht ausweist.174 In Ausführung dieser Vorschrift hat der Rat der Gemeinschaften außerdem mehrere recht detaillierte Richtlinien erlassen. 175 Die erste dieser Richtlinien sollte durch den Sex Discrimination Act umgesetzt werden 176, der vom EuGH jedoch in zwei von der Kommission gegen das Vereinigte Königreich angestrengten Verfahren für unzureichend befunden wurde. 177 Außerdem ist die Vereinbarkeit des britischen Rechts mit Art. 119 EWGV in einer Reihe von Vorlagen gemäß Art. 177 EWGV geprüft worden. 178 In diesem Bereich hat das EG-Recht daher eine sehr beträchtliche Wirksamkeit im Vereinigten Königreich entfalten können, wobei der EuGH wie ein echtes Verfassungsgericht fungiert. 172 Dazu Brown, A Bill of Rights for the United Kingdom? in: Parliamentarian 58 (1977), S. 79 ff. (79). 173 Diese grundlegende Unterscheidung in der durch den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz anvisierten Stoßrichtung wird häufig nicht genügend herausgestellt, siehe aber Pescatore (Anm. 171), S. 443 f. und ferner Groeben / Boeckh / Thiesing / Ehlermann, EWG-Vertrag Bd. 2, Anhang C, Rdn. 2. Deswegen ist auch die gelegentlich aufgeworfene Frage, ob die EMRK qua EG-Recht zu britischem Recht geworden sein könnte (siehe Geisseler, Reformbestrebungen, S. 78 ff.) falsch gestellt, denn eine so transformierte EMRK bezöge sich nur auf die Gemeinschaftsgewalt. 174 Jansen, Grundrechtsschutz und Gleichbehandlung von Männern und Frauen, in: FS v. Simson, S. 235 ff. (242). 175 75/117/EWG vom 19.2.1975, ABI. Nr. L 45/19; 76/207/EWG vom 14.2.1976, ABI. L 39/40; 79/7 /EWG vom 10.1.1979, ABI. Nr. L 6/24. 176 Dazu Jansen (Anm. 174), S. 245 f. 177 Urteil vom 6. 7. 1982,Rs. 61/81,EuGHSlg. 1982, S. 2601 ff.; dazu siehe Wiseman, Sex Discrimination: Some Recent Decisions of the European Court of Justice, in: Columbia J. Transn'l L. 21 (1982-83), S. 621 ff. (632 ff.); Urteil vom 8.11.1983, Rs. 165/ 82, EuGH Slg. 1983, S. 3431 ff. 178 Siehe hierzu Wiseman (Anm. 177), S. 621 ff. und für neuere Entwicklungen Fitzpatrick, Significance of EEC Directives in UK Sex Discrimination Law, in: Oxford J. Legal Studies 9 (1989), S. 336 ff.

§ 7 Die Verträge über die Europäischen Gemeinschaften (EG)

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Auch den sog. Freiheiten des Gemeinsamen Marktes, d. h. also der Freiheit des Waren- (Art. 9 ff. EWGV), Zahlungs- (Art. 106 Abs. 1 EWGV), Dienstleistungs- (Art. 59 ff. EWGV), Kapital- (Art. 67 ff. EWGV) und Personenverkehrs (Art. 48 ff. EWGV, 96 EAGV, 69 EGKSV) wird in der Literatur ebenso wie in der Rechtsprechung des EuGH eine subjektiv-öffentliche Qualität zugewiesen. 179 Zu beachten bleiben allerdings die in den Verträgen jeweils vorgesehenen Einschränkungsmöglichkeiten, über deren Auslegung entweder nur anhand der einschlägigen nationalen Vorschriften oder aber unter Zugrundelegung eigener im Gemeinschaftsrecht wurzelnder Kriterien noch Unklarheit besteht. Außerdem können diese Rechte nur sehr partielle Bereiche des Wirtschaftslebens erfassen, weil sie allein auf das angestrebte Ziel der Wirtschaftsintegration hin verfaßt wurden und daher grundsätzlich immer nur die Gleichstellung von In- und Ausländern anstreben.

2. Die Rezipierung der mit dem Gemeinschaftsrecht begründeten Grundrechte Anders als bei der EMRK sind die aus dem Gemeinschaftsrecht dem britischen Bürger zufließenden Grundrechte vor britischen Gerichten einklagbar. Fühlt sich ein Bürger insofern verletzt, kann er ohne an irgendwe1che besonderen in den Verträgen begründeten Rechtsschutzorgane verwiesen zu werden, sich an das jeweils zuständige britische Gericht wenden, das dann gegebenenfalls nach Art. 177 EWGV die bei dieser Gelegenheit aufgeworfenen europarechtlichen Fragen dem EuGH zur sog. Vorabentscheidung 180 vorlegt. Das Gemeinschaftsrecht bietet allerdings noch eine zusätzliche Chance. Denn der Verfassungsdoktrin der Parlamentssouveränität zufolge kann gerichtliche Überprüfung immer nur Überprüfung von dem Parlamentsrecht nachgeordnetem Recht bedeuten. Das Gemeinschaftsrecht jedoch beansprucht Vorrang vor jeder nationalen Rechtsquelle, auch vor dem Parlamentsrecht; 181 insofern scheint sich 179 Siehe hierzu vor allem Bleckmann, Europarecht, S. 136 ff. Feger, Grundrechte im Recht der EG, S.62, der sich allerdings (zu Recht) auch kritisch mit den Ansichten Bleckmanns auseinandersetzt, bestätigt ebenfalls die Grundrechtsqualität der Freiheiten. - Mit Hinweis auf ein den Römischen Verträgen zu entnehmendes Recht auf ein den Geboten des Gleichheitssatzes genügendes Wahlverfahren versuchte 1984 eine Gruppe von liberalen und sozialdemokratischen Wählern in Prince v. Secretary of State for Scotland 1985 SLT 74 die nach dem Mehrheitswahlrecht durchgeführte Europawahl anzufechten. Der Versuch schlug erwartungsgemäß fehl; siehe hierzu die Zusammenfassung, in: LQR 101 (1985), S. 149 ff. 180 Allerdings sind die britischen Gerichte recht zurückhaltend mit Vorlagen an den EuGH, siehe Bredima, Article 177 of the Treaty Establishing the European Community and the British Courts, in: rev. hellenique de droit internationale 26/27 (1973/74 erschienen 1975), S. 293 ff. (296 ff.). 181 Dieser Vorrang des Gemeinschaftsrechts wurde vom EuGH besonders emphatisch. in seinem grundlegenden Urteil vom 15.7.1964 (Costa/E. N. E. L.), Rs. 6/64, EuGH Slg. X (1964), S. 1251 ff. bestätigt, wo es um die Vereinbarkeit von (primärem) Gemein-

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2. Kap.: Das internationale Recht

hier tatsächlich eine Möglichkeit aufzutun, die es - wenn auch in einem inhaltlich recht engen Rahmen - gestatten würde, die parlamentarischen Gesetze selbst einer gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen sind. Ist das europäische Gemeinschaftsrecht tatsächlich in den Rang eines formellen Verfassungsrechts für das Vereinigte Königreich erwachsen? Zunächst einmal sind hier zwei Fallgruppen voneinander zu trennen. Insoweit nämlich vor dem Act erlassene Gesetze in Frage stehen, können diese im Falle des Konflikts mit entweder primärem oder sekundärem Gemeinschaftsrecht nach der üblichen Regel "lex posterior derogat legi priori" verdrängt werden. 182 Das gilt auch für nach dem Act gemäß Art. 189 Abs. 2 EWGV in Kraft gesetzte Verordnungen, denn diesen kommt gemäß sec. 2 (1) unmittelbare Rechtskraft zu, und dieser Anordnung eines insoweit späteren Parlaments hat sich das (gegenüber dem Act) frühere Gesetz zu beugen. Hier ergeben sich also keinerlei Schwierigkeiten, weil der vom Gemeinschaftsrecht verlangte Vorrang in dieser Fallgruppe bereits durch die üblichen britischen Kollisionsregeln herbeigeführt werden kann. Anders verhalten sich die Dinge aber bei Widerspruch mit nach dem Act erlassenem britischem Gesetzesrecht, weil hier das spätere Gesetz den Act verdrängen müßte. In dieser Lage scheint eine Entscheidung zwischen der (verfassungsrechtlich angeordneten) Parlamentssouveränität und dem (europarechtlichen) Vorrang des Gemeinschaftsrechts unausweichlich, eine Alternative, um deren Entscheidung sicher kein Richter zu beneiden ist. Dieses Problem hat manches Kopfzerbrechen bereitet 183 und war wegen der damit (scheinbar oder tatsächlich) in Frage gestellten Parlamentssouveränität schaftsrecht mit einem späteren italienischen Gesetz ging. Energisch widersprach der EuGH der Ansicht der italienischen Regierung, welche trotz entgegenstehenden Gemeinschaftsrechts ihr innerstaatliches Recht angewendet wissen wollte, und stellte fest, daß mit der Gründung der Gemeinschaften die Souveränität der Staaten begrenzt worden sei, innerstaatliches Recht daher vor Gemeinschaftsrecht zu weichen habe. Dieser Auffassung haben sich auch die anderen Organe der Gemeinschaft angeschlossen, siehe Petersmann, Souveränität des Britischen Parlaments, S. 65 ff. Siehe ferner Thelen, Vereinbarkeit des EWGV mit der britischen Verfassung, S. 233 ff.; Bleckmann, Europarecht, S. 216 ff. Das bekannte durch den sog. Solange-Beschluß des BVerfG (E 37, 271) aufgegriffene Problem des Verhältnissses zwischen Gemeinschaftsrecht und formellverfassungsrechtlichen nationalen Grundrechtskatalogen kann sich dagegen für das Vereinigte Königreich naturgemäß nicht stellen. 182 Hartley, European Community Law, S.244; Thelen, Vereinbarkeit des EWGV mit der britischen Verfassung, S. 233. 183 Siehe ehloros, English Law and European Law, in: RabelsZ 36 (1972), S. 601 ff.; Forman (Anm.169); Hunnings, Constitutional Implications of Joining the Common Market, in: CMLRev 6 (1968/69), S. 50 ff.; MitchelI, British Law and British Membership, in: EuR 6 (1971), S. 97 ff.; ders., What Happened to the Constitution on 1st January 1973? in: Cambrian L. Rev. 11 (1980), S. 69 ff.; ders., What Do You Want to Be Inscrutable for, Marcia? in: CMLRev. 5 (1967/68), S. 112 ff.; Williams, Constitution ofthe UK, in: CU 31 (1972), S. 266 ff. (286 ff.); Winterton, British Grundnorm: Parliamentary Supremacy Re-Examined, in: LQR 92 (1976), S. 591 ff. (613 ff.); Heald (Anm. 169). Raschauer, Beitritt Großbritanniens zu den Europäischen Gemeinschaften, in:

§ 7 Die Verträge über die Europäischen Gemeinschaften (EG)

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auch Anlaß, wegen verfassungsrechtlicher Bedenken einen britischen Beitritt zu den Gemeinschaften abzulehnen. Das sich hier eröffnende Konfliktfeld zwischen den Ansprüchen auf Suprematie einerseits des Parlamentsrechts und andererseits des Gemeinschaftsrechts soll an dieser Stelle nicht verfassungstheoretisch aufgearbeitet werden. 184 Hiervon (zunächst) abzusehen ist schon deswegen gerechtfertigt, weil auch der britische Gesetzgeber von einer den besagten Konflikt in dem einen oder anderen Sinne eindeutig entscheidenden Regelung abgesehen hat, um damit diese heikle Aufgabe den Gerichten zuzuspielen. Der Act ebenso wie die ihm vorangegangenen Weißbücher gehen einfach von der Vorstellung aus, daß das Parlament in Zukunft eben darauf zu achten haben werde, es zu keinem Konflikt mit dem Gemeinschaftsrecht kommen zu lassen, 185 nicht anders als bei anderen völkerrechtlichen Verträgen auch. 186 Damit allein freilich konnte man die Angelegenheit nicht abtun. Problematisch ist ja weniger der Fall eines Parlamentsgesetzes, welches bereits existierendes (primäres und sekundäres) Gemeinschaftsrecht verletzt. Diese Konstellation kann man in der Tat durch sorgfältige Formulierung des Gesetzestextes und bei gutem Willen vermeiden. Auch bei besten Absichten nicht auszuschließen ist hingegen ein Konflikt zwischen statute und späterem sekundären Gemeinschaftsrecht, weil dessen Inrechnungstellung bei der Abfassung des Gesetzes schlechterdings ausgeschlossen ist. 187 Es bleibt somit die Frage, wie die Gerichte es halten sollen, wenn entgegen der dem Parlament unterstellten gemeinschaftsfreundlichen Absicht versehentlich oder gar absichtlich ein Gesetz in Widerspruch zu Gemeinschaftsrecht steht. Der Gesetzgeber des Act hat für diesen Zweck sec. 2 (4) eingefügt, eine einigermaßen komplizierte Vorschrift, welche u. a. bestimmt, daß . . . any enactment passed or to be passed . . . shall be construed and have effect subject to the foregoing provision of this section; . . . (Hervorhebung des Verfassers) 188 ZaöRV 32 (1972), S. 616 ff.; de Smith, Constitution and Common Market, in: MLR 34 (1976), S. 597 ff.; Trindade, Parliamentary Sovereignty and European Law, in: MLR 35 (1972), S. 375 ff. - Außerdem hat dieses Problem Stoff für nicht weniger als drei deutsche Dissertationen gegeben, siehe die Arbeiten von Giesen (1968) (zusarnmengefaßt in Giesen, Auswirkungen des Beitritts Großbritanniens zur EWG auf das britische Verfassungsrecht, in: Monatsschrift dt. Auslandsbeamter 31 (1968), S. 295 ff.), Petersmann (1972) und Thelen (1973). 184 Siehe hierzu ausführlich § 18 Ziffer 2 a). 185 Forman (Anm. 169); siehe dazu das Weißbuch ,,Legal and Constitutional Implications of United Kingdom Membership of the European Communities" (Crnnd. 3301, 1967), abgedruckt in: CMLRev. 5 (1967/68), S. 125 ff. (§§ 22 f.). 186 a. a. 0., § 23. 187 Das gilt aber wie oben schon gezeigt - immer nur, wenn das betreffende statute nach dem Act zustandekommt, andernfalls greift ohne weiteres die übliche Konfliktregel mit der Folge, daß das betreffende statute zu weichen hat. 188 Vor 1972 ist eine Reihe von Vorschlägen diskutiert worden, wie man dem Problem des dem Gemeinschaftsrecht einzuräumenden Vorrangs Herr werden könne, siehe Clark I Sufrin, Impact of the UK's Membership of the Communities on Constitutional Theory,

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2. Kap.: Das internationale Recht

"Enactment" bezieht sich dabei auf alle Arten von Rechtsetzung (Gesetze und Verordnungen etc.) und zwar sowohl vergangene wie auch zukünftige; die angezogenen "foregoing provisions" meinen zum Beispiel die schon genannte sec. 2 (1) des Act, welcher die Rechtsgeltung des Gemeinschaftsrechts anordnet. Sec. 2 (4) ist im wesentlichen dreierlei Interpretationen zugänglich,189 die gleichzeitig die theoretisch möglichen Vorgehensweisen bezeichnen, welche den Gerichten offenstehen, wollen sie dem Gemeinschaftsrecht die Suprematie nicht von vornherein verweigern. Entweder die Vorschrift ordnet eben doch eine Selbstbindung des Parlaments an, so daß sämtliche Parlamentsgesetze (passed or to be passed) am Gemeinschaftsrecht zu messen wären,l90 dieses somit im Rang über das Parlamentsrecht gesetzt würde. Oder aber die zitierten Worte enthalten nichts weiter als eine weitere Interpretationsregel des bekannten Typs, so daß unter der bekannten Voraussetzung einer sonst nicht aufzulösenden textlichen Mehrdeutigkeit bei der Auslegung von Gesetzesrecht nach Möglichkeit einer gemeinschaftsfreundlichen Ausdeutung der Vorzug zu geben ist; für diese Ansicht spricht u. a., daß die in Rede stehende Passage von "auslegen" (shall be construed) spricht. Oder schließlich - als zwischen den beiden vorgenannten Wegen vermittelnde dritte Lösung - dem Gemeinschaftsrecht soll im Konfliktsfalle nur dann die Gefolgschaft verweigert werden, wenn das abweichende statute ausdrücklich oder offensichtlich trotz des Gemeinschaftsrechts Geltung beansprucht. In diesem Falle würde also über die übliche Interpretationsregel hinaus das Gemeinschaftsrecht auch dann zum Zuge kommen, wenn dem statute ein nur impliziter Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht zu entnehmen ist, eine Konstellation, die nach der sonst üblichen Regel zur Derogierung 'der zeitlich früheren Norm führen würde. Die erste Ansicht hat gegen sich, daß damit offensichtlich die Parlamentssouveränität über Bord geworfen würde. Von der mag man zwar halten was man will; ihr nun einmal eingenommener überragender verfassungspolitischer Stellenwert hätte es aber verboten, sie so gewissermaßen en passant abzuschaffen. Die zweite Ansicht würde dem bestehenden common law nichts hinzufügen, denn zugunsten des Völkerrechts besteht ohnehin eine Interpretationsregel. Das deutet auf die vermittelnde Lösung. Entscheidend ist indes die von der Rechtsprechung eingenommene Haltung. Insoweit kann, ohne diese hier näher analysieren zu müssen, auf verschiedene Untersuchungen zurückgegriffen werden, 191 welche als durchgängige Regel ergein: Furmston et al., Effect on English Domestic Law, S. 32 ff. (42 ff.); Hunnings (Anm. 183), S. 60. 189 Zu dem folgenden siehe die gründliche Analyse bei Clark I Sulfrin (Anm. 188), S. 49 ff. 190 So offensichtlich der knappe Kommentar in HSE 42, S. 83: "This provision makes it dear ... that the directly applicable Community provisions are to prevail not only over existing, but also over future Acts of Parliament in so far as those provisions may be inconsistent with such enactments."

§ 7 Die Verträge über die Europäischen Gemeinschaften (EG)

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ben, daß die Gerichte Gemeinschaftsrecht auch gegen statute law anwenden, sofern letzteres nicht erkennbar trotz des Gemeinschaftsrechts zu gelten beansprucht. Damit also ist dem Gemeinschaftsrecht der Vorrang gegenüber dem statute law über die Regel "lex posterior derogat legi priori" hinaus nur gesichert, wenn das Parlament bei der Abfassung des statute das Gemeinschaftsrecht einfach übersehen hat, der Widerspruch also ungewollt war. 192 In diesen Fällen wird man nämlich dem betreffenden Gesetz eine Absicht, auch gegen Gemeinschaftsrecht gelten zu wollen, nicht entnehmen können. 193

191 Dazu siehe Clark I Sulfrin (Anm. 188), S. 53 ff. Auch die britische Regierung nahm anläßlich der Debatten über den European Communities Act diese Haltung ein, siehe Forman (Anm. 169), S. 51 f. 192 Allerdings ist diese Auslegung dogmatisch nicht ganz leicht zu begründen (siehe Anm. 193, 198), auch der von E/lis, Supremacy of Parliament and European Law, in: LQR 96 (1980), S. 511 ff. (513 f.) vorgeschlagene Weg ist hierzu nicht geeignet. Ellis meint, sec. 2 (4) des Act bleibe bei Widerspruch zwischen britischen Gesetzen und Gemeinschaftsrecht unberührt, weil das betreffende Gesetz nicht sec. 2 (4), sondern nur EG-Recht verletze; sec. 2 (4) werde hier nicht derogiert, sondern - im Gegenteil angewendet, denn gerade zur Lösung solcher Konfliktfälle sei die Vorschrift ja geschaffen. Das scheint zunächst verblüffend klar, beruht bei näherem Hinsehen aber auf einem Zirkelschluß. Denn so sehr es richtig ist, daß sec. 2 (4) in einem gewissen Umfang die lex-posterior-Regel außer Kraft setzen will (ebenda), so wenig ist mit dieser Feststellung der Nachweis erbracht, daß das Parlament solches auch darf. Mit anderen Worten: bei Widerspruch zwischen britischem Gesetz und Gemeinschaftsrecht ist mittelbar eben doch sec. 2 (4) betroffen, insofern nämlich, als eine Anwendung von sec. 2 (4) zur Außerkraftsetzung des betreffenden späteren statutes führen würde. 193 Hartley, European Community Law, S. 244, will auch diese Vorgehensweise als ,,rule of interpretation" verstanden wissen. Das ist zumindestens mißverständlich, wenn nicht sogar falsch, weil geeignet den Unterschied zu den bisher geläufigen Interpretationsregeln zu verwischen. Interpretation setzt Interpretationsbedürftigkeit, d. h. also Mehrdeutigkeit voraus und kann daher nur in einer begrenzten Zahl aller möglichen Fälle zum Zuge kommen. Die von den Gerichten nunmehr eingenommene Haltung gewährleistet dagegen, daß das Gemeinschaftsrecht immer zu berücksichtigen ist und - mit der genannten Ausnahme - im Regelfall den Vorrang erhält. Dieser Forderung ist mit einer bloßen Interpretationsregel nicht beizukommen. Das von Hartley gezeigte Verständnis ist allerdings für eine häufig in Judikatur und Literatur im Vereinigten Königreich eingenommene Haltung typisch, welche die mit der spezifischen Natur der Gemeinschaftsverträge verbundenen Wirkungen herunterzuspielen versucht, indem diese in die herkömmlichen Muster britischen Rechts eingeordnet und durch verschiedene pragmatische Rechtstechniken (dazu Petersmann, Souveränität des Britischen Parlaments, S. 78 ff., 205 ff.) in ihren Konsequenzen aufgefangen werden. Wenngleich sich insoweit praktisch zur Zeit wohl kaum Probleme ergeben, bleibt daher auf der rechtstheoretischen Ebene der Anspruch der Gemeinschaft, in den Mitgliedstaaten Quelle eigenen Rechts zu sein und nicht qua mitgliedstaatlicher Rechtsanordnung zu gelten, von den britischen Gerichten uneingelöst, was von dem Weißbuch der Regierung (Anm. 185),22 auch klar eingestanden wird. Das sieht auch Hartley, European Community Law, S. 245; deutlicher Clark / Sulfrin (Anm. 188), S. 61 f.; MitchelI, in: Cambrian L. Rev. (Anm. 183), S. 71 ff.; ders., in: CMLRev (Anm. 183), S. 117; Towner (Anm. 169), S. 53 ff.; Elias, British Constitution: Time for Reform? S. 8; anders dagegen Forman (Anm. 169), S. 43 f., der jedenfalls mit dem European Communities Act die Forderung nach einer Anerkennung des Gemeinschaftsrechts als einer eigenen Rechtsquelle erfüllt sieht.

2. Kap.: Das internationale Recht

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Wie sich dies in der Praxis auswirken kann, soll hier an einem Fall aufgezeigt werden. In Macarthys Ltd. v. Smith 194 machte eine Arbeitnehmerin geltend, daß sie weniger Lohn als ihr Vorgänger in der gleichen Tätigkeit, ein Mann, erhalte und somit wegen ihres Geschlechts diskriminiert werde. Die Mehrheit des Court of Appeal stellte sich auf den Standpunkt, daß der einschlägige Sex Discrimination Act den Grundsatz der gleichen Bezahlung nur für solche Tätigkeiten aufstelle, die von jeweils einem Mann und einer Frau zur gleichen Zeit ausgeübt werden; hier dagegen mußte ein Vergleich zwischen zeitlich einander nachfolgenden Beschäftigungsverhältnissen gezogen werden. Nach Ansicht des Gerichts konnte der Sex Discrimination Act folglich nicht greifen, obgleich Art. 119 EWGV Ungleichbehandlungen auch dieses Typs verbietet 195. Damit war ein Widerspruch zwischen Gemeinschaftsrecht und einem späteren Parlamentsgesetz festgestellt, was nach den üblichen Derogationsregeln zur Hintanstellung von Art. 119 EWGV hätte führen müssen. Lord Denning stellte hierzu fest: If on dose investigation it should appear that our legislation is deficient or is

inconsistent with Community law by some oversight of our draftsmen then it is our bounden duty to give priority to Community law. 196

Und fügte hinzu: Thus far I have assumed that our Parliament, whenever it passes legislation, intends to fulfil its obligations under the Treaty. If the time should come when our Parliament deliberately passes an Act with the intention of repudiating the Treaty or any provision in it ... then I should have thought that it would be the duty of our courts to follow the statute of our Parliament. 197

Klar erkennt Lord Denning auch den Unterschied zwischen der herkömmlichen Interpretationsregel, welche die Grundlage der innerstaatlichen Instrumentalisierung der EMRK abgibt, und den weitergehenden Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts, denen mit der Interpretationsregel allein nicht Rechnung zu tragen ist: In construing our statute, we are entitled to look to the Treaty as an aid to its

constuction; but not only as aid but as an overriding force. (Hervorhebung des Verfassers) 198

[1979] 3 All ER 325 = [1981] QB 180 (CA). Die Mehrheit der Richter wollten sich allerdings auf diese Auslegung des Art. 119 EWGV nicht eindeutig festlegen und überwies diese Frage daher zuerst an den EuGH; siehe dessen Urteil vom 27.3.1980, Rs. 129179, EuGH Slg. 1980, S. 1275 ff. 196 [1979] 3 All ER 325 aufS. 329; ebenso Lawton U., a. a. 0., S. 334 und ClummingsBruce U., a. a. 0., S. 335 f.: ,,1f the terms of the Treaty are adjudged in Luxembourg to be inconsistent with the provisions of the . . . Act, European law will prevail over that municipal legislation. " 197 a. a. 0., S. 329. 198 Ebenda. Noch deutlicher wurde der gleiche Gedanke von Clummings-Bruce U. (a. a. 0., S. 335 f.) formuliert, der ausdrücklich die von dem erstinstanzlichen Richter eingenomene Auffassung, derzufolge der EWGV als Mittel zur Auslegung britischen Rechts heranzuziehen sei, ablehnte. Zwar müsse dem Gemeinschaftsrecht der Vorrang 194

195

§ 8 Weitere völkerrechtliche Menschenrechtsschutzsysteme

111

Mit diesen Worten ist der gegenwärtige Stand des britischen Rechts zu dieser Frage präzise zusammengefaßt. 199 Für die über das Gemeinschaftsrecht vermittelten Grundrechte bedeutet dies, daß ihnen eine nur um ein Weniges höhere Geltungskraft zukommt als dem übrigen britischen statute law. Ein Schutz gegen den erklärten Willen des Parlaments ist vor einem britischen Gericht 200 auf diesem Wege nicht zu erstreiten. Bedenkt man, daß der hier angesprochene Normenbestand ohnehin eher schmal ist, rechtfertigt sich die Schlußfolgerung, daß insofern wesentliche Modifizierungen an dem im 1. Kapitel gezeichneten Bild nicht anzubringen sind.

§ 8 Weitere völkerrechtliche Menschenrechtsschutzsysteme Die EMRK hat auf die Grundrechtsdiskussion im Vereinigten Königreich einen weitaus größeren und nachhaltigeren Einfluß auszuüben vermocht als jedes andere Völkerrechtsabkommen. Diese überragende Stellung geht dabei in den allermeisten Fällen so weit, daß die Existenz anderer Verträge erst gar nicht zur Kenntnis genommen wird. Wenn somit von den übrigen völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzsystemen keinerlei nennenswerten Impulse auf die Bill of Rights-Debatte ausgegangen sind, - dies sei hier seiner Offensichtlichkeit wegen als Ergebnis vorweggenommen - muß dies aber mitniChten bedeuten, daß deren Vorhandensein nicht auf mancherlei Wegen objektive Wirkungen auf das britische Recht hat ausüben können, denen im Folgenden anhand einiger ausgewählter Verträge nachgegangen werden soll.

eingeräumt werden, aber das ändere nichts an dem Inhalt eines britischen Gesetzes (a. a. 0., S.336); hier wird ganz deutlich, daß norrnenhierarchischer Vorrang an sich nichts mit Auslegung zu schaffen hat. Siehe dazu aber auch die ergänzenden Ausführungen in [1981] 1 All ER 120 auf S. 121 und Phillips, Post-1972 Acts and Community Law, in: LQR 96 (1980), S. 31 ff. Zum weiteren case law, siehe Lester (Anm. 38), S. 70, Anm.20. 199 Zu dem Fall siehe ferner Al/an, Parliamentary Sovereignty, in: Oxford J. Legal Studies 3 (1983), S. 22 ff. (22 ff.); Wiseman (Anm. 177), S. 636 ff.; Clark / Sulfrin (Anm. 188), S. 58 ff.; und kritisch Allan, The Limits of Parliamentary Sovereignty, in: PL 1985, S. 614 ff. (617). Siehe ferner Garland v. British Rail Engineering Ltd. [1982] 2 All ER 402 = [1983] 2 AC 751 (HL). - Weniger eindeutig als Macarthy war zuletzt die Entscheidung des House of Lords in Duke v. G. E. C. Reliance Ltd. [1988] 2 WLR 359. Siehe die zu Recht kritischen Anmerkungen bei Ellis, EEC Law and the Interpretation of Statutes, in: LQR 104 (1988), S. 379 ff. 200 Anders als die EMRK sehen die Gemeinschaftsverträge keinerlei Möglichkeit für den einzelnen Bürger vor, bei Verletzungen des Gemeinschaftsrechts durch mitgliedstaatliehe Gewalt sich Recht vor dem EuGH zu verschaffen; über die Vorlage einer Sache beim Luxemburger Gericht entscheidet allein der jeweilige nationale Spruchkörper; dazu Bleckmann, Europarecht, S. 185 ff.

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2. Kap.: Das internationale Recht

1. Die Europäische Sozialcharta (ESC) Die Europäische Sozialcharta 201, neben der EMRK das zweite große Vertragswerk des Europarates, wurde am 18.10.1961 in Turin unterzeichnet und ist am 26.2. 1965 202 mit der fünften Ratiftkation gemäß Art. 35 Abs. 2 ESC in Kraft getreten. Das Vereinigte Königreich hinterlegte seine RatifIkation der Charta am 11. 7.1962, auch hier wiederum (wie bei der EMRK) als erstes Land von bisher insgesamt 17 Vertrags staaten. 203 Um eine möglichst große Zahl von Staaten zum Beitritt zu bewegen, bedient sich die Charta eines recht ungewöhnlichen Mittels: der ratiftzierende Staat wählt gemäß Art. 20 ESC aus dem Teil 11 der Charta, der das mit dem Vertragswerk niedergelegte materielle Recht enthält, diejenigen Artikel (und Absätze) aus, die er für sich als bindend ansehen will; alle anderen (materiellen) Vorschriften sind für diesen Staat ohne Wirkung. 204 Die Vorschriften der Charta sind nach dem Willen der Vertragstaaten nicht auf unmittelbare innerstaatliche Anwendung angelegt. Dies läßt sich einmal dem Wortlaut der operativen Vorschriften in Teil 11 entnehmen, kommt aber auch deutlich in dem Anhang zu Teil III der Charta zum Ausdruck, der die Durchführung der Charta ausdrücklich allein dem Überwachungssystem nach Teil IV vorbehält. 205 Dessen Herzstück sind die in Abständen von zwei Jahren bei den Vertragsstaaten einzureichenden Berichte und zwar sowohl zu den einzelnen von den Staaten jeweils angenommenen (Art. 21 ESC), wie auch zu den nicht angenommenen Vorschriften (Art. 22 ESC) des Teils 11. Die Berichte werden von einem aus unabhängigen Experten bestehenden Sachverstllndigenausschuß geprüft und beraten (Art. 24 ESC). Die dort gewonnenen Ergebnisse werden anschließend zusammengefaßt einem Unterausschuß des Regionalsozialausschusses des Europarates (Art. 27 Abs. 1 ESC), einem aus Regierungsvertretern zusammengesetzten, also politischen Gremium (Art. 27 Abs. 2 ESC), und gleichzeitig der Beratenden (jetzt: Parlamentarischen) Versammlung (Art. 28 ESC) vorgelegt. 206 Das Ministerkomitee schließlich kann auf der Grundlage des Sachverständigenberichts, des Berichts des Sozialausschusses und nach Anhörung der Bera201 Text in BGBl. 11 1964, S. 1262 ff., ETS no. 35 und in Miehsler / Petzold, EMRK I, EurSozCh. 202 BGBl. 11 1965, S. 1122. 203 Österreich, Zypern, Dänemark, Frankreich, BR Deutschland, Griechenland, Island, Irland, Italien, Niederlande, Norwegen, Spanien, Schweden, San Marino, Malta und Türkei (Stand: 10. Mai 1990). 204 Das Vereinigte Königreich entschied sich bei seiner RatifIkation für die Art. I, 2 Abs. 11, III, IV und V, 3, 4 Abs. I, 11, IV und V, 5, 6, 7 Abs. 11, III, V, VI, VIII IX und X, 8 Abs. I und IV, 9, 10, 11, 12 I, l3, 14, 15, 16, 17, 18 und 19; siehe BGBl. 11 1965, S.1124. 205 Siehe Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, S. 97 f.; Wengier, Unanwendbarkeit der Europäischen Sozialcharta, S. 10 f. 206 Bei den Beratungen des Sachverständigenausschusses ist außerdem ein Vertreter der ILO heranzuziehen (Art. 26 ESC), bei denen des Regionalsozialausschusses Vertreter internationaler Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen (Art. 27 Abs. 2 ESC).

§ 8 Weitere völkerrechtliche Menschenrechtsschutzsysteme

tenden Versammlung (Art. 29).2fJ7

mit

Zweidrittelmehrheit

Empfehlungen

113

erlassen

Die Charta ist als Ergänzung zu der die politischen und bürgerlichen, d. h. die sog. ,,klassischen" Grundrechte gewährleistenden EMRK angelegt und hat einen weitgespannten Anwendungsbereich. Dies und die außerordentlich große Bedeutung der für den modemen Wohlfahrtstaat typischen Sozialgesetzgebung hätte für die Charta eigentlich die besondere Aufmerksamkeit von Praxis und Literatur erwarten lassen. Merkwürdigerweise ist die Charta aber nicht nur im Vereinigten Königreich in der Öffentlichkeit relativ unbeachtet geblieben, auch in der wissenschaftlichen Literatur anderer Unterzeichnerstaaten hat sie nur einen Bruchteil des ihrer großen Schwester, der Menschenrechtskonvention, zuteil gewordenen Interesses erfahren. Freilich muß das keineswegs bedeuten, daß die Charta auch auf dem Felde praktischer Rechtspolitik keine Wirkungen hat entfalten können. Diese abzuschätzen, gestaltet sich aus einer Reihe von Gründen allerdings sehr viel schwieriger als etwa bei der EMRK. Zunächst hat das Überwachungsverfahren nach Teil IV nicht von Einzelpersonen im Rahmen eines justizförrnigen Verfahrens vorgebrachte Einzelfälle zum Gegenstand. Es entspricht der Natur der in Teil 11 umschriebenen Rechte als nicht unmittelbar anwendbare Regeln, daß deren Überwachung eine großflächige Prüfung der gesamten einschlägigen Gesetzgebung einschließlich der daraus entwickelten Praxis erfordert. 208 Anders als bei den Erkenntnissen der Organe der EMRK, die so gefaßt werden, daß die von dem betroffenen Staat daraus zu ziehenden Konsequenzen klar markiert sind, läßt die Umsetzung der Berichte des Sachverständigenausschusses 209 und mehr noch des Soziaiausschusses 21O den Regierungen erheblichen Spielraum. 207 Ein sog. ,,zyklus" von der Entgegennahme der Staatenberichte bis zum Abschluß des Verfahrens vor dem Ministerkomitee erstreckt sich etwa über 2 Jahre. Für nähere Einzelheiten hierzu, siehe Wasescha, Systeme de contröle de la Charte sociale, S. 30-40. 208 Wasescha, Systeme de contröle de la Charte sociale, S.44, meint das Überwachungssystem der EMRK sei "essentiellement judiciaire", das der Charta "essentiellement administratif'; das trifft den Unterschied jedoch nur zu einem Teil, denn sowohl judizielle wie auch administrative Verfahren sind am Einzelfall orientiert, das der Charta dagegen nicht. 209 Siehe etwa folgendes, ganz willkürlich herausgegriffenes Beispiel: "The comrnittee took note ofthe new vocational training programmes in the United Kingdom. It noticed nonetheless that the right to vocational training was not yet fully guaranteed, as certain forms of discrimination against foreign manpower existed in some sectors. The Committee had to conclude that this country does not fully comply with this provision." Council of Europe, Comrnittee of Independent Experts of the European Social Charter, Conclusions vm, 1984 (im folgenden: Conclusions Vm), S. 38. Hier werden weder die konkreten Vorschriften genannt, welche die Kritik des Ausschusses geweckt haben, noch irgendwie dargelegt, worin die beanstandete Diskriminierung besteht (was nicht unbedingt bedeuten muß, daß beides dem Vereinigten Königreich nicht bekannt ist). 210 Die Berichte des Sozialausschusses sind noch wesentlich knapper und kondensierter gefaßt, die Feststellung der Ergebnisse zu den einzelnen Ländern wird dadurch noch pointierter, aber auch aussageloser. Siehe etwa den Report on the 7th period of supervision

8 Koch

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2. Kap.: Das internationale Recht

Naturgemäß ist der so auf die Staaten ausgeübte Druck sehr viel geringer als bei den Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofes; bleiben diese ohne die notwendigen legislatorischen Konsequenzen seitens des verurteilten Staates, hat er damit zu rechnen, daß andere von der konventions widrigen Rechtslage betroffene Bürger ebenfalls den Weg nach Straßburg einschlagen und weitere Verurteilungen in der gleichen Sache herbeiführen werden. An einer solchen Sanktion fehlt es im Überwachungssystem der Charta. Andererseits bietet das Berichtsverfahren den Vorteil, die durch die Charta regulierten Rechtsbereiche jeweils zur Gänze der Prüfung der Überwachungsorgane zu unterwerfen, die außerdem in regelmäßigen Zeitabständen und ex officio tätig werden und nicht erst und nur auf Veranlassung eines Beschwerdeführers, wie die Instanzen der EMRK.211 Dies macht es aber andererseits schwieriger, eine kausale Verbindung zwischen einer bestimmten staatlicherseits ergriffenen gesetzgeberischen Maßnahme und der Rüge eines der durch die Charta eingesetzten Überwachungsorgane nachzuweisen. Immerhin enthalten insbesondere die Berichte des Sachverständigenausschusses eine Fülle von Anregungen, Hinweisen und Vorschlägen, die insgesamt eine gewisse, aber diskretere Wirkung sicher nicht verfehlen werden. Welche Einflüsse sind von der Charta auf die britische Rechtsordnung ausgegangen? Einige auf Grund der Charta neueingeführten gesetzlichen Vorschriften finden sich bei Wasescha 212 • Im jüngsten Bericht des Sachverständigenausschusses wird das Vereinigte Königreich zu weiteren Anstrengungen zur Anpassung seines Rechts an die Erfordernisse der Charta aufgerufen. Schwerpunkte der Kritik waren Diskriminierungen der Frauen im Arbeitsleben bzw. fehlender gesetzlicher Schutz hiergegen 213 sowie die Diskriminierung von Ausländem 214 . Interessant ist das vom Ausschuß in Hinsicht auf das erreichte sozialpolitische Niveau innerhalb des Vereinigten Königreichs festgestellte regionale Gefälle. So hatten Nordirland 215 und auch die Isle of Man, ein formell allerdings außerhalb on the application of the European Social Charter, Committee on Social and Health Questions, in: Council of Europe, Parliamentary Assembly (34th sess.), Doc. 4983. 2ll Für weitere Einzelheiten zu einem Vergleich von Charta und Konvention, siehe Wasescha, Systeme de contröle de la Charte sociale, S. 44 ff. 212 a. a. 0., S. 187 f.; Wasescha nennt folgende Bereiche: die Vorschriften im Merchant Shipping Act über die Desertion von Seeleuten von Schiffen fremder Flaggen (siehe dazu auch Conclusions VllI, S.33), die Verlängerung von Kündigungsfristen (Conclusions vm, S. 73 f.), Verbesserungen des Status nichtehelicher Kinder in Schottland, bestimmte Regelungen über Familienzusammenführung (Conclusions vm, S. 216) und über den Arbeitsschutz; ein weiteres Beispiel fmdet sich bei Street, Freedom, the Individual & the Law, S. 311. 213 Conclusions VIII, S. 33, 63, 126 f. 214 a. a. 0., S.38, 138, 177, 199 f.; siehe auch die vom Ausschuß für unzulässig erachteten Beschränkungen bei der Familienzusammenführung von Wanderarbeitnehmern, a. a. 0., S. 216, sowie die Bemerkungen zur Ausweisung, a. a. 0., S. 220. 215 a. a. 0., S.92: unzureichende Regelungen über die Anerkennung von Gewerkschaften im Rahmen von Tarifverhandlungen (Art. 6 Abs. 2 ESC); a. a. 0., S. 99: unzureichend geschütztes Streikrecht (Art. 6 Abs. 4 ESC); a. a. 0., S. 163: unzulässige Vorbedin-

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des Vereinigten Königreichs stehendes Gebiet,216 von seiten des Ausschusses Kritik hinzunehmen, von der die übrigen Teile des Vereinigten Königreichs ausgenommen blieben. Ebenso wie bei manchen Entscheidungen der Organe der EMRK217 zeigt sich hier eine gewisse menschenrechtliche Rückständigkeit in den ,,Randgebieten" des Vereinigten Königreichs, vor allem aber das für einen Einheitsstaat eigentlich verwunderliche Fehlen eines einheitlich durchgesetzten Grundrechtsstandards; auf die sich hieraus ergebenen denkbaren Folgerungen im Hinblick auf die Einführung eines Grundrechtskataloges wird später noch einzugehen sein.

2. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) Ebenfalls ein Berichtssystem errichtete der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte 218 vom 19.12.1966. Der Pakt ist am 23.3.1976 in Kraft getreten,219 für das Vereinigte Königreich allerdings erst am 20.8.1976 220 . Ungewöhnlich sind die bemerkenswert langen Vorbehalte, die das Vereinigte Königreich bei Gelegenheit der Ratifikation 221 angebracht hat 222 und die daher etwas genauer dargestellt zu werden verdienen. Dabei bleibe hier dahingestellt, ob es sich im Sinne des Völkervertragsrechts jeweils um "Vorbehalte" oder "erläuternde Erklärungen" handelt. Insgesamt gibt es deren zwölf, wovon sich sieben auf Gebiete außerhalb des Vereinigten Königreichs beziehen und meistenteils begrenzten örtlichen Besonderheiten Rechnung tragen und daher außer Betracht bleiben können. gungen für die Inanspruchnahme staatlicher Fürsorgeleistungen (Art. 13 Abs. 1 ESC); a. a. 0., S. 210: unzulässige Beschränkung bei der Gewährung von Wohnungsgeld für Ausländer (Art. 19 Abs. 4 ESC). 216 a. a. 0., S. 74: unzureichend kurze Kündigungsfristen (Art. 4 Abs. 4 ESC); a. a. 0., S.99: unzureichend geschütztes Streikrecht (Art. 6 Abs. 4 ESC); a. a. O. S. 163 und S. 167: unzulässige Vorbedingungen für die Inanspruchnahme von staatlichen Sozialhilfeleistungen (Art. 13 Abs. 1 und 4 ESC); a. a. 0., S. 191: Beschränkungen des Erbrechts nichtehelicher Kinder (Art. 17 ESC). - Die Isle of Man ist gemäß Art. 34 Abs. 2 ESC in den Anwendungsbereich der Charta einbezogen (BGBl. 11 1965, S. 1124). 217 Siehe etwa die Entscheidungen des EuGHMR in den Sachen Dudgeon (Nordirland) und Tyrer (Is1e of Man); dazu oben § 6 Ziffer b) bb) und cc). 218 Text in BGBl. 1973 11 S. 1534. 219 BGBl. 197611 S. 1068; siehe dazu Art. 49 IPbürgR. 220 BGBl. 1976 11 S. 1966. 221 U. a. eine ,.Erklärung" über das Verhältnis von VN-Charta und Pakt hatte das Vereinigte Königreich bereits bei seiner Unterzeichnung am 16.9.1968 abgegeben, siehe deren Text in UN Doc. CCPR/C/2/Rev.1, S. 31 (auszugsweise auch in BGBl. 1976 11 S. 1966); dazu im einzelnen, Schwelb, UK Signs the Covenants on Human Rights, in: ICLQ 18 (1969), S. 457 ff. 222 Text in BGBl. 1976 11 S. 1966 sowie in UN Doc. CCPR/C/2/Rev.1, S. 32 f. 8*

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Interessanter ist, daß das Vereinigte Königreich sich veranlaßt sah, Gesetze und Verfahren, die die Aufrechterhaltung der Dienst- und Haftdisziplin bei Angehörigen der Streitkräfte und Insassen von Haftanstalten zum Ziele haben, vom Anwendungsbereich des Paktes auszunehmen. Ferner behielt sich das Vereinigte Königreich entgegen Art. 12 Abs. 4 und anderen Vorschriften des Paktes vor, "auch in Zukunft diejenigen Rechtsvorschriften über Einreise, Aufenthalt und Ausreise aus dem Vereinigten Königreich anzuwenden," die jeweils für erforderlich gehalten werden. Ebenfalls gegen die Freizügigkeit gerichtet ist ein auf den ersten Blick nicht recht verständlicher Vorbehalt, welcher vorsieht, daß die Garantie der inneren Freizügigkeit, die sich gemäß Art. 12 Abs. 1 IPbürgR auf das "Hoheitsgebiet eines Staates" zu erstrecken hat - gemeint ist wohl: des ganzen Staates - , vom Vereinigten Königreich demgegenüber nur bezogen wird auf "each of the territories comprising the United Kingdom ...": damit bleiben jene britischen Vorschriften des Prevention 0/ Terrorism (Temporary Provisions) Act (sec. 3, 4 und 5) unberührt, welche im Zuge der Bekämpfung des von Nordirland ausgehenden Terrorismus erlauben, bestimmten Personen den Aufenthalt entweder in Großbritannien oder in Nordirland zu verbieten und ihre Bewegungsfreiheit damit auf den jeweils anderen Landesteil zu beschränken. 223 Einen ebenfalls recht weitgehenden Vorbehalt haben die Briten in Hinsicht auf ihr Staatsangehörigkeitsrecht angebracht, das vollständig vom Anwendungsbereich des Paktes, insbesondere von Art. 24 Abs. 3 IPbürgR ausgenommen ist. Praktisch außer Kraft setzten die Briten den allerdings aus der Sicht ihrer Tradition besonders problematischen Art. 20 IPbürgR, mit dem die Staaten zum Erlaß von Strafvorschriften gegen Kriegspropaganda und anderes mehr verpflichtet werden. Betrachtet man diese Vorbehalte im Zusammenhang, so fällt vor allem auf, daß das auch im Vereinigten Königreich umstrittene Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrecht praktisch zur Gänze außerhalb des Paktes bleibt. Besonders dieser Vorbehalt läßt angesichts der doch sehr weiten Schranken in Art. 12 Abs. 3 IPbürgR für diese Rechtsbereiche in menschenrechtlicher Hinsicht wenig Gutes erwarten. Aber auch den gesamten Bereich der im Zusammenhang mit der Bekämpfung des nordirischen Terrorismus getroffenen Vorkehrungen hat das Vereinigte Königreich gemäß Art. 4 Abs. 3 IPbürgR von der Anwendung des Paktes ausgenommen. 224 Damit sind beide der für das Vereinigte Königreich aus men223 1976 c. 8. Diese Vorschriften wurden im Prevention 0/ Terrorism (Temporary Provisions) Act 1984 bestätigt; siehe hierzu Samuels, Legal Response to Terrorism, in: PL 1984, S. 365 ff. (368 f.). - Diese erstaunlichen Vollmachten sind überdies einer gerichtlichen Kontrolle weitgehend entzogen; insgesamt ist diese Art des "inneren Exils" zwischen November 1974 und Juni 1981 in 272 Fällen verhängt worden; siehe Hewitt, Abuse of Power, S. 167 f. und Cairncross UN Doc. CCPR/C/SR.70, § 3l. 224 Die Erklärung ist abgedruckt in United Nations, Multilateral Treaties, New York 1977 (ST /LEG/SER. D/lO), S. 105 f. Mittlerweile hat das Vereinigte Königreich diese Derogation allerdings wieder zurückgenommen, siehe UN Doc. CCPR/C/2/Rev.1, S.57.

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schenrechtlicher Sicht besonders problematischen Politikbereiche erfolgreich dem Regime des Paktes entzogen worden. Allerdings sind diese in der Tat sehr weit gefaßten Vorbehalte, Deklarationen, Derogationen etc. auch nicht ohne Kritik in dem Ausschuß geblieben. 225 Gemäß Art. 40 Abs. 1 lit. a IPbürgR verpflichten sich die Staaten innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Paktes einen ersten Bericht über dessen Implementierung vorzulegen und von dem mit den Art. 28 ff. IPbürgR geschaffenen Ausschuß für Menschenrechte prüfen zu lassen (Art. 40 Abs. 2). Weitere Berichte können von dem Ausschuß zu einem späteren Zeitpunkt angefordert werden (Art. 40 Abs. 1 lit. b). 226 In Vollzug dessen hat das Vereinigte Königreich seinen ersten Bericht ("initial report") am 18. August 1977 eingereicht 227 . Nach seiner recht ausführlichen Behandlung im Ausschuß228 wurde zur Beantwortung von dort laut gewordenen Fragen und Zweifeln ein ergänzender Bericht ("supplementary report") nachgereicht 229 und erneut diskutiert 230. Einen zweiten und dritten Bericht erstellte das Vereinigte Königreich zum 03.9.1984 bzw. zum 30.10.1989. 231 Der zweite Bericht wurde ebenfalls im Ausschuß ausführlich beraten. 232 Weitere Rechtsschutzmöglichkeiten bieten der Art. 41 IPbürgR, der die Staatenbeschwerde regelt, sowie ein Fakultativprotoko1l 23 3, wo das nähere Verfahren zur Entgegennahme von Mitteilungen ("communications") von Einzelpersonen durch den Ausschuß geregelt ist. Das Vereinigte Königreich hat sich zwar dem Verfahren nach Art. 41 IPbürgR unterworfen, wohl aus Rücksicht auf die in der 225 Siehe etwa die Stellungnahmen von Graefrath, UN Doc. CCPR/C/SR.69, § 13 und § 26; Tarnopolski, a. a. 0., § 31; Lallah, SR.148, §§ 3 ff.; Movchan, a. a. 0., § 14. 226 Für weitere Einzelheiten zu dem Verfahren, siehe Tomuschat, Der Ausschuß für Menschenrechte, in: VN 29 (1981), S. 141 ff. und Nowak, Effectiveness ofthe International Covenant on Civil and Political Rights, in: HRU 1 (1980), S. 136 ff. (144 ff.). 227 UN Doc. CCPR/C/l / Add. 17.; das Vereinigte Königreich reichte einen gesonderten Bericht für die beiden Kanal-Inseln und die Isie of Man, UN Doc. CCPR/C/ 1/ Add. 39, sowie für die sog. "dependent territories", UN Doc. CCPR/C/l/Add. 37 und Corr.l ein. 228 Siehe UN Doc. CCPR/C/SR.67, SR.69 und SR.70. Für eine Zusammenfassung der Debatten siehe Report ofthe Human Rights Committee (A/33/40), UN Doc. GAOR 33rd sess., suppl. no. 40, S. 31 -38. 229 UN Doc. CCPR/C/l/Add. 35. 230 UN Doc. CCPR/C/SR.147, SR. 148 und SR. 149. Für eine Zusammenfassung der Debatten siehe auch Report of the Human Rights Committee (A/34/40), UN Doc. GAOR 34th sess., suppl. no. 40, S. 53 -58. 231 Zweiter Bericht: UN Doc. CCPR/C/32/ Add. 5; der Bericht zu den abhängigen Gebieten fmdet sich in CCPR/C/32/ Add. 14 und Add. 15; dritter Bericht: UN Doc. CCPR/C/58/Add.6. 232 UN Doc. CCPR/C/SR.593, SR.594, SR.596, SR.597 und SR.598 sowie SR.855, 856 und 857. Die Diskussion des dritten Berichtes liegt noch nicht vor. 233 UN Doc. GAOR 21st sess., suppl. no.16 (A/6316), S. 59 ff. Der Text ist auch abgedruckt in BT-Drs. 7/660, S. 66 ff. und in Miehsler / Petzold, EMRK I, UNMR Pakt 2/FakProt.

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2. Kap.: Das internationale Recht

EMRK vorgesehene Einzelbeschwerde nach Art. 25 EMRK jedoch nicht dem Fakultativprotokoll. 234 Wie nicht anders zu erwarten, ist der Pakt nicht in das Landesrecht inkorporiert worden. 235 Soweit feststellbar ist er auch nie von einem britischen Gericht in Anwendung der bekannten Auslegungsregel bei seiner Entscheidungsfindung herangezogen worden. 236 Für die Zwecke dieses Abschnitts von Interesse sind die im Zuge des Berichtsverfahrens von einigen Seiten angemeldeten ins Grundsätzliche gehenden Zweifel, inwieweit angesichts der verfassungsrechtlichen Beschaffenheit der britischen Rechtsordnung diese überhaupt in der Lage sei, einen effektiven Schutz der in dem Pakt niedergelegten Grundrechte zu ermöglichen. So wurde etwa gefragt, inwieweit es ausreiche, wenn bestimmte der im Pakt garantierten Rechte allein durch common law und nicht durch das Gesetzesrecht des Parlaments begründet würden; in Art. 2 Abs. 2 IPbürgR hätten sich schließlich die Staaten, nicht die Gerichte zur Ergreifung der für die Implementierung des Paktes notwendigen Schritte verpflichtet. 237 Dieses Argument läßt sich allerdings recht leicht entkräften. Denn wenngleich "Staat" im Sinne dieser Vorschrift sicherlich nicht mit der Dritten Gewalt gleichzusetzen ist, so gilt dies ebenso für die Erste Gewalt, das Parlament. Art. 2 Abs. 2 IPbürgR nimmt also keine der drei Gewalten in eine besondere Pflicht; vielmehr bleibt die Art der Durchsetzung dem einzelnen Staat überlassen, aber nur solange und nur soweit wie dieser im Ergebnis dem Anspruch des Art. 2 Abs. 2 IPbürgR Genüge tut. 238 Zu Recht kann man aber Bedenken haben, ob common law im Gegensatz zu dem abstrakter gefaßten und somit lückenloser greifenden Gesetzesrecht geeignet ist, dieses Ergebnis zu bewirken, ohne im Einzelfall gewichtige Bereiche ungeschützt zu lassen. 239 Die sich aus diesen spezifischen Eigenschaften von common law ergebenden Schwierigkeiten zeigten sich auch bei der Erstellung der beiden britischen Berichte, welche häufig 234 Siehe UN Doc. CCPR/C/2/Rev.1, S. 62. - Zu der Konkurrenz zwischen diesen beiden Menschenrechtsschutzsystemen und ihren Kontrollverfahren, siehe Meißner, Menschenrechtsbeschwerde vor den Vereinten Nationen, S. 53 ff. m. w. N. sowie die zwei Berichte eines mit dieser Frage befaßten Sachverständigenausschusses des Ministerkomitees des Europarates vom Februar 1968, in: Doc. CM (68)39, und vom 1.8.1970, in: Doc. H(70)7, abgedruckt im Anhang zu BT-Drs. 7/660, S. 42 ff.; speziell zu den in beiden Kontrollsystemen vorgesehenen Staatenbeschwerden, siehe die Resolution des Ministerkomitees des Europarates vom 15.5.1970, CM Res(70) 17, in: Miehsler / Petzold, EMRK 11, MinKtee / Res / Rec, S. 49 ff. sowie die Vorschrift des Art. 62 EMRK. 235 Die in dem Pakt niedergelegten Grundrechte sind selfexecuting, d. h. also als unmittelbar wirkende subjektive Rechte ausgelegt; dazu Tomuschat, Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen, in: VN 27 (1979), S. 1 ff. (3). Von daher stünde einer Übernahme des Paktes in das Landesrecht also nicht im Wege. 236 So auch der britische Delegierte Hammond vor dem Ausschuß, UN Doc. CCPR/ C/SR.593, § 40. 237 So Movchan UN Doc. CCPR/C/SR.69 § 68 und SR.147 § 8. 238 So auch Tomusehat UN Doc. CCPR/C/SR.69 § 83 und Sir James Bottomley SR.70 § 12; Tomusehat (Anm. 240), S. 3. 239 In diesem Sinne Tomuschat UN Doc. CCPR/C/SR.69 § 83 und SR.147 § 40 und SR.593, §§ 27 f.

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eben nicht auf klar umrissene gesetzliche Vorschriften verweisen konnten, sondern sich mit nicht weiter nachprüfbaren und oft recht allgemein gehaltenen Hinweisen auf einschlägiges Fallrecht begnügen mußten, ein Umstand der dem Vereinigten Königreich auch deutliche Kritik eintrug. 240 Dies führt unmittelbar zu einem Problem, welches auch von der EMRK her geläufig ist, nämlich ob es für die Zwecke des Art. 2 IPbürgR ausreicht, kein dem Pakt entgegenstehendes nationales Recht zuzulassen, oder ob eine positive Begründung der einzelnen Grundrechte gefordert werden muß, was dann unmittelbar zu der weiteren Frage nach einer Pflicht zur Inkorporation des Paktes überleitet. 241 Weiter wurde im Ausschuß gefragt, wie der Bürger sich denn überhaupt gegenüber der britischen Staatsgewalt auf den Pakt berufen könne, wenn dieser doch nicht zu Landesrecht gemacht worden sei, 242 oder wie angesichts der Parlamentssouveränität gerichtlicherseits Gesetze anhand des Paktes überprüft werden könnten 243 • Dies sind natürlich die beiden klassischen Fragen, denen sich die Verfassungsordnung des Vereinigten Königreichs ständig ausgesetzt sieht. Wie nicht anders zu erwarten, wurden von den britischen Delegierten dem Ausschuß die genauso klassischen Antworten gegeben - nämlich: daß das Parlament niemals durch seine Gesetzgebung die internationalen Verpflichtungen des Landes verletzen werde, daß die Freiheiten der Bürger tief im Bewußtsein aller politischen Akteure verankert seien, daß das Parlament diese Freiheiten jederzeit hochhalte usw. usf. 244 Ebenso bezeichnend sind die Reaktionen der Experten auf diese Erläuterungen. Aus der Sicht des Paktes, der ja gerade mit den Mitteln des Rechts Menschenrechte sichern will, muß es notwendigerweise unbefriedigend sein, auf politische Sicherungen verwiesen zu werden. Dieses Unbehagen schlägt sich auch in den Rezepturen nieder, die dem Vereinigten Königreich vorgeschlagen wurden, etwa, daß Verfahren bereit zu stellen seien, welche die Überprüfung auch von Gesetzen anband des Paktes gestatten,245 oder gar die Einführung einer Bill of Rights 246 • Es sei hier nochmals dahingestellt, ob der Pakt solches tatsächlich verlangt. Aus ähnlichen Gründen wie bei der EMRK muß eine solche Konsequenz, jedenfalls die Schaffung forrnell-verfassungsrechtlicher Grundrechte wohl abgelehnt wer240 Movchan, UN Doc. CCPR/C/SR.149, §§ 10 f. 241 Diesen Fragen kann hier nicht weiter nachgegangen werden; siehe hierzu Tomuschat (Anm. 240), S. 3 f.; Nowak (Anm. 226), S. 164 f.; Schachter, Obligation to Implement the Covenant in Domestic Law, in: Henkin, International Bill of Rights, S. 311 ff. (325 ff.). 242 Prado Vallejo, UN Doc. CCPR/C/SR.69 § 42; Hanga a. a. 0., § 50; Cooray, SR. 593, § 13. 243 Tarnopolski, UN Doc. CCPR/C/SR.69 § 29; Lallah, SR.593, § 10. 244 Siehe etwa Richard, UN Doc. CCPR/C/SR.146, § 22. 245 Tomuschat, UN Doc. CCPR/C/SR.69 § 83 und SR. 147 § 40. 246 Diese Forderung wurde anläßlich des 2. Berichts laut, siehe Lallah, UN Doc. CCPR/C/SR.593, § 15; Movchan a. a. 0., § 21.

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2. Kap.: Das internationale Recht

den. Jedenfalls wurden auch hier die sich aus der Abwesenheit geschriebener forrnell- verfassungsrechtlicher Grundrechte und den Sonderheiten eines common law-Systems ergebenden Nachteile für den Menschenrechtsschutz deutlich angemahnt.

3. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwirtR) Im Verhältnis zum Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte wie die Sozialcharta zur EMRK steht der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 247 , der parallel zum Pakt über bürgerliche und politische Rechte ausgehandelt und ebenso wie dieser am 19.12.1966 zur Unterzeichnung aufgelegt wurde. In Kraft getreten ist der IPwirtR am 03. 1. 1976; 248 das Vereinigte Königreich ratifizierte ihn zusammen mit dem IPbürgR, so daß der IPwirtR für das Land somit ebenfalls seit dem 20.8. 1976 verbindlich ist. 249 Auch hier wieder sah sich das Vereinigte Königreich zur Abgabe recht umfänglicher Erklärungen und Vorbehalte sowohl bei der Zeichnung wie auch bei der Ratifikation 250 des Paktes veranlaßt, von denen die meisten sich jedoch auf abhängige Gebiete oder Territorien wie die Isle of Man usw. beziehen. Bemerkenswert ist freilich, daß das Vereinigte Königreich sich von der Verpflichtung befreite, gleiches Arbeitsentgelt bei gleicher Arbeit für Männer und Frauen gemäß Art. 7 lit. a) Ziffer i) IPwirtR zu gewährleisten. Diesen bei der Zeichnung abgegebenen Vorbehalt modifizierte das Vereinigte Königreich bei der Ratifikation durch den Hinweis, den Vorbehalt nur für bestimmte abhängige Gebiete gelten lassen zu wollen. 251 Ebensowenig wie die Sozialcharta ist der IPwirtR auf unmittelbare innerstaatliche Anwendung angelegt: er ist nicht self-executing. 252 Seine Implementierung wird daher allein über das im Teil IV des IPwirtR beschriebene recht komplizierte Berichtssystem kontrolliert, dessen nähere Einzelheiten in einer Resolution des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC) niedergelegt wurden. 253 Einzelheiten zu dem Verfahrens gang sind Art. 19 ff. IPwirtR zu entnehmen.

Text in BOBl. 1973 II S. 1570 ff. BOBl. 1976 II S. 428, dazu Art. 27 Abs. 1 IPwirtR. 249 BOBl. 1976 II S. 1964. 250 Auszugsweise abgedruckt in BOBl. 1976 II S. 1964 f. 251 a. a. 0., S. 1965. 252 Siehe dazu die eingehende Analyse bei Vierdag, The Legal Nature of the Rights Granted by the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, in: NYBIL 9 (1978), S. 69 ff., sowie Tomuschat (Anm. 235), S. 2 f. 253 E/RES / 1988(LX), in: ECOSOR 16th sess., suppl. no. 1, S. 11, betitelt: Procedures for the Implementation of the International Covenant on ... usw. Dazu siehe Ramcharan, Implementation of the Covenant, in: NILR 23 (1976), S. 151 ff. 247

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§ 8 Weitere völkerrechtliche Menschenrechtsschutzsysteme

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Das Vereinigte Königreich hat mittlerweile fünf ausführliche Berichte vorgelegt,254 zu denen Stellungnahmen der Working Group 255 und zum Teil auch der ILO 256 vorliegen. Diesem Material lassen sich viele höchst interessante Details zu der einschlägigen Rechtslage im Vereinigten Königreich und den abhängigen Gebieten entnehmen. Es ist aber nicht feststellbar, inwieweit die Gesetzgebung des Landes durch von der W orking Group geäußerte Kritik beeinflußt wurde. Ein Grund hierfür mag auch sein, daß anders als bei dem durch den IPbürgR geschaffenen Ausschuß die Erörterungen in der W orking Group häufig sehr allgemein bleiben und gelegentlich auch mehr politisch, denn von dem Bedürfnis um sachliche Aufklärung motiviert sind. Dem Urteil von Partseh, demzufolge der Pakt ,,nicht mehr als eine Offenlegung des erreichten Standards" bewirken kann,257 ist daher zuzustimmen.

4. Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD) Abschließend sei noch auf das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 258 (CERD) eingegangen. Die Konvention trat am 04.1.1969 in Kraft,259 für das Vereinigte Königreich am 06.4.1969 260 • Die anläßlich der Zeichnung abgegebenen Erklärungen des Vereinigten Königreichs 261 bezogen sich u. a. auf Art. 4,6 und 15 CERD und sind wohl sämtlich 254 1. Bericht zu den Art. 6-9 vom 16.9.1977, UN Doc. E/1978/8/Add.9 und Add. 30; zu den Art. 10-12 vom 15.4.1980, UN Doc. E/1980/6/ Add. 16, Add. 25 und Add.26; zu den Art. 13-15 vom 30.3.1982, UN Doc. E/1982/3/ Add. 16; 2. Bericht zu den Art. 6 - 9 vom 2. 8. 1984, UN Doc. E /1984 /7 / Add. 20; zu den Art. 10 - 12 vom 30.12.1987, UN Doc. E/1986/4/ Add. 23. 255 Siehe die Diskussionen in der Working Group UN Doc. E/1980/WG.1/SR.19 und E/1982/WG.1/SR.1 (zum 1. Bericht, Art. 6-9), UN Doc. E/1981/WG.1/SR.16 und SR.17 (zum 1. Bericht, Art. 10-12), UN Doc. E/1982/WG.1/SR.19, SR.20 und SR.21 (zum 1. Bericht, Art. 13 -15), UN Doc. E/ 1985 /WG. 1/SR.14 und SR.17 (zum 2. Bericht, Art. 6-9); der zuletzt eingereichte Bericht ist von dem aus unabhängigen Experten zusammengesetzten Ausschuß für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte diskutiert worden (UN Doc. E/ C. 12/1989/ SR. 16 -SR.17), der an die Stelle der Working Group trat. 256 Siehe die Berichte der ILO vom 22.3.1978, UN Doc. E/1978/27, p. 63 -71, vom 28.3.1979, UN Doc. E/1979/33, p. 105-121, vom 25.3.1981, UN Doc. E/1981/41, p. 36-38 und vom 19.3. 1982, UN Doc. E/1982/41, p. 13-22, usw. 257 Siehe Partseh, Stichwort: Menschenrechte, in: Wolfrum et al., Handbuch VN, S. 278 ff. (281). 258 Text in BGBL 1969 II S. 962. 259 Siehe United Nations, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary-General (Stand 31.12.1982), UN Doc. ST/LEG/SER.E/2 (Sales No. E.83.V.6), S.98; siehe dazu Art. 19 CERD. 260 BGBL 1969 II S. 2214. 261 Abgedruckt in BGBL 1969 II S. 980 und in UN Doc. ST/LEG/SER.E/2 (Anm. 259), S. 106.

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2. Kap.: Das internationale Recht

als relativ unproblematisch einzustufen. 262 Anders ist dagegen zu urteilen über die bei der RatifIkation vom Vereinigten Königreich abgegebenen Vorbehalte. 263 Hier fIndet man einen Hinweis, demzufolge die auch im Vereinigten Königreich höchst umstrittenen Commonwealth Immigrants Acts von 1962 und 1968 vom Anwendungsbereich der Konvention ausgenommen sind. Deren Vorschriften begründen u. a. eine Visumpflicht für bestimmte Bürger des Vereinigten Königreichs, unterscheiden also nicht lediglich zwischen Bürgern und Ausländern dies wäre wegen Art. 1 Abs. 2 CERD völlig unproblematisch - , sondern zwischen verschiedenen Klassen von eigenen Staatsbürgern, eine sehr viel anrüchigere Verfahrensweise. 264 Die Konvention ist ebensowenig wie andere völkerrechtliche Menschenrechtsschutzabkommen in das britische Recht übernommen worden. Soweit feststellbar, wurde sie nie von einem britischen Gericht bei seiner Entscheidungsfmdung herangezogen. Wichtigstes Instrument für die Kontrolle der Implementierung der Konvention sind auch hier wieder die von den Staaten selbst zu erstellenden Berichte (Art. 9 CERD), die von einem eigens geschaffenen Ausschuß für die Beseitigung der Rassendiskriminierung geprüft werden (Art. 8 CERD). Außerdem erlaubt Art. 14 CERD die Entgegennahme und Prüfung von Beschwerden von Einzelpersonen, sofern von dem betroffenen Staat eine entsprechende Erklärung abgegeben wurde; diesem Verfahren hat sich das Vereinigte Königreich jedoch nicht unterworfen. 265 Insgesamt sind vom Vereinigten Königreich (bis Juli 1989) zehn Berichte 266 eingereicht worden, die ausführlich im Ausschuß 262 Interessant ist die zu Art. 4 CERD angebrachte Erklärung, mit der das Vereinigte Königreich die Ergreifung "weiterer" gesetzgeberischer Maßnahmen zur Unterdrückung rassistischer Propaganda dem eigenen Ermessen vorbehält. Hier zeigt sich deutlich die Ablehnung des Konzepts von der wehrhaften Demokratie. Dazu siehe auch die bei Hewitt, Abuse of Power, S. 205 f. geäußerten Bedenken gegenüber den in den Race Relations Acts enthaltenen Strafvorschriften zur Unterdrückung rassistischer Propaganda (dazu oben § 3), die deswegen besonders bezeichnend sind, weil Hewitt sich im übrigen mit leidenschaftlichem EngagementjUr die Gleichberechtigung der Rassen einsetzt und im gleichen Zuge heftige Kritik an der ihrer Ansicht nach unzureichenden britischen Gesetzgebung übt. Siehe ferner folgende Feststellung im 5. Bericht des Vereinigten Königreichs (CERD /C/20 / Add. 17, p. 7): "The Government believes that in a democratic society unpopular views must be tolerated, no matter how distateful, and that public education and debate must playamajor part in defeating racialist propaganda." 263 Siehe UN Doc. ST/LEG/SER.E/2 (Anm. 259), S. 106. Die in BGBl. 196911 S. 2214 mit dem Vermerk " ... bei Hinterlegung seiner Ratifikationsurkunde ... abgegeben" abgedruckte Erklärung wurde entgegen dieser Angabe bereits anläßlich der Zeichnung vom Vereinigten Königreich hinterlegt; die in der UN-Fundstelle wiedergegebene Erklärung fehlt im BGBl. Hier liegt wohl ein Irrtum vor. 264 Dazu siehe oben Anm. 223 und dazugehörender Text. 265 Damit ist es aber bisher die Regel unter den Staaten, nicht die Ausnahme, denn es dauerte immerhin bis zum 3.12.1982 bis die zehn gemäß Art. 14 Abs. 9 CERD zur Inkraftsetzung dieser Verfahrensmöglichkeit notwendigen Erklärungen eingegangen waren; siehe Report of the Committee on the Elimination of Racial Discrimination, UN Doc. A/38/ 18, in: GAOR 33rd sess., suppl. no 18, § 23 und UN Doc. ST /LEG/SER.E/ 2 (Anm. 259), S. 107 f.

§ 9 Menschenrechtsschutz durch Völkergewohnheitsrecht?

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beraten wurden 267 • Die Auswertung dieses Materials soll dem 3. Kapitel überlassen bleiben. 268

§ 9 Menschenrechtsschutz durch Völkergewohnheitsrecht? Unumstritten ist, daß bestimmte menschenrechtliche Minimalpositionen unabhängig von Bestands- und Rechtskraft ihrer jeweiligen völkervertraglichen Fixierung Eingang in das Völkergewohnheitsrecht gefunden haben. 269 Dies wird man zum Beispiel für das Recht auf Leben in seiner elementarsten Ausprägung sagen müssen 270 • Insoweit also gelten einzelne der Rechtssätze der verschiedenen vorstehend erörterten Verträge gleichzeitig auch kraft Völkergewohnheitsrechts. In der britischen Verfassungsordnung kann Völkergewohnheitsrecht anders als Völkervertragsrecht auch ohne Gesetzesbefehl zu Landesrecht werden. 271 Daher könnten auf diesem Wege unabhängig von innerstaatlicher Umsetzung 266 1. Bericht, UN Doc. CERD/C/R.3/ Add. 14; 2. Bericht, CERD/C/R.30/ Add. 28; 3. Bericht, CERD/C/R.70/ Add. 34; 4. Bericht, CERD/C/R.90/ Add. 30; 5. Bericht, CERD/C/20/ Add. 17 und Add. 26; 6. Bericht, CERD/C/66/ Add. 13 und Add. 24; 7. Bericht, CERD/C/91/Add. 24; 8. Bericht, CERD/C/118/Add. 7; 9. Bericht, CERD/ C/149/Add.7; 10. Bericht, CERD/C/172/Add. 11 (und Add. 16 für die abhängigen Gebiete); die ersten vier Berichte sind nicht öffentlich verfügbar. 267 Die einzelnen Beratungen finden sich in folgenden Quellen: Zum 1. Bericht: UN Doc. CERD/C/SR.42, SR.43, SR.56, SR.57; zum 2. Bericht: SR.156, SR.157, SR.158; zum 3. Bericht: SR.244, SR.245, SR.248, SR.249; zum 4. Bericht: SR.348, SR.349; zum 5. Bericht: SR.398, SR.399; zum 6. Bericht: SR.487, SR.488; zum 7. Bericht: SR.605, SR.606; zum 8. Bericht: SR.716, SR.717; zum 9. Bericht: SR.793, SR.794 (letzter verfügbarer Bericht bis 29.12.89). 268 Siehe unten § 13 Ziffer 1. 269 Zu denken ist hier vor allem an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte v. 10.12.1948 und ihre zahllosen Bekräftigungen und Wiederholungen; zu deren völkergewohnheitsrechtlicher Geltung, siehe Humphrey, Universal Declaration of Human Rights, in: Ramcharan, Human Rights: Thirty Years after the Universal Declaration, S. 21 ff. (28 ff.). 270 So in einem anderen Zusammenhang auch Jahn, The Downing of KAL Flight 007, in: GYIL 27 (1984), S. 444 ff. (453 f.); Ramcharan, The Right to Life, in: NILR 30 (1983), S. 297 ff. (bes. 302 f.). 271 Die klassische Formulierung der älteren Lehre fmdet sich bei Blackstone, Commentaries, book IV (Kapitel 6) S. 67: "the law of nations ... is held to be apart of the law of the land." Im gleichen Sinne Lord Mansjield in Lockwood v. Coysgarne (1765) 3 Burr. 1676. Blackstone unterscheidet allerdings offenbar noch nicht zwischen Vertragsund Gewohnheitsrecht. Zu moderneren Auffassungen siehe Dahm, Völkerrecht I, S. 57 ff.; Dahm / Delbrück / Woljrum. Völkerrecht 1/ 1, S. 108 ff.; Brownlie, International Law, S. 45 ff.; Lauterpacht, Is International Law aPart of the Law of England? in: Transactions of the Grotius Society 25 (1939), S. 51 ff. - Lebhaft umstritten ist allerdings, wie das Völkergewohnheitsrecht Eingang in das britische Recht fmdet.

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2. Kap.: Das internationale Recht

qua parlamentarischer Anordnung manche der in den menschenrechtlichen Verträgen enthaltenen Garantien zu einem Teil des britischen Rechts geworden sein. 272 Allerdings wird etwa die EMRK in weiten Bereichen erheblich über dem solcherart abgesicherten menschenrechtlichen Standard liegen. Jenseits dieses globalen, vor allem bei der Allgemeinen Erklärung und ihren verschiedenen Fortentwicklungen anknüpfenden Ansatzes ist allerdings zusätzlich von der Existenz eines nur regionalen, auf den westeuropäischen Raum begrenzten Völkergewohnheitsrechts 273 auszugehen. In Anbetracht der hier im Vergleich mit der Gesamtheit der Staatengemeinschaft weit größeren Homogenität der Werteüberzeugungen kann von diesem regionalen Völkerrecht erwartet werden, daß es ein entsprechend höheres Niveau menschenrechtlicher Garantien hat erzeugen können. Daher werden gegenüber den universal gesicherten Menschenrechten weitergehendere Teile der EMRK als (regionales) Völkergewohnheitsrecht anzuerkennen sein und wären daher ebenfalls Teil der britischen Rechtsordnung. 274 Eine nähere Analyse der Regeln über die Rezeption von Völkergewohnheitsrecht zeigt jedoch, daß die britische Verfassung im Widerstreit von Völkergewohnheitsrecht und nationalem Parlamentsrecht letzterem den Vorzug einräumt. Dies zeigt sich schon bei dem englischen Verständnis vom materiellen Prozeß der Gewohnheitsrechtsbildung selbst: mit schönem Selbstbewußtsein wird die Mitwirkung des Vereinigten Königreichs zur notwendigen Voraussetzung für die Entstehung solchen Rechts erklärt. 275 Es kann somit kein Völkerrecht gegen das Vereinigte Königreich zustande kommen. Da aber auch hier gilt, daß die Prärogative der Krone zur Schaffung völkerrechtlicher Pflichten - gleich, ob diese gewohnheitsrechtlicher oder vertraglicher Natur sind - nicht die legislative Allzuständigkeit des Parlaments überspielen darf,276 ist das Völkergewohnheits272 Vor allem von Drzemczewski ist dieser Weg gewiesen worden, siehe dessen Applicability ofCustomary International Human Rights Law, in: RDH 8 (1975), S. 71 ff. (75 ff.); ders., in: RDH 9 (Anm. 16), S. 123 ff.; ders. in: ROH 12 (Anm. 16), 99; in diesem Aufsatz wird die völkergewohnheitsrechtliche Geltung der EMRK allerdings sehr viel vorsichtiger beurteilt als in den beiden erstzitierten Arbeiten. 273 Die Formulierung von Art. 38 Abs. 1 lit. b des Statuts des IGH scheint zwar nahe zu legen, daß es nur allgemeines, nicht aber regionales Völkergewohnheitsrecht geben könne. Die ganz h. M. (siehe nur Menzel/ Ipsen, Völkerrecht, S. 82 f.) hat sich einer solch engen Ausdeutung des Statuts indes entgegengestellt und findet eine überzeugende Stütze in der Entscheidung des IGH im Case Concerning Right of Passage over Indian Territory (Merits), Judgment of 12 April 1960: ICJ Reports 1960, S. 6 (39). 274 Ohne durchgreifenden Erfolg wurde dieser Gedanke vorgetragen in Allgemeine Gold- und Silberscheideanstalt v. Customs and Excise Commissioners (CA) [1980] 2 All ER 138 (S. 142, 144). 275 Siehe etwa Lord Alverstone in West Rand Central Gold Mining Co. Ltd. V. R. (1905) 2 KB 391, auf S.406-407: ,,1t is quite true that whatever has received the common consent of civilized nations must have received the assent of our country ..." 276 In Chung Chi Cheung v. The King [1939] AC 160 (S. 168) = [1939] 4 All ER 784 (S. 790) = (1938-1940) 9 ILR 264 (S. 266) stellt der Privy Council fest:"There is no external power that imposes its rules upon our own code of substantive law or procedure."

§ 9 Menschenrechtsschutz durch Völkergewohnheitsrecht?

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recht überdies stets an den statutes zu messen und hat diesen bei Widerspruch zu weichen. 277 Damit ist also auch über Völkergewohnheitsrecht ein Menschenrechtschutz gegenüber dem Parlament von vorneherein ausgeschlossen. Diese Konsequenz ergibt sich auch klar aus der schon zitierten Thakrar-Entscheidung 278 • Bei einigen Zweifeln zeigte sich das Gericht zwar bereit zu der Feststellung, daß das Völkerrecht gewohnheitsrechtlich jedem Staat vorschreibe, dem eigenen Staatsbürger im eigenen Land Aufenthalt zu gewähren. Wegen des entgegenstehenden Wortlauts des Immigration Act von 1971 wurde diese völkergewohnheitsrechtliche Regel nach Ansicht des Gerichts aber verdrängt und der Antragsteller abschlägig beschieden. Eindeutig ist auch die grundsätzliche Rangordnung zwischen Völkergewohnheitsrecht und common law. Trifft eine neu entstandene völkergewohnheitsrechtliche Regel auf einen ihr widerstreitenden Satz einer das erkennende Gericht bindenden Präjudizentscheidung, so verbietet die stare decisis-Doktrin, die alte Entscheidung aufzuheben (to overrule it); sie muß weiter angewendet werden. Es bleibt allein dem Parlament vorbehalten, case law neuen, hier völkergewohnheitsrechtlichen Entwicklungen anzugleichen. 279 Allerdings seien hier zwei Einschränkungen angebracht. Zum einen ist es jedem Richter unbenommen, den ihm zur Entscheidung vorgelegten Fall zu unterscheiden (to distinguish the case) von demjenigen, welcher der Präjudizentscheidung zu Grunde lag, und deren Bindungswirkung damit zu entgehen. Zum anderen ergibt sich eine andere Lage dann, wenn die in Rede stehende Völkerrechtsregel nicht ab ovo entstanden ist, sondern die Erweiterung oder Modifizierung bereits bestehenden Völkerrechts darstellt und die Präjudizentscheidung gerade die Feststellung dieses (im zwischenstaatlichen Bereich) nunmehr überholten völkergewohnheitsrechtlichen Satzes zum Gegenstand hatte. Dann nämlich geht es nicht um das Verhältnis zwischen innerbritisch erzeugtem (bzw. dort "vorgefundenem") Recht einerseits und Völkerrecht andererseits, sondern um die Derogierung eines Rechtssatzes durch einen anderen, die beide rezipiert wurden und beide einer fremden Rechtssphäre (dem Völkerrecht) entstammen. Hierzu hat der Court of Appeal in der Trendtex-Entscheidung festgestellt, daß im Völkerrecht stare decisis nicht gelte und deswegen ohne weiteres dem neuen 277 Hierzu gibt es eine weit ins 18. Jahrhundert zurückreichende Kette von Entscheidungen (siehe Brownlie, International Law, S. 45 m. w. N.). Aus neuerer Zeit sind zu nennen R. v. Secretary of State for the Home Department. ex p. Thakrar [1974] 1 QB 684 (s. 701, 708) = (1980) 59 ILR 458 (S. 460 f., 467); Trendtex Trading Corporation v. Central Bank ofNigeria (CA) [1977] QB 529 (S. 553) = (1983) 64 ILR 122 (S. 127). 278 [1974] 1 QB 684 (S. 768) = (1980) 59 ILR 458 (S. 407). 279 Jennings. Law & Constitution, S. 173 f. Anm. 5. Williams, Stare Decisis and the Doctrine of the Incorporation of Customary International Law, in: Northern Ireland Legal Q. 34 (1983), S. 166 ff. (169 ff.); Kingston / Imrie, Grundrechte im Vereinigten Königreich, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und USA, S. 715 ff. (733).

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2. Kap.: Das internationale Recht

Rechtszustand innerhalb der nationalen Rechtsordnung Rechnung zu tragen sei. 280 Allerdings ist auch klar, daß damit für den Menschenrechtschutz nichts gewonnen ist. In Trendtex wird nicht Völkerrecht gegen innerbritisches (im Sinne von dort erzeugtem) Recht mobilisiert, sondern nur eine Entwicklung des Völkerrechts selbst nachvollzogen. Was gilt, wenn ein Gericht aufgerufen ist, einen Völkerrechtssatz anzuwenden, zu dem zwar widersprechendes case law vorliegt, dieses aber das Gericht nicht bindet? Bei dieser Sachlage ergeben sich für den Richter die gleichen Möglichkeiten wie dann, wenn überhaupt keine Präjudizentscheidung existiert. Grundsätzlich gibt es allein zwei Möglichkeiten zur Entscheidung eines jeden denkbaren Rechtsstreites. Entweder entscheidet der Richter auf Grund einer Rechtsanwendung, d. h. durch Subsumtion unter eine vorgefundene Regel, die ihre Legitimität nicht aus ihrer nachvollzogenen Überzeugungskraft, sondern allein aus ihrer Normativität bezieht. Oder aber das Gericht geht den Weg der Rechtsschöpjung, bei der der vorgefundene Regel- und Entscheidungsbestand lediglich denkbare, aber eben nicht normativ-zwingende Lösungsmöglichkeiten aufzeigt, die in einer Gesamtschau im Wege selbständiger, argumentativer Auseinandersetzung ihre ,,Richtigkeit" erst nachweisen müssen. In Sinne dieser Alternative kann Völkergewohnheitsrecht in Abwesenheit bindender Präjudizien entweder seinerseits mit normativer Kraft ausgestattet sein, damit also eine selbstständige Rechtsquelle bilden, oder aber nur "persuasive authority" besitzen und somit dem Richter freie Hand lassen, ob er sich dem Gewohnheitsrechtssatz beugen will oder nicht. Merkwürdigerweise sucht man vergeblich nach einer höchstrichterlichen Entscheidung, welche dieses Problem als ratio decidendi zum Gegenstand hat und es auf einer rechtstheoretischen Ebene abhandelt. Auch indirekte Hinweise zur Klärung dieser Frage lassen sich nicht mit der wünschenswerten Klarheit gewinnen. Zum Beispiel läßt sich die geschilderte Alternative nicht gleichsetzen mit den Positionen, die im Rahmen des bekannten Streits über das Verhältnis von Landesrecht zu Völkerrecht mit den Begriffen Monismus und Dualismus bezeichnet werden. Denn eine generelle Transformation etwa durch einen Satz des (britischen) Gewohnheitsrechts, welcher die Anwendung von Völkergewohnheitsrecht zwingend machen würde, läßt sich mit den gemäßigten Spielarten sowohl des Monismus wie auch des Dualismus vereinbaren. Auch über die Frage nach dem Geltungsgrund von Völkergewohnheitsrecht läßt sich für dieses Problem keine vollständige Klarheit schaffen. Möglich ist, daß Völkerrecht ohne weiteres als britisches Recht zu gelten hat oder jedenfalls auf Grund einer allgemeinen Transformationsanordnung des britischen Rechts ohne weiteres zu britischem Recht wird; denkbar ist schließlich, daß Völkerrecht in jedem Fall eines besonderen und ausdrücklichen Umsetzungsaktes bedarf, also etwa einer entsprechenden Entscheidung eines Gerichts (und nur in diesem Falle wäre die Rezipie280

[1977] QB 521 (S. 578 f.) = (1983) 64 ILR 122 (S. 152 f.); Williams (Anm. 279),

S.170.

§ 10 Zusammenfassung

127

rung des Völkerrechts in das Ermessen des Richters gestellt).281 Hierzu gibt es zwar eine Reihe höchstrichterlicher Äußerungen. Diese haben aber bisher keine abschließende Klarheit schaffen können, auch wenn die Trendtex- Entscheidung deutlich gegen eine spezielle Transformation Stellung bezog. Sieht man aber einmal von theoretischen Fragestellungen ab und wendet sich mehr ergebnisorientiert der Judikatur zu, so zeigt sich, daß in Ermangelung bindender Präjudizien britische Gerichte vorliegendes Völkerrecht anwenden gleich wie sie dies begründen. 282 Auch die Trendtex-Entscheidung, mit der ja die Voraussetzung für die Anpassung an sich wandelndes Völkerrecht gelegt ist, indem dieses von der Bindung durch die stare decisis-Doktrin befreit wurde, zeigt an, daß Völkerrecht als selbständige, genuin eigenen Gesetzmäßigkeiten unterworfene Rechtsquelle behandelt werden soll. Damit ist also in dem schmalen Bereich, welcher jenseits des Gesetzesrechts und des gefestigten, bindenden case laws verbleibt, dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht eine eigene Entfaltungsmöglichkeit gesichert. Auf diesem Wege können also auch im Völkerrecht erzeugte menschenrechtliche Schutzregeln vor britischen Gerichten einklagbar werden. Die Stellung des Völkergewohnheitsrechts im Gefüge der Normenhierarchie bedeutet jedoch, daß solche Regeln gegenüber statute und common law zurückstehen müssen und deswegen kein Mittel zur Begrenzung rechtssetzender Gewalt sein können. Für den Menschenrechtsschutz im Vereinigten Königreich ist hier daher nichts zu gewinnen.

§ 10 Die Bedeutung des völkerrechtlichen Menschenrechts-

schutzes für das britische Recht: Zusammenfassung

Bedeuten die verschiedenen internationalrechtlichen materiellen Grundrechtsverbürgungen und formellen Schutzverfahren eine wesentliche Ergänzung zu dem vom nationalen britischen Recht entwickelten Menschenrechtsschutz? Die Beantwortung dieser Frage muß differenziert ausfallen. Partsch hat vier Stufen des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes in internationalen Organisationen festgestellt: 283 Programmierung - Statuierung - mittelbarer Schutz durch Offenlegung - Einrichtung eines unmittelbar wirkenden Rechtsschutzes durch internationale Organe. Diese Klassifizierung betont den Rechtsschutz vor der bloßen nicht verifizierbaren oder gar einklagbaren Grundrechtsverbürgung. In Abwesenheit eines geschriebenen Grundrechtskataloges im Vereinigten Königreich fehlt es hier an 281 Dazu Williams (Anm. 279), S. 166 ff. 282 In diesem Sinne auch Jennings, Law & Constitution, S. 173 f., Anm. 5. 283 Partsch (Anm. 257), S. 279 ff.

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2. Kap.: Das internationale Recht

Möglichkeiten zur gerichtlichen Feststellung und Durchsetzung von Grundrechten insbesondere gegenüber dem souveränen Parlament; der Partsehsehen Gewichtung ist im Hinblick auf die britischen verfassungsrechtlichen Verhältnisse daher ihre Berechtigung nicht zu bestreiten. Nach diesem Maßstab beurteilt sind die Europäische Sozialcharta, die Rassendiskriminierungskonvention und die beiden UN-Menschenrechtspakte ohne Bedeutung, weil es ihnen an derartigen Rechtsschutzmöglichkeiten fehlt, bzw. (im Falle des IPbürgR und der Rassendiskriminierungskonvention) das Vereinigte Königreich sich ihnen nicht unterworfen hat; das Völkergewohnheitsrecht hat hier naturgemäß ohnehin nichts zu bieten. Der EWGV hat insoweit zwar an sich das größte Potential, weil er vor allem auch im innerstaatlichen Rechtsweg einklagbar ist, bietet aber nur eine relativ schmale materiell-grundrechtliche Basis und hat daher bisher nur eine geringe Wirksamkeit entfalten können. Einen überragenden Stellenwert nimmt dagegen die EMRK ein, der man eine noch steigende Bedeutung für die Zukunft voraussagen muß. Vielleicht ist es nicht übertrieben, im Hinblick auf Ausmaß und Art der vor den Straßburger Organen entschiedenen britischen Fälle eine Tendenz auszumachen, welche die Rechtsschutzverfahren der Europäischen Menschenrechtskonvention im Vereinigten Königreich zum Ersatz für die dort fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit werden läßt. 284 Dabei kann es allerdings kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Institutionen der Konvention zur Übernahme einer solchen Aufgabe schon von ihrer Ausstattung her nicht in der Lage sind. Auch die ihnen zu Grunde liegende Konzeption als zu den nationalen Kontrollinstanzen (siehe Art. 13 EMRK) ergänzend hinzutretende Rechtsschutzorgane verbietet die erfolgversprechende Übernahme der Geschäfte eines nationalen Verfassungsgerichts. 285 Der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz könnte für das Vereinigte Königreich allerdings noch eine weitere Aufgabe erfüllen, die von der eben behandelten zu trennen ist. Wie schon aus der oben eingeführten Klassifizierung hervorgeht, ist es die erste Funktion des Völkerrechts, allgemein konsentierte, (mehr oder weniger) verbindliche Definitionen der staatlicherseits zu beobachtenden Grundrechte aufzustellen. Bei der im Vereinigten Königreich anzutreffenden Annut an übergreifenden positivierten Grundrechten, wie sie sich gemeinhin in formellverfassungsrechtlichen Grundrechtskatalogen finden, könnte das Völkerrecht eine wichtige Quelle für solche Normen werden. Zu fragen ist somit, ob der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz den britischen Bestand an materiellen Grundrechtsnormen nennenswert ergänzen konnte und damit mittelbar auch eine erweiterte Grundlage für die den nationalen Kontrollinstanzen zustehenden Prüfungsrechte zu schaffen in der Lage war. Auch hier wieder ist eine differenzierende Beurteilung angebracht. Die EMRK, die 284 Dieser Gedanke klingt auch an bei Lallah, UN Doc. CCPR/C/SR.593 § 16; dazu siehe § 14 Ziffer 1. 285 Mehr hierzu unten § 14 Ziffer 1.

§ 10 Zusammenfassung

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Sozialcharta, die beiden UN-Pakte und die Rassendiskriminierungskonvention haben keine innerstaatliche Geltung, können somit eine materiell-rechtliche Wirksamkeit allein über die Interpretationsregel entfalten. Eingetreten ist eine solche Wirkung bisher nur bei der EMRK; die Folgen blieben indes begrenzt. Auch in dieser Hinsicht am wertvollsten ist der EWGV, weil er unmittelbar geltendes britisches Recht ist, allerdings eben nur relativ wenige Grundrechte aufstellt. Das Völkergewohnheitsrecht wiederum bietet zwar einen größeren Bestand allerdings wohl nur recht grob definierter Grundrechte und verfügt zudem ebenfalls über unmittelbare Geltungskraft, kann aber in Folge seiner Stellung in der Normenpyramide nur in wenigen Fällen zum Zuge kommen und bleibt insgesamt weitestgehend unbeachtet. Eine wirklich durchschlagende Ergänzung des britischen grundrechtlichen Normenbestandes ist daher vom Völkerrecht nicht ausgegangen. Es bleibt noch eine letzte Auswirkung völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes zu bedenken, welche man sich gerade von den verschiedenen Berichtsverfahren erwarten kann. Denn wenn es schon häufig nicht gelingen mag, den durch das Völkerrecht geschaffenen menschenrechtlichen Positivierungen unmittelbar Eingang in die nationalen Rechtsordnungen zu verschaffen, so steht doch zu hoffen, daß jedenfalls mittelbare Einwirkungen auf das innerstaatliche Recht zu verzeichnen sein werden. Menschenrechtliche Völkerrechtsverträge schaffen Öffentlichkeit, und zwar eine über den einzelnen Staat hinausreichende Öffentlichkeit; darin liegt ein großer Teil ihrer Chancen begründet. Die von der Regierung zu einem solchen Vertrag eingenommene Haltung, ob sie den Vertrag ratifiziert oder nicht, ob zu einzelnen seiner Vorschriften Vorbehalte angebracht werden, und wenn ja, welche - all dies legt in gegebenenfalls kompromittierender Weise das Niveau der in diesem Staat von den Bürgern genossenen Freiheiten bloß, eine Wirkung, die durch die Pflicht zur Abgabe von Berichten zusätzlich perpetuiert und zugleich konkretisiert wird. Gerade von dem Gesetzgeber eines Landes, welches auf seine freiheitliche Tradition so besonders stolz ist, wird man daher erwarten können, daß er bei dem von ihm veranlaßten Recht wenn schon nicht aus Gehorsam gegenüber dem Völkerrecht, so doch wenigstens durch den Wunsch, einen international möglichst vorteilhaften Eindruck zu schaffen, zu einer menschenrechtsfreundlichen Rechtssetzung motiviert wird. Eine solche im Gegensatz zu einer rechtlich-normativen, politisch- tatsächliche Wirkung auf das Vereinigte Königreich nachzuweisen, ist mit in der Natur solcher Einflußnahmen begründeten Schwierigkeiten behaftet; derartige Einwirkungen vollziehen sich häufig eher diskret. Deutlich erkennbar sind sie vor allem bei der EMRK, was daran liegt, daß mit der dort geschaffenen Einzelbeschwerde ein besonders wirksames Motiv zur Anpassung an die Erfordernisse der Konvention existiert. Vom Pakt über politische Rechte und der Rassendiskriminierungskonvention sind wohl auch einige Wirkungen ausgegangen, wenngleich diese sicherlich sehr viel bescheidener sind als bei der EMRK. IPwirtR und Sozialcharta, die mangels darin niedergelegter subjektiver Grundrechte nur auf solche politisch-tatsächliche Wir9 Koch

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2. Kap.: Das internationale Recht

kung hin angelegt sind, machen eine Beurteilung besonders schwer. Gewisse Einflüsse der Sozialcharta auf das britische Recht sind unbestreitbar, im Hinblick auf den IPwirtR läßt sich einfach keine Aussage treffen. Der EWGV schließlich und das Völkergewohnheitsrecht müssen hier außer acht bleiben, weil beide unmittelbar geltendes britisches Recht sind. Welches Fazit ist aus alledem zu ziehen? Das Völkerrecht kann sicherlich in einzelnen Fragen durchaus interessante Ergänzungen zum nationalen britischen Grundrechtsschutz bereitstellen. Auf das Ganze bezogen bleibt seine Einwirkung auf das Vereinigte Königreich aber eher gering. Allein die EMRK und - soweit dieser die nötigen materiellen Normen bietet - auch der EWGV sind von diesem zurückhaltenden Urteil auszunehmen. Auch diese Regelwerke freilich können die im 1. Kapitel offenbar gewordenen Grenzen des nationalen Grundrechtsschutzes nicht entscheidend überspringen, diese werden vielmehr durch das Wirken der beiden europäischen Vertragssysteme eher noch zusätzlich akzentuiert und offengelegt. Nicht zu vernachlässigen sind hingegen die vom völkerrechtlichen Menschemechtsschutz im allgemeinen und von EMRK und EWGV im besonderen ausgegangenen Impulse etwa in Richtung auf Einführung einer Bill of Rights oder gar einer geschriebenen Verfassung: eine solche Debatte mit in Gang gesetzt zu haben, ist sicherlich nicht das schlechteste Zeugnis für die Ausstrahlungskraft dieser Verträge.

Drittes Kapitel

Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (Erster Teil) § 11 Grundrechtspraxis, Grundrechtsstandard und menschenrechtlicher Wertebestand Ausgangspunkt der Überlegungen all derjenigen, welche die Einführung eines Grundrechtskataloges fordern, ist die Feststellung, daß der im Vereinigten Königreich gegenwärtig vorfindbare Grundrechtsschutz unzureichend sei. Hiermit zu beginnen ist konsequent, denn wenn die britische Staats- und Rechtsordnung auch ohne einen solchen Katalog einen ausreichenden Menschenrechtsschutz zu gewährleisten in der Lage sein sollte, wäre mit diesem Verdikt das jedenfalls politische Todesurteil über einen in Aussicht genommenen Grundrechtskatalog gesprochen; ein einsichtiger Grund, um das Vereinigte Königreich den mit der Einführung eines solchen Regelwerks verbundenen und auch von den Befürwortern als erheblich eingeschätzten verfassungsrechtlichen Konsequenzen zu unterziehen, würde fehlen. Eine angemessene Erörterung dieser Frage kann sich freilich nicht nur mit einer Wiederholung der in den ersten beiden Kapiteln dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnis begnügen, daß nämlich die rechtlichen Absicherungen der Grundfreiheiten im Vereinigten Königreich unzureichend sind. Mit diesem bloß rechtlichen Befund ist der verfassungspolitischen Realität des Landes gerade nicht beizukommen. Grundlegende Prämisse des britischen Verfassungssystems ist das Primat des Politischen gegenüber dem Rechtlichen. Nur von daher rechtfertigen sich etwa die häufig außerordentlich weiten Ermessensspielräume der Verwaltungsorgane, aber ebenso die Parlamentssouveränität selbst. Die durch die Rechtsnorm zugewiesene Macht wird nur gewährt unter der Prämisse funktionierender politischer Kontrollen und des lebendigen individuellen Verantwortungsgefühls eines jeden Amtsträgers. Die eingeräumten Handlungsspielräume sollen nur in Ausnahmefallen ausgeschöpft werden. Das Recht setzt lediglich einen Rahmen, der die Grenzen des äußerstenfalls Zulässigen markiert, aber stets die Existenz machthemmender außerrechtlicher Faktoren voraussetzt. Hieraus folgt, daß sich im Vereinigten Königreich dem positiven Verfassungsund Verwaltungsrecht nur das dem betreffenden Rechtsträger überhaupt Erlaubte 9*

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

entnehmen läßt. Dasjenige hingegen, was als vernünftig und angemessen im alltäglichen Regelfall erwartet wird, sucht man in den einschlägigen Vorschriften häufig vergeblich. Anders als in vielen Ländern, wo das Recht (besonders aber die in den Verfassungen enthaltenen, gelegentlich mit großzügigen Gewährleistungen regelrecht überbordenden Grundrechtsabschnitte) mehr verspricht, als die Praxis hält, ist im Vereinigten Königreich bei den dortigen verfassungspolitischen Gegebenheiten mit dem gegenteiligen Befund zu rechnen. Das zeigt sich praktisch etwa an der Existenz weitgehender polizeipräventiver Eingriffsmöglichkeiten, I die aber tatsächlich über Jahrzehnte hinweg nur in ganz wenigen Fällen zur Anwendung kommen. 2 Gerade solche "schlafenden" Kompetenzzuweisungen ohne entsprechend eingrenzende Tatbestände sind unter einem System positivierter Menschenrechte nicht denkbar. 3 Dies bedeutet, daß viel stärker noch als in einer Rechtsordnung etwa wie der deutschen eine Beurteilung des Standes des Grundrechtsschutzes bei der Praxis und weniger am Recht anzusetzen hat. Diese eigentümliche Verbindung von "nur" politisch-moralischen Vorgaben einerseits und rechtlich normierten Handlungsanweisungen andererseits wird bei der weiteren Erörterung stets im Auge zu behalten sein. 4 Wenn also im folgenden von Grundrechtspraxis die Rede ist, so meint dieser Begriff eben nicht nur die an der Summe konkreter Einzelfälle ablesbare und als Ergebnis der Anwendung nur rechtlich sanktionierter Sätze entstandene grundrechtliche Wirklichkeit, sondern ebenso die Folgen der Operationalisierung bloß politisch-moralisch formulierter und sanktionierter Normen. I Siehe etwa die Ausführungen zu den in zahllosen Gesetzen verstreuten Ermächtigungen zur Durchsuchung von Personen und Wohnungen in dem Report 0/ the Royal Commission on Criminal Procedure (Cmnd. 8092, 1981), S. 25 § 3.14; kritisch hierzu Viscount Massereene and Ferrand, 402 H. L. Deb. 1028 (8.11.1979), der sich - zu recht oder nicht, sei hier dahingestellt - zu der Folgerung genötigt sah, daß " ... one can say that an Englishman's horne is no longer his castle." 2 Ein Beispiel hierfür nennt Street, Freedom, the Individual & the Law, S. 58: der Public Order Act von 1936 (1 Edw. 8 & 1 Geo. 6, c. 6) gibt den Behörden (in sec. 3 [2] und [3]) unter bestimmten Bedingungen das Recht, für eine Zeit von bis zu drei Monaten in einzelnen Gemeinden überhaupt alle öffentlichen Demonstrationszüge zu verbieten; hiervon ist von 1936 bis 1980 nur 11 Mal, von 1981 bis 1984 allerdings 75 Mal (hierzu siehe Thornton, Public Order Law, S. 144 f.) Gebrauch gemacht worden. Weiteres Anschauungsmaterial in diesem Sinne liefert die Praxis beim Abhören von Telephonen. Obwohl es hier bis vor kurzem überhaupt keine gesetzliche Regelung gab, die Behörden somit weitgehend frei über Anordnung und Durchführung solcher Maßnahmen entscheiden konnten, wurden einem Weißbuch aus dem Jahre 1980 zufolge (The Interception of Communications in Great Britain, Cmnd. 7873, Appendix ill) jährlich nur etwa 400 Anordnungen zum Abhören eines Telephons erteilt. 3 In der Staatsordnung des Grundgesetzes etwa müßten sich Ermächtigungen wie die in Anm. 2 neben anderem auch an dem aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Bestimmtheitsgrundsatz messen lassen. 4 Freilich ist diese Mischung an sich nichts typisch Britisches (siehe Heller, Staatslehre, S. 254 ff., bes. 255 zur Bedeutung nicht-rechtlicher Normen im Verfassungsrecht),

§ 11 Grundrechtspraxis. Grundrechtsstandard. Wertebestand

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In entsprechender Weise sind bei der Betrachtung des den jeweiligen Lebensbereich regierenden Regelbestandes neben den Rechtsnonnen auch politisch-moralische Ge- bzw. Verbote mit einzubeziehen, um diesen damit die ihnen im Vereinigten Königreich zukommende Bedeutung für das Verfassungsleben einzuräumen. Beide Nonnenbestände seien daher im folgenden zusammenfassend als Grundrechtsstandard bezeichnet. Gemeint ist hiennit die Summe derjenigen rechtlich und/ oder politisch-moralisch sanktionierten Nonnen, welche den Konsens eines Staatswesens über die in der Rechtspraxis zu verwirklichenden Menschenrechte in unmittelbar durch Subsumtion anwendbaren Sätzen ausdrücken. Um einen Überblick über die menschenrechtliche Leistung der britischen Verfassungsordnung zu erhalten, ist es also nötig, Grundrechtspraxis und Grundrechtsstandard miteinander zu vergleichen. Das alleine kann freilich nicht ausreichen, denn so sind offenbar nur Mängel der Grundrechtspraxis, nicht aber solche des Grundrechtsstandards zu ennitteln. Der Grundrechtsstandard aber liefert als die nonnhierarchisch vorgegliederte Ebene die für die Bestimmung der Grundrechtspraxis maßgeblichen Vorgaben; auf seine Überprüfung kann hier also keinesfalls verzichtet werden. Um das Prüfungsraster zu vervollständigen, das zur Erfassung der Gesamtheit des britischen Menschenrechtsschutzsystems erforderlich ist, bedarf es mithin der Annahme eines weiteren Nonnbestandes, der es erlaubt, auch den Grundrechtsstandard auf seine Vollständigkeit hin zu überprüfen. Offenbar erfordert dies einen Maßstab, der zu dem Grundrechtsstandard so steht wie dieser zur Grundrechtspraxis, d. h. der dem Grundrechtsstandard normhierarchisch übergeordnet ist. Kann es einen solchen vom Grundrechtsstandard zu trennenden Nonnenbestand in der Wirklichkeit aber geben? Klar dürfte sein, daß es sich dabei jedenfalls nicht um unmittelbar zu vollziehende Nonnen handeln kann, denn dann wäre eine Unterscheidung zum Grundrechtsstandard unmöglich. Andererseits entsteht der Grundrechtsstandard offensichtlich nicht zufällig. Sein Inhalt ergibt sich vielmehr in Konsequenz einer rechtlichen Umsetzung bestimmter innerhalb eines Gemeinwesens für verbindlich gehaltener Wertvorstellungen, die ihrerseits aber nicht so gefaßt sind, daß sie ohne weiteres rechtlich operationalisiert werden können, sondern dazu eines eigenständigen und schöpferischen Aktes der Konkretisierung bedürfen. Die Annahme eines solchen dem Grundrechtsstandard übergeordneten Wertebestandes ist also schon deswegen notwendig, weil die Entstehung gerade eines bestimmten Grundrechtsstandards sonst kausal gar nicht erklärbar wäre. Damit steht fest: Der Grundrechtsstandard ist seinerseits zu messen an einem für jeden Staat spezifischen Werte bestand (im folgenden auch als menschenrechtlicher Konsens bezeichnet), der die bei der Entfaltung der Staatlichkeit verfolgten grundlegenden geistigen, philosophischen und ideologischen Prämissen umreißt. wohl aber das darin von den außerrechtlichen Nonnen für weite Bereiche eingenommene Übergewicht.

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

Dieser Wertebestand sei gedacht als Quelle und Fundus des Grundrechtsstandards, der aus ihm hergeleitet wird. 5 Da er die letzten Aussagen über die mit dem Staat verfolgten Ziele enthält, muß er allem staatlichen. Tun hierarchisch übergeordnet und vorgegeben sein. Wie der Grundrechtsstandard kann auch der Wertebestand in schriftlich niedergelegten Normen gefunden werden, dann müssen diese notwendig formelles Verfassungsrecht sein. Demgegenüber hat der Grundrechtsstandard die Funktion, den konsentierten Wertebestand in subsumierbare und somit im konkreten Fall anwendungsfähige Inhalte umzumünzen. Seine (des Grundrechtsstandards) Normen können daher innerhalb der Normenhierarchie eine beliebige Stellung erhalten; je nach der Bedeutung der einzelnen Norm kann sie in das formelle Verfassungsrecht aufgenommen werden,6 eine nur einfachgesetzliche Fassung erhalten oder schließlich - unter Verzicht auf rechtliche Normierung - lediglich politisch-moralisch sanktioniert werden. 7 Da aber nun der für das Vereinigte Königreich verbindliche menschenrechtliche Konsens gar nicht, der Grundrechtsstandard nur zu Teilen an schriftlich niedergelegten Rechtssätzen ablesbar ist, bedarf es zu beider Fixierung des Einsatzes sowohl politikund sozialwissenschaftlicher, aber ebenso historischer Methoden. Demgegenüber ist in solchen Staaten, welche mit einem System richterlicher (oder anderer) Verfassungskontrolle ausgestattet sind, die Wertung der Grundrechtspraxis, u. U. auch die des Grundrechtsstandards, institutionalisiert, und sind die dort gewonnenen Ergebnisse an dem kontinuierlichen und qua Verfassungsrecht (im Gegensatz zur Verfassungspolitik) systemimmanenten Frage- und Antwortspiel der verfassungsrechtlichen Judikatur fortlaufend ablesbar. 5 Mehr zu der Verbindung zwischen menschenrechtlichem Wertebestand und Grundrechtsstandard siehe § 12 Ziffer 1 a) und b). 6 In Staaten mit formell-verfassungsrechtlichen Grundrechtsvorschriften können diese daher nicht einfach mit dem Grundrechtsstandard in dem hier definierten Sinne gleichgesetzt werden, weil es sich dabei häufig um schriftliche Niederlegungen des menschenrechtlichen Konsenses handeln wird, denen es an einer subsumtionsfähigen Fassung gerade fehlt; vgl. etwa Krüger, Verfassungswandlung und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS Smend, S. 151 ff. (157). Genau dies wird gemeint, wenn die Ansicht vertreten wird, die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde sei kein " ... Grundrecht im Sinne eines unmittelbar vollzieh- und durchsetzbaren subjektiven öffentlichen Rechts ..." (Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 Anm. 4); Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 23 ff., spricht insoweit von ,,rechtsethischen Prinzipien", die er allerdings nur als ,,Rechtsergänzungsquelle" (S. 41 f.) neben der ,,rechtssatzförmigen Rechtsordnung" stehend verstanden wissen will. Möglich ist aber ebenso, daß ein Grundrechtskatalog überhaupt keine Normen des Grundrechtsstandards enthält, sondern zur Gänze als Fixierung der Menschenrechte konzipiert wurde, so wohl im Falle der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789/91; siehe § 5, Anm.163. 7 Von welcher dieser Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird, kann allein nach praktischen Gesichtspunkten entschieden werden; im Vereinigten Königreich gibt es jedenfalls keine die Entscheidungsfreiheit insoweit eingrenzenden Regeln. Auch im Staatsrecht der Bundesrepublik fehlt eine Vorschrift, welche bestimmte materiell-verfassungsrechtliche Fragen zwingend der Regelung durch formelles Verfassungsrecht vorbehält (Verfassungsvorbehalt); Stern, Staatsrecht I, S. 83 f.; Bryde, Verfassungsentwicklung, S.253. Demgegenüber sind die durch die bundesverfassungsgerichtliche Wesentlichkeitstheorie definierten Regelungsbereiche nur durch förmliches Gesetz zu reglementieren.

§ 12 Die Schöpfung des Grundrechtsstandards

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§ 12 Die Schöpfung des Grundrechtsstandards 1. Der menschenrechtliche Konsens im Verhältnis zum Grundrechtsstandard a) Die Erweiterung des menschenrechtlichen Konsenses Ein erster Ansatzpunkt für eine kritische Würdigung des Gesamtsystems des britischen Grundrechtsschutzes ist der Grundrechtsstandard. Erweist dieser sich nämlich als unzulänglich, so wäre mit diesem Verdikt die nähere Prüfung der Grundrechtspraxis eigentlich hinfällig, weil diese dann notwendigerweise ebenfalls unbefriedigend sein müßte. Eine Unzulänglichkeit des Grundrechtsstandards ist auf zweierlei Wegen zu begründen. Zum einen ließe sich darlegen, daß bereits der dem Grundrechtsstandard zugrundeliegende menschenrechtliche Konsens bestimmte menschenrechtliche Forderungen nicht berücksichtige, welche dann naturgemäß auch in dem Grundrechtsstandard keinen Ausdruck finden können. Zum anderen könnte man rügen, daß der Grundrechtsstandard durchaus vorhandene Werte des Konsenses bislang nicht oder nicht in zureichender Weise umgesetzt habe. Im ersten Fall geht es also um die Schöpfung neuer, im zweiten dagegen um die Konkretisierung bestehender menschenrechtlicher Positionen. Resümiert man im Hinblick auf den ersten dieser beiden Ansatzpunkte die Bill of Rights-Debatte, so zeigen sich hier in der Tat eine Reihe von Forderungen, die unter dieser Rubrik einzuordnen sind; als typische Beispiele seien genannt etwa der Ruf nach Einführung eines Enteignungsschutzes 8 oder die Regulierung allzu exzessiver Gewerkschaftsmacht 9 • 10 Sicherlich ist es nicht einfach, Versuche, 8 Siehe Sir KeithJoseph, M. P., während einer Rede vom 29.1. 1975 vor der Conservative Political Centre Conference, in Auszügen abgedruckt in: Wallington / McBride, Civil Liberties, S. 139 ff. (139 f.). 9 Siehe schon Viscount Samuel, 147 H. L. Deb. 793-796 (15.5.1947); Joseph (Anm. 8), S. 140; hier stellt sich allerdings auch gleich das Problem der Drittwirkung von Grundrechten. Die Gewerkschaftsfrage hat insbesondere in den 70er Jahren Anlaß zu grundsätzlichen Fragen über das verloren gegangene gesellschaftliche Gleichgewicht im Vereinigten Königreich gegeben und war in dieser Periode ein wichtiger Grund für den Ruf nach einer Bill of Rights; siehe v. Loeper, VerwaltungsrechtspfIege, S. 146 ff.; Goodman, Zum gegenwärtigen Stand eines Grundrechtsschutzes in der britischen Verfassungsentwicklung, in: Zeitschrift für Politik 32 (1985), S. 412 ff. (413 ff.); Joseph, Freedom under the Law, S. 3 ff., der sich vor allem wegen der bedrohlich empfundenen Gewerkschaftsmacht zu einer Stellungnahme für die Bill of Rights veranlaßt sieht. 10 Andere Forderungen ähnlichen Typs wurden erhoben etwa von Lord Scarman, 402 H. L. Deb. 1031 (8. 11. 1979), dessen Ansicht zufolge das ,,right of privacy" dringend der Absicherung bedürfe; hier liegt sicher ein Grenzfall vor; siehe hierzu auch Smythe, Britain's Civil Liberties, in: Civil Liberties 1 (1973), S. 162 ff. (168). Weitere Beispiele nennt Baroness Gaitskell, 402 H. L. Deb. 1037-1038 (8.11.1979) und Stacey, Bill of Rights, S. 150 ff.

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den menschenrechtlichen Konsens zu ergänzen, abzugrenzen von dem Bemühen, diesen lediglich effektiver und vollständiger im Grundrechtsstandard zu konkretisieren. Die beiden genannten Beispiele sind allerdings insofern recht eindeutig, als in beiden Fällen nicht der Versuch gemacht wird, an irgendwelche bereits anerkannten Grundwerte anzuknüpfen. Dies spricht dafür, daß es hier tatsächlich um die Teilaufkündigung des noch maßgeblichen menschenrechtlichen Konsenses geht. Dessen Modifizierung verlangt indes nichts weniger als die Inanspruchnahme

verfassunggebender Gewalt. Der Wertebestand wurde defmiert als die höchstran-

gige Aussage über die im Staat zu verwirklichenden Wertvorstellungen. Nach dem im 1. Kapitel dargelegten formellen Verfassungsbegriff ll ist der Wertebestand somit notwendiger Bestandteil der formellen Verfassung, sofern er schriftlich niedergelegt wurde. Diese letztgenannte Voraussetzung ist nun freilich im Vereinigten Königreich gerade nicht erfüllt. Insofern fragt es sich, ob der Begriff der verfassunggebenden Gewalt für den hier allein interessierenden Bereich der Menschenrechte überhaupt sinnvoll verwendet werden kann. Als Kategorie der Rechtsdogmatik kann insoweit von "verfassunggebender Gewalt" nicht gesprochen,12 wohl aber in einem wirklichkeitswissenschaftlichen Sinne,13 denn auch der ungeschriebene Wertebestand als Teil der materiellen Verfassung setzt als stiftende Kraft irgendeine handelnde Instanz voraus. Wegen des - wenigstens im Bereich der Menschenrechte - fehlenden formellen Verfassungsrechts kann Verfassunggebung im Vereinigten Königreich insoweit allerdings nicht als Rechtsvorgang gedeutet werden,14 so daß man mit der Entscheidung darüber, 11 Siehe oben § 1 Ziffer 1. 12 Denn nur mit der Schöpfung formellen (und nicht nur materiellen) Verfassungsrechts schafft verfassunggebende Gewalt etwas von der gesetzgebenden Gewalt rechtlich Unterscheidbares, siehe Steiner, Verfassunggebung, S. 82 ff. \3 Steiner, Verfassunggebung, S. 83 spricht deswegen in diesem Zusammenhang von verfassunggebender Gewalt in einem "untechnischen Sinne"; Heller, Staatslehre, S. 277 hält - ohne damit im Ergebnis wohl etwas anderes zu meinen - die Annahme einer verfassunggebenden Gewalt unter den Bedingungen einer bloß "politische[n] Verfassung", welche nicht "Verfassunggebung" sei, für "überflüssig und rein fiktiv". 14 Für das Vereinigte Königreich macht es dabei keinen Unterschied, ob man dem staatsrechtlichen Positivismus folgt oder nicht. Dieser will die Ausübung verfassunggebender Gewalt nur dann als Rechtsvorgang verstehen, sofern sie in Vollzug eines bereits positivierten Rechtssatzes erfolgt; da ein solcher Satz aber regelmäßig durch die verfassunggebende Gewalt erst geschaffen werden soll, ist diese folglich ins Außer- und Vorrechtliche verwiesen: " ... Rechtswissenschaft zieht sich [so] auf sich selbst zurück und schneidet die Verbindung zu Staatstheorie, Philosophie, Geschichte und Soziologie ab." (Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 212, siehe auch allgemein zu dieser Denkschule auf S. 211 ff.). Auf dieser Grundlage kann höchstens der verfassungändernden Gewalt Rechtsqualität zukommen, was aber mangels entsprechender Rechtsnormen für das Vereinigte Königreich folgenlos bliebe. Versteht man demgegenüber auch die Wahrnehmung verfassunggebender Gewalt grundsätzlich als Rechtsausübung (vgl. Steiner, Verfassunggebung, S. 25 f., 29 ff., 33 ff.), so macht dies nur dann Sinn, wenn den dabei geschaffenen Normen rechtliche Wirkung

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wie der menschenrechtliche Konsens de "lege" ferenda umzugestalten sei, in den Bereich der politischen Vorgaben verwiesen wird. Außerdem folgt aus dem Wesen der verfassunggebenden Gewalt als Quelle der dem Staat eigenen Souveränität' daß ihre Ausübung allein dem autochthonen politischen Prozeß eines jeden Landes überlassen bleiben muß. Die Ergebnisse dieses Prozesses sind somit der juristischen Prüfung vorgegebene Wertungen. Über die Berechtigung und den Sinn eines neuen menschenrechtlichen Konsenses zu streiten, liegt somit außerhalb dessen, was diese Arbeit leisten kann. Im übrigen offenbart eine nähere Betrachtung der verschiedenen hier geltend gemachten und zu einem Gutteil recht heterogenen Forderungen sehr schnell ein erhebliches Maß an Widersprüchlichkeit und Uneinigkeit über die neu aufzunehmenden Inhalte. Hier wird wohl auch einfach Parteipolitik mit den Mitteln des Verfassungsrechts getrieben, zum Beispiel, wenn es um Schutz und Ausgestaltung des Eigentums geht. 15 Daher läßt sich über die nur negative Feststellung hinaus, daß der bestehende menschenrechtliehe Wertebestand von manchen als ungenügend empfunden wird, kein wirklicher positiv zu formulierender Konsens über neue Menschenrechte ausmachen. Vor allem aus diesem Grunde herrscht allgemein Einigkeit, einen gegebenenfalls einzurichtenden Grundrechtskatalog nicht ab ovo neu zu erarbeiten, sondern stattdessen mit der EMRK ein Rechtsinstrument zu übernehmen, welches seit über 30 Jahren eingeführt ist und allseits Zustimmung gefunden hat. 16 Die Bestimmung ganz neuer Menschenrechte soll also aus der ohnehin schwierigen Debatte um eine Bill of Rights ausgespart werden; 17 diesen Weg soll auch diese Arbeit beschreiten. zukommt (etwa die besonderen Folgen formellen Verfassungsrechts); daran fehlt es in der britischen Verfassungsordnung ebenfalls (siehe Anm. 12). 15 Siehe dazu die ausgesprochen politisch gemeinten Stellungnahmen von Lord Dukeston, 147 H. L. Deb. 772-777 (15.5.1947) und von Viscount Hall, 167 H. L. Deb. 1103-1104 (27.6.1950), sowie die Antwort der Labour Party, Charter ofHuman Rights, S. 3 f. auf die Vorstellungen der Konservativen zu einer Bill of Rights. 16 So vor allem das einstimmige Votum des Report o/the Select Committee on a Bill 0/ Rights, S. 20 § 6, S. 21 § 10 und S. 34 § 35; ebenso die vorherrschende Auffassung während eines Symposiums des British Institute 0/ Human Rights vom 18.-20. Juni 1976, S. 5 § 6, femerWallington / McBride, CivilLiberties, S. 12-14;Abernathy, Shou1d the United Kingdom Adopt a Bill ofRights? in: Am... 31 (1983), S. 431 ff. (471); Jacobs, Towards a Bill ofRights, in: J. Law Reform 18 (1984), S. 29 ff. (47 f.); Kingston / Imrie, Grundrechte im Vereinigten Königreich, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA, S. 715 ff. (806 f.); Elias, The British Constitution: Time for Reform, S. 23 f. Für eine Aufnahme etwa auch wirtschaftlicher und sozialer Rechte, und zwar über die EMRK hinaus, dagegen Pogany, Content of a Bill of Rights, in: Juridical Review 23 (1978), S. 12 ff. (15 ff.) unter Verweis auf die etwa auf sozialpolitischem Gebiet vom Vereinigten Königreich eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen (S. 21). 17 Zu recht verweisen Wallington / McBride, Civil Liberties, S. 12 f., darauf, daß der Versuch, den Streit um neue über den jetzigen Konsens hinausgehende Menschenrechte mit der Bill of Rights zu verbinden, notwendig zu Lasten der Bill of Rights gehen muß, weil dadurch die grundSätzliche Entscheidung für eine Bill of Rights weiter erschwert werde. Siehe auch Street, Freedom, the Individual and the Law, S. 316.

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I) b) Die Funktion der Grundrechtsinnovation

Von den vorstehenden Einwänden unberührt bleibt indes die Frage, inwieweit der Grundrechtsstandard im Vereinigten Königreich den de "lege" lata vorhandenen Wertebestand ausreichend in Normen des Grundrechtsstandard umsetzt. Diese einer entsprechend zweckdienlich und effektiv eingerichteten Staatsorganisation zu stellende Aufgabe sei im folgenden zusammenfassend als Grundrechtsinnovation 18 bezeichnet und zwar gleichviel, ob die dabei geschöpften Normen rechtsverbindlich oder nur als politisch-moralische Gebote niedergelegt werden. Grundrechtsinnovation ist also diejenige Funktion, mittels welcher die Verbindung zwischen Grundrechtsstandard und menschenrechtlichem Wertebestand hergestellt wird. Das Knüpfen dieser Verbindung ist jedoch nicht mit den methodischen Mitteln der Subsumtion zu bewältigen; denn Subsumtion würde subsumtionsflihige Sätze voraussetzen, die in dem menschenrechtlichen Wertebestand gerade nicht zu finden sind. 19 Grundrechtsinnovation vollzieht sich vielmehr durch die I nterpretation bereits bestehender Rechtssätze im Lichte und im Hinblick auf den menschenrechtlichen Konsens und der darin enthaltenen Wertvorstellungen; das Ziel ist, die Auslegung und Deutung des Rechts diesen Werten unterzuordnen. 20 Andererseits ist Grundrechtsinnovation aber ebenso durch Normsetzung voranzutreiben; hier geht es darum, durch die Schaffung ganz neuen Rechts die unter den konkre18 Grundrechtsinnovation in dem hier gemeinten Sinne ist nicht mit dem aus dem deutschen Staatsrecht bekannten Begriff des Verfassungswandels gleichzusetzen (siehe dazu Maunz I Dürig I Herzog I Schotz, Grundgesetz, Art. 79, Anm. 20): Verfassungswandel bedeutet die Ablösung einer (verfassungsrechtlichen) Norm durch eine andere, Grundrechtsinnovation dagegen die Herleitung einer Norm aus einer anderen. Außerdem impliziert der Begriff des Verfassungswandels formelles Verfassungsrecht, während es für die Grundrechtsinnovation gleich ist, wie ihr Ergebnis normiert wird (siehe Anm. 7), so wie es auch ohne Bedeutung ist, von welcher Rechtsqualität der Normenbestand ist, aus dem bei der Grundrechtsinnovation geschöpft wird. 19 Siehe hierzu Krüger (Anm. 6), S. 157 m. w. N., der von einem ,,konstitutionsdeterminierten Schöpfungsakt" spricht. Vgl. ferner Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 30 f., m. w. N. Bestätigt wird diese Auffassung auch durch die zu Recht immer wieder vertretene Ansicht, daß die etwa im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle vom Bundesverfassungsgericht entfaltete Tätigkeit etwas qualitativ anderes sei als bloße Subsumtion, siehe Krüger, a. a. 0., S. 158, 166. 20 Bezogen auf die grundgesetzliche Verfassungsordnung spricht Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 66 ff. von "Verfassungsinterpretation als Konkretisierung"; Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: NJW 27 (1974), S. 1529 ff. (1529) von "ausfüllender Interpretation, die nicht selten die Form einer Ausdeutung oder Konkretisierung annimmt"; Stern, Staatsrecht I, S. 128 (und allgemein dazu S. 83 f.) von ,,Normenkonkretisation". Vgl. auch Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 43 ff.; Schneider, Recht und Macht, S. 61 ff. bes. 105 und Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 80 ff., der allerdings meint, die britische Verfassungsordnung weise nur eine sehr geringe Konkretisierungsbedürftigkeit auf (S. 82), eine Feststellung, die sich aber wohl nur auf die geschriebenen Teile der britischen Verfassung bezieht, und der insoweit auch zugestimmt werden kann.

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ten Lebensumständen erforderliche rechtssatzmäßige Form menschenrechtlicher Werte zu finden und zu schaffen. 21 Im Zuge der Bill ofRights-Debatte ist in einer Reihe von Punkten die britische Rechtsordnung einer Kritik unterzogen worden, die bei Einordnung unter das im Vorstehenden erläuterte Prüfungsraster im Kern den Vorwurf mangelhafter Grundrechtsinnovation zum Gegenstand hat. Es ist schlechterdings ausgeschlossen, dieser Kritik in allen ihren vielfaltigen Schattierungen hier nachzugehen oder sie auch nur darstellen zu wollen. Solche Kritik gehört zu dem normalen politischen Alltag eines freien Landes, das sich gegenüber totalitär verfaßten Staaten u. a. gerade dadurch auszeichnet, daß die Diskussion um den jeweils besten Menschenrechtsschutz - auch ohne dramatische objektive Anlässe ständig in Bewegung und ein herausragender Topos der Politik ist. Diese Diskussion in ihrer Gesamtheit festzuhalten und zu bewerten, wäre somit nicht nur ein unmögliches, sondern unter dem Blickwinkel des Themas dieser Arbeit auch ein sinnloses Unterfangen. In der Tat ist die Inangriffnahme eines derartig hochgesteckten Ziels indes gar nicht notwendig. Ohnehin kann hier gleich vorab als offensichtliche Tatsache festgehalten werden, daß das Vereinigte Königreich im Vergleich zu dem durchschnittlichen menschenrechtlichen Niveau der gesamten Staatengemeinschaft über einen sehr hohen Entwicklungsstand verfügt. Auf diesem Hintergrund kann es in Hinsicht auf die Bill of Rights-Debatte nur um den Nachweis gehen, daß trotz dieses Entwicklungsstandes immer noch ein signifikanter Spielraum für Verbesserungen im allgemeinsten Sinne bleibt und daß dieser Spielraum durch eine Bill of Rights ausgeschöpft werden könnte. Mehr beweisen zu wollen, hieße nicht nur den Tatsachen Gewalt anzutun, sondern wäre für die hier interessierende Fragestellung überflüssig. Im Sinne dieser Zielbestimmung soll im folgenden die an die grundrechtsinnovativen Qualitäten der britischen Rechtsordnung anknüpfende Kritik auf zweierlei Wegen aufgenommen werden: einmal kasuistisch-enumerativ durch den Nachweis von Umsetzungsdefiziten bei einem einzelnen, besonders wichtigen Menschenrecht (dazu 2.), zum anderen abstrakt durch eine Überprüfung der zur Grundrechtsinnovation getroffenen institutionellen Vorkehrungen, welche erforderlich sind, um diese praktisch zu bewerkstelligen (dazu 3.). 21 Zur Unterscheidung von Interpretation und Nonnsetzung, siehe Cappelletti, The Law-Making Power of the Judge and Its Limits, in: Monash L. Rev. 8 (1981), S. 15 ff. (16 ff.). - Bezogen wiederum auf das deutsche Verfassungsrecht spricht Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 348 ff., 299 ff. von einer "Verfassungsentwicklungskompetenz des Gesetzgebers", einer Charakterisierung, der man sich gerade in Hinsicht etwa auf den Art. 1 GG mit seiner Garantie der Menschenwürde nicht entziehen kann; Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnonn, S. 68 ff., 85 ff., führt für den gleichen Vorgang den Begriff der "verfassungskonfonnen Rechtsfortbildung" ein. Vgl. ferner Krüger, Verfassungsauslegung aus dem Willen des Verfasssungsgebers, in: DVBI 76 (1961), S. 685 ff., bes. 689.

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2. Das Gebot der Rechtssicherheit als ein Beispiel für menschenrechtliche Umsetzungsdefizite im Vereinigten Königreich Wie sich allen Äußerungen sowohl der Literatur als auch der Judikatur und des politischen Lebens entnehmen läßt, wird im Vereinigten Königreich dem Bemühen um Rechtssicherheit ganz allgemein eine außerordentlich große Bedeutung zugewiesen: 22 der Bürger müsse jederzeit und mit denkbar größter Gewißheit feststellen können, welche Rechte ihm in einer konkreten Situation zustehen und vor allem, wie diese praktisch durchzusetzen sind. Von jeher entspricht es der Tradition des englischen Rechts, zunächst die prozessuale Rechtsdurchsetzung festzulegen, um dann auf das Vorhandensein eines entsprechenden materiellen Rechts zurückzuschließen ("where there is a remedy, there is a right"),23 statt umgekehrt - wie es deutschem Vorgehen entspräche - ein materielles Recht zu statuieren und später erst über Möglichkeiten zu dessen judizieller oder anderweitiger Durchsetzung nachzudenken. 24 Das in unserer Vorstellung eigentlich sekundäre Recht auf gerichtsförmige Rechtsdurchsetzung wird so zum eigentlich konstituierenden Kriterium für Recht überhaupt. Dies unterstreicht die herausragende Bedeutung, die im Vereinigten Königreich einem effektiven Gerichtsschutz und der Rechtssicherheit ganz allgemein beigemessen wird. Im übrigen wird gerade aus dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit ein Argument gegen eine Bill of Rights hergeleitet mit der Behauptung, nach kontinentaleuropäischer Manier weit und unbestimmt gefaßte Rechtsverbürgungen ließen häufig den exakten Umriß des jeweiligen materiellen Rechts im Dunkeln und machten dessen gerichtliche Durchsetzung zu einem unkalkulierbaren Abenteuer; 25 auch dies ist ein Gedankengang, der ganz deutlich die herausragende Bedeu-

22 Siehe etwa de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 35; naheliegend ist der Zusammenhang mit der ,,rule oflaw", siehe Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 101 f. 23 So ausdrücklich MitchelI, Constitutional Law, S. 54 und Jolowicz, Judicial Protection of Fundamental Rights, S. 5-6. 24 Siehe Fuß, Grundrechtsschutz, S. 36 f.; v. Loeper, Verwaltungsrechtspflege, S. 132. Dicey, Introduction to the Constitution, S. 198 f. hielt gerade diesen Ansatz des englischen Rechts für eine entscheidende Bedingung der BÜfgerfreiheiten; siehe auch Blumenwitz, Einführung, S. 6; Brown, A Bill of Rights for the United Kingdom? in: Parliamentarian 58 (1977), S. 79 ff. (82). 25 Siehe aus den Debatten im House of Lords etwa Lord Elwyn-Jones, 402 H. L. Deb.lOlO (8.11.1979); ders. (als Lord Chancellor), 399 H. L. Deb. 1584 (28.3.1979); Lord Allen 0/ Abbeydale, 402 H. L. Deb. 1049 (8.11.1979); Lord Foot, 402 H. L. Deb. 1053 - 1056 (8. 11. 1979); Lord Boston 0/ Faversham, 402 H. L. Deb. 1060 (8. 11. 1979); auch stehe zu befürchten, daß nach amerikanischem Muster durch eine Bill of Rights eine unabsehbare Prozeßflut ausgelöst werde, so Lord Lloyd 0/ Hampstead, 402 H. L. Deb. 1023 (8.11.1979), was nur der Anwaltschaft zu Nutzen käme, so Lord Boston 0/ Faversham, 402 H. L. Deb. 1060 (8.11.1979). Sehr humorvoll setzt sich mit diesen Argumenten Kerridge, Incorporation of the European Convention, in: Furmston / Kerridge / Sufrin, The Effect on English Domestic Law, S. 247 ff. (255 f.) auseinander. Siehe

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tung der Rechtssicherheit zur Prämisse hat. Das Gebot der Rechtssicherheit ist damit ausreichend als Teil des britischen menschenrechtlichen Wertbestandes ausgewiesen. Überblickt man nun das britische Recht,26 und zwar vor allem das öffentliche Recht als denjenigen Rechtszweig, welcher in besonderem Maße mit der Gestaltung der Grundrechtspraxis befaßt ist, so zeigen sich allerdings gegenüber dem erhobenen Anspruch erhebliche Defizite. Zunächst ist festzuhalten, daß bereits die Feststellung des jeweils einschlägigen materiellen Rechts als einer wesentlichen Voraussetzung der Rechtssicherheit mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Ursache hierfür ist vor allem die weithin fehlende Systematisierung und Harmonisierung des gesamten, insbesondere aber des öffentlichen Rechts. 21 Dies erklärt sich aus der häufig unübersichtlichen Verschränkung von Richterund Gesetzesrecht, die in manchen Bereichen nebeneinander existieren, in anderen sich überschneiden und wechselseitig durchdringen und dabei ein in hohem Maße zerklüftetes und fragmentiertes Recht haben entstehen lassen. 28 Außerdem verhindert aber auch das bewußt jeweils auf sehr begrenzte Materien zugeschnittene Gesetzesrecht, verbunden mit der manchmal recht schnell aufeinander folgenden Neuabfassung ganzer Gesetze (anstatt diese nur jeweils zu ergänzen)29, die grundsätzliche und systematische Durchdringung größerer Rechtsgebiete; die Herausarbeitung eines übergreifenden allgemeinen Verwaltungsrechts wird so unmöglich. 30 Ein weiterer Grund für diese Fehlentwicklung ist die nur sehr auch Report 0/ a Select Committee on a Bill 0/ Rights, S. 32, 33 (iv); Zander, Bill of Rights, S. 74 f. 26 Ausdrücklich sei hier das gesamte Recht in die Betrachtung einbezogen, d. h. also statute ebenso wie common law. Zwar geht es bei einer Beurteilung der Grundrechtsinnovation vorwiegend um die Leistung des Parlaments (dazu gleich mehr), aber wegen des Vorrangs des Parlamentsrechts vor jeder anderen Rechtsquelle hat das Parlament das gesamte Recht zu verantworten, da es ja jederzeit jede ihm nicht sinnvoll erscheinende Regel des common law modifizieren oder außer Kraft setzen könnte. 21 v. Loeper, Verwaltungsrechtspflege, S. 137 ff. etwa beklagt ein "Defizit an Grundbegriffen und Grundsätzen" im britischen Verwaltungsrecht. Für den Bereich des Strafund Strafprozeßrechts kommt Samuels, Bill of Rights, in: Andrews, Human Rights in Criminal Procedure, S. 417 ff. (422 ff.) zu einer ganz ähnlichen Aussage. 28 v. Loeper, Verwaltungsrechtspflege, S. 131, attestiert dem britischen Verwaltungsrecht, es sei "bizarr, zerrissen und verkrustet", in seinen "Grundzügen konserviert es ... den ... zu Anfang des 18. Jahrhunderts erreichten Entwicklungsstand." Ähnlich Lester, Democracy and Individual Rights, S. 16: "The unsatisfactory condition ofEnglish administration law is notorious." Noch klarer die Royal Commission on the Constitution 1969-1973 I, S. 850: ,,A fully developed system of administrative law [is] absent in the United Kingdom and, it might be thought, alien to our tradition." - Diesem Zustand abzuhelfen, war Aufgabe der 1965 eingerichteten Law Commission (Law Commission Act, 1965 c. 22, sec. 3 [1]), dazu Riedel, Kontrolle der Verwaltung, S. 270 f. Zu weiteren Reformvorschlägen aus jüngster Zeit, siehe Boyle, Reforming Administrative Law, in: PL 1984, S. 524 ff. 29 Siehe v. Simson, Common Law als Verfassungsrecht, in: Staat 16 (1977), S. 75 ff.; Geisseler, Reformbestrebungen, S. 40. 30 Johnson, Politische Stabilität, in: ZPolit. 23 (1976), S. 199 ff. (224).

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zögerliche Anerkennung des Verwaltungsrechts 31 als eines vom Zivilrecht und dessen ganz anderen Verhältnissen zu unterscheidenden Rechtsgebiets, welches eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt und daher auch nach anderen Gesichtspunkten reglementiert werden muß.32 Schließlich muß hier noch einmal auf die oft außerordentlich weiten Ermessensspielräume verwiesen werden, die in vielen Gesetzen den Exekutivorganen eingeräumt wurden; 33 auch dieser Umstand bedeutet, daß eine vorausschauende Prognose über konkrete Rechtsanwendungen zusätzlich erschwert wird, was natürlich erst recht gelten muß, wenn die gerichtsförmige Überprüfung solcher Ermessensentscheidungen durch statute überhaupt ausgeschlossen wird. 34 Neben den sich hieraus ergebenen Folgen für eine genaue und zuverlässige Feststellung des geltenden materiellen Rechts ist aber auch für den Bereich des Prozeßrechts ein höchst unbefriedigender Zustand zu diagnostizieren. In einer Studie zu diesem Thema aus dem Jahre 1975 kommt Riedel nach einer umfassenden Darstellung des britischen Verwaltungsprozeßrechts zu dem düsteren Ergebnis, daß der gerichtliche Rechtsschutz nach wie vor lückenhaft . .. [ist] und ein nahezu undurchdringlicher Dschungel richterlicher Kasuistik, der Rechtsschutz durch Tribunals unsystematisch, ebenfalls lückenhaft und mit weiteren Mängeln der Konstitution und Funktion ... 35 Daß es sich hierbei keineswegs einfach um kontinentale Nörgelei handelt, beweist auch der schon mehrfach angesprochene Vortrag von Richter Lord Scarman, der sehr eindrucksvoll die Unfabigkeit des alten common law bei der 31 Dazu v. Loeper, Verwaltungsrechtspflege, S. 55 f.; zu den Gründen für diese Entwicklung, siehe Mitchell, The Causes and Effects of the Absence of a System of Public Law in the United Kingdom, in: Stankiewicz, British Government in an Era of Reform, S. 25 ff. (26 ff.); wichtig war (und ist) hier vor allem die Vorstellung, daß die Verwaltung über die an ihrer Spitze stehenden Minister dem Parlament politisch verantwortlich ist und eine judizielle Verwaltungskontrolle die politischen Kontrollinstanzen aus ihrer Verantwortung entlassen würde. Hinzu kam, daß historisch bereits der Begriff des Verwaltungsrechts mit Frankreich und der französischen Revolution verbunden wurde und folglich mit all dem assoziiert wird, was die Ereignisse nach 1789 für den Briten zu einem Paradebeispiel übermächtiger und willkürlicher Staatsgewalt werden ließ; siehe hierzu die ironische Beschreibung bei Sieghart, Problems of a Bill of Rights, in: NU 125 (1975), S. 1184 ff. (1184) " ... administrative laws and ... courts are ideas devised by foreigners, and therefore to be shunned like the plague." 32 Siehe Mitchell (Anm. 31), S.26: "... the fact fis] that public law is too often regarded as aseries of unfortunate exceptions to the desirable generality or universality of the rules of private law, and is not seen as a rational system with its own justification, and perhaps its own philosophy." 33 Siehe hierzu die zahlreichen Beispiele bei Lester, Democracy and Individual Rights, S. 5 ff.; Smythe (Anm. 10), S. 169 ff. (er spricht von "the unbelievably broad discretion accorded government"). 34 Siehe hierzu die Bemerkungen von Lord Denning, Misuse of Power, S. 14 f. unter Bezugnahme auf Gouriet v. Union 01 Post Office Workers (1977) 2 WLR 310. 35 Riedel, Kontrolle der Verwaltung, S. 287.

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Bewältigung der sich aus der Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates an das Prozeßrecht ergehenden Herausforderungen belegt. 36 Andere Kommentatoren haben Ähnliches festgestellt. 37 Abgesehen von einer Vorschrift wie dem Art. 19 Absatz 4 GG, die unter den verfassungsrechtlichen Gegebenheiten des Vereinigten Königreichs ohnehin undenkbar ist, gibt es dort auch keine dem § 40 Verwaltungsgerichtsordnung entsprechende Generalklausel, die alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten an ein und denselben Gerichtszug verweist, welcher einheitlich nach nur einer Prozeßordnung judiziert und dabei ein systematisch aufgebautes Allgemeines Verwaltungsrecht zu Grunde legt. Statt dessen trifft man auf Tausende von unterschiedlichsten gerichtsähnlichen Organen, vor allem die sog. Administrative Tribunals,38 welche jeweils nur über eng begrenzte Materien entscheiden, dabei je unterschiedliche Regelbestände anwenden, in ganz unterschiedlichem Maße über manchmal sehr weite und manchmal nur sehr enge Ermessensspielräume verfügen und die schließlich auch in ihrer personellen Zusammensetzung völlig uneinheitlichen Regeln unterliegen. 39 Damit wirkt sich auch hier verhängnisvoll aus, daß die den Exekutivorganen großzügig gewährten Ermessensspielräume mangels eines allgemeinen Verwaltungsrechts ohne inhaltliche Eingrenzungen einer gerichtlichen Überprüfung entzogen bleiben. 40 Daß es um den prozessualen Rechtsschutz im Vereinigten Königreich nicht immer so bestellt ist, wie dies manche allzu eifrige Apologeten britischer Rechtsverhältnisse behaupten, beweisen auch einige Entscheidungen des EuGHMR. Zu nennen ist hier zunächst die Sache X.41. Der Beschwerdeführer war wegen einer 36 Scarman, The New Dimension, S. 40 ff. Ähnlich Geisseler, Reformbestrebungen, S. 40 f. Siehe ferner Daintith, Protection ofHuman Rights in the UK, in: HRJ 1 (1968), S. 275 ff. (281 ff.). - Eine deutsche Zusammenfassung der Thesen Scarmans fmdet sich bei v. Simson (Anm. 29), S. 75 ff. 37 Johnson (Anm. 30), S. 223 f.; v. Simson (Anm. 29), S. 79 f., 85 f.; Lester, Democracy and Individual Rights, S. 18; Geisseler, Reformbestrebungen, S. 48 ff. Auch schon MitchelI, Constitutional Law, S. 57 f. äußert sich aus einer mehr theoretischen Perspektive in diesem Sinne. 38 Riedei, Kontrolle der Verwaltung, S. 122 und de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 530 geben die Zahl der existierenden Tribunals mit über 2.000 an, die insgesamt etwa 50 (!) verschiedenen Typen angehören. Deren dogmatische Einordnung entweder als echte Gerichte oder als ,,Anhängsel der Verwaltung" mit quasijudiziärer Funktion ist strittig, siehe Attorney-General v. BBC (H. L.) [1980] 3 All ER 161 und Riedei, Kontrolle der Verwaltung, S. 126 ff. mit einer kritischen Würdigung und Beschreibung der verschiedenen Verfahren vor den Tribunals, sowie v. Loeper, Verwaltungsrechtspflege, S. 508 ff. 39 Dazu ausführlich v. Loeper, Verwaltungsrechtspflege, S. 268 ff. Yardley, Administrative Law, S. 17, meint, der britische Verwaltungsrechtsschutz sei "a patchwork", seine Entwicklung ,,has been untidy and largely unplanned." 40 Hier ist auch auf das Problem der Prärogativ-Kompetenzen zu verweisen, also jene der Krone (d. h. der Regierung) ohne weitere gesetzliche Ermächtigung zustehenden Befugnisse, die grundsätzlich keiner gerichtlichen Nachprüfung unterliegen und allein politisch kontrolliert werden; siehe hierzu Kingston I Imrie (Anm. 16), S. 758 ff. 41 Urteil vom 5.11.1981; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 46, S.4 ff.

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

Körperverletzung veurteilt worden, anschließend jedoch auf Grund einer Geisteskrankheit und wegen der Gefahr neuerlicher psychisch bedingter Straffälligkeit in eine geschlossene psychiatrische Anstalt überwiesen worden. Nachdem eine Besserung seines Zustandes eingetreten war, hatte man X. vorläufig entlassen. Diese Entscheidung nahm der Innenminister jedoch zurück, als sich Zeichen einstellten, die auf einen Rückfall des X. hindeuteten. Gegen diese neuerliche Einweisung wandte sich X. mit seiner Beschwerde. Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK fest, weil er das Prüfungsverfahren, welches das englische Recht bei der Einweisung psychisch Kranker bereithält, für unzureichend erachtete. Zwar steht in Fällen dieser Art dem Eingewiesenen mit dem Habeas Corpus-Verfahren ein Rechtsschutzmittel zur Verfügung, das von den englischen Juristen ganz besonders hoch gehalten wird; tatsächlich aber erlaubt Habeas Corpus eine gerichtliche Überprüfung nur, soweit diese nicht in dem einschlägigen Gesetz (hier dem Mental Health Act von 1959) ausdrücklich ausgeschlossen wurde. So bestand in diesem Fall keine Möglichkeit für das von X. angerufene britische Gericht, die vom Innenminister bei seiner Entscheidung zu Grunde gelegten medizinischen Gutachten und andere Informationen einzusehen und in irgendeiner Weise etwa auf ihre Schlüssigkeit hin zu prüfen. Der Innenminister war nach der damaligen Rechtslage noch nicht einmal verpflichtet, diese Entscheidungsgrundlagen dem Gericht auch nur zugänglich zu machen. 42 Völlig zu Recht kam der EuGHMR daher zu dem Schluß, daß unter solchen Bedingungen de facto im Wege einer Beweislastumkehr dem Eingewiesenen selbst die Aufgabe zufalle, ihn "entlastendes" Beweismaterial beizubringen. Typisch für das englische Recht ist aber ebenso, daß es sich mit dem - wie hier erweislich - ohnehin höchst unvollkommenen gerichtsförmigen Rechtsschutz durch das (allgemeine) Habeas Corpus-Verfahren nicht begnügt; so wurde durch den Mental Health Act zusätzlich ein besonderes Gremium eingerichtet, welches als Tribunal ausgelegt und befugt ist, sämtliches medizinisches Material heranzuziehen, um über die Berechtigung der fortdauernden Einweisung zu befinden; dieses Organ kann in regelmäßigen Abständen von dem Eingewiesenen angerufen werden. Entscheidender Nachteil dieses Tribunals ist indes - auch das durchaus typisch - , daß seine Ergebnisse für den Innenminister nur empfehlenden Charakter haben und dieser die letztlich maßgebliche Entscheidung alleine fällt. 43 Zu einer Verurteilung des Vereinigten Königreichs war es auch in der Sache Si/ver et al. 44 gekommen. Hier ging es um das Recht des britischen Innenministers (tatsächlich wohl des Innenministeriums), in recht weitgehender Weise die Korrespondenz von Strafgefangenen einzuschränken oder auch ganz zu unterbinden.

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a. a. 0., §§ 56 ff. a. a. 0., §§ 13 ff. und §§ 60 f. Urteil vom 25.3.1983: Sero A: Judgments & Decisions Bd. 61, S. 7 ff.

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Der EuGHMR erkannte einstimmig auf eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1, 8 und 13 EMRK und rügte ausdrücklich das für diesen Bereich vorgesehene Rechtsschutzsystem. 45 Die gleichen Fragen wurden schließlich noch einmal aufgeworfen in der Sache Campbell / Fell 46 und im gleichen Sinne beantwortet 47 . In diesem recht komplexen Sachverhalt war vor allem zu entscheiden, ob das von den Prison Ru/es vorgesehene Verfahren zur Feststellung und Ahndung von Verstößen gegen die Gefangnisdisziplin mit Art. 6 EMRK in Einklang steht. Zuständig hierfür ist nach englischem Recht ein sog. Board ofVisitors, dessen Mitglieder vom Innenminister berufen werden. 48 Der EuGHMR hielt dieses gerichtsähnliche Organ zwar im Sinne der Konvention für ausreichend "unabhängig"49 und "unparteiisch"50 und akzeptierte auch, daß unter den besonderen Umständen eines Disziplinarverfahrens im Rahmen des Strafvollzugs die Öffentlichkeit der Verhandlung beschränkt werden dürfe 5 !. Weil die Entscheidungen des Board of Visitors aber ohne vernünftigen Grund nicht veröffentlicht werden, stellte der EuGHMR gleichwohl im Ergebnis eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest. 52 Weiterhin erkannte der Gerichtshof auf eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 b) und c) EMRK, weil einer der beiden Beschwerdeführer keine ausreichende Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung erhalten hatte und ihm überdies durch die Gefangnisbehörden die Beiziehung eines Rechtsbeistandes verweigert worden war. 53 Dieser Fall erlaubte es somit dem EuGHMR, eines der Tribunals und das dort geübte Verfahren recht vollständig anhand der Maßstäbe der EMRK durchzuprüfen; es steht zu vermuten, daß die bei dieser Gelegenheit zu Tage geförderten grundrechtlichen Defizite so oder ähnlich auch vielen der anderen Tribunals anhaften. 54 45 a. a. 0., §§ 111 ff. Allerdings waren die fraglichen Vorschriften in Reaktion auf Kritik der Europäischen Menschenrechtskommission zum Zeitpunkt des Urteils bereits abgeändert worden, ein Vorgang, den das Gericht ausdrücklich mit Befriedigung zur Kenntnis nahm, a. a. 0., § 79. 46 Urteil vom 28.6.1984; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 80, S. 7 ff. 47 a. a. 0., §§ 105 ff. 48 Zu näheren Einzelheiten über Zusammensetzung und Verfahren der Boards of Visitors, siehe a. a. 0., §§ 32-38. 49 a. a. 0., §§ 72 ff. 50 a. a. 0., §§ 83 ff. 5! a. a. 0., §§ 86 ff. 52 a. a. 0., §§ 89 ff. 53 a. a. 0., §§ 97 ff. 54 Für weitere Entscheidungen der Straßburger Organe zu den Rechtsschutzmöglichkeiten im Vereinigten Königreich, siehe die Sache Caprino, Eur. Comm. H. R., Decisions & Reports Bd. 22, S. 5 ff. und die Resolution des Ministerkomitees vom 30.4.1981, DH (81) 7, in: ECHR YB 24 (1981), S.468; sowie die Sache Kaplan, Eur. Comm. H. R., Decisions & Reports Bd. 21, S. 5 ff. und die Resolution des Ministerkomitees vom 23.1.1981, DH (81) 1, in: a. a. 0., S. 38. - Mängel des Rechtsschutzsystems im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung belegt Lester, Democracy and Individual Rights, S. 10 f. 10 Koch

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In diesem Zusammenhang muß auch gleich auf einen weiteren Gesichtspunkt hingewiesen werden. Bereits im Jahre 1932 kam ein vom Parlament eingesetzter Ausschuß zu dem Ergebnis, daß in einem gefährlichen Maße vom Parlament den Exekutivorganen, vor allem den Ministern, im Wege der Gesetzgebungsdelegation das Recht eingeräumt worden sei, ausführende Vorschriften zu erlassen. 55 Die praktischen und theoretischen Schwierigkeiten bei der Abwägung zwischen der unbestrittenen Notwendigkeit auch exekutiver Gesetzgebungsbefugnisse und der möglichst weitgehenden Erhaltung des Gesetzgebungsmonopols beim unmittelbar demokratisch legitimierten Parlament sind nun sicherlich nichts typisch Britisches und gerade auch dem deutschen Verfassungsjuristen in Gestalt der Vorschrift des Art. 80 GG gut vertraut. Bemerkenswert ist allerdings schon, daß es in Ermangelung einer derartigen Vorschrift im Vereinigten Königreich auch Gesetze gibt, die der Exekutive nicht nur - um die deutsche Terminologie zu verwenden - ein Verordnungsrecht einräumen, sondern dieser auch gleich die Abänderung des ermächtigenden Gesetzes selbst gestatten. 56 Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit in hohem Maße bedenklich ist aber, daß zudem in solchen Ermächtigungen regelmäßig den Gerichten untersagt wird, nachzuprüfen, ob eine in Vollzug dieser Ermächtigung vom Minister erlassene Vorschrift die in dem Gesetz gezogenen Grenzen überschreitet. 57 Dies ist ein, allerdings besonders gewichtiges, Beispiel dafür, wie in vielen Bereichen überhaupt jeder Rechtsschutz entzogen wird, sei es, daß das Parlament in dem betreffenden Gesetz eine gerichtliche oder andere Nachprüfung ausdrücklich ausschließt,58 sei es, daß wesentliche Teile einer exekutiven Entscheidung dem alleinigen Ermessen der 55 Report of the Committee on Ministers' Powers (der sog. Donoughmore-Report), Crnnd. 4060 (1932). Siehe hierzu auch Report from the Select Committee on Delegated Legislation, H. M. S. O. 1953. 56 Dies für die Zukunft auszuschließen, war eines der bereits mit dem Preservation of the Rights of Subject Bill von 1947 verfolgten Ziele (siehe Einleitung, Anm. 9). Vgl. dazu die Vorschläge von Viscount Samuel, 167 H. L. Deb. 1049-1050 (27.6.1950) und von The Marquess of Reading, 147 H. L. Deb. 766 (15.5.1947) sowie die Gegenkritik des damaligen Lord Chancellor, 147 H. L. Deb. 801-802 (15.5.1947). 57 Vgl. Viscount Simon, 147 H. L. Deb. 782 (15.5.1947). Der damalige Lord Chancellor hielt demgegenüber solche exekutiven Normsetzungsbefugnisse für ungefährlich und notwendig, 147 H. L. Deb. 1071 (27.6.1950). Siehe hierzu ferner Levenson, Some Reflections on Civil Liberty in the English Legal System, in: Law Teacher 12 (1978), S. 142 ff. (142 ff.). 58 Dazu v. Loeper, Verwaltungsrechtspflege. In vielen Gesetzen wird eine Überprüfung administrativer Entscheidungen nur durch Stellen innerhalb der entscheidenden Behörde selbst vorgesehen; siehe hierzu Fitzgerald, An English Bill of Rights? in: Georgetown L. J. 70 (1982), S. 1276 ff.; vgl. die Vorschläge zur Abstellung dieser Praxis und die Erörterungen dazu bei The Marquess of Reading, 147 H. L. Deb. 766-767 (18.5.1947); der damalige Lord Chancellor, 147 H. L. Deb. 802-803 (15.5.1947); Viscount Samuel, 167 H. L. Deb. 1050 (27.6.1950); Lord L1ewellin, 167 H. L. Deb. 1058-1059 (27.6.1950). Solche Gegebenheiten mit dem Anspruch in Einklang zu bringen " ... that a person directly affected by govemment action must be able ... to challenge the legality of that action before a court ..." (Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 98) scheint schlechterdings unmöglich.

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Verwaltung zugeschlagen werden und daher nur eine sehr weitmaschige judizielle Kontrolle etwa im Hinblick auf die Zuständigkeit u. ä. möglich ist. 59 Der im vorstehenden dargelegten Kritik gegenüber läßt sich nicht entgegenhalten, daß solche weitgehenden Freiheiten etwa der vollziehenden Organe deswegen vertretbar seien, weil man darauf vertrauen könne, der jeweilige Beamte werde schon nur im ,,richtigen" Sinne davon Gebrauch machen. Denn ganz gleich, wie es sich mit der objektiven Richtigkeit dieser Vermutung verhält, gründet das Gebot der Rechtssicherheit in dem Gedanken, dem Bürger subjektiv Vertrauen in die Vorhersehbarkeit und objektive Richtigkeit der einzelnen Entscheidung zu vermitteln, indem ihm die Möglichkeit zur Anrufung einer unabhängigen Instanz eröffnet wird, er solcherart selbst Einfluß auf die Entscheidung nehmen und sich von ihrer objektiven Richtigkeit überzeugen kann. 60 Die Notwendigkeit, solches Vertrauen zu schaffen, ist aber mit der seit der Jahrhundertwende allgemein zu beobachtenden Tendenz des modemen Staates, immer weitere Lebensbereiche mit seinen Rechtsvorschriften zu überziehen, ganz erheblich gewachsen, weil auf diese Weise der Bürger in existentieller Weise abhängig wird von einer Unzahl administrativer Entscheidungen. Diese steigende Flut von Rechtsvorschriften hat denn auch in der Tat auf dem Kontinent ein wichtiges Argument für die Einführung und den Ausbau von prozessualen Rechten hergegeben, was den Nachholbedarf des Vereinigten Königreichs auf diesem Gebiet nur noch unterstreicht 61. Zuzugestehen ist allerdings, daß es im Einzelfall durchaus schwierig sein kann festzustellen, ob für eine bestimmte Regelungsmaterie welche Art von Gerichtsschutz geboten ist. Denn im Vereinigten Königreich, ebenso wie übrigens auch in anderen Ländern des angelsächsischen Rechtskreises, wird auf der anderen Seite die Notwendigkeit, jede exekutive Entscheidung durch mehrere Instanzen eines Gerichtszuges überprüfen zu lassen, relativ geringer, die Erhaltung eines von der vollziehenden Gewalt eigenständig und eigenverantwortlich auszufüllenden Spielraums höher veranschlagt als etwa in der deutschen Rechtsordnung. 59 Kritisch hierzu etwa Alder, Purpose of Judicial Review in English Law, in: Bracton L. J. 22 (1990), S. 37 ff. - Griffith, Politics ofthe Judiciary, S. 121-131 weist allerdings nach, daß die Gerichte auf diese Einschränkung ihrer Möglichkeiten zur Überprüfung exekutiver Entscheidungen in manchmal widersprüchlicher Weise geantwortet haben: seiner These zufolge scheuen sich die Gerichte dann nicht, auch über den strengen Gesetzeswortlaut hinausgehende Prüfungsrechte in Anspruch zu nehmen, wenn die in Rede stehende behördliche Entscheidung als materiell ungerecht oder unvernünftig empfunden wird. 60 So auch Lester, Democracy and Individual Rights, S. 8 f., 17 f.; Zander, Bill of Rights, S. 27; Smythe (Anm. 10), S. 169 ff. 61 Forderungen nach Schöpfung eines einheitlichen Verwaltungsrechts und einer selbständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit sind im übrigen schon sehr viel älter als der Ruf nach einem Grundrechtskatalog und wurden erstmals in den 20er Jahren laut, siehe etwa Franks-Committee, Cmnd. 218 (1957), 120, Minutes of Evidence, days 13-14, S. 491495,506-512; allgemein hierzu siehe Riedel, Kontrolle der Verwaltung, S. 262 ff.

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Das Gebot der Rechtssicherheit ist daher keineswegs unbeschränkt und insofern auch nur mit diesen Schranken bei der Schöpfung konkretisierender Normen des Grundrechtsstandards zu berücksichtigen. An der Feststellung der grundsätzlichen Unzulänglichkeit der prozeßrechtlichen Möglichkeiten des Briten unter seinem derzeitigen Rechtssystem vermag dies indes nichts zu ändern. Es bleibt die bislang unerfüllte Forderung nach Schaffung einer einheitlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, vor allem aber einer alle Regelungsmaterien Übergreifenden Prozeßordnung, welche dem Richter den Weg in die ihm bislang verschlossenen Bereiche des exekutiven Ermessens über die bestehenden mageren Ansätze hinaus zu eröffnen hätte.

3. Die institutionellen Regelungen zur Sicherung der Funktion der Grundrechtsinnovation a) Die Hinwendung zum modernen Parteienstaat in ihren Auswirkungen auf die Grundrechtsinnovation Grundrechtsinnovation ist eine ständig und kontinuierlich zu erbringende Leistung des Gemeinwesens. 62 Mit dem Grundrechtsstandard wird ja die gesamte Breite des Verhältnisses Staat-Bürger in den Griff genommen mit all den hier endlos möglichen und höchst vielfältigen Konstellationen und Konfigurationen. Dabei sind auch die zur Regelung anliegenden Lebensbereiche selbst ständig im Fluß, wodurch alte Regelungsanforderungen sich verändern, neue entstehen. Eine andere Besonderheit der Grundrechtsinnovation ergibt sich aus einem Vergleich mit dem Staatsorganisationsrecht. Denn bei dort neu auftretenden Konflikten, welche eine Neuinterpretierung von (materiellem) Verfassungsrecht oder gar dessen Revision erforderlich machen, sind jene Organe, um deren Rechte und Pflichten es geht, innerhalb der durch dieses Recht geschaffenen institutionellen Ordnung selber präsent, können somit ihre Standpunkte auch unmittelbar einbringen. Diese Bedingung ist bei der Grundrechtsinnovation nicht in gleichem Maße gegeben, denn die Gesamtheit der Bürger, das Volk, als einer der beiden Normadressaten des Grundrechtsstandards ist kein verfaßtes Organ. Aus diesen Gründen war es in der Frühzeit des Konstitutionalismus natürlicherweise den Parlamenten zugefallen, die Aufgabe der Grundrechtsinnovation zu übernehmen. 63 Damit konnten die modernen Parlamente an das Selbstverständnis ihrer verschiedenen mittelalterlichen Vorläufer anknüpfen, welche ebenfalls die Wahrnehmung 62 Heller, Staatslehre, S. 257 f. Dies gilt auch für Staaten, die ihren Grundrechtsstandard (zur Gänze oder in Teilen) mit der Kraft formellen Verfassungsrechts versehen haben und diese Fixierung somit und insoweit als Ausübung verfassunggebender Gewalt verstehen, vgl. Krüger (Anm. 21), S. 686, der mit Recht darauf verweist, daß andernfalls die verfassunggebende Gewalt nur in historischer Einmaligkeit sprechen könne, diese Instanz aber ihrem Wesen zufolge nach kontinuierlicher Präsenz verlange. 63 Krüger (Anm. 21), S. 689.

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der Interessen des Volkes (besser wohl: einiger kleiner Teile desselben) zur Aufgabe hatten, wenn auch nur für funktionell recht eingeschränkte Bereiche. Für das britische Parlament gilt dies um so mehr, als es ja ohne institutionellen Bruch aus dem feudalen Parlament des Mittelalters hervorgegangen ist und mit Stolz auf lange und erfolgreiche Auseinandersetzungen mit der Monarchie zurückblickt. 64 Dies bedeutete, daß die Parlamente in den liberalen und konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts von der Konzeption her notwendigerweise als Gegensatz zu den Fürsten und den diese stützenden Beamtenapparaten angelegt waren; diesen Gegensatz zu erhalten war gerade auch Sinn und Zweck des Gewaltenteilungsprinzips. 65 Das britische Parlament ist sehr viel früher als die entsprechenden Organe auf dem Kontinent in diese Funktion eingerückt, als es im Zuge des Konfliktes mit den Stuarts zu Anfang des 17. Jahrhunderts entschlossen den Standpunkt des Bürgers gegenüber der Krone wahrgenommen hatte und dabei auch wesentliche Rechte erstreiten konnte,66 und dies zu einer Zeit, als andernorts die Ständevertretungen nur noch ein kümmerliches Leben fristeten. 67 Verglichen mit allen anderen europäischen Parlamenten hat die britische Legislative daher sehr viel früher die Aufgabe der Grundrechtsinnovation erfolgreich für sich reklamiert. Diesem Umstand verdankt es wohl zu einem guten Stück auch seinen Ruhm, den es besonders im 19. Jahrhundert allgemein genoß68 als eine zugleich verantwortungsvolle und freiheitsbewußte, aber auch in einem ganz praktischen Sinne funktionierende Volksvertretung. 69 Zur deutschen Entwicklung vgl. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 179. Loewenstein, Verfassungslehre, S. 32 ff. 66 Verwiesen sei hier auf die Petition 0/ Rights von 1629, die Bill 0/ Rights von 1689 und die Habeas Korpus-Akte, um nur die berühmtesten Beispiele zu nennen. Gleichzeitig mit diesen Kodifikationen vollzog sich auch erstmals die Herausbildung subjektiver Bürgerrechte im Gegensatz zu bloß objektiv-rechtlichen Beschränkungen der Fürstenmacht wie z. B. die Magna Charta, vgl. hierzu Dietze, Bedeutungswandel der Menschenrechte, S. 16 ff. 67 Die französischen etats generaux etwa wurden vor ihrer Einberufung im Jahre 1789 am Vorabend der Französischen Revolution vom König zuletzt 1614 versammelt. Zur Bedeutung des Fehlens starker Ständevertretungen als Anknüpfungspunkt für die Herausbildung moderner Parlamente im Deutschen Reich, vgl. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 174. 68 Vgl. Böckenjörde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 159 f. Ein Beispiel für die uneingeschränkte Bewunderung, die man Englands Parlament im 19. Jahrhundert gerade in Deutschland entgegenbrachte, fmdet sich bei Biedermann, Repräsentativ-Verfassungen, S. 11 ff., bes. 25 und 35, und aus jüngerer Zeit Aris, Verfassungsrechtliche Entwicklung in Großbritannien, in: JöR NP Bd. 2 (1953), S. 107 ff., der das britische Parlament während des letzten Weltkrieges mit dem ,,römischen Senat in den Tagen seiner politischen Größe" (S. 120) verglichen wissen will. Dagegen zeigt sich Heget in seiner kleinen Schrift "Über die englische Reform-Bill" als ein heftiger, ja polemischer Kritiker der englischen Verfassungsverhältnisse; dies ist ein Beispiel für die andere, die anti-demokratische, von Deutschen eingenommene Einstellung gegenüber dem scheinbar ungeordneten, korrupten und nur an kommerziellen Überlegungen ausgerichteten englischen Regierungsstil, wie sie etwa in dem Schlagwort vom "perfiden Albion" um die Jahrhundertwende ihren Ausdruck fand. 64

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Früher als andere Volksvertretungen hat das britische Parlament aber auch Wandlungen durchgemacht,70 die, will man den Kritikern Glauben schenken, unter dem Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes betrachtet eine Wende zum Schlechteren bedeuten. In diesem Zusammenhang verdient nun die Tatsache Aufmerksamkeit, daß ein gut Teil dieser Kritik in zumindestens sehr ähnlicher Form auch aus anderen Ländern mit parlamentarischer Demokratie zu hören ist. Dies gilt ganz besonders für die Feststellung, das Parlament sei nur noch ein Werkzeug in den Händen der Regierung, sowie alle hiermit zusammenhängenden Schlußfolgerungen und Konsequenzen. 71 Man wird sagen können, daß diese Entwicklung der parlamentarischen Demokratie mit der Herausbildung der modemen Massenparteien und der damit einhergehenden Ablösung der Honoratiorenparteien alten Stils notwendigerweise angelegt war. In allen demokratisch regierten Staaten hat die Schaffung straff und zentralisiert geführter Parteiorganisationen bei ihren Mitgliedern, besonders aber bei den von den Parteien aus den verschiedenen Gründen abhängigen Parlamentariern, Loyalitäten schaffen können, welcher stärker sind als der Wunsch, die eigene individuelle Meinung in jeder Sach- und auch Personalfrage im Rahmen des Parlaments (und nicht nur innerhalb der Partei) zur Geltung zu bringen. 72 Wenn nun aber die Regierung 69 Daß die mit dieser Bewunderung einhergehende Idealisierung des britischen Parlamentarismus jener Tage gelegentlich über das Ziel hinausschießt, zeigt Birke, Souveränität des Parlaments und Parlamentarismuskritik, in: Staat, Beiheft 1 (1975), S. 59 ff. 70 Birke (Anm. 69) belegt mit zahlreichen Quellen, daß bereits in dem Abschnitt zwischen 1832 und 1867 (dem sog. goldenen Zeitalter des britischen Parlamentarismus zwischen den beiden großen Wahlrechtsreformen) der britische Abgeordnete parteilich eingebunden war und in seinem Abstimmungsverhalten keineswegs nur selbständig und durch eigene Gewissensanstrengung getroffenen Entscheidungen folgte. Gleichzeitig zeigt Birke allerdings auch die recht engen Grenzen damaliger Parteien auf, vgl. a. a. 0., S. 66 f. und Anm. 24, S. 68. So war für die Wahl eines Parlamentskandidaten in den Augen des Publikums zu jener Zeit die Parteizugehörigkeit unmaßgeblich (Birch, British System of Government, S. 39), was naturgemäß ebenfalls die Unabhängigkeit des Abgeordneten von seinen Parteioberen fördern mußte; vgl. zu dieser Epoche auch Mackintosh, British Cabinet, S. 87 ff., bes. 90 f.; sowie Hollis, Parliament and its Sovereignty, S. 14 ff.; Loewenstein, Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England nach der großen Reform, in: Archiv für Sozialwissenschaft & Sozialpolitik 51 (1924), S. 614 ff. (bes. 641 ff., 693 ff.). 71 In der Bundesrepublik etwa gibt es seit Jahren eine Debatte unter dem Stichwort ,,Parlamentsreform", der es darum zu tun ist, das Parlament durch eine Stärkung der Rechtsstellung des einzelnen Abgeordneten insbesondere gegenüber den Fraktionsführungen wieder verstärkt in seine alte Funktion einrücken zu lassen. Siehe Schweitzer, Anmerkungen zur Diskussion um die Parlamentsreform, in: Politik & Zeitgeschichte 15.5.1985, S. 45 ff.; sowie die Beiträge von Hamm-Brücher, Höcherl, Lammert, Schäfer, Verheyen und de With, alle in: Politik & Zeitgeschichte 9.2.1985. 72 Zur Entwicklung des britischen Parteiensystems und dessen Einfluß auf das spätviktorianische Parlament, siehe Mackintosh, British Cabinet, S. 159 ff., 202 ff. Als entscheidende Zäsur bei der Herausbildung des britischen Parteiensystems ist die (zweite) Wahlrechtsreform des Jahres 1867 anzusehen, welche durch die damit bewirkte Erweiterung des Kreises der Wahlberechtigten einen großflächigen und durchorganisierten Wahlkampf erforderlich machte, was ebensolche Parteien voraussetzte; siehe dazu Birch, British System of Government, S. 40; Schweitzer (Anm. 71), S. 47; Setzer, Das britische Parteiensystem, in: JöR NF 32 (1983), S. 71 ff., 88 f.

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ihre Legitimation durch das Parlament bezieht und nicht wie im präsidentiellen System diese unmittelbar durch einen unabhängigen Legitimationsstrang vom Volk herleitet, wird die der Partei geschuldete Loyalität sich naturgemäß gerade auf die fortgesetzte Aufrechterhaltung der "eigenen" Regierung richten und in entsprechendem Maße die Neigung des Abgeordneten (der Parlamentsmehrheit) vermindern, die Regierung zu begrenzen, zu kontrollieren oder gar zu überspielen. 73 Das führt zu dem merkwürdigen Ergebnis, daß das durch das parlamentarische System in Folge der Verantwortlichkeit der Regierung der Legislative gegenüber der Legislative verschaffte Mehr an Rechtsrnacht sich tatsächlich in einem Weniger an realer Macht niederschlägt. Tatsächlich verläuft die entscheidende Trennungslinie nicht mehr zwischen Regierung und Parlament, sondern ist zwischen Regierung plus Parlamentsmehrheit und Parlamentsopposition zu verorten. 74 Infolgedessen ist die Parlamentsmehrheit recht eigentlich in den Dienst der Regierung gestellt, sie ist zu einem Teil der Regierung geworden. 75 In Hinsicht auf die mit den jeweiligen Organen verbundenen und als Ergebnis des Gewaltenteilungsprinzips eigentlich notwendig gesonderten Aufgaben bedeutet dies, daß Regierung und Gesetzgebung nicht mehr getrennte Funktionen sind, sondern in wechselseitiger Durchdringung sich zu etwas Neuem verbunden haben. 76 Die "Individualität des Abgeordneten, auf welcher die gesamte Parlamentstätigkeit beruhen sollte, ist durch die Tätigkeit politischer Parteien vollkommen zunichte gemacht worden."77 73 So schon 1935 Duez, Les actes de gouvernement, S. 9 f.; v. Simson, Towards a Bill ofRights, in: Schwarze I Vitzthum, Grundrechtsschutz, FS v. Simson, S. 177 ff. (178). 74 So z. B. Döring, Parteiensystem, Sozialstruktur und Parlament in Großbritannien, in: Politik & Zeitgeschichte B 38 (1987), S. 15 ff. (25 f.); Schweitzer (Anm. 71), S. 51 bezeichnet dies als "eine alte Erkenntnis". 75 Siehe etwa Birch, British System ofGovemment, S. 39 ff. (mit einer sehr aufschlußreichen Tabelle); Finer, Comparative Govemment, S. 169 meint sogar bezogen auf das britische Verfassungssystem: "British govemments, if they have a majority of seats, do not lose floor votes." Und ferner (S. 173): " ... in Britain it is as true to say that the executive is an appendage of the legislature as that the legislature is an extension of the executive." Und schließlich (S. 176): "The Commons is not a true legislature but an extension of the executive." 76 Loewenstein, Verfassunslehre, S. 422 f. meint denn auch, daß " ... die echte Gewaltenteilung ... bis zur praktischen Unbrauchbarkeit entleert worden" sei (S. 422); es habe eine ,,Integration von Regierung und Parlament" stattgefunden (S. 32); ähnlich Döring (Anm. 74), S. 25 f. 77 Krbek, Repräsentation, in: FS Leibholz, S. 69 ff. (86). Deutlich zeigt sich dies auch etwa im Vereinigten Königreich bei der Behandlung der sog. ,,Private Members' Bills", den nicht von der Regierung, sondern von einzelnen Abgeordneten eingebrachten Gesetzesentwürfen; siehe hierzu Blackburn, Private Members' Bills and Civil Liberties, in: PL 1984, S. 550 ff., der auf der Grundlage einer sorgfältigen Auswertung aller in der Legislaturperiode von 1979 bis 1983 eingebrachten Gesetzesvorlagen z. B. belegt, daß die "private Bills", obgleich zahlreicher als die "government Bills", durch die Geschäftsordnung so benachteiligt werden, daß für sie nur ein Bruchteil der insgesamt zur Beratung zur Verfügung stehenden Zeit verbleibt (a. a. 0., S. 550 f.). Andererseits enthalten gerade "private Bills" wichtige grundrechtsinnovative Anstöße; siehe die Beispiele a. a. 0., passim.

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

Eine möglichst genaue Trennung zwischen den Funktionen von Regierung einerseits und Parlament andererseits ist nun aber die Voraussetzung, daß das Parlament erfolgreich die Aufgabe der Grundrechtsinnovation wahrnehmen kann. Nur als Widerpart der Regierung kann das Parlament erfolgreich ganz allgemein das Recht des Bürgers gegenüber den praktischen Ansprüchen des Regierens sicherstellen. Durch die Inpflichtnahme des Parlaments (genauer: der Parlamentsmehrheit) für die Aufgaben der Regierung ist es der Legislative immer schwieriger geworden, diese ihr zunächst zugedachte genuin eigene Aufgabe wahrzunehmen, was sich auf das Deutlichste zeigt in der Art, wie sich der einzelne Abgeordnete gegenüber seinen Wählern rechtfertigt und darstellt. Denn kaum ist es dessen Leistung als Abgeordneter, die ausschlaggebend für das Publikum ist, sondern vielmehr die seiner Partei - im Falle der Zugehörigkeit zu einer Partei der Parlamentsmehrheit folglich die Leistung der Regierung. 78 Ganz anders ist dies in der präsidentiellen Demokratie etwa der Vereinigten Staaten, wo in Folge der fehlenden legitimatorischen Verknüpfung von Legislative und Exekutive - beide verfügen über ihren eigenen Legitimationsstrang - eine Einbindung der Mitglieder beider Häuser des Kongresses in die Regierung eines Präsidenten "ihrer" Partei deswegen nicht stattzufinden braucht, weil der Präsident jedenfalls zur Erhaltung seines Amtes darauf gar nicht angewiesen ist. In der Tat ist daher in den Vereinigten Staaten eine relativ große Unabhängigkeit der Abgeordneten und Senatoren von dem Präsidenten und den Parteien zu beobachten,79 was sich auch in der Art der Selbstdarstellung niederschlägt. Das System der parlamentarischen Demokratie hat sich trotz dieser Hinwendung zum Parteienstaat deswegen nicht zur Despotie entwickelt, weil die verfassungsrechtliche Legitimation der Regierung und des Parlaments im Wege ein und desselben demokratischen Wahlvorgangs verschafft wird. Der mit jeder Wahl verbundene Rechtfertigungszwang gegenüber dem Bürger erstreckt sich nicht nur auf die Erfolge der Regierungsarbeit im engeren Sinne, sondern umfaßt ebenso die zum Schutz des Bürgers vor dieser Regierungstätigkeit getroffenen Vorkehrungen, d. h. also die im Rahmen der Grundrechtsinnovation erbrachten Leistungen. In Ergänzung zu dem oben bereits Festgestellten kann man daher 78 Allgemein hierzu, siehe Krbek (Anm. 77), S. 73 ff., 86 f. Für das Vereinigte Königreich im besonderen: Birch, British System of Government, S. 77 f.; Döring (Anm. 74), S.25. 79 Siehe hierzu die Analyse bei Finer, Comparative Government, S. 244 ff., 254 f. mit entsprechenden Beispielen; als weiteren Grund für die Unabhängigkeit der amerikanischen Parlamentarier von der Exekutive nennt Finer den Umstand, daß der Präsident - anders als in Systemen parlamentarischer Demokratie - kaum oder keinen Einfluß auf die Karriereerwartungen der Abgeordneten nehmen kann, weil deren höchstes Berufsziel nicht die Aufnahme in das Kabinett ist, sondern die Erlangung eines Vorsitzes in einem der Ausschüsse des Kongresses. Auch darin zeigt sich die Unabhängigkeit von Exekutive und Legislative in den USA, die auch personell aus jeweils unterschiedlichen Reservoirs schöpfen und dies im deutlichen Unterschied zum Vereinigten Königreich; hierzu siehe Finer, Comparative Government, S. 173 f. Ähnlich Loewenstein, Verfassungslehre, S. 423.

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sagen, daß nicht nur die Aufgabe des Regierens zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit aufgeteilt wurde, sondern umgekehrt eine dementsprechende Verschiebung auch in Hinsicht auf die Funktion der Grundrechtsinnovation eingetreten ist. Beide Aufgaben werden somit von beiden Organen zur gesamten Hand ausgeübt, allerdings - und das ist das Wichtigste - mit einem deutlichen Übergewicht der Regierung. Indem nämlich diese beiden einander häufig notwendig entgegenwirkenden Funktionen "in eine Brust" verlegt werden, geht man des natürlichen Vorteils verloren, der sich ergibt, wenn man wesensmäßig je unterschiedliche Aufgaben auch unterschiedlichen Trägem zuweist. 80 Die Vereinigung mehrerer sachlich im Gegensatz zueinander stehender Aufgaben in einer Hand kann sich leicht als psychologische Überlastung erweisen, weil regelmäßig eben kein sachlicher Ausgleich gesucht wird, sondern eine rollenspezifische Identifikation mit nur einer dieser Aufgaben eintritt. Demgegenüber sind die Möglichkeiten der Parlamentsminderheit, der Regierungsopposition also, nicht ausreichend, die Kontrolle der Regierung wahrzunehmen. Wesentliche Rechte des Parlaments können nur von dessen MehrheitS I ausgeübt werden. So kann zwar auch eine Minderheit etwa das Interpellationsrecht in Anspruch nehmen oder das Fragerecht ausüben. Gesetze verabschieden oder auch - und das ist fast ebenso wichtig - deren Verabschiedung verhindern, 80 Dieser Gedanke [mdet sich fast durchgängig bei allen Theoretikern des gewaltenteilenden Staates. Siehe etwa Locke, Second Treatise of Govemment, chapter xn, § 143 (S. 382); Madison, in: Federalist Papers no. 47 und no. 48. Montesquieu, De l'esprit des lois, livre XI, chapitre 6, S. 164: "Tout serait perdu si le meme homme, ou le meme corps des principaux, ou des nobles, ou du peuple, exer~aient ces trois pouvoirs." Die gleiche Überlegung hat aber auch in anderen Rechtsgebieten Anlaß zu grundlegender Neuorientierung gegeben. Der frühneuzeitliche Inquisitionsprozeß etwa mit seiner Personalunion von Verteidigung, Anklage und Richter wurde abgelöst durch den funktionsteilenden modemen Strafprozeß, der die verschiedenen Aufgaben je verschiedenen Personen zuordnete, siehe Schmidt, Geschichte der deutschen Rechtspflege, §§ 287 ff. Interessanterweise will Kriele (Einführung in die Staatslehre, S. 106) die ,,[plarlamentarische Demokratie . . . geschichtlich und theoretisch . . . begreifen aus der Ubertragung des Gedankens des gerichtlichen Prozesses auf den politischen Prozeß der Gesetzgebung." 81 Als Folge des britischen Mehrheitswahlrechts wird diese Mehrheit allerdings in der Regel nur durch eine Minderheit des Volkes gewählt (siehe hierzu die ausführlichen Untersuchungen bei Döring [Anm. 74], S. 16 ff.). Dies akzentuiert noch die gefährlichen Wirkungen dieser Entwicklung und wird immer wieder als Argument für eine Bill of Rights ins Feld geführt; in diesem Sinne Lord Wade, A Bill of Rights for the UK, in: Parliamentarian 61 (1980), S. 65 ff. (66); ders., 402 H. L. Deb. 999-1000 (8.11.1979) und Lord Carr 0/ Hadley, 402 H. L. Deb. 1013-1014 (8.11.1979). Forderungen nach Einführung einer Art von Verhältniswahlrecht sind deswegen seit Jahren ein ständiges Thema im Vereinigten Königreich, siehe hierzu Oliver, Reform ofthe Electoral System, in: PL 1983, S. 108 ff.; Yardley, Constitutional Reform in the UK, in: Current Legal Problems 33 (1980), S. 147 ff. (147 ff.). - Zu welchen Frustationen die Entmachtung des Parlaments zugunsten der Exekutive führen kann, zeigt folgende Äußerung eines britischen Parlamentariers: "one of the great difficulties about controlling the Executive today arises from the fact that by the time decisions are taken every interest has been consulted except the interests that can be expressed by a Member of the House." (Mr. St. John-Stevas, 755 H. C. Deb. 812, vom 1.12.1967).

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

kann nur die Mehrheit. Indem diese aber gleichsam in die Rolle eines trojanischen Pferdes geschlüpft ist, hat sie eine effektive Nutzung der sich aus dem Gesetzgebungsmonopol ergebenden Möglichkeiten gegenüber der Regierung in Frage gestellt. 82 In vielen Staaten des parlamentarischen Typus hat sich allerdings in mehr oder weniger großem Umfang ein anderes Organ der verwaisten Funktion der Grundrechtsinnovation angenommen, und dies auch ohne dazu ausdrücklich ermächtigt worden zu sein: gemeint ist die Veifassungsgerichtsbarkeit. Diese hatte zunächst nur die Aufgabe, darüber zu befinden, ob ein Eingriff des einfachen Gesetzgebers in jene qua Verfassung besonderen verfassungsändernden Organen zur Reglementierung zugewiesenen Bereiche stattgefunden hat. Die Verfassungsgerichtsbarkeit sollte also ursprünglich das genaue Gegenstück zur Grundrechtsinnovation leisten, nämlich die Verhinderung unzulässiger, weil im Widerspruch zum menschenrechtlichen Wertebestand stehender Grundrechtsinnovation. Wohl nirgendwo hat sie sich aber darauf beschränkt, die ihr als Rechtsrnaßstab zugewiesene Verfassung nur anzuwenden. Vielmehr macht bereits die Konkretisierung der notwendig sehr allgemein gefaßten grundrechtlichen Verbürgungen in großem Umfang eigene, d. h. durch die Gerichte eigenständig eingebrachte Wertungen erforderlich. 83 Denn neben der Überprüfung des Gesetzgebers ist es auch die Aufgabe allerdings nicht nur der Verfassungsgerichte, als oberste Berufungsgerichte unmittelbar die Grundrechtspraxis selbst zu untersuchen. Da nun aber häufig Regelungen des Grundrechtsstandards, an denen die vorgelegten Fälle zu messen wären, noch gar nicht vorhanden sind, bleibt es dem entscheidenden Gericht selbst überlassen, solche zu entwickeln. 84 82 Birch, British System of Government, S. 157 f. Als wesentliche Aufgabe verbleibt der Opposition allein, eine Alternative zur Regierung pro futuro anzubieten und im Falle des Zusammenbruchs der bestehenden Regierung die Fortführung von deren Funktion zu sichern. Vgl. Mackintosh, British Cabinet, S. 570 f.; Finer, Comparative Government, S. 174 f. In manchen anderen Staaten hat man einen gewissen Ausgleich hierfür in der sog. horizontalen Gewaltenteilung gefunden, die als das Ergebnis einer bundesstaatlichen Ordnung eintritt. Im Vereinigten Königreich, wo es dergleichen nicht gibt, und wo auch die zweite Kammer, das Oberhaus, weitgehend entmachtet wurde, die Oppositionspartei somit nirgendwo an der Regierungsverantwortung beteiligt ist, ist daher dieser Funktionswandel der Opposition ebenfalls besonders prononciert eingetreten, vgl. Johnson (Anm. 30), S. 227 f., der zu Recht auf die damit als weitere Konsequenz einhergehende parteipolitische Radikalisierung hinweist. 83 Knapp faßt Zander, Bill of Rights, S. 27, diesen Sachverhalt so zusammen: ,,1ts [the Bill of Rights'] ,child-bearing days' are never over." - Die Gegner sehen gerade in dieser Eigenschaft eines Grundrechtskataloges einen wesentlichen Einwand gegen eine Bill of Rights, siehe dazu unten § 20 Ziffer 1 und 2. 84 Cappelletti (Anm. 21), S. 38 ff., bes. 41 f.; Ermacora, Verfassungsrecht durch Richterspruch, S. 17 ff. mit Beispielen aus der deutschen und österreichischen Verfassungsjudikatur; Scheuner, Fortbildung der Grundrechte durch die Rechtsprechung, in: FS Schlochauer, S. 899 ff. (899 ff.); Bachoj, Der Richter als Gesetzgeber? in: Gernhuber, Tradition und Fortschritt im Recht, S. 127 ff. (179); und grundlegend McWhinney, Supreme Courts & Judicial Law-Making, S. 91 ff.

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Überdies haben sich die Gerichte immer wieder vor die Herausforderung gestellt gesehen, den angesichts ihrer erschwerten Abänderbarkeit über relativ lange Zeiträume unveränderten Verfassungs texten eine Ausdeutung zu geben, die wandelnden, in manchen Fällen sich dramatisch wandelnden Zeitansichten Rechnung tragen konnten. 85 Damit wurde eine eigene Kompetenz zur Aufnahme und Umsetzung des menschenrechtlichen Konsenses erfolgreich in Anspruch genommen 86 und so die Funktion der Grundrechtsinnovation aufrechterhalten. 87 b) Die Träger der Grundrechtsinnovation im Vereinigten Königreich Das Vereinigte Königreich hat nun insofern eine andere Entwicklung eingeschlagen, als es weder einen vom gewöhnlichen Parlament zu unterscheidenden Verfassungsgeber kennt noch demzufolge eine Verfassungsgerichtsbarkeit entstehen konnte. Andererseits hat das Vereinigte Königreich in vollem Umfang teilgenommen an der eben skizzierten, allgemein in parlamentarisch-demokratisch eingerichteten Verfassungsordnungen zu beobachtenden Entwicklung; auch hier ist das Parlament weitgehend in die Regierungstätigkeit eingebunden worden 88 85 MitchelI, Constitutional Law, S. 10. In dieser Hinsicht unter allen Verfassungsgerichten am augenfälligsten ist sicherlich die Leistung des amerikanischen Supreme Court. Stacey, Bill of Rights, S. 19 meint, daß gerade der Supreme Court als "innovator in the field of civil rights" die Briten von der positiven Rolle eines Verfassungsgerichtshofes überzeugen sollte. 86 Das Bundesverfassungsgericht hat eine solche Kompetenz sogar ganz ausdrücklich für sich reklamiert, vgl. BVerfGE 6, 222, 240: ,,Im übrigen ist zur Fortbildung des Verfassungsrechts in erster Linie das Bundesverfassungsgericht berufen." Siehe weiter den Soraya-Beschluß in E 34, 269, 287: ,,Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht ... zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens ... in Entscheidungen zu realisieren." Vgl. auch die dissenting opinion von lustice Byron White in Miranda v. Arizona (1966) 384 U. S. 436, der feststellte, " ... that the Court has not discovered or found law ... ; what it has done is to make new law ... This is indeed what the Court historically has done. Indeed, it is what it must do and will continue to do ..." Siehe hierzu Miller, A Bill ofRights, in: Political Q. 47 (1976), S. 137 ff. (138,140 ff.). Für eine entsprechende Äußerung des EuGHMR, siehe den Fall Tyrer, unten Anm. 113. , 87 Krüger (Anm. 6), S. 160 ff., der allerdings im Hinblick auf die Möglichkeiten der Verfassungsgerichtsbarkeit, solches auch zu bewirken, skeptische Töne anklingen läßt (S. 168). Anders Ermacora, Verfassungsrecht durch Richterspruch, S. 21. -,Zander, Bill of Rights, S. 39 f., weist darauf hin, daß eine Verfassungsgerichtsbarkeit mittelbar auch das grundrechtsinnovative Potential der Gesetzgebungskörperschaft stärken kann. 88 Man wird sogar sagen müssen, daß dieser Prozeß dort besonders weit gediehen ist, ja ein kritisches Maß erreicht hat; siehe Setzer (Anm. 72), S. 188 f., 192, 193 ff.; Mackintosh, Krise des Parlamentarismus, in: ZParl. 8 (1977), S. 113 ff.; Finer, Comparative Government, S. 174 ff., 176 ff.; Yardley, British Constitution and the Rule of Law, in: ]öR NP 13 (1964), S. 129 ff. (134); Sharpe, Krise des Westminster Modells? in: ZParl. 8 (1977), S. 118 ff., meint sogar - und zwar in Verteidigung(!) des britischen Parlaments -, dieses sei ohnehin nur in der Zeitspanne von 1832 bis 1867 eine "gesetzgebende Körperschaft.. gewesen; ähnlich Dürr, Die "Britische Krankheit", in: Politik und

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

und ist zu großen Teilen zu einem bloß reibungslos funktionierenden Instrument 89 in der Hand der Exekutive gewandelt. 90 Die damit einhergehende Machtverschiebung zugunsten der Exekutive hat sich wegen der verfassungsrechtlichen Besonderheiten des Landes allerdings in zusätzlich verstärkter Weise bemerkbar gemacht. Denn das britische Parlament besitzt wegen des Prinzips der Parlamentssouveränitätformal mehr Macht als jedes andere Organ in Staaten vergleichbarer Ordnung. Dementsprechend größer als anderswo ist somit auch die dem Zugriff der Exekutive offengelegte Machtfülle: formaler Machtanspruch (des Parlaments) und substantielle Machtmittel (der Regierung)91 können sich so in einer Hand zu dem verbinden, was Lord Hailsham of St. Marylebone, früherer Lord Chancellor, in einem berühmt gewordenen Wort mit "elective dictatorship"92 umschrieben hat. 93 Zeitgeschichte 11.12.1982, S. 3 ff. (16), der das gegenwärtige Parlament als ,,Diskussionsforum" im Gegensatz zu einem "arbeitenden Parlament" versteht, und Döring (Anm. 74), S. 25 ff. The Marquess 0/ Reading, 147 H. L. Deb. 764 (15.5.1947) spricht von " ... the growing usurpation by the Executive of the powers of Parliament ... " Genauso Norton, Constitution in Flux, S. 96 f., 98 f.; Finer, Comparative Government, S. 149; Levenson, Some Reflections on Civil Liberty in the English Legal System, in: Law Teacher 12 (1978), S. 142 ff. (142 ff.); sowie die Glosse in NU 125 (1975), S. 322 und sogar der Horne Secretary, in: Human Rights Rev. 1 (1976), S. 189 ff. (193 f.). 89 Bagehot, Die englische Verfassung, S. 53 meinte in seiner 1878 erstmals erschienenen Abhandlung sogar: "Das Geheimnis der Leistungsfahigkeit der englischen Verfassung ist die enge Vereinigung, die fast vollständige Verschmelzung der exekutiven und legislativen Gewalten." (S. 53) Diese Ansicht, welche nahezulegen scheint, daß das Gewaltenteilungsprinzip auch damals schon völlig aufgegeben war, ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben, siehe Wade I Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 53 m. w. N.; Vile, Rise and Fall of Parliamentary Government, in: Stankiewiez, British Government in an Era of Reform, S. 11 ff. (12 f.). 90 In diesem Zusammenhang ist von Geisseler, Reformbestrebungen, S. 34 f., 43 f. sehr zu Recht auf die verschiedenen Umgestaltungen der parlamentarischen Geschäftsordnung verwiesen worden, die alle darauf zielen, den Bedürfnissen des Regierens entgegenzukommen. Das hat etwa zur Konsequenz, daß das Recht der Gesetzgebungsinitiative weitgehend nur in den Händen der Regierung liegt, während die sog. private member bills, also die von Mitgliedern der beiden Häuser eingebrachten Gesetzesvorlagen, immer seltener werden und kaum Aussichten auf Erfolg haben. 91 Zu diesen Machtmitteln der Regierung gehört übrigens auch das Recht zur jederzeitigen Auflösung des Parlaments, ein Recht, dessen Ausübung - anders als etwa im deutschen Grundgesetz - allein in das von Verfassungs wegen völlig freie und ungebundene Ermessen des Premierministers gestellt ist; siehe zu den Auswirkungen auf das Verhältnis Legislative / Exekutive Jennings, Law & Constitution, S. 181 f., 184 f. 92 Siehe dessen im Jahre 1976 im Rahmen der Riehard Dimbleby Leeture gehaltenen Vortrag mit dem gleichen Titel (in Auszügen abgedruckt in The Times vom 15.10.1976, S.4). Lord Hailsham führte darin aus, daß die "sovereignty of Parliament" zunächst durch Ausschaltung von Krone und Oberhaus zur "sovereignty of the Commons" geworden sei, um sich schließlich zur "sovereignty of the Government" zu wandeln. Mit dieser Beschreibung hätte sich Lord Hailsham auf Montesquieu berufen können, der 250 Jahre früher den gleichen Sachverhalt so beschrieb: ,,Lorsque dans la meme personne ou dans le meme corps de magistrature, la puissance lt~gislative est reunie a la puissance executrice, il n'y a point de liberte; parce qu'on peut craindre que le meme monarque ou le meme senat ne fasse des lois tyranniques pour les executer tyranniquement." (De l'esprit des lois, livre XI, chapitre 6, S. 164).

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Von den Gegnern einer Bill of Rights ist allerdings immer wieder vorgetragen worden, daß die britischen Gerichte in ihrer Gesamtheit und ohne daß es einer besonderen verfassungsrechtlichen Prüfungskompetenz bedürfte, die Sache der Freiheit gegenüber allzu forschen Eingriffen des Staates in die Hand genommen hätten. 94 Als historische Betrachtung mag das richtig sein. Für die heutige Zeit wird man aber mit allem Recht bezweifeln können, daß das britische Gerichtssystem schon allein von seinen institutionellen und strukturellen Voraussetzungen her zur Grundrechtsinnovation in der Lage ist. Bei genauerem Hinsehen wird solches aber auch von den überzeugtesten Verfechtern des verfassungsrechtlichen status quo gar nicht behauptet; tatsächlich wird gerade von diesem Lager wegen der damit angeblich einhergehenden Politisierung der Richterschaft eine Erledigung des Geschäfts der Grundrechtsinnovation durch die Gerichte abgelehnt. 95 Wenn die unbestreitbaren Qualitäten der britischen Justiz gerühmt werden, wird allein die Durchsetzung, nicht die Schöpfung des Grundrechtsstandards, also nicht die Grundrechtsinnovation gemeint. Aber auch das common law, das den Gerichten einen eigenständig zu verwaltenden Gestaltungsspielraurn zuweist, ändert hieran nichts, auch wenn man einmal davon absieht, daß es ohnehin jederzeit zur Disposition des Parlaments steht. Denn einerseits regelt das common law im wesentlichen privatrechtliche Sachverhalte. 96 Zum anderen würde sein energischer Einsatz zum Zwecke der Grundrechtsinnovation eine entsprechend offensive Haltung der Richterschaft voraussetzen - das was im Amerikanischen mit judicial activism bezeichnet wird. Es ist aber unmittelbar einleuchtend, daß es hierfür bei dem im Vereinigten Königreich vorherrschenden strengen Gesetzespositivismus die denkbar schlechtesten Voraussetzungen gibt. Es entspricht daher der allgemeinen Überzeugung, daß dem englischen Richter eine entsprechende Prädisposition gänzlich abgehe, eine Aussage, die für den Bereich des öffentlichen Rechts in noch gesteigertem Maße zutrifft. 97 93 Allerdings beschreibt Döring (Anm. 74), S. 26 ff. auch die Bemühungen des britischen Parlaments um eine stärkere Geltendmachung seiner Unabhängigkeit; dies gilt z. B. für die Einrichtung der sog. ,,Departmental Select Committees", die genau parallel den Ministerien aufgebaut wurden und ständig tagend fortlaufend deren Arbeit zu überwachen haben. Sie entsprechen damit unseren Bundestagsausschüssen und stellen in mehrererlei Hinsicht ein Novum im britischen Parlamentarismus dar, der zuvor nur ad hoc eingesetzte Ausschüsse kannte, siehe hierzu ebenda. 94 Siehe z. B. Yardley (Anm. 81), S. 163 f. Schon Dicey, Introduction to the Constitution, S. 195 ff. sah in den durch die Gerichte und nicht eine Verfassungsurkunde definierten Bürgerrechten eines von drei Elementen der von ihm beschriebenen ,,rule of law", welche die britische Verfassung als tragendes Prinzip bestimme. 95 So z. B. ganz deutlich Lord Boston of Faversham, Arguments Against a Bill of Rights, in: Campbell, Do We Need a Bill of Rights? S. 23 ff. (25 f.): ,,If we took the course proposed by those who wish to incorporate the Convention, we would be opening up a wide variety of legislative policies in a very general way and handing them over to the judiciary for detailed development (not just interpretation) ... Yet those are matters which, under our constitution, have been the province ofthe legislature." (a. a. 0., S. 25). 96 Dieser Umstand ist für Lord Leslie Scarman, The New Dimension, S. 40 f., eines von mehreren, dem alten common law vorzuhaltenden Versäumnissen (siehe auch a. a. 0., S. 29 ff., 34 ff.).

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Als Beispiel für die konsequente Ablehnung eines Gerichts, die vom Parlament versäumte Grundrechtsinnovation zu leisten, läßt sich Malone v. Commissioner 01Police 98 anführen. Hier hatte ein Londoner Antiquitätenhändler, M alone, Klage erhoben, nachdem sein Telephon von den Polizeibehörden abgehört worden war, weil er unter den Verdacht der Hehlerei geraten war. Zur damaligen Zeit genügte zur Durchführung derartiger Maßnahmen eine entsprechende Anordnung des Horne Secretary. Irgendeine gesetzliche Regelung gab es nicht. Dieser Fall ist deswegen besonders interessant, weil der somit hier bestehende gänzlich rechtsfreie Raum vom entscheidenden Richter ausdrücklich kritisiert wurde, mithin ein Bedürfnis nach Grundrechtsinnovation auf diesem Felde ausdrücklich anerkannt wurde. Gleichwohl konnte der Richter sich nicht dazu durchringen, irgendeine eigene Reglementierung anzubieten, weil auch der Verzicht des Parlaments, einen Sachverhalt durch Gesetz zu regeln, sofern dieser Sachverhalt offenbar einer solchen Regelung zugänglich wäre, von den Gerichten respektiert werden müsse. 99 Im Ergebnis ist dies nichts anderes als die Abdankung des common law - der Verzicht auf die schöpferische Erweiterung seines Regelbestandes auf neue Situationen; unter diesen Umständen wird das common law darauf beschränkt, nur angewandt, nicht fortentwickelt zu werden. 100 Da man aber von einem Recht, welches im wesentlichen in vorindustrieller Zeit gewachsen ist, irgendeinen auf Probleme wie das Abhören von Telephonen u. ä. anwendbaren Rechtssatz nur erwarten kann, wenn man bereit ist, den historischen Fundus von Präjudizien nicht nur anzuwenden, sondern auch auszubauen, 101 ist klar, daß vom common law im Hinblick auf Grundrechtsinnovation nichts zu erwarten ist. 102 Aufschlußreiche Belege für die bei britischen Richtern übliche, grundsätzlich sehr restriktive Auslegung von geschriebenem Recht läßt sich auch bei einer Analyse mancher Entscheidungen des EuGHMR gewinnen. Zugegebenermaßen 97 So die ganz überwiegende Meinung, siehe etwa Jaconelli, Enacting a Bill ofRights, S. 178 ff.; Lester, in: British Institute of Human Rights, European Convention on Human Rights, S. 38 f. 98 [1979] 2 All ER 620. 99 a. a. 0., S. 648 f. 100 Ganz anders dagegen der amerikanische Supreme Court, der aus dem 4. Zusatz zur amerikanischen Verfassung ("The right of the people to be secure in their persons, houses . . . against unreasonable searches and seizures, shall not be violated, and no Warrants shall issue, but upon probable cause ...), eine Vorschrift, die prima facie kaum mit dem Abhören von Telephonen in Zusammenhang zu bringen ist, folgerte, daß solches Abhören "prior judicial approval" erfordere, siehe U. S. v. U. S. District Court for the Eastern District of Michigan 407 U. S. 297 (bes. auf S. 316 f.). Zum grundlegend anderen Selbstverständnis von britischen und amerikanischen Gerichten, siehe McCrudden, Judicial Discretion and Civil Liberties, in: Northern Ireland Legal Q. 25 (1974), S. 119 ff. (120 ff.). 101 So auch Barendt, Dicey and Civil Liberties, in: PL 1985, S. 596 ff. (606 f.). 102 Gleichzeitig ist damit die These widerlegt, eine Inkorporierung der EMRK erübrige sich, weil die darin enthaltenen Rechte ohnehin befriedigend durch die britischen Gerichte geschützt würden; so auch die Feststellung von Jacobs (Anrn. 16), S. 42 f.

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liegen bei der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages andere Verhältnisse vor als bei der Anwendung innerstaatlichen Gesetzesrechts. 103 Andererseits ist in Art. 31 Abs. 3 (b) der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) vorgesehen, daß die Auslegung völkerrechtlicher Verträge nicht auf alle Zeit auf dem Überzeugungsstand im Moment des Vertragsabschlusses verharren muß, sondern ,jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrages" zu berücksichtigen hat. Im Bereich der menschenrechtlichen Verträge markiert dieser Grundsatz das Eingangstor für die Aufgabe der Grundrechtsinnovation; mehr als anderswo ist daher bei solchem Völkervertragsrecht die Grenze der nur textuelIen Wortauslegung zu überschreiten, soll den mit solchen Verträgen eingegangenen Verpflichtungen entsprochen werden. 104 I 105 Als Beispiele hierfür mögen die Entscheidungen in den Sachen Golder und Tyrer genügen. In Golder 106 hatte der EuGHMR u. a. zu entscheiden, 107 ob dem Art. 6 Abs. 1 EMRK, der seinem strengen Wortlaut zufolge nur Rechte vor Gericht statuiert, auch ein Recht auf Zugang zu den Gerichten zu entnehmen ist. Mit dem einleuchtenden Schluß, daß noch so großzügig gewährte Prozeßrechte gegenstandslos seien, würde man den Eintritt in das durch diese vorausgesetzte Rechtsverhältnis, eben den Prozeß, sperren, bejahte der Gerichtshof diese Frage 108 und leistete damit ein echtes Stück Grundrechtsinnovation. Bezeichnenderweise konnte der britische Richter, Sir Gerald Fitzmaurice, 109 sich diesem Votum nicht anschließen, dies im wesentlichen mit der sehr scharfsinnig vorgetragenen Begründung, daß ein Recht auf Zugang zu den Gerichten einer grammatikalischen Auslegung des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht entnommen werden könne, auch kategorial etwas durchaus Verschiedenes sei zu den dort genannten Rechten vor Gericht. 110 Hier wird die entscheidende Sperre zu einer grundrechtsinnovativen 103 Insbesondere ist hier dem Grundsatz Rechnung zu tragen, daß jede Einschränkung staatlicher Souveränität im Zweifelsfalle eng auszulegen ist, siehe Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 780, S. 493 m. w. N. 104 Siehe hierzu Waldock, Evolution of Human Rights Concepts, in: FS Reuter, S. 535 ff. (bes. 542 ff.); Scheuner (Anm. 84), S. 904 ff., 917 ff. 105 In diesem Sinne bezogen auf die EMRK Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 782, S. 499. Drzemczewski, European Convention, S. 22, bescheinigt der Konvention im Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Verträgen sui generis zu sein und folgert hieraus ebenfalls die Notwendigkeit besonderer Auslegungsmethoden (a. a. 0., S. 26 ff.). Grundlegend hierzu Scheuner (Anm. 84), S. 899 ff. 106 Urteil des EuGHMR vom 21.2.1975; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 18, S. 5 ff. 107 Zu der Beschwerde war es gekommen, als der britische Innenminister es dem Beschwerdeführer Golder , während dieser eine Freiheitsstrafe verbüßte, verwehrte, einen Anwalt zu konsultieren, um gegebenenfalls ein Verfahren gegen einen Gefängnisbeamten einleiten zu können, von dem Golder sich zu Unrecht beschuldigt fühlte. 108 a. a. 0., § 35. 109 Siehe dessen separate opinion, in: Sero A: Judgments & Decisions Bd. 18, S. 32 ff. 110 a. a. 0., §§ 25 ff. Sir Gerald hat den entscheidenden Unterschied der beiden von ihm einerseits und der Mehrheit des Gerichts andererseits verfolgten Ansätze im übrigen

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Rechtsfortentwicklung im Gegensatz zur bloßen Rechtsanwendung deutlich. Denn Grundrechtsinnovation ist mehr als Rechtsauslegung, daher mit den Mitteln einer nur grammatikalischen, textuellen Ausdeutung nicht zu bewältigen. Die Sache Tyrer 111 betraf eine strafgesetzliche Regelung, die man auf dem Hintergrund eines mitteleuropäischen Landes im ausgehenden 20. Jahrhundert geneigt ist, mit etwas amüsierter Ungläubigkeit zur Kenntnis zu nehmen. Der minderjährige Tyrer war auf Grund eines Gesetzes der Isle of Man 112 wegen einer Körperverletzung zu drei Stockschlägen verurteilt worden. Das Gericht bestätigte dem Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 3 EMRK, die einzige Gegenstimme kam von Sir Gerald Fitzmaurice. Der Gerichtshof stellte hier u. a. fest: The Court must also recall that the Convention is a living instrument which ... must be interpreted in the light of present-day conditions. In the case now before it the Court cannot but be influenced by the developments and commonly accepted standards in the penal policy of the member States of the Council of Europe ... 113 Daher müsse außer Betracht bleiben, daß die Staaten ursprünglich einmal davon ausgegangen sein mögen, daß Körperstrafen mit Art. 3 EMRK in Einklang stünden. Sir Gerald 114 kam demgegenüber nach einer sehr sorgfältigen Auslegung der Vorschrift zu dem Schluß, daß ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht auszumachen sei. In seiner Schlußpassage, die den fundamentalen Bruch zwischen zwei einander völlig entgegenlaufenden Auffassungen zum richterlichen Selbstverständnis mit präziser Klarheit offenlegt, lehnt er jede grundrechtsinnovative Rolle des Gerichtshofes ab: The fact that a certain practice is feIt to be distasteful, undesirable, or morally wrong and such as ought not to be allowed to continue, is not a sufficient ground selbst sehr klar erkannt, siehe den Abschnitt seiner opinion betitelt "The question of approach", a. a. 0 .• § 25. 111 Urteil des EuGHMR vom 25.5.1978; Sero A: Judgments & Decisions Bd. 26, S. 4 ff. 112 Die "Isle of Man" ist kein Teil des Vereinigten Königreichs. aber auch keine Kolonie. hat eine eigene Legislative (Tynwald) und folglich eigene Gesetze. Zu der sehr merkwürdigen verfassungsrechtlichen Lage dieser Insel. siehe HLE 6. §§ 879 ff. und Leuteritz. Die staatsrechtliche Sonderstellung der Insel Man. in: ZaöRV 29 (1969), S. 525 ff. 113 Sero A: Judgments & Decisions Bd. 26. S. 4 ff., § 31. Diese Stelle legt den Vergleich mit folgender Passage aus der separate opinion von Sir Gerald Fitzmaurice nahe. wo er zunächst festhält. daß es durchaus ein Fehler der Konvention sein mag, daß sie kein Recht auf Zugang zu den Gerichten enthalte. um dann fortzufahren: ... . . it is for the States upon whose consent the Convention rests, and from which consent alone it derives its obligatory force. to elose the gap. or put the defect right by an amendment. - not for a judicial tribunal to substitute itself for the convention-makers. to do their work for them." Sero A: Judgments & Decisions Bd. 18. S. 32 ff. (§ 36 [c)); unschwer lassen sich die angesprochenen "States" mit .,Parliament" ersetzen. um die Aussage damit auch auf innerbritische Verhältnisse anwendbar zu machen. 114 Siehe dessen separate opinion, in: Sero A: Judgments & Decisions Bd. 26, S. 22 ff.

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in itself for holding it to be contrary to Article 3 ... Any other view would mean using the Article as a vehicle of indirect penal reform, for which it was not intended. 115 Haben die Organe der EMRK die Aufgabe der fehlenden nationalen Grundrechtsinnovation für das Vereinigte Königreich übernehmen können? Gewisse grundrechtsinnovative Auswirkungen der Konventionsorgane sind gewiß nicht zu leugnen. Die Konventionsorgane haben durchaus verstanden, die sich ihnen angesichts der Konkretisierungsbedürftigkeit der anzuwendenden Nonnen bietenden Chancen zu nutzen. Andererseits haben die Straßburger Instanzen bei den relativ wenigen Fällen, die dort verhandelt werden, einfach zu wenig Gelegenheiten, um wirklich durchschlagende grundrechtsinnovative Wirkungen im Hinblick auf das Vereinigte Königreich zu entfalten, die auch nur annähernd dem entsprechen, was ein nationales Verfassungsgericht in dieser Hinsicht leisten könnte. Einen Ersatz für fehlende nationale Grundrechtsinnovation können auch die Konventionsorgane daher nicht bieten. c) Verzichtbarkeit von Grundrechtsinnovation?

Mit dem vorstehend gewonnenen Ergebnis scheint die aufgeworfene Frage nach der Grundrechtsinnovation jedoch noch nicht beantwortet. Denn es ist zwar richtig, daß im Falle des Bestehens funktionstüchtiger grundrechtsinnovierender Organe eine weitere Prüfung des nonnativen Bestandes überflüssig ist (nicht hingegen eine Untersuchung von dessen tatsächlicher Umsetzung), weil dann ja ex definitione die innerhalb des jeweiligen Systems erzeugten Vorstellungen und Wertungen ihren nonnativen Niederschlag fmden müssen. Die Berechtigung des Umkehrschlusses ist aber noch nachzuweisen. Zumindestens als hypothetische Möglichkeit denkbar ist auch, daß ein System über eine längere Zeit hinweg einen so hochstehenden Nonnenbestand angehäuft hat, daß damit jedenfalls für eine gewisse Zeit alle menschenrechtlichen Bedürfnisse gedeckt sind und somit die zur Grundrechtsinnovation notwendigen verfahrensmäßigen Voraussetzungen vorerst verzichtbar sind. Um ein solches Szenario als reale Möglichkeit behaupten zu können, muß keineswegs eine abschließende, mit Ewigkeitsanspruch ausgestattete menschenrechtliche Nonnierung vorausgesetzt werden. Im Sinne der hier angestellten Analyse wäre es schon ausreichend, wenn jedenfalls in der jetzigen Lage des Vereinigten Königreichs eine Grundrechtsinnovation nicht notwendig wäre. Alles weitere könnte man getrost kommenden Generationen überlassen. 115 a. a. 0., § 14; siehe hierzu Waldock (Anm. 104), S. 542 ff. Für einen weiteren Fall, wo die außerordentliche Zurückhaltung britischer Richter der Grundrechtsinnovation gegenüber deutlich in Erscheinung trat, siehe das Urteil des EuGHMR in der Sache Campbell / Cosans, in: Sero A.: Judgments & Decisions Bd. 48, S. 4 ff. und die partly dissenting opinion des britischen Richters Sir Vincent Evans, in: a. a. 0., S. 21 ff. Die dort strittige Frage war, inwiefern Eltern die Entscheidung darüber zusteht, ob Verstöße ihrer Kinder gegen die Schuldisziplin mit der Prügelstrafe geahndet werden dürfen. Siehe hierzu allgemein McWhinney, Supreme Courts & Judicial Law-Making, S. 92 ff.

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aa) Grundrechtsinnovation als Antwort auf gesellschaftliche Wandlungen Mit dieser letzten Feststellung ist aber auch schon eine wesentliche Bedingung angedeutet, welche gegeben sein müßte, um es einem System ungestraft, d. h. ohne nachteiligen Folgen für seine Befriedungsfunktion erlauben zu können, seinen bestehenden Grundrechtsstandard einzufrieren, wenn man denn überhaupt diese Möglichkeit als auch nur theoretisch denkbar gelten lassen will, was hier nicht weiter untersucht, sondern einfach vorausgesetzt werden soll. Denn allein schon ein aus der allgemeinen Lebenserfahrung gespeister Skeptizismus gebietet Vorsicht und Zurückhaltung, bevor eine Staatsordnung mit einem solchen Urteil belegt werden kann. Überhaupt erwägenswert wäre ein solches Festschreiben des Grundrechtsstandards nur dann und nur solange, wie die Lebensverhältnisse und gesamtgesellschaftlichen Bedingungen im allgemeinsten Sinne im wesentlichen konstant sind. 116 Es waren und sind ja gerade immer wieder Wandlungen und Veränderungen in den objektiven Bedingungen, unter denen die Menschen leben und der Staat agiert, die den Anlaß für einen grundrechtsinnovativen Schub liefern und lieferten, weil sie von dem bis dahin bestehenden Grundrechtsstandard nicht erfaßt werden, somit auch nicht ohne dessen Modifizierung beantwortbar sind. ll7 Normtechnisch ließe sich dieser Schwierigkeit begegnen, indem man den in den Standard aufzunehmenden Rechtssätzen eine so abstrakte Fassung gibt, daß sie auch für noch gar nicht vorliegende und somit zunächst noch unerkannt gebliebene Problemlagen eine Antwort bereithalten. Zwar ist Abstraktion als Eigenschaft fast beliebig steigerbar. Jedoch jenseits eines natürlich nur schwer zu definierenden Punktes verflüchtigt sich die Subsumtionsfähigkeit einer solchen Norm, und sie verliert damit jene Eigenschaft, die den Grundrechtsstandard auszeichnet. Tatsächlich gilt dies für große Teile der förmlich niedergelegten Grundrechtskataloge, z. B. auch für das Grundgesetz. Praktisch handhabbar sind viele Grundrechtsvorschriften deswegen nur, weil mit dem Bundesverfassungsgericht ein Organ bereit steht, welches Regeln entwickelt, die, auf einer niedrigeren Abstraktionsstufe stehend, konkret anwendbare Handlungsanweisungen geben. 118 Erst diese Regeln machen aber den Inhalt des Grundrechtsstandards aus. Grundrechtsinnovation wird so also nicht verzichtbar gemacht, sondern gerade vorausgesetzt.

Krüger (Anrn. 6), S. 151 ff., 153 f. Ein gutes Beispiel hierfür ist die jüngst von dem Abgeordneten Powell im britischen Parlament eingebrachte Gesetzesnovelle, welche Experimente an Embryonen unter Strafe stellen will (siehe FAZ vom 12.3.1985); begründet wurde diese Zielsetzung mit der durch die modeme Technik in Gefahr geratenen Menschenwürde, die es hier zu schützen gelte, somit ein klassisches Beispiel für Grundrechtsinnovation. 118 Siehe Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 80 ff.; Böckenförde (Anrn. 20), S. 1529. 116

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Daß sich die Verhältnisse als Ergebnis der geradezu ungeheuren naturwissenschaftlich-technologischen Entwicklungen gewandelt haben, und dies mit einer zunehmenden Akzeleration und einer Dramatik, die jedenfalls dem Zeitgenossen ohne Parallele erscheint, bedarf keines Nachweises. Der deutsch-amerikanische Philosoph Hans Jonas 119 hat überzeugend dargelegt, daß die mit diesen wenigen Stichworten charakterisierte, in der Menschheitsgeschichte ganz neue Lage zu ihrer Bewältigung einer ebenso neuen Ethik verlangt, die übrigens notwendigerweise eine politische, nicht nur individuelle, sozusagen private Ethik zu sein hätte. 120 In genau entsprechender Weise ist auch das Recht aufgerufen, die sich aus den neuen technischen Fähigkeiten ergebenden Herausforderungen in den Griff zu nehmen, eine gewaltige Aufgabe, von der man getrost voraussagen kann, daß sie ganze luristengenerationen mit Beschlag belegen wird. Dabei verspricht die scheinbar durch nichts aufzuhaltende Dynamik des naturwissenschaftlichen Fortschritts eine ständige Potenzierung der hierbei anfallenden Aufgaben und die Einbeziehung ständig neuer Bereiche. All dies erfordert aber von jeder Staatsordnung ein denkbar größtes Maß an grundrechtsinnovativer Kraft. Erinnert sei etwa an das Problem des Datenschutzes, die Bewältigung der umweltrechtlichen Herausforderungen, aber auch all die Fragen, die die sich entwickelnde Gentechnologie noch aufwerfen wird. Daß das Vereinigte Königreich aber auch mit älteren Fragestellungen, die sich aus der rasanten Dynamik der Naturwissenschaften ergeben haben, nicht recht fertig wird, beweist auf das Deutlichste die schon mehrfach angeschnittene Malone-Entscheidung. Geradezu resignierend stellt der Richter hier fest, daß das englische Recht ihm leider einfach keine Handhabe biete, um die angefochtene Maßnahme zu überprüfen und als Ergebnis einer solchen Prüfung ggfs. zu verwerfen; nur die EMRK vermöge hier weiterzuhelfen. 121 Von einer Verzichtbarkeit auf Grundrechtsinnovation kann somit keine Rede sein. bb) Allgemeine Handlungsfreiheit des Staates oder einzelfallbezogene Ermächtigung durch Gesetz: Gesetzesvorbehalt und Grundrechtsinnovation Die Malone-Entscheidung weist noch auf ein weiteres hin, was in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Das Gericht hatte sich hier u. a. mit der Frage auseinanderzusetzen, ob behördlicherseits durchgeführtes Abhören von Telephongesprächen eine Ermächtigungsgrundlage durch statute oder common law benötige, ob also, sollte eine solche Ermächtigungsgrundlage nicht feststellbar sein, allein deren Fehlen an sich ohne weiteres die Rechtswidrigkeit der beanstandeten Abhöraktion nach sich ziehe. Der Richter, Sir Robert Megarry, 119 120 121

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Das Prinzip Verantwortung, S. 26 ff., 35 ff. a. a. 0., S. 37. [1979] 2 All ER 620, auf S. 648.

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v. C., meinte, nachdem er das Fehlen einer solchen Ermächtigung feststellt, hierzu: Finally, there is the contention that as no power to tap telephones has been given by either statute or comrnon law, the taping is necessarily unlawful. The underlying assumption of this contention, of course, is that nothing is lawful that is not positively authorised by law. l22 Das Bemerkenswerte hieran ist die mit dem letzten Satz unterschlagene grundlegende Verschiedenheit zwischen dem Recht Privater und dem des Staates, die ja in der Tat im englischen Recht nur höchst mangelhaft aufgenommen worden ist. 123 Noch deutlicher wird dies in der Fortsetzung der Urteils begründung: As I have indicated, England is not a country where everything is forbidden except what is expressly permitted. One possible illustration is smoking. I enquired what positive authority was given by the law to permit people to smoke. Counsel for the plaintiff accepted that there was none ... 124 Weil also der Bürger bei seinem Tun von der allgemeinen Vermutung der Handlungsfreiheit ausgehen dürfe, müsse dies auch für den Staat gelten - so lautet die hier zu Grunde gelegte Prämisse; die Berechtigung dieses Schlusses von der Rechtstellung des Bürgers auf die des Staates wird allerdings nicht gerechtfertigt, nicht einmal thematisiert. Jeder deutsche Anwalt würde an diesem Punkt ohne Zögern auf die Grundrechte, auf die Gesetzesvorbehalte und die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts verweisen; eine Ahnung hiervon, unausgesprochen und wohl auch unreflektiert, ist offenbar auch den Kläger angegangen, wie seiner Entgegnung auf die Frage von Sir Rohert zu entnehmen ist: ... but tapping, he [der Kläger] said, was different. It was in general disfavour, and it offended against usual and proper standards of behaviour, in that it was an invasion of privacy and an interference with the liberty of the individual ... Nachdem der Richter gezeigt hat, daß für den Nichtraucher auch das Rauchen genau diese dem Abhören von Telephonen beigelegten Merkmale erfülle, und er damit zu seiner Zufriedenheit die Unhaltbarkeit der vom Kläger versuchten soziologischen Begründung von Grundrechten nachweisen konnte, fuhr er fort mit einem klassisch zu nennenden britischen Argument gegen Grundrechtskataloge, allerdings ohne dies als solches zu kennzeichnen: The notion that some express authorisation of law is required for acts which meet with "general disfavour" ... , would make the state of the law dependent on subjective views on indefmite concepts, and would be likely to produce some remarkable and contentious results. a. a. 0., S. 638. Siehe hierzu MitchelI, Constitutional Law, S. 57 f. 124 [1979] 2 All ER 620 auf S. 638; die nachfolgenden Zitate aus dem Urteil finden sich ebenfalls auf dieser Seite. 122 123

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Und schließlich die Schlußfolgerung aus alledem: If the tapping of telephones by the Post Office at the request of the police can be

carried out without any breach of the law, it does not require any statutory or common law power to justify it: it can lawfully be done simply because there is nothing to make it unlawful (Hervorhebung des Verf.).

Dieser Urteilsbegründung sind zweierlei Folgerungen zu entnehmen: die eine mehr prinzipieller Art, die andere konkreter mit ganz unmittelbaren Auswirkungen. Indem das Gericht den Staat konsequent dem gleichen Recht unterwirft wie den Bürger, wird das Ergebnis der Verfassungskämpfe des 17. Jahrhunderts bestätigt, als die Krone in Gestalt der ersten beiden Stuarts sich mühte nachzuweisen, daß es der König sei, welcher das Recht erst schaffe, was diesen notwendig über diese, seine eigene Schöpfung plazieren mußte. 125 Diesen Standpunkt zu überwinden durch das spätestens mit dem Abschluß der Glorious Revolution vollzogenen Anerkenntnis der Krone, dem Recht ebenso unterworfen zu sein wie das Parlament und der Bürger, war zur damaligen Zeit zweifelsohne eine große Leistung. An diesem Prinzip festzuhalten, den kontinental-europäischen und amerikanischen Entwicklungen zum Trotz es zu bewahren und auszubauen, war auch ein Ziel der Diceyschen Erläuterungen zur britischen Verfassung; darin wurzelte seine Ablehnung eines droit administratif, von welchem er meinte, daß es diese Gleichstellung von Bürger und Staat durch die Schaffung eines besonderen die Exekutive vermeintlich privilegierenden Rechtes wieder aufhebe. 126 In spiegelbildlicher Verkehrung des Stuartschen Standpunktes zum Verhältnis von Krone zu Staat und scheinbar unbemerkt von den Verfechtern der alten verfassungsrechtlichen Traditionen des Vereinigten Königreichs hat sich aber auf diesem Felde seit Diceys Tagen ein neues Verständnis angebahnt, exemplarisch zum Ausdruck gebracht in dem Verhältnis der Grundrechte zum Staatsorganisationsrecht im Grundgesetz der Bundesrepublik. Der Staat ist hier nicht mehr (nur) Addressat des Rechts, sondern vor allem des letzteren Schöpfung. Der Staat (anders als der Bürger mit dem ihm vor- und überrechtlich anhaftenden Menschenrechten) wird vom Recht nicht vorgefunden, sondern durch das Recht erst konstitutiert. Oder anders: nicht der Staat (in Gestalt des Königs) macht das Recht, sondern das Recht den Staat. 127 Hieraus folgt aber, daß der Staat jedenfalls dann, wenn er in die ihm vorgegebenen Bürger- und Menschenrechte eingreifen will, einer besonderen Ermächtigung bedarf, andernfalls er untätig zu bleiben hat. Dazu Kriele, Herausforderung des Verfassungsstaats, S. 8, 20 ff. Dicey hat der Auseinandersetzung mit dem droit administratif ein ganzes Kapitel seines Hauptwerkes gewidmet, siehe Law of the Constitution, Kapitel XII; siehe kritisch hierzu MitchelI, Constitutional Law, S. 57 f., 60 ff. und umfassend Errera, Dicey and French Administrative Law, in: PL 1985, S. 695 ff. (bes. 698 ff.). 127 Dies ist eine der grundlegenden Prämissen des Grundgesetzes, die ihren Niederschlag etwa in der Reihenfolge von Grundrechten und staatsorganisatorischen Vorschriften innerhalb des GG gefunden hat - erst Grundrechte, dann auf deren Grundlage aufbauend die Konstituierung des Staates in Art. 20 GG. Siehe Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Art. 20 Rz 1, Art. 20 VII Rz 14. 125

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Als Konsequenz der bisher im Vereinigten Königreich versäumten Aufnahme dieser staatsphilosophischen Neuorientierung stellt sich gleich die zweite der oben angedeuteten Folgen ein. Denn die Erstreckung der allgemeinen Freiheitsvermutung nicht nur auf den Bürger, sondern ebenso auf den Staat bedeutet für diesen einen unmittelbar wirksamen Kompetenzzuwachs von potentiell weitreichenden Folgen. 128 In Malone verzichtete Sir Robert merkwürdigerweise darauf, für seine dort getroffenen Feststellungen einen Beleg anzugeben. Dies wäre durchaus notwendig gewesen, denn eine immerhin so gewichtige Autorität wie Halsbury' s Laws läßt sich in einem ihm genau gegenläufigen Sinne aus. 129 Allerdings wird auch bei Halsbury' s keine Präjudizentscheidung o. ä. hierfür angeführt, sondern erstaunlicherweise allein ein deutsches Lehrbuch der Jahrhundertwende. 130 In der dort angezogenen Passage des Hatschekschen Lehrbuchs geht es um den Unterschied zwischen deutschem und englischem Polizeirecht. Es heißt dort: In England gibt es keine einheitliche Polizeigewalt im formalrechtlichen Sinne, die

das Staatswesen durchdringt und beherrscht, während in Deutschland eben dies der Fall ist und als Aeusserung der einheitlichen Staatsgewalt gilt. In England gilt die Polizeigewalt nur, soweit sie vom Recht zugelassen ist, in Deutschland schiebt sie sich überall dort ein, wo sie nicht ausdrücklich vom Rechte verboten ist. 13I

Der hiermit angesprochene Gegensatz betrifft die formale Natur polizeilicher Ermächtigungen: ob Generalklausel oder Einzelermächtigung 132 und zwar verstanden als Ermächtigung zum Eingriff in Bürger- und Grundrechte. Denn, wie dem Malone-Urteil zu entnehmen ist, bedarf es auch im Vereinigten Königreich einer "Ermächtigung" sofern die Exekutive instand gesetzt werden soll, in dem Bürger anderswo bereits durch common oder statute law gewährtes Recht einzugreifen. Das dabei zur Anwendung gelangende rechtstechnische Verfahren unterscheidet sich allerdings von dem der "deutschen" GeneralklauseI (oder jeder So auch Barendt (Anm. 10), S. 606; Kingston / Imrie (Anm. 16), S. 757 f. Bd. 8, § 828: "The so-called liberties of the subject are really implications drawn from the two principles that the subject may say or do what he pleases, provided he does not transgress the substantive law, or infringe the legal rights of others ..., whereas public authorities (including the Crown) may do nothing but what they are authorised to do by some rule of common law (including the prerogative) or statute ..." Ähnlich auch Lord Goffin Attorney-General v. Guardian Newspapers Ltd. [1988] 3 WLR 776 (auf S. 808), der allerdings verwirrenderweise anzunehmen scheint, die EMRK gehe umgekehrt von einer generellen Ermächtigung des Staates zum Eingriff in Grundrechte aus. 130 Die Fußnote dort lautet im vollen Wortlaut: "See 2 Hatschek's Englisches Staatsrecht 547, 548. Where, as is or has been the case in some foreign countries, the executive govemment has a general power of interference in the public interest, the liberties of the subject must be particularily enunciated as exceptions to this general power. The English rule is the converse of this." 131 Englisches Staatsrecht 11, S. 547. 132 Ob diese Charakterisierung der englischen Polizeigewalt so heute noch zutrifft, mag man wegen der erheblich zugenommenen Spezialermächtigungen, die sich insgesamt im Grunde auch zu einer Generalklausel vereinen lassen, füglich bezweifeln. 128

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anderen Ermächtigung) dadurch, daß im deutschen Recht die (einfachgesetzliche) Ermächtigung die (formell-verfassungsrechtliche) Grundrechtsverbürgung niemals derogieren kann; auch das in Vollzug eines verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalts erlassene Gesetz ist keine Derogierung, nur eine Einschränkung von Grundrechten nach Maßgabe der Verfassung, was schon daraus folgt, daß die formell-verfassungsrechtlichen Grundrechte des GG nur durch den verfassungsändernden Gesetzgeber nach Art. 79 Abs. 2 GO, niemals durch den einfachen Gesetzgeber geändert werden können. Im Vereinigten Königreich wird auch hier streng nach dem Satz "lex posterior derogat legi priori" verfahren. Beide Rechtsordnungen bedürfen also einer gesetzlichen Ermächtigung der Exekutive, wenn in bestehende Rechte (i. S. von Grundrechtsstandards) eingegriffen werden soll. Der entscheidende Punkt ist nun aber, daß mit den Grundrechten in der deutschen Rechtsordnung ein weit größerer, durch die Tätigkeit des Verfassungsgerichts flächendeckend wirkender Fundus an solchen Bürgerrechten zur Verfügung steht; folglich ist in der Bundesrepublik im Gegensatz zum Vereinigten Königreich sehr viel häufiger eine gesetzliche Ermächtigung erforderlich. 133 Diese Feststellung muß um so mehr gelten, wenn, wie in Malone geschehen, von den Gerichten die Schaffung neuer Grundrechtsstandards durch Weiterentwicklung des alten common law abgelehnt und so der Weg für die Exekutive freigemacht wird, um Eingriffe aller Art erst einmal vorzunehmen, solange bis das Parlament (d. h. also praktisch die Regierung) sich dazu entschließt, per Gesetz eine Beschränkung solcher exekutiven (also im Grunde: eigener) Freiräume anzuordnen. Im deutschen Verfassungsrecht wird dagegen der umgekehrte Weg beschritten: der Exekutive bleibt der Zugriff auf die Grundrechte erst einmal verschlossen, solange bis ihr durch Ermächtigung im Rahmen eines grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts eine ausdrückliche Kompetenz in diesem Sinne zugewiesen wurde. Bedenkt man aber, daß jeder Gesetzgeber naturgemäß nur mit einer gewissen Verzögerung auf die sich aus Veränderungen der objektiven Umstände ergebenden Bedürfnisse reagiert, 134 ruft man sich weiterhin die schon angesprochenen dramatischen Umwälzungen insbesondere im naturwissenschaftlich-technischen Bereich in Erinnerung, so ergibt sich aus alledem eine sehr bedenkliche Lücke im britischen Grundrechtsschutz. 135 Hier zeigt sich also deutlich die freiheitsstiftende Funktion des Gesetzesvorbehalts, ein Rechtsinstitut, das ja auch in verschiedener Ausprägung Eingang in die EMRK gefunden hat. 136 Es überrascht daher auch nicht, daß der EuGHMR, 133 Glaser, Verfassungsrechtliche Grundprinzipien, in: DVBI 103 (1988), S. 677 ff. (678) will dagegen aus der ,,rule of law" folgern, daß auch im Vereinigten Königreich Eingriffe der Exekutive stets einer Ermächtigungsgrundlage bedürfen. Eine Begründung für diesen Schluß fehlt indes; in der Tat gibt es hierfür auch im case law keine Stütze. 134 Ähnlich Zander, Bill of Rights, S. 39. 135 So auch Barendt (Anm. 101), S. 606 f. 136 Siehe a. a. 0., S. 606.

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als der Malone-Fall dort zur Entscheidung anstand,137 auf eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK erkannte, weil das Abhören von Telephonen im Vereinigten Königreichs in Anbetracht des Fehlens überhaupt irgendeiner rechtlichen Regelung nicht "in accordance with the law" vonstatten gehe. Dabei stellte das Gericht zu Recht ausdrücklich fest, daß "law" im Sinne dieser Vorschrift durchaus auch common law sein könne,138 was die englischen Richter als an sie gerichtete Aufforderung verstehen sollten, die Bürgerrechte durch die Ausweitung "ihres" Rechts fortzuentwickeln. Für das Vereinigte Königreich folgt aus alledem, daß Grundrechtsinnovation mehr noch als in anderen Staaten eine unabweisbare Notwendigkeit bleibt. Denn das Fehlen eines umfassend definierten, förmlich niedergelegten menschenrechtlichen Fundus, verbunden mit der dem Staat als Regelfall (und nicht als Ausnahme) zugewiesenen Handlungsfreiheit verlangt die besondere Aufmerksamkeit der Legislative beim Aufspüren und Bekämpfen neuer Gefahren für die Menschenrechte und die ständige Bereitschaft, hieraus die gebotenen gesetzgeberischen Konsequenzen zu ziehen. Damit zeigen auch die spezifisch britischen Verfassungsverhältnisse, daß an einen Verzicht auf Grundrechtsinnovation nicht zu denken ist.

§ 13 Die Durchsetzung des Grundrechtsstandards Über den Wert eines menschenrechtlichen Schutzsystems entscheidet vor allem, ob die Rechtsverbürgungen des Grundrechtsstandards mit der nötigen Effektivität im Rechtsalltag durchgesetzt werden. Im System des oben 139 erläuterten Rasters meint Durchsetzung die Anwendung im konkreten Einzelfall durch die zum Vollzug des Grundrechtsstandards bestimmten staatlichen Organe. Diese Kardinalfrage hat denn auch erwartungsgemäß im Zuge der Bill of Rights Debatte einige Aufmerksamkeit erhalten. Allerdings stellen sich bei der Überprüfung der Durchsetzung des Grundrechtsstandards - und das ist nichts anderes als die Grundrechtspraxis - womöglich noch gravierendere Hindernisse in den Weg als bei einer Beurteilung des Grundrechtsstandards selbst. Relativ gemessen - und nur dies erlaubt ein Urteil, das eine breite Zustimmung finden kann - ist auch die britische Grundrechtspraxis ohne jeden Zweifel sehr hoch zu bewerten. Würde man sich demgegenüber der sehr erheblichen Mühe unterziehen, Grundrechtspraxis und Grundrechtsstandard in allen denkbaren Fällen miteinander zu vergleichen, so würde dies eine Unzahl von Streitfällen über die richtige Auslegung und Ausdeutung von Gesetzen und Urteil vom 2.6.1984, Sero A: Judgments & Decisions Bd. 82, S. 7 ff. a. a. 0., § 66. Ebenso hatte der Gerichtshof auch bereits in seinem Urteil in der Sache Sunday Times entschieden, siehe Sero A: Judgments & Decisions Bd. 30, S. 5 ff. (§ 47). 139 Siehe oben § 11. 137 138

§ 13 Die Durchsetzung des Grundrechtsstandards

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gesetzlichen Bestimmungen zu Tage fördern, kaum aber ein übergreifendes Urteil über die derzeitige Grundrechtspraxis erlauben. Mehr noch als bei der Untersuchung über den Grundrechtsstandard können die nachfolgenden Darlegungen zur Grundrechtspraxis daher lediglich Ansatzpunkte liefern. Dabei sei von der Prämisse ausgegangen, daß von einer unzureichenden Grundrechtspraxis nur dort gesprochen werden kann, wo sich ein großflächig wirkendes Versagen nachweisen läßt. Jede Rechtsordnung wird in Einzelfällen versagen. Mehr noch: Über jede Rechtsanwendung läßt sich im Einzelfall streiten. Sofern hier überhaupt echte Defizite zu Tage treten und nicht nur der unvermeidliche rechtswissenschaftliche Streit geführt wird, kann solchen Defiziten durch entsprechend eng zugeschnittene einzelne Reformmaßnahmen abgeholfen werden; einer so grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Änderung wie der Bill of Rights bedarf es dazu nicht. Ein derartig weit greifendes Instrument würde sich nur dann empfehlen, wenn die Grundrechtspraxis ganzer Bereiche unzureichend sein sollte. In diesem Sinne sollen im folgenden die Behandlung der farbigen Bevölkerungsgruppe und das Nordirlandproblem als zwei Beispiele untersucht werden. Allerdings handelt es sich hier um Bereiche, die wenigstens zu wichtigen Teilen einem nicht mit rechtlichen Sanktionen bewehrten Grundrechtsstandard unterworfen sind. Das freilich kann im Ergebnis nichts ändern. Denn angesprochen ist hier die Überzeugung, das Recht müsse als Ausdruck des FairneßGebots ohne Ansehen der Person gegen jedermann gleich anzuwenden sein und damit in Anwendung des Toleranzprinzips blind gegenüber eventuellen Andersartigkeiten des rechtssuchenden Bürgers ausschließlich nach sachlichen Gesichtspunkten entscheiden. Dieses Prinzip als Teil des britischen Grundrechtsstandards nachzuweisen, dürfte sich erübrigen, so sehr ist die dem zugrundeliegende Vorstellung von Fairness zu einem Teil des (tatsächlich oder vermeintlich) "typisch Britischen" geworden. Insofern ist der Gleichheitsgrundsatz ein besonders guter Ansatzpunkt für eine Prüfung britischer Grundrechtspraxis.

1. Testfall 1: Die farbige Bevölkerungsgruppe Es entspräche dem Gleichheitsgebot, die Angehörigen farbiger Minderheiten, soweit sich nicht im Hinblick auf deren möglicherweise fehlende britische Staatsbürgerschaft Besonderes ergibt, ebenso wie ihre weißen Mitbürger zu behandeln. 140 140 Eine Verpflichtung zur Gleichbehandlung solcher Personengruppen ergibt sich auch schon aus den verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen, insbesondere der Rassendiskriminierungskonvention; siehe oben § 8 Ziffer 4 (zur Bewertung der völkerrechtlichen Verträge im Rahmen einer Beurteilung des Grundrechtsstandards, siehe im übrigen unten § 14 Ziffer 1). - Weitere Belege für die Ansicht, daß es sich bei dem Gebot der Gleichbehandlung rassischer Minderheiten um eine Norm des Grundrechtsstandards

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Tatsächlich ist aber unbestritten, daß dieser Personenkreis 141 in der britischen Gesellschaft vielfältigen Benachteiligungen und Diskriminierungen ausgesetzt ist. So ist einer ganzen Reihe von Erhebungen zu entnehmen, daß die farbige Bevölkerung verglichen mit ihren weißen Mitbürgern durchweg unter schlechteren Lebensbedingungen lebt, ohne daß hierfür sachliche Gründe anzugeben wären. Farbige haben schlechtere Berufschancen; 142 ihnen stellen sich erheblich größere Hindernisse bei der Wohnungssuche entgegen; 143 bei der Inanspruchnahme zahlreicher allgemein angebotener Dienstleistungen 144 (Schule, Gaststätten, Clubs etc.) haben sie Nachteile in Kauf zu nehmen. Dabei unterliegt es keinen Zweifeln, daß diese objektiv schlechteren Bedingungen jedenfalls auch eine direkte Folge dementsprechender subjektiver Vorstellungen der weißen Bevölkerung sind, welche sich in gelegentlich recht massiven, rassisch begründeten, ja rassistischen 145 Vorurteilen gegenüber Farbigen ausdrücken und sich in entsprechend rassendiskriminierendem Verhalten 146 niederschlagen. Als Beleg hierfür läßt sich auf eine ganze Reihe von Untersuchungen hinweisen, von denen die handelt, lassen sich den verschiedenen Race Relations Acts (dazu siehe oben § 2) entnehmen, die dies ebenfalls zur Prämisse haben. 141 Zu den Hintergründen, siehe oben § 2. 142 Vgl. Hewitt, Abuse ofPower, S. 207 f. m. w. N. (Farbige haben z. B. einenproportional zu hohen Anteil an der Arbeitslosigkeit, erhalten schlechtere Löhne etc.); Daniel, Racial Discrimination, S. 97 ff. Die Regierung behauptet demgegenüber, daß die Arbeitslosigkeitsraten von Weißen und Farbigen sich in den letzten Jahren angeglichen hätten, siehe 5. Bericht des Vereinigten Königreichs an den Ausschuß der Rassendiskriminierungskonvention, UN Doc. CERD/C/20/Add. 17, p. 17 (siehe dazu Bahner, CERD/ C/SR.398, § 15); 6. Bericht ... , UN Doc. CERD/C/66/ Add. 13, p. 23; 9. Bericht ... , UN Doc. CERD/C/149/ Add. 7, §§ 53, 56 (dazu AU, CERD/C/SR.793, §§ 62 ff., 65). In der hohen Arbeitslosigkeit vor allem auch junger Farbiger ist eine wichtige Ursache für die in den letzten Jahren zu beobachtenden, gewaltätigen Unruhen in einer Reihe englischer Städte zu suchen, siehe 7. Bericht ... , UN Doc. CERD/C/91/Add.24, §§ 24 f. 143 Vgl. Hewitt, Abuse ofPower, S. 209 f. unter Verweis auf Zahlen der Volkszählung von 1971; Daniel, Racial Discrimination, S. 177 ff. mit einer aufschlußreichen Analyse des Systems der öffentlichen Wohnungsvergabe. 144 Vgl. Hewitt, Abuse of Power, S. 208 f. 145 Es sei aber gleich hinzugefügt, daß im Vereinigten Königreich von Rassismus im Sinne eines geschlossenen Weltbildes, welches weit über ja nur partielle Lebensbereiche erfassende Vorurteile hinausgreift und etwa die gesamte Menschheitsgeschichte aus dem Gesichtspunkt der Rasse zu erklären sucht (z. B. Nationalsozialismus, Gobineau), nun wirklich nur im Zusammenhang mit zahlenmäßig bedeutungslosen und ganz am Rande stehenden extremistischen Gruppen und Grüppchen gesprochen werden darf; hierzu vgl. Rose, Colour & Citizenship, S. 393-400; Nuscheler, Rassistische und faschistische Auswüchse der britischen Krise, in: Politik und Zeitgeschichte B44/79 (3.11.1979), S. 3 ff. Immerhin nimmt die Regierung die von solchen Gruppen ausgehende Kriminalität, die sich vorwiegend gegen asiatische Einwanderer richtet, sehr ernst, siehe 7. Bericht (Anm. 142), §§ 21 ff. und 8. Bericht des Vereinigten Königreichs an den Ausschuß der Rassendiskriminierungskonvention, UN Doc. CERD/C/ 118/ Add. 7, § 26, und geht davon aus, daß dieses Problem in den letzten Jahren noch zugenommen hat, siehe die Erklärung des britischen Vertreters Wilson, UN Doc. CERD/C/SR.606, § 21. 146 Zum Begriff der Rassendiskriminierung, siehe Delbrück, Rassenfrage, S. 15 ff.

§ 13 Die Durchsetzung des Grundrechtsstandards

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älteste - soweit feststellbar - schon aus dem Jahre 1928 stammt. 147 So wurde in einer groß angelegten Erhebung 1966/67, die als öffentlicher Auftrag vom Political and Economic Planing and Research Services Ltd. (PEP) durchgeführt wurde,l48 belegt, daß Farbige, welche nach einer in einem Inserat angezeigten Wohnung fragten oder sich nach einer Autoversicherung erkundigten, häufig unter einem Vorwand abgewiesen wurden oder aber ungünstigere Bedingungen zu erfüllen hatten und damit in 75 % (bei der Wohnungsssuche) bzw. in 85 % der Fälle (bei der Autoversicherung) eine schlechtere Behandlung erfuhren als entsprechende weiße Vergleichspersonen. 149 Ähnliches ist ebenso weiteren Untersuchungen zu entnehmen. 150 Angesichts dieses offenbar doch recht breit angelegten rassischen Vorurteils ist anzunehmen, daß dergleichen auch in der Beamtenschaft und bei solchen Personen anzutreffen ist, welche dazu aufgerufen sind, den Grundrechtsstandard anzuwenden. Zu diesem Schluß sieht man sich bereits angesichts der Erkenntnis veranlaßt, daß dieser Personenkreis als Teil der Gesellschaft im Zweifel an den dort anzutreffenden Vorstellungen teilhat. 151 Dann ist aber davon auszugehen, 147 Lapiere, Race Prejudice: France and England, in: Social Forces 7 (1928), S. 106 ff., zitiert bei Hill, Immigration & Integration, S. 171 f.; diese Studie ist deswegen besonders interessant, weil neben den dort für England nachgewiesenen, ganz erheblichen rassischen Vorurteilen (z. B. wollten von 20 Hotels nur 4 Farbige aufnehmen) entsprechende Tests in Frankreich ein fast genau gegenteiliges Ergebnis erbrachten. Aber auch die von der britischen Regierung erstellten Berichte an den Ausschuß der Rassendiskriminierungskonvention (siehe die Quellenangaben in den Anm. 142, 145) gehen klar von der Existenz massiver rassisch begründeter Diskriminierung aus, so z. B. ausdrücklich der britische Regierungsvertreter Edis, UN Doc. CERD/C/SR.399, § 20: "The Government of the United Kingdom naturally recognized that racial discrimination existed in its territory ..."; dazu siehe die Stellungnahmen von Nettel, CERD/C/SR.398, § 25 und von Dechezelles, CERD/C/SR.605, § 25. 148 Diese sehr sorgfältig angelegte Untersuchung wird vorgestellt und erläutert in Daniel, Racial Discrimination, passim. 149 Siehe Daniel, Racial Discrimination, S. 154 ff. (155) und S. 199 ff. (201); bei dem Test mit der Wohnungssuche waren von vorneherein solche Inserate nicht berücksichtigt worden, die ausdrücklich ,,No coloureds" oder ähnliche Zusätze enthielten. Besonders bezeichnend ist, daß nach dem PEP-Survey die objektive prozentuale Verbreitung rassischer Vorurteile sogar noch größer ist als nach den subjektiven Eindrücken der Farbigen selbst (a. a. 0., S.201). - Für weiteres Zahlenmaterial aus der PEP-Studie, siehe, a. a. 0., S. 83 ff. und 132 ff. (letzteres zu der durchaus ebenfalls kritikwürdigen Einstellung der Gewerkschaften). 150 Siehe etwa, Rose, Colour & Citizenship, mit reichem statistischem Material; Hill, Immigration & Integration, S. 170 ff. Vgl. ferner Dürr (Anm. 88), S. 14 f. -Aufschlußreich sind auch die Reaktionen der Öffentlichkeit auf eine vielbeachtete Rede des rechtskonservativen Abgeordneten Enoch Powell vom 20.4.1968, in der dieser unter Verwendung typisch rassistischer Denk- und Assoziationsmuster das geradezu apokalyptische Bild eines Landes zeichnete, in dem die Engländer angesichts der angeblich drohenden gänzlichen Überfremdung zu "strangers in their own country" würden (siehe, Nuscheler [Anm. 145] S. 7 f.; Hili, Immigration & Integration, S. 39 f.): im Anschluß daran abgehaltene Umfragen offenbarten in der britischen Öffentlichkeit ein durchaus erschreckendes Maß an Zustimmung zu derartigen Thesen (siehe Hili, Immigration & Integration, S. 170 f.).

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

daß etwa Maßnahmen der polizeilichen Vollzugskräfte, aber ebenso solche anderer Behörden in einer Weise durch die Hautfarbe des davon betroffenen Bürgers beeinflußt werden, wie dies mit dem Grundrechtsstandard nicht zu vereinbaren ist. Tatsächlich gibt es verschiedene Untersuchungen, welche diesen Schluß bestätigen. So ist eindrucksvoll nachgewiesen worden, daß bei der Bewerbung und Anstellung in öffentlichen Unternehmungen und Behörden Farbige sich ebensolchen Diskriminierungen ausgesetzt sehen wie auch im privaten Sektor. m Ebenso gibt es eine Reihe von Belegen, daß Polizeibeamte, wenn sie Farbigen in amtlicher Eigenschaft gegenübertreten, von Vorurteilen beeinflußt werden. ls3 Dienstaufsichtsbeschwerden farbiger Bürger sind beispielsweise weitaus zahlreicher als deren Anteil an der Gesamtbevölkerung dies rechtfertigen würde. 154 Andere Indizien, die diesen Befund ebenfalls stützen, sind bei Gelegenheit von parlamentarischen Untersuchungen zu Tage gefördert worden. ISS Das von den verschiedenen Untersuchungen angehäufte Beweismaterial hat aber noch ein Weiteres gezeigt. Rassendiskriminierung wird offenbar auch gerade von denjenigen, die sie praktizieren, als mit dem eigentlich gültigen Grundrechtsstandard für unvereinbar empfunden. ,s6 Dies zeigt sich deutlich in der VerwenSo auch Rose, Colour & Citizenship, S. 356. Z. B. waren im Jahre 1971 von mehr als 92.000 Polizeibeamten nur 41 farbig, siehe dazu Select Committee on Race Relations and Immigration, Report on Police / Immigrant Relations (1972), Bd. 1, §§ 173 ff., im Jahre 1981 von annähernd 120.000 Polizeibeamten nur 339 farbig (= 0,28 % bei einem Bevölkerungsanteil von 3,9 %), siehe 7. Bericht (Anm. 142), §§ 18 ff., im Jahre 1983 596 farbig (= 0,49% gegenüber einem Bevölkerungsanteil von 4,0%), siehe 8. Bericht (Anm. 145), § 15 und im Jahre 1985 761 farbig (= 0,63%), siehe 9. Bericht UN Doc. CERD/C/l49/Add.7, § 17. Eine positive Entwicklung ist hier allerdings nicht zu verkennen. IS3 Rose, Colour & Citizenship, S. 341 ff. und besonders 353 ff. konstatiert seit Beginn der 60er Jahre eine fortlaufende Verschlechterung der Beziehung zwischen der Polizei und den Farbigen, stellt allerdings auch fest, daß das Ausmaß der von Polizeibeamten praktizierten Rassendiskriminierung noch nicht habe beziffert werden können (so im Jahre 1969). Für neuere Zahlen, siehe die gründliche Untersuchung bei Benyon, Race and Policing, in: Layton-Henry / Rich, Race, Govemment and Politics in Britain, S. 227 ff. (229 f., 243-249 und bes. 255 f.) mit zahllosen Beispielen. Siehe ferner eine Untersuchung einer Arbeitsgruppe der University of Liverpool, Patterns of Discriminatory Behaviour by Police, in: Report on Police / Immigrant Relations (Anm. 152), Bd. 3, S. 836 - 846 mit einer heftigen Kritik an der Polizei in ihrem alltäglichen Umgang mit den Farbigen; ebenso eine Eingabe der West Midlands Carribean Association an das gleiche Committee (a. a. 0., Bd. 3, S. 829-830). IS4 Rose, Colour & Citizenship, S. 355. Vgl. auch Report on Police / Immigrant Relations (Anm. 152), Bd. I, §§ 211 ff.; Terrill, Complaints Against Police in England, in: AJCL 31 (1983), S. 599 ff. (607 f.); Benyon (Anm. 153), S. 248 f. ISS Siehe z. B. Lord Scarmans Untersuchung der Ereignisse in Brixton im April 1981, Crnnd. 8427 (1981), passim, bes. § 4.22, sowie die Royal Commission on Criminal Procedure, Crnnd. 8092 (1981). Sehr viel vorsichtiger bei der Feststellung diskriminierender Verhaltensweisen bei der Polizei ist demgegenüber das Select Committee, Report on Police / Immigrant Relations (Anm. 152), passim, bes. Bd. I, §§ 223 ff., wobei auch interessante Differenzierungen je nach dem Herkunftsland der Farbigen festgestellt wurden. ISI

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§ 13 Die Durchsetzung des Grundrechtsstandards

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dung verschiedener Rationalisierungsstrategien, um das Anstößige der Diskriminierung zu verdecken und zu verdrängen; vor allem wird die Tatsache der Diskriminierung selbst bestritten 157. All dies sind deutliche Belege, daß die Normativität der durch die Diskriminierung verletzten Regeln nicht in Zweifel steht, sondern nur einfach Farbigen gegenüber aus welchen Gründen auch immer nicht befolgt wird. Insgesamt ist daher die den farbigen Minderheiten gegenüber an den Tag gelegte Diskriminierung ein wichtiges Indiz für eine unzureichende Durchsetzung des Grundrechtsstandards.

2. Testfall 2: Die katholische Minderheit in Nordirland Ein anderes Feld, wo sich Toleranz und Fairness auch gegenüber einer Minderheit in einer allerdings zugegebenermaßen besonders angespannten Lage zu bewähren hätten, ist Nordirland. Ursachen und Handhabung des dortigen Konfliktes mit seiner alltäglich gewordenen Grausamkeit und seiner offenbar allseits fatalistisch akzeptierten Unlösbarkeit sind das Paradebeispiel 158 schlechthin für alle, welche meinen, daß es mit der Durchsetzung des Grundrechtsstandards im Vereinigten Königreich nicht mehr gut bestellt sei. Einen auch nur annähernden und groben Überblick über die höchst verworrenen Konfliktlinien des nordirischen Desasters mit seinen weit in das Mittelalter zurückreichenden Kausalsträngen zu liefern, ist hier nicht möglich. Es muß genügen festzustellen, daß in den sechs Grafschaften (counties) des 1920 begründeten Gemeinwesens Nordirland (Northern Ireland) - ungenau auch mit Ulster bezeichnet 159 - etwa 1,1 Millionen Protestanten mit 0,56 Millionen Katholiken 156 Vennutlich ist dies bei den meisten anzutreffenden Fonnen von Rassendiskriminierung der Fall; vgl. Delbrück, Rassenfrage, S. 19 f. Vielleicht wird man dieses Merkmal, also die Frage, ob Rassendiskriminierung als eine Abweichung vom Grundrechtsstandard oder aber als durch diesen gedeckt, ja vielleicht sogar gefordert (wie im nationalsozialistischen Staat) verstanden wird, als Abgrenzungskriterium zwischen dem rassisch begründeten Vorurteil und dem Rassismus bezeichnen können. 157 Daniet, Racial Discrimination, S. 83 f.; dort heißt es: "Their [gemeint sind die befragten Weißen] remarks also confinned their awareness that ... the fonnal requirements of British society is that people should be treated equally." (S. 84). Siehe auch Hill, Immigration & Integration, S. 171. 158 Siehe z. B., Lord Scarman, 402 H. L. Deb. 1035 (8.11.1979); Brown (Anm. 24), S. 79; Boyte, Human Rights and the Northem Ireland Emergency, in: Andrews, Human Rights in Criminal Procedure, S. 144 ff. (145). 159 Ulster markierte bis 1922 eine der vier Provinzen Gesamtirlands (die anderen waren, resp. sind Mayo, Connaught und Munster) und bestand aus neun (nicht wie das heutige Nordirland nur aus sechs) counties; von diesen wurden drei, die überwiegend eiße katholische Bevölkerung aufweisen, dem Irish Free State zugeschlagen, so daß das heutige Nordirland jedenfalls mit dem historischen Ulster eigentlich nicht gleichgesetzt werden darf.

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

zusammenleben. Der protestantische Bevölkerungsteil versteht sich als britisch und wünscht die fortdauernde Union der Provinz mit Großbritannien, die katholische Gruppe dagegen empfindet in ihrer Mehrheit irisch und möchte die Eingliederung Nordirlands in einen dann vollendeten irischen Nationalstaat. 160 Letzteres zu verhindern, um ersteres zu gewährleisten, war von vorneherein Sinn der Gründung Nordirlands. weswegen dessen Territorium mit dem Ziel zugeschnitten worden ist, eine fortdauernde protestantische, d. h. unionistische Mehrheit in Nordirland zu sichern, nachdem deren Stellung als Minderheit in Gesamtirland unhaltbar geworden war. In dieser für das Selbstverständnis des neuen Gemeinwesens grundlegenden Konzeption war ein Konflikt mit den menschenrechtlichen Ansprüchen der katholischen Minorität fest eingebaut, in Teilen wohl auch bewußt eingeplant. 161 In Konsequenz dessen hat die unionistische Mehrheit sich bis 1972, dem Jahr der Auflösung des Stormont-Parlaments, die Macht stets zu sichern gewußt und diese weitestgehend nur in ihrem Sinne gehandhabt. 162 Diese Gegebenheiten haben sich dann auch in der Tat in ganz erheblichen Diskriminierungen und Ungleichbehandlungen der Katholiken niedergeschlagen,163 was dann seinerseits (und weniger die Frage um Verbleib oder Austritt aus dem britischen Staatsverband) zu den Unruhen von 1968/69 führte, die den äußeren Ausgangspunkt für die heutige Krisenlage bilden. Systematisch wurden 160 Es ist durchaus nicht unproblematisch, im Zusammenhang mit dem Nord-IrlandKonflikt das Begriffspaar ,,katholisch" und "protestantisch" mit ,,republikanisch" und "unionistisch" gleichzusetzen, weil es eine erkleckliche Zahl von Katholiken gibt, die ebenfalls für die fortdauernde Union eintritt. 161 Bündig kommt dies zum Ausdruck in dem auf das bis 1972 bestehende nordirische Parlament mit Sitz in Stormont bei Belfast (kurz auch das Stormont-Parlament genannt) gemünzte Wort vom ,,Protestant parliament for a Protestant people" (Boyle et al., Law and State, S. 7). 162 Anders als im Westminster-Parlament sei "single party rule" (nämlich der Unionist Party) das hervorstechende Merkmal des nordirischen Systems gewesen, so die Folgerung der Royal Commission on the Constitution, Crnnd. 5460 (1973), Bd. 1 para. 172; Burkett, Evolution und Verfall, in: EA 1976, S. 154 ff. (160) meint gar, Nordirland sei wie ein "Sklavenstaat" regiert worden, dies vielleicht dann doch ein wenig übertrieben. H ermle, Konflikt in Nordirland, in: Beiträge zur Konfliktforschung Bd. 3 (1973), S. 61 ff. beschreibt die ohne Unterbrechung in Ulster regierende Ulster Unionist Party als ,,kritikunempfmdlich, lemunf"ähig und innovationsfeindlich" (S. 65). - Eine wichtige Rolle im Hintergrund der Unionist Party spielten / spielen (?) die Oranier-Orden, ein höchst merkwürdiger Zusammenschluß der Protestanten, der sowohl politische als auch religiöse und harmlos gesellschaftliche Absichten verfolgt. Solche anachronistisch anmutenden Organisationen veranlassen manche Beobachter der nordirischen Szenerie das Ganze als einen etwas vorsintflutlichen Konflikt zweier einander feindlich gesonnener Stämme (tribes) zu verstehen (siehe etwa Birch, British System of Government, S. 270 ff., bes. 275), die mit je eigenen Symbolen, Ritualen und vor allem diametral einander entgegengesetzten Mythologien ausstaffiert sind (dazu Vaizey, Mind of Republicanism, in: Watts, Northem Ireland, S. 52 ff. und Steward, Mind of Protestant Ulster, in: a. a. 0., S. 31 ff.). 163 Für eine kurze zusammenfassende Geschichte der bis zur Unabhängigkeit Südirlands getroffenen, vielfach drakonischen Maßnahmen des englischen (britischen) Gesetzgebers siehe Giesen, Zum modemen Irlandproblem, in: Staat 15 (1976), S. 485 ff. (490 ff.).

§ 13 Die Durchsetzung des Grundrechtsstandards

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Wahlkreise insbesondere auf lokaler Ebene so geschnitten, daß protestantische/ unionistische Mehrheiten gewährleistet waren. 164 Diesem Zweck diente auch eine tendenziöse Praxis im Rahmen der öffentlichen Wohnungsvergabe, die die katholischen Bürger in die schlechteren Wohnverhältnisse verwies. Schließlich wurden auf allen Ebenen des öffentlichen Dienstes Protestanten bevorzugt behandelt, was sich z. B. bei polizeilichen Einsätzen auch wiederum zu Lasten der Katholiken auswirkte. 165 Daß dergleichen mit dem Grundrechtsstandard unvereinbar ist, zeigt neben dem schon angesprochenen britischen Verständnis von Fairness und Gleichheit aber auch der Government o/lreland Act von 1920 166 , dem Grundgesetz der nordirischen Selbstverwaltung, welches ausdrücklich in section 5 solche Gesetze des nordirischen Regionalparlaments (des StonnontParlaments) für nichtig erklärte, die eine Diskriminierung nach Religionszugehörigkeit vorsahen. Der Northern Ireland Constitution Act von 1973 ging noch über diese Garantie hinaus und verbot ebenso jede Ungleichbehandlung im Rahmen exekutiv-administrativer Tätigkeit 167.168 Nachdem der Konflikt mit voller Schärfe Ende der 60er Jahre ausgebrochen war, leitete die britische Zentralregierung Schritte ein, um die genannten Diskriminierungen ebenso wie die schwerwiegende wirtschaftliche Schlechterstellung 164 Auf diese Weise wurde z. B. im Stadtrat von Londonderry (oder Derry, wie republikanisch gesonnene Bürger sagen), einer mehrheitlich katholischen Gemeinde, stets eine unionistische Mehrheit gesichert. Überdies war auf Grund des Election and Franchise Act von 1947 (ein nordirisches, kein britisches Gesetz) das Stimmrecht bei den Kommunalwahlen an Grundbesitz gebunden, was ebenfalls die wohlhabenderen Protestanten begünstigte (vgl. Alter, Nordirland zwischen Bürgerkrieg und Reform, in: Politik & Zeitgeschichte 29.8.1970, S. 11 ff.). 165 Siehe dazu H ewitt, Abuse of Power, S. 154; speziell zur Besetzung der nordirischen Richterschaft, Boyle et al., Law and State, S. 12 f. Die Royal Ulster Constabulatory bestand 1969 zu 90%, die sog. "B-Specials", eine polizeiliche Sondereinheit, zur Gänze aus Protestanten. 166 1920 c. 67, 10 & 11 Geo. V. 167 1973 c. 36 (siehe Part III, seetions 17-23); insoweit gibt es (und gab es) in Nordirland ein System echter formell-verfassungsrechtlicher Grundrechte, dazu umfassend DonaIdson, Fundamental Rights in the Constitution of Northern lreland, in: Can. Bar Rev. 37 (1959), S. 189 ff.; zu den Bemühungen um Einführung einer umfassenden Bill of Rights für Nordir1and, siehe Lowry / Spjut, European ·Convention and Human Rights in Northern lreland, in: Case Western Reserve J. Intem'l L. 10 (1978), S. 251 ff. - Der mit diesem Gesetz geschaffenen Northem Ireland Assembly war allerdings nur eine kurze Lebensspanne beschieden; bereits 1974 wurde mit einem weiteren Northern Ireland Act (1974 c. 28) die Grundlage geschaffen, dieses Selbstverwaltungsgremium von London aus durch eine Order in Council wieder aufzulösen, was mit Wirkung vom 28.3.1975 dann auch erfolgte. 168 Das Parlament von Stormont übte nicht originäre, sondern vom WestrninsterParlament abgeleitete Souveränität aus; es war also niemals "souverän" und konnte daher ebenso wie etwa der deutsche Bundestag und anders als die Londoner Legislative durch formelles Verfassungsrecht in seinen Rechtssetzungsbefugnissen beschränkt werden. Umgekehrt kann letzteres - wie 1972 und 1975 geschehen (siehe Anm. 189) jederzeit alle Rechtssetzungsbefugnisse wieder an sich ziehen; vgl. Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 80 f., 400; Williams, Constitution of the UK, in: CU 31 (1972), S. 266 ff. (268).

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (1)

der katholischen Bevölkerung abzustellen. Wirklich durchgreifende Erfolge blieben diesen Bemühungen indes offenbar versagt; vielleicht wird man dies auch den allgemein schwierigeren Zeitläufen zuzuschreiben haben. Jedenfalls sind auch heute etwa die Arbeitslosenzahlen für Katholiken ganz erheblich höher verglichen mit denen ihrer protestantischen Mitbürger, deren materielle Lage dies umschließt auch die Wohn- und allgemeine Lebensqualität - generell sehr viel besser bleibt. 169 Demgegenüber haben die Möglichkeiten insbesondere des katholischen Mittelstandes, Positionen des gehobenen öffentlichen Dienstes und vergleichbare Stellungen zu erreichen, wohl zugenommen. 170 Insgesamt scheint die bewußt geplante Diskriminierung der Katholiken auf Grund der Bemühungen der Zentra1regierung in London auch im übrigen abgenommen zu haben. 171 Typisch für das irische Drama ist aber ein offenbar bislang ungebrochener circulus virtiosus, mittels dessen der Versuch, konfliktträchtige Mißhelligkeiten abzustellen, andere neu schafft, die dann ihrerseits zu neuen Unruhen und Unrechtserfahrungen Anlaß'geben, welche an einer weiteren Stelle Ursache für Haß und Gewalt setzen und so fort. Die nach 1969 eingeleiteten Maßnahmen riefen die weitgehend abgestorbene Irish Republican Army (IRA) und die britische Armee als neue Akteure auf den Plan; in der Folge kamen verschiedene recht rege protestantische Untergrundorganisationen hinzu. 172 Die von der Armee durchgeführten polizeilichen Maßnahmen, die den inneren Frieden wiederherstellen sollten, betrafen fast ausschließlich die katholischen Bürger, während die unionistischen Gruppierungen, soweit sie sich ebenfalls krimineller Mittel bedienten, den regulären (zivilen) Behörden und damit sehr viel milderen Verfolgungsverfahren überlassen blieben. 173 Das hatte zur Folge, daß es auch fast nur Katholiken waren, welche von den drastischen Erweiterungen strafprozessualer Kompetenzen, die die Armee im Zuge ihres Kampfes gegen die politisch motivierte Kriminalität erhalten hatte, betroffen wurden. Diese Vollmachten ermöglichten Festnahmen ohne Haftbefehl und auf unbefristete Zeit (die berüchtigte Internierung), erschwerten die Freilassung von Festgenommenen durch die Stellung einer Kaution, erlaubten verschärfte Verhörmethoden und anderes mehr. 174 Die in 169 Siehe Boyle et al., Ten Years' on in Northem Ireland, S. 9 ff., die sogar meinen (S. 12), daß es den Katholiken 1980 sowohl relativ als auch absolut eher schlechter gehe als zu Zeiten des Stormont-Parlaments bis 1972. Im 9. Bericht UN Doc. CERD/ C / 149/ Add. 7, § 9, gesteht auch die britische Regierung zu, daß 1983/84 die Arbeitslosigkeit bei Katholiken doppelt so hoch war wie bei Protestanten. 170 Vgl. Boyle et al., Ten Years on in Northem Ireland, S. 108. 171 SO Z. B. Boyle (Anm. 158), S. 145 f. 172 Zu diesen Ereignissen, siehe, Boyle et al., Law and State, S. 27 - 36. 173 Vgl. Hewitt, Abuse of Power, S. 159 f. 174 Hierzu Hewitt, Abuse of Power, S. 157 ff.; Boyle et al., Law and State, S. 37 ff., 56 ff.; Boyle (Anm. 158),S. 155 ff.; durch Erklärung vom 10. Juni 1957 hat das Vereinigte Königreich von der Möglichkeit gemäß Art. 15 Abs. 1 und 3 EMRK Gebrauch gemacht und die Konvention zu wesentlichen Teilen für Nord-Irland außer Kraft gesetzt. Gesetzliche Grundlage für die Notstandsmaßnahmen war ursprünglich der zunächst nur provisorische Civi! Authorities (Special Powers) Act von 1922, ein Gesetz des Stormont-Parla-

§ 13 Die Durchsetzung des Grundrechtsstandards

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Vollzug dessen zur Anwendung gelangten Praktiken bei der Befragung von Verdächtigen handelten dem Land schließlich sogar eine Verurteilung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes 175 ein. 176 All dies richtete sich aber nur gegen Katholiken. Als Erklärung hierfür wird darauf verwiesen, daß die Armee vor allem die Bekämpfung der IRA zur Aufgabe hat und deswegen Katholiken notwendigerweise die Zielgruppe ihrer zu diesem Zweck getroffenen Maßnahmen sein müssen. Andererseits ist es aber gerade diese einseitige Zielbestimmung, welche allzu leicht der Jahrhunderte alten Tradition der Diskriminierung des irisch-katholischen Bevölkerungsteils eine neue Rationalisierung liefert, um unter diesem Mantel die alte Ungleichbehandlung fortzusetzen. Insoweit ist nach wie vor davon auszugehen, daß diese Personengruppe in Verletzung der Gebote von Fairness und Toleranz nur um ihrer Sonderheiten willen Diskriminierung täglich erfährt. Andererseits ist nicht zu bestreiten, daß die verschiedenen britischen Regierungen seit 1969 sich ehrlich um die Verteidigung der in eben diesem Grundrechtsstandard enthaltenen Werte bemüht haben, wenngleich sie sicherlich dabei insgesamt (jedenfalls aus der Sicht einer post factum Betrachtung) eine unglückliche Hand gezeigt haben. Die Ernsthaftigkeit dieser guten Absicht wie ments, dann ab 1973 der vom Londoner Parlament verabschiedete Northern Ireland (Emergency Provisions) Act (1973 c. 53), schließlich der Northern Ireland (Emergency Provisions) Act von 1978 (1978 c. 5) zusammen mit dem Prevention 0/ Terrorism (Temporary Provisions) Act (1976 c. 8). Dieses letztgenannte Gesetz veran1aßte auch das Europäische Parlament zu einer kritischen Stellungnahme, siehe die Entschließung v. 14.1.1985 (Dok. 2-1417/84), abgedruckt in: EuGRZ 12 (1985), S. 105 sowie einen sehr viel weitergehenderen, aber abgelehnten Entschließungsantrag vom gleichen Tage (Dok. 2-1379/84); siehe auch EG AbI. C 149 S. 65-69 v. 14.6.1982. Ferner wurden Teile des gleichen Gesetzes durch die Europäische Menschenrechtskommission auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK, insbesondere deren Art. 5, geprüft (McVeigh /0' Neill / Evans, Eur. Comm. H. R., Decisions & Reports Bd. 25, S. 5 ff. sowie die Resolution des Ministerkomitees DH [82] 1, a. a. 0., S. 57 ff.) und mit erheblichen Bedenken (siehe nur die verschiedenen dissenting opinions, a. a. 0.) gerade noch für zulässig befunden. Sämtliche Notstandsgesetze zeichnen sich durch eine ganz erhebliche Einschränkung des Rechtsschutzes aus; siehe hierzu 0' Boyle, Emergency Situations and the Protection of Human Rights, in: Northern Ireland Legal Q. 28 (1977), S. 160 ff. (172 ff.). Zur weiteren Entwicklung siehe Bonner, Tbe Baker Review of the Northern Ireland (Emergency Provisions) Act 1978, in: PL 1984, S. 348 ff. 175 Ireland v. United Kingdom, Sero A: Judgments & Decisions, Bd. 25, S. 5 ff. Siehe hierzu die Anmerkungen bei O'Boyle, Torture and Emergency Powers, in: AJIL 71 (1977), S. 647 ff. Diese Vorgänge haben dem Land auch von anderer Seite Kritik eingetragen, siehe etwa den Länderbericht, der dem Committee on Foreign Affairs der beiden Häuser des U. S. Kongresses im Februar 1984 vorgelegt wurde. 176 Siehe dazu die sehr sorgfältige Auswertung im Urteil des EuGHMR, a. a. 0., §§ 92 ff. und die dazu ergangene rechtliche Würdigung, a. a. 0., §§ 156 ff. und bei Boyle et al., Ten Years on in Northern Ireland, S. 35 ff. Interessant sind auch die dort nachgewiesenen Unterscheidungen in der Behandlung von unionistischen und republikanischen Verdächtigen (a. a. 0., S. 42 ff.); siehe hierzu ferner auch die Feststellungen in dem Urteil des EuGHMR in Hinsicht auf die Neigung der britischen Ordnungskräfte, "to look on Loyalist [= protestantische] terrorists as ,criminals' or ,hooligans' and on the !RA as the organized ,terrorist' enemy" (§ 63) mit allen sich hieraus ergebenden Folgen. Später veränderte sich diese Einstellung leicht, dazu a. a. 0., § 66. 12 Koch

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

die mit deren Ausführung gezeigte Bereitschaft zu Opfern sollten gleichwohl nicht unterschätzt werden. 177

§ 14 Die Sicherung des menschenrechtlichen Werte-

bestandes gegen dessen Derogation

bn § 12 dieses Kapitels ist gezeigt worden, daß das Vereinigte Königreich von seiner institutionellen Ordnung her der Grundrechtsinnovation keine ausreichende Chance bietet. Der Begriff der Grundrechtsinnovation beschreibt indes nur eine Seite des Verhältnisses zwischen menschenrechtlichem Wertebestand und Grundrechtsstandard. Sinn der Grundrechtsinnovation ist die Bereitstellung neuer Normen; genauso wichtig ist es indes, neue vom Gesetzgeber geschaffene Normen gegebenenfalls zu verhindern, nämlich dann, wenn diese mit dem Wertebestand in Konflikt stehen. Die Grundrechtsinnovation betrifft (nur) die positive Seite der zwischen Wertebestand und Grundrechtsstandard bestehenden Beziehung. Aus deren negativem Aspekt dagegen folgt für jede Verfassungsordnung die Aufgabe, die Integrität des Wertebestandes und damit seinen Vorrang gegenüber allen anderen Normen, den Grundrechtsstandard inbegriffen, zu wahren und durchzusetzen.

1. Die EMRK und die Vereinbarkeit des britischen Rechts mit dem menschenrechtlichen Wertebestand Die Bewertung des britischen Rechts im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Wertebestand - und zwar unter rechtlichen Gesichtspunkten - scheint nun allerdings angesichts der verfassungsrechtlichen Gegebenheiten im Vereinigten Königreich ein Ding der Unmöglichkeit. Denn die Menschenrechte sind dort nicht durch formelles Verfassungsrecht fixiert, die Verfassung hält somit weder einen Maßstab noch gar ein Verfahren bereit, die es erlauben würden, über die menschenrechtliche Zulässigkeit von Recht ein Urteil zu fallen. Dies gilt in besonderem Maße für das vom Parlament gesetzte Recht, das wegen der Parlamentssouveränität überhaupt frei von jeder materiellen Kontrolle bleibt. Damit aber ist der Gedanke naheliegend, daß es auch nur das Parlament sein kann, welches im Vereinigten Königreich über den Inhalt des Wertebestandes bestimmt; dann aber wäre von vomeherein ein Widerspruch zwischen Menschenrechten und Parlamentsrecht ausgeschlossen. 177 Es gibt wohl auch kaum eine Alternative zu der fortdauernden Anwesenheit britischer Truppen in Nordirland, auch wenn man sich sicherlich über die näheren Modalitäten dieses Einsatzes wird streiten können; vgl. Boyle et al., Ten Years on in Northern Ireland, S. 98 ff. Siehe auch Garett, Ten Years of British Troops in Northern Ireland, in: International Security 4 (3/1979-80), S. 80 ff. (93 ff.).

§ 14 Die Sicherung des Wertebestandes

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Damit ist die aufgeworfene Fragestellung indes nicht abzutun. Denn sicherlich ist das wichtigste zur Regelsetzung und zur Grundrechtsinnovation berufene Organ, das Parlament, wegen der Parlamentssouveränität rechtlich ungebunden. Es ist aber bereits mehrfach darauf verwiesen worden, 178 daß die britische Legislative keineswegs als politisch ungebunden gedacht wird, ja daß ihre außergewöhnliche Rechtsmacht ihr nur deswegen so ruhigen Gewissens immer wieder bestätigt wurde, weil die politischen Beschränkungen als besonders effektiv eingeschätzt werden - effektiver als jene, die durch die Schaffung formellen Verfassungsrechts aufgerichtet werden könnten. Ebensowenig wie in solchen Staaten, wo die grundlegenden Rechts- und Wertpositionen dem Schutz besonderer verfassungsrechtlicher Verfahrensvorschriften unterstellt wurden, ist im Vereinigten Königreich das Parlament also die in Menschenrechtsfragen letztinstanzlich maßgebliche Stelle; auch das britische Parlament muß es sich gefallen lassen, daß seine Normen auf ihre Legitimität - im Gegensatz zur Legalität - hin hinterfragt werden und kann mitnichten den Inhalt des menschenrechtlichen Wertebestandes nach eigenem Gutdünken festlegen oder nach Gutdünken derogieren. Allerdings sollte das Parlament (idealerweise) die wichtigste Bühne für den politischen Kampf um dessen inhaltliche Gestaltung sein. Für den Fall aber, daß ein bestimmter Wert als Ergebnis der alle Institutionen übergreifenden politischen Auseinandersetzung am Parlament vorbei als Menschenrecht anerkannt werden sollte, ist auch das Parlament daran "gebunden" im Sinne einer ungebrochenen Aufrechterhaltung seiner Legitimität und sofern es - praktisch gesprochen - sich nicht der Gefahr eines negativen Wählervotums aussetzen will. Die Parlamentssouveränität, welche dem Parlament die rechtliche Ungebundenheit vermittelt, ist eben kein Selbstzweck, sondern nur ein an sich beliebiges Mittel zur institutionellen Realisierung einer bestimmten Idee von Freiheit. 179 In ihrer spezifischen Form rechtfertigt sich die Parlamentssouveränität zunächst allein aus den bei ihrer Herausbildung vorliegenden historisch-politischen Gegebenheiten. Da sich diese gewandelt haben, entfällt die nur relative Legitimität, die durch historische Tradition vermittelt wird; stattdessen bedarf es des Rückgriffs auf diejenige Freiheitsvorstellung, welche umzusetzen der eigentliche Sinn der Parlamentssouveränität war und ist. 180 Auch von daher wird deutlich, daß sich das Parlament trotz rechtlicher Allmacht sehr wohl an ihm übergeordneten Regeln ausrichten soll. Siehe oben § 3, § 11. Siehe Glum, Das parlamentarische Regierungssystem, S. 88 f. Im weiteren folgt hieraus, daß auch im Vereinigten Königreich von dem Prinzip der Volkssouveränität auszugehen ist, siehe dazu ausführlich § 19 Ziffer 1. 180 Dieser Gedanke wird von Sir Keith Joseph (Anm. 8), S. 140 so ausgedrückt: "The unbridled supremacy ofParliament is quite recent, historically speaking. But parliamentarians of the past believed that Parliament, though primus inter pares among the ,powers' should respect the independence of other institutions. They saw the ,liberties of Englishmen', as actually enjoyed, as the great barrier of despotism. Parliament was respected precisely because it rested on a great base of independent and separate institutions. By turning on them and subjecting them, it is eroding its own political base." (Hervorhebung durch Verf.) 178

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

Freilich: hier stellt sich sofort die Frage nach der Natur dieses "Sollen". Bei den hier anzulegenden Vorgaben des menschenrechtlichen Wertebestandes scheint es sich notwendigerweise immer nur um politisch-moralische, nicht um Rechtsnormen handeln zu können: denn wer vermag das Parlament bindendes Recht zu setzen? Wie aber soll angesichts des naturgemäß ungewissen Gehalts solcher Normen eine sich nicht nur an allgemeinen Wertungen orientierende Beurteilung des britischen Rechts möglich sein? Hier muß nun freilich an die vom Vereinigten Königreich eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen, insbesondere an die EMRK erinnert werden. Deren Instrumentalisierung als Richtschnur für eine Bewertung des britischen Rechts kann wegen der sich in dem Akt der RatifIkation ausdrückenden Unterwerfung auch nicht der Einwand entgegengehalten werden, hier würden fremde, weil von außerhalb an das Land herangetragene Kriterien auf dessen Rechtsund Lebensverhältnisse aufgepfropft werden. Die RatifIkation wird allerdings nur durch die Krone ohne Beteiligung der Volksvertretung vorgenommen. Aus methodischer Sicht ließe sich daher einwenden, daß ein unter diesen Umständen geschöpfter menschenrechtlicher Wertmaßstab keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen könne mit der Konsequenz, daß nur die im EG-Recht niedergelegten sehr partiellen Grundrechte hier herangezogen werden dürften. Indes: Gegner und Befürworter einer Bill of Rights sind sich darin einig, daß den verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen nur ein Mindeststandard entnommen werden könne; gerade auch diejenigen, welche einer Bill of Rights ablehnend gegenüberstehen, meinen, daß das englische Recht nicht nur wesentlich weitergehende Rechtsgarantien als etwa die EMRK enthalte, sondern auch unbedingt enthalten müsse. \81 Daraus folgt, daß der tatsächlich von den Briten als maßgeblich empfundene Wertmaßstab gegenüber den völkerrechtlichen Verpflichtungen sehr viel höher anzusetzen ist, letztere aber - auch soweit sie nicht in innerstaatliches Recht übernommen wurden - als verbindlicher Bezugspunkt für eine Beurteilung anerkannt sind. Diese Einschätzung erfährt eine Bestätigung, wenn man bedenkt, daß die Inkorporierung der EMRK bislang nie daran gescheitert ist, daß man die darin niedergelegten Grundrechte nicht anerkennen wollte. Als problematisch wurde und wird vielmehr nur Form und Methode dieser Art des Grundrechtsschutzes empfunden. 182 Der Beurteilung des britischen Rechts anband insbesondere der EMRK i. S. eines unverzichtbaren Mindeststandards steht somit kein durchschlagender Einwand entgegen. 183 181 Vgl. etwa Lord Lloyd 0/ Hampstead (ein Bill of Rights-Gegner) 369 H. L. Deb. 1322 (25. 3. 1976): " ... we in this country are far in advance ofthe European Convention." Siehe ferner Samue/s (Anm. 27), S. 427 f.; Stacey, Bill of Human Rights, S. 150 sowie die Zusammenfassung eines Symposiums des British Institute (Anm. 16), S. 2. 182 Kerridge (Anm. 25), S. 270. Merkwürdigerweise glaubte man auf eine Inkorporierung auch deswegen verzichten zu können, weil das britische Recht sowieso die Anforderungen der EMRK erfülle, siehe H ome Office, Legislation on Human Rights, A Discussion Document, S. 36. 183 So auch Abernathy (Anm. 16), S. 459.

§ 14 Die Sicherung des Wertebestandes

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Für das Ergebnis einer solchen Beurteilung kann auf das oben Gesagte verwiesen werden: 184 das Vereinigte Königreich hat einen besonders hohen Prozentsatz der gegen das Land vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof angestrengten Verfahren verloren. Insbesondere hat sich dort regelmäßig das vom Parlament zu verantwortende Recht selbst (und nicht nur dessen Durchsetzung) als mit der Konvention unvereinbar erwiesen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere von Bedeutung, daß das Abschneiden des Vereinigten Königreichs auch im Vergleich mit anderen Staaten des Europarates als bedenklich einzustufen ist. 185 Auch dies rechtfertigt die Annahme, daß das britische Parlament den menschenrechtlichen Konsens des Landes nicht immer so befolgt, wie ihm dies aufgegeben ist. 2. Die institutionellen Vorkehrungen zur Sicherung des menschenrechtlichen Wertebestandes Über die Entwicklung des britischen Parlamentarismus in ihren Auswirkungen auf die Grundrechtsinnovation ist bereits gesprochen worden. Von den britischen Kritikern wird diese Entwicklung vor allem auch deswegen immer wieder bedauert, weil die geschilderte Einbindung des Parlaments bzw. seiner Mehrheit in die Funktion der Regierung in gefährlichem Maße die Neigung der Legislative befördert habe, kritiklos den Bedürfnissen und Gesetz"entwürfen" der Regierung folgend zunehmend freiheitseinschränkendere Gesetze zu schaffen. 186 Mit dieser eher an die derzeitige Befindlichkeit des britischen Staatswesens als Ganzes denn an einzelne Politikbereiche anknüpfenden Kritik ist eine wichtige Gruppe von Personen hervorgetreten, die anders als die radikaleren Kritiker zwar die Leistungen der britischen Rechtsordnung auf dem Felde der Menschenrechte trotz mancher Lücken im Großen und Ganzen für durchaus passabel halten, 187 als Ergebnis der beschriebenen strukturellen Verschiebungen jedoch erhebliche Gefahren für den Menschenrechtsschutz erwachsen sieht. Dieser Personenkreis versteht sein Engagement für eine Bill of Rights daher mehr als allerdings dringliche prophylaktische Maßnahme, wobei gelegentlich die Einführung einer Bill of Rights in den größeren Zusammenhang einer vollständigen Überprüfung und Reformierung der Verfassung des Vereinigten Königreichs gestellt wird. 188 Siehe § 6 Ziffer 3 a). So offenbar Abernathy (Anrn. 16), S. 459 und auch manche Teilnehmer des Symposiums des British Institute of Human Rights (Anm. 16), S. 3. 186 Anders dagegen z. B. Lord Elwyn-Jones, 402 H. L. Deb. 1011-1012 (8.11.1979). 187 So etwa Lord Wade, der Vater der wohl wichtigsten im Parlament diskutierten Gesetzesvorlage für eine Bill of Rights, 402 H. L. Deb. 1000 (8.11. 1979): " ... on the whole I think Britain has a good record on human rights ... "; Kerridge (Anrn. 25), S. 263. 188 So Lord Carr o[ Hadley, 402 H. L. Deb. 1011-1012 und 1015 (8.11.1979); Lord Wade, 403 H. L. Deb. 912 (6.12.1979); Lord Hailsham (Anrn. 92); Select Committee on a'Bill o[Rights (Anrn. 16), S. 20 § 7. Siehe auch Carson, Towards aRights Guarantee, 184

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

Mit den in diesem Zusammenhang angesprochenen strukturellen Defiziten der britischen Verfassung ist - im Sinne der Kategorien des oben dargelegten Prüfungsrasters - nichts anderes gemeint als die unzulässige Derogierung des verbindlichen menschemechtlichen Wertebestandes durch Gesetze des Parlaments. Hier kann insoweit auf die bereits oben getroffenen Feststellungen zur Entwicklung des britischen Parlamentarismus im Hinblick auf die Grundrechtsinnovation Bezug genommen werden. 189 Während es dort um die dem Parlament überantwortete Tätigkeit der Schöpfung neuer Grundrechtsstandards und damit um die (dynamische) Umsetzung von Menschemechten ging, ist hier das Gegenstück dazu angesprochen, nämlich die Aufgabe, die (statische) Wahrung des menschemechtlichen Konsenses, seine ungebrochene Integrität durch die Verhinderung solcher Gesetze zu sichern, die dem menschemechtlichen Konsens widersprechen. Um die Begriffe deutschen Strafrechts zu verwenden, bedeutet ersteres ein positives Tun, zweiteres ein Unterlassen. Zwischen diesen beiden Funktionen besteht in Hinsicht auf die zu ihrer Erledigung notwendigen staatsorganisatorisehen Vorkehrungen ein enger Zusammenhang. Denn wenn ein Parlament, so wie das britische, seine Unabhängigkeit gegenüber der Regierung eingebüßt hat und als Folge dessen seine grundrechtsinnovativen Leistungen nachlassen, so gilt, daß ebenso und aus den gleichen Gründen seine Bereitschaft nachlassen wird, den menschemechtlichen Wertebestand verletzende Gesetze zu verhindern. 190 Es folgt daher ohne weiteres aus den bereits nachgewiesenen Defiziten bei der Aufrechterhaltung der Grundrechtsinnovation durch das Parlament, daß ebensolche Defizite bei der Wahrung des menschemechtlichen Konsenses bestehen müssen. 191 in: N. Y. Law Forum Bd. 16 (1970), S. 605 ff. (606 f.). Dabei wird vor allem die Einführung einer geschriebenen Verfassung, die Dezentralisierung der Staatsgewalt durch Regionalisierung, die Reformierung des Oberhauses und die Modifizierung des Mehrheitswahlrechts erörtert. Zu den verschiedenen reformerischen Strömungen im allgemeinen, siehe Norton, Constitution in Flux, S. 261- 294. 189 Siehe § 12 Ziffer 3. 190 So auch Geisseler, Reformbestrebungen, S. 43 ff. 191 Zusätzlich zu den oben genannten Gründen ist in diesem Zusammenhang auf eine noch weitere Entwicklung hinzuweisen, die sich besonders auf den Schutz der Menschenrechte vor Derogation negativ auswirkt. Denn an die Stelle der früher vom Parlament geübten Zurückhaltung und Mäßigung ("parliamentary restraint") bei der Verfolgung der von der Regierung betriebenen parteipolitischen Absichten ist deren kompromißlose Durchsetzung getreten, siehe Lord Carr 0/ Hadley, 402 H. L. Deb. 1014 (8.11.1979); Johnson (Anm. 30), S. 226 ff.; Lord Hailsham (Anm. 92); vgl. ferner Anm. 82 zur Erklärung dieses Prozesses. Die damit einhergehende parteipolitische Polarisierung der beiden großen Parteien führt zu entsprechend dramatischen Kursänderungen bei Regierungswechseln, wobei auch vor der Rückgängigmachung der von der alten Regierung getroffenen Maßnahmen nicht zurückgeschreckt wird; vgl. etwa die Schilderung des wechselvollen Schicksals der britischen Stahlindustrie seit 1946 bei Dürr (Anm. 88), S. 6, Anm. 7. Damit ist aber auch erstmals seit langem der nationale Konsens gefährdet, welcher über alle regionalen, religiösen, sozialen und politischen Unterschiede hinweg dem Land in der Vergangenheit ein ungewöhnliches Maß an innerer Geschlossenheit und seinem Staatswesen eine entsprechend weitreichende Akzeptanz sichern konnte; siehe Finer, Comparative Government, S. 132 ff.

§ 14 Die Sicherung des Wertebestandes

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Nun gilt auch hier allerdings wieder, daß das mit diesem Verdikt gefällte Urteil über das Parlament so oder ähnlich auch für manche anderen Staaten des parlamentarischen Regierungstyps gelten mag, so daß sich dieser Feststellung gleich die Frage anzuschließen hat, was diese anderen Verfassungsordnungen von der des Vereinigten Königreichs unterscheidet. Ein solches unterscheidendes Merkmal findet man schnell in den neben dem Staatsorganisationsrecht in den Verfassungstexten der allermeisten Staaten enthaltenen Grundrechtskatalogen. Damit wird die legislative Kompetenz zerlegt - in Teilen oft auch eingeschränkt _,192 indern der (einfachen) Parlamentsmehrheit ein bestimmter Normbestand vorgegeben und damit deren Verfügung entzogen wird. Dessen Änderung wird einern neuen Organ, dem verfassunggebenden Gesetzgeber, überantwortet. Ganz gleich wie dieses Organ in den verschiedenen Verfassungen ausgelegt wurde, ist es jeweils so zusammengesetzt, daß es in aller Regel nie von der Regierung und der sie tragenden (in der Regel nur einfachen) Parlamentsmehrheit beherrscht werden kann, sondern sein Tätigwerden stets die Einbeziehung solcher Kräfte verlangt, die außerhalb der Regierung, ja in Widerspruch zu ihr stehen. 193 Damit weist dieses Organ wieder genau jene Merkmale auf, welche ursprünglich auch dem Parlament als Ganzes zu eigen waren und von dessen Konzeption her auch zu eigen sein sollten, die ihm aber im Zuge seiner Entwicklung zu großen Teilen abhanden gekommen sind. Man könnte allerdings an dieser Stelle erneut an die Europäische Menschenrechtskonvention denken. Denn durch die Konvention wurde ja in einer Weise, welche durchaus in Parallele gesetzt werden kann zu formellem Verfassungsrecht, ein bestimmter Normenbestand für das Land festgeschrieben, der zwar vorn Parlament verfassungsrechtlich folgenlos ignoriert, verletzt oder sonstwie übergangen werden kann, dessen normative Kraft, weil im Völkerrecht und nicht im innerbritischen Recht wurzelnd, aber der Verfügbarkeit des Parlaments entzogen ist. 194 Über dieses Recht wacht außerdem ein Gericht mit umfassender Prüfungskompetenz. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Gesichtspunkten, welche es verbieten, in der EMRK ein auch nur annähernd vollgültiges Äquivalent für den fehlenden nationalen Verfassungsgeber zu sehen. Zunächst einmal darf nicht vergessen werden, daß die Konvention gegenüber dem tatsächlich verbindlichen menschen192 Dies erfolgt einmal durch die sog. Ewigkeitsklauseln, indem bestimmte Materien jeder Regulierung entzogen werden, siehe z. B. Art. 79 Abs. 3 GG oder durch Wesensgehaltsgarantien, welche den Kern bestimmter Grundrechte änderungsfest machen, siehe, Art. 19 Abs. 2 GG. 193 Siehe die erschöpfende Aufzählung der verschiedenen hier praktizierten Verfahren in der Studie von Menzel, Rechtsformen der formalen Verfassungsänderung, in: FS Giese, S. 153 ff. (165 ff.). Die von Menzel als "schlicht" bezeichneten Verfahren (S. 166 f.), welche keinerlei gegenüber der üblichen Gesetzgebung erschwerende Bedingungen vorsehen, fmden sich fast durchweg nur noch in historischen Verfassungen. 194 Nicht allerdings der der Regierung, die gemäß Art. 65 EMRK die Konvention kündigen oder gemäß Art. 15 EMRK ihre Anwendbarkeit in Notstandsfällen stark einschränken kann (so geschehen für Nordirland, siehe Anm. 174).

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

rechtlichen Wertebestand des Vereinigten Königreichs ein Minus darstellt; 195 hier kommt man zu der Frage, inwiefern ein auf einen regionalen Maßstab zugeschnittenes Menschenrechtsschutzsystem wirklich sinnvoll als nationaler Grundrechtskatalog herhalten kann (oder sollte). Entscheidend ist aber noch eine andere Überlegung. Bei einem Normbestand, dessen Verbindlichkeit "nur" völkerrechtlich, nicht unmittelbar qua Verfassungsrecht vermittelt wird, steht zu befürchten, daß er von der Legislative einfach nicht ausreichend zur Kenntnis genommen wird und somit kein auch psychologisch wirklich zwingendes Motiv hergibt für die konsequente Überprüfung jedes Gesetzesentwurfes auf dessen grundrechtliche Verträglichkeit. 196 Auch ohne judizielle Überprüfung aller gesetzgebenden Akte ist diese politische "Vor"wirkung eines Grundrechtskataloges eine ganz wesentliche Voraussetzung für seine Umsetzung. 197 Denn bei der zunehmenden Komplexität der durch Gesetz zu regelnden Lebenssachverhalte etwa im Wirtschafts- und Sozialrecht 198 ist eine oberflächliche, nur intuitive Prüfung der Grundrechtsverträglichkeit nach höchst abstrakten, vagen und schlagwortartigen Kriterien, ohne dabei auf konkretisierende Rechtsprechung rekurrieren zu können, nicht mehr ausreichend, da die vielfachen Auswirkungen solcher Gesetze sich erst einer gründlichen und ganz bewußt vollzogenen Durchleuchtung erschließen. 199 Die EMRK ist hierfür ein untaugliches Mittel, dies vor allem deswegen, weil ihre Bedeutung, sogar ihre Existenz teilweise völlig unbekannt geblieben sind 2°O oder sie auf merkwürdige Weise Siehe Anrn. 181 und dazugehörenden Text. Auf die mit der Einführung einer Bill of Rights bewirkte Abstellung dieses Zustandes hat das Select Committee (Anrn. 16), S. 31 f. 32 (h) ausdrücklich hingewiesen. Wilberforce, Need for a Constitution in the UK, in: Israel L. Rev. 14 (1979), S. 269 ff. (275). 197 Diese durch einen nationalen Grundrechtskatalog zu erwartende erzieherische Wirkung wird von vielen Befürwortem einer Bill of Rights betont. Siehe Lord RedcliffeMaud, 402 H. L. Deb. 1019 (8.11.1979); Zander, Bill of Rights, S. 40 f.; Brown (Anm. 24), S. 86. 198 Dieser Gesichtspunkt und die weiter um sich greifende Tendenz des Staates, immer mehr immer gründlicher und mit immer mehr Aufwand durchzunormieren und damit zu kontrollieren, wird von vielen als Argument für eine Bill of Rights herangezogen, siehe Viscount Samuel, 167 H. L. Deb. 1042-1044 (27.6.1950), der als Grund für diese Entwicklung auch die während der beiden Weltkriege zahlreich erlassenen, die Bürgerfreiheiten stark einschränkenden Notstandsmaßnahrnen (zu diesen siehe im einzelnen Aris [Anm. 68], S. 119-135) nennt; Lord Winster, 167 H. L. Deb. 1092-1094 (27.6.1950). Vgl. auch Johnson (Anrn. 30), S. 220 f. Dieser Autor (a. a. 0., S. 231 ff.) sieht mit der unkontrollierten Zunahme der staatlicherseits geregelten Aufgaben und der Entwicklung zum "Versorgungsstaat" die Gefahr der Unregierbarkeit heraufbeschworen; siehe ferner Abernathy (Anrn. 16), S. 473; Stacey, A New Bill of Rights, S. 12 f. 199 So auch Lord Wade (Anrn. 81), S.66; v. Simson (Anrn. 73), S. 178 f. Auf die damit einhergehende Gefahr, daß häufig auch ganz ohne böse Absicht und ohne dessen inne zu werden das Parlament freiheitseinschränkende Gesetze erläßt, weist zu Recht hin The Marquess 0/ Reading, 147 H. L. Deb. 763 f. (15.5.1947); ähnlich Lester, Democracy and Individual Rights, S. 14. 200 Lord Redcliffe-Maud, 402 H. L. Deb. 1020 (8.11.1979) z. B. gesteht "with shame", daß er als Leiter von fünf Regierungsabteilungen gleichwohl bis zum Beginn seiner 195 196

§ 15 Zusammenfassung und Überleitung

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mit den Europäischen Gemeinschaften in Verbindung gebracht wird 201. Aus diesem Grunde ist ein nennenswerter Einfluß der EMRK auf das Bewußtsein der Abgeordneten nicht feststellbar. Andererseits sind die relativ wenigen Verfahren vor den Straßburger Kontrollinstanzen nicht ausreichend, um hieran etwas entscheidend zu ändern. 202

§ 15 Zusammenfassung und Überleitung Die vorstehende Analyse hat gezeigt, daß der Menschenrechtsschutz im Vereinigten Königreich unter verschiedensten Gesichtspunkten Nachholbedarf zeigt. Überdies muß allein die Tatsache, daß überhaupt mit der Forderung nach einer Bill of Rights Kritik an einem in wesentlichen Teilen als unzulänglich empfundenen Grundrechtsschutz geübt wird, bereits für deren Berechtigung streiten. 203 Hierbei muß man sich vergegenwärtigen, daß die Kritik, der sich die britische Rechtsordnung ausgesetzt sieht, ja keineswegs beschränkt geblieben ist auf einige esoterische wissenschaftliche Zirkel oder obskure politische Gruppierungen, sondern einen mächtigen Widerhall gefunden hat; schließlich ist die Forderung nach Einführung einer Bill of Rights - wenn auch in je unterschiedlicher Form in die Programme aller großen Parteien aufgenommen worden. 204 Dabei ist besonders bedeutsam, daß gerade das House of Lords als der mehr kontemplativ angelegte Teil des britischen Parlaments,205 aber auch manche Verteter der hohen Richterschaft die Meinungsführerschaft bei den Bemühungen für eine Bill of Rights übernommen haben. Hinzu kommen zahlreiche Institutionen, die sich in besonderer Weise des Schutzes der Bürgerrechte angenommen haben, sowie solche Personen, die diesen Gruppen nahestehen. 206 Insgesamt ergibt dies eine sowohl durch Qualität und besondere Sachkompetenz, aber ebenso durch ihre Diversivität beeindruckende Personengruppe, welche den gegenwärtigen Grundrechtsschutz für unbefriedigend hält.

Tätigkeit im Ausschuß des House of Lords zur Bill of Rights noch nie etwas von der Konvention gehört habe. Ähnlich Lord Scarman, in: British Institute of Human Rights, European Convention, S. 43. 201 Während einer Parlamentsdebatte (369 H. L. Deb. 781 ff. 18.3.1976) wurde z. B. der Europäische Menschenrechtsgerichtshof mehrfach in Brüssel verortet(!). 202 Allgemein wird von britischen Autoren moniert, daß die Abwicklung der Verfahren vor den europäischen Organen auch zu lange dauere, um wirklich effektiven Rechtsschutz verschaffen zu können; so etwa Zander, Bill of Rights, S. 36 f. 203 So auch Zander, Bill of Rights, S. 45. 204 Siehe die Belege oben, Einleitung, Anrn. 10. 205 Dazu Wade (Anm. 81), S. 66. 206 Z. B. The British Institute of Human Rights, vgl. dessen Stellungnahme, in: NU 126 (1977), S. 1063 f.; oder der National Council for Civil Liberties (NCCL), vgl. Wallington / McBride, Civil Liberties.

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

In einen historischen Zusammenhang gestellt, läßt sich dieses demnach breit empfundene Unbehagen deuten als ein Teil der tiefgreifenden Umstellungen, welche nach der Abgabe der Weltmachtstellung im Anschluß an den 2. Weltkrieg die Ablösung der überragenden britischen Selbstgewißheit (einige würden auch von Selbstgefälligkeit - smugness - sprechen)207, psychologische Prämisse des weltumgreifenden Imperialismus a la eeeil Rhodes und Rudyard Kipling,208 nach sich zog; damit wurde Raum geschaffen zugunsten eines selbstkritischen, hinterfragenden und weitaus mehr auch außerbritische Maßstäbe einbeziehenden Empfindungshorizonts. 209 Zur Legitimierung der britischen Verfassungsordnung kann nicht mehr nur einfach auf glanzvolle politische Leistungen verwiesen werden, um so die jedenfalls funktionale Effektivität des Systems konstatieren zu können, was in der Vergangenheit seine Infragestellung auch nach anderen Gesichtspunkten häufig überflüssig zu machen schien. 210 Denn im Angesicht eines zur Gänze demontierten Empires und der damit einhergehenden Reduzierung auf das bescheidene Maß einer Mittelmacht sowie erheblicher wirtschaftlicher und sozialer Krisenerscheinungen fehlt es dem Lande heute an glatten und unmittelbar überzeugenden Nachweisen für die Richtigkeit seiner Verfassungsund Regierungsordnung. 211 207 So Kerridge (Anm. 25), S.253; Wilberforee (Anm. 196), S.280, spricht von ,,British complacency". Siehe hierzu einen Artikel von Gina Thornas, Die britische Fanfare, FAZ v. 25.4.1990, S. 33. 208 Welche Anfechtungen konnten ein Land treffen, von dem Osear Wilde - beileibe kein Hurra-Patriot - folgende Zeilen schrieb: Set in this stormy Northem sea Queen of these restless fields of tide, England! What shall men say of thee, Before whose feet the worlds divide? Keiner hat diese Stimmungslage, den romantisch-heroischen Imperialismus jener Epoche, ihre unerschütterliche Selbstgewißheit und die Seele des viktorianischen Engländers besser beschrieben als Jarnes Morris in seiner elegischen Studie in 3 Bänden, betitelt ,,Pax Britannica". Aus dieser brillanten Beschreibung sei in diesem Zusammenhang besonders verwiesen auf Bd. 2 "The Climax of an Empire", Kap. 8 (S. 129 ff.), Kap. 12 und 13 (S. 215 ff.) und Kap. 26 (S. 497 ff.). 209 Das Seleet Cornrnittee (Anm. 16), S.31 32 (f) meint z. B. "... that our legal system and jurisprudence should be developed as part of the European Community and not in splendid isolation." In diesem Sinne auch Rudolph, in: FAZ 14.3.1988, S. 1. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Aufschwung, den die Rechtsvergleichung im Vereinigten Königreich - sicherlich auch als Teil dieser Entwicklung - erfahren hat, siehe hierzu Kahn-Freund, On Uses and Misuses of Comparative Law, in: MLR 37 (1974), S. 1 ff. (2 f.). 210 Lester, Fundamental Rights in the UK, in: Human Rights Rev. 2 (1977), S. 49 ff. (52) etwa verweist sehr zu Recht darauf, daß die Viktorianische Gesellschaft ideale Voraussetzungen für ein reibungsloses Funktionieren der britischen Verfassung bot, die heute nicht mehr gegeben seien. 211 Für eine für das Vereinigte Königreich ziemlich vernichtende Analyse der damit einhergehenden Identitätskrise, siehe Burkett (Anm. 162), S. 154 ff., und ferner Dürr (Anm. 88), S. 5 f., 16; Setzer, Zur Lage des parlamentarischen Regierungssystems in Großbritannien, in: Frankfurter Hefte 36 (4/1981), S. 21 ff.; Elias (Anm. 16), S.5.

§ 15 Zusammenfassung und Überleitung

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Auch aus diesem Grunde ist es naheliegend, daß erstmals die britische Verfassung selber wieder zum Gegenstand einer tiefergreifenden Analyse gemacht und auf ihre Leistungsfahigkeit hin grundsätzlich hinterfragt wird. Dabei führen alle Wege zwangsläufig und immer wieder zum Prinzip der sovereignty ofParliament als der Grundnorm der britischen Verfassung, die ihre Besonderheit begründet und an der jeder Vorschlag zur verfassungsrechtlichen Reform - also auch die zur Debatte gestellte Einführung einer Bill of Rights - sich messen lassen muß. Welche Eigenschaft ist es aber denn nun eigentlich, die die Parlamentssouveränität aus der Sicht keineswegs nur des kontinentaleuropäischen Juristen so problematisch macht, ihr etwas spontan Anstößiges, geradezu Provozierendes verleiht und - wie später noch zu zeigen sein wird - immer wieder Anlaß gibt, sie in ihren Wirkungen zu begrenzen, sie "zu widerlegen" oder gar zu leugnen? Die Antwort auf diese Frage soll hier mit der von Martin Kriele entwickelten Lehre vom Verfassungsstaat versucht werden. Kriele 212 sieht zwischen Souveränität und Verfassungsstaat einen unauflösbaren Widerspruch: Verfassungsstaatlichkeit konstitutiere sich dort, wo jede organschaftliehe Souveränität innerhalb des Staates verhindert werde, weil ausnahmslos alle Staatsorgane dem Recht der Verfassung unterworfen werden. Die Staatsorgane bezögen ihre Legitimität allein aus der Verfassung, ihr Handeln rechtfertige sich daher nur solange, wie es sich innerhalb der von der Verfassung zugewiesenen Kompetenzen bewege. Unter diesen Umständen könne kein Organ Souveränität beanspruchen, denn Souveränität bedeute rechtliches Ungebundensein: der Souverän ist die Quelle des Rechts, niemals sein Adressat. Folgt hieraus, daß das Vereinigte Königreich kein Verfassungs staat ist? Kriele selbst bezeichnet die britische Verfassung als "Grenzfall" 213. Und in der Tat kann man aus der bloßen Existenz der Parlamentssouveränität noch nicht auf die fehlende Verfassungsstaatlichkeit schließen. Denn das durch die Parlamentssouveränität berechtigte Subjekt ist aus drei Organen zusammengesetzt, von denen sich keines ohne die beiden anderen der Souveränität rühmen kann. Auch Krieles Lehre sieht aber vor,214 daß alle Staatsorgane zusammen "souverän" sein können. 215 Allerdings macht der Gebrauch dieses Begriffs in diesem Zusammenhang wenig Sinn, weil die Organsouveränität so in der (inneren) Staatssouveränität aufgeht und von ihr ununterscheidbar wird. Die Leistung des Verfassungsstaates besteht im Krieleschen Verfassungsstaat darin, die Inanspruchnahme der Staatssouveränität nur durch ein Organ und damit die Schaffung von Organsouveränität durch Gewaltenteilung zu verhindern. In diesem Sinne war die durch die Glorious 212 Einführung in die Staatslehre, S. 111 ff. 213

a. a. 0., S. 114.

214 a. a. 0., S. 116. 215 In der Verfassung des Grundgesetzes sind sie das nicht, weil Art. 79 Abs. 3 GG bestimmte Regeln auch außerhalb der Reichweite des verfassungsändemden Gesetzgebers stellt.

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3. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (I)

Revolution geschaffene Staatsordnung trotz des damit begründeten Prinzips der Parlamentssouveränit ganz ohne Frage ein Verfassungs staat und zwar der erste überhaupt, weil weder dem König noch einem oder beiden Häusern des Parlaments allein, sondern nur allen zusammen das Prädikat der Souveränität verliehen worden war. Die damaligen verfassungsrechtlichen Gegebenheiten haben sich indes grundlegend verändert: sowohl der Monarch wie auch das Oberhaus nehmen in· der ursprünglichen Trias im wesentlichen nur noch eine zeremonielle, keine machthemmende Funktion mehr wahr, so daß heute tatsächlich allein das Unterhaus "souverän" ist. Die ursprüngliche Gewaltenteilung ist also in Wegfall geraten, weil die beiden anderen neben dem House of Commons daran partizipierenden Organe ihrer fehlenden demokratischen Legitimität zum Opfer fallen mußten, ohne daß neue Organe an ihre Stelle getreten wären. Diese Überlegung zeigt indes, daß die Krielesche Definition des Verfassungsstaates durchaus relativ ist. Die Frage ist nicht, Verfassungsstaat oder NichtVerfassungsstaat, sondern mehr oder weniger Verfassungsstaat. Entscheidend ist dabei, auf wieviele Schultern die Staatsgewalt verteilt wird. Anders und genauer: derjenige Staat ist in diesem Sinne verfassungsstaatlicher, der die Gesamtheit der Staatssouveränität auf eine größere Vielfalt vonje unterschiedlich zusammengesetzten und legitimierten Organen verteilt. Insofern bedeutete der modeme Parteienstaat mit der damit einhergehenden Herausbildung fester Parlamentsmehrheiten, die organisatorisch getragen von den Fraktionen sich zu einem QuasiOrgan entwickelten, aus verfassungs staatlicher Perspektive einen Rückschritt. Diese Entwicklung aufzufangen und ins Gegenteil zu verkehren ist der Sinn des verfassungsändernden Gesetzgebers und der Verfassungsgerichte, beides verfassungspolitische Entwicklungen, denen sich fast alle demokratisch verfaßten Staaten in den letzten Jahren angeschlossen haben, nicht aber das Vereinigte Königreich. Damit führt in der Tat nichts an der Erkenntnis vorbei, daß das Vereinigte Königreich gegenüber anderen Demokratien verfassungsstaatlich defizitär ist. 216 Hieran können auch die viel zitierten außerrechtlichen, politischen Begrenzungen der Parlamentsmacht nichts ändern: denn der Verfassungsstaat war angetreten, um gerade mit dem Mittel des Rechts den überrnachtigen Souverän zu zähmen. 216 Anders Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 114; widersprüchlich Langheid, Souveränität und Verfassungsstaat, S. 335 f. einerseits und S. 133 f. andererseits, der allerdings das Dogma von der Parlamentssouveränität überhaupt bestreitet (dazu siehe unten § 18 Ziffer 3 a) aa), Anrn. 62 und § 19 Ziffer 3 b), Anm. 80). Die von Kriele angegebenen rechtlichen Eingrenzungen der Parlamentsmacht sind jedoch sämtliehst solche, die das Parlament gegebenenfalls selber aufheben kann und auch schon aufgehoben hat, was auch Kriele zugesteht. Sein Einwand, das Parlament könne diese eingrenzenden Regeln ,,nicht schlechthin aufheben", weil es mehr noch als der "absolutistische Monarch ... ein letztes Minimum an vorgegebenem Verfassungsrecht, zumindest über seine eigene Installierung ..." respektieren müsse, beweist nur eins, nämlich daß das Parlament in der Tat in Hinsicht auf seine Rechtsrnacht einem absolutistischem Monarchen gleichzustellen ist.

§ 15 Zusammenfassung und Überleitung

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Auch historisch war es das enttäuschte Vertrauen in den guten, aber eben rechtlich ungebundenen Willen des Souveräns, das den entscheidenden Anstoß zur Herausbildung des Verfassungsstaates moderner Prägung gab. In einer dem genau entsprechenden Weise muß es mit der Einführung einer Bill of Rights darum gehen, dem angeschlagenen Vertrauen in den freiheitsschützenden Willen des Parlaments durch rechtliche Garantien neben der politischen, auch eine juristische Grundlage zu geben. Damit ist die weitere Prüfungsfolge dieser Arbeit vorgegeben. Zwar steht es rein tatsächlich jedem Staat und somit auch dem Vereinigten Königreich frei, unter Bruch der verfassungsrechtlichen Kontinuität in einern revolutionären Vorgang sich eine neue Verfassung zu geben. Unter der hier einfach unterstellten Prämisse, daß es immer besser ist, Neues an das bestehende Alte anknüpfen zu lassen, soll zunächst untersucht werden, ob eine Bill of Rights sich nicht doch organisch und ohne Bruch trotz Parlamentssouveränität in die britische Verfassung einfügen läßt (Kapitel 4). Zum zweiten wird zu überlegen sein, ob die mit einer Bill of Rights notwendigerweise zu schaffenden Kontrollinstanzen, gleich wie diese im Einzelnen ausgestaltet werden, nicht mit jenem Prinzip in Konflikt geraten müssen, welchem schon die beiden ehemaligen Teilhaber des House of Cornrnons innerhalb des King-in-Parliament zum Opfer gefallen sind: nämlich dem Demokratieprinzip (Kapitel 5).

Viertes Kapitel

Zwischen Parlamentssouveränität und verfassungsrechtlicher Wirkungslosigkeit: die Typologie einer britischen Bill of Rights § 16 Modelle für eine Bill of Rights 1. Eine Bill of Rights als einfaches Gesetz? Welche grundsätzlichen Alternativen stellen sich dem Vereinigten Königreich bei der Entscheidung über die mögliche Einführung einer Bill of Rights im Hinblick auf das Prinzip der Parlamentssouveränität? Mit dieser Frage wird das Problem des von einer solchen Bill of Rights innerhalb der Normenhierarchie einzunehmenden Ranges angeschnitten. Dabei ist zunächst ein häufig übersehenes, oft nicht recht gewürdigtes Faktum festzuhalten. Bei Einführung eines Grundrechtskataloges werden Konflikte mit der Parlamentssouveränität nur dann heraufbeschworen, sofern man der Bill of Rights einen besonderen gegenüber dem statute law vorrangigen Bestandsschutz einräumt. Verzichtet man hierauf, beläßt man es also dabei, einen Grundrechtskatalog als einfaches Gesetz zu verabschieden, um ihn damit in die allein durch die zeitliche Folge diktierte Rangordnung der statutes einzureihen, so ergeben sich in Hinsicht auf die Parlamentssouveränität keinerlei Besonderheiten.! Vermöge der lex posterior-Regel wäre sämtliches vorangegangenes Recht, gleich aus welcher Quelle, nunmehr an der Bill of Rights zu messen, aber eben nur das vorangegangene Recht. 2 Umgekehrt hätte die Bill of Rights allerdings auch bei nur implizitem Widerspruch allem nachfolgendem Gesetzesrecht zu weichen. Diese Überlegungen zeigen, daß eine Bill of Rights als einfaches Gesetz für die Parlaments souveränität keine Schwierigkeiten bereitet. Das legt die Frage ! So ganz klar auch British Institute 01 Human Rights, Bill of Rights for the UK, in: NU 126 (1977), S. 1063 ff. (1063). Unklar dagegen iones, British Bill of Rights, in: Parliamentary Affairs 43 (1990), S. 35 und 36; wenn iones (zu Recht) betont, auch eine Bill of Rights als einfaches Gesetz habe älterem Recht gegenüber eine herausragende Stellung, so muß sogleich hinzugefügt werden, daß gleiches für jedes statute gilt (siehe oben 1. Kapitel, Text nach Anm. 41). 2 Siehe Zander, Bill of Rights, S. 73 f.

§ 16 Modelle für eine Bill of Rights

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nahe, ob sich nicht auch auf diesem verfassungsrechtlich relativ wenig aufwendigem Wege für den britischen Grundrechtsschutz Entscheidendes erreichen ließe. 3 Offensichtlich würde der Wert einer derartigen Bill of Rights zunächst einmal maßgeblich von ihrem materiellem Regelbestand abhängen. Das gilt für jeden Grundrechtskatalog; auch ein formell-verfassungsrechtlich abgesicherter Grundrechtskatalog, über dessen Einhaltung ein mit allen notwendigen Kompetenzen ausstaffiertes Verfassungsgericht wacht, wird wenig bewirken können, sofern die in ihm enthaltenen Grundrechte nur schwach entwickelt und mit allzu vielen Vorbehalten versehen sind. Die beschränkte Zielsetzung dieser Arbeit verbietet es, über die Art und das Ausmaß der in eine Bill of Rights aufzunehmenden Grundrechte zu spekulieren. Auf dem Hintergrund britischer Gesetzgebungspraxis stellt sich in diesem Zusammenhang eine wichtige Alternative, die zumindest kurz angeschnitten zu werden verdient. Denkbar wäre nämlich, daß eine Bill of Rights in der Art der sog. consolidating statutes 4 lediglich als gesetzliche Zusammenfassung der bisher auch schon in cornmon und statute law verstreut sich findenden grundrechtlichen Verbürgungen konzipiert wird. Ein solcher Grundrechtskatalog würde somit schon von seiner Anlage her dem geltenden materiellen Rechtsbestand nichts Neues hinzufügen; von ihm könnte man für eine Neuordnung der verfassungsrechtlichen Verhältnisse in Hinsicht auf eine grundlegende Verbesserung des Grundrechtsschutzes gar nichts erwarten. Allerdings sei eine einzige, freilich nicht sehr bedeutsame Ausnahme zu dieser Feststellung vermerkt. Sofern nämlich durch eine solche Bill ofRights erstmals in den Rang von Gesetzesrecht erhobenes common law durch vor dem Grundrechtskatalog verabschiedetes Gesetzesrecht derogiert worden ist, hätte jenes Gesetzesrecht als Folge der lex posterior-Regel der Bill of Rights zu weichen und damit den Weg für das schon verdrängte cornmon law freizugeben. Mit anderen Worten: sollte der parlamentarische Gesetzgeber die common lawGrundrechte durch eine Bill of Rights zu Gesetzesrecht machen, könnten sich von dem Parlament gar nicht vermutete Widersprüche zwischen solchen bislang nicht gesetzlich verankerten common law-Grundrechten und diesen implizit entgegenstehendem statute law offenbaren. Damit könnte auch eine Bill ofRights als consolidating statute eine Grundlage für die Entwicklung neuer Grundrechtsstandards liefern. Entscheidend für das Ausmaß der mit einer solchen Bill of Rights zu erzielenden Wirkungen wäre aber die Haltung der britischen Richterschaft, deren Rechtspositivismus und Zurückhaltung gegen3 Eine Bill of Rights als einfaches Gesetz wird nur von recht wenigen Autoren erwogen, siehe Lester, Democracy and Individual Rights, S. 14; British Institute 0/ Human Rights (Anm. 1), S. 1063; Carson, Towards a Rights Guarantee for Britain, in: N. Y. Law Forum 16 (1970), S. 605 ff. 4 Hierbei handelt es sich um ein mindestens seit der Jahrhundertwende sehr gebräuchliches Verfahren, das zu einem Gutstück für das im Vereinigten Königreich wuchernde Gesetzesrecht verantwortlich zu machen ist.

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

über jeder Art von Grundrechtsinnovation bereits festgestellt worden ist. 5 Im Falle eines Grundrechtskataloges, der von sich behaupten würde, nur eine Wiedergabe bereits bestehenden Rechts zu sein, stünde zu erwarten, daß diese vorsichtige, um nicht zu sagen, ablehnende Haltung der Gerichte gegenüber solch "unbritisehen" Neuerungen zu Lasten eines dynamischen Grundrechtsschutzes durchschlagen würde, weil mit der begrenzten Zwecksetzung einer solchen Bill of Rights ein ausgesprochen einleuchtendes Argument zur Hand wäre, um jeden Versuch, der Bill of Rights neue Grundrechtsstandards zu entlocken, konsequent abzuwehren. 6 Nach alledem steht zu erwarten, daß sich für eine Erweiterung des materiellen Grundrechtsbestandes nur dann etwas erreichen ließe, sofern der Gesetzgeber selber die entsprechenden Anordnungen durch statute trifft, und zwar mit nicht wegzuinterpretierender Deutlichkeit. 7 Auch hier wieder gibt es allerdings eine bedeutsame Alternative, die das Parlament zu entscheiden hätte mit jeweils unterschiedlichen Folgen für die Wirksamkeit einer Bill of Rights. Erstens könnte das Parlament in der im Vereinigten Königreich üblichen Fa~on detaillierte und präzise formulierte Vorschriften schaffen, die insbesondere auch vorzusehen hätten, welche bislang geltenden Gesetze oder Teile von Gesetzen durch die neue Bill of Rights außer Kraft gesetzt werden sollen. Ein solches Normwerk wäre in der Sache nichts anderes als die Zusammenfassung einer Unzahl von Grundrechtsstandards, müßte folglich auch sehr umfangreich ausfallen und würde die Offenheit, aber auch die Prägnanz und appelative Kraft etwa der amerikanischen Bill of Rights von 1787 oder der französischen Grundrechtskataloge seit 1789 missen lassen. 8 Ebenso stünde es dem Parlament frei, eine Bill of Rights dieses mehr klassischen Typs zu schaffen, d. h. also den als verbindlich empfundenen menschenrechtlichen Wertebestand in einer Reihe kurzer und in hohem Maße interpretierungsbedürftiger Sätze niederzulegen, die dem Anwender die Entscheidung überlassen würden, welches bisher gültige Recht durch diese Vorschriften des Grundrechtskataloges verdrängt wird. 9 Je nach Art der dabei neu aufgestellten Grundrechtsstandards könnten Grundrechtskataloge beiderlei Typs gewichtige Änderungen des bisherigen Rechts bewirken und für sich insbesondere alle ja keineswegs gering zu schätzenden Vorteile in Anspruch nehmen, welche sich unter der Herrschaft der ParlamentsSiehe oben § 12 Ziffer 3 b). Hierzu siehe Zander, Bill of Rights, S. 60 f. 7 So ausdrücklich Lester, Democracy and Individual Rights, S. 15. 8 Grundrechtskataloge dieses Typs fmden sich vor allem in den Verfassungen der neuen Staaten Asiens und Afrikas, insbesondere bezeichnenderweise solchen, die früher britische Kolonien waren; siehe McWhinney, Supreme Courts & Judicial Law-Making, S. 89 f. 9 Zu dieser Alternative, die sich so oder ähnlich für jeden Verfassungsgeber stellt, siehe ausführlich McWhinney, Supreme Courts & Judicial Law-Making, S. 88 ff. 5

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§ 16 Modelle für eine Bill of Rights

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souveränität dem gesetzlichen, im Gegensatz zum formell-verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutz bieten. \0 Auch hätte eine Regierung, aber ebenso das Parlament in beiden Fällen ganz erhebliche politische Schwierigkeiten zu gewärtigen, würde man leichtfertig bei der ersten Gelegenheit einen als Bill of Rights titulierten Grundrechtskatalog in Teilen oder zur Gänze wieder abschaffen wollen. Insofern würde über die den Briten so sympathischen politischen Kontrollen in der Tat auch einer als Gesetz gefaßten Bill of Rights erhebliche Wirkungen auf spätere Parlamente zuwachsen. Das ändert aber nichts daran, daß ein solcher Grundrechtskatalog unbeabsichtigt durch Implikation derogiert und so langsam ausgehöhlt werden könnte. II Hier wird noch einmal deutlich: nicht anders als die dem britischen Recht bereits vertrauten partiellen Grundrechtsverbürgungen verschaffen Grundrechtskataloge in der Form eines normalen statute keinen Schutz gegen, sondern nur durch das Parlament. Damit aber zeigt sich, daß mit einer Bill of Rights, die völlig auf eine auch nur beschränkte juristisch verbindliche Vorwirkung auf spätere Parlamente verzichtet, die notwendige Umverteilung innerhalb des staatlichen Kompetenzgefüges zur Beseitigung der dort für die britische Verfassungsordnung festgestellten Ungleichgewichte nicht möglich ist. Eine Bill of Rights als bloßes statute könnte die verfassungsstaatlichen Defizite des Vereinigten Königreichs folglich nicht beseitigen. Welche der genannten Möglichkeiten wäre aber zu bevorzugen, sofern dieses prinzipiellen Verdiktes ungeachtet ein Grundrechtskatalog nach diesem Modell gleichwohl zur Debatte gestellt würde? Eine Bill of Rights als Enumeration einzelner konkret gefaßter Rechte hätte den Vorzug unmittelbarer Anwendbarkeit. Weitaus weniger als bei einem den klassischen Vorbildern nachempfundenen Grundrechtskatalog käme es hier auf die Gerichte an, denen überdies auch genaue Vorschriften über das durch die Bill of Rights verdrängte Recht an die Hand gegeben wären. Dieser Vorteil sei nicht gering geschätzt. Würde das Parlament eine Bill of Rights als eine Sammlung von Grundrechtsstandards verabschieden, würde es damit die schwierige Aufgabe, diese aus dem menschenrechtlichen Wertebestand erst mühsam herzuleiten, den Gerichten abnehmen, was deswegen unbedingt ein Vorzug wäre, weil es durchaus Anlaß zu zweifeln gibt, ob die britischen Gerichte zur Erledigung dieser Aufgabe überhaupt bereit wären. 12 Andererseits sind diesem Ergebnis aber sogleich all jene Vorteile entgegenzuhalten, die aus der Statuierung eines Menschenrechtskataloges in der Art des Grundgesetzes erwachsen können. Nur so würde den Gerichten die notwendigen Freiräume für eine kontinuierliche Grundrechtsinnovation verschafft werden, eine Funktion die in der anderen Alternative, wie bisher allein beim Parlament Hierzu siehe oben § 2. Das übersieht Lester, Democracy and Individual Rights, S. 14 f. 12 Skeptisch in diesem Sinne äußern sich auch Lester, Democracy and Individual Rights, S. 15. Siehe hierzu die Praxis der Gerichte bei Auslegung und Anwendung der Canadian Bill 0/ Rights, siehe unten § 17 Ziffer 3. \0

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13 Koch

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

verbleiben würde. Überdies wäre so ein erster Schritt hin auf ein echtes "judicial review" gemacht, d. h. also eine richterliche Kompetenz zur Überprüfung von Gesetzen, denn nichts weniger wäre den Gerichten aufgegeben, die vor der Anwendung allen älteren Rechts dessen Übereinstimmung etwa mit dem Gleichheitssatz und ähnlichem mehr zu prüfen hätten. 13 Sicherlich wäre diese Kompetenz beschränkt, weil sie nur für gegenüber der Bill of Rights ältere Gesetze ausgeübt werden dürfte, eine Einschränkung, die mit zunehmendem Zeitablauf überdies immer größere Bedeutung gewinnen würde, in dem Maße nämlich, wie durch Setzung neuen Gesetzesrechts immer größere Teile des gesamten Normenbestandes dem Grundrechtskatalog entzogen würden. 14 Das ändert aber nichts daran, daß für jenes Recht, das als Ergebnis der lex posterior-Regel der Bill of Rights nachgeordnet ist, der solches Recht anwendende Richter genau die gleiche Aufgabe zu erledigen hätte wie das deutsche Bundesverfassungsgericht im Rahmen etwa der abstrakten Normenkontrolle.

2. Verfahren für einen erhöhten Bestandsschutz Derartige Überlegungen zur Verabschiedung eines Menschenrechtskataloges in der Form eines gewöhnlichen statute unterstreichen, daß der damit einhergehende Verzicht auf jede Art von juristisch verbindlicher Vorwirkung auf spätere Parlamente der inneren Logik und dem Anspruch einer solchen Normierung zuwiderläuft. Denn Menschenrechte müssen ihrer Natur zufolge für alle Staatsorgane und zu jeder Zeit verbindlich sein, 15 also auch für zukünftige Parlamente. Damit ist erneut auf die eingangs dieses Abschnitts gestellte Frage nach den im Vereinigten Königreich möglichen Typen eines Grundrechtskataloges zurückzukommen. Nach den eben dargelegten Überlegungen ist an dieser Frage freilich eine wichtige Qualifizierung anzubringen. Wenn eine Bill of Rights sinnvollerweise nicht als gewöhnliches Gesetz verabschiedet werden sollte, kommt für einen britischen Grundrechtskatalog jetzt nur noch eine solche Art der Ausgestaltung in Betracht, die eine gegenüber dem sonstigen Gesetzesrecht erhöhten Bestandsschutz vorsieht. Nur ein Grundrechtskatalog, dessen Anspruch auf Vorrang gegenüber allem anderen Recht durch ein besonderes verfassungsrechtliches Ähnlich McWhinney, Supreme Courts & Judicial Law-Making, S. 90 f. Dabei ist besonders auf das Problem der consolidating statutes hinzuweisen; werden bislang in vielen Quellen verstreute Vorschriften des besseren systematischen Überblicks wegen unverändert in einem neu verabschiedeten Gesetz zusammengefaßt, so würden solche Teile eines consolidating statute, die der Bill of Rights widersprechen, durch ihre neuerliche Verabschiedung dem Anwendungsbereich der Bill of Rights entzogen, obwohl sie in ihrer ursprünglichen Geltung letzterer zum Opfer gefallen wären. 15 So auch die grundlegende Entscheidung des GG in Art. 1 Abs. 3; siehe Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Art. 1, Rz 103 f. In der englischen Lehre wird dieser Schluß in der Regel nicht gezogen; ganz eindeutig hingegen Ridley, There is no British Constitution, in: Parliamentary Affairs 41 (1988), S. 340 ff. (342 f., 353 f.). 13

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§ 16 Modelle für eine Bill of Rights

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Mittel geschützt ist, kann den gestellten Anforderungen genügen. Da es diesen Anspruch im Vereinigten Königreich vor allem gegenüber dem Legislativorgan durchzusetzen gilt, ist damit die Forderung nach einem erhöhten Bestandsschutz für die Bill of Rights unabweislich, weil nur so der Grundrechtskatalog dem Zugriff des Parlaments entzogen werden kann. 16 Mit dieser Forderung nach einem erhöhten Bestandsschutz scheint allerdings der Konflikt mit der Parlamentssouveränität vorprogrammiert. Die vorhandenen rechtstechnischen Möglichkeiten zur Einräumung eines erhöhten Bestandsschutzes für eine zu verabschiedende Bill of Rights lassen sich relativ trennscharf in eine Reihe möglicher Modelle einordnen, deren jedes im Zuge der im Vereinigten Königreich geführten Debatte seine Anhänger und Verfechter gefunden hat, wobei allerdings die sich jeweils ergebenden Konsequenzen und Implikationen sehr verschieden klar ausformuliert und durchdacht wurden. Die das bestehende, durch die Parlaments souveränität diktierte Normengefüge am wenigsten berührende Verfahrensweise - im folgenden deswegen kurz als die Kleine Lösung bezeichnet I? - sieht vor, der Bill of Rights über die lex posterior-Regel hinaus eine Vorwirkung aufkommendes Recht durch die Aufstellung einer Interpretationsregel einzuräumen. Diese Regel würde es den Gerichten zur Pflicht machen, auch nachfolgende Gesetze nach Maßgabe des Grundrechtskataloges auszulegen. Freilich: eine Interpretationsregel kann nur dort greifen, wo eine interpretationsbedürftige Mehrdeutigkeit besteht; sie versagt, wenn das anzuwendende Gesetz eindeutig ist. 18 An der Frage, wie bei Widerspruch zwischen einem solchen eindeutigen Gesetz und der Bill of Rights zu verfahren ist, teilt sich die Kleine Lösung in zwei Untervarianten. Die weitergehendere der beiden verlangt, daß der Gesetzgeber in dem späteren Gesetz ausdrücklich die Derogierung der Bill of Rights anordnen müsse, um die Außerkraftsetzung der Interpretationsregel herbeiführen zu können. 19 Die schwächere Variante hingegen läßt es genügen, daß dem Gesetz die nur implizite Absicht zu entnehmen ist, die Bill ofRights nicht zum Zuge kommen lassen zu wollen. Der zu einem bestimmten Zeitpunkt verbindliche materielle Gehalt einer nach diesem Prinzip konstruierten Bill of Rights wäre somit - so wie bei anderen statutes auch - nur über eine Prüfung des gesamten späteren Gesetzesrechts zu ermitteln. Dagegen würde ein 16 Weil es daher im weiteren darum gehen wird, nach Möglichkeiten für eine mit erhöhtem Bestandsschutz versehene Bill of Rights zu forschen, soll im folgenden der Begriff des formellen Verfassungsrechts nur noch in einem engeren Sinne so wie bei Jellinek (hierzu siehe § 1 Ziffer 1) gebraucht werden, als derjenige Normbestand der gegen Abänderung und Derogierung durch besondere Vorkehrungen geschützt ist. I? Dazu mit ausführlichen Belegen, siehe § 17. 18 Siehe oben § 6 Ziffer 1, Anm. 17 f. und dazugehörenden Text. 19 Zur Frage, ob unter diesen Umständen tatsächlich noch von einer (mit der Parlamentssouveränität zu vereinbarenden) Interpretationsregel gesprochen werden kann, siehe ausführlich § 17 Ziffer 2 b).

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

Verbot impliziter Derogation im Unterschied zum sonst üblichen Verfahren die Möglichkeit der Derogation durch späteres Recht zwar keineswegs ausschließen, aber doch u. U. erheblich beschneiden. Im übrigen bliebe die Bill of Rights in jedem Fall dem normalen Verfahren zur Abänderung oder Aufhebung von Gesetzen unterworfen, könnte also mit einfacher Mehrheit jederzeit modifiziert werden. Beide Varianten der Kleinen Lösung unterscheiden sich damit grundlegend von sehr viel weitergehenden Vorschlägen, welche vorsehen, der Bill of Rights - ganz wie formelles Verfassungsrecht - auch gegenüber nachfolgendem Gesetzesrecht einen unbedingten Vorrang einzuräumen und so die Integrität der Bill of Rights selbst zu gewährleisten, den Grundrechtskatalog also aus dem Anwendungsbereich der lex posterior-Regel herauszunehmen. 20 Der Unterschied zwischen einem solchen im lellinekschen Sinne formell-verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalog und einer nach dem Muster der Kleinen Lösung entworfenen Bill ofRights zeigt sich, sobald ein der Bill ofRights in ihrer jeweils verbindlichen Fassung widersprechendes Gesetzesvorhaben verwirklicht werden sollte. In beiden Fällen ist ein besonderes Verfahren zu beobachten, das sich im Falle der Kleinen Lösung nur auf das zu verabschiedende Gesetz bezieht und den Text der Bill of Rights (nicht aber natürlich deren materiellen Geltungsbereich) unberührt ließe, im Falle eines formell-verfassungsrechtlichen Grundrechtskataloges aber die entsprechende Änderung des Textes der Bill of Rights selbst verlangen würde. 21 Ein formell-verfassungsrechtlicher Grundrechtskatalog ließe sich grundsätzlich auf zwei Wegen in das bestehende britische Verfassungsgefüge einbauen. Einmal könnte man den Nachweis versuchen, daß die Parlamentssouveränität durchaus mit der Existenz zweier in jeweils verschiedenen parlamentarischen Verfahren zu erlassenden unterschiedlich bestandskräftigen Normentypen vereinbar ist; dies ist etwa von dem sog. "new view of parliamentary sovereignty" unternommen worden. Andererseits ist aber auch zu prüfen, ob die Parlamentssouveränität als Verfassungsnorm (im materiellen Sinne) nicht zu Teilen außer Kraft gesetzt werden könnte; hier wäre zu untersuchen, inwieweit die Begrenzung der Parlamentssouveränität eine der britischen Verfassungsordnung rechtlich überhaupt zu Gebote stehende Möglichkeit darstellt und nicht allein in Ausübung verfassunggebender und somit im Vereinigten Königreich notwendig außer- oder vorrechtlicher Gewalt möglich ist. Diese beiden Wege - sollten sie sich als gangbar erweisen - würden eine formell-verfassungsrechtliche Bill of Rights ermöglichen und seien daher kurz als Große Lösung 22 bezeichnet. 20 Im englischen Sprachgebrauch wird ein solcher Grundrechtskatalog als "entrenched", der damit einhergehende Vorgang als "entrenchment" bezeichnet. 21 Diese Unterscheidung entspricht der zwischen Verfassungsdurchbrechung und Verfassungsänderung, die in der Weimarer Reichsverfassung eine so bedeutende Rolle gespielt hat; siehe hierzu unten § 17 Ziffer 1, Anm. 8 f. 22 Dazu mit ausführlichen Belegen, siehe § 18.

§ 17 Die sog. Kleine Lösung

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Schließlich bliebe als letzte Option, der Parlaments souveränität über die verfassunggebende Gewalt beizukommen; ob dies überhaupt möglich ist, und gegebenenfalls wie, wird im einzelnen zu prüfen sein. Das damit markierte Verfahren wird im folgenden als Revolutionäre Lösung 23 zusammengefaßt. Das Bemühen um die bestmögliche Bill of Rights kann sich nun freilich nicht nur an der Parlamentssouveränität ausrichten. Einer Analyse in Hinsicht auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der jeweiligen Modelle ist vielmehr eine Untersuchung darüber gegenüberzustellen, welche Wirkungen für den Grundrechtsschutz jeweils zu erwarten sind. Erst aus der Zusammenschau der Ergebnisse beider dieser Prüfungen wird sich entnehmen lassen, welches der genannten Modelle für das Vereinigte Königreich weitestmöglichen Grundrechtsschutz unter gleichzeitiger Beachtung der verfassungsrechtlichen Gegebenheiten des Landes verbindet. Dies soll im folgenden geleistet werden.

§ 17 Die sog. Kleine Lösung 1. Die Kleine Lösung als Mittel zur Überwindung der verfassungsstrukturellen Defizite des Vereinigten Königreichs Eine Analyse der Möglichkeiten der Kleinen Lösung 24 hat sich vor allem der Frage zu stellen, inwieweit auf diesem Wege jene rechtlich verbindliche Vorwirkung auf spätere Parlamente herbeizuführen ist, die einer Beseitigung der aufgezeigten verfassungsstrukturellen Mängel den Weg ebnen könnte. Recht einfach liegen insoweit die Verhältnisse bei jener Variante der Kleinen Lösung, die die Bill of Rights in Hinsicht auf nachfolgendes Recht als Interpretationsregel einrichten will. Diese Vorgehensweise würde es der Initiative und Tatkraft der Richter überantworten, inwieweit eine so konstruierte Bill of Rights auch für späteres Recht Bedeutung erlangen kann. Die hierüber entscheidenden Weichenstellungen sind die gleichen, die schon jetzt bei der judiziellen Instrumentalisierung der EMRK zum Zuge kommen, so daß insoweit auf die dort gemachten Ausführungen verwiesen werden kann. 25 Ob überhaupt und, wenn ja, inwieweit Dazu mit ausführlichen Belegen, siehe § 19. Eine Bill of Rights dieses Typs sieht insbesondere der Vorschlag von Lord Wade vor, der sich im Hinblick auf die Parlaments souveränität veraniaßt sah, seinen Entwurf abzuändern und damit - im Sinne der weniger weit gehenden Alternative - die nur implizite Derogation der Bill of Rights zuzulassen; siehe Wade, Bill of Rights, in: Parliamentarian 61 (1977), S. 65 ff. (70 f.); ebenso der Vorschlag bei Labour Party, Charter of Human Rights, S. 7 f. Hooson, Bill of Rights, S. 32 f. z. B. optiert dagegen für die weitere der beiden Varianten der Kleinen Lösung. 25 Siehe oben § 6 Ziffer 1. 23

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

die britischen Gerichte von den Möglichkeiten einer solchen Interpretationsregel Gebrauch machen würden, kann nur spekulativ beantwortet werden. Die bislang wenig ergiebige Handhabung der EMRK zu dem gleichen Zweck sollte allerdings zu erheblicher Skepsis Anlaß geben. An sich stünde ja auch einem konsequenten Gebrauch der EMRK als Interpretationsregel nichts im Wege, was dann sogar eine eigens vom Parlament verabschiedete Bill of Rights - jedenfalls soweit es die damit angestrebte Wirkung auf nachfolgendes Gesetzesrecht angeht überflüssig machen würde. Daß die Gerichte von einem solchen Schritt, den sie ganz ohne legislative Aufforderung jederzeit ergreifen könnten, bislang meinten absehen zu müssen, gibt berechtigten Anlaß zu der Vermutung, daß auch bei einer vom Parlament angeordneten Interpretationsregel nichts Dramatisches zu erwarten wäre. Weitaus gewichtiger als diese - wie gesagt - etwas spekulativen Überlegungen ist aber der Umstand, daß durch eine solche durch Gesetz aufgestellte Interpretationsregel die grundlegenden Strukturen der britischen Verfassung ganz unberührt bleiben würden. Denn eine solche Regel kann immer nur ein Gesetz ergänzen, ihm eine bestimmte sonst nicht herleitbare Akzentuierung geben, in einigen wenigen Fällen ihm vielleicht sogar eine etwas andere Richtung abringen, kann aber niemals gegen das Gesetz gebraucht werden: einer Interpretationsregel kommt nur der Rang eines Hilfsmittels zu, das die möglichst korrekte Anwendung des Gesetzes, niemals aber dessen Aufhebung bezwecken kann und gegenüber dem Gesetz immer nur eine dienende Rolle ausfüllt. 26 Das Parlament hat auch so das letzte Wort. Aus den gleichen Gründen kann eine Interpretationsregel nur geringe grundrechtsinnovative Schübe auslösen, eben weil Interpretation die korrekte Anwendung bestehender Normen, nicht aber die Schöpfung neuer Normen bedeutet. Demgegenüber wären die Konsequenzen einer Bill of Rights, die zumindest gegen die Derogation durch Implikation geschützt wäre, ungleich größer. 27 Wenn nämlich nur durch eine ausdrückliche Anordnung des Gesetzgebers eine neu geschaffene gesetzliche Vorschrift aus dem Anwendungsbereich der Bill of Rights herausgenommen werden könnte, so hätte dies zur Folge, daß das Parlament in jedem Fall, wo es ein die Grenzen der Bill of Rights überschreitendes gesetzliches Vorhaben verwirklichen möchte, diese Absicht offenzulegen hätte. Da kein Gesetzgeber sich gerne mit dem Odium der Freiheitsfeindlichkeit belasten wird, steht zu erwarten, daß das Parlament nur in wirklich überzeugenden Fällen von der Möglichkeit der Derogation Gebrauch machen würde. 28 Damit liegt Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 17 f. Zu Recht weist Jaconelli, The European Convention on Human Rights - The Text of a British Bill of Rights? in: PL 1976, S. 226 ff. (237) allerdings darauf hin, daß eine entsprechende Klausel mit der EMRK unvereinbar wäre, weil in Art. 15 Abs. 1 eine Abweichung von den in der EMRK niedergelegten Grundrechten nur im Kriegsfalle oder bei anderen Notständen erlaubt wird. 28 Wade (Anm. 24), S. 71; Smythe, Case for a New Bill of Rights, in: Solicitor's J. 120 (1976), S. 324 ff. (325). Manche Kommentatoren meinen sogar, daß wegen der mit 26

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§ 17 Die sog. Kleine Lösung

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dieses Verfahren übrigens genau auf der Linie der auch sonst von den Briten favorisierten politischen (im Gegensatz zu rechtlichen) Kontrollen; auch bei diesem Verfahren bleibt das Parlament ja rechtlich frei, jedes ihm genehme Gesetz zu verabschieden, wird aber durch die Herstellung einer einem solchen Ziel im Zweifel kritisch gegenüber stehenden Öffentlichkeit politisch hieran gehindert. Gleichzeitig würde so auch der erzieherische Wert von Grundrechtskatalogen zum Tragen kommen. 29 Zwangsläufig wäre das Parlament und vor allem auch die Regierung gezwungen, jedes Gesetzesvorhaben sorgfaltig mit der Bill ofRights zu vergleichen, um eventuelle Widersprüche zwischen beiden aufzudekken, die eine Derogation des Grundrechtskatalogs notwendig machen würden. Diese Feststellung weist im übrigen auf den vielleicht wichtigsten Vorteil hin, den das Verbot impliziter Derogation entstehen lassen würde: einer so geschützten Bill of Rights wäre ein gewisser Bestandsschutz verschafft, den andere statutes nicht für sich beanspruchen könnten. Sofern einer solchen Anordnung tatsächlich verfassungsrechtlich Achtung verschafft werden könnte - dies wird im nächsten Abschnitt noch zu prüfen sein - , müßte auch jedes nachfolgende Gesetz ohne Derogationsanweisung gegenüber der Bill of Rights weichen. Das wiederum würde bedeuten, daß vorsorglichjedes anzuwendende Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit der Bill of Rights geprüft werden müßte, weil jede Unvereinbarkeit die Unwirksamkeit des entsprechenden Gesetzes zur Folge hätte. Eine nach diesem System ausgelegte Bill of Rights würde folglich nicht nur subsidiär als Aushilfe bei Mehrdeutigkeit greifen, sondern generell bei jeder Rechtsanwendung. Die Bill of Rights wäre nicht mehr nur Interpretationsregel, sondern auch gegenüber nachfolgendem Recht in einen herausragenden Stand gehoben. Weitaus mehr würden hier folglich wichtige Befugnisse auf die Gerichte übertragen werden, denn diesen stünde in letzter Instanz die Entscheidung darüber zu, ob ein vom Parlament ohne Derogationsanordnung verabschiedetes Gesetz mit der Bill of Rights vereinbar ist. Anders als in der Ausgestaltung als reine Interpretationsregel würden den Gerichten auf diesem Wege auch Möglichkeiten für eine echte Grundrechtsinnovation an die Hand gegeben werden. Dann aber würden auch im Vereinigten Königreich all jene Konsequenzen eintreten, die auch schon bei Staaten mit formeller Verfassung zur Entwicklung justizieller Grundrechtsinnovation geführt haben. 30

einem solchen Schritt einhergehenden unerfreulichen Auswirkungen auf die öffentliche Meinung überhaupt nie mit einer Derogation der Bill of Rights zu rechnen sei. - Andere Autoren sind dagegen sehr viel skeptischer und glauben, daß eine entschlossene Parlamentsmehrheit rasch ihre Hemmungen verlieren würde, so etwa Lord Hailsham, in: The Times, 15.10.1976, S.4. 29 So Zander, Bill of Rights, S. 40 f. 30 Zu negativ ist deswegen das Urteil bei Geisseler, Reformbestrebungen, S. 96, die apodiktisch feststellt: ,,Es ist nicht zu übersehen, daß solche Regelung keine nennenswerte rechtliche Veränderung gegenüber dem bisherigen System bedeuten würde."

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

Allerdings: auch so bliebe das britische Parlament frei, jedes von ihm für zweckmäßig erachtete Gesetz zu verwirklichen - mehr noch: ganz wie bisher bedürfte es dazu nie mehr als der einfachen Mehrheit seiner Mitglieder. Das deutet daraufhin, daß die Verstärkung des Verfassungs staates so nicht zu bewerkstelligen ist. Immerhin wäre ein wesentliches Stück Weg zu diesem Ziel damit sicherlich getan. Wie weit die damit einhergehenden Auswirkungen sind, hängt von zweierlei ab. Zum einen kommt der Rechtsprechung auch hier wieder eine Schlüsselrolle zu. Denn nur wenn die Gerichte den Vorschriften der Bill of Rights eine möglichst großzügige Ausdeutung geben, wird der Grundrechtskatalog für das Parlament ausreichend Anlaß sein, von freiheitsgefährdenden Vorhaben Abstand zu nehmen; andernfalls wird das Parlament dementsprechend häufiger riskieren können, ein Gesetzesvorhaben auch ohne Derogationsanordnung in die Tat umzusetzen. Zum anderen ist hier auf eine Gefahr aufmerksam zu machen, die in ähnlicher Form in der Endphase der Weimarer Republik zu beobachten war. 31 Denn der politische Abschreckungseffekt, auf dem die Wirkung einer solchen Bill ofRights entscheidend beruhen würde, kann sich auch abnutzen, sollten Derogationsanordnungen routinemäßig, sozusagen auf Verdacht in großer Zahl in Gesetze aufgenommen werden, um so einer richterlichen Überprüfung von vorneherein vorzubeugen. Anders als in der Weimarer Republik, wo die Verfassungsdurchbrechung - ebenso wie die Verfassungsänderung - einer qualifizierten Mehrheit bedurfte,32 stünde der Herausbildung einer entsprechenden Praxis im Vereinigten Königreich dieses Hindernis nicht im Wege, da dort auch für die Einfügung der Derogationsanordnung eine einfache Mehrheit genügen würde, also auch keine Einbeziehung der parlamentarischen Opposition notwendig wäre. Daher wäre die Versuchung für die Mehrheit, durch pauschale Verwendung der Derogationsanordnung jedem Zweifel über die Gültigkeit des Gesetzes zuvorzukommen, 33 sehr viel größer. Hieran wird deutlich, daß auch das Parlament in die Pflicht genommen werden müßte, um einer entsprechenden Bill of Rights durchschlagende Wirkkraft zu sichern. 31 Gemeint ist hier die in der Weimarer Republik unter dem Stichwort "Verfassungsdurchbrechung" bekannte Praxis: ohne den Verfassungstext selbst zu ändern, wurden einzelne Gesetze nach den Vorschriften über die Verfassungsänderung verabschiedet, um diese so gegenüber dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit zu schützen; siehe hierzu Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Grundgesetz, Art. 79, Rz. 1. In der Bundesrepublik ist dergleichen durch Art. 79 Abs. 1 GG in der Regel ausgeschlossen. 32 Siehe Art. 76 der Weimarer Reichsverfassung. 33 Dazu Jaconelli, Bill of Rights, S. 284 f. Wichtig in diesem Zusammenhang wäre auch, ob die Derogationsanordnung sich nur jeweils auf einzelne vom Anwendungsbereich der Bill ofRights ausgenommene Vorschriften beziehen würde oder aber auf ganze Gesetze; ferner, ob die Bill of Rights in ihrer Gesamtheit für nicht anwendbar erklärt würde oder nur jeweils einzeln genannte Vorschriften derselben. Für die Wirksamkeit des Grundrechtskataloges besser wäre es, die Derogationsanordnung möglichst eng zu umgrenzen und zwar in Hinsicht auf sowohl die nicht anzuwendenden Vorschriften der Bill of Rights als auch die von der Bill of Rights ausgenommenen Vorschriften.

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2. Die Kleine Lösung und die Parlamentssouveränität a) Die Interpretationsregel

Die Niederlegung einer Interpretationsregel - auch durch Gesetz - macht aus der Sicht der Parlamentssouveränität keine Probleme. Insoweit handelt es sich ja um ein rechtstechnisches Instrument, das dem englischen Recht bereits bestens bekannt ist und in verschiedener Form allgemein Anwendung findet, ohne daß jemals eine Problematisierung dieser Praxis aus dem Blickwinkel der Parlaments souveränität erfolgt wäre. Allein eine solche Rechtsübung, auch wenn diese gänzlich außer Streit steht, vermag indes eine entsprechende dogmatische Begründung nicht zu ersetzen. Auch diese ist hier aber unschwer beizubringen. Eine Interpretationsregel greift nur, um eine zuvor festgestellte Mehrdeutigkeit zu beseitigen, die unter Zuhilfenahme allein der dem Gesetz zu entnehmenden Aussagegehalte nicht auflösbar ist und daher den Rückgriff auf die unausgesprochen bleibenden Prämissen erfordert, die das Parlament als Ausfluß seines Selbstverständnisses all seiner Tätigkeit zu Grunde legt. Insofern ist das Mittel der Interpretationsregel sogar der einzige Weg, um auch noch im Falle undeutlicher Gesetzesformulierungen durch die Instrumentalisierung der verfassungspolitischen Prämissen ein Ergebnis zu gewinnen, das sich allein an den Intentionen des Parlaments orientiert und damit verhindert, eine Entscheidung anband richterlich gewonnener Wertentscheidungen vorzunehmen, was die einzig sonst verbleibende Möglichkeit wäre. Wird eine entsprechende Interpretationsregel sogar durch Gesetz niedergelegt, wie dies bei einer Bill of Rights der Fall wäre, so wird noch zusätzlich unterstrichen, daß es hier allein um die Implementierung des parlamentarischen Willens, nicht um die Durchsetzung von metagesetzlichen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gerichte geht. Die Suprematie des Parlaments und seiner Rechtsakte wird durch das Instrument der Interpretationsregel also geradezu verwirklicht. Andererseits kann jedes Parlament das Eingreifen der Regel durch den Gebrauch einer entsprechend deutlichen Sprache verhindern oder die Regel für ein bestimmtes Gesetz zur Gänze außer Kraft setzen. Ebenso steht es im Belieben des Parlaments, durch Gesetz die Regel überhaupt aus der Bill of Rights zu entfernen. Die nachfolgenden Parlamente bleiben also ganz frei, so wie es die Parlamentssouveränität verlangt. 34 b) Der Ausschluß impliziter Derogation

Schwieriger gestalten sich die Verhältnisse, sofern bei Verabschiedung katalogwidriger statutes dem Parlament aufgegeben werden sollte, die Bill of Rights insoweit ausdrücklich außer Kraft zu setzen. Das vom House of Lords seinerzeit 34 So Samuels, Arguments for a Bill of Rights in the UK, in: Andrews, Criminal Procedure, S. 417 ff. (421).

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eingesetzte Select Committee stellte sich auf den Standpunkt, daß diese Vorgehensweise mit der Parlamentssouveränität nicht in Einklang zu bringen sei,35 eine Ansicht, der in der Literatur allerdings nur zu Teilen gefolgt wird 36. Problematisch ist bei dieser Variante, inwieweit hier nachfolgenden Parlamenten die ihnen nach der Parlamentssouveränität zukommende Freiheit belassen wird. Der Ausschuß des Oberhauses meinte dies deswegen verneinen zu müssen, weil durch das Verbot impliziter Derogation späteren Parlamenten unzulässige Fesseln angelegt würden. Nach Ansicht des Ausschusses darf auch sec. 2 (4) des European Communities Act von 1972, an den man hier in der Tat sofort denken wird, nicht so verstanden werden, daß er einen Vorrang europäischen Rechts auch gegenüber späterem britischen Recht schaffe. 37 Es wurde schon gezeigt, daß das dazu vorliegende case law dieser Ansicht nicht gefolgt ist und einen Vorrang britischer Gesetze nur dann gelten läßt, wenn diesem der Anspruch entnommen werden kann, auch gegen Europarecht gelten zu wollen. 38 Zwischen dieser Auslegung von sec. 2 (4) und dem im Rahmen einer Bill of Rights ins Auge gefaßten Verfahren besteht allerdings ein Unterschied. Im Falle der sec. 2 (4) genügt auch der nur implizit beanspruchte Vorrang, um europäisches Recht zu verdrängen, während die Bill of Rights nur dann zu weichen hätte, wenn dies ausdrücklich angeordnet worden wäre. Insofern wird hier also über sec. 2 (4) des European Communities Act, jedenfalls über dessen Interpretation durch die Rechtsprechung hinausgegangen. Läßt sich eine Begrenzung nur auf ausdrücklich angeordnete Derogation mit der Parlamentssouveränität vereinbaren? Zunächst einmal gilt auch hier, daß die entsprechende in die Bill of Rights selbst aufzunehmende Regel nach den üblichen Regeln über das Gesetzgebungsverfahren aus dem Grundrechtskatalog ohne weiteres wieder entfernt werden könnte; insofern ergibt sich keinesfalls ein Konflikt mit der Parlamentssouveränität. 39 Andererseits führt auch nichts an der Konsequenz vorbei, daß ohne eine solche Aufhebung der spätere Gesetzgeber gezwungen wäre - und zwar gegebenenfalls auch gegen seinen Willen -, bei katalogwidrigen Gesetzesvorhaben so zu verfahren, wie ihm dies ein früheres Parlament vorgeschrieben hätte. Diese Feststellung scheint allerdings in der gleichen Weise 35 Report 0/ the Select Committee on a Bill 0/ Rights, §§ 17 ff. 36 Siehe unten Anm. 39. 37 Der Ausschuß differenzierte hier allerdings nicht zwischen solchen späteren Geset-

zen, die ausdrücklich gegenüber Europarecht Geltung beanspruchen und solchen, die nur einen impliziten Widerspruch enthalten, Report 0/ the Select Committee on a Bill 0/ Rights, § 19. 38 Siehe oben § 7 Ziffer 2. 39 Aus diesem Grunde halten Bruton, The Canadian Bill of Rights: Some American Observations, in: McGill L. J. 8 (1961), S. 106 ff. (113) und Cavalluzzo, Judicial Review and the Bill of Rights, in: Osgood Hall L. J. 9 (1971), S. 511 ff. (517) den Ausschluß impliziter Derogation für unbedenklich. Ähnlich Auburn, Trends in Comparative Constitutional Law, in: MLR 35 (1972), S. 129 ff. (132 ff.); Jaconelli, Bill ofRights, S. 283 ff., der auf dieses Problem freilich nicht weiter eingeht.

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auf die schon abgehandelte Interpretationsregel zuzutreffen, deren Existenz ja ebenfalls nicht ohne Einfluß auf zukünftige Parlamente bleiben würde und schließlich ohne eine solche Einflußnahme auch gänzlich sinnlos wäre. Will das Parlament verhindern, daß die Interpretationsregel in einer seine Absichten verfälschenden Weise eingreift, so muß das Parlament hiergegen durch entsprechend deutliche Formulierungen Vorkehrung treffen. Wenn diese ja durchaus gewollte Einwirkung auf spätere Parlamente aber bei der Interpretationsregel keine verfassungsrechtlichen Bedenken auslöst, warum dann hier? Der Unterschied zwischen beidem liegt darin, daß das Parlament durch die Interpretationsregel zu nichts gezwungen wird, was es nicht auch ohne Interpretationsregel tun müßte. Ganz unabhängig davon, wie und in welchem Sinne man gesetzgeberische Unklarheiten, WiderspTÜchlichkeiten oder Ungenauigkeiten ausräumt, wird das Parlament nach dem Motto, Prophylaxe ist besser als Medizin, sich stets bemühen, interpretationsbedürftige Mehrdeutigkeiten gar nicht erst entstehen zu lassen, weil es sonst nicht damit rechnen kann, so von den Gerichten und den Bürgern verstanden zu werden, wie es dies wünscht. Petersmann 40 hat in einer bestechend klaren These, deren Konsequenzen später

noch nachzugehen sein wird,41 herausgestellt, daß die Parlaments souveränität in ihrem zentralen Kern nichts anderes als die lex posterior-Regel beinhalte. Diesem Satz komme im Vereinigten Königreich nur wegen der Abwesenheit einer geschriebenen Verfassung besondere Bedeutung zu, weil das Parlament mangels formellen Verfassungsrechts sämtliche staatlichen Kompetenzen in sich vereine, folglich die lex posterior-Regel, die sich auch bei den kontinentaleuropäischen Schwestern des britischen Parlaments auf alle innerhalb der Kompetenz der Volksvertretung stehenden Willensäußerungen beziehe, notwendig überhaupt alle Rechtssätze umfasse. Dieses Verständnis der Parlamentssouveränität einmal unterstellt, wird sofort deutlich, warum Interpretationsregeln mit der Parlaments souveränität vereinbar sind, das Verbot impliziter Derogation aber nicht. Die lex posterior-Regel ermöglicht die jederzeitige und vollständige Aktualisierung der einem Organ zugewiesenen Kompetenzen;42 da sich deren Ausübung in den Bahnen der menschlichen Sprachen vollziehen muß, sind Regeln über das richtige Verständnis von Sprache nicht Begrenzungen dieser Kompetenzen, sondern die Bedingung ihrer Ausübung, gleichzeitig aber auch deren Grenze, jenseits derer die Absicht, durch Systematisierung einen rationellen Gebrauch dieser Kompetenzen überhaupt erst zu ermöglichen, umschlägt in die verfassungswidrige Eingrenzung dieser Kompetenzen. Das Ziel der Interpretationsregel ist es, den Gesetzgeber zu veranlassen, durch einen klaren Gebrauch von Sprache seine Intentionen, gegebenenfalls auch seine freiheitsfeindlichen Intentionen klar auszudrücken. Das Verbot impliziter Derogation geht über dieses Erfordernis eines deutlichen Souveränität des britischen Parlaments, S. 275 ff. 41 Siehe unten § 18 Ziffer 3 a) ce). 42 Wade I Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 70 f. 40

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Sprachgebrauchs hinaus, weil auch noch dasjenige Gesetz, das zwingend eine Rechtsfolge vorschreibt, mit einem Bezug auf die insoweit aufgehobene Bill of Rights versehen werden müßte. Die Parlamentssouveränität verbietet einen solchen herausgehobenen Bestandsschutz. 43 Andererseits zeigt die mit Macarthy v. Smith 44 dem European Communities Act gegebene Auslegung, daß unter bestimmten Voraussetzungen die britischen Gerichte eben doch bereit sind, dem Ausschluß impliziter Derogation ihren Segen zu erteilen. Denn in der Sache ist die bei der Entscheidung jenes Falles zur Anwendung gelangte Überlegung nichts anderes: 45 nur der ausdrücklich gegen das europäische Recht sich aussprechende Wille des Parlaments vermag über dieses Recht den Sieg davonzutragen, ein lediglich textueller Widerspruch kann es nicht außer Kraft setzen. 46 Macarthy steht daher ohne Zweifel im Widerspruch zur Parlaments souveränität. 47 Wie das möglich ist, wird später geklärt werden. Für eine Bill of Rights bleibt es dabei, daß der Ausschluß impliziter Derogation nur gegen, nicht mit der Parlaments souveränität in ihrer jetzt bestehenden Form zu verwirklichen ist. Inwieweit die britische Verfassung Wege hierzu bietet, soll in § 19 untersucht werden.

3. Die Kleine Lösung vor den Gerichten: Die Erfahrungen mit der Canadian Bill of Rights von 1960 Die vorstehenden Erörterungen haben klar gemacht, daß in jedem Fall den Gerichten eine überragende Rolle zukommen wird, wenn es darum gehen soll, einer wie immer gearteten Bill of Rights Wirklichkeit im alltäglichen Rechtsleben zu geben. Ob die britischen Richter sich dieser Aufgabe mit dem wünschenswerten Eifer annehmen würden, kann mit letzter Sicherheit nur ein Versuch zeigen, der aber die Verabschiedung eines solchen Grundrechtskataloges voraussetzen würde. Solange ein solcher Schritt noch nicht getan ist, muß man anderswo nach entsprechendem Anschauungsmaterial suchen. Hier bietet sich vor allem Kanada an, das als ehemalige Kolonie des Vereinigten Königreichs mancherlei Ähnlichkeiten mit seinem Mutterland verbindet, und das mit der Canadian Bill 0/ Rights von 1960 einen Versuch zur Einführung eines legislativen Grundrechtsschutzes gemacht hat. Der dazu ergangenen RechtspreAnders allein Auburn (Anm. 39), S. 139. Siehe Näheres zu diesem Fall oben § 7 Ziffer 2, Anm. 194. 45 So insbesondere die These von Allan, Parliamentary Sovereignty, in: Oxford J. Legal Studies 3 (1983), S. 22 ff. (24 f., 26 ff.). 46 So ausdrücklich Lord Denning, siehe das Zitat oben § 7 Ziffer 2, Anm. 198. 47 Allan (Anm. 45), S. 28 ff. meint daher auch, mit Macarthy sei ein möglicher erster Schritt zu einer sukzessiven Einschränkung der Parlamentssouveränität getan worden, der bei Fortsetzung zu einer Herausbildung echten fonnellen Verfassungsrechts führen könne. 43

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chung insbesondere des Supreme Court of Canada, aber auch anderer Obergerichte und die daran ablesbare Rezeption der kanadischen Bill 0/ Rights im kanadischen Rechtsleben soll daher im folgenden etwas ausführlicher nachgegangen werden. a) Der Grundrechtsschutz in Kanada vor 1960

Kanada hat eine eigentümliche Verfassungsentwicklung genommen, als deren Ergebnis dem Land in vielerlei Hinsicht ein ambivalenter Mittelplatz zwischen britischer und kontinentaleuropäischer Verfassungstradition zukommt. 48 Das muß überraschen, denn das Prinzip der Parlamentssouveränität als zentraler Norm der britischen Verfassung sollte· eigentlich - so möchte man meinen - keinen Komprorniß zulassen. Entweder souverän und dann ganz oder aber gar nicht, eine nur teilweise Souveränität scheint logischer Nonsens, eine klassische contradicto in adjecto zu sein. Daß dem offenbar nicht so sein muß, zeigt Kanada, wo sich für die grundsätzlich auch dort geltende Parlamentssouveränität gleich aus mehreren Gesichtspunkten Beschränkungen ergeben, ein Umstand, der eigentlich einem umfassenden Grundrechtsschutz auch vor dem Gesetzgeber zu Gute kommen müßte. Kanadas Weg zur Unabhängigkeit vollzog sich nicht in einem einzigen Wurf, sondern über eine Reihe von Stationen in einem stetigen Prozeß, der erst 1982 mit der Verabschiedung des (britischen) Canada Act von 1982 49 seinen Abschluß gefunden hat. Als neue politische Einheit konstituiert 50 wurde das Dominion of Canada durch den ebenfalls vom britischen Parlament verabschiedeten British NorthAmerica Act von 1867 51 , mit dem dem neuen Staatswesen eine bundesstaatliche Verfassung des parlamentarischen Typs mit zwei Kammern, einer dem Parlament gegenüber verantwortlichen Regierung und einem Governor General als Vertreter des britischen Königs gegeben wurde. Die damit geschaffene staatliche Ordnung verstand sich naturgemäß als Imitation des britischen Vorbildes. Die Verfassung des Mutterlandes wurde in der Präambel des BNAA auch ausdrücklich zum normativ verpflichtenden Leitbild erhoben, wenn es dort heißt, daß das neue Kanada eine Verfassung erhalten solle " ... similar in Principle to that of the United Kingdom ..."; allein diese knappe Passage gilt als Grundlage für die Geltung der im übrigen nirgendwo im BNAA ausdrücklich erwähnten 48 So Fowler, The Canadian Bill of Rights - A Compromise Between Parliamentary and Judicial Supremacy, in: AJCL 21 (1973), S. 712 ff. (713); Bruton (Anm. 39), S. 106 ff.; Cavalluzzo (Anm. 39), S. 512 f. 49 1982, c. 11. 50 Ein "Canada" gab es auch vorher schon; es war entstanden im Jahre 1830 in Folge der Zusammenlegung des englisch-sprachigen Upper Canada (heute die Provinz Ontario) und des französisch-sprachigen Lower Canada (heute die Provinz Quebec) und war nur eine britische Kolonie in Nordamerika neben anderen. 51 30 & 31 Victoria, c. 3; im folgenden abgekürzt: BNAA.

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Parlamentssouveränität. 52 Als britisches Gesetz war der BNAA selbst allerdings dem Zugriff des kanadischen Parlaments entzogen und hatte insofern aus kanadischer Sicht die Qualität echten formellen Verfassungsrechts. 53 Überdies war im (britischen) Colonial Laws Validity Act von 1867 54 bestimmt worden, daß die von den Parlamenten der sich selbst verwaltenden Kolonien erlassenen Gesetze bei Widerspruch britischem Recht zu weichen hatten, ein Zustand, der erst 1931 durch das Statute ofWestminster 55 beseitigt wurde. Insofern waren dem Parlament des neuen Staates als Folge des nur langsam abgelegten Status als ehemaliger britischer Kolonie gleich zwei Beschränkungen seiner Souveränität in die Wiege gelegt. Während diese beiden Schranken allerdings mittlerweile gefallen sind, hat eine andere unverminderte Bedeutung. Denn Kanada ist ein Bundesstaat (wie merkwürdigerweise übrigens viele ehemalige britische Kolonien); folglich wurden in sec. 91 ff. BNAA die legislativen Kompetenzen zwischen dem Bundesparlament und den Gliedstaaten (den Provinzen) verteilt mit der Folge, daß ein Gesetz, welches ohne Gesetzgebungskompetenz durch das Bundesparlament verabschiedet wird, verfassungswidrig ist. 56 Anders als in vielen anderen Bundesstaaten sind die politischen Gegebenheiten, welche die ursprüngliche Entscheidung für einen Bundesstaat und damit gegen einen Zentralstaat in der Art des britischen Mutterlandes bedingten, im heutigen Kanada nicht weniger gegenwärtig als zur Zeit der Staatsgründung. 57 Die von den Gerichten, an deren Spitze vom Supreme Court of Canada wahrgenommene Kompetenz 58 zur judiziellen Kontrolle des 52 Zum einschlägigen case law, siehe Beaudoin, La cour supreme et la protection des droits fondamentaux, in: revue du barreau canadien 53 (1975), S. 675 ff. (677, Anm. 11 und 12). 53 MacKinnon, Booze, Religion, Indians and the Canadian Bill of Rights, in: PL 1973, S. 295 ff. (298 f.). 54 28 & 29 Victoria, c. 63. 55 22 Geo 5, c. 4. 56 Allerdings enthält der BNAA keine Vorschrift, welche den Gerichten eine solche Verwerfungskompetenz ausdrücklich zuweist. Sie hat sich vielmehr historisch ergeben insbesondere als Folge des Colonial Laws Validity Act, auf der Grundlage dessen die Gerichte die Gesetze der kolonialen Parlamente an denen des britischen Mutterlandes zu messen und gegebenenfalls zu verwerfen waren; von daher war den kanadischen Richtern das Institut der Normenkontrolle von jeher vertraut; hierzu siehe Cavalluzzo (Anm. 39), S. 516. 57 Zu dem alten Gegensatz zwischen den beiden sog ...founding nations", dem englischen und französischen Bevölkerungsteil also, sind neue Spannungen und Divergenzen hinzugetreten, so etwa zwischem dem alten Osten und dem neuen Westen des Landes. hn übrigen haben allein schon die gewaltigen, zu überwiegenden Teilen nur spärlich besiedelten Ausmaße des Landes, die in Ost-West-Richtung (im Gegensatz zu den Verbindungen nach Süden zum amerikanischen Nachbarn) im Grunde nach wie vor nur schlecht miteinander verknüpft sind, verhindert, daß sich eine übergreifende Identität als Voraussetzung für eine zentralstaatliche Verfassung herausbilden konnte. Auch heute ließe sich Kanada daher kaum anders denn als Bundesstaat regieren. 58 Dazu im einzelnen Doeker, Parlamentarische Bundesstaaten, S. 39 ff. (bes. 42 ff.).

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rechten Gebrauchs der den beiden staatlichen Handlungsebenen im BNAA zugewiesenen Zuständigkeiten hat daher ihre große politische Bedeutung ungebrochen beibehalten. Der BNAA enthält, wie nicht anders zu erwarten, keinerlei Grundrechte. 59 In einer britischen Vorstellungen dieser Zeit genau entsprechenden Weise fehlte es allerdings auch in Kanada nicht an recht selbstbewußten Äußerungen über die (vermeintlich oder tatsächlich) hohe Qualität der von den Bürgern genossenen Grundrechtspraxis, 60 wobei man sich auf die gleichen verfahrensmäßigen Sicherungen glaubte verlassen zu können wie auch die Engländer schon 61 • Sehr viel früher als im Vereinigten Königreich wurde diese stolze Überzeugung durch eine Reihe von Vorkommnissen spätestens seit dem 2. Weltkrieg erschüttert. 62 In der Rechtsprechung wurden in Reaktion auf die damit einhergehende Verunsicherung mehrere Strategien entworfen, um ein Mittel gegen menschenrechtswidrige Eingriffe des (glied- und bundesstaatlichen) Gesetzgebers in die Hand zu bekommen. Mindestens drei Ansätze lassen sich unterscheiden. Einmal wurde versucht, die schon erwähnte Homogenitätsklausel in der Präambel des BNAA, die die Verfassung des Vereinigten Königreichs für Kanada zum verbindlichen Muster macht, nicht nur als Eingangstor für die Parlamentssouveränität zu nutzen, sondern in gleicher Manier grundlegende im britischen statute und common law enthaltene Freiheitsverbürgungen auch für Kanada verbindlich zu machen (die Lehre von der sog. "implied bill of rights"). Diese Vorgehensweise hätte den 59 Einige Vorschriften über die Aufrechterhaltung der Konfessionsschulen (siehe sec. 93 BNAA) und über den Gebrauch der beiden Amtssprachen (Englisch und Französisch, siehe sec. 133 BNAA) seien dabei außer acht gelassen. Zur historischen Entwicklung des Grundrechtsschutzes in den kanadischen Provinzen, siehe Cheffins / Tucker, Provincial Constitutions and Civil Liberties, in: Macdonald / Humphrey, The Practice of Freedom, S. 39 ff. (40 ff.); Tarnopolsky, Administration and Enforcement of Human Rights Legislation in Canada, in: Can. Bar Rev. 46 (1968), S. 565 ff. (567 ff.). - Zum Stand der völkerrechtlichen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes, siehe Leavy, The Structure of the Law of Human Rights, in: Macdonald / Humphrey, The Practice of Freedom, S. 53 ff. (67 -69); interessant in diesem Zusammenhang sind Überlegungen über einen möglichen Beitritt Kanadas zur EMRK, siehe a. a. O. 60 Siehe etwa folgende Äußerung aus dem Jahre 1872 von lustice Tascherau, einem Mitglied des Supreme Court of Canada: "We have borrowed from England, institutions which, as regards civil and religious liberty, leave to Canadians nothing to envy in other countries." Brassard v. Langevin (1877) 1 SCR 145 auf S. 195. 61 Siehe Hogg, Constitutional Law of Canada, S. 418 f. 62 Schmeiser, Civil Liberties in Canada, S. 3 f., etwa nennt die recht rabiaten Methoden, mit denen in British Columbia die religiöse Gemeinschaft der "Sons of Freedom" und in Quebec die Zeugen Jehovas nach dem 2. Weltkrieg bekämpft wurden; Fowler (Anm. 48), S. 717 erwähnt als Gründe für das wachsende Interesse an menschenrechtlichen Fragestellungen den umstittenen War Measures Act und die während des 2. Weltkrieges den Kanadiern japanischer Herkunft zuteilgewordene, in hohem Maße diskriminierende Behandlung; Tarnopolsky (Anm. 59), S. 566 f. nennt in diesem Zusammenhang auch den minderen Rechtsstatus der eingeborenen Bevölkerung Kanadas, der Eskimos und Indianer. Allgemein hierzu Cohen, Human Rights: Programme or Catchall? A Canadian Rationale, in: Can. Bar Rev. 46 (1968), S. 554 ff. (554 ff.).

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Vorzug gehabt, die betreffenden Nonnen pauschal in den Genuß der (aus kanadischer Sicht) erhöhten Bestandskraft des BNAA gelangen zu lassen und damit einen allerdings höchst unscharf umrissenen Fundus fonnell-verfassungsrechtlicher Grundrechte herbeizuzaubern. Dieser Argumentationslinie wurde jedoch der wohl unangreifbare Einwand entgegengehalten, daß man auf diesem Wege der (kanadischen) Parlamentssouveränität den Garaus machen würde und damit ein Ergebnis herbeigeführt hätte, das gewißlich nicht der britischen Verfassung entspräche. 63 Ein zweiter Ansatz - vielfach auch nur als Variante des eben geschilderten behandelt - wollte bestimmte, zumeist politische Grundrechte als stillschweigend vorausgesetzte Prämissen aus dem durch den BNAA entworfenen Staatsorganisationsrecht herleiten. 64 In einer dritten Vorgehensweise schließlich wurden in einer Reihe von Gerichtsentscheidungen die Vorschriften des BNAA über die bundesstaatliche Zuständigkeitsverteilung 6S instrumentalisiert und unter dem Gesichtspunkt des Freiheitsschutzes bedenkliche Gesetze allerdings immer nur der Provinzen für ultra vires und somit verfassungswidrig erklärt. 66 Dabei spielten die den Provinzen in sec. 92 (13) und sec. 92 (16) BNAA gewährten Kompetenzen zur Regelung einmal der "Property and Civil Rights in the Province"67, zum Hogg, Constitutional Law in Canada, S. 430. Ein typisches Beispiel für diese Denkschule findet sich in Re Alberta Statutes [1938] SCR 100, auf S. 133, wo der öffentliche Meinungskampf (right ofpublic debate) als ein durch die parlamentarische Demokratie vorausgesetztes Recht defmiert und damit der Disposition des Gesetzgebers entzogen wird; ähnlich auch Saumur v. City ojQuebec [1953] 2 SCR 299, bes. S.329 = (1953) 4 DLR 64 und Switzman v. Elb/ing [1957] SCR 285, auf S. 328. Dazu Rand, Some Aspects of Canadian Constitutionalism, in: Can. Bar Rev. 38 (1960), S. 135 ff. (152 ff.). - Ein im Grunde noch wieder anderer Ansatz, mit der implied bill of rights-Lehre aber wohl nahe verwandt, erinnert daran, daß Grundrechte letztlich naturrechtlich begründet und somit überhaupt jedem Gesetzgeber entzogen seien; so Casey J. in Chabot v. School Commissioners oj Lamorandire (1958) 12 DLR (2d) 796 bes. auf S. 807. Dieser Ansatz blieb aber nur Episode, dazu Weber, Grundrechtsschutz in Kanada: Ungeschriebene Grundrechte und die kanadische Bill of Rights, in: ZaöRV 40 (1980), S. 727 ff. (738 f.) und McWhinney, The New Canadian Bill of Rights, in: AJCL 10 (1961), S. 87 ff. 65 Für eine nähere Analyse dieser Kompetenzen im Bereich des Grundrechtsschutzes, siehe Laskin, An Inquiry into the Diefenbaker Bill of Rights, in: Can. Bar Rev. 37 (1959), S. 77 ff. (104 ff.). 66 Zu den in diesem Zusammenhang immer wieder zitierten Fällen gehören Saumur v. City ofQuebec (1953) 4 DLR 641; Switzman v. Elb/ing [1957] SCR 285 (zu dieser Entscheidung siehe die Anmerkungen bei Brewin, in: Can. Bar Rev. 35 [1957], S. 554 ff.). Es gibt auch noch sehr viel ältere Entscheidungen, wo aus Gründen der bundes staatlichen Kompetenzverteilung, Gesetze der Provinzen kassiert wurden und damit grundrechtlich bedenkliche Eingriffe des Gesetzgebers abgewehrt werden konnten; siehe zum Beispiel Union Colliery Co. of British Columbia v. Bryden [1899] AC 580, wo es um ein Gesetz der Provinz British Columbia ging, das chinesischen Einwanderern verbot, in den Kohlegruben der Provinz zu arbeiten. Bei diesen Fällen fehlte es aber an jeder grundrechtsschützenden Absicht, die entsprechenden Wirkungen traten somit nur beiläufig ein; zu diesem älteren case law, siehe Beaudoin (Anm. 52), S. 682 ff. 67 "Civil Right" ist hier übrigens nicht im Sinne von ,,Bürgerrecht" zu verstehen; die Bedeutung dieses Begriffs ergibt sich vielmehr aus dem in der Provinz Quebec fortgelten63

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anderen "Generally all Matters of a merely local or private Nature in the Province", auf der anderen Seite die dem Bundesparlament in sec. 91 BNAA zugewiesene Befugnis "to make Laws for the Peace, Order and good Govemment of Canada" eine wichtige Rolle. Den Feinheiten und Verästelungen dieser verschiedenen Ansatzpunkte, die in der Judikatur sich häufig überschneiden, ohne klar voneinander getrennt zu werden, sei hier nicht weiter nachgegangen. 68 Auch ohne nähere Analyse des einschlägigen case law kann man dieser Spruchpraxis entnehmen, daß bei einem entsprechenden Willen die kanadische Verfassung durchaus Ansätze für einen richterlichen Grundrechtsschutz auch gegen die Legislative bietet. Da andererseits kompetenzverteilende Vorschriften an sich grundrechtsneutral sind, hat diese Vorgehensweise indes enge Grenzen. 69 Andererseits ist unbestritten, daß der BNAA, ohne einen Rest zu lassen, die Gesamtheit der der legislativen Gewalt überhaupt möglichen Kompetenzen zwischen den Parlamenten des Bundesstaates und der Gliedstaaten verteilt. 70 Mit ganz wenigen Ausnahmen, die sich auch wiederum aus dem BNAA ergeben, gibt es daher für die Gerichte keine Möglichkeit, einem freiheitsfeindlichen Eingriff eines Parlaments mit dem Argument entgegenzutreten, für einen solchen Schritt habe überhaupt keine Legislative die nötige Kompetenz. 71 Insoweit also wird der Parlamentssouveränität mit der aus ihr fließenden Allzuständigkeit des Parlaments in Kanada in vollem Umfange Rechnung getragen. b) Die Canadian Bill of Rights von 1960 Auch in Kanada zeigte das Prinzip der Parlamentssouveränität daher deutlich die schon aus dem Vereinigten Königreich bekannten, damit notwendig einhergehenden fatalen Konsequenzen in Hinsicht auf den Grundrechtsschutz auch gegen den alten französischen "civillaw"; gemeint ist also das Bürgerliche Recht; siehe hierzu Laskin (Anm. 65), S. 114 f.; ders., Canada's Bill ofRights, in: ICLQ 11 (1962), S. 519 ff. (520, Fn. 3); Beaudoin (Anm. 52), S. 678 f.; ebenso Rand J., Kellock J. und die Mehrheit des Supreme Court in Saumur v. City 0/ Quebec (1953) 4 DLR 641; anders dagegen die Richter Kerwin, Rinfret und Tascherau in der gleichen Entscheidung. 68 Dazu ausführlichst Laskin (Anm. 65), S. 113 ff. oder auch Beaudoin (Anm. 52), S. 685 -689. Auch anderen in der Rechtsprechung verwandten Wegen zum Grundrechtsschutz sei hier nicht näher nachgegangen, z. B. der Gebrauch der aus dem englischen Recht bekannten schon vorgestellten Interpretationsregeln; siehe hierzu Weber (Anm. 64), S. 742 f. und Tarnopolsky, The Canadian Bill ofRights from Diefenbaker to Drybones, in: McGill L. J. 17 (1971), S. 437 ff. mit Hinweisen auf das einschlägige case law. 69 Dazu Tarnopolsky (Anm. 68), S. 441 f. 70 Siehe hierzu Laskin (Anm. 65), S. 99 ff. 71 Woraus folgt, daß ,,[i]n the absence of a bill of rights, the issue is ,which jurisdiction should have power to work the injustice not whether the injustice should be prohibited completely. '" (siehe Hogg, Constitutional Law of Canada, S. 429). Verwiesen sei allerdings auf Versuche, die Grundrechte als naturrechtlich begründet überhaupt jedem Gesetzgeber zu entziehen, siehe dazu Anm. 64. 14 Koch

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den Gesetzgeber. 72 Zu ändern versprach sich diese Sachlage erst durch die 1960 vom kanadischen Bundesparlament verabschiedete Canadian Bill of Rights 73, die ein persönliches Anliegen des seinerzeitigen konservativen Premiers Diefenbaker war und deswegen auch als Diefenbaker-Bill of Rights bezeichnet wird. Ihrer Verabschiedung waren Diskussionen vorausgegangen, die inhaltlich die zum gleichen Thema in den letzten Jahren im Vereinigten Königreich geführte Debatte vorweggenommen haben 74 und weitgehend gleiche Streitstände aufwiesen. 75 Die kanadische Bill of Rights erging als normales Gesetz, vermag somit keinen formell-verfassungsrechtlichen Status zu beanspruchen 76 und kann folglich in Teilen oder auch komplett jederzeit durch einfache Mehrheit vom Parlament wieder abgeschafft werden. Als Bundesgesetz verpflichtet sie nur den Bund, nicht aber die Provinzen. 77 Leider läßt die Bill in Aufbau und Sprache die dem Gegenstand angemessene Klarheit vermissen. Nach einer Präambel enthält sie in sec. 1 und sec. 2 jeweils recht knapp formulierte Grundrechte, in sec. 2 vor allem Justizgrundrechte, in sec. 1 die sonstigen klassischen Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit. 78 Dabei bleibt das hinter dieser Auftei72 Zum materiellen Stand des kanadischen Grundrechtsschutzes am Vorabend der Bill 0/ Rights, siehe Laskin (Anm. 65), S. 82 ff. und die noch etwas ältere Darstellung bei Bowker, Protection of Civil Rights and Liberties, in: University of British Columbia Legal Notes 2 (1953), S. 281 ff. 73 Der volle Titel lautet ,,An Act for the Recognition and Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms", Statutes of Canada 1960, c. 44; abgedruckt in ICLQ 11 (1962), S. 534 ff. und in AJCL 10 (1961), S. 97 ff. - Zur Entstehungsgeschichte, siehe Laskin (Anm. 67), S. 525 ff.; McWhinney (Anm. 64), S. 87 ff. 74 So spielten auch in Kanada die entsprechenden völkerrechtlichen Entwicklungen, insbesondere im Bereich der Vereinten Nationen, eine große Rolle, siehe Weber (Anm. 64), S. 747; Cohen (Anm. 62), S. 554 f. und das Zitat bei Laskin (Anm. 65), S. 125, Fn. 189. 75 Siehe etwa Cavalluzzo (Anm. 39), S. 518 ff.; Ledermann, Nature and Problems of a Bill of Rights, in: Can. Bar Rev. 37 (1959), S. 4 ff. (11 ff.). Zusätzlich stellten sich in Kanada allerdings bundesstaatlich bedingte Probleme, dazu siehe etwa Laskin (Anm. 67), S. 524 ff. In der Lehre fand die Bill zunächst eine eher ungnädige Aufnahme, dies weitgehend aus den gleichen Gründen, die auch heute im Vereinigten Königreich gegen eine Bill of Rights angeführt wurden, siehe als Beispiel McWhinney (Anm. 64), S. 89, 94ff. 76 Dazu hätte es einer förmlichen Änderung des BNAA bedurft, siehe Ledermann (Anm. 75), S. 4. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus gelegentlichen Äußerungen, denen zufolge die Bill 0/ Rights ein "quasi-constitutional instrument" sei (so Laskin C. J. c., in Hogan v. The Queen [1975] 48 DLR [3d] 427); hier wird nur der materielle Rang der Bill charakterisiert, dazu H ovius, The Legacy of the Supreme Court of Canada' s Approach to the Canadian Bill of Rights: Prospects for the Charter, in: McGill L. J. 28 (1982), S. 31 ff. (45). 77 Dazu MacKinnon (Anm. 53), S. 300. 78 Wie nicht nur dem Vorspann in sec. 1 zu entnehmen ist (dazu gleich), orientieren sich die in der Bill formulierten Grundrechte inhaltlich stark, wenn auch nicht ausschließlich an dem bestehenden kanadischen und britischen common und statute law; problematische Bereiche - etwa der Eigentumsschutz - blieben ausgeklammert. Hier schlug sich

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lung stehende Prinzip etwas unklar. Sec. 1 wird eingeleitet mit der Feststellung, daß [i]t is hereby recognized and declared that in Canada there have existed and shall continue to exist ... the following human rights and fundamental freedoms ... was durchaus verschiedene Auslegungen über das Verhältnis der dort folgenden Grundrechte sowohl zu früherem wie auch zu späterem Recht zuläßt (dazu gleich). Sec. 2 setzt dagegen ganz anders an: Every law of Canada shall, unless it is expressly declared by an Act of Parliament of Canada that it shall operate notwithstanding the Canadian Bill of Rights, be so construed and applied as not to abrogate, abridge or infringe ... any of the rights or freedoms herein recognized and declared, and in particular, no law of Canada shall be construed or applied so as to ... Dann folgen die bereits erwähnten Justizgrundrechte. Die Regelung soll aber wohl nicht nur für diese gelten, sondern ebenso für die in sec. 1 definierten Freiheiten, was sich daraus entnehmen läßt, daß in der eben zitierten Passage generell von "any of the rights ... " der Bill die Rede ist. 79 Welchen Status im Verhältnis zu anderem Recht erhalten die Freiheiten der Bill durch den Vorspann von sec. 2? ,,Jedes Gesetz ... ist so auszulegen, ... daß die Rechte und Freiheiten der Bill ... nicht verdrängt, verkürzt oder verletzt werden ..." Damit werden erkennbar zunächst einmal die bereits hinlänglich bekannten Interpretationsregeln bestätigt: im Zweifelsfalle, d. h. bei mehreren möglichen Auslegungen ist der freiheitsfreundlicheren Interpretation der Vorzug zu geben. Darin allein allerdings erschöpft sich der Wortlaut der Vorschrift nicht. Denn die Gesetze sind nicht allein im Sinne der Grundrechte der Bill "auszulegen", sondern - wie es in sec. 2 weiter heißt - auch nur "so anzuwenden [applied]", daß die Freiheiten keinen Schaden nehmen. Neben die Funktion der ,,Auslegung" wird hier also die der ,,Anwendung" der jeweiligen Gesetze gestellt. Da nun aber die "Anwendung" durch sec. 2 unter einen Vorbehalt gestellt wird - es darf nicht in die Grundrechte der Bill eingegriffen werden - , folgt daraus im Urnkehrschluß, daß bei Nichtvorliegen dieser (negativ formulierten) Bedingung die Anwendung zu unterbleiben hat, das betreffende Gesetz also zu kassieren ist. Daß es sich bei der Aufzählung dieser beiden Verben "auslegen" und "anwenden" nicht nur um die im angelsächsischen Rechtsraum beim Abfassen von Rechtstexten so beliebte sprachliche Redundanz handelt, macht der erste Teil des Vorspanns deutlich (" ... unless it is expressly declared ... that it shall operate notwithstanding the Canadian Bill of Rights ..."), der die implizite Derogierung der Bill verbietet. 80 Diese Vorschrift wäre gänzlich sinnlos, wenn wohl wiederum eine mittlerweile ja auch im Vereinigten Königreich weitgehend unumstrittene Erkenntnis nieder, daß es nämlich besser sei, zunächst einmal überhaupt diese Art des Grundrechtsschutzes einzuführen, bevor daran gedacht werde, die Grundrechte inhaltlich auszuweiten. 79 So auch Hogg, Constitutional Law of Canada, S. 435. 14*

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sie im Falle ihrer Nichtbefolgung durch den Gesetzgeber nicht die Sanktion der Nichtanwendung nach sich ziehen würde. 81 Sowohl die teleologische wie auch die grammatikalische Auslegung lassen somit keinen Zweifel, daß sec. 2 über eine bloße Interpretionsregel hinaus die Anwendung von Gesetzen verbietet, welche nur implizit die Bill derogieren 82.83 Damit entpuppt sich sec. 2 als eine Verbindung beider der hier unter dem Begriff "Kleine Lösung" zusammengefaßten Varianten. 84 Bedauerlicherweise unterließ der Gesetzgeber es jedoch, die Folge einer Verletzung von sec. 2 durch ein späteres Parlament - eben die Nichtanwendung des jeweiligen Gesetzes - klarsteIlungshalber auch ganz ausdrücklich in die Bill 0/ Rights aufzunehmen, obwohl die Geschichte des vorangegangenen Gesetzgebungsverfahrens zeigt, daß der Gesetzgeber genau diese Folge anordnen wollte. 85 Gleichwohl scheint der Wortlaut der Vorschrift der sec. 2 so eindeutig, daß an dieser Konsequenz auch ohne eine solche KlarsteIlung kein Weg vorbeiführt. Dementgegen ist jedoch die weitere Behandlung von sec. 2 durch die Rechtsprechung eine einzige Kette von Versuchen, der Nichtanwendungsanordnung zu entgehen, sie wenigstens aber in ihren Auswirkungen zu begrenzen und damit die Erreichung des eigentlichen Zwecks der Bill of Rights zu verunmöglichen. Der Eintritt dieses hier vorab konstatierten Ergebnisses manifestiert sich an einer zunächst höchst überraschenden Verschiebung bei der von der Rechtsprechung geleisteten Bewältigung der Bill of Rights. Denn die eigentliche Frage, welche sec. 2 der Bill of Rights den Gerichten hätte aufgeben müssen, ist die nach dem Verhältnis zwischen der Bill und nachfolgendem Parlamentsrecht, insbesondere ob das Parlament von 1960 wirksam seinen Nachfolgern die Verpflichtung auferlegen durfte, nur explizit, nicht aber implizit die von ihm niedergelegten Grundrechte zu derogieren. Erstaunlicherweise hat sich hierzu die Rechtsprechung (soweit ersichtlich) nie,86 die Literatur immer nur mehr am Rande 80 So auch Brandt, Canadian Bill of Rights, in: Can. Bar Rev. 55 (1977), S. 705 ff. (710); McWhinney (Anm. 64), S. 92; Rand, Except by Due Process of Law, in: Osgood Hall L. J. 2 (1961), S. 171 ff. (173 ff.); Tarnopolsky (Anm. 68), S. 451 f.; Bourne, The Canadian Bill of Rights and Administrative Tribunals, in: Can. Bar Rev. 37 (1959), S. 218 ff. (220). 81 So auch Brandt (Anm. 80), S. 714 f. 82 Naturgemäß ist die Einfügung der gemäß sec. 2 notwendigen Klausel nur bei gegenüber der Bill späteren Gesetzen möglich, es sei denn die Klausel wird im Wege der Gesetzesänderung nachträglich in gegenüber der Bill früherem Recht eingefügt. 83 In diesem Sinne Bruton (Anm. 39), S. 116 oder Hogg, Constitutional Law in Canada, S. 437 f., der allerdings aus den schon geschilderten Gründen Zweifel an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieser Anordnung hat; anders dagegen Laskin (Anm. 67), S. 529 f. 84 Siehe oben § 16 Ziffer 2. 85 So das Ergebnis der Analyse bei Fowler (Anm. 48), S. 719 f.; siehe auch das Zitat Diefenbakers bei Weber (Anm. 64), S. 753. Laskin (Anm. 65), S. 130 will dagegen diese Absicht des seinerzeitigen Gesetzgebers nur als politische Erwartung, nicht als "argument of law" verstanden wissen.

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geäußert 87. Stattdessen wurde auf einer jener Frage zugegebenennaßen logisch vorrangigen Ebene erörtert, was überhaupt der Gesetzgeber mit sec. 2 denn habe anordnen wollen und zwar nicht - und daran lag das Fatale dieser Diskussion - in Hinsicht auf späteres Recht, sondern im Verhältnis zu früherem, zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Bill bereits bestehendem Recht. Für diesen Fall indes hält die Parlamentssouveränität eine völlig unumstrittene Regel bereit, daß nämlich späteres Recht - hier also die Bill 0/ Rights - früheres derogiert und zwar auch implizit. Wie schon wiederholt festgestellt, ist dieser Teil der Kleinen Lösung für die Parlamentssouveränität ganz ohne Schwierigkeiten. Den kanadischen Gerichten wäre es also aufgegeben gewesen, jedes (frühere) Gesetz nach Maßgabe der Bill 0/Rights zu prüfen und gegebenenfalls als derogiert zu verwerfen. Stattdessen wurde von den Gerichten die Frage aufgeworfen, ob die Bill tatsächlich eine solche grundsätzliche Infragestellung des gesamten bis 1960 entwickelten Rechts habe herbeiführen wollen. 88 Dabei stützte man sich auf die Eingangsworte von sec. 1 ("It is hereby recognized and declared that ... there have existed and shall continue to exist ... the following human rights ..."). Da hier die Identität des bestehenden Rechts (,,have existed") mit dem durch die Bill verbindlich gemachten Rechtsbestandes ("shall continue to exist") festgestellt werde, habe der Gesetzgeber nur einfach den Grundrechtsstandard des Jahres 1960, wie er sich an den Vorschriften des common und statute law ablesen lasse, festschreiben wollen, durch die Bill 0/ Rights dem alten Recht sachlich somit nichts Neues hinzugefügt. 89 Nach diesem Verständnis hätte der kanadische Grundrechtskatalog also allein für die Zukunft irgendeine substantielle Wirkung entfalten können, für das vergangene Recht dagegen lediglich die ohnehin anerkannten Interpretationsregeln bestätigt. 90 Diese Interpretation wurde auch vom Supreme Court übernommen und damit die Möglichkeit der Derogierung älteren Rechts bestritten. 91 Das gleiche Ergebnis, 86 Allein in einer beiläufigen Äußerung von lustice Pigeon in der Entscheidung R. v. Drybones [1970] SCR 282, auf S. 301 (zu diesem Fall gleich) will Hovius (Anm. 76), S. 34 eine Andeutung zu diesem Problem in der Rechtsprechung gefunden haben. 87 Einige Hinweise finden sich etwa bei Laskin (Anm. 65), S. 130 f. und bei Brandt (Anm. 80), S. 716; ausführlicher wird das Thema nur bei ausländischen Kommentatoren aufgegriffen, zum Beispiel bei Bruton (Anm. 39); S. 112 ff. 88 So auch schon Laskin (Anm. 65), S. 132 f. 89 Diese Lehre wurde bekannt unter der Bezeichnung "frozen concept principle", dazu siehe Hovius (Anm. 76), S. 40 ff.; Tarnopolsky, Bill of Rights and Future Constitutional Change, in: Can. Bar Rev. 57 (1979), S. 626 ff. (630 f.). Bei dieser Auffassung wird außer acht gelassen, daß Juristen bei der Schöpfung gerade dem Grundrechtsschutz bestimmter Normwerke schon immer gerne die angebliche Kontinuität mit zuvor bestehendem Recht behauptet haben, um so besonders konservative Kritik erfolgreich unterlaufen zu können; siehe Bruton (Anm. 39), S. 108 f.; ferner Leigh, The Indian Act, the Supremacy of Parliament, and the Equal Protection of the Laws, in: McGill L. J. 16 (1970), S. 389 ff. (390). 90 So anscheinend auch Brandt (Anm. 80), S. 715.

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also die Gleichsetzung des in der Bill gewährleisteten Grundrechtsstandards mit dem jeweils anzuwendenden älteren Gesetz, wurde in einer anderen Variante der gleichen Argumentationslinie dadurch erreicht, daß die konkrete Ausfüllung der naturgemäß sehr offen gefaßten Grundrechte der Bill mittels eben jenes älteren Gesetzes erfolgte. 92 Auch dies verhinderte eine wirksame Ausspielung der Bill 0/ Rights gegen auch nur älteres Recht. In der wichtigen Entscheidung R. v. Drybones 93 aus dem Jahre 1969 verwarf der Supreme Court allerdings diese Auslegung. Sec. 94 (b) des Indian Act von 1952 stellte für Indianer Trunkenheit außerhalb ihrer Reservate unter Strafe, während für alle anderen Bürger ein solches Verbot nur für "öffentliche Orte" ("public places") gilt. In offensichtlicher Verletzung des in sec. 1 der Bill 0/ Rights bestimmten Gleichheitsgrundsatzes wurde hier somit für Mitglieder einer nach rassischen Merkmalen defmierten Gruppe ein Strafdelikt nach Voraussetzungen definiert, die bei allen anderen Bürgern keinerlei strafbare Handlung begründen. Eine allerdings recht knappe Mehrheit des Gerichtes 94 stellte sich daher auf den Standpunkt, daß die betreffende Vorschrift des Indian Act durch die Bill 0/ Rights außer Kraft gesetzt worden sei. Richter Ritchie, als Sprachrohr der Mehrheit, führte in dieser Entscheidung aus,95 daß ... s. 2 is intended to mean and does mean that if a law of Canada cannot be sensibly construed and applied so that it does not abrogate, abridge or infringe one of the rights and freedoms recognized and declared by the Bill, then such law is inoperative ... Damit wurde die ratio decidendi von Robertson and Rosetanni v. The Queen, in der der Supreme Court in 1963 mehrheitlich vertreten hatte, daß die Bill für 91 So vor allem in Robertson and Rosetanni v. The Queen [1963] SeR 651; R. v. Burnshine (1974) 44 DLR (3d) 584 auf S. 592; sowie die Minderheit in R. v. Drybones [1970] SCR 282 auf S. 305 (Pigeon l.). Siehe ferner die Entscheidung des British Columbia Court of Appeal in R. v. Gonzales (1962) 32 DLR (2d) 290. 92 So etwa Curr v. The Queen (1972) 26 DLR (3d) 603, auf S. 613 f. und National Capital Commission v. Lapointe (1972) 29 DLR (3d) 376, beide zum Begriff "due process of law"; ferner in Robertson and Rosetanni v. The Queen [1963] SCR 651, auf S.654 zu diesem Urteil, siehe die Kritik bei Tarnopolsky, The Supreme Court and the Canadian Bill of Rights, in: Can. Bar Rev. 53 (1975), S. 649 ff. (658 f.); auch Hogan v. The Queen (1974) 48 DLR (3d) 427, wo allerdings eine administrative Entscheidung - kein Gesetz - in Rede stand, läßt sich in diese Reihe einordnen. Mit der in diesen Urteilen sich niederschlagenden Auffassung wird gleichzeitig auch jeder Grundrechtsinnovation ein Riegel vorgeschoben, weil die Entwicklung neuer Grundrechtsstandards von vorneherein ausgeschlossen bleibt. 93 [1970] SCR 282 = (1970) 9 DLR (3d) 473. Die Entscheidung ist mehrfach kommentiert worden, siehe Cavalluzzo (Anm. 39), S. 533 ff.; Leigh (Anm. 89); Beaudoin (Anm. 52), S. 694 ff.; Tarnopolsky (Anm. 68), S. 443 ff.; siehe ferner die in a. a. 0., S. 438, Fn. 3 angegebene Literatur. 94 Von neun Richtern stellten sich drei gegen diese Entscheidung, unter ihnen Chief lustice Cartwright; im wesentlichen begründeten diese Richter ihre Ablehnung des Mehrheitsvotums mit der frozen state-Theorie. Für eine Kritik der von der Minderheit geäußerten Ansichten, siehe Tarnopolsky (Anm. 92), S. 654 f.; ders. (Anm. 68), S. 418 f. 95 [1970] SCR 282 auf S. 294.

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älteres Recht nur die Funktion einer Interpretationsregel habe, ausdrücklich verworfen. Demgegenüber stellte das Gericht in Drybones klar, daß dann, wenn die Interpretationsregel nicht greifen kann, weil der Text des anzuwendenden Gesetzes völlig eindeutig ist, die Bill die Nichtanwendbarkeit der betreffenden Vorschrift gebietet; nach dieser Entscheidung erschöpfte sich die Bill in Hinsicht auf früheres Recht also nicht in einer bloßen Interpretationsregel. Diese Auslegung wird im übrigen auch durch sec. 5 (2) der Bill 96 geboten; denn würde man die derogierende Kraft von sec. 2 nur auf späteres Recht beschränken, so wäre damit eine Unterscheidung - nämlich zwischen früherem und späterem Recht - gemacht, die von sec. 5 (2) gerade untersagt wird. 97 Nach einigem Tauziehen und einer immerhin zehn Jahre währenden Unsicherheit war mit Drybones endlich jener Interpretation von sec. 2 zum Durchbruch verholfen worden, die allein Wortlaut und Intention der Bill 0/ Rights gerecht wird. In der weiteren Rechtsprechung - auch des Supreme Court selbst - blieb die Entscheidung gleichwohl fast folgenlos. Ohne daß ihr Prinzip in Frage gestellt wurde, fand man doch immer wieder Gründe für eine restriktive Auslegung der in der Bill enthaltenen substantiellen Rechte, die einen Widerspruch mit dem jeweils in Rede stehenden älteren Recht vermeiden konnte. Tatsächlich blieb Drybones - soweit erkennbar - überhaupt der einzige Fall, wo ein Gesetz wegen Unvereinbarkeit mit der Bill 0/ Rights nicht angewendet wurde. 98 Im übrigen kam Drybones auch zu spät, um die bereits nicht mehr rückgängig zu machende Verwirrung zu beseitigen und zu erlauben, das durch die Bill 0/ Rights aufgeworfene eigentliche Problem in den Griff zu nehmen. Auch wenn man Drybones als die Morgenröte einer neuen Epoche im Grundrechtsschutz 96 "The expression ,law of Canada' in Part I means an Act of the Parliament of Canada enacted before or after the coming into force of this Act ..." 97 Laskin (Anm. 67), S. 529 f. dagegen glaubt sec. 5 (2) ein entscheidendes Argument gegen die in Drybones vertretene Auslegung und für seine Ansicht entnehmen zu können, derzufolge die Bill weder gegenüber älterem, noch gegenüber neuerern Recht irgendeine andere Wirkung als die einer Interpretationsregel entfalte. Weil die Parlamentssouveränität es dem Parlament verbiete, die Bill der impliziten Derogation zu entziehen (eine Auffassung, die Laskin allerdings nicht näher begründet), sec. 5 (2) aber gleiche Wirkungen in Hinsicht auf früheres und späteres Recht anordne, müsse gefolgert werden, daß die Bill gegenüber früheren Gesetzen ebenso keine derogierende Kraft entfalten solle. Bei dieser Schlußfolgerung wird aber die klar auf der Hand liegende Intention des Gesetzes verkannt: es mag ja durchaus sein, daß der Ausschluß impliziter Derogation verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken begegnet. Das berechtigt aber nicht zu dem Schluß, daß der Gesetzgeber für diesen Fall auch von der verfassungsrechtlich völlig unproblematischen Derogation des der Bill vorangegangenen Rechts Abstand genommen wissen wollte. Eine an den Absichten des Gesetzes orientierte Auslegung muß vielmehr davon ausgehen, daß grundsätzlich im Falle einer verfassungswidrigen Normierung nur die tatsächlich verfassungswidrigen Teile des jeweiligen Gesetzes außer Kraft zu setzen sind, die übrigen Anordnungen des Gesetzgebers aber hiervon unberührt angewendet werden müssen. 98 Detaillierte Auflistungen der übrigen einschlägigen Rechtsprechung finden sich zum Beispiel bei Beaudoin (Anm. 52), S. 691 ff., 698 ff.

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gefeiert hat 99 - bei Licht besehen ist die mit Drybones getroffene Entscheidung über die richtige Auslegung von sec. 2 der Bill eher banal. Denn hier wurde nichts weiter getan, als einen vom Gesetzgeber zehn Jahre zuvor gegebenen, allerdings durchaus revolutionären Gesetzgebungsbefehl zu vollziehen, den das Parlament zu erteilen unstreitig befugt war 100 und der aus der Sicht des Verfassungsrechts keinerlei Schwierigkeiten macht. 101 Ob eine Bill of Rights nach dem Modell der Kleinen Lösung immer nur Interpretationsregel sein darf oder aber hierüber hinaus in einem begrenzten Umfang auch einen Schutz gegen Parlamentsrecht bieten kann, stellt sich als verfassungsrechtliches Problem nur für nachfolgendes Recht. Diesen Streit hatte das Gericht in Drybones aber gar nicht zu entscheiden. Denn der in Rede stehende Indian Act war ein gegenüber der Bill 0/ Rights älteres Gesetz, eine Tatsache, die bei der Analyse des Urteils in der Literatur wie übrigens auch in dem Urteil selbst im Hintergrund blieb und häufig nicht einmal explizit gemacht wurde. So mochte es scheinen, als habe der Supreme Court tatsächlich den Vorrang der Bill 0/ Rights nicht nur gegenüber früherem Recht, sondern in dem in sec. 2 angeordneten Umfang auch gegenüber späterem Recht festgestellt. 102 Daß dem nicht so war, zeigte R. v. Miller and Cockriell. Zwei zum Tode verurteilte Personen hatten in diesem Verfahren geltend gemacht, die Todesstrafe verstoße als "cruel and unusual ... punishment" gemäß sec. 2 (b) gegen die Bill 0/Rights; die betreffende Strafvorschrift stammte aus dem Jahre 1973 und enthielt Siehe etwa die enthusiastische Würdigung des Urteils bei Leigh (Anrn. 89), S. 389. So auch ausdrücklich lustice Abbott, einer der in Drybones überstimmten Richter, [1970] SCR 282 auf S. 299; siehe ferner Tarnopolsky (Anm. 68), S. 452 f. 101 So ganz klar Hogg, Constitutional Law of Canada, S. 437: ,Jn Drybones it was the Indian Act which was the earlier of the two statutes. This fact seems to eliminate any constitutional difficulty." 102 Ein Beispiel für dieses grundlegende Mißverständnis findet sich bei Brandt (Anrn. 80), S. 707: "... the threshold issue present in any case in which the Bill of Rights is invoked is ... this: is the Bill of Rights to be accorded some kind of quasi-constitutional status wherein it is treated as containing a collection of normative standards against which federal statutes must be measured as a test of operability? Or is it to be accorded astature somewhat less grand that wherein its standards represent interpretive guides and no more? That precise issue arose in R. v. Drybones and was resolved in favour of treating the Bill of Rights as a Charter of Rights accomplishing more than a statutory direction to judges to construe federal statutes according to certain standards. Instead, it was held that the Bill gave judges the power, in the event that an existing conflict with the Bill could not be "construed away", to declare such statutes inoperative." Dieser Irrtum konnte entstehen, obwohl derselbe Autor an anderer Stelle klar herausstellt, daß das in Drybones geprüfte Gesetz gegenüber der Bill 0/ Rights früheres Recht darstellt (a. a. 0., S.713). Der gleiche Irrtum fmdet sich bei Tarnopolsky (Anm. 92), S.656 (anders und richtig dagegen ders. [Anm. 68], S. 452 f.) oder auch bei Weber (Anrn. 64), S. 752, wenn letzterer feststellt, daß als Ergebnis der Drybones-Entscheidung anerkannt sei, "daß sich die Bill ofRights im Fall der Unvereinbarkeit gegenüber anderen Gesetzen durchsetzt, was Höherrangigkeit in der Normenhierarchie impliziert." Hier wird formellverfassungsrechtliche Höherrangigkeit verwechselt mit dem durch die lex posteriorRegel bestimmten Verhältnis zwischen einander zeitlich nachfolgenden, aber grundsätzlich gleichrangigen Normen. 99

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keinen Hinweis auf die Bill. Damit war in diesem Fall tatsächlich die Frage aufgeworfen, wie mit dem in sec. 2 der Bill enthaltenen Verbot impliziter Derogation zu verfahren sei. Vorangig war freilich festzustellen, ob die Todestrafe überhaupt "cruel und unusual" sei, weil ja nur dann ein Konflikt überhaupt vorlag. Der Court of Appeal ofBritish Columbia \03 stellte sich auf den Standpunkt, daß das Parlament von 1973 die Todesstrafe, da es diese in Kanada schon immer gegeben habe, offensichtlich nicht als "cruel and unusual" verstanden habe; 104 ein Widerspruch zur Bill 0/ Rights liege mithin nicht vor. Diese Begründung ist ein weiteres Beispiel für die schon geschilderte Vorgehensweise der kanadischen Gerichte: dem Gesetzgeber von 1960 wird unterstellt, daß er das, was er in die von ihm aufgestellten Grundrechte aufgenommen wissen wollte, völlig unkritisch mit der damals bestehenden Rechtslage gleichsetzte. Ergänzend stellte der Court of Appeal fest, daß der Grundrechtskatalog in vollem Umfang den üblichen Regeln über die Derogation unterliege und sie folglich von den späteren Vorschriften über die Todesstrafe durch Implikation derogiert worden sei. \05 Klar wurde der Bill 0/ Rights damit jede über das Übliche hinausgehende Wirkung bestritten und das in ihr enthaltene Verbot impliziter Derogation übergangen; auf eine ausführlichere Begründung, die dieses Ergebnis wohl verdient hätte, wurde jedoch verzichtet. Der Supreme Court of Canada 106 schloß sich der vom Court of Appeal gefällten Entscheidung an und fügte den dort vorgetragenen Begründungen noch einige Nuancen hinzu. Ausdrücklich wurde die Auffassung bestätigt, daß die Bill 0/ Rights der Substanz des 1960 bestehenden Rechts nichts hinzugefügt habe, \07 womit Drybones praktisch wieder zurückgenommen wurde, ohne daß dieser Fall freilich Erwähnung fand. Den Umstand aber, daß das Parlament in Kenntnis der Bill die Todestrafe angeordnet hatte, wollte das Gericht dahin ausgelegt wissen that it had never been intended that the word "punishment" as employed in s. 2 (b) should prec1ude punishment by death in the case of an individual who has been duly convicted of morder. \08 Mit dieser Begründung hat die von der Rechtsprechung betriebene regelrechte Außerkraftsetzung der Bill ihren Höhepunkt erreicht. Nicht mehr nur das ältere Recht wird mit dem Normbestand des Grundrechtskataloges eo ipso gleichgesetzt und damit gegen die Bill abgeschottet, auch das nachfolgende Recht wird rückwirkend in die Bill hineinprojiziert. 109 Auch ohne Bezug auf die Parlamentssouverä(1976) 63 DLR (3d) 193. a. a. 0., S. 246. \05 a. a. 0., auf S. 247. 106 [1977] 2 SCR 680; (1976) 11 NR 386; (1977) 70 DLR (3d) 324. \07 (1977) 70 DLR (3d) 324 auf S. 343. \08 a. a. 0., auf S. 344. 109 Zu Recht stellt Hovius (Anm. 76), S. 42 fest: "The logical conc1usion which flowed from ... Miller and Cockriell was that the Canadian Bill 0/ Rights could never be violated by a ... statute." Ähnlich Brandt (Anm. 80), S. 707 ff. \03

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nität, die in dem Entscheid des Supreme Court überhaupt unerwähnt bleibt, hat die Bill 0/ Rights so über ihre Funktion als Hilfsmittel bei der Interpretation 110 hinaus jede Wirkung verloren. Es ist daher nur folgerichtig, daß die Bill 0/ Rights auch im kanadischen Gerichtsalltag nur eine ganz untergeordnete Rolle gespielt hat. 111

c) Fo/gerungen

Welche Grunde gibt es für die von der Rechtsprechung, aber auch von wesentlichen Teilen der Literatur zu der Bill 0/ Rights eingenommene Einstellung? Ganz offensichtlich war es nicht das Prinzip der Parlaments souveränität, welches das entscheidende Hindernis für eine dynamische Instrumentalisierung des Grundrechtskataloges bildete. Tatsächlich stellt die zunächst verbreitete Variante des sog. frozen concept, welches vorsah, daß die Bill 0/ Rights eine derogierende Wirkung nur gegenüber nachfolgendem Recht, nicht aber für älteres Recht entfalten könne, die Parlamentssouveränität und mit ihr die lex posterior-Regel geradezu auf den Kopf. Denn die Parlaments souveränität hätte ja geboten, in Erfüllung des mit sec. 2 gegebenen Befehls das ältere und nicht das spätere Recht zur Disposition der Bill zu stellen. 112 Verfassungsrechtlich problematisch war dagegen der Versuch, den Grundrechtskatalog auch pro futuro gegen Derogation zu 110 Zur Rolle der Bill 0/ Rights als Interpretationsregel, siehe Hovius (Anm. 76), S. 35 ff., der dem Grundrechtskatalog auch insoweit eine nur bescheidene Wirkung attestiert. 111 Fowler (Anm. 48), S. 720 gibt Schätzungen wieder, denen zufolge die Bill bis 1969 in nur 50 Fällen vor Gericht überhaupt angesprochen wurde und bis 1970 in nur 10 Fällen vor dem Supreme Court of Canada (a. a. 0., S. 738). Hovius (Anm. 76), S. 32 zählt bis 1982 nur insgesamt 30 Fälle, die die Bill 0/ Rights berührten, Zander, Bill of Rights, S. 80 bis 1985 nur 32. - Enttäuschung über die Leistung insbesondere des Supreme Court bei der Anwendung der Bill zeigen fast alle neueren Autoren, siehe etwa Tarnopolsky (Anm. 92), S. 671 ff.; Cavalluzzo (Anm. 39), S. 545; Hogg, Constitutional Law in Canada, S. 442. - Neben der Bill 0/ Rights sind die kanadischen Gesetzgeber beider Ebenen seit 1960 (in den Provinzen Saskatchewan und Alberta auch schon früher) in recht vielfliltiger Weise im Bereich der Bürgerrechte tätig geworden. Fast alle Provinzen haben sich mittlerweile eigene Grundrechtskataloge zugelegt, dazu siehe Weber (Anm. 64), S. 745 f.; Cheffins I Tucker (Anm. 59), S.44; im übrigen wurde wiederum in Entsprechung zum Vereinigten Königreich eine Reihe von Gesetzen geschaffen, welche partielle grundrechtliche Verbürgungen enthalten mit sehr konkret gefaßten materiellen Vorschriften und durchaus effektiven institutionellen Vorkehrungen; dazu Hunter, The Origin, Development and Interpretation of Human Rights Legislation, in: Macdonald I Humphrey, The Practice of Freedom, S. 77 ff.; Tarnopolsky (Anm. 59), S. 573 ff. - Eine weitaus größere Wirkung hat dagegen die Canadian Charter 0/ Rights and Freedoms von 1982 zu entfalten vermocht, wenngleich es sicher noch zu früh sein dürfte, deren Bedeutung zu beurteilen. 112 Siehe etwa folgende Beobachtung bei Tarnopolsky (Anm. 92), S. 661. " ... I cannot see how, even if the Canadian Bill of Rights were deemed to be a mere statutory enactment, a Canadian court could possibly conclude that a common law rule cannot be overruled by a statutory enactment, and a subsequent one at that." (Hervorhebung durch Verf.); ähnlich ders. (Anm. 68), S. 452 f.

§ 17 Die sog. Kleine Lösung

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schützen. Bezeichnenderweise haben die Gerichte auch in der Miller and Cockriell"Entscheidung, als sie erstmals tatsächlich über die Wirkung der Bill auf später gesetztes Recht zu befmden hatten, für ihr Urteil nicht auf die Parlamentssouveränität als Argument rekurriert, und das, obwohl sie in diesen Verfahren zu einem Ergebnis kamen, das sich mit der Parlamentssouveränität durchaus überzeugend hätte begründen lassen. Einen Anhaltspunkt für das wirkliche Motiv bei der so zurückhaltenden Aufnahme der Bill durch die Gerichte findet man in den Voten der in Drybones unterlegenden Minderheit des Supreme Court. Im Hinblick auf die beiden zum Verhältnis zwischen der Bill und älterem Recht vertetenen Auffassungen heißt es dort u. a.: The question is whether or not it is the intention of Parliament to confer the power and impose the responsibility upon the courts of declaring inoperative any provision in aStatute of Canada although expressed in clear and unequivocal terms, the meaning of which after calling in aid every rule of construction including that prescribed by s. 2 of the Bill is perfectly plain, if in view of the court it infringes any of the rights or freedoms declared by s. 1 of the Bill. 1 \3 Und schließlich die Entscheidung dieser Alternative: It would be a radical departure from [al ... basic British constitutional rule to enact that henceforth the courts are to declare inoperative all enactments that are considered as not in conformity with some legal principles stated in very general language, or rather merely enumerated without any defmition .... In the traditional British system that is our own by virtue of the B. N. A. Act, the responsibility for updating the statutes in this changing world rests exclusively upon Parliament. (Hervorhebung durch Verf.) 114 Mit diesen Passagen wird ein ganz neuer Gesichtspunkt eingeführt. Nicht jedenfalls unmittelbar um die Parlamentssouveränität geht es hier, eigentlich nicht einmal um die Auslegung der einschlägigen Vorschriften der Bill 115; vielmehr ist es die Verteilung der Macht zwischen Judikative einerseits und Legislative andererseits und die völlig zu Recht bei einer wortgetreuen Anwendung der Bill erwartete - besser: befürchtete - Verschiebung der Befugnisse dieser beiden Gewalten zueinander, die Anlaß gaben, dem Grundrechtskatalog die Gefolgschaft zu verweigern.

[1970] SCR 282, auf S. 286 (Chief lustiGe Cartwright). a. a. 0., auf S. 306 (lustice Pigeon). 115 Allerdings will lustiGe Pigeon formal sein Argument nur als Ansatz für eine Interpretationsregel einführen: wenn das Parlament von dem geschilderten, als grundlegend einzuschätzenden Prinzip habe abweichen wollen, hätte es diese Absicht in deutlichere Worte fassen müssen als die, die in secs. I und 2 der Bill zu fmden seien (a. a. 0., auf S. 306). Diese äußere Einkleidung ändert aber nichts daran, daß es dem Richter unabhängig vom Wortlaut der Bill im Kern um die Aufrechterhaltung eines bestimmten verfassungsrechtlichen Zustandes ging. Dazu Tarnopolsky (Anm. 68), S. 449 f. 113

114

4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

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Genau der gleiche Gedanke findet sich auch in anderen Entscheidungen, etwa im Votum von lustice Ritchie in der Miller and Cockriell-Entscheidung. Nach einer kurzen Gegenüberstellung der einschlägigen Rechtsvorschriften von Bill 0/ Rights und Criminal Code heißt es dort: . . . it should be stressed that these reasons for judgment are not concemed with the moral issue involved in the retention or abolition of capital punishment. Tbe answer to the question of whether or not the death penalty sections of the Criminal Code are to be retained lies with Parliament ... 116 Und weiter: As I have said, the abolition of the death penalty is a matter for Parliament and is not to be achieved by such an oblique method as that suggested by the appelants [gemeint ist die Derogierung durch sec. 2 der Bill].l17 Mit dem hier ganz ausdrücklich ausgesprochenen Verzicht, die Todesstrafe eigenen, selbstständig entwickelten Wertungen zu unterziehen, wird deutlich, worum es den Gerichten bei ihrer Auslegung der Bill 0/ Rights ging. Die bislang bestehende Verteilung der Kompetenzen zwischen Erster und Dritter Gewalt sollte erhalten bleiben; der sich aus dem Grundrechtskatalog ergebenden Chance für eine in der Tat grundlegende Neuordnung dieser Kompetenzen, welche zu einem Machtzuwachs der Gerichte hätte führen müssen, wurde eine klare Absage erteilt. Festzuhalten bleibt indes, daß anders als die Parlamentssouveränität das sich in der Einstellung zu der Bill ausdrückende Selbstverständnis des kanadischen Richters keinerlei Rechtsqualität für sich reklamieren kann, wohl deswegen auch nur so beiläufig in die Urteile eingeführt wird und bestenfalls als psychologische oder politische Prämisse des Systems anzusprechen ist. Daß diese im Rechtssinne somit unerhebliche Auffassung vom eigenen Amt sich bei den Gerichten sogar gegen das geheiligte Prinzip der Parlamentssouveränität durchzusetzen vermochte und dies in einem Land, daß wegen seiner föderalen Struktur ohnehin der Idee einer richterlichen Kompetenz zur Überprüfung von Gesetzen näher stehen müßte als das britische Mutterland, muß für einen nach dem gleichen Muster im Vereinigten Königreich eingeführten Grundrechtskatalog eine ebenfalls von den Gerichten bewußt und systematisch bescheiden gehaltene Wirkung erwarten lassen.

§ 18 Die sog. Große Lösung 1. Die verfassungspolitischen Möglichkeiten der Großen Lösung im Konflikt mit der Parlamentssouveränität Hat sich die kleine Lösung, also der Versuch, durch pragmatische Verfahren eine einer echten Verfassunggebung möglichst angenäherte Verfassungs wirklich116 117

(1977) 70 DLR (3d) 324 auf S. 342. a. a. 0., auf S. 343.

§ 18 Die sog. Große Lösung

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keit zu schaffen, als nicht ausreichend erwiesen, bleibt nur der Weg, diese Verfassungs wirklichkeit durch normativen Befehl herzustellen und dem Vereinigten Königreich einenformell-verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalog zu geben mit einem umfassend geltenden und praktisch operationalisierbarem Vorrang allen anderen staatlichen Handlungen gegenüber. Damit ein Grundrechtskatalog diesen Voraussetzungen gerecht werden kann und im gleichen Zuge die im 3. Kapitel dargestellten verfassungs strukturellen Defizite langfristig verschwinden, muß sein formell-verfassungsrechtlicher Vorrang verfahrensmäßig abgesichert werden, vorzugsweise (aber - wie später noch zu zeigen sein wird - nicht notwendigerweise ) durch die Einrichtung einer verfassungsgerichtlichen Kontrollinstanz. 118 Diese Forderung wiederum macht automatisch die Erfüllung einer weiteren Bedingung notwendig. Denn "praktisch operationalisieren" läßt sich nur eine Bill of Rights, die als Prüfungstopos im Rahmen wie immer gearteter judizieller oder quasi-judizieller Verfahren eingeführt und entscheidungserheblich gemacht werden kann. Das aber ist sinnvoll nur dann möglich, wenn ein solcher Grundrechtskatalog von den sonst üblichen Regeln über Derogierung und Modifizierung der parliamentary statutes, insbesondere von der lex posterior-Regel ausgenommen wird. 119 Andernfalls nämlich wäre von vorneherein das gesamte vom Parlament veranlaßte Recht von den Folgen der Bill of Rights freigestellt. Mit einem formell-verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalog müssen also Regeln geschaffen werden, die seine Änderung gegenüber anderem Recht verfahrensmäßig erschweren. 120 Eine Bill of Rights im Sinne des folgenden Abschnitts sei mithin definiert als ein Grundrechtskatalog , der als eigene Rechtsquelle besonderen Regeln über Entstehung und Änderung unterworfen ist und mit formell-verfassungsrechtlichem Anspruch, der praktisch eingelöst werden kann, allem anderen staatlichen Handeln vorgeht. Eine diesen Voraussetzungen gerecht werdende Bill of Rights ist bislang und daran dürfte sich auch in der überblickbaren Zukunft nichts ändern - nur von einer Minderheit innerhalb der politischen und juristischen Elite des Landes ins Auge gefaßt worden,121 was vor allem darin seine Erklärung fmdet, daß ein 118 Für eine Bill ofRights mit einem Verfassungs gericht haben sich u. a. ausgesprochen Scarman, Fundamental Rights, in: Co1umbia L. Rev. 78 (1978), S. 1575 ff. (1586); Wilberjorce, Need for a Constitution in the UK, in: Israel L. Rev. 14 (1979), S. 269 ff. (274 ff.); Samuels (Anm. 34), S. 422; Stacey, Bill of Rights, S. 154; loseph, Freedom under the Law, S. 14. Mindestens für eine echte normenkontrollierende Verfassungsgerichtsbarkeit hat sich auch Lord Denning, Misuse of Power, S. 12, eingesetzt. 119 Eine Bill of Rights in der Art der französichen Menschenrechtserklärung von 1789 sei daher im folgendem ganz bewußt außer acht gelassen; in der Ablehnung eines Grundrechtskataloges dieses Typs sind sich alle Autoren einig, gerade auch diejenigen, die eine Bill of Rights befürworten, siehe statt aller Zander, Bill of Rights, S.46. 120 Das entspricht dem (engeren) formellen Verfassungsbegriff lellineks (siehe 1. Kapitel) im Unterschied zu dem weiteren der h. L.; im folgenden wird der Begriff "formell-verfassungsrechtlich" nur noch im Sinne lellineks verwendet.

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

solcher Schritt allzu offensichtlich dem manches Mal ja geradezu kanonisierten Prinzip der Parlamentssouveränität ins Gesicht zu schlagen scheint. Und in der Tat: Unter der Herrschaft eines solchen Grundrechtskataloges wäre das britische Parlament nicht mehr das konkurrenzlos und letztinstanzlich gegenüber allen anderen staatlichen Institutionen entscheidende Organ (der negative Aspekt der Parlamentssouveränität), 122 ebensowenig könnte es länger ,,rechtlich ungebundene" Allzuständigkeit (ihr positiver Aspekt) für sich in Anspruch nehmen. Diese Wirkungen wären im übrigen auch nicht nur beiläufig eingetreten, sondern im Gegenteil geradezu beabsichtigt, weil sie die wesentliche Essenz einer konsequent durchgesetzten Grundrechtsidee darstellen. Um es noch einmal zu sagen: ein allzuständiges Organ innerhalb der Verfassung und Grundrechte schließen sich gegenseitig aus. Muß mit dieser Feststellung eine Prüfung der verfassungsrechtlichen Integrierbarkeit der Großen Lösung abbrechen? Bleibt tatsächlich nur der Weg über die Revolutionierung der bislang gültigen britischen Verfassungsordnung? Als Ausweg aus diesem Dilemma zwischen parlamentarischer Allzuständigkeit und Grundrechten bleibt die von der herrschenden Lehre vorgenommene Gleichsetzung von jederzeit aktualisierbarer parlamentarischer Allzuständigkeit und Parlamentssouveränität zu hinterfragen, um zu prüfen, ob die Parlamentssouveränität tatsächlich jede Rechtsbindung des Parlaments verbietet oder auch nur verbieten kann. Mit dieser Fragestellung ist der Kern des verfassungsrechtlichen Problems einer britischen Bill of Rights erreicht. Dementsprechend groß ist auch die Aufmerksamkeit, die dieses Thema - übrigens schon immer, also auch vor der Debatte um die Einführung eines Grundrechtskataloges - in der wissenschaftlichen Literatur gefunden hat. Dieses Problem ausführlich und mit Anspruch auf Vollständigkeit hier ausbreiten zu wollen, hieße ins schier Uferlose zu geraten. Eine solche Sisyphusarbeit ist aber auch nicht notwendig, um die entscheidenden Angelpunkte der mit dieser Frage verbundenen Streitstände herauszuarbeiten. Dies soll im folgenden in möglichst gestraffter Form unternommen werden. Dem 121 Hailsham, The Right Road to Reform, in: Stankiewicz, British Govemment in an Era of Reform, S. 94 ff.; ders., The Times, 15.10.1976, S. 4. 122 Dies würde allerdings nur gelten, sofern eine außerparlamentarische Kontrollinstanz eingerichtet würde. Dazu mehr unten § 19 Ziffer 3 c). - Einzig Langheid, Souveränität und Verfassungsstaat, S. 210 ff. scheint anzunehmen, daß trotz Parlamentssouveränität britische Gerichte gelegentlich eine Prüfungskompetenz gegenüber den statutes des Parlaments beansprucht haben; diese erstaunliche Schlußfolgerung zieht er, nachdem er das gesamte ihr auf das Deutlichste widersprechende case law hat Revue passieren lassen, gestützt auf im wesentlichen eine einzige Entscheidung. In diesem Fall (Bromley London Borough v. Greater London Council et al. (CA, HL) [1982] 1 All ER 129) war es indes um die Kompetenzen eines nur delegierte Rechtsrnacht ausübenden Legislativorgans (des Greater London Council) gegangen; das Problem der Parlamentssouveränität stellte sich hier also gar nicht, eine ,,materielle Normenkontrolle vor allem dem Parlament gegenüber" (a. a. 0., S. 212) konnte hier also schlechterdings nicht durchgeführt werden. Mit derartig unzureichenden Belegen läßt sich der Parlamentssouveränität kaum beikommen.

§ 18 Die sog. Große Lösung

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Problem soll dabei auf zweierlei Wegen zu Leibe gerückt werden: zuerst kasuistisch-induktiv (siehe Ziffer 2.), dann dogmatisch-deduktiv (siehe Ziffer 3.).

2. Die Parlamentssouveränität auf dem Prüfstand der britischen Verfassungspraxis: Versuch einer Falsifizierung Die sog. orthodoxe Lehre geht u. a. unter Berufung auf Dicey davon aus, daß die Parlamentssouveränität ausnahmslos jede Selbstbindung gleich welcher Art verbietet; den weiteren Folgerungen hieraus wird später nachzugehen sein. Die Richtigkeit dieser Lehre muß sich vor allem auch empirisch erweisen; denn nur dann, wenn die sich aus ihr ergebenden Erkenntnisse in Anwendung auf konkrete Einzelfälle mit den von den jeweiligen Akteuren in diesen Einzelfällen angestrebten verfassungsrechtlichen Ergebnissen in Deckung zu bringen sind, wäre der von der orthodoxen Lehre verfolgte Ansatz tauglich. Zu diesem Zweck soll daher geprüft werden, ob die britische Verfassungsgeschichte konkrete Beispiele bereithält, wo das Parlament entgegen der Lehre von der Parlamentssouveränität spätere Parlamente eben doch gebunden hat, wo es also durch Gesetz einen Teil seiner legislativen Allzuständigkeit rechtswirksam weggegeben hat. Dieser Weg, der mit seiner Parallele zum Präjudizienrecht gerade für den britischen Juristen naheliegen muß, wird in der Literatur ausgesprochen häufig begangen. Dabei wird - gelegentlich auch unausgesprochen - die in der Tat einleuchtend scheinende Überlegung zu Grunde gelegt, daß - sofern sich solche Fälle tatsächlich aufzeigen lassen sollten - es eigentlich keinen Grund mehr gebe, nicht Gleiches auch im Falle einer Bill of Rights zu tun. Im Wege der Induktion wäre so die Parlamentssouveränität, jedenfalls die daraus hergeleitete Allzuständigkeit des Parlaments, "widerlegt" und der Weg frei für einen formell-verfassungsrechtlich verankerten Grundrechtskatalog.

a) Fallgruppe 1: Veränderungen des funktionalen Geltungsbereichs der britischen Gesetzgebung Das hervorstechendste Beispiel einer funktional definierten Modifikation der parlamentarischen Gesetzgebungskompetenz war bereits Gegenstand dieser Arbeit (deswegen sei auch mit dieser Fallgruppe begonnen): gemeint ist der britische Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften und der bei dieser Gelegenheit erlassene European Communities Act. Aus dem Widerspruch zwischen der durch die Parlamentssouveränität hergeleiteten Allzuständigkeit des Parlaments einerseits und dem vom europäischen Recht beanspruchten Vorrang gegenüber dem nationalen Recht andererseits speiste sich auch manche Skepsis gegen einen britischen Beitritt: da die Römischen Verträge jedenfalls politisch-tatsächlich eine Abtretung bestimmter funktional definierter Gesetzgebungskompetenzen an die europäischen Organe erfordern, sei das Vereinigte Königreich von vorne-

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

herein dazu verdammt, sozusagen konstitutionell bedingt ein vertragsbrüchiges Mitglied zu bleiben. 123 Über dieses Bedenken ist die Geschichte hinweggegangen: mit Wirkung vom 1.1.1973 wurde das Vereinigte Königreich allen Zweifeln zum Trotz volles Mitglied. Wie war dies rechtlich möglich? Nimmt man zunächst die europarechtliche Perspektive ein, die hier allerdings weniger interessiert und deswegen nicht en detail abgehandelt werden soll, so läßt sich mit guten Gründen bezweifeln, ob den Verträgen tatsächlich eine Rechtspflicht entnommen werden kann, welche es den Mitgliedern aufgeben würde, den Vorrang des europäischen Rechts veifassungsrechtlich zu verankern. Im Zweifel genügt es völlig, wenn sich das nationale Recht im Ergebnis dem europäischen Recht beugt, auch wenn es vom eigenen Verfassungsrecht her frei wäre, sich über das europäische Recht hinwegzusetzen, also ein Verstoß gegen das europäische Recht nicht gleichzeitig auch einen Verstoß gegen nationales Verfassungsrecht darstellen würde. 124 Genau hier findet sich auch der Ansatzpunkt der im Vereinigten Königreich gefundenen Lösung. Zweifellos wäre eine echte Abtretung von Gesetzgebungskompetenzen in dem durch die Römischen Verträge gebotenen Umfang die rechtlich sauberste Lösung; insoweit wäre hier also tatsächlich eine gute Gelegenheit gewesen, um eine Selbstbindung des Parlaments auszuprobieren. 125 Auch sind die einschlägigen Formulierungen des European Communities Act ausreichend vieldeutig gefaßt, um - bei etwas guten Willen - die Interpretation zuzulassen, hier sei tatsächlich ein Stück Parlamentssouveränität unwiderruflich weggegeben worden mit der Folge, daß ein Widerspruch zwischem Parlamentsrecht und sekundärem europäischem Recht zugunsten des europäischen Rechts entschieden worden sei. Wenn es jedoch ausreicht, daß das Europarecht gegenüber nationalem Recht im Ergebnis in dem vorgeschriebenen 123 Nur en passant sei hier bemerkt, daß die Existenz des Völkerrechts überhaupt selbstverständlich keine Einschränkung der Parlamentssouveränität bedeutet; das ergibt sich schon daraus, daß das Völkerrecht nur mit Staaten zu tun hat, das Parlament hingegen ein Organ innerhalb eines Staates ist. Das britische Parlament bleibt vom Verfassungsrecht her frei, auch solches Recht zu setzen, das im Widerspruch zum Völkerrecht steht; unzutreffend daher Middleton, Sovereignty in Theory and Practice, in: Juridical Rev. 64 (1952), S. 135 ff. (144) und richtig Jennings, Law & Constitution, S. 173: "If, therefore, the law ofEngland is contrary to internationallaw, lthe courts] will apply the former." 124 Bleckmann in Groeben I Boeckh I Thiesing I Ehlermann, EWG-Vertrag, Art. 5, Rz. 5 meint, die Mitgliedstaaten seien verpflichtet, die "unmittelbare Anwendbarkeit und den höheren Rang des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen und die nationale Rechtsordnung so zu gestalten, daß dieser Rang und die unmittelbare Anwendbarkeit effektiv werden." (Hervorhebung durch Verf.) Nicht die verfassungsrechtlich gesicherte Verunmöglichung gemeinschaftswidrigen nationalen Rechts ist mithin notwendig, sondern allein das tatsächliche Ausbleiben solchen Rechts. Konsequent folgt aus dem EWGVertrag nur ein Anwendungsvorrang des Europarechts, also eine Pflicht der Mitgliedstaaten, im Konfliktfall das nationale Recht zurücktreten zu lassen - und kein Geltungsvorrang, der entgegenstehendes nationales Recht nichtig werden ließe; so Zuleeg in Groeben I Boeckh I Thiesing I Ehlermann, EWG-Vertrag, Art. 1, Rz. 41. 125 So ausdrücklich die Forderung von MitchelI, What Do You Want to Be Inscrutable For, Marcia? in: CMLRev. 5 (1967/68), S. 112 ff. (120).

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Umfang den gebührenden Vortritt erhält, so eröffnen sich eine Reihe pragmatischer Möglichkeiten. Dann nämlich genügt es, wenn das Parlament zunächst allen anderen nationalen Rechtsanwendern die Befolgung des europäischen Rechts zur (Rechts-)Pflicht macht und im übrigen selbst im Sinne einer allerdings nur rechtsunverbindlichen Absichtserklärung die Beobachtung des europäischen Rechts lediglich verspricht. 126 Für bereits vorhandenes Recht ergeben sich hier ohnehin keine Probleme. Der Vortritt von nachfolgendem Europarecht, dessen Antizipierung und Berücksichtigung auch der Voraussicht des umsichtigsten Parlaments nicht immer gelingen kann, wird europarechtlich durch den Europäischen Gerichtshof, national auch durch die britischen Gerichte sichergestellt, wobei letztere über die traditionellen Interpretationsregeln hinaus eine allgemeine Intention des Parlaments zur Befolgung des Europarechts auch dann vermuten dürfen, wenn der Wortlaut des in Frage stehenden Gesetzes an sich völlig eindeutig ist. Insgesamt sind so ohne Zweifel alle Voraussetzungen für ein vertragsgemäßes Verhalten des Vereinigten Königreichs geschaffen. Bei dieser Konstruktion ergeben sich überdies keinerlei Konflikte mit der Allzuständigkeit des Parlaments, die vielmehr ungeschmälert erhalten bleibt; das Parlament hätte lediglich eine Delegation von bestimmten Befugnissen ausgesprochen, die jedoch jederzeit durch einfachen Gesetzesbeschluß widerrufbar ist. Diese Deutung ist daher heute die herrschende Meinung über die korrekte Auslegung des mit dem European Communities Act bewirkten Rechtsvorganges. 127 Immerhin bleibt an dieser Ausdeutung ein kleiner Zweifel wegen der Besonderheit der den Gerichten an die 126 So die ganz h. M., siehe nur Phillips, Has the "Incomil!g Tide" Reached the Palace of Westminster? in: LQR 95 (1979), S. 167 ff. (168 f.). - Ahnlich war auch schon bei dem bislang wohl einzigen Versuch zur Einführung einer Art von Bundesstaatlichkeit im Vereinigten Königreich argumentiert worden, als die 1886 von Gladstone vorgelegte Government 0/ Ire land Bill neben dem bisherigen Parlament einen Irish Legislative Body als irische Gesetzgebungskörperschaft einrichten wollte. Das neue irische Parlament sollte nach dieser Gesetzesvorlage mit einigen wenigen in sec. 3 und 4 aufgeführten Ausnahmen das Recht zur Verabschiedung aller Arten von Gesetzen für Irland erhalten; die Befugnisse des britischen Parlaments wurden gleichzeitig auf den verbleibenden Rest beschränkt (sec. 37). Um zu verhindern, daß das britische Parlament dieses Gesetz einseitig abändern würde, um so wieder in und für Irland tätig werden zu können, war außerdem vorgesehen, daß derartige Änderungen nur durch ein durch die irischen Lords und irischen Abgeordneten verstärktes britisches Parlament beschlossen werden durften (sec. 39). Zu Recht stellt Anson, Govemment of Ireland Bill and Sovereignty of Parliament, in: LQR 2 (1886), S. 427 ff. (440) fest, daß unter diesen Bedingungen der Government o/Ireland Act als geschriebene Verfassung anzusprechen gewesen wäre, der die Souveränität des britischen Parlaments beendet hätte. Um diesem Einwand zu begegnen, wurde auch damals behauptet, die entsprechenden Passagen seien nichts mehr als politisch gemeinte Versprechen, denen im Angesicht der Parlamentssouveränität keinerlei Rechtskraft zukommen könne; siehe a. a. 0., S. 430, 432. Unter anderem wegen der Unvereinbarkeit mit der Parlamentssouveränität scheiterte Gladstones Vorhaben und wurde nie Gesetz. . 127 Dies gilt, obwohl man sich allgemein darüber einig ist, daß diese Auslegung im Zweifel "theoretisch" bleibt und nur "technisch" ist; siehe Dike, The Case Against Parliamentary Sovereignty, in: PL 1976, S. 283 ff. (294); siehe ferner oben § 7 Ziffer 2 sowie die dort zitierte Literatur.

15 Koch

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Hand gegebenen Interpretationsregel. Es wurde schon erläutert,128 daß es sich hierbei gerade nicht um eine Interpretationsregel im eigentlichen Sinne handelt, weil entgegen der sonst üblichen Praxis diese Regel zur Folge hat, daß das EGRecht auch dann zum Zuge kommt, wenn das dem entgegenstehende Gesetz des britischen Parlaments eine interpretationsbedürftige Mehrdeutigkeit überhaupt nicht aufweist. Wird hier nicht doch die Allzuständigkeit des Parlaments beschnitten? Die Frage ist zu bejahen. Nach den oben entwickelten Grundsätzen 129 zur Abgrenzung von Einschränkungen der parlamentarischen Allzuständigkeit einerseits und an die Intentionen des Parlaments anknüpfenden Vermutungen andererseits liegt eine unter dem Gesichtspunkt der Parlamentssouveränität unproblematische Vermutung dann vor, wenn der Gesetzgeber durch die jeweils von der Judikatur angewandte Regel lediglich zu einem entsprechend klaren und eindeutigen Sprachgebrauch gezwungen werden soll. Jedenfalls die in Macarthy aufgestellte Regel geht hierüber hinaus. 130 Die orthodoxe Lehre hat sich demgegenüber durch Rückgriff auf eine Denkfigur verteidigt, die in allen Fällen, wo die Selbstbindung des Parlaments in Rede steht, in gleicher Form immer wieder herangezogen wird. Denn wie jede andere Körperschaft delegiert auch das britische Parlament unter Verwendung sehr vielfältiger Formen und Verfahren die Erledigung bestimmter seiner Aufgaben; hier ist etwa der gesamte außerordentlich verzweigte Bereich des Verordnungsrechts anzusprechen. Solche Delegation bereitet unter dem Gesichtspunkt der Parlamentssouveränität keinerlei Schwierigkeiten. Als abgeleitete, nämlich vom Parlament abgeleitete Rechtsrnacht ist sie jederzeit durch das Parlament widerruflich, eine Selbstbindung liegt nicht vor. Geht man nun mit der herrschenden Meinung davon aus, daß eine Einschränkung der Allzuständigkeit des Parlaments nicht möglich sei, ist es eben die Rechtsfigur der Delegation, die sich immer wieder als Erklärungsmuster anbietet, um in überhaupt allen Fällen, wo das Parlament Kompetenzen weggegeben hat, eine dogmatische Erklärung zur Hand zu haben, die es erlaubt, die parlamentarische Allzuständigkeit ungeschmälert zu retten. Auch in anderen Fällen, wo funktional begrenzte Abtretungen von parlamentarischer Entscheidungskompetenz vorliegen, ist daher auf die Delegation als Rechtsfigur zurückgegriffen worden. Weitere typische Beispiele aus dieser Fallgruppe sind etwa die allerdings gescheiterten Projekte zur Einführung einer begrenzten Selbstverwaltung für die beiden Landesteile Wales und Schottland. Ebenso wie im Falle Nordirlands, wo von 1922 bis 1972 eine regionale Volksvertretung bestand, sollten die für Wales und Schottland jeweils vorgesehenen Kör128 Siehe oben § 7 Ziffer 2, bes. Anm. 193. 129 Siehe oben § 17 Ziffer 2 b). 130 Siehe hierzu oben § 17, Anm. 138-141 und dazugehörenden Text.

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perschaften ausschließlich nur über vom Parlament abgeleitete Rechtsrnacht verfügen dürfen. Auch hier also war keineswegs an einen Souveränitätsverzicht des Parlaments gedacht, sondern nur an eine begrenzte Delegation bestimmter seiner Befugnisse. 131 Ebenfalls in diesen Zusammenhang zu nennen ist das Referendum, 132 das als Entscheidungsverfahren im Vereinigten Königreich in den 70er Jahren entdeckt wurde und bei verschiedenen Anlässen zur Anwendung gelangte. So wurde sowohl über die weitere Mitgliedschaft des Landes in den Europäischen Gemeinschaften 133 wie auch über die beiden eben erwähnten Selbstverwaltungspläne für Schottland 134 und Wales 135 eine Volksbefragung durchgeführt. Aber auch im Falle Nordirlands hat das Parlament durch Gesetz bestimmt, daß die Provinz in keinem Falle aufhören werde, ein Teil des Vereinigten Königreichs zu bleiben, ohne hierfür zuvor die Zustimmung des Volkes von Nordirland in einer Abstimmung einzuholen 136. Solche Referenda lassen sich verstehen als Überweisungen von jeweils inhaltlich eng umgrenzten Entscheidungen vom Parlament auf das Wahlvolk. Den betreffenden Gesetzen läßt sich allerdings nichts entnehmen, was darauf hindeuten würde, daß das Parlament von Rechts wegen an das Wählervotum gebunden sein sollte. Auch das nach Abhaltung der Referenda eingeschlagene Verfahren macht klar, daß an das Wählervotum - anders als bei einem echten Plebiszit - überhaupt keine unmittelbaren Rechtswirkungen geknüpft waren. Denn wäre es das Wahlvolk gewesen, das etwa dem Scotland Act seine Rechtskraft als Gesetz zu verleihen oder zu verweigern gehabt hätte, wäre jedes weitere Tätigwerden des Parlaments in dieser Sache hinfallig gewesen. Die Entscheidung des Volkes hätte ipso iure über das rechtliche und nicht nur über das politische Schicksal des Act entschieden. Stattdessen wurde der Act vom Parlament ausdrücklich durch Gesetzesbeschluß wieder aufgehoben, nachdem die vorgeschriebenen Quoren in der Abstimmung nicht erreicht worden waren. 137 Unstreitig 131 Dazu siehe Brinkmann, Verfassungs- und Verwaltungsrefonn in Großbritannien, in: Verwaltungsarchiv 70 (1979), S. 309 ff. - Ein weiteres Beispiel ist der Colonial Laws Validity Act von 1865 (28 & 29 Vict., c. 63), der einheitlich für das ganze Britische Reich die Befugnisse der verschiedenen in den Kolonien entstandenen Gesetzgebungskörperschaften ordnete, gleichzeitig aber in sec. 2 feststellte: ,,Any colonial law which is ... repugnant to the provisions of any Act of Parliament ... shall be read subject to such Act ... shall ... be and remain absolutely void and inoperative." Siehe hierzu Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S. 419 ff. 132 Näheres zum Referendum in der britischen Verfassung und seiner Bedeutung, siehe unten § 19 Ziffer 1 b), Anm. 250 ff. und dazugehörender Text. 133 Referendum Act (1975 c. 33); siehe hierzu das Weißpapier Referendum on U. K. Membership of the European Community, Crnnd. 5925 (1975). 134 Scotland Act (1978 c. 51), sec. 85 und schedule 17. 135 Wales Act (1978 c. 52) sec. 80 und schedule 12. 136 Northern Ireland Constitution Act (1973 c. 36), sec. 1 und schedule l. 137 Dies war auch ausdrücklich so vorgesehen, siehe etwa sec. 85 (2) des Scotland Act und sec. 80 (2) des Wales Act.

15*

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

sind die Referenda daher kein Beispiel für Souveränitätsabtretungen des Parlaments, 138 eine Selbstbindung des Parlaments lag nicht vor. 139

b) F al/gruppe 2: Veränderungen des territorialen Geltungsbereichs der britischen Gesetzgebung Größere Schwierigkeiten für die orthodoxe Lehre ergeben sich hingegen in solchen Fällen, wo das britische Parlament nicht nur funktional begrenzte Kompetenzen weggegeben hat, sondern in Hinsicht auf bestimmte Gebiete auf überhaupt jedes weitere Tätigwerden verzichtete. Angesichts eines sich einstmals über alle Kontinente und Erdteile erstreckenden Weltreichs ist dieser Fall in der britischen Verfassungsgeschichte recht häufig eingetreten, so daß sich hier ein reiches Anschauungsmaterial bietet mit einer erklecklichen Zahl von britischen Gesetzen, die, indem sie vormals britischen Kolonien die Unabhängigkeit einräumen, gleichzeitig die legislative Kompetenz des Parlaments beschneiden. 138 Unzutreffend deswegen Wright, The British Referendum: the Constitutional Significance, in: Parliamentarian 56 (1975), S. 159 ff. (163 f.) mit der Feststellung, das Referendum "threatens the sovereignty of Parliament". Hier wird verkannt, daß die Parlamentssouveränität als allein rechtliche Aussage nie politische Allmacht bedeutete (siehe oben § 3); der Umstand, daß natürlich jedes Referendum politische Bindungswirkungen entfalten sollte, ist mithin kein Widerspruch zur Parlamentssouveränität. 139 Auch als Delegationen lassen sich die Referenda übrigens nicht verstehen, denn dazu hätte - wenn auch widerrufliche - Rechtsmacht übertragen werden müssen; daran fehlte es hier aber. - Ein anderes Gesetz, von dem ebenfalls gelegentlich behauptet wird, es grenze die Souveränität des britischen Parlaments funktional (nämlich wie ein Verfassungsdokument) ein, ist der Act 0/ Union von 1706 (6 Anne, c. ll), der den Treaty 0/ Union, mit dem England und Schottland zu Großbritannien vereinigt wurden, staatsrechtlich umsetzte. Auch hier geht es um die Frage, ob die Bestimmungen dieses statute für das heutige Parlament unberührbar und bindend sind, u. a. weil das daraus hervorgegangene (britische) Parlament wegen der damit vollzogenen geographischen Erweiterung seines Einzugsgebietes nicht ohne weiteres als identisch mit den englischen und schottischen Vorgängern angesehen werden kann. Bei diesem Streit spielen auch landsmannschaftliche (schottische) Empfmdungen eine gewisse Rolle; im übrigen ist der Fall mit einer Reihe sehr komplizierter Fragen vermengt. Auf eine Analyse muß hier verzichtet werden. Für die überreichlich hierzu vorhandene Literatur, siehe Smith, Union of 1707 as Fundamental Law, in: PL 1957, S. 99 ff.; Middleton, New Thoughts on the Union Between England and Scotland, in: Juridical Rev. 66 (1954), S. 37 ff.; MitchelI, Constitutional Law, S. 69-74; Upton, Marriage Vows ofthe Elephant: The Constitution of 1707, in: LQR 105 (1989), S. 79 ff.; Thelen, Vereinbarkeit des EWGV, S. 44 ff.; MitchelI, Sovereignty of Parliament - Yet Again, in: PL 1985, S. 196 ff. (202 ff.); Trautwein, Grundrechtsproblematik im englischen Recht, S. 30 ff.; Geisseler, Reformbestrebungen, S. 101 ff. In diesem Zusammenhang wird immer wieder MacCormick v. Lord Advocate 1953 s. c. 396 angeführt; dazu siehe MitchelI, Constitutional Law, S. 86 f.; Thelen, Vereinbarkeit des EWGV, S. 45 ff.; MarshalI, Changing Concept of Parliamentary Sovereignty, in: Political Studies 2 (1954), S. 193 ff. (193 f.); Gough, Fundamental Law, S. 214 ff.; Thomson, Community Law, Act of Union and the Supremacy of Parliament, in: LQR 92 (1976), S. 36 ff.; Williams, Constitution of the UK, in: CLJ 31 (1972), S. 266 ff. (269 ff.).

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Die sich hier ergebenden Probleme mit den verschiedenen dazu entwickelten Auslegungen seien an einem Beispiel demonstriert, das für andere gleich oder ähnlich formulierte Gesetze stehen mag. Mit Wirkung vom 15. August 1947 wurden durch den Indian Independence Act 140 zwei neue Dominions, Indien und Pakistan, aus der Taufe gehoben. In sec. 6 (2) dieses Gesetzes heißt es in Hinsicht auf die in Indien und Pakistan neu einzurichtenden Volksvertretungen: No law and no provision of any law made by the Legislature of either of the new Dominions shall be void or inoperative on the ground that it is repugnant to the law ofEngland, or to the provisions ofthis or any existing or future Act ofParliament of the United Kingdom ... Und als logisches Gegenstück hierzu wird in sec. 6 (4) bestimmt: No Act of Parliament of the United Kingdom ... shall extend, or be deemed to extend, to either of the new Dominions as part of the law of that Dominion unless it is extended thereto by a law of the Legislature of the Dominion. 141 Versucht man nun mit der orthodoxen Lehre die durch diese Bestimmungen geschaffenen rechtlichen Gegebenheiten nach dem bekannten Erklärungsmuster als bloße Delegation zu deuten, so ergeben sich freilich einige unbefriedigende Widersprüche mit der Rechtswirklichkeit. 142 Denn gesetzt den Fall, das britische Parlament würde die zitierten Vorschriften des Indian Independence Act außer Kraft setzen und eine neuerliche Kompetenz zur Verabschiedung von auch für Indien und Pakistan verbindlichen Gesetzen beanspruchen - und dies ohne Zustimmung der einheimischen Parlamente - , so würden die indischen und pakistanischen Gerichte solchen Gesetzen mit Sicherheit die Gefolgschaft verweigern. 143 Außerdem vertrüge sich eine derartige Vorgehensweise auch kaum mit dem Völkerrecht, das den Staaten eine Pflicht zur Achtung fremder Souveränität auferlegt. Diesen Schwierigkeiten sucht die orthodoxe Lehre ähnlich wie im Falle des eben behandelten Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft zu begegnen. Und in der Tat: das Völkerrecht verpflichtet zwar zur Achtung der Souveränität fremder 10 & 11 Geo 6 c. 30. Ganz ähnlich ist die Formulierung in sec. 4 des berühmten Statute o/Westminster II von 1931 (22 Geo 5, c. 4), der das, was sec. 6 (4) des Indian Independence Act nur für Indien und Pakistan bestimmt, für alle 1931 bereits bestehenden Dominions anordnet. Wenngleich der Statute 0/ Westminster ungleich berühmter ist und zweifelsohne historisch den entscheidenderen Vorstoß darstellte, soll der Indian Independence Act hier als Demonstrationsobjekt bevorzugt werden. 142 Der These, derartige Vorschriften seien nichts weiter als die parlamentarische Anordnung einer weiteren den Gerichten an die Hand gegebenen Interpretationsregel (so Wheare, Statute of Westminster, S. 153 f.) sei hier nicht weiter nachgegangen; sie wirft exakt die gleichen Probleme auf, wie das im weiteren zu Grunde gelegte Delegationsmodell und hat außerdem den Nachteil, zum Gesetzeswortlaut im klaren Widerspruch zu stehen; siehe hierzu ausführlich Thelen, Vereinbarkeit des EWGV, S. 72 ff., 77 .. 143 In dieser Erwartung sind sich auch alle Vertreter der orthodoxen Lehre einig, siehe etwa HLE Bd. 6, § 834. 140 141

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Staaten; unstreitig bleibt es aber jedem Staat selbst überlassen, wie er dieser Pflicht nachkommt. Anders gesagt: wie auch schon bei den Römischen Verträgen muß die Herbeiführung eines bestimmten durch die jeweilige außernationale Rechtsordnung gebotenen rechtlichen Erfolgs nicht unbedingt durch das Verfassungsrecht geschehen; es genügt vielmehr, daß im Ergebnis dem Völkerrecht entsprochen wird, auch wenn es nach innerstaatlichem Recht möglich wäre, dieses Völkerrecht zu mißachten. Und auch in Hinsicht auf die verfahrensmäßigen Vorkehrungen läßt sich eine Parallele zum EG-Vertrag ziehen. Zwar gibt es im Völkerrecht keine dem Europäischen Gerichtshof vergleichbare richterliche Instanz. Da aber jeder Versuch eines britischen Parlaments, neuerliche legislative Kompetenzen in seinen ehemaligen Kolonien zu beanspruchen, nur dann erfolgreich sein kann, wenn die dortigen Rechtssubjekte sich diesem Anspruch zu beugen bereit zeigen, wären jedem derartigen Versuch von vorneherein unüberwindliche Hindernisse in den Weg gelegt. Aus diesem Blickwinkel ist der bei Zugrundelegung einer Rechtsdelegation entstehende Widerspruch zwischen der theoretisch dem Parlament zugewiesenen Rechtsrnacht und der praktischen Unmöglichkeit, diese auch zu realisieren, kein Argument gegen, sondern vielmehr für dieses Erklärungsmodell. Gerade weil die indischen und pakistanischen Rechtsanwender das Ansinnen, britischem Recht gehorchen zu sollen, ohne Zweifel als "imperialistische" und "neokolonialistische" Einmischung schlicht ignorieren würden, ist das britische Parlament davor gefeit, einen derartigen Versuch auch tatsächlich zu unternehmen. Auch hier wiederum sollen also politische Schranken die rechtlich unbeschränkbare Parlaments souveränität bremsen helfen. Für die Verfechter der orthodoxen Lehre steht somit fest, daß die vom britischen Parlament verfügte Unabhängigkeit nicht mehr sei als eine von diesem frei widerufliche Delegation an die jeweils vor Ort neu eingerichteten Organe, die konsequenterweise ihre Befugnisse allein dem britischen Parlament zu verdanken hätten. 144 Damit sind aber nicht alle Probleme abgetan. Denn in einem wichtigen Punkt bricht der Vergleich zwischen dem Gesetz über die Europäischen Gemeinschaften und dem Indian Independence Act zusammen. Würde das britische Parlament 144 In dem Indian lndependence Act etwa wurden mit sec. 8 (1) zwei Verfassungskonvente geschaffen, die die Verfassungen der beiden neuen Staaten ausarbeiteten, so daß in der Tat eine lückenlose Kontinuität vom britischen Parlament zu den Staatsorganen Indiens und Pakistans hinführt. - Daß ein britisches Gericht mit der hier dargelegten Auffassung der orthodoxen Lehre ggfs. auch ernst machen würde, zeigt das Votum von Sir Robert Megarry, VC in Manuel v. Attorney-General (Ch) [1983] 1 Ch 77 = [1982] 3 All ER 786. Hier stand zur Entscheidung an, ob ein britisches Gericht die Einhaltung von sec. 4 des Statute oJWestminster durch das Parlament überprüfen dürfe. Das Gericht lehnte dies ab: ..... the duty of the court is to obey and apply every Act of Parliament ... once an instrument is recognised as being an Act of Parliament, no English Court can refuse to obey it or question its validity ..." ([1983] 3 All ER 786 auf S. 793). Der Court of Appeal ließ diese Frage dahinstehen, zeigte aber deutliche Sympathien für die von Sir Robert eingenommene Haltung, siehe [1982] 3 All ER 822 auf S. 828 f.

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die den europäischen Organen überstellten Kompetenzen erneut in Anspruch nehmen und damit faktisch die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs beenden, so würde das Land damit zweifellos in einen Gegensatz zu seinen völkerund europarechtlichen Verpflichtungen geraten. Letztendlich - und das ist die Pointe - würde in der Rechtswirklichkeit aber die Parlamentssouveränität triumphieren. Die Europäische Gemeinschaft verfügt nämlich über keinen eigenen Verwaltungsunterbau, sondern bedient sich für die Erledigung ihrer Aufgaben der nationalen Behörden. Diese aber würden sich dem Anspruch des "eigenen" Parlaments mit Sicherheit beugen. Eine solch fügsame Haltung wäre von den indischen oder pakistanischen Organen keinesfalls zu erwarten. Während also im Beispiel des European Communities Act auch für den nur "theoretisch" denkbaren Fall (d. h. bei Aufkündigung der britischen Mitgliedschaft) die praktische Verwirklichung der nach Ansicht der orthodoxen Lehre dem Parlament zustehenden Rechtsmacht voll sichergestellt ist, würde bei Gesetzen wie dem Indian Independence Act gerade im kritischen Fall ein rechtens erhobener Anspruch in der Wirklichkeit ersichtlich konsequent zurückgewiesen werden, sollte er jemals geltend gemacht werden. 145 Im übrigen aber - und das ist wohl der schlagendste Einwand gegen das Delegationsmodell- gibt es keinen vernünftigen Zweifel, daß das seinerzeit beschließende britische Parlament auch tatsächlich seine Befugnisse in Hinsicht auf die in ihre Unabhängigkeit entlassenen Länder unwiderruflich weggeben wollte, also selbst das hier prognostizierte Verhalten der indischen und pakistanischen Organe gar nicht anders erwartet hätte. Anders als im Falle des Beitritts zu der Europäischen Gemeinschaft 1973, wo man insoweit letzte Zweifel nicht ausschließen kann, entsprach es beim Indian Independence Act gerade der Absicht des damaligen Parlaments, die von der orthodoxen Lehre so heftig bestrittene Selbstbindung herbeizuführen. 146 Manche Vertreter der orthodoxen Lehre lassen diese Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit unaufgelöst stehen und ziehen sich auf die rein politische Position zurück, daß ein britisches Parlament niemals Souveränität über ein unabhängiges Gebiet beanspruchen würde, solange klar erkennbar sei, daß die Behörden vor Ort diesem Anspruch die Gefolgschaft verweigern würden. 147 Für diese Ansicht scheint zu sprechen, daß alle Staaten aus dem einen 145 Dike (Anm. 127), S. 293. Das erkannte das Gericht auch in der Manuel-Entscheidung [1982] 3 All ER 786 auf S. 784. 146 Dies gilt natürlich ebenso für alle anderen Fälle, in denen ehemals abhängigen Gebieten die Unabhängigkeit gewährt wurde; siehe etwa zur Aufhebung des Declaratory Act (6 Geo I c. 5) durch Parlamentsbeschluß 1782, mit dem das irische Parlament (bis zum Act 0/ Union im Jahre 18(0) die volle und unbeschränkte Souveränität eingeräumt worden war, Anson (Anm. 126), S. 438 f. 147 Das etwa scheint die einem viel zitierten Diktum des Viscount Sankey L. C. zugrundeliegende Ansicht zu sein: "It is doubtless true that the power of the Imperial Parliament to pass on its own initiative any legislature it thought fit extending to Canada remains in theory unimpaired ... But that is theory and has no relation to realities." So in British Coal Corporation v. The King (PC) [1935] AC 500 auf S. 520 bezogen auf

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oder anderen Grund gelegentlich Recht setzen, das extraterritoriale Anwendung für sich beansprucht. Solches Recht richtet sich allerdings stets nur an die eigenen staatlichen Organe, so etwa wenn ein bestimmtes Tun auch dann unter Strafe gestellt wird, wenn es im Ausland begangen wurde. Unter diesen Umständen sind nur die Behörden des solches Recht setzenden Staates - selbstverständlich nicht die des jeweiligen Gebietsstaates - zur Strafverfolgung verpflichtet. Nach der eben vorgetragenen Ansicht der orthodoxen Lehre wäre aber das britische Parlament nicht nur zur Verabschiedung von extraterritorial anwendbaren Gesetzen berechtigt - eine an sich unproblematische Angelegenheit 148 - , sondern die Inder wären von Rechts wegen gehalten, solchen Gesetzen auch zu gehorchen Kanada und sec. 4 des Statute 01 Westminster, der sec. 6 (4) des Indian Independence Act fast wörtlich entspricht (siehe Anm. 142). Tatsächlich ist dieser Fall so theoretisch keineswegs wie Alexis, British Intervention in St. Kitts, in: N. Y. University J. Intem'l L. & Politics 16 (1984), S. 581 ff. beweist. Im West Indies Act 1967, eh. 4, hatte das britische Parlament den westindischen Inseln St. Christopher (heute St. Kitts), Nevis und Anguilla zusammengefaßt in einem Territorium den Status eines assoziierten Landes eingeräumt. Das Gesetzgebungsorgan des Territoriums war für alle inneren Angelegenheiten zuständig, durfte auch die Verfassung des Territoriums ändern und konnte sich über entgegenstehendes britisches statute-Recht hinwegsetzen. Das Vereinigte Königreich blieb allein zuständig für Verteidigung und Außenbeziehungen; insoweit durfte das Parlament auch in dem Territorium bindende Gesetze erlassen. Darüber hinaus sollte - ähnlich wie im Westminster Act - das britische Parlament nur dann noch für das Territorium geltende Gesetze verabschieden können, sofern in dem Gesetz selbst die Feststellung aufgenommen war "that the state has requested and consented to its being enacted" (siehe a. a. 0., S. 584 ff.). In der Folge erklärte die Bevölkerung von Anguilla ihren Willen, aus dem neuen Staatsverband auszuscheiden; später kam es zur offenen Revolte. Nachdem Vermittlungsversuche gescheitert waren, wurde die Insel von britischen Truppen besetzt. Ein Royal Commissioner wurde eingesetzt, dem unter dem Anguilla (Temporary Provision) Order 1969 weitgehende Vollmachten zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung übertragen wurden. Der Anguilla Act (1971, eh. 63) bestätigte im wesentlichen diese neue Lage. Beide Regelungen wurden ausdrücklich auf die im West Indies Act beim Vereinigten Königreich verbliebene Zuständigkeit für Verteidigung und auswärtige Angelegenheiten gestützt, eine kaum sehr tragfähige Grundlage angesichts des Umstandes, daß hier eindeutig die inneren Verhältnisse von Anguilla geregelt werden sollten (siehe a. a. 0., S. 589 ff.); ein Hinweis, daß die entsprechenden Regelungen von der Gesetzgebungskörperschaft des Landes erbeten worden waren, fehlte. Vollends verlassen wurde die Rechtsgrundlage des West Indies Act mit dem Anguilla Act von 1980 (eh. 67), der die Voraussetzungen für die Unabhängigkeit von Anguilla am 19.12.1980 legte; dieser statute enthielt ebenfalls keinen Hinweis, wie nach dem West Indies Act von 1967 notwendig, behauptete aber auch nicht, auf die beim Vereinigten Königreich verbliebenen Restzuständigkeiten gestützt zu sein. Damit lag hier eindeutig eine Verletzung der Vorschriften des West Indies Act vor; siehe a. a. 0., S. 593 ff. 148 Denn tatsächlich ist insoweit (allerdings nur insoweit) die sich aus der orthodoxen Lehre ergebende Rechtslage so einmalig nicht. Schließlich könnte im Prinzip jeder Staat der Welt eine ebensolche Lage herbeiführen, wie sie entstehen würde, wenn das britische Parlament Gesetze mit Wirkung in Indien oder anderswo verabschieden würde. Unter Umständen mag die Setzung solchen Rechts durch das nationale Verfassungsrecht verboten sein, eine unüberwindbare Schranke wäre auch das nicht, denn schließlich läßt sich Verfassungsrecht ebenso ändern wie Gesetzesrecht. Der Unterschied bestünde allein darin, daß im Vereinigten Königreich hierzu eine einfache Mehrheit ausreicht, in anderen Ländern dagegen die erschwerenden Vorschriften über die Verfassungsänderung zu beachten wären.

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- und zwar, wie es scheinen will, auf ewige Zeiten: eine offensichtlich unbefriedigende Situation, die nicht nur der Realität ins Gesicht schlägt, sondern auch im Widerspruch zur Rechtslage steht. Denn die Inder und Pakistani verstehen ihre Verfassungen nicht als britische Gesetze, die ihre Legitimität aus Westminster beziehen, sondern als autochton 149 veranlaßte, in einem eigenen Selbstbestimmungsrecht wurzelnde Normen. 150 Eine etwas weniger radikale Variante der orthodoxen Lehre räumt in Anerkennung dessen daher ein, daß britische Gesetze in den ehemaligen Kolonien tatsächlich keinerlei Gültigkeit mehr beanspruchen können, sondern nur für britische Rechtsadressaten verbindliches Recht darstellen. Mit dieser Ansicht kann man sich zunächst einmal auf den Wortlaut des oben zitierten sec. 6 (4) des Indian Independence Act stützen, mit dem ja keineswegs auf schlechthin jede die beiden neuen Dominions betreffende gesetzgeberische Tätigkeit des britischen Parlaments verzichtet wird, sondern allein auf solche Gesetze, die als Teil des Rechts des jeweiligen Dominions ("No Act ... shall extend ... to ... the new Dominions as part ofthe law ofthat Dominion . ..") zu gelten beanspruchen. Damit ist hier genau jene Unterscheidung eingeführt, die bei der radikalen Variante der orthodoxen Lehre eben vermißt wurde. Ein britisches Gesetz, das unter Hinwegsetzung über sec. 6 (4) auch in Indien oder Pakistan Gültigkeit beansprucht, wäre von britischen Gerichten anzuwenden - aber nur von diesen. Indische oder pakistanische Gerichte hingegen könnten solche Gesetze ignorieren, weil sie nicht "part of the law of that Dominion" wären. Nach dieser Ansicht ist die einmal gewährte Unabhängigkeit in Hinsicht auf die in den betreffenden Gebieten befindlichen Rechtsaddressaten somit nicht wideruflich. 151 Damit wird vor allem dem Umstand Rechnung getragen, daß der Geltungsgrund der in den ehemaligen Kolonien in Kraft gesetzten Verfassungen nicht das entsprechende britische Gesetz sein kann. Wie Petersmann herausgearbeitet hat, 152 kann das hier stattfindende rechtliche Geschehen nur dann richtig gedeutet werden, wenn von einer "Loyalitätsübertragung" der indischen und pakistanischen 149 Zu diesem Begriff und seinen möglichen Definitionen, siehe MarshalI, Constitutional Theory, S. 57 ff. 150 Indien und Pakistan haben sich denn auch längst von wesentlichen Vorschriften der seinerzeit 1947 eingerichteten Verfassungen befreit; beide Staaten sind z. B. heute Republiken. - Für eine Interpretation dieser Vorgänge aus einer Kelsenschen Sicht, siehe Harris, When and Why Does the Grundnorm Change? in: CU 29 (1971), S. 103 ff. 151 Siehe hierzu etwa HLE Bd. 6, 834: " ... independence, of its nature, cannot be revoked otherwise than by surrender." So auch der Privy Council in lbralebbe et al. v. R. (PC) [1964] AC 900 auf S. 918; [1964] 1 All ER 251 auf S. 257. Unklarer dagegen die Entscheidung in Manuel v. Attorney-General (ChD) [1982] 3 All ER 786 auf S. 794. Im Sinne dieser Auslegung auch Jennings, Law & Constitution, S. 167 f.; de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 75 f.; ehloros, English Law and European Law, in: RabelsZ 36 (1972), S. 601 ff. (603 f.); Phi/Ups, Parliament and Self-Limitation, in: Cambrian L. Rev. 4 (1973), S. 71 ff. (73 f.). 152 Souveränität des britischen Parlaments, S. 293 ff.

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Gerichte und anderer Rechtsanwender ausgegangen wird: 153 diese sehen sich nicht länger den Organen der britischen Verfassung gegenüber zu Gehorsam verpflichtet, sondern ausschließlich den neuen durch ihre nationalen Verfassungen errichteten Institutionen. Um es dem britischen Parlament zu erlauben, erneut legislative Kompetenzen in den ehemaligen britischen Besitzungen ausüben zu können, müßte folglich eine ,,Loyalitätsrückübertragung" stattfinden, die aber vom britischen Parlament nicht normativ herbeigezwungen werden kann. Denn der Rechtssatz von der Parlamentssouveränität kann ja nicht schlechterdings für überhaupt alle Rechtspersonen verbindlich sein, sondern nur für solche, die sich ihm zuvor unterstellt haben - den "British subjects" also. Scheiden aus diesem Personenkreis bestimmte Gruppen als Ergebnis einer ,,Loyalitätsübertragung" aus, sind diese Gruppen der Parlamentssouveränität entzogen, ohne aber - und das ist entscheidend - diesem Rechtssatz als solchem damit irgendetwas von seinem materiellem Gehalt genommen zu haben. Durch die Entlassung eines Gebietes in die Unabhängigkeit wird daher nicht an das Verbot der Selbstbindung des Parlaments gerührt, sondern allein der durch diesen verpflichteten Personenkreis neu bestimmt. Diese Bestimmung aber gründet sich allein auf eine entsprechende Bereitschaft der Rechtssubjekte. Als eine der Parlamentssouveränität vorgeschaltete "nur" tatsächliche Voraussetzung kann sie von der Parlamentssouveränität nicht mitumfaßt werden. 154 Auch in den Fällen, wo der territoriale Geltungsbereich der Parlamentssouveränität verändert wurde, kann die orthodoxe Lehre somit befriedigende Erklärungen anbieten, allerdings nur sofern an ihr einige nicht unwesentliche Modifizierungen vorgenommen werden.

153 Ähnlich Wade, The Basis of Legal Sovereignty, in: CU 13 (1955), S. 172 ff. (191 ff.); Latham, Law & Commonwealth, S. 533 f.; de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 66 f.; Thelen, Vereinbarkeit des EWGV, S. 77 f. 154 Lehrreiches Anschauungsmaterial für die in dieser Fallgruppe auftretenden Probleme bietet die einseitige (d. h. also illegale) Unabhängigkeitserklärung der weißen Regierung Rhodesiens im November 1965; siehe die Entscheidung des Privy Council in Madzimbamuto v. Lardner-Burke et al. [1969] 1 AC 645 = [1968] 3 All ER 561, wo sich die Mehrheit auf den Standpunkt stellte, daß das britische Parlament als Gesetzgebungsorgan weiter für Rhodesien tätig werden dürfe. Anders aber Lord Pearce, [1968] 3 All ER 578. Siehe hierzu Dias, Legal Politics: Norms Behind the Grundnorm, in: CU 26 (1968), S. 233 ff. Der Rhodesienfall betraf allerdings verglichen mit der hier interessierenden Problemlage genau die umgekehrte Konstellation: während es bei der im Text erörterten Frage darum ging, wie die einseitige Inanspruchnahme parlamentarischer Gesetzgebungskompetenzen zu behandeln sei, war in Rhodesien bereits die Unabhängigkeitserklärung einseitig. Beide Fallgruppen gleichen sich indes insofern, als beide Male die Frage ansteht, ob sich überhaupt irgendwelche Rechtssubjekte jemals aus dem Geltungsbereich der Parlamentssouveränität verabschieden können, sofern sie dieser einmal unterstanden haben.

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c) Fallgruppe 3: Veränderungen von Zusammensetzung

und Entscheidungsmodus des "King-in-Parliament"

Nur noch mit größter Mühe und eigentlich gar nicht mehr durchzuhalten ist die orthodoxe Lehre hingegen in einer dritten Fallgruppe, deren herausragendste Beispiele der Parliament Act von 1911 und der Parliament Act von 1949 sind. Die Geschichte dieser beiden außerordentlich wichtigen Gesetze läßt sich rasch erzählen. In seiner ursprünglichen Gestalt bestand das britische Parlament aus zwei in Hinsicht auf ihre Rechte im wesentlichen gleichgestellten Kammern - Oberhaus und Unterhaus. Die Verabschiedung von Gesetzen setzte die durch getrennten Mehrheitsbeschluß festzustellende Zustimmung jeder der beiden Kammern voraus. Nachdem in Antwort auf die Forderungen nach Demokratisierung des Verfassungslebens durch mehrere Wahlrechtsreformen das aktive Wahlrecht für das Unterhaus ganz erheblich ausgeweitet worden war, wurde die Existenz einer mit diesem Unterhaus gleichberechtigten zweiten Kammer, die ihrerseits völlig ohne demokratische Legitimation von der feudalen Herkunft der britischen Verfassung zeugte, zu einem politisch schwer hinnehmbaren Anachronismus. 155 Als Ergebnis einer den nationalen Konsens bis aufs Äußerste strapazierenden politischen Auseinandersetzung gelang es schließlich im Jahre 1911 einer Regierung der Liberalen Partei, den ersten Parliament Act l56 zu verabschieden, dessen Vorschriften durch einen zweiten Parliament Act 1949 157 , nun durch eine LabourRegierung, noch verschärft wurden. Mit diesen beiden Gesetzen wurde das Oberhaus weitgehend entmachtet, so daß es in der heutigen Verfassung nur mehr den allerdings nicht zu unterschätzenden Part einer beratenden Versammlung spielt, die allein vermöge der in ihren Reihen versammelten fachlichen Kompetenz und ihres nach wie vor erheblichen öffentlichen Prestiges wirken kann. 158 Die beiden Parliament Acts unterscheiden zweierlei Arten von Gesetzen je nachdem, ob ein ISS Bereits nach Verabschiedung der ersten Wahlreform 1832 hatten als Folge dessen wichtige verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Veränderungen eingesetzt (Elias, British Constitution: Time for Reform?, S. 10 f.), die die dann später auch rechtlich vollzogene Entmachtung des Oberhauses ankündigten; so war die Regierung etwa hinfort nicht mehr dem House of Lords gegenüber verantwortlich, sondern nur noch gegenüber dem House of Commons, siehe Birch, System of Government, S. 51 f. 156 1 & 2 Geo. 5, c. 13. 157 12, 13 & 14 Geo. 6, c. 99. 158 Eine radikale Umgestaltung des Oberhauses selbst, die sich insbesondere auf die Regeln und Verfahren zur Rekrutierung seiner Mitglieder zu erstrecken hätte, war schon 1911 von den Liberalen als Fernziel in die Päambel des damaligen Parliament Act aufgenommen und ist seitdem immer wieder - besonders in der Labour-Partei, dem natürlichen ,,Feind" des Oberhauses - diskutiert worden. Siehe hierzu Birch, System of Govemment, S. 54 ff.; Geisseler, Reformbestrebungen, S. 154 ff.; Yardley, Constitutional Reform in the UK, in: Current Legal Problems 33 (1980), S. 147 ff. (155 ff.); Mirfield, Can the House ofLords Lawfully Be Abolished? in: LQR 95 (1979), S. 36 ff.; Bouvier, L'avenir de la chambre des Lords, in: Revue internationale de droit compare 35 (1983), S. 509 ff.

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Gesetz finanzwirksam ist oder nicht. Bei den ersteren, den sog. Money Bills, hat das Oberhaus überhaupt kein Mitspracherecht (sec. 1 des Parliament Act i. d. F. von 1949): stimmt das House of Lords solchen Gesetzesentwürfen innerhalb eines Monats nicht zu, gelten sie ohne weiteres als angenommen. Bei allen übrigen Gesetzesvorhaben dagegen verfügt das Oberhaus immerhin noch über ein aufschiebendes Veto. Verweigert das House of Lords seine Zustimmung, so kann diese Ablehnung nur durch eine neuerliche Beschlußfassung des Unterhauses in der folgenden Sitzung beseitigt werden. Unter der Voraussetzung, daß zwischen den beiden Beschlüssen des House of Commons mindestens ein Jahr verstrichen ist, wird eine derartige Gesetzesvorlage auch gegen den Entscheid des House of Lords zum Gesetz. 159 aa) Die orthodoxe Lehre Wie lassen sich diese Gesetze nun in Hinsicht auf die Parlaments souveränität einordnen? Auf den ersten Blick scheint es keine Parallele - und somit auch keine vergleichbare Schwierigkeit - zwischen den Parliament Acts und beiden zuvor erörterten Fallgruppen zu geben. Ersichtlich hat das Parlament mit der OberhausReform auf keinerlei Kompetenzen verzichtet, sondern nur innerhalb des Parlaments die Kompetenzen neu verteilt. Das Parlament selbst hat sich verändert, nicht aber die nach wie vor unbeschränkte Fülle der von ihm wahrgenommenen Befugnisse. Gleichwohl stellt sich auch hier die Frage, ob die mit den beiden Parliament Acts geschaffenen neuen Gegebenheiten ohne weiteres nach den bekannten Regeln über die Derogation jederzeit rückgängig gemacht werden könnten. Sicherlich ließe sich die vor 1911 bestehende Verfassungslage durch ein entsprechendes Gesetz wieder herstellen, ohne daß sich hierbei irgendwelche Besonderheiten ergeben. Mit den Bestimmungen der beiden Parliament Acts wäre auch - wenn das Unterhaus nach Ablehnung eines seiner Gesetzesbeschlüsse durch das Oberhaus darauf verzichten würde, diesen dem König zuzuleiten - die Voraussetzung für seine Inkrafttretung als Gesetz geschaffen. Würde das House of Lords für sich also erneut das Recht auf ein nicht authebbares Veto einfordern, so stünde dem auch bei formalem Fortbestehen der Parliament Acts dann nichts im Wege, wenn sich das Unterhaus diesem Anspruch in der Praxis fügen würde. 159 Der Vollständigkeit halber sei hier noch die einzige Ausnahme zu diesem Verfahren erwähnt. Sofern nämlich durch statute die Sitzungsperiode des Parlaments über einen Zeitraum von 5 Jahren hinaus verlängert werden soll, kann dies nur mit der Zustimmung des Oberhauses beschlossen werden (sec. 2 Parliament Act). Zuletzt trat dieser Fall während des 2. Weltkrieges ein. Das Oberhaus hat von der Möglichkeit, ein Gesetzesvorhaben durch sein Veto aufzuhalten (und wegen der einzuhaltenden Fristen gegebenenfalls damit auch zu verhindern), nur in sehr wenigen Fällen Gebrauch gemacht, siehe hierzu Birch, System of Government, S. 58 f.; Jennings, Law & Constitution, S. 142 f.

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Das hingegen sind im Hinblick auf die Parlamentssouveränität nicht die eigentlich interessanten Fälle. Ernste Schwierigkeiten für die orthodoxe Lehre ergeben sich vielmehr erst dann, sofern das Oberhaus gegen den Willen des Unterhauses seine ehedem genossene Stellung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens reklamieren würde. Das Oberhaus könnte etwa durch Beschluß all seiner Mitglieder feststellen, daß es nunmehr seine Entscheidungen über ihm vorgelegte Gesetzesvorlagen wie ehedem als nicht von außen behebbare Beschlüsse anzusehen gedenkt. Das Unterhaus könnte einem solchen Anspruch gegenüber nur dann auf die Parliament Acts verweisen, wenn diese für das Oberhaus verbindlich wären, zu ihrer Außerkraftsetzung also eines nach den Regeln der Parliament Acts zustande gekommenen Gesetzesbeschlusses unter Einbeziehung des Unterhauses bedürften. Das Problem der Parlamentssouveränität besteht nun darin, daß sie eine ganz bestimmte Definition des durch sie berechtigten Subjekts - des Parlaments voraussetzen muß. Außerdem ist nicht schlechthin jede irgendwie aus dem Parlament herrührende Willensäußerung der Parlamentssouveränität unterstellt, sondern nur und ausschließlich solche, die als statutes qualifiziert werden können, also in einem bestimmten Verfahren verabschiedet wurden. Ändert man nun dieses Verfahren - wie mit den Parliament Acts geschehen - , so setzt dies, soll diese Änderung verbindlich sein, eine Selbstbindung desjenigen ,,Parlaments" voraus, welches historisch vor dieser Änderung souverän war. Denn dieses ehedem souveräne ,,Parlament" verliert nunmehr diese Eigenschaft, die auf ein neues Parlament übertragen wird. Verbindlich für das Oberhaus wären die Parliament Acts somit nur dann, wenn für solche Selbstbindungen die Parlamentssouveränität nicht gilt. Die orthodoxe Lehre, die ausnahmslos alle Selbstbindungen untersagt, kann dies nicht zugestehen; sie muß folglich annehmen, daß die Parliament Acts nicht verbindlich sind und auch nur eine Art der Delegation darstellen, diesmal vom Parlament auf eine andere Körperschaft, die sich freilich auch Parlament nennt. 160 Nach Ansicht der orthodoxen Lehre steht es daher in der Tat dem Oberhaus jederzeit frei, neuerlich sein Vetorecht zu beanspruchen und zwar ohne daß es hierzu eines die Parliament Acts aufhebenden Gesetzes bedürfte. 161 Dieses Ergebnis zunächst einmal hinzunehmen, fallt ausgesprochen schwer. Nicht nur steht es in krassestem Widerspruch 162 zu den seinerzeitigen Vorstellungen von Befürwortern und Gegnern der Parliament Acts, die allesamt von einer 160 So z. B. ausdrücklich Wade (Anm. 153), S. 193 f.; und auch Thelen, Vereinbarkeit des EWGV, S. 117 f. Für eine Kritik dieser merkwürdigen Konstruktion siehe M irfield (Anm. 158), S. 47 f.; MarshalI, Parliamentary Sovereignty & Commonwealth, S. 44. 161 So vor allem Wade (Anm. 153), S. 193 f., aber auch z. B. ganz ausdrücklich Trautwein, Grundrechtsproblematik im englischen Recht, S. 37. 162 Ganz eindeutig insoweit etwa Gray, Sovereignty ofParliament, in: Univ. ofToronto L. J. 10 (1953), S. 54 ff. (63): " ... the suggestion that parliamentary sovereignty defies and avoids all attempts to limit the constitution and procedure of subsequent Parliaments makes nonsense of facts and should be dismissed."

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rechtswirksamen Bindung auch und gerade des Parlaments ausgingen; 163 ebensowenig ist es mit den politischen Verhältnissen des Vereinigten Königreichs in Einklang zu bringen, die eine Rückkehr zu den verfassungsrechtlichen Zuständen vor 1911 schlechterdings unmöglich erscheinen lassen. Gegenüber diesen offensichtlichen Konflikten mit der Rechtswirklichkeit ist man geneigt, spontan einzuwenden, daß die parlamentarische Allmacht hier "offensichtlich" nicht gelten ,,könne" und für solche Fälle "einfach" nicht gemacht wäre. Es bleibt demgegenüber das Faktum, daß die Anhänger der orthodoxen Lehre, wenn sie von der ausnahmslosen Geltung des Verbots der Selbstbindung sprechen, wirklich ganz und gar ausnahmslos meinen und damit eine Prinzipientreue zeigen, die in allen ihren Folgen zu begreifen wegen der dabei aufzuwendenden, geradezu gnadenlosen Konsequenz dem juristischen Vorstellungsvermögen ganz erhebliche Mühe bereitet. 164 bb) Die sog. "Neue Lehre der Parlamentssouveränität" (New View of Parliamentary Sovereignty) In Reaktion auf die als unakzeptabel empfundene Auslegung der Parliament Acts durch die orthodoxe Lehre ist auf eine in einigen Ländern des Commonwealth aus gegebenem Anlaß entwickelte Meinung zurückgegriffen worden, die mittlerweile zu einem ganz neuen Verständnis der Parlamentssouveränität überhaupt 163 Andernfalls wäre ja der ganze Streit sinnlos gewesen, und man hätte besser daran getan, für die Entmachtung des Oberhauses auf die Herausbildung einer entsprechenden Verfassungskonvention zu warten, so wie seinerzeit bei der allmählichen Liquidierung der Macht der Monarchie. Bezeichnend in dieser HAnsicht ist ein anläßlich der Beratungen über den Parliament Act von 1911 eingebrachter Anderungsantrag eines Oppositionsabgeordneten, der zur Folge gehabt hätte, daß der Parliament Act selbst nur mit der Zustimmung des House of Lords hätte abgeändert werden dürfen (was den Parliament Act von 1949 verunmöglicht hätte); die Regierung lehnte dies ab mit dem Hinweis, daß das House of Commons auch insoweit freie Hand haben müsse; siehe hierzu Mirjield (Anm. 158), S. 52 f. Klar wird hier davon ausgegangen, daß der Parliament Act in der schließlich verabschiedeten Fassung auch für das House of Lords verbindlich sein sollte. Unverständlich ist angesichts dessen die Ansicht von Thelen, Vereinbarkeit des EWGV, S. 113 f., ,,rechtsdogmatisch" sei die Auslegung der orthodoxen Lehre "die sauberste Lösung". 164 Allerdings zeigt auch die Konsequenz der Anhänger der orthodoxen Lehre Grenzen. Wenn es nämlich richtig wäre, daß auch Änderungen im parlamentarischen Verfahren dem Verbot der Selbstbindung unterliegen, so ist nicht einzusehen, warum dies nicht auch für die Regeln über die Zusammensetzung des Parlaments gelten solle. Alle Modifizierungen des Wahlrechts etwa, die jemals über die Jahrhunderte hinweg erfolgt sind, wären so ebenso unverbindlich wie die Parliament Acts. Damit entsteht ein logisches Paradox in Form eines infiniten Regresses, und die Frage wird unbeantwortbar, welches historische Parlament denn nun eigentlich als ursprünglich "souverän" anzusehen wäre. Gleichzeitig hätte man damit die entscheidende normative Legitimation des heutigen Systems in eine dunkle Vorzeit verschoben, an die die verfassungspolitische Gegenwart indes sklavisch gekettet wäre. Dieser Schluß, der logisch durchaus kohärent ist, ist nun allerdings - soweit erkennbar - von niemandem gezogen worden.

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ausgebaut wurde. 165 Damit ist der sog. New View of Parliamentary Sovereignty angesprochen. 166 Angewendet auf die Parliament Acts lautet die Kemthese des "New View", daß mit diesen beiden Gesetzen der Träger der Parlamentssouveränität - also das diesem Prinzip zugeordnete Rechtssubjekt - neu bestimmt worden sei. Wie jede kompetenzzuweisende Rechtsregel setze die Parlamentssouveränität als Metaregel eine Bestimmung darüber voraus, wer überhaupt es denn sein solle, der in den Genuß der Parlamentssouveränität zu kommen bestimmt sei. Ändere man diese Bestimmung, so bleibe zwar das Prinzip als solches bestehen, erhalte aber ein neues Zuordnungssubjekt. Anders gesagt: die "Souveränität" als zugewiesene Rechtsqualität bleibt unverändert, aber das, was mit "Parlament" gemeint wird, ist ein anderes geworden. Die Entmachtung des Rouse of Lords läßt sich demnach wie folgt verstehen: bei den Money Bills wird die Souveränität nur noch von Unterhaus und König ausgeübt, das Oberhaus ist insoweit aus dem Rechtssubjekt ,,Parlament" ausgeschieden. Bei allen anderen Materien bleibt das House of Lords zwar ein Teil des die Souveränität innehabenden Organs, allerdings ohne daß es auf seine Zustimmung letztendlich noch ankäme. Die entscheidende Wendung der "Neuen Lehre" besteht also darin, einen bestimmten Normbestand aus dem Anwendungsbereich des Verbots der Selbstbindung herauszunehmen. 167 Dem "New View" kann dies gelingen, weil er diesen 165 Vor allem zwei Fälle waren maßgeblich für die Entwicklung des ,,New View", nämlich einmal der australische Fall Trethowan v. Peden (1931) 44 CLR 394 und die Entscheidung des Privy Council in der gleichen Sache Att.-Gen. for New South Wales v. Trethowan [1932] AC 526; andererseits Harris et al. v. Dönges et al. [1952] TLR 1245 (= Harris-Fall no. 1) und Minister of the Interior v. Harris et al. 1952 (4) SA 769 (= Harris-Fall no. 2). Diese nach allen Regeln der Kunst (und darüber hinaus) ausanalysierten, allerdings tatsächlich hochinteressanten Entscheidungen sollen im Interesse der Übersichtlichkeit hier nicht näher ausgebreitet werden; das Anliegen des ,,New View" läßt sich auch so befriedigend darstellen. Aus der reichlich hierzu vorliegenden Literatur sei auf die folgenden Titel verwiesen: Dixon, The Law and the Constitution, in: LQR 51 (1935), S. 590 ff.; MarshalI, Parliarnentary Sovereignty & Commonwealth, S. 139-248; Heuston, Essays in Constitutional Law, S. 13 ff.; Sawer, Injunction, Parliamentary Process, and the Restriction of Parliarnentary Competence, in: LQR 60 (1944), S. 83 ff.; Friedmann, Trethowan's Case, in: Australian L. J. 24 (1950), S. 103 ff.; Gray (Anm. 162), S. 54 ff.; McWhinney, Union Parliarnent, Supreme Court and the ,,Entrenched Clauses" of the South Africa Act, in: Can. Bar Rev. 30 (1952), S. 692 ff.; Cowen, Legislature and Judiciary I, in: MLR 15 (1952), S. 282 ff. (283 ff.); Jennings, Law & Constitution, S. 153 ff.; Thelen, Vereinbarkeit des EWGV, S. 93 ff., 99 ff. Zwei andere in diesem Zusammenhang ebenfalls angezogene Entscheidungen sind Bribary Commissioner v. Ranasinghe [1964] 2 All ER 785 = [1965] AC 172; R. (O'Brien) v. Military Governor, N. D. U. Internment Camp [1924] 1 IR 32. 166 Folgende Autoren haben sich im Sinne des ,,New View" ausgesprochen: Latham, Law & Commonwealth, S. 522 f.; Cowen, Legislature and Judiciary 11, in: MLR 16 (1955), S. 278 ff. (290 ff.); MitchelI, Constitutional Law, S. 81 f., 87 f.; Jennings, Law & Constitution, S. 153 ff., 161 ff.; Heuston, Essays in Constitutional Law, S. 1-29. Sogar HLE 8, § 811, S. 533 scheint vorsichtig den Standpunkt des ,,New View" zu unterstützen. 167 Gray (Anm. 162), S. 65,67.

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

Normbestand sachlogisch der Parlaments souveränität voranstellt. Erst durch die Regeln über die rechte Bestimmung des Souveräns werde die Voraussetzung für das Wirksamwerden der Souveränität gelegt: daher verbiete es sich, den Satz von der Parlamentssouveränität auf jene Regeln anzuwenden, als deren Ergebnis die Parlamentssouveränität überhaupt erst entstehen könne. Dieser letzte Schluß muß allerdings in einem wichtigen Punkt korrigiert oder präzisiert werden. Sofern hier nämlich eine logisch für zwingend gehaltene Sachgesetzlichkeit behaupten werden sollte, wäre es dem "New View" aufzugeben, hierfür den bislang schuldig gebliebenen Beweis beizubringen. Es ist nämlich keineswegs einleuchtend, wieso die Anwendung einer Norm auf ihre eigenen Voraussetzungen - sogar auch auf sich selbst - logisch ausgeschlossen sein sollte; 168 für das Gegenteil lassen sich durchaus auch Beispiele anführen 169. Richtigerweise wird man den ,,New View" daher so zu verstehen haben, daß er die Nichtanwendbarkeit des Verbots der Selbstbindung auf die Regeln über das Zustandekommen des parlamentarischen und d. h. souveränen Willens nicht als Ergebnis eines logischen Gesetzes versteht, sondern vielmehr als Konvention, die an sich auch anders hätte ausfallen können und die aus einer rechtsetzenden, also gewillkürten Entscheidung resultierte. Unter dieser Prämisse ist dem "New View" ohne Zweifel etwas ausgesprochen Bestechendes zu eigen, beseitigt er doch auf einen Schlag alle Schwierigkeiten der orthodoxen Lehre. Außerdem weist er einen Weg zur Verbindung des Verbots der Selbstbindung mit jenem (beschränkten) Maß an Selbstbindung, das in Fällen wie den Parliament Acts für eine den Intentionen der damaligen Gesetzgeber gerecht werdende Ausdeutung unverzichtbar ist. Hat der ,,New View" und die Auslegung, die er den Parliament Acts gibt, aber auch eine Nutzanwendung für eine eventuell einzuführende Bill of Rights? Das hängt vor allem davon ab, wie man jenen Normenbestand definieren will, der nach Ansicht des "New View" von dem Verbot der Selbstbindung ausgenommen ist. Allgemein eingebürgert hat sich bei den Vertretern der "Neuen Lehre" die Formel von den "manner andform-rules": die Regeln über "Art und Weise" des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens. 170 Ein formell-verfassungsrechtlich verankerter Grundrechtskatalog läßt sich nun aber auch verstehen als Siehe hierzu unten Anm. 175. Ein Beispiel hierfür findet sich auch im deutschen Grundgesetz - die Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG etwa macht auch die Änderung dieser Vorschrift selbst von einer Zweidrittel-Mehrheit abhängig (Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Art. 79 Rz. 18), und umgekehrt gelten die in Art. 79 Abs. 3 GG geschaffenen Unantastbarkeiten auch für die dieses anordnende Vorschrift (a. a. 0., Art. 79 Rz. 50). 170 Diese Formel war insbesondere bereits im Colonial Laws Validity Act von 1865, sec. 5, anzutreffen, wo den Legislativorganen der Kolonien das Recht zuerkannt wurde, auch die eigene Verfassung und das Verfahren solcher Organe abzuändern, aber nur im Einklang mit ,,manner and form" der jeweils zum Zeitpunkt einer solchen Änderung geltenden einschlägigen Verfahrensvorschriften. 168

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die Defmierung jener Regelbereiche, die der Kompetenz des einfachen Gesetzgebers, hier also des mit einfacher Mehrheit beschließenden Parlaments, entzogen sind, um sie einem neuen Organ, dem verfassungsändemden Gesetzgeber, also einem mit qualifizierter Mehrheit entscheidenden Parlament, zu überweisen. Beide Organe wären zwar personell völlig identisch, nicht aber in Hinsicht auf das jeweils von ihnen zu beobachtende Verfahren. Der "New View" weist also in der Tat einem formell-verfassungsrechtlichem Grundrechtskatalog einen gangbaren Weg. 171

3. Eine rechtslogische Analyse des Problems der Selbstbindung a) Systematische Zusammenfassung der zum Problem der Selbstbindung vertretenen Lehrmeinungen

Man sollte meinen, daß mit diesem Zwischenergebnis alles klar gemacht ist und das Heil einer Bill of Rights vom ,,New View" erwartet werden kann. Dem ist jedoch nicht so; tatsächlich beginnen die Schwierigkeiten jetzt erst. Zunächst einmal sollen die verschiedenen Lehrmeinungen daher noch einmal im Überblick auf dem Hintergrund der eben aufgearbeiteten Fallgruppen dargestellt werden. aa) Die orthodoxe Lehre Völlig klar und eindeutig ist die immer noch herrschende, die orthodoxe Lehre. Sie bestreitet jede Möglichkeit einer Selbstbindung und wendet diese Regel uneingeschränkt auf alle nur denkbaren Regelungen an. Der orthodoxen Lehre zufolge kann das Parlament folglich nie Kompetenzen, die es einmal innegehabt hat, weggeben. Die durch das Prinzip der Parlaments souveränität vermittelte Allzuständigkeit wird sowohl inhaltlich wie auch zeitlich in vollem Umfang gewahrt. Nur durch Delegation können einzelne (gegebenenfalls auch alle) Befugnisse des Parlaments einem anderen Organ allerdings immer nur zur Ausübung überlassen werden. Die sich bei diesem Verständnis bei der Anwendung auf einzelne Fälle ergebenden Probleme sind oben analysiert worden. Die orthodoxe Lehre ist aber auch wegen ihr angeblich anhaftender innerer Inkonsequenz angegriffen worden, eine Kritik, die in mindestens zwei Varianten vertreten worden ist. 17l So auch MitchelI, Constitutional Law, S. 89; de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 90. - Lediglich eine Variante der gleichen Idee ist der Vorschlag von Davis / Zellick, How to Make a Bill of Rights Work, in: NU 120 (1970), S.372, demzufolge in die Bill of Rights ausdrücklich der Hinweis aufzunehmen wäre, daß ein zukünftiges statute, welches die Bill of Rights verletzt, nicht als "statute" anzusehen sei, mithin von den Gerichten nicht befolgt werden müßte.

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

Zum einen ist es der orthodoxen Lehre als Widerspruch vorgehalten worden, einerseits zu behaupten, ein Gesetz des Parlaments könne niemals ,,nichtig" oder allgemein "ungültig" sein, um dann andererseits diese Rechtsfolge eben doch eintreten zu lassen, wenn das Parlament sich selbst zu binden versuche. 172 Tatsächlich behauptet die orthodoxe Lehre indes für solche Fälle keineswegs eine ,,Nichtigkeit". Vielmehr unterstellt sie derartige Gesetze nur einfach der gleichen lex posterior-Regel wie alle anderen Gesetze auch. Auch das Parlament selbst "bindende" Gesetze sind nicht nichtig (oder auch nur anfechtbar); sie können nur wie andere Gesetze auch jederzeit vom Parlament derogiert oder aufgehoben werden. 173 Weil also insoweit der Rechtsverpflichtete selbst (das Parlament) es in der Hand hat, seiner "Verpflichtung" ohne weiteres ein Ende zu setzen, kann von der "Nichtigkeit" einer derartigen Verpflichtung gesprochen werden, nicht aber von einer Nichtigkeit des solches beinhaltenden Gesetzes. Eine andere Variante des im Grunde gleichen Gedankens besagt, daß ein Verbot der Selbstbindung deswegen das Parlament nicht zu binden vermöge, weil gerade der orthodoxen Lehre zufolge das Parlament alles dürfe, also auch diesen Rechtssatz beseitigen können müsse. 174 Auch diesem Einwand ist indes entgegenzuhalten, daß er die orthodoxe Lehre nicht beim Worte nimmt, denn diese sagt ja gerade, daß dieser eine Rechtssatz ausgenommen ist. Daran ist logisch nichts Anstößiges zu erkennen. 175 Es ist sogar gleich, ob man die Parlamentssouveränität als einen Satz des common law ansieht 176 oder aber in eine allem anderen Recht übergeordnete hierarchische Stufe einer Normenpyramide verschiebt. 177 Auch wenn letztere Ausdeutung diese eine Ausnahme von der parlamentarischen Allmacht anschaulicher und verständlicher werden läßt,178 so ist kein sachlogischer Grund erkennbar, warum nicht auch eine Regel des common law, wenn es denn so sein soll, für das Parlament tabu und unberührbar sein 172 Siehe hierzu Wade (Anm. 153), S. 184 ff. 173 a. a. 0., S. 186. 174 So Jennings, Law & Constitution. Siehe hierzu MarshalI, Constitutional Theory, S. 46 ff.; ders. (Anm. 139), S. 198. 175 Genausowenig ein Problem wäre es indes, wäre dieser Rechtssatz nicht von der Parlamentssouveränität ausgenommen. Es gibt logisch keinen Grund, den Inhalt eines Satzes nicht auf sich selbst anzuwenden, also etwa in Anwendung der Parlamentssouveränität die Parlamentssouveränität abzuschaffen (dies ist Gegenstand des in der britischen Literatur diskutierten "problem of self-reference"); so Yardley, British Constitution and the Rule of Law, in: JöR NP 13 (1964), S. 129 ff. (131); Mirfield (Anm. 158), S. 41 f.; und erschöpfend Fitzgerald, The Paradox of ParliamentarY Sovereignty, in: Irish Jurist 7 (1972), S. 28 ff. (36 f.); siehe ferner MarshalI, Constitutional Theory, S. 36 ff., 44 ff. Wie später noch zu zeigen sein wird, ist das Problem der Selbstbindung nicht mit den Mitteln der Logik zu lösen, sondern ist eine Frage der Empirie. 176 So Jennings, Law & Constitution, S.39 und anscheinend auch HLE 8, § 811, S.533. 177 So Wade (Anm. 153), S. 187 ff. 178 Daher auch die Vorliebe für Kelsen im Vereinigten Königreich, der mit seinem Modell hierfür leicht als Vorbild reklamiert werden kann.

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kann. 179 Es bleibt also dabei: Von ihrer inneren Logik ist die orthodoxe Lehre unangreifbar, widerlegen läßt sie sich nur in ihrer Anwendung. bb) Die ,,Neue Lehre" Der "New View" will entgegen der orthodoxen Lehre an dem Verbot der Selbstbindung eine Einschränkung vornehmen. All jene Regeln, welche "manner and form" der parlamentarischen Willensbildung betreffen, sollen dem Verbot der Selbstbindung nicht unterliegen. Zwar gilt auch dieser Lehre zufolge das Parlament als unbeschränkt zuständig, hat also auch die Befugnis, die "manner and form"-Regeln jederzeit zu ändern. Anders als bei anderen Sachverhalten kann das Parlament die für diesen Bereich einmal getroffenen Bestimmungen freilich nicht ohne weiteres und schon gar nicht nur implizit derogieren. Vielmehr bedarf es hierzu eines ausdrücklichen actus contrarius, der den jeweils gültigen Form- und Verfahrensvorschriften zu entsprechen hat, inbegriffen diejenigen, die durch den actus contrarius geändert oder abgeschafft werden sollen. Dem ,,New View" zufolge kann also zu dem Zustand vor den beiden Parliament Acts zurückgekehrt werden. Dazu müßte jedoch nach den Vorschriften jener Parliament Acts ein Gesetz erlassen werden; eine einseitig gegen den Willen des Unterhauses vollzogene Widereinsetzung des Oberhauses in seine ehedem genossene Rechtsstellung ist mithin ausgeschlossen. Der ,,New View" hat sich vor allem mit den Parliament Acts beschäftigt. Genauso ließe er sich auch auf die beiden anderen Fallgruppen anwenden. Der britische Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften etwa kann ohne weiteres auch als eine Modifizierung der "manner and form"-Regeln verstanden werden, indem man nämlich für alle Bereiche, wo den Organen der Gemeinschaft der Vorrang vor den nationalen Instanzen zusteht, diese europäischen Organe für die Zwecke der Parlaments souveränität in das dem zugeordnete Rechtssubjekt "Parlament" aufnimmt. Gesetze in diesen Bereichen könnten also auch verfassungsrechtlich wirksam nur noch nach den Vorschriften des europäischen Rechts zustandekommen, während bei allen anderen Materien in Hinsicht auf die Zusammensetzung des Organs Parlament alles beim Alten bliebe. 180 Dieser Ansatz hätte 179 Nur en passant sei festgestellt, daß eine "innere Widersprüchlichkeit" der orthodoxen Lehre selbstverständlich auch nicht deswegen besteht, weil die so verstandene Parlamentssouveränität andere Ordnungsprinzipien wie etwa die ,,rule of law" damit zur Disposition des Parlaments stellt; so, aber mit völlig unzureichender Begründung, Langheid, Souveränität und Verfassungsstaat, S. 120 ff., der hier eine "über die bloße Unvereinbarkeit hinausgehende Widersprüchlichkeit" (S. 124) glaubt ausmachen zu können. Niemand wird etwas gegen das Prinzip des ,,rule of law" einzuwenden haben, und man mag es jeder Rechtsprechung wünschen, daß sie diesem Prinzip einen möglichst hohen, auch formal-rechtlich hohen Status einräumt; ,,rechtslogisch" geboten, wie Langheid dies offenbar meint, ist dieser Wunsch allerdings offensichtlich nicht. 180 Winterton, British Grundnorm: Parliamentary Supremacy Re-Examined, in: LQR 92 (1976), S. 591 ff. (607).

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zum Vorteil, daß so die Mitgliedschaft des Landes in den Europäischen Gemeinschaften nicht nur völkerrechtlich, sondern zudem noch verfassungsrechtlich abgesichert wäre. Die europäischen Organe wären in den sie betreffenden Regelungsbereichen in den Rang eines britischen Verfassungsorgans erwachsen mit der Folge, daß ein einseitiger Austritt des Vereinigten Königreichs nicht mehr möglich wäre, sondern nur als Ergebnis einer konsensual im Kreise aller Mitgliedstaaten herbeigeführten Vertragsauflösung. Man sieht: hier würde die gleiche Methode zum Zuge kommen wie auch bei Einführung einer Bill of Rights. Ebenso lassen sich schließlich auch die verschiedenen Gesetze zur Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien verstehen. 181 Noch einmal sei hier der entscheidende Passus aus dem Indian Independence Act (sec. 6 [4]) zitiert: No act of Parliament of the United Kingdom ... shall extend, or be deemed to extend, to either of the new Dominions as part of the law of that Dominion unless it is extended thereto by a law of the legislature of the Dominions.

Indem diese Vorschrift die Rechtswirksarnkeit britischer Gesetze in den neuen Dominions unter eine zusätzlich zu den üblichen Verfahrensvorschriften hinzutretende Bedingung stellt (nämlich ein entsprechendes Gesetz des jeweiligen Dominionparlaments), wird ebenfalls "manner and fonn" der parlamentarischen Gesetzgebung verändert und werden insoweit die Dominionparlamente in das Rechtssubjekt ,,Parlament" aufgenommen. So gesehen wäre ein britisches Gesetz, das ohne Ennächtigung durch das jeweils zuständige Dominionparlament Rechtswirkung in diesem Dominion beansprucht, wegen Verstosses gegen britisches Recht nichtig und auch von britischen Gerichten nicht anwendbar. 182 Und auch hier ließen sich diese eben geschilderten Rechtsfolgen des Indian Independence Act nur beseitigen durch ein mit Zustimmung des Dominionparlaments verabschiedetes Gesetz. Der ,,New View" scheint somit in der Tat in allen Zweifelsfällen zu befriedigenden Ausdeutungen zu gelangen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch leider, daß diese Koinzidenz zwischen Theorie und Rechtswirklichkeit nur für die materielle Seite völlig problemlos ist. Der Ansatz der ,,Neuen Lehre" besteht ja darin, mit den "manner and fonn"-Regeln einen Nonnenbestand zu definieren, der sich dadurch auszeichnet, daß er auch vom Parlament zu beachten und zu befolgen ist. Das aber muß sogleich die Frage nach der verfahrensmäßigen Absicherung provozieren. Wenn es tatsächlich Nonnen gibt, die Gehorsam auch vom Parlament fordern dürften, so müßte dieser Gehorsam auch von den Gerichten überprüft werden können, 183 ansonsten wären die Gerichte gezwungen, Gesetze trotz Nicha. a. 0., S. 603. So auch, aber mit etwas anderem Ergebnis MitchelI, Sovereignty of Parliament, in: LQR 79 (1963), S. 196 ff. (212 f.); ders., British Law and British Membership, in: EuR 6 (1971), S. 97 ff. (104). 183 Es sei denn, die vom ,,New View" dem Parlament vorgegebenen Normen wären lediglich von den Gerichten nicht nachprüfbare Konventionen (siehe zu den Konventio181

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tigkeit anzuwenden. 184 Diese Konsequenz ist an sich nicht weiter problematisch, steht grundsätzlich auch nicht in einem Gegensatz zum negativen Aspekt der Parlamentssouveränität, der ja dem Parlament (und nicht den Gerichten) die oberste und letzte Entscheidungsgewalt zuweist. Eine gewisse, wenn auch nur sehr schmale gerichtliche Prüfungskompetenz gegenüber dem Parlament muß nämlich auch der strengste Verfechter der Parlaments souveränität konzedieren. Denn wenn die Gerichte aufgerufen sind, die Gesetze des Parlaments anzuwenden, so müssen sie mindestens feststellen dürfen, ob eine ihnen zur Anwendung vorgelegte Vorschrift ein Gesetz des Parlaments ist - ob also eine von ihnen anzuwendende Norm überhaupt vorliegt. Das setzt voraus, daß gegebenenfalls auch das korrekte Zustandekommen eines Gesetzes überprüft wird, denn nur dann kann der Richter sich versichern, daß er es tatsächlich mit einem ihn verpflichtenden Gesetz zu tun hat. 185 Das Neue des ,,New View" besteht also nicht darin, überhaupt eine gerichtliche Prüfungskompetenz gegenüber dem Parlament eröffnet zu haben, sondern diese durch die Ausweitung des das Gesetzgebungsverfahren regelnden Normenbestandes wesentlich zu erweitern. Bei den Parliament Acts ergeben sich insoweit keine Schwierigkeiten, weil hier der Gesetzgeber den kritischen Fall selbst geregelt hat. Die Entscheidung darüber, welche Gesetzesvorlage eine Money Bill ist und deswegen dem Oberhaus nur zu Beratung und nicht zur Abstimmung vorgelegt werden muß, trifft gemäß sec. 3 des Parliament Act von 1911 der Speaker des Unterhauses 186; seine Entscheidung wird in dem Gesetz ausdrücklich von einer Nachprüfbarkeit durch die Gerichte ausgenommen. Beim European Communities Act ebenso wie bei den verschiedenen Gesetzen zur Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien fehlt es indes an einer solchen Regelung. Den "New View" als richtig unterstellt, würden es in diesen Fällen dann bei den Gerichten liegen, im Streitfalle die Einhaltung der Vorschriften solcher Gesetze durch das Parlament zu überprüfen. 187 Auch aus nen § 19 Ziffer 1 b»; das indes wird von den Vertretern des ,,New View" gerade nicht behauptet. 184 Denn: "If prerequisites of legislation are laid down, material which does not comply with them is not legislation." MitchelI, Constitutional Law, S. 79. 185 So die übereinstimmende Meinung, siehe Heuston, Essays in Constitutional Law, s. 16 ff.; de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 81 ff.; Dike (Anm. 127), S. 290 ff.; Winterton (Anm. 180), S. 608 f.; Friedmann (Anm. 165), S. 106 ff.; Gray (Anm. 162), S.56, 60; Cowen (Anm. 166), S. 274 ff.; Marshall (Anm. 139), S.201; und vor allem die gründliche Studie dieser Frage bei Raschauer, Gesetzeskontrolle im Britischen Recht, in: Staat 13 (1974), S. 239 ff. (240). Durch eine Reihe von Vorkehrungen ist freilich den Gerichten ein Prüfungsrecht über das Verfahren beim Zustandekommen von Gesetzen in der Praxis weitgehend verwehrt (siehe hierzu Raschauer, a. a. 0., S. 253 ff.; Thelen, Vereinbarkeit des EWGV, S. 126 ff.); das ändert nichts daran, daß gerade die Einrichtung der besagten Vorkehrungen beweist, daß an sich ein entsprechendes Prüfungsrecht besteht. 186 Dieses Amt entspricht in etwa dem unseres Bundestagspräsidenten; für eine lebendige Beschreibung von dessen Funktion, siehe Hollis, Parliament and Its Sovereignty, S. 37 ff. IS7 Allan (Anm. 45), S. 27.

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einern anderen Grunde ist dieses Ergebnis folgerichtig. Wenn man mit der orthodoxen Lehre die Respektierung der Souveränität der neu ins Leben gerufenen Staaten oder auch der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in den Europäischen Gemeinschaften und den sich daraus ergebenden Pflichten ins Politische verweist, so kann es hierfür auch nur politische Kontrollen geben. Da der ,,New View" aber all diese Pflichten ausdrücklich in den Stand von Rechtspflichten erhebt, müßte folglich auch eine rechtliche Kontrollmöglichkeit bereitgestellt werden. 188 Davon indes ist in der Praxis rein gar nichts zu erkennen. 189 Vielmehr haben die Gerichte im Gegenteil in allen ihnen zur Entscheidung vorgelegten Fällen betont, daß sie keine Befugnis zur Überprüfung parlamentarischer Gesetze herleiten können, daß es vielmehr allein der Politik überlassen bleiben muß, das Parlament zur Beobachtung etwa des European Communities Act anzuhalten. Auch der "New View" kommt also nicht ohne einen schwerwiegenden Widerspruch zur Rechtswirklichkeit aus. Ein weiterer Einwand gegen die "Neue Lehre" richtet sich mehr grundsätzlich gegen ihren Ansatz. Dieser beruht ja vor allem auf der Praktikabilität des Kriteriums der "manner and form "Gesetzgebung: nur dann, wenn dieses Differenzierungsmittel eine saubere Teilung aller möglichen Gesetzgebungsvorhaben erlaubt, sind mit der Theorie des "New View" überzeugende Ergebnisse zu gewinnen. Auf den ersten Blick scheint diese Bedingung ersichtlich erfüllt zu sein, genaueres Hinsehen zeigt jedoch, daß dem nicht so ist, ja, daß dem nicht so sein kann. Zu recht ist nämlich darauf verwiesen worden,l90 daß schlechthin jeder Versuch, spätere Parlamente auch in einer ganz offensichtlich nicht mit den Gesetzgebungsmodalitäten in Zusammenhang stehenden Frage zu binden, so aufgezogen werden kann, daß daraus eine "manner and form"-Frage wird, die Selbstbindung mithin zulässig wäre. 191 Würde das Parlament etwa eine Regelung über die Einrichtung einer Staatskirche für "ewige Zeiten" treffen wollen und diese damit der Derogation späterer Parlamente entziehen, 192 müßte es lediglich bestimmen, daß die entsprechende Vorschrift in Zukunft nur durch eine qualifizierte Mehrheit oder nur durch ein einstimmiges Votum abgeändert werden dürfte. Da damit eine Regelung über das Abstimmungsverfahren - unzweifelhaft eine Frage des ,,manner and form" - getroffen würde, wäre so eine Selbstbindung des Parlaments herbeigeführt und die entsprechende Vorschrift wäre änderungsfest gemacht. 188 Ganz offensichtlich wird dies bei dem von Davis / Zellick vorgelegten Vorschlag (siehe Anm. 171), der den Gerichten ganz ausdrücklich ein Kontrollrecht zuweisen würde. 189 So auch Winterton (Anm. 180), S. 608 ff. 190 Geisseler, Reformbestrebungen, S. 113; Winterton (Anm. 180), S. 605; Fritz, An Entrenched Bill of Rights, in: Anglo-American L. Rev.lO (1981), S. 105 ff. (107). Siehe ferner Mitchell (Anm. 182), in: LQR 79, S. 220 f.; Friedmann (Anm. 165), S. 105 f. 191 So vor allem auch Petersmann, Souveränität des britischen Parlaments, S. 291 f. 192 So geschehen im Union with Ireland Act (39 & 40 Geo. In, c. 67), der insoweit ohne weiteres durch den Irish Church Act (32 & 33 Vict., c. 42) wieder aufgehoben wurde.

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Dieser zunächst nur praktische Einwand gegen den "New View" offenbart zugleich den grundlegenden logischen Fehler seines Ansatzes. Denn wenn der "New View" es unternimmt, zwischen solchen Selbstbindungen zu trennen, die zulässig und somit rechtswirksam sind, und jenen anderen, die von späteren Parlamenten unbeachtet beiseite geschoben werden dürfen, also von Rechts wegen keine Wirksamkeit entfalten, so unterscheidet er zwischen Dingen, die mit dem von ihm für diese Unterscheidung herangezogenem Kriterium schlechterdings nicht unterscheidbar sind. Denn jede Selbstbindung (oder der Versuch einer solchen) ist eine Änderung der "manner andform"-Regeln, insoweit nämlich, als mit ihr notwendigerweise der Umfang des dem "einfachen" Parlamentsgesetzgeber noch zur Disposition stehenden Regelungsbereichs eingeengt, d. h. also verfahrensmäßig neuen Regeln unterstellt wird. Konsequenterweise müßte der "New View" uneingeschränkt überhaupt jede Selbstbindung zulassen. Damit ist diese Lehre aus dem umgekehrten Grunde wie die orthodoxe Lehre unbefriedigend. Während diese jedenfalls bei den Parliament Acts eine Selbstbindung des Parlaments nicht zu begründen vermag, wenn diese gewollt ist, scheitert der ,,New View" bei dem Versuch, zu erklären, warum eine Selbstbindung nicht vorliegt, wenn eine solche nicht gewollt ist. cc) Die Lehre von H. G. Petersmann Einen ganz anderen und originellen Ansatz zum Verständnis der Parlamentssouveränität hat Hans G. Petersmann entwickelt, der mit seiner Analyse radikal gegen das traditionelle Verständnis der orthodoxen Lehre zu Felde gezogen ist. 193 Kern- und Angelpunkt seiner These ist die Behauptung, daß die Parlamentssouveränität in der Sache nichts anderes als eine nur kollisionsrechtliche Regel sei, welche intertemporale Konflikte zwischen einander widersprechenden Regelungen ein und derselben Körperschaft im Sinne der auch den kontinentalen Gesetzgebungsorganen bekannten lex posterior-Maxime löse. Nur die "Versteinerung bestimmter Gesetzgebungsentscheidungen für alle Zukunft" solle verhindert werden, um so die "absolut freie Entscheidungsfähigkeit" aller Regierungsinstitutionen zu sichern: "Das Prinzip der Souveränität, nicht dagegen ihr Träger sollte ein für allemal festgelegt werden." 194 Der Fall der Souveränitätsübertragung oder des Souveränitätsverzichts im Gegensatz zur Souveränitätsbeschränkung werde durch das Prinzip der Parlamentssouveränität somit gar nicht erfaßt; die Parlamentssouveränität verbiete nur solche "Selbstbindungen", welche eine andere Regelung der gleichen Frage durch dasselbe Parlament verhindern wollten, also ein gesetzgeberisches Vakuum entstehen lassen würden. Gäbe es hingegen eine solche Kompetenz nicht mehr, etwa weil insoweit infolge einer "Loyalitätsüber193 194

Siehe dessen Arbeit, Souveränität des britischen Parlaments, S. 275 ff.

a. a. 0., S. 276.

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tragung" 195 der Rechtsgenossen das Parlament einen Verzicht ausgesprochen hätte (wie bei der Unabhängigkeit einer ehemaligen Kolonie), so fehle es an den Voraussetzungen einer Normenkollision, und damit entfalle auch die Anwendung der Parlaments souveränität. 196 Die Behauptung der orthodoxen Lehre, auch Souveränitätsverzichte und -übertragungen seien durch die Parlamentssouveränität ausgeschlossen worden, vermengt nach Ansicht Petersmanns inkommensurable Größen und resultiert aus einem völligem Mißverständnis auch der Diceyschen Lehre,197 der selbst in der Tat eine "abdication of Parliament", eine Abdankung des Parlaments, durchaus für möglich gehalten hat. 198 Petersmann glaubt sich mit seiner Auffassung auch auf die wenigen zur Parlaments souveränität ergangenen und insgesamt eher unergiebigen Gerichtsentscheidungen stützen zu können 199, die immer nur die kollisionsrechtliche Seite der Parlamentssouveränität beträfen, nie aber über die Zulässigkeit von Souveränitätsverzichten oder -übertragungen hätten judizieren müssen. Anders als andere in die gleiche Richtung zielende Versuche 2°O stellt der Ansatz Petersmanns damit einen außerordentlich ernst zu nehmenden Angriff auf die Parlamentssouveränität dar. 201 Es ist offensichtlich, daß mit dieser scharfsinnig begründeten Lehre 202 ebenso wie schon mit dem ,,New View" eine formell-verfassungsrechtliche Bill ofRights möglich gemacht wird. Eine kritische Betrachtung der Petersmannschen Thesen zeigt indes, daß diese mit dem "New View" auch dessen Schwächen teilen. Denn 195 Ganz ähnlich schon Mirfield (Anm. 158), S. 44 f. 196 Tatsächlich sind sich alle Stimmen einig, daß die Schaffung eines solchen gesetzgeberischen Vakuums durch die Parlamentssouveränität ausgeschlossen ist; dies ist der unstreitige Kern der Parlamentssouveränität; siehe: Fazal, Entrenched Rights and Parliamentary Sovereignty, in: PL 1974, S. 254ff. (303): "... a legislative body in so far as it has authority to enact legislation ... cannot divest itself of that power by creating a vacuum save where expressly authorised to do so." Oder Gray (Anm. 162), S. 62: "It is equally dear, however, that Parliament cannot effectively prescribe or confme the future content of legislation." Ähnlich Mitchell (Anm. 182), in: LQR 79, S. 214 f.; ders., Constitutional Law, S. 77 f. 197 Dazu Petersmann, Souveränität des britischen Parlaments, S. 277 ff. 198 Genauso übrigens Anson (Anm. 126), S. 440. 199 Siehe Petersmann, Souveränität des britischen Parlaments, S. 282 ff. Auch MitchelI, Constitutional Law, S.63 hält das vorliegende case law für unzureichend, um daraus eine eindeutige Bestätigung der einen oder anderen Auffassung zum Verbot der Selbstbindung herzuleiten. 200 Siehe oben aa). 201 Damit geht Petersmann weit hinaus über jene Autoren, die die rechtsnormative Geltungskraft der Parlamentssouveränität unberührt lassen und lediglich von den zahllosen nur praktisch-politisch vermittelten Eingrenzungen der Parlamentsmacht her die Parlamentssouveränität relativiert und in Teilen aufgehoben sehen; so Dike (Anm. 127), S.296f. 202 Wenn auch nicht klar zu Ende gedacht, finden sich mindestens Ansätze für die von Petersmann formulierte Lehre übrigens bei J. D. B. MitchelI; siehe (Anm. 125), S. 119 f.; ders., in: EuR (Anm. 182), S. 102.

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das von Petersmann angebotene Differenzierungskriterium, welches den Anwendungsbereich des allein kollisionsrechtlichen Kerns des Verbots der Selbstbindung abzugrenzen erlauben soll von den späteren seiner Meinung zufolge unstatthafterweise vorgenommenen Zusätzen, ist dem vom "New View" verwandten sehr ähnlich, kann folglich ebensowenig taugen. Denn auch bei Petersmann gilt, daß das aus rechtstheoretischer Sicht sauber trennbare Gegensatzpaar Souveränitätsübertragung/ -verzicht einerseits und Souveränitätsbeschränkung andererseits in der Praxis durch entsprechende verfahrensmäßige Vorkehrungen bis zur Ununterscheidbarkeit verwischt werden kann. Praktisch ließe sich eine"Versteinerung" etwa auch dadurch herbeiführen, indem die Modifizierung einer entsprechenden Regelung an derart schwer zu erfüllende Voraussetzungen geknüpft wird (etwa ein einstimmiges Votum aller Mitglieder des Parlaments), daß damit nach menschlichem Ermessen eine solche Modifizierung ausgeschlossen wäre; und doch müßte Petersmann eine solche Regelung zulassen, sie ist bei der für ihn allein maßgeblichen formalen Sicht klar eine erlaubte Souveränitätsübertragung, keine unstatthafte Souveränitätsbeschränkung. Aber noch ein weiterer Einwand ist gegen Petersmann zu richten. Es mag ja durchaus richtig sein, daß sich weder aus den einschlägigen Urteilen noch aus Diceys Darlegungen etwas über die Unzulässigkeit von Souveränitätsübertragungen ergibt - wie immer man diese definieren mag. Dies ändert indes nichts an der Tatsache, daß die herrschende Meinung seit mindestens einem Jahrhundert eine solche Übertragung tatsächlich für unzulässig erachtet. Da nun aber von Petersmann nirgendwo behauptet wird, daß seine Auslegung der Parlamentssouveränität sachlogisch die allein mögliche sei, kann sie sich letztlich nur auf einen entsprechenden Konsens der Rechtsgenossen stützen, der dann freilich empirisch nachzuweisen wäre: hier gilt das Gesetz von der "normativen Kraft des Faktischen"203. Das aber ist angesichts einer so starken, dem entgegenstehenden herrschenden Meinung ausgeschlossen. Auch den von Petersmann angezogenen Urteilen ist insoweit nichts zu entnehmen. Deren Beweiskraft für die Zwecke der Petersmannschen Thesen ergibt sich ja gerade daraus, daß sie zu dem hier interessierenden Punkt schweigen. Damit aber bleibt die ganze Theorie ohne stützendes Fundament. Letztlich ist die These Petersmanns eine allerdings insoweit überzeugende Betrachtung darüber, was die Parlaments souveränität sinnvollerweise hätte sein sollen; sie scheitert aber vor dem, was die Parlaments souveränität in der Realität wohl oder übel geworden ist. b) Rechtsmacht oder verfassunggebende Gewalt: zwei Wege zur Vornahme von Selbstbindungen des Parlaments? Der von den verschiedenen im Vorstehenden dargestellten Theorien verfolgte Ansatz, um zu einer Klärung des Problems der Selbstbindung zu gelangen, hat sich als unergiebig erwiesen. Im folgenden soll daher der Versuch gemacht 203 Siehe dazu Petersmann, Souveränität des britischen Parlaments, S. 47 ff.

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werden, ein neues Verständnis von der nonnativen Grundlage der Parlaments souveränität herauszuarbeiten, um so die Grenzen dieses Dogmas klarzumachen und gleichzeitig den von einer zukünftigen Bill of Rights innerhalb der britischen Verfassungsordnung einzunehmenden Platz exakt zu definieren. Zunächst einmal ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, daß eine entgegen der Prämisse von der Allzuständigkeit späteren Parlamenten auferlegte Bindung nichts anderes wäre als die Weggabe einer Kompetenz zur legislativen Regelung bestimmter Lebenssachverhalte. Eine solche Abtretung an irgendein anderes Organ ist etwas grundlegend anderes als die vollständige Beseitigung, das Verschwindenlassen einer Kompetenz, was etwa dann eintritt, wenn eine bestimmte Regelung auf alle Zeiten festgeschrieben und somit änderungsfest gemacht werden soll. 204 Diese Unterscheidung eingeführt und zugleich klargemacht zu haben, daß allein die Weggabe, nicht hingegen die Vernichtung von Kompetenzen aus der Sicht der Parlamentssouveränität verfassungstheoretisch problematisch ist, war das Verdienst Petersmanns. Denn in der Tat ist es nicht denkbar, daß das britische Parlament irgendeine Regelungsbefugnis ganz beseitigen darf. Andernfalls könnten bestimmte Lebenssachverhalte der Regelung durch die Staatsgewalt gänzlich entzogen werden, ein Ergebnis, das schlechterdings unvereinbar wäre mit der allen modemen Staaten zu Grunde liegenden Vorstellung von der alles umgreifenden, nichts ausschließenden Staatsgewalt. 205 Die von Petersmann eingeführte Unterscheidung ist also unbedingt berechtigt. 206 Bei den bislang erörterten Fällen ging es nun allerdings stets um die Weggabe, nicht um die Vernichtung von Kompetenzen. Im Falle funktional definierter Bindungen (Beispiele: EG-Vertrag und die verschiedenen Referenda) ist das unmittelbar einleuchtend; ebenso gilt dies aber bei territorialen Beschränkungen der parlamentarischen Gesetzgebungskompetenz (Beispiele: die Unabhängigkeit britischer Kolonien und das Westminster Statute). Zwar wurde oben gezeigt, daß insoweit eine Bindung späterer Parlamente gegenüber den im Vereinigten Königreich befindlichen Rechtsaddressaten in keinem Fall eintreten konnte. Ein Kompetenzverzicht erfolgte aber in Hinsicht auf die eben nun nicht mehr (oder nur noch in eingeschränkter Weise) der legislatorischen Rechtsrnacht des Parlaments unterworfenen Gebiete, was sich sofort dann zeigt (oder zeigen würde), sofern Für ein Beispiel siehe oben Anm. 192. Cowen (Anm. 165), S. 295. - Dies gilt auch, wenn das eine solche Kompetenz weggebende Organ nur delegierte Rechtsmacht ausübt (z. B. kommunale Vertretungen), weil in der Regel nicht davon ausgegangen werden kann, daß das solcher Rechtsdelegation zugrundeliegende Mandat auch zur Beseitigung bestimmter der übertragenen Befugnisse ermächtigt. Beim Verfassungsgeber des GG, der in Art. 79 m GG eine eben solche Beseitigung ausdrücklich angeordnet hat, ist dies insofern anders als im Vereinigten Königreich, weil hier mit der dem GG zugrundeliegenden Volkssouveränität ein ,,Auftraggeber" bereitsteht, der nach der Theorie von der pouvoir constituant als letzter und eigentlicher Inhaber aller Staatsgewalt deren Universalität garantiert. 206 So auch Winterton (Anm. 180), S. 598 f. (612 f.); de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 72 f. 204 205

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diese einmal weggegebene Rechtsrnacht des Parlaments in dem aus dieser Rechtsmacht entlassenen Gebiet wieder beansprucht wird (oder würde). Schließlich sind aber auch alle Fälle der Neudefinierung oder verfahrensmäßigen Umgestaltung des Parlaments (die Parliament Acts von 1911 und 1949) letztendlich nichts anderes als eine Art des Kompetenzverzichts, allerdings eines gänzlichen und vollständigen Kompetenzverzichts, der einer Demissionierung gleichkommt, und zwar einer Demissionierung des Parlaments, so wie es vorher bestand, zugunsten eines neuen, nach anderen Regeln verfahrenden oder anders gewählten Parlaments. 207 Die Frage ist nun, wie in all diesen Fällen das Parlament überhaupt auf seine Rechtsrnacht verzichten konnte. Merkwürdigerweise wird auf dieses an sich naheliegende Problem in der britischen Literatur kaum eingegangen. 208 Der Grund .hierfür ist, daß alle in der Literatur zur Selbstbindung angestellten Überlegungen immer nur bei der Frage ansetzen, ob eine solche Selbstbindung zulässig ist; dagegen wird so gut wie nie geprüft, wie überhaupt eine Selbstbindung beschaffen sein müßte, um als Selbstbindung wirken zu können. Eine klare Antwort hierauf hält die im Vereinigten Königreich sicher immer noch herrschende Lehre zur Parlamentssouveränität, die orthodoxe Auffassung, bereit: sie sieht in allen Fällen eines vom Parlament ausgesprochenen Kompetenzverzichts lediglich jederzeit widerrufliche Delegationen: vom britischen Parlament auf die EG oder auf die Dominion-Parlamente oder auf ein nach neuen Regeln verfahrendes britisches Parlament. Auf dem anderen Ende des logisch möglichen Meinungsspektrums hat Petersmann die Ansicht entwickelt, daß der orthodoxen Lehre genau entgegengesetzt - hier jeweils unilateral nicht rückgängig zu machende Souveränitätsübertragungen vorliegen. Diese beiden Auffassungen lassen sich auch in den jeweils aus ihnen zu ziehenden Konsequenzen als genaue Gegenstücke darstellen. Ist nach der orthodoxen Lehre die Weggabe von parlamentarischen Kompetenzen nur Delegation, so bedeutet dies, daß die Rechtsgenossen in vollem Umfange der ungeschmälerten Souveränität des (immer gleichen) Parlaments unterworfen bleiben. Nach der Petersmannschen Ansicht dagegen werden die Rechtsadressaten aus ihrer Gehorsams- und Befolgungspflicht entlassen. 209 Daraus wiederum folgt, daß beide Meinungen ein grundlegend unterschiedliches Verständnis von der Natur des den Kompetenzverzicht aussprechenden Gesetzes haben müssen. Petersmann betont, daß es nicht eigentlich dieses Gesetz sei, vermöge dessen der von ihm als Souveränitätsübertragung verstandene KomSo ausdrücklich Cowen (Anm. 166), S. 296, Anm. 30. Eine Ausnahme ist Yardley (Anm. 175), S. 132, der es allerdings bei nur ganz wenigen Zeilen beläßt. 209 Zu dieser grundlegenden Unterscheidung zwischen widerruflicher Delegation und nicht widerruflicher Abtretung, siehe Giesen, Auswirkungen des Beitritts Großbritanniens zur EWG auf das britische Verfassungsrecht, in: Monatsschrift dt. Auslandsbeamter 31 (1968), S. 295 ff. (304 f.). 207 208

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petenzverzicht erfolge, sondern auf Grund einer bei den Rechtsadressaten unabhängig hiervon stattfindenden Loyalitätsübertragung, als deren Ergebnis die Gerichte und alle anderen rechtsanwendenden Instanzen sich nunmehr einem anderen Organ gegenüber zu Gehorsam verpflichtet sähen. Diese Loyalitätsübertragung müsse ein tatsächlicher, kein rechtlicher Vorgang sein, der durch das Gesetz nicht bewirkt, sondern nur erbeten, angezeigt oder auch nachvollzogen werden könne. Das ist konsequent, denn wäre er rechtsnormativ erzwingbar, so könnte dies ja nur dann sein, wenn die Rechtsrnacht des Parlaments nach wie vor sich auch auf jenen Bereich erstrecken würde, der nach Petersmanns Prämisse gerade unwiderruflich abgegeben wurde. Eine Souveränitätsübertragung wäre somit gerade nicht erfolgt, sondern eine rein rechtlich getragene Delegation, die durch einen entsprechenden actus contrarius wieder beseitigt werden könnte. Was aber ist mit der von Petersmann so bezeichneten Loyalitätsübertragung gemeint? Sie ist kein Rechtsvorgang, wird nicht normativ herbeigeführt und erfolgt spontan als das Ergebnis einer politischen Willensbetätigung. Das aber sind nichts anderes als die Merkmale der verfassunggebenden Gewalt,210 und diese in der Tat ist es auch, die der Petersmannschen ,,Loyalitätsübertragung"211 als stiftende Kraft zu Grunde liegt, freilich ohne im Vereinigten Königreich aus den bekannten Gründen formell-verfassungsrechtliche Normen zu schaffen. Knapp zusammengefaßt ergeben sich aus der orthodoxen Lehre einerseits, aus Petersmanns Meinung andererseits also folgende Schlußfolgerungen: Nach der orthodoxen Lehre sind vom britischen Parlament ausgesprochene Kompetenzverzichte allemal Rechtsdelegationen, sie können durch einfachen Rechtsbefehl des Parlaments jederzeit wieder rückgängig gemacht werden. Bei Petersmann handelt es sich dagegen um durch die Ausübung verfassunggebender Gewalt zu Wege gebrachte Souveränitätsübertragungen, die durch Gesetz lediglich ins positive Recht aufgenommen werden und folglich nur durch eine entsprechende Ausübung verfassunggebender Gewalt wieder aufgehoben werden können. Der "New View", die andere im Vereinigten Königreich zur Parlamentssouveränität vertretene Lehre, scheint demgegenüber auf dem Kontinuum zwischen diesen beiden Meinungen keinen rechten Platz zu finden. Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese Lehre aber als zwischen den beiden extremeren Auffassungen stehende, vermittelnde Position des ,,Es-kommt-darauf-an". 212 Einen von der 210 Zu dem dieser Arbeit unterlegten Verständnis von verfassunggebender Gewalt, siehe Schmitt, Verfassungslehre, S. 75 ff. 211 Bei Petersmann selbst sucht man vergeblich nach Aufschlüssen über die Natur dieses von ihm eingeführten Begriffs. Auch Wade (Anm. 153), S. 191, der von allen britischen Autoren dem Ansatz Petersmanns am nächsten kommt, freilich mit gänzlich anderen Ergebnissen, spricht insofern vage von einem "transfer of al1egiance". Hier macht sich deutlich bemerkbar, daß das staatsrechtliche Rüstzeug der französischen Revolution im Vereinigten Königreich nie rezipiert wurde. Auf der gleichen Linie denkt offenbar Yardley (Anm. 175), S. 132. 212 Das macht den ,,New View" nach Ansicht von Winterton (Anm. 180), S. 604, unhaltbar, weil das Verbot der Selbstbindung sich entweder auf alle denkbaren Bereiche

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vorherrschenden orthodoxen Lehre abweichenden Standpunkt zeigt der "New View" ja nur dann, wenn ein Kompetenzverzicht als Änderung der der Parlamentssouveränität vorangestellten Metaregeln über die Definition des Organs ,,Parlament" ausgesprochen wird. In diesen Fällen soll eine einseitige Rückgängigmachung des Kompetenzverzichts nicht möglich sein. Damit stellt sich hier die gleiche Konsequenz ein wie bei dem Petersmannschen Modell. Von den Vertretern des ,,New View" unbeantwortet bleibt indes, auf Grund welchen Vorgangs das nach den neuen "manner and form" -Vorschriften nunmehr handelnde Parlament in diese Rolle erwachsen konnte. Mit anderen Worten: verdankt das Parlament den ihm von den Rechtsadressaten entgegengebrachten Gehorsam einer autonom von den Rechtsadressaten vollzogenen Loyalitätsübertragung, d. h. also einer neuen, das geltende Verfassungsrecht ändernden Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt? Oder ist es vielmehr so, daß das "neue" Parlament allein durch die Rechtsrnacht des "alten" Parlaments inauguriert wird? Diese Frage ist schon im Zusammenhang mit den Erörterungen zur Lehre Petersmanns beantwortet worden: nur wenn es nicht die Rechtsrnacht des "alten" Parlaments ist, die das "neue" Parlament begründet, ist die Entscheidung über die Einsetzung des ,,neuen" Parlaments nicht frei wideruflich. Konsequenterweise kommt die Kompetenzübertragung daher auch hier nur durch die Ausübung verfassunggebender Gewalt zustande. Insoweit besteht also eine völlige Übereinstimmung zwischen Petersmann und den Vertretern des ,,New View". Damit bleibt freilich noch unbeantwortet, was den Vertretern des "New View" zufolge dann zu gelten hat, wenn eine Kompetenzübertragung nicht als Änderung der "manner and form"-Regeln erfolgt, etwa wenn das Parlament sich seiner Gesetzgebungskompetenz in Hinsicht auf ein bestimmtes Territorium gänzlich und ohne Rest begibt. Dazu muß man sich vor Augen halten, daß der ,,New View" verstanden wird als ein Versuch, bestimmten, als relatitätsfern empfundenen Konsequenzen der orthodoxen Lehre durch die Schaffung eines besonderen Tatbestandes (eben der "manner and form"-Regeln) zu entgehen; grundsätzlich wird also das Verbot der Selbstbindung des Parlaments anerkannt. Das muß auch so sein, denn würden die Vertreter des ,,New View" in allen Fällen von einem nicht frei widerrufbaren Souveränitätsverzicht ausgehen, wäre der "New View" nicht mehr nur eine Einschränkung der orthodoxen Lehre, sondern ihre schlichte Negierung und insoweit der Ansicht Petersmanns gleich. Die Formel von den ,,manner and form"-Regeln hätte jeden Sinn als Mittel der Differenzierung verloren, denn es gäbe nichts mehr, was zu unterscheiden wäre, da ja dann in allen Fällen eine verbindliche Souveränitätsübertragung möglich bliebe. Insgesamt ergibt sich beim ,,New View" also ein ,,Entweder-Oder": wird die Kompetenzübertragung als Änderung der "manner and form"-Regeln durchgeführt, liegt erstrecken müsse oder auf gar keine. Einen Nachweis für diese Behauptung bleibt Winterton indes schuldig; in der Tat ist logisch kein Grund erkennbar, warum eine derartige Regel sich nicht nur auf einige Bereiche erstrecken können soll.

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eine nicht einseitig widerrufliche Souveränitätsübertragung vor, in allen anderen Fällen dagegen frei widerrufliche Rechtsdelegation. Betrachtet man nun die erörterten Theorien im Überblick, so zeigt sich, daß es nur zwei denkbare Wege gibt, wie ein vom Parlament ausgesprochener Kompetenzverzicht vonstatten gehen kann: entweder in Ausübung der Rechtsrnacht des souveränen Parlaments oder als Ergebnis des Wirksamwerdens der verfassunggebenden Gewalt. Aus dem Wesen von Rechtsdelegation einerseits und verfassunggebender Gewalt andererseits folgt: Beruht der Kompetenzverzicht aufder Rechtsrnacht des alten Parlaments, bleibt er auch durch das Parlament selbst revozierbar, ist er Ausdruck verfassunggebender Gewalt, kann er durch das Parlament nicht widerrufen werden. Nun liegt es aber gerade in der Natur verfassunggebender Gewalt, daß sie niemals "aufgebraucht" wird und folglich sich jederzeit äußern kann, 213 und daß andererseits jede Verfassungsordnung darauf angewiesen ist, von einer entsprechenden Ausübung der verfassunggebenden Gewalt getragen zu werden. Das gilt gerade auch für das Prinzip der Parlamentssouveränität, deren gewohnheitsrechtliche, im Gegensatz zu einer an sich ja auch möglichen positivierten (insbesondere formell-verfassungsrechtlichen) Fundierung diese Abhängigkeit noch besonders unterstreicht. Denn anders als das positive Recht kann Gewohnheitsrecht nur solange seinen normativen Anspruch aufrechterhalten, wie sich eine fortdauernde Praxis der Rechtsgenossen (consuetudo), getragen von einer entsprechenden opinio juris, nachweisen läßt. Das aber sind in der Sache die gleichen politisch-tatsächlichen Voraussetzungen, die auch bei einer erfolgreichen Wahmehmung verfassunggebender Gewalt erfüllt werden müssen. Gegen die verfassunggebende Gewalt ist also auch die Parlamentssouveränität nicht zu schützen, sie ist vielmehr selber das Ergebnis verfassunggebender Gewalt,214 denn diese ,,kann nicht gegen ihr Subjekt zurückwirken und dessen politische Existenz aufheben"215 oder es rechtlich in die Pflicht nehmen. Wenn also eben festgestellt wurde, daß eine nicht-revozierbare Souveränitätsübertragung nur bei Ausübung verfassunggebender Gewalt erfolgen kann, so ist damit gleichzeitig gesagt, daß eine solche Souveränitäts übertragung jederzeit erfolgen kann, aber niemals als vom Recht getragener Vorgang. 216

Schmitt, Verfassungslehre, S. 76 f. 214 Nur ganz vereinzelt und undeutlich fmdet sich diese Ansicht auch bei britischen Autoren; etwa bei Wade (Anrn. 153), S. 188, der - etwas hilflos - meint, die Parlamentssouveränität sei "an ultimate palitical reali!y", und daher nicht durch das Recht, wohl aber durch eine Revolution zu beseitigen. Ahnlich Fawcett, A Bill of Rights for the UK? in: Human Rights Rev. 1 (1976), S. 57 ff. (62); und im Ergebnis auch Ridley (Anrn. 15), S. 343 f.; dagegen Altat, The Courts and Parliament: Who Whom? in: CU 213

38 (1979), S. 79 ff. (113 ff.).

215 Schmitt, Verfassungslehre, S. 77. 216 Insofern ist Wade (Anm. 153), S. 189, völlig recht zu geben, wenn er sagt, daß die Parlamentssouveränität "is ultimate and unalterable by any legal authority." Wades Fehler besteht einfach darin, daß er mit dieser Feststellung abbricht und die doch naheliegende Möglichkeit, daß es auch im Vereinigten Königreich zu einem Rückgriff auf in

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Mit dieser entscheidenden Erkenntnis werden auf einen Schlag alle Probleme der Parlamentssouveränität behoben. Vor allem wird klar, daß der eigentliche Widerspruch zwischen den verschiedenen hier vorgetragenen Theorien nur scheinbar ist. Wie schon gesagt, geht es den allermeisten Überlegungen zum Problem der Selbstbindung um die Frage, ob (und falls ja, unter welchen Bedingungen) das Parlament sich für die Zukunft binden kann. Nach der orthodoxen Lehre ist eine solche Selbstbindung immer ausgeschlossen, nach Petersmann dagegen nie, während der "New View" darauf abstellt, ob eine Veränderung der ,,manner and form"-Regeln stattfindet. Tatsächlich ist allen Ansichten recht zu geben. Die orthodoxe Lehre interessiert allein, ob Souveränitätsverzichte als Rechtsvorgang möglich sind,217 eine Frage, die sie - wie gezeigt - völlig zu Recht verneint. Daß aber die verfassunggebende Gewalt sich über dieses Ergebnis hinwegzusetzen vermag, kann auch von der orthodoxen Lehre nicht in Zweifel gezogen werden. Wenn also die orthodoxe Lehre jede Selbstbindung des Parlaments ablehnt, dann nur, weil sie keinen Weg sieht, eine solche Selbstbindung auf dem Rechtswege herbeizuführen. Dem widerspricht aber auch Petersmann nicht, denn bei den von ihm als unwiderufliche Souveränitätsübertragungen gedeuteten Fällen setzt er ja stets das Tätigwerden verfassunggebender Gewalt voraus; auch er also behauptet keineswegs eine rechtlich bewirkte Selbstbindung. Zwischen Petersmann und der orthodoxen Lehre besteht also in Hinsicht auf die theoretische Grundlage (wohl aber in Hinsicht auf die Ergebnisse, dazu gleich) gar kein Widerspruch, sie beleuchten nur einfach die jeweils andere Seite ein und derselben Münze. Und dies gilt schließlich auch für den "New View". Auch dessen Vertreter können nicht daran vorbei, daß bei Tätigwerden der verfassunggebenden Gewalt eine nicht widerrufliche Souveränitätsübertragung auch dann möglich ist, wenn diese nicht als Änderung der "manner and form"-Regeln erfolgt. Auf der anderen Seite wurde schon gezeigt, daß im umgekehrten Fall, also bei Modifizierung der "manner and form"-Regeln, es die verfassunggebende Gewalt ist und nicht etwa eine Rechtsregel, die die Souveränitätsübertragung wirksam werden läßt. Aus dieser Überlegung ergibt sich auch der entscheidende Einwand gegen den ,,New View". Denn das von ihm aufgestellte Kriterium zur Unterscheidung zwischen frei revozierbaren Rechtsdelegationen und bindenden Souveränitätsübertragungen geht ins Leere, weil es alleine nicht ausreicht, um entweder das eine oder das andere Ergebnis zu begründen. Unabhängig von diesem Sinne "außerrechtliche" Rechtsmacht gekommen sein könnte, überhaupt nicht auch nur erwägt. Das ist um so erstaunlicher, weil er selbst durchaus weiß, daß ,,Revolutionen" auch auf leisen Sohlen ("beneath an elaborate legal dress") einherkommen können (a. a. 0., S. 190 f.). Insoweit richtiger Fazal (Anm. 196), S. 296. Ebenfalls im Vorrechtliehen, d. h. im Politischen sieht die Parlamentssouveränität Allan, The Limits of Parliamentary Sovereignty, in: PL 1985, S. 614 ff. (619,621); Trautwein, Grundrechtsproblematik im englischen Recht, S. 58. 217 So ganz klar Middleton (Anm. 139), S. 49 f.: "Unless an irrevocable surrender could be legally made, the fundamental rule giving Parliament legislative supremacy would not be affected."

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Änderungen der "manner and form"-Regeln ist maßgeblich allein die Frage, ob verfassunggebende Gewalt oder aber Rechtsmacht tätig wird; nur dies entscheidet darüber, ob eine Bindung des Parlaments eintritt oder nicht. Der "New View" vermag dem nichts hinzuzufügen. Es bleibt indes die Tatsache, daß die verschiedenen Theorien trotz der somit festgestellten Vereinbarkeit ihrer jeweiligen theoretischen Fundierungen zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Der orthodoxen Lehre zufolge etwa könnte das Oberhaus "theoretisch" sich jederzeit wieder auf sein durch nichts (rechtlich) beseite zu schiebendes Veto berufen, während Petersmann und der "New View" die Parliament Acts als unwiderruflich ansehen. Der Grund für diese diametral einander entgegen stehenden Deutungen ist darin zu suchen, daß sich jede der Theorien immer nur einer Seite der allen gemeinsam zu Grunde liegenden Erkenntnis bedient: da Souveränitätsübertragungen von Rechts wegen unmöglich sind, folgert die orthodoxe Lehre, sie seien überhaupt nie möglich, während Petersmann, ausgehend von der Erkenntnis, daß Souveränitätsübertragungen in Vollzug verfassunggebender Gewalt stets stattfinden können, annimmt, in all den genannten Fällen sei es zu Souveränitätsübertragungen gekommen. In Wirklichkeit ist es aber so, daß man alleine mit diesen beiden möglichen theoretischen Ansätze für den konkreten Fall offensichtlich noch gar nichts gewonnen hat. Notwendig ist vielmehr eine Subsumtion, die sich an den tatsächlichen politischen Umständen zu orientieren hat, die für die jeweilige parlamentarische Entscheidung maßgeblich waren, um so zu bestimmen, ob diese in Vollzug verfassunggebender Gewalt oder im Wege normaler Gesetzgebungskompetenz erfolgte. Damit steht fest, daß der Versuch, die Grenzen der Parlamentssouveränität nach einer diesem Satz innewohnenden Logik mittels analytischer Urteile apriori im Sinne Kants zu bestimmen, fehlschlagen muß.218 Diesen Versuch immer wieder zu unternehmen, ist die Ursache dafür, daß die Diskussion dieses Themas in der britischen Lehre gelegentlich wie eine Gespensterschlacht wirkt und ein wenig wie jene sprichwörtlichen Debatten der mittelalterlichen Scholastik. Die Parlamentssouveränität ist eine Schöpfung, über deren Inhalt allein ihre Schöpfer bestimmen. Ob sie im konkreten Fall außer Kraft gesetzt oder geändert wurde, ist keine Frage des Könnens, sondern allein des Wollens und ist daher nicht mit den Mitteln der Logik, sondern durch die empirisch begründete Analyse der seinerzeit bestehenden Intentionen und deren Fortentwicklung zu klären. 219 Auch ohne eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Ziel einer derartigen Analyse wird man für die allermeisten Fälle territorialer Beschränkungen legislativer Kompetenz annehmen müssen, daß es sich hier in der Tat um nicht revozier218 Siehe auch oben Anm. 175. Ähnlich MarshalI, Parliamentary Supremacy, in: Juridical Rev. 67 (1955), S. 62 ff. (76 ff.). 219 So unter Bezugnahme auf Hart Mirfield (Anm. 158), S. 43; sowie Fitzgerald (Anm. 175), S. 47; Fritz (Anm. 190), S. 110 f.

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bare Souveränitätsbeschränkungen handelte; alle historischen Umstände deuten darauf hin, daß hier echte verfassunggebende Gewalt tätig wurde. Gleiches gilt für das Westminster Statute und für sämtliche Fälle, wo die "manner and form"Regeln geändert wurden. Dagegen wird man die verschiedenen vom Parlament angeordneten Referenda wohl als Delegationen zu verstehen haben. Schwieriger ist hingegen eine Beurteilung des EG-Vertrages. Die bei Gelegenheit der RatifIkation im Vereinigten Königreich sehr intensiv geführten Debatte ging wohl davon aus, daß eine Bindung des Parlaments insoweit nicht stattfInden sollte; hierfür sprechen auch der - etwa im Vergleich mit der Sprache des Westminster Statutes - weit weniger deutliche Text des RatifIkationsgesetzes und die seitdem ergangenen Gerichtsentscheidungen. Immerhin muß dies nicht für alle Ewigkeit gelten, denn möglich ist natürlich auch, daß bei zunehmender europäischer Integration eben doch eine Selbstbindung des Parlaments entsteht als Ergebnis einer sich nur langsam entfaltenden Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt. 220 Für eine formell-verfassungsrechtlich verankerte Bill of Rights bedeutet dies, daß sie nur durch ein neuerliches Tätigwerden der verfassunggebenden Gewalt entstehen kann. Immerhin hat die vorstehende Analyse gezeigt, daß dergleichen weitaus häufIger in der britischen Rechtsgeschichte geschehen ist, als man gemeinhin annimmt. Damit ist dann aber auch der Ansatz dieses Kapitels verlassen, denn eine so begründete Bill of Rights wäre nicht mehr verfassungs immanent, sondern nur noch unter Rückgriff auf die außerhalb der Verfassung stehende verfassunggebende Gewalt zu begründen. 221 Die weitere Verfolgung dieses Weges soll im nächsten Kapitel in Angriff genommen werden.

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1. Die Einführung einer Bill of Rights durch Rückgriff auf die pouvoir constituant Die Untersuchungen des letzten Abschnittes haben gezeigt, daß die Einführung eines formell-verfassungsrechtlich verankerten Grundrechtskataloges nur über eine Aktivierung der verfassunggebenden Gewalt möglich ist. Wie aber hat dies im Vereinigten Königreich zu geschehen? Und welche Verfahren sind dabei zu beobachten? Diesen Fragen soll im folgenden nachgegangen werden. Allerdings sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, daß man in der wissenschaftlichen Literatur des Vereinigten Königreichs nach Begriffen wie verfassungge220 Siehe MitchelI, What Happened to the Constitution on 1st January 1973? in: Cambrian L. Rev. 11 (1980), S. 69 ff. (83), der zur Rolle des Parlaments anläßlich des Beitritts zur Gemeinschaft meint, diese sei "an exercise of residual constituent power" gewesen. Vgl. ferner Fritz (Anm. 190), S. 111 ff. In diesem Sinne kann auch Macarthy verstanden werden; siehe oben § 17 Ziffer 2 b), Anm. 44-47 und dazugehörender Text. 221 So auch aber mit unzureichender Begründung Fazal (Anm. 196), S. 309.

17 Koch

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bende Gewalt oder pouvoir constituant usw. in der RegeF22 vergeblich sucht. Es ist ein Zeichen für den von kontinentalen Einflüssen unabhängig verlaufenden Gang der britischen Staatswissenschaften, daß solche als das geistige Rüstzeug der französischen Revolutionäre von 1789 entwickelten Begriffe im Vereinigten Königreich ohne Widerhall blieben. 223 Nicht nur aber wird jenen Begriffen mit Mißtrauen begegnet, auch die mit ihnen gekennzeichneten realen Sachverhalte finden nur wenige Chronisten. Und doch: bei näherem Hinsehen finden sich auch in der britischen Rechtsliteratur verstreut Ansätze für eine Aufarbeitung der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Vereinigten Königreichs, die in der Sache dem auf dem Kontinent entwickelten Vokabular zur Theorie der verfassunggebenden Gewalt 224 entsprechen. Diese Ansätze zu einem geschlossenen Ganzen zusammenzufügen und damit auch die Parlamentssouveränität auf neue Beine zu stellen, soll die Aufgabe dieses Kapitels sein. Freilich, bei diesem Vorhaben ist sorgsam darauf zu achten, daß dem britischen Verfassungsrecht kein Zwang angetan wird und jene Kategorien nicht zum verfassungsrechtlichen Prokrustesbett werden. Kein Einwand gegen diese Unternehmung ist der Hinweis, daß damit eben doch bislang im wesentlichen der britischen Lehre unbekannte Begriffsbildungen auf ein sich dem widersetzenden Verfassungssystem aufgesetzt werden. Denn nicht um Begriffe geht es, sondern um die damit bezeichnete Wirklichkeit, die in der Tat ausschließlich anband der im Vereinigten Königreich vorfindbaren Gegebenheiten nachzuweisen ist, andernfalls jene Begriffe keine Berechtigung haben. Daß indes eine möglicherweise durchaus vorhandene Wirklichkeit im Vereinigten Königreich nur bislang keinen Namen gefunden hat, kann kein Grund sein, dieses Versäumnis nicht nachzuholen.

a) Träger der pouvoir constituant Als die eigentliche Legitimation des Prinzips der Parlaments souveränität ist im letzten Abschnitt die verfassunggebende Gewalt identifiziert worden. Nicht ein einmaliger Vorgang aus grauer Vorzeit also ist es, der das britische Verfassungssystem legitimiert und dessen für die Nachgeborenen sozusagen unentrinnbare Normativität von den Heutigen nur sklavisch nachvollzogen werden kann, sondern die sich konkret und gegenwärtig äußernde verfassunggebende Gewalt. Von wem wird diese im Vereinigten Königreich ausgeübt? Wird diese Frage so gestellt, verführt sie zu einer Zweideutigkeit, die mitverantwortlich für eine häufig anzutreffende Begriffsverwirrung sein mag. Denn in Anbetracht der allgegenwärtigen Parlamentssouveränität scheint die Antwort auf diese Frage schlecht222 Aber nicht immer, siehe etwa Allot (Anm. 214); Ridley (Anm. 15), S. 344 f., 342 f. 223 Siehe etwa Middleton (Anm. 123), S. 137 f. zum Begriff der rechtlichen und politischen Souveränität. Zur ideengeschichtlichen Entwicklung siehe Al/ot (Anm. 214), S. 102 ff. 224 Trotz seiner Ablehnung des Begriffs der "politischen Souveränität" meint z. B. auch Middleton (Anm. 123), S. 153: ,,Popular sovereignty may be mythical in a proper sense, but it is by no means devoid of political significance."

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hin evident und etwa das Prinzip der Volkssouveränität von vorneherein ausgeschlossen. Indes: mit der Parlamentssouveränität ist allein die organschaftliche Souveränität gemeint,225 die sich - wie schon der Name sagt - nur auf bereits verfaßte Organe bezieht, während es bei der Frage nach der Inhaberschaft der verfassunggebenden Gewalt auf einer dem vorgeschalteten Ebene um die Bestimmung derjenigen Instanz geht, die ein solches Verfaßtsein bestimmter Organe als die letzte und grundlegendste Legitimation des Staates schlechthin überhaupt erst ermöglicht. 226 Mit einem Hinweis auf die britische Parlaments souveränität ist die Inhaberschaft der verfassunggebenden Gewalt also nicht zu klären. Freilich wäre durchaus zu erwägen, ob das Parlament nicht zugleich Inhaber der verfassunggebenden Gewalt sein könnte. Es soll an dieser Stelle nicht der Frage nachgegangen werden, ob ein Organ wie das Parlament überhaupt als Inhaber (und nicht nur als Vertreter des Inhabers) der verfassunggebenden Gewalt denkbar ist, ob es nicht vielmehr im letzten stets nur Volkssouveränität geben kann. Verfolgt man den historischen Gebrauch des Begriffes Souveränität, so muß man jedenfalls feststellen, daß unbelastet von dieser grundsätzlichen Fragestellung viele, allerdings durchweg vergangene Sta.atsordnungen Souveränität in diesem Sinne bei anderen Instanzen verortet haben, etwa wenn von der Fürstensouveränität die Rede ist. Auch der King-in-Parliament war in der Epoche nach der Glorious Revolution im Verständnis der damaligen Zeit Inhaber der Souveränität. 227 Auch darin zeigt sich wiederum die Fortschrittlichkeit, die der englischen Verfassung des 18. Jahrhunderts zu eigen war, daß sie anders als die nach dem absolutistischen Vorbild Frankreichs ausgerichteten kontinentalen Staaten Souveränität nicht beim Monarchen konzentrierte, sondern einem gesamthänderischen Verband, bestehend aus dem Monarchen und der Standesvertretung, übertrug. Betrachtet man nun aber die im heutigen Vereinigten Königreich herrschenden Anschauungen, so kann es keinen Zweifel geben, daß die gegenwärtige Verfassungsordnung auf der Volkssouveränität beruht. Die verfassungstheoretische Grundlage für diese schlechterdings nicht von der Hand zu weisende Erkenntnis legte bereits im vorherigen Jahrhundert Dicey selbst,228 der anders als die meisten 225 Siehe Petersmann, Souveränität des britischen Parlaments, S. 246; nicht ganz klar Ridley (Anm. 15), S. 344 f. 226 Diese grundlegend zu nennende Abschichtung läßt sich sehr schön mittels der von earl Schmitt eingeführten Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz verdeutlichen: "Ein Verfassungsgesetz ist seinem Inhalte nach die ausführende Normierung des verfassunggebenden Willens." (Verfassungslehre, S. 76). Die organschaftliche Souveränität ist folglich in diesem Sinne eine verfassungs gesetzliche Festlegung, die Volkssouveränität dagegen eine vor-verfassungsmäßige. 227 Siehe Streifthau, Souveränität des Parlaments, S. 15 ff. 228 Übrigens hat auch Locke, Second Treatise of Government, Chapter XIll, § 149 (S. 384 f.), so etwas wie Volkssouveränität angenommen, wenn er dem Volk das Recht zugesteht, "to remove or alter the legislative, when they find the legislative act contrary to the truth reposed in them ..." Von Blackstone, Commentaries I, S. 157, wurden solche "theoretischen" Vorstellungen indessen energisch zurückgewiesen. 17*

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seiner (damaligen) britischen Kollegen sich mit den auf dem Kontinent herrschenden staatsrechtlichen Vorstellungen näher bekannt gemacht hatte und daher in einem gewissen Umfang die dort übliche Terminologie rezipierte. Dicey hatte scharf getrennt zwischen ,,rechtlicher" und "politischer" Souveränität und jene dem Parlament, diese dem Volk zugewiesen. 229 Damit aber hat Dicey anders als die meisten sonst hierzu im Vereinigten Königreich vertretenen Ansichten die die Allmacht des Parlaments relativierenden und eingrenzenden Umstände (z. B. die öffentliche Meinung usw.) nicht nur als allein real wirkende Faktoren begriffen, die ohne normative Grundlage irgendeiner Art zwar willkommen sind, aber eigentlich nur zufallig in die Operation der Parlamentssouveränität eingreifen. Durch die Einführung des Begriffs der "politischen Souveränität" werden all diese machthemmenden Umstände bei Dicey vielmehr zu Emanationen eines sehr wohl normativ, wenn auch "nur" politisch-normativ erzwungenen Prinzips, das nicht nur rein tatsächlich im Sinne einer Wirklichkeitsbeschreibung gilt, sondern der von Dicey aufgedeckten Logik der Verfassung zufolge auch so gelten soll. ,,Politische Souveränität" aber ist nichts anderes als der Inhaber nicht der organschaftlichen, sondern jener Souveränität, die die als ursprünglich und unveräußerlich gedachte Kompetenz zur Hervorbringung der Staatsgewalt überhaupt meint. 230 Da Dicey diese dem Volk zurechnet, geht er mithin von der Volkssouveränität aus. 231 Und in der Tat: auch unausgesprochen ist die Ausrichtung der britischen Verfassungsordnung auf das Prinzip der Volkssouveränität eines der großen Themen der letzten eineinhalb Jahrhunderte britischer Verfassungsentwicklung gewesen. 232 Denn mit der Demokratisierung des Wahlrechts des Unterhauses 229 Law of the Constitution, S.70-76, 429 ff. Dagegen Middleton (Anrn. 123), S. 138 f. 230 Siehe etwa Law of the Constitution, S: 372: "The electorate is in fact the sovereign of England." - Diese von Dicey eingeführte Unterscheidung zwischen "politischer" und ,,rechtlicher" Souveränität ist von vielen späteren Autoren nicht verstanden worden; siehe etwa Jennings, Law and Constitution, S. 143, mit der Ansicht, eine solche Unterscheidung sei deswegen unhaltbar, weil Souveränität als Eigenschaft unteilbar sei, womit ein weiteres Beispiel dafür geliefert wäre, wie leicht die verschiedenen miteinander inkommensurablen Souveränitätsbegriffe durcheinander geworfen werden können. Auch Geisseler, Reformbestrebungen, S. 15 f., fällt einer solchen Verwechselung zum Opfer. 231 Siehe folgende Zitate aus Law ofthe Constitution: " ... the essence of representative government is that the legislature should represent or give effect to the will of the political sovereign ..." (S. 429 f.) "The electorate is in fact the sovereign of England." (S. 430) Und schließlich: "Our modern code of constitutional morality seeures, though in a roundabout way, what is called abroad the ,sovereignty of the people'." (S. 431) Besonders bei der letztzitierten Passage spürt man deutlich aber auch die inneren Vorbehalte gegenüber jener für britische Ohren offenbar zutiefst unsympathischen Phraseologie der französischen Revolution. - Noch klarer Winterton (Anrn. 180), S. 596 mit weiteren Nachweisen. 232 So auch Petersmann, Souveränität des britischen Parlaments, S. 243 f.; Langheid, Souveränität und Verfassungs staat, S. 40 f.; Geisseler, Reformbestrebungen, S. 15 f., 33. Dagegen widersprüchlich Loewenstein, Staatsrecht & Staatspraxis I, S. 66, 72.

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durch die verschiedenen Wahlrechtsrefonnen ab 1832 23 3, ebenso wie mit der Entmachtung des Oberhauses wurde nicht nur der Übergang von einer feudalen Ständevertretung zu einer durch alle Rechtsgenossen gleichennaßen legitimierten Volksvertretung bewältigt.234 Die für diese Umstellung herangezogene verfassungspolitische Rechtfertigung ließ sich nur beibringen durch das Anerkenntnis, daß die Legitimität des Parlaments nicht aus sich selbst heraus entstehen kann, sondern vielmehr auf ein anderes, im Sinne der Legitimität Höheres verweisen muß, dessen Inanspruchnahme als Quelle der Legitimität folglich auch einen veränderten Repräsentationsmodus erforderte. Im Grunde genommen handelt es sich bei diesem Sachverhalt, der hier sehr abstrakt ausgedrückt wurde, bei Licht besehen um eine ausgesprochen banale Feststellung, wofür allein das Selbstverständnis des britischen Parlaments hinreichend Beweis ist. Denn wie unter den Bedingungen eines sich demokratisch empfindenden Staatswesens auch gar nicht anders denkbar, beruft sich auch der britische Abgeordnete bei all seinem Tun ebenso beständig und gerne auf den (tatsächlichen oder venneintlichen) Wählerwillen wie sein deutscher Kollege, sieht sich in seinem Amt gerechtfertigt durch die Entscheidung des Volkes und sucht in allem seine Bestätigung nur beim 233 Eingeleitet wurde dieser Prozeß 1832 mit einem ersten Representation of the People Act (2 & 3 Will. IV c. 5), fortgeführt mit gleich betitelten Gesetzen von 1867 (30 & 31 Vict. c. 102), von 1884 (48 & 49 Vict. c. 3), von 1918 (7 & 8 Geo. 5 c. 64) und abgeschlossen 1928 (18 & 19 Geo 5 c. 12). Als Ergebnis dieser schrittweise durchgeführten Reformen wurde der Kreis der Wahlberechtigten bis 1928 auf alle Personen über 21 Jahre ausgedehnt, während bis 1832 nur 2% dieser Personen über das Wahlrecht verfügten; siehe hierzu Smith, Constitutional & Legal History, S. 437 ff., 442 ff., 455 f.; Hollis, Parliament and its Sovereignty, S. 155 ff. 234 Das Ergebnis der Verabschiedung des Reform Act von 1832 etwa faßt Birch, System of Govemment, S. 36, so zusammen: "Tbe potential supremacy of the people over the Commons was thus made clear for the first time ..." Ähnlich Keir, Constitutional History, S. 373, 414. Finer, Comparative Govemment, S. 442 f. meint, bis 1832 sei das UK zwar liberal, aber nicht demokratisch gewesen und verweist darauf, daß bis zum Reform Act die Regierung nie eine Wahl verloren habe. Anders dagegen Loewenstein, Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England nach der großen Reform, in: Archiv für Sozialwissenschaft & Sozialpolitik 51 (1924), S. 614 ff. (668 f., 673 f.), der scharf den Unterschied zwischen dem französischen Modell eines das eigentlich souveräne Volk nur vertretenden Legislativorgans einerseits und dem englischen Modell des selbst souveränen Parlaments andererseits herausarbeitet: "In England ... stellte ... die Repräsentation ... den Prozeß dar, durch den sich die regierende Klasse aus der Gesellschaft selbst rekrutiert" (S. 669); da die politische Klasse souverän sei, sei auch das Parlament souverän. Damit scheint Loewenstein die hier vertretene These zu bestreiten. Indes ist hier zu berücksichtigen, daß Loewenstein Soziologie, nicht Staatsrecht betreiben will. Wenn er von ,,Parlamentssouveränität" spricht, so meint er nicht organschaftliche Souveränität, sondern den Inhaber der Staatsgewalt überhaupt. Vor allem aber gesteht er auch zu, daß mit der zweiten Reform Bill die von ihm so verstandene Parlaments souveränität zu Ende gegangen (S. 703 ff.) und abgelöst worden sei von einer "plebiszitär bewegten Demokratie" (S. 707), bei der das Parlament nicht mehr die "souveräne Verfügung ... über den gesamten gesetzgeberischen Stoff' (S. 705) innehat, sondern darauf angewiesen ist, bei wichtigen Vorhaben ein "plebiszitäres Mandat" (ebenda) einzuholen. Im Ergebnis bestätigt Loewenstein damit die hier vertretene These. Exakt das gleiche gilt für Streifthau, Souveränität des Parlaments, S. 146 ff.

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Wähler. Hierin unterscheidet sich der britische Parlamentarismus bei allen vorhandenen Besonderheiten in nichts von den Verhältnissen in anderen demokratisch verfaßten Staaten. Ebensowenig wie dort kann daher die verfassunggebende Gewalt im Vereinigten Königreich beim Parlament liegen; vielmehr wird man auch für die britische Verfassungsordnung von der Volkssouveränität auszugehen haben. Freilich ist im Vereinigten Königreich mindestens seit der Glorious Revolution von 1688 diese Volkssouveränität nie in einem eigens nur zu diesem Zweck konstituierten und zusammengerufenen Organ operationalisiert worden. Eben dieser Umstand vor allem ist es, der der britischen Staatswissenschaft Begriffe wie"Volkssouveränität" als überflüssig und ohne Erkenntniswert erscheinen läßt. Und in der Tat kommen auch hier wieder die aus der (organschaftlichen) Souveränität des Parlaments herrührenden Eigentümlichkeiten der britischen Verfassung zum Zuge. Denn da es im Vereinigten Königreich formelles Verfassungsrecht als Rechtsquelle nicht gibt, kann verfassunggebende Gewalt keine Normen setzen, die sich formal vom Gesetzesrecht unterscheiden. Da nun aber das Parlament vermittels der Parlamentssouveränität zum Erlaß aller Arten von abstrakt-generellen Normen ermächtigt ist, folgt hieraus, daß das Parlament - allerdings nur als Vertreter des Volkes - auch solche Normen setzen darf, die als Ergebnis verfassunggebender Gewalt zustandekommen. Das britische Parlament hat also eine Doppelfunktion. Als verfassunggebende Versammlung steht es vor der Verfassung; gleichzeitig aber steht es als oberstes Legislativorgan auch in der Verfassung. b) Verfahren

Ist mit diesem Ergebnis aber wirklich etwas Entscheidendes für eine Bill of Rights gewonnen? Daran zu zweifeln, gibt die Tatsache Anlaß, daß nach dem Ergebnis dieser Untersuchung das Parlament sowohl Gesetz- wie auch Verfassungsgebungskörperschaft ist, ohne daß sich aber diese von dem gleichen Organ gesetzten Normtypen formal unterscheiden. Denn wenn es nach dem Ergebnis des vorstehenden Abschnitts fraglos in die Kompetenz des Verfassungsgebungsorgans Parlament fällt, durch eine Bill of Rights auch das Gesetzgebungsorgan Parlament zu binden, so bleibt doch das Parlament als Verfassungsgebungsorgan frei. Es genügt also, daß die Abgeordneten in diese, ihre zweite Rolle schlüpfen, und kein Gericht dürfte ihren Gesetzen den Gehorsam verweigern. Mehr noch: auch alle Vorschriften über qualifizierte Mehrheiten wären so zu umgehen, denn als vom Verfassunggeber geschaffenes Recht können sie diesen selbst nicht verpflichten; 235 als Verfassungsgebungsorgan könnte das Parlament folglich auch in Zukunft mit einfacher Mehrheit über eine Bill of Rights hinweggehen. 236 235 Die britische Verfassung wäre somit demjenigen Typus zuzurechnen, der im Sinne Menzels, Rechtsformen der formalen Verfassungsänderung, in: FS Giese, S. 153 ff. (166 f.) zur Änderung sich eines "schlichten" Verfahrens bedient, das sich in nichts von dem der üblichen Gesetzgebung unterscheidet.

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Auch so scheint man den Folgen der Parlaments souveränität also nicht entkommen zu können. 237 Solche Resignation ist allerdings voreilig. Denn diese Schlußfolgerung beruht auf der im folgenden nachzuprüfenden Hypothese, daß das Parlament und seine Mitglieder in der Tat ohne weiteres von einer Rolle in die andere überwechseln können, daß es mit anderen Worten keinerlei besondere Verfahren gibt, welche im Vereinigten Königreich das Tätigwerden der verfassunggebenden Gewalt regulieren. Die damit angesprochene Problematik stellt sich ähnlich auch in anderen Rechtsordnungen. Auch solche Verfassungen, die umfassend in einer Verfassungsurkunde niedergelegt wurden, können stets nur Bestimmungen über die Ausübung verfassungsändernder Gewalt treffen; diese ist indes ein Teil der durch die Verfassung, also durch die verfassunggebende Gewalt, konstituierten Staatlichkeit, also selbst bereits ,,kanalisierte" verfassunggebende Gewalt. Soweit es also um die Schaffung der Verfassung überhaupt geht, kann kein Verfassungs text eine Antwort darauf geben, welche Verfahren hierbei zu beobachten sind. 238 Historisch hat es ganz verschiedenartige Verfahren gegeben, um das Wirksamwerden der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in einem objektiven Akt deutlich werden zu lassen. 239 Erstaunlicherweise macht auch das Vereinigte Königreich hiervon keine Ausnahme. Da dort mit dem Parlament anders als in anderen Verfassungen eine verfassunggebende Versammlung, deren Legitimität sich durch regelmäßige Wahlen fortlaufend erneuert, ständig präsent ist, hat es im Vereinigten Königreich nie die Notwendigkeit für eine Zustimmung des Volkes zur britischen Verfassung als Ganzem gegeben. Weil das Parlament zur Setzung von Verfassungsrecht ebenso berechtigt ist wie zur Setzung von Gesetzesrecht, umgreift die vom Parlament dem Wähler gegenüber abzulegende Rechtfertigung notwendigerweise die Totalität des staatlichen Verfaßtseins. Mehr noch als in Staaten, wo die regelmäßig neu zu wählenden Volksvertretungen nur über einen Teil der Gesamtheit aller Normen verfügen können, weil ein Rest entweder den verfaßten Organen entzogen oder aber besonderen Organen vorbehalten ist, 236 Diese merkwürdige Lage des britischen Parlaments wäre übrigens nicht ohne Parallele: die Knesset, das Parlament Israels, ist ebenfalls zugleich gesetz- und verfassunggebende Körperschaft; siehe hierzu und zu den sich daraus für eine israelische Bill of Rights ergebenden Schwierigkeiten, Ratner, The Function of a Bill of Rights in Israel and the United States, in: AJCL 26 (1978), S. 373 ff. (375 ff., 378 ff.). 237 Anders dagegen der Supreme Court of Israel in Bergmann v. Minister 0/ Finance (siehe Ratner [Anm. 236], S. 377). Obwohl auch in Israel Verfassungs- und Gesetzgebungskörperschaft identisch sind, hob das israelische Gericht ein mit einfacher Mehrheit beschlossenes Gesetz auf, das eine Regelung getroffen hatte, welche in einem früheren Gesetz einer Entscheidung durch eine absolute Mehrheit der Abgeordneten vorbehalten worden war. Die Knesset beugte sich diesem Urteil. 238 Eine besonders klare Formulierung dieses Gedankens findet sich wiederum bei Schmitt, der unter Hinweis auf ein Zitat von Sieyes (,,Es genügt, daß die Nation will") feststellt: ,,An Rechtsformen und Prozeduren ist die verfassunggebende Gewalt nicht gebunden; sie ist ,immer im Naturzustand', wenn sie in dieser unveräußerlichen Eigenschaft auftritt." (Verfassungslehre, S. 79 und auch 84). 239 Siehe die erschöpfende Aufzählung bei Menzel (Anm. 235), S. 167 ff.

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muß im Vereinigten Königreich daher die Wahl zum Unterhaus als Zustimmung des Volkes zur Verfassung verstanden werden. 240 Wenngleich nun aber die Verfassung des Vereinigten Königreichs seit 1688 nicht mehr in ihrer Gesamtheit zur Disposition stand, so hat es doch - wie gezeigt wurde - eine ganze Reihe von Fällen gegeben, wo verfassunggebende Gewalt durch die Änderung bislang gültigen VerfassWlgsrechts tätig wurde. Daß es sich in diesen Fällen wirklich um verfassunggebende Gewalt handelt, zeigt nicht nur die oben durchgeführte Analyse, sondern auch die bei diesen Gelegenheiten jeweils angewandten besonderen Verfahren, die deutlich machen, daß man sich durchaus der Gewichtigkeit der so zu legitimierenden Rechtsvorgänge bewußt war, auch wenn man die darin liegende Besonderheit nicht beim Namen nennen konnte. Ein Widerschein hiervon findet sich in der sog. Doctrine 0/ the Mandate,24I der Mandatslehre, deren genaue Umrisse allerdings nur schwer auszumachen sind. Sie besagt in ihrer engsten und somit unumstrittenen Variante, daß eine Regierung (und die sie tragende Parlamentsmehrheit) bedeutende Änderungen durch Gesetzgebung (,,major changes by legislation") erst dann ausführen kann, nachdem solche Änderungen in einer allgemeinen 242 Wahl zur öffentlichen Debatte gestellt worden sind. 243 Strittig ist freilich, ob diese Lehre mittlerweile den Status einer Konvention 244 erlangt hat und damit verbindlich wäre oder aber die nur politische Folgerung aus der Entscheidung für eine konsequente demokratische Anbindung des Parlaments an seinen Auftraggeber, das Wahlvolk, darstellt. 245 Allerdings bezieht die Mandatslehre sich nicht nur auf Änderungen verfassungsrechtlicher Art; 246 gleichwohl wird man bei solchen Vorhaben sicherlich sehr viel eher als in anderen Fällen die Voraussetzungen der Mandatslehre erfüllt sehen. Folglich war es auch gerade die Einführung neuen Verfassungsrechts, wo praktische Konsequenzen aus der doctrine of mandate gezogen wurden. Das beste Beispiel hierfür liefert der erste Parliament Act aus dem Jahre 1911, 240 Es liegt im Wesen des Organs "Volk", daß es mangels fester Organisation in den meisten Fällen nur im Wege der Akklamation und das heißt entweder mit ,,Ja" oder ,,Nein" entscheiden kann, siehe hierzu Schmitt, Verfassungslehre, S. 83 f. 241 Allgemein aus demokratietheoretischer Sicht zur Mandatslehre, siehe Krbek, Repräsentation, in: FS Leibholz 11, S: 69 ff. (82 ff.). 242 Wichtig ist hier das Stichwort "allgemeine Wahl" (general election); die Wahl nur eines einzelnen Abgeordneten, um einen durch Tod oder Mandatsverzicht vakant gewordenen Unterhaussitz neu zu besetzen, reicht somit nicht. 243 So etwa Mitchell, Constitutional Law, S. 67; Jennings, Law & Constitution, S. 176. 244 So Glum, Das parlamentarische Regierungssystem, S. 88 f. Zu diesem für das britische Recht typischen Verfassungsinstitut gleich mehr, siehe unten Anm. 260 ff. und dazugehörenden Text. 245 So wohl die h. M.: MitchelI, Constitutional Law, S. 67 f.; ders. (Anm. 182), S. 200 f.; Phi/Ups, Constitutional & Administrative Law, S. 51; Petersmann, Souveränität des britischen Parlaments, S. 244 f.; sehr zurückhaltend dagegen Loewenstein, Staatsrecht & Staatspraxis I, S. 47 f.; dagegen Ridley (Anm. 15), S. 352. 246 MitchelI, Constitutional Law, S. 67 f.; für Beispiele siehe Jennings, Law & Constitution, S. 177 ff.

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der erst verabschiedet wurde, nachdem die Liberalen das Parlament hatten auflösen lassen, um in einer neuen Wahl sich eines Wählerauftrags eigens für dieses Vorhaben zu versichern. Tatsächlich gibt es aber auch ältere Beispiele für ein Vorgehen gemäß der Mandatslehre. Als die Whigs unter der Führung von Earl Grey 1831 den späteren Reform Act im Unterhaus eingebracht hatten, zogen sie es vor, das House of Commons durch den König auflösen zu lassen, obwohl Earl Grey eine wenn auch knappe Mehrheit für seinen Entwurf gefunden hatte. In der anschließenden Wahl war das in Aussicht genommene Reformgesetz das einzige Thema; die Whigs kehrten mit großer Mehrheit in das Unterhaus zurück und konnten nach leidenschaftlichen Auseinandersetzungen den Reform Act durchsetzen. 247 Für den weiteren Gang der Untersuchung ist es unerläßlich, sich die Besonderheit des in diesen beiden Fällen zur Anwendung gelangten Verfahrens vor Augen zu führen. Die Liberalen verfügten jeweils über ausreichende Mehrheiten. Auch wenn sie sich (zu recht) in beiden Fällen von einer breiten Stimmung im Wahlvolk getragen wußten, somit günstige Voraussetzungen vorlagen, um durch eine Neuwahl des Unterhauses eine noch größere Zahl von Sitzen zu erwerben, ging es bei den Wahlen vorrangig nicht um die Bestimmung der personellen Zusammensetzung der Volksvertretung oder um die Entscheidung über die allgemein von der Regierung einzuschlagende politische Richtung, so wie dies in der Regel für Wahlen gilt: entschieden wurde vielmehr über ein ganz konkretes, im Detail dem Wähler vorher bekanntes Vorhaben, das der Verfassung ein jeweils grundlegend anderes Gesicht zu geben versprach. 248 Damit offenbart sich das hier angewandte Verfahren als eine Außerkraftsetzung des Prinzips der repräsentativen Demokratie, welche grundsätzlich gegen ein irgendwie sachlich gebundenes Mandat des Abgeordneten steht. 249 Demgegenüber ist es das Merkmal verfassunggebender Gewalt, daß sie über konkret angebotene Normen befindet, auch wenn sie deren Ausarbeitung nicht anders als bei einfachgesetzlichen Normen einem Vertreter überlassen muß. Das Referendum als.verfahren zur Entscheidung konkreter politischer Fragen war 1831 noch unbekannt und hatte sich 1911 noch nicht durchsetzen können; 247 Zu diesen Vorgängen, siehe Smith, Constitutional & Legal History, S. 439 f.; Birch, System of Government, S. 36; Loewenstein (Anm. 234), S. 619 ff.; für eine Schilderung der mit dem Reform Act beseitigten Verhältnisse, siehe Finer, Comparative Govemment, S. 442 f. 248 Besonders deutlich wurde dies, als König Georg V. es ablehnte, eine ausreichende Zahl von liberalen Peers zu ernennen, um so die Voraussetzung für eine Annahme des Parliament Act auch durch das House of Lords zu schaffen, es sei denn, die liberale Regierung würde in einer eigens hierfür angesetzten allgemeinen Wahl eine Bestätigung des Wahlvolks erhalten und so dessen Unterstützung für den Parliament Act nachweisen; Alderson, The Referendum under the British Constitution, in: Stankiewicz, British Government in an Era of Reform, S. 73 ff. (74), schreibt hierzu: "In effect, George V put the Parliament Bill to a poil of the people." 249 So klar Williams (Anm. 139), S. 281.

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daran mag es gelegen haben, daß man bei diesen Gelegenheiten zum Mittel einer allgemeinen Parlamentswahl griff,250 um sich die als nötig empfundene zusätzliche Legitimität zu verschaffen. Angeregt insbesondere durch die außerordentlich heftigen politischen Auseinandersetzungen um Gladstones (ersten) Versuch zur Einführung eines Selbstverwaltungsregimes für Irland 1886 251 war die Institution des Referendums auf den britischen Inseln intensiv erörtert worden. Insbesondere Dicey 252 trat mit Vorschlägen hervor, die über ein eigens hierfür geschaffenes Gesetz die Einholung eines Volksvotums per Referendum in allen verfassungsrechtlich bedeutsamen Fragen zur ständigen Übung hätte werden lassen. 253 Zwar blieb solchen Plänen die Verwirklichung versagt; der ihnen zu Grunde liegende Gedanke, daß nämlich wesentliche verfassungsrechtliche Vorhaben der Zustimmung des Volkes bedürfen, wurde indes bestätigt. Allerdings fehlte es vorerst noch an der praktischen 254 Implementierung; denn alle Gesetzesvorlagen über die irische Selbstverwaltung scheiterten bereits im Parlament. Erst in den 70er Jahren dieses Jahrhunderts wurden mehrfach Referenda durchgeführt. 255 Allerdings hat es nach dem (ersten) Reform Act von 1832 noch zahlreiche Wahlrechtsreformen gegeben, die ohne besondere Verfahren verabschiedet wurden. Ähnliches gilt für die Gesetze über die Entlassung britischer Kolonien in 250 Ein anderes Beispiel für diese Vorgehensweise nennt Bogdanor, Dicey and the Reform of the Constitution, in: PL 1985, S. 652 ff. (656): Als 1868 Gladstone einen Plan zur Beseitigung der der anglikanischen Kirche in Irland zuvor gewährten besonderen öffentlich-rechtlichen Stellung (die sog. "disestablishment ofthe Irish Church") vorlegte, wurde ihm entgegengehalten, daß die Abschaffung der entsprechenden Vorschriften des als ein grundlegendes verfassungsrechtliches Dokument angesehenen Act o[ Union (mit Irland) von 1800 nicht ohne vorherige Konsultierung des Wahlvolkes geschehen dürfe. Die anschließenden Wahlen wurden 1868 von Gladstone gewonnen, und er konnte sein Vorhaben ausführen. 251 Dazu Bogdanor (Anm. 250), S. 655 ff. 252 Siehe Dicey, Ought the Referendum to Be Introduced into England? in: Contemporary Rev. 57 (1890), S. 489 ff. (497 ff.); ders., Buchbesprechung, in: Edinburgh Rev. 171 (1890), S. 113 ff. (139 ff.). Dazu Tulloch, Dicey and the Irish Question, in: Irish Jurist 15 (1890), S. 137 ff. (bes. 154 ff.) und Bogdanor (Anm. 250), S. 659 f. Besonders aufschlußreich ist, daß Dicey seine Referenda ausdrücklich "constitutional amendments" vorbehalten wissen wollte, sich damit also eindeutig in dem hier vertretenen Sinne von dem Geltungsbereich der Mandatstheorie absetzte. 253 Das Gesetz sollte in einem Anhang eine Auflistung jener Gesetze enthalten, die nur noch nach Abhaltung eines Referendums hätten abgeändert werden dürfen. Zwar sah auch Dicey, daß die Parlamentssouveränität das Parlament instand gesetzt hätte, sich über die Vorschriften seines Gesetzes hinwegzusetzen; er hielt dies aber politisch für ausgeschlossen, siehe Dicey, in: Contemporary Rev. (Anm. 252), S. 499 ff. Lebhaft ist man hier an auch aus der Bill of Rights-Debatte bekannte Argumente erinnert. 254 Siehe etwa folgende Stellungnahme Diceys, in: Edinburgh Rev. (Anm. 252), S. 141: "We have introduced into our constitution the spirit, though not as yet the form, of the referendum." Ähnlich Bogdanor (Anm. 250), S. 663. - Kritisch gegenüber der Idee des Referendums Wi/liams (Anm. 139), S. 281 f. 255 Siehe oben 4. Kapitel, Anm. 133 -136. Hierzu Bailey, Referendum is a Foreign Word, in: NU 138 (1988), S. 181 ff. - Zu der Diskussion um die Mandatslehre und die daraus in Hinblick auf den Beitritt des Vereinigten Königreichs zur EG zu ziehenden Konsequenzen, siehe Petersmann, Souveränität des britischen Parlaments, S. 186 ff.

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die Unabhängigkeit; und sowohl in diesen Fällen wie auch bei den eben erwähnten Wahlrechtsrefonnen hat diese Untersuchung das Tätigwerden verfassunggebender Gewalt nachgewiesen. Es gibt jedoch gute Gründe, die in beiden Fallgruppen dagegen sprachen, besondere Verfahren in Anwendung zu bringen. Um mit den Wahlrechtsrefonnen zu beginnen: zwar waren die unmittelbaren praktischen Folgen des ersten Reform Act von 1832 insgesamt keineswegs umstürzlerisch. Alle Historiker sind sich indes einig, daß die eigentliche Bedeutung des Reform Act in der damit erwirkten grundlegenden Umorientierung der britischen Verfassung lag, deren Vollzug allerdings nur zu kleinen Teilen mit dem Act selbst bereits geschah, sondern späteren Parlamenten vorbehalten blieb. Der Reform Act schrieb fest, daß die Legitimität des Parlaments nicht aus sich selbst erwachsen könne, sondern des Rückbezuges auf das britische Volk bedürfe und folglich das Parlament in seiner Zusammensetzung dem Volk zu entsprechen habe. War dieses Prinzip einmal anerkannt, mußte das weitere zwingend folgen. Es war daher einleuchtend, daß auch nur die Entscheidung über dieses Prinzip der unmittelbaren Zustimmung des Volkes bedurfte. Im Falle der britischen Kolonien liegen die Dinge etwas anders, denn zu keinem Zeitpunkt ist das Volk des Vereinigten Königreichs weder dem Prinzip nach noch in einem Einzelfall zur Unabhängigkeit britischer Kolonien befragt worden. In solchen Fällen ist die Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt aber vor allem dort gefragt, wo ein neuer Staat und eine neue Verfassung installiert werden sollen. Damit sind also primär die in die Unabhängigkeit zu entlassenden Gebiete zu einer Befragung des Souveräns aufgerufen, nicht hingegen das britische Mutterland, wo verfassungsrechtlich alles beim alten bleibt. Gleiches galt für die zu Nordirland, Schottland und Wales in den 70er Jahren angesetzten Referenda. In der Sache ging es hier stets um die Frage, ob entweder die Unterwerfung unter das britische Parlament ganz beendet (Nordirland) oder aber in wichtigen Bereichen gelockert werden sollte (Schottland und Wales). Das gleiche Problem stellte sich schließlich auch beim EG-Beitritt, nur hier bezogen auf das ganze Land mit der Folge, daß das ganze Land zur Entscheidung aufgerufen wurde. Auch die Referenda waren folglich Entscheidungen über die Reichweite der Parlamentssouveränität, 256 mithin Fälle einer Inanspruchnahme verfassunggebender Gewalt. Damit steht fest: immer dann, wenn die verfassunggebende Gewalt in den letzten 150 Jahren seit dem Reform Act von 1832 verfassungsrechtliche Änderungen im Vereinigten Königreich bewirkt hat, wurde stets auf die eine oder andere Weise die unmittelbare Zustimmung des Souveräns, des Volks, eingeholt. Auch ohne sich dessen immer bewußt zu sein, hat die britische Verfassung damit 256 Das sieht auch klar Bailey (Anm. 255), S. 182, die im übrigen eine Rechtspflicht zur Abhaltung eines Referendums bestreitet (a. a. 0., S. 183). Anders dagegen Bogdanor (Anm. 250), S. 663: "They [die Referenda] establish persuasive precedents for suggesting that the electorate ought to be consulted before such a transfer of power takes place."

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jedenfalls in der Praxis eine Entwicklung nachvollzogen, die auf dem Kontinent mit der französischen Revolution eingeleitet und seitdem in allen demokratisch verfaßten Staaten übernommen wurde. 257 Es soll hier nicht en detail untersucht werden, inwieweit die Mandatslehre in der oben vorgestellten Fassung tatsächlich zur verfassungsrechtlichen Konvention erstarkt ist. 258 Als ein Vehikel für die rechtliche Kanalisierung der verfassunggebenden Gewalt ist die Mandatslehre ohnehin nur begrenzt geeignet. Denn sie gilt ja nicht nur für verfassungsrechtliche Vorhaben, sondern für überhaupt alle "bedeutenden Änderungen" (major changes).259 Zum anderen sieht die Mandatslehre als Rechtsfolge nur die Abhaltung einer allgemeinen Wahl vor, während das modernere Institut der Volksbefragung in der Mandatslehre jedenfalls in ihrer traditionellen Fassung keinen Platz hat. Entspräche die eben analysierte Verfassungspraxis einem Rechtssatz, wäre dieser auf der Tatbestandsseite enger, weil er sich nur auf (materiell-)verfassungsrechtliche Sachverhalte bezöge, auf der Rechtsfolgenseite dagegen weiter, weil die nachzuweisende Legitimation durch das Volk nicht nur durch eine Ausschreibung von Neuwahlen, sondern ebenso durch ein Referendum geschehen könnte. Klar ist zunächst einmal, daß ein solcher Rechtssatz keinesfalls justiziabel sein kann. Diese (bedauerliche) Schlußfolgerung ist unausweichlich in Anbetracht des einhelligen Votums der Judikatur ebenso wie der Literatur, die unisono den britischen Gerichten das Recht abgesprochen haben, die Anwendung von Gesetzen deswegen zu verweigern, weil diese nicht dem Volkswillen entsprechen. Dies ist nichts anderes als eine Anwendung des allgemeinen Grundsatzes, welcher überhaupt jede Kontrolle von Gesetzen durch Gerichte verbietet. 260 Mit diesem 257 So vor allem auch Loewenstein (Anm. 234), S. 705 ff. (anders dagegen ders., Staatsrecht & Staatspraxis I, S. 49); und ganz ausdrücklich im Sinne der hier vertretenen Auffassung Wallington, What Does a Bill of Rights Mean? in: Campbell, Do We Need a Bill of Rights? S. 38 ff. (39 f.). 258 Die britische Mandatslehre hat übrigens auch einmal in einem deutschen Verfassungsrechtsstreit eine gewisse Rolle gespielt, als nämlich u. a. mit Hinweis auf sie behauptet wurde, auch unter dem GG dürfe über eine "Schicksalsfrage der Nation" (konkret ging es um den deutschen Wehrbeitrag) nicht ohne vorherige Bundestagswahl entschieden werden; siehe Glum, Appell an das Volk in lebenswichtigen Fragen? in: NJW 5 (1952), S. 281 ff.; Gutachten Loewenstein, in: Kampf um den Wehrbeitrag, S. 337 ff. (374 ff.). 259 Mitchell (Anm. 182), S.200. Kritisch zu dem Begriff "major changes", Bailey (Anm. 255), S. 182. 260 Siehe die hierzu immer wieder zitierten Fälle, die auch hier nicht fehlen sollen: Edinburgh and Dalkeith Ry. v. Wanchope (HL) (1842) 8 Cl. & F. 710; Lee v. Bude & Torrington Railway Co. (1871) LR. 6 CP 577, auf S. 582; R. v. Jordan [1967] Crim. LR 483. Allein in der Entscheidung Pickin v. British Railways Board (CA) [1972] 3 WLR 824 = [1972] 3 All ER 923 hatte der Court of Appeal behauptet, einen Act of Parliament verwerfen zu dürfen, der durch grobe Täuschung des Parlaments zustande gekommen war (es handelte sich um eine sog. Private Bill); siehe dazu die ironischen Anmerkungen von de Smith, Parliamentary Sovereignty Unmasked, in: CU 32 (1973),

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Ergebnis ist man jedoch wiederum keineswegs am Ende, denn das britische Verfassungsrecht hält einen besonderen Normtypus bereit, der sich gegenüber allen anderen Rechtsquellen gerade durch seine fehlende lustiziabilität auszeichnet: gemeint sind die schon erwähnten Konventionen ("conventions"), die für das britische Verfassungsleben eine große Bedeutung haben. Konventionen sind Regeln der politischen Sitte, die zwar rechtsverpflichtend, aber vor den Gerichten nicht einklagbar sind. 261 Sie ordnen vielfältige Sachverhalte in sämtlichen Bereichen des Verfassungsrechts. Beispielsweise ist es eine Konvention - nicht ein Gesetz - , die es dem Monarchen verbietet, seine Zustimmung zu einem von den beiden Häusern des Parlaments verabschiedeten Gesetzesvorhaben zu verweigern, obwohl er dies dem (übrigen) Recht nach durchaus könnte. 262 Ebenso ist es auch nur eine Konvention, die den König verpflichtet, dem Führer der stärksten Fraktion im Unterhaus das Amt des Premierministers anzutragen und weiter nur solche Minister zu berufen, die ihm vom Premierminister vorgeschlagen wurden. Überhaupt ist die zentrale Institution des Kabinetts allein das Ergebnis verschiedener Konventionen und dem "eigentlichen Recht" ganz unbekannt. 263 Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um die Bedeutung der Konventionen zu verdeutlichen. 264 In der Sache stellen die Konventionen die in Abwesenheit einer geschlossenen Verfassungsurkunde notwendigen gewohnheitsrechtlichen Ergänzungen des britischen Verfassungsrechts dar. Diese Charakterisierung der Konventionen erhellt insbesondere die für ihr Zustandekommen notwendigen Voraussetzungen. Anders als das neben den Konventionen als zusätzliche Rechtsquelle bestehende customary law (sprachlich korrekt, aber in der Sache inkorrekt als "Gewohnheitsrecht" zu übersetzen), das eine entsprechende Übung seit "unvordenklichen Zeiten" S. 8 ff. Diese Entscheidung wurde allerdings durch das House of Lords ohne viel Federlesens aufgehoben, siehe [1974] 1 All ER 609. 261 So etwa die Defmition bei Phi/lips, Constitutional & Administrative Law, S. 77. MitchelI, Constitutiona1 Law, S. 26 ff.; HLE 8, § 818; klassisch die Ausführungen hierzu bei Dicey, Law of the Constitution, S. 417 ff., die im wesentlichen auch heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt haben (siehe Munro, Dicey on Constitutional Conventions, in: PL 1985, S. 637 ff.); ausgesprochen skeptische Äußerungen zu den Konventionen finden sich bei Ridley (Anm. 15), S. 355 ff. - In mindestens zwei Fällen hatte der Privy Council allerdings Entscheidungen auf die Verletzung von Konventionen gestützt; hier war es allerdings um Länder des Commonwealth (Nigeria und Malaysia) gegangen, die die einschlägigen Konventionen in ihre Verfassungs texte aufgenommen hatten; siehe die Kritik zu diesen Entscheidungen in Keith, The Courts and the Conventions of the Constitution, in: ICLQ 16 (1967), S. 542 ff. 262 Überhaupt ist die Entmachtung des Königs innerhalb des King-in-Parliament weitgehend das Werk von Konventionen. Maitland bemerkte einmal, daß "by 1aw" Heinrich vrn. nicht mächtiger gewesen sei, als seine späte Nachfolgerin, die Königin Viktoria, zu Zeiten Maitlands (1887); siehe dessen Constitutional History, S. 342. 263 Siehe hierzu und zu weiteren Beispielen Jennings, Law & Constitution, S. 70 f. 264 Einen Überblick über die Konventionen findet man bei HLE 8, § 819; Trautwein, Grundrechtsproblematik im englischen Recht, S. 20 ff.; Loewenstein, Staatsrecht & Staatspraxis I, S. 57 ff.

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

("times immemorial") verlangt und somit kaum neue Normen zu bilden vermag - in seinem Bestand also versteinert ist - , entsprechen die Bedingungen für die Schöpfung einer neuen Konvention exakt den Bedingungen für die Entstehung neuen völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts. 265 Notwendig ist eine Praxis und eine diese tragende opinio iuris, d. h. derjenige, der sich der Konvention gemäß verhält, muß dies in dem Bewußtsein tun, hierzu von Rechts wegen verpflichtet zu sein. 266 Ist nach diesen Kriterien die britische Praxis zur Änderung der Verfassung als Konvention anzusprechen? In Hinsicht auf die notwendige Übung kann hieran kein Zweifel bestehen. 267 Wie immer bei der Feststellung von Gewohnheitsrecht erweist sich der Nachweis der notwendigen opinio iuris dagegen als schwieriger. Wichtige Hinweise hierauf lassen sich allerdings der Entstehungsgeschichte der einschlägigen Verfassungsvorhaben entnehmen. Denn in allen Fällen, wo das Volk unmittelbar zu einer Entscheidung über ein verfassungsrechtliches Vorhaben aufgefordert wurde, geschah dies ja nicht ohne Not, sondern in Antwort auf ein von der Parlamentsopposition und der Öffentlichkeit eingefordertes besonderes Legitimationsbedürfnis, das offenbar nicht allein durch den Hinweis auf die organschaftliche Legitimität des Parlaments befriedigt werden konnte, sondern nach einer Rechtfertigung des angestrebten Vorhabens selbst verlangte. Die jeweiligen Regierungen handelten also keineswegs ohne Zwang und auch nicht oder jedenfalls nicht vorrangig - aus wahl taktischen Motiven, was gerade bei den in den 70er Jahren abgehaltenen Referenda deutlich wird, mit denen naturgemäß irgendwelche Sitzgewinne im Unterhaus nicht erzielt werden konnten. Noch ein weiterer Gesichtspunkt ist zu bedenken, der an die oben angestellten Überlegungen über die verschiedenen Fallgruppen zur Selbstbindung des Parlaments anknüpft. Dort wurde gezeigt, daß die Wahlrechtsreformen ebenso wie die Parliament Acts das Parlament selbst verpflichten sollten, weil sie nur so ihren Sinn erfüllen konnten. Da nun aber diese Bindungen des Parlaments nach ausdrücklicher Bestätigung durch das Volk erfolgten, kann gefolgert werden, 265 Hierzu siehe Phillips, Constitutional & Administrative Law, S. 82; MitchelI, Constitutional Law, S. 33 ff.; de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 55 f. 266 Phillips, Constitutional & Administrative Law, S. 78 f., 82; Trautwein, Grundrechtsproblematik im englischen Recht, S. 24 f. 267 Bereits hiergegen wird von Wright (Anm. 138), S. 160, energisch Widerspruch angemeldet, weil es eine ganze Reihe von ebenfalls wichtigen Gesetzen gegeben habe, die ohne Referendum verabschiedet worden seien. Das ist ohne Zweifel richtig. Indes, hier geht es nur um die Anwendung des Referendums in Verbindung mit der Ausübung von verfassunggebender Gewalt; damit sind etwa die britische Kriegserklärung 1939 und andere von Wright genannte Fälle von vomeherein aus der hier interessierenden Fragestellung auszusparen. Im übrigen moniert Wright selbst (a. a. 0., S. 166), daß die seinerzeitige Labour-Regierung für die Durchführung des EG-Referendums vom Wähler kein Mandat für eine so grundlegende verfassungsrechtliche Änderung erhalten habe; damit zeigt auch Wright, daß er bei Inanspruchnahme verfassunggebender Gewalt ein Mandat des Wählers für erforderlich hält.

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daß die Rücknahme solcher Bindungen des Parlaments ebenfalls nur mit Zustimmung des eigentlichen Souveräns geschehen sollen durfte. Denn nachdem erst einmal das Volk als die letztlich allein über die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt verfügende Instanz eingeführt und anerkannt worden ist, würde jede Rücknahme etwa der Parliament Acts als actus contrarius zu dem ursprünglich vorn Volk erteilten verfassungs gestaltenden Mandat notwendig ebenfalls ein Mandat des Volkes voraussetzen. Das läßt sich ganz konkret an einern Fall durchspielen. Hätte nämlich das Parlament als Verfassungsgebungsorgan das Recht, das Gesetzgebungsorgan Parlament jederzeit und ohne weiteres wieder von der Verpflichtung zur Anwendung der Regeln etwa der Parliament Acts zu befreien, so wäre angesichts der vollständigen personellen Identität beider Organe tatsächlich wieder genau jener Zustand herbeigeführt, den die orthodoxe Lehre als Ergebnis ihrer Analyse der Parlamentssouveränität behauptet und der die oben hinlänglich dargestellten praktischen Unverträglichkeiten heraufbeschwört. Daraus folgt: sollen die Parliament Acts als das Parlament bindendes Recht wirklich ernst genommen werden (und um es noch einmal zu sagen, alle zeitgenössischen Akteure gingen hiervon aus), müssen die Parliament Acts eine Bindungswirkung für das Parlament in seinen beiden Funktionen entfalten können. Eine solche Bindungswirkung auch für das Verfassungsgebungsorgan Parlament läßt sich aber nur verfahrensmäßig herstellen, also eben durch eine Konvention. Mit anderen Worten: derjenige, der für eine Inkraftsetzung der Parliament Acts ein Volksvotum für notwendig hielt, muß ein ebensolches Votum für deren Außerkraftsetzung verlangen. Damit wäre freilich zunächst einmal nur dargetan, daß ein verfassungsrechtliches Vorhaben, das nach Befragung des Volks durchgeführt wurde, auch nur mit dessen Zustimmung wieder rückgängig gemacht werden kann. Hingegen ist noch nichts darüber gesagt, was für die ursprüngliche Einführung zu gelten hat - ob also eine Befragung des Volks überhaupt rechtlich geboten ist. Daß dem so sein muß, folgt jedoch ebenfalls aus der Logik der Volkssouveränität. Denn wenn es nicht das Parlament ist, welches die verfassunggebende Gewalt innehat, sondern das Volk, das vorn Parlament nur vertreten wird, dann kann das Parlament als bloßer Vertreter des wahren Rechtsinhabers diesem gegenüber nicht gänzlich frei sein: das Prinzip der Volkssouveränität verlangt irgendeine verfahrensmäßige Einbindung des Volkes, ganz analog zu den auch sonst geltenden Regeln bei Rechtsverhältnissen zwischen Vertreter und Vertretenem. 268 Die Reform Acts und die Parliament Acts bei der damit vollzogenen Hinwendung zur Volkssouveränität bedeuteten somit zwingend die Aherkennung einer Rechtspflicht zur Konsultierung des Volkes. 268 Mit diesem Ergebnis kann man sich auch auf Dicey stützen, der zur Funktion der Konventionen im britischen Verfassungsleben feststellte: "Our modern code of constitutional morality secures, though in a roundabout way, what is called abroad the ,sovereignty of the people'." (Law of the Constitution, S. 431)

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights c) Doch formelles Verfassungsrecht im Vereinigten Königreich?

Dieses Ergebnis führt freilich, ebenso wie die anderen in den letzten beiden Abschnitten gewonnenen Erkenntnisse zu einer grundlegenden Neuinterpretierung der britischen Verfassung, die - und das soll hier keineswegs verhehlt werden - zu den Ansichten der allermeisten Autoren im Widerspruch steht. 269 Um einen Widerspruch handelt es sich hier indes nur in einem besonders zu qualifizierenden Sinne. Denn es ist ja keineswegs so, daß in dieser Untersuchung die allgemein anerkannten Prämissen des britischen Verfassungsrechts, insbesondere die Parlamentssouveränität, bestritten wurden. Das Neue des hier vertretenen Ansatzes besteht allein darin, diese Prämissen einer Prüfung durch die auf dem Kontinent entwickelten verfassungstheoretischen Kategorien zu unterziehen. Die dabei bislang gewonnenen Einsichten sollen noch einmal im Zusammenhang dargestellt werden. Als Ergebnis des letzten Abschnitts hatte sich gezeigt, daß das Verbot der Selbstbindung des Parlaments vor der verfassunggebenden Gewalt keinen Bestand haben kann und in einer Reihe von Fällen auch tatsächlich rechtswirksam eingeschränkt worden ist. Diese Einschränkung gilt freilich für das Parlament nur in seiner Funktion als Gesetzgebungskörperschaft; als Verfassungsgeber ist es dagegen so nicht zu binden. Insoweit wird also auch keineswegs das Prinzip der Parlamentssouveränität angetastet, sondern im Gegenteil- freilich auf neuer Grundlage - bestätigt. Ein wirklicher Widerspruch zu den üblicherweise vertretenen Ansichten ergibt sich erst durch die Annahme, daß das Parlament als Verfassungskörperschaft zwar nicht in der Sache, aber verfahrensmäßig in seiner Allmacht durch eine Konvention eingeschränkt ist, die die Inkraftsetzung seiner Beschlüsse von einem Mandat des Volks abhängig macht, das in der Regel durch eine Volksbefragung einzuholen ist. Dieser Befund beweist, daß die Parlaments souveränität eben doch eine Grenze in der nachgewiesenen Konvention findet, mit der zugleich die entscheidende Voraussetzung für die Schaffung auch formellen Verfassungsrechts besteht, weil - nicht anders als etwa durch den Art. 79 GG - ein Normtyp mit erhöhter Bestandskraft geschaffen wird. 270 Sie erzwingt eine Einteilung aller vom Parla269 Eine Ausnahme ist Allan (Anm. 216), S. 620 f., der- wenngleich wiederum ohne ein theoretisches Fundament - ebenso der Ansicht ist, daß die Parlamentssouveränität allein nicht die Befolgung jedes Gesetzes des Parlaments rechtfertigen könne: ,,A parliamentary enactment whose effect would be the destruction of ... democracy ... could not consistently be applied by the courts as law." Denn: " ... political morality might direct judicial resistance rather than obedience." Genau diese von Allan nicht näher erläuterte "political morality" ist es, die ihren rechtsnormativen Niederschlag in der erläuterten Konvention findet. Auch eine allerdings undeutliche Passage bei Marshall / Yardley, Constitutional lurisdiction in the UK, in: ZaöRV 22 (1962), S. 540 ff. (557) könnte im Sinne der hier vertretenen Lehre verstanden werden. 270 So auch Bogdanor (Anm. 250), S. 661 mit Blick auf die oben (siehe Anm. 253) geschilderten Vorschläge Diceys: ,Jn the form proposed by Dicey, the referendum offered

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ment in Angriff genommenen Vorhaben in solche, die dem Volk vorzulegen sind, und solche, die allein vom King-in-Parliament beschlossen werden dürfen. Sie ermöglicht die Rechtsbindung auch der Volksvertretung und verhindert gleichzeitig, daß das Parlament sich solcher Bindungen sogleich wieder entledigt. All das ist nicht anders als in Staaten mit Verfassungsurkunden auch. Und gleichwohl besteht hinreichend Anlaß, das oben 271 aus dem Krieleschen Verständnis vom Verfassungsstaat hergeleitete Urteil trotz dieser neuen Erkenntnisse aufrechtzuerhalten. Denn nur die schlichte Existenz formellen Verfassungsrechts macht noch keinen vollgültigen Verfassungsstaat; entscheidend ist vielmehr, ob und wie weit von dieser Rechtsquelle auch Gebrauch gemacht wird und welchen Inhalts die Regeln sind, die solcherart formell-verfassungsrechtlich niedergelegt wurden. Damit ist noch einmal die Frage angeschnitten, welche Bereiche denn überhaupt nach der Konvention behandelt werden müssen und also als unter einem formellen Verfassungsvorbehalt stehend zu gelten haben. Aus der Parlamentssouveränität läßt sich für dieses Problem eine einfache Antwort herleiten. Da vermöge der Parlamentssouveränität grundsätzlich alle Verfassungs- und Gesetzgebungsbefugnisse dem Parlament überwiesen sind, kann die verfassunggebende Gewalt und folglich auch die Konvention nur ins Spiel kommen, wenn die Parlamentssouveränität begrenzt oder nach einer einmal vorgenommenen Begrenzung wieder erweitert werden soll, oder sofern innerhalb eines dem einfachen Gesetzgeber verschlossenen Bereichs eine Regelung zu treffen ist. Nur in diesen Fällen fehlt dem Gesetzgeber die notwendige Kompetenz, nur hier also muß verfassunggebende Gewalt in Anspruch genommen werden, und nur hier kann somit auch die Konvention greifen. Legt man dies zugrunde, so zeigt sich nun allerdings, daß die britische Verfassung die ihr an sich offenstehende Rechtsquelle des formellen Verfassungsrechts nur wenig genutzt hat und dies ausnahmslos nur für die Zwecke der Staatsorganisation. 272 Aber auch der staatsorganisationsrechtliche Fundus an formell-verfassungsrechtlichen Normen ist aufs Ganze gesehen eher bescheiden und knapp. Die weitaus wichtigste Vorschrift hier ist natürlich die Parlaments souveränität selbst. Alle übrigen verfassungsrechtlichen Vorschriften dienen lediglich dazu, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Parlaments souveränität zu bestimmen, the possibility of distinguishing constitutional from ordinary legislation in a country without a ,rigid' constitution, and requiring that constitutionallegislation be referred to the electorate for its approval." 271 Siehe § 15. 272 Altan (Anm. 216), S. 623, meint demgegenüber, daß auch "attitudes about what justice and fairness require in the relations between govemment and govemed" zu jenem Rechtsbestand gehören, die dem Parlament (als Gesetzgeber) entzogen seien. Es ist aber mehr als zweifelhaft, ob diese ,,Normen" ausreichend klar definiert oder auch nur definierbar sind. Dies gilt auch für die von Dicey als Grundprinzip der britischen Verfassung erkannte ,,rule of law", deren Verhältnis zur Parlamentssouveränität bei Dicey letztlich ungeklärt bleibt, dieser gegenüber aber wohl zurückzustehen hat und deswegen gerade kein formelles Verfassungsrecht wäre; anders Altan (Anm. 216), S. 628 f. 18 Koch

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

betreffen also Zusammensetzung und Zusammenwirken des Parlaments. 273 Alles andere ist hingegen mittels der Parlaments souveränität der Verfügungsrnacht allein des Parlaments unterstellt; insbesondere die Organisation der beiden anderen Gewalten, Exekutive und Judikative, obliegt nur dem Parlament. Die Existenz des formellen Verfassungsrechts dient also im wesentlichen nur dazu, ein Organ zu definieren und einzurichten, das die weitere Ausgestaltung dann selbst übernimmt. Mit anderen Worten: das durch die Konvention abgesicherte Verfassungsrecht bezweckt den Schutz des Parlaments und der Parlamentssouveränität vor sich selbst; der britische Bürger bleibt dabei vor der Tür. An dem Urteil über die defizitäre Verfassungsstaatlichkeit des Vereinigten Königreichs gibt es also nichts zu korrigieren. Immerhin besteht kein Zweifel, daß mit der Konvention der entscheidende Hebel bereitliegt, um die verfassungsrechtlichen Verhältnisse des Vereinigten Königreichs grundlegend zu ändern. Das rechtfertigt es, noch einmal einen genauen Blick auf die Rechtsnatur dieser Konvention zu werfen, die ja schon deswegen bemerkenswert ist, weil mit ihr eine Bindung des Parlaments gelungen ist, was anderen Normtypen grundsätzlich versagt bleibt. Wie konnte eine Konvention dies erreichen? Konventionen begrenzen die Spielräume der obersten Verfassungsorgane, die ihnen vom (übrigen) Recht eingeräumt wurden; besonders deutlich läßt sich dies bei der heute vom Monarchen innerhalb der Verfassung eingenommenen Stellung ablesen. Insofern also besteht kein Widerspruch zwischen einer das Parlament bindenden Konvention und der Parlamentssouveränität ebensowenig wie zwischen den zahlreichen Konventionen, die die Ausübung der königlichen Prärogativrechte eingrenzen, und jenen Rechtsvorschriften, die dem Souverän die von solchen Eingrenzungen freien Prärogativrechte eimäumten. Übrigens ist die hier in Rede stehende Konvention mitnichten der einzige Fall einer das Parlament in die Pflicht nehmenden, in der Form der Konvention auftretenden Regel. Als weitere Beispiele hierfür sei auf alle jene Konventionen verwiesen, die die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und den anderen Mitgliedern des Commonwealth regeln. Nach h. M. war zum Beispiel auch der Westminster Act von 1931 nichts anderes als die Kodifizierung einer ohnehin schon bestehenden Konvention gleichen Inhalts. 274 Auch in der Verfassungspraxis ist eine das Parlament verpflichtende Konvention somit nichts Ungewöhnliches. Aus den gleichen Gründen wie bei der Vornahme anderer Bindungen des Parlaments können solche Konventionen ihren Rechtsgrund allerdings nicht in irgendeiner durch die Verfassung verliehenen Rechtsrnacht finden; sie sind also insoweit eine Besonderheit, als auch sie - anders als andere Konventionen - Ausdruck verfassunggebender Gewalt sind. So wiederum auch Ridley (Anm. 15), S. 350 f. MitchelI, Constitutional Law, S. 30; Trautwein, Grundrechtsproblematik im englischen Recht, S. 23; Gray, Sovereignty of the Imperial Parliament, in: MLR 23 (1960), 273

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S. 647 ff. (650).

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Eine entscheidende Besonderheit dieses somit für das Vereinigte Königreich festgestellten formellen Verfassungsrechts freilich bleibt, denn den Gerichten ist es versagt, die richtige Anwendung von Konventionen zu überprüfen; deren Einhaltung ist einmal mehr allein politischen Kontrollen anheimgegeben. Dieser Umstand ist indes im Vereinigten Königreich (bislang) nicht von Schaden gewesen, und zwar wegen der spezifischen Natur der in den Rang formellen Verfassungsrechts aufgenommenen Vorschriften. Der normative Gehalt dieser Vorschriften läßt sich in nur zwei Bestimmungen zusammenfassen. Erstens wird mit der Parlamentssouveränität einem einzelnen Organ allumfassende Rechtsrnacht eingeräumt; zweitens wird durch die Gesamtheit der Vorschriften über die Zusammensetzung und den Entscheidungsmodus des Parlaments definiert, wann von der durch die erste Regel in die Welt gesetzten Rechtsrnacht Gebrauch gemacht worden ist. Während also mit der Parlamentssouveränität nur eine bestimmte Kompetenz als solche geschaffen wird - eine Definition dessen, was "Parlament" ist, enthält die Parlamentssouveränität ja nicht - , wird diese somit zunächst abstrakte, frei in der Luft hängende Kompetenz durch eine zweite Vorschrift mit einer real agierenden Instanz verknüpft. Diese extreme Verknappung des formell-verfassungsrechtlichen Normenfundus auf das unumgängliche Minimum hat nun aber zur Folge, daß auch die Möglichkeiten zu seiner Verletzung dementsprechend reduziert sind. Ein Widerspruch zum geltenden Verfassungsrecht kann ausschließlich durch eine Modifizierung oder Änderung des Trägers der Parlaments souveränität herbeigeführt werden. Für die Rechtsgenossen, insbesondere für die Gerichte, würde ein solcher Widerspruch zum geltenden formellen Verfassungsrecht immer dann akut werden, sobald sie zur Befolgung einer von diesem neuen Organ geschaffenen Rechtsnorm aufgerufen sind. Oben 275 wurde bereits begründet, daß sogar unter den Bedingungen der Parlamentssouveränität jedem Anwender von Rechtsnormen ein im Vereinigten Königreich allerdings aufs äußerste zurechtgestutztes Prüfungsrecht der Kompetenz desjenigen zuzugestehen ist, der die anzuwendende Norm geschaffen hat. Die Modifizierung des die Parlaments souveränität innehabenden Organs ist folglich notwendig als tatbestandliche Voraussetzung in jeder Entscheidung über eine Normanwendung mitenthalten und verlangt als Teil der Entscheidung über die Normanwendung eine Stellungnahme des Normanwenders hierzu. 276 Weil nun aber jede Veränderung des Trägers der Parlamentssouveränität die Inanspruchnahme verfassunggebender Gewalt, d. h. also außer- und vorverfassungsmäßiger Rechtsrnacht bedeutet, ist die Entscheidung des Rechtsanwenders folglich keine Rechtsentscheidung, die als das Ergebnis einer Subsumtion bestehender Verfassungssätze erfolgen könnte, sondern eine Entscheidung über die Verfassung selbst. Mit einer solchen Entscheidung wird nicht verfassunggebende Gewalt vollzogen, sondern sie selbst ist verfassunggebende Gewalt, oder 275 276

IS*

Siehe hierzu oben § 18 Ziffer 3 bb) Anm. 185 mit ausführlichen Nachweisen. So im Ergebnis auch Allan (Anm. 216), S. 624 f.

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

im Sprachgebrauch Petersmanns eine "Loyalitätsübertragung". Die hierbei angewandten Entscheidungskriterien müssen daher im Tatsächlichen, nicht im Rechtlichen begründet sein. Sofern das Gericht nicht einfach nur die eigene subjektive Meinung ausreichen lassen will - in einem demokratisch sich verstehenden Staatsgebilde eine offensichtlich unzureichende Rechtfertigung - , wird ein mit dieser Entscheidungslage konfrontiertes Gericht nicht umhin können zu fragen, ob diese neue verfassungsrechtliche Lage die Zustimmung der Gesamtheit der Rechtsgenossen, des Volkes also, gefunden hat; dieser Nachweis aber läßt sich am einfachsten durch Befolgung der Konvention erbringen. Zwar wäre es den Gerichten grundsätzlich nicht verwehrt, unter Verweis auf die unmittelbare Legitimation des Parlaments dessen Willen mit dem des Souveräns ohne weiteres gleichzusetzen; da eine derartig offenbare Verletzung der vom Parlament eingegangenen Verpflichtungen aber mit Sicherheit von allerheftigsten politischen Widerständen begleitet wäre, hätte es ein Gericht außerordentlich schwer, diesen Standpunkt zu beziehen. 277 Damit ist klargemacht, daß unter den derzeitigen verfassungsrechtlichen Gegebenheiten die Konvention auch ohne förmliche lustiziabilität in allen denkbaren Fällen in ihrem Grundgedanken eben doch vom Richter anzuwenden ist, und zwar obwohl die britischen Richter meinen mögen, solchen "politischen" Entscheidungen sicher enthoben zu sein. 278

d) Die lustiziabilität einer Bill 0/ Rights gegenüber dem Verfassungsorgan Parlament Für eine formell-verfassungsrechtlich verankerte Bill of Rights ergeben sich aus alledem zwei Schlußfolgerungen. Da ihre Einführung die Inanspruchnahme verfassunggebender Gewalt bedeutet und durch die Einführung neuer Bindungen des Parlaments (als Gesetzgebungskörperschaft) die bislang geltende verfassungsrechtliche Grundlage verändert, muß sie dem Volk zur Zustimmung vorgelegt werden; am besten hierzu geeignet ist ein Referendum. 279 Ist die Bill of Rights einmal in Kraft getreten, kann sie nur nach einer neuerlichen Konsultierung des Volkes wieder beseitigt werden. 280 Siehe Altan (Anm. 216), S. 625 f.; Waltington (Anm. 257), S. 40. Damit ist zugleich klar, daß auch dem britischen Richter trotz des Prinzips der Parlamentssouveränität die Verantwortung bleibt, jenseits des "Gesetzes" auch nach dem ,,Recht" zu suchen, sich nicht auf die nur "technische" Anwendung feststehender Rechtssätze zu beschränken, sondern diese ggfs. auf ihre Verantwortbarkeit gegenüber dem eigentlichen Souverän hin zu hinterfragen. "... an adequate legal response [cannot] be automatically derived from a preordained fundamental rule ... The jurist cannot escape his moral responsibilities by seeking shelter in a formal doctrine providing legal neutrality ..." (Altan [Anm. 216], S. 627). Ebenso Dias (Anm. 154), S. 233. A. A. Lee, Comment, in: PL 1985, S. 632 ff.; Harris (Anm. 150), S. 122 f., 131 ff. 279 Für eine Einführung der Bill of Rights per Referendum haben sich folgende Autoren geäußert: British Institute oi Human Rights, Bill of Rights for the UK, in: NU 126 (1977), S. 1063 ff. (1064); Yardley, Effectiveness of the Westrninster Model, in: YB World Affairs 31 (1977), S. 342 ff. (348). 277

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Freilich stellt sich damit das Problem der fehlenden Justiziabilität der Konvention in einem neuen Licht, weil sich mit der Einführung einer Bill of Rights ganz neue Konstellationen für ein Eingreifen der Konvention ergeben. Die Bill of Rights wird nur dann die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen können, wenn es gelingt, dem Parlament auch in seiner Funktion als Verfassunggebungsorgan wirksame Schranken aufzuerlegen, um zu verhindern, daß das Verfassunggebungsorgan Parlament sich über jede dem Gesetzgebungsorgan Parlament auferlegte Schranke jederzeit und ohne Einhaltung irgendwelcher Abstimmungsquoren hinwegsetzen kann. Kann die Konvention trotz fehlender Justiziabilität dieses Ziel sicherstellen? Um hierüber Gewißheit zu erhalten, sollen in Fallgruppen zusammengefaßt die verschiedenen Möglichkeiten zur Verletzung der Bill of Rights durch das Parlament kurz näher betrachtet werden. Begonnen sei mit der vermutlich häufigsten Fallgruppe, daß nämlich ein Gesetz ein Grundrecht der Bill of Rights verletzt, ohne daß das Parlament einen solchen Widerspruch zu dem Grundrechtskatalog überhaupt als Möglichkeit in seine Überlegungen miteinbezogen hätte: die Grundrechtsverletzung wäre hier nur das Ergebnis eines Versehens. Dieser Fallgruppe gleichgestellt werden können jene Fälle, wo das Parlament im Laufe seiner Beratungen zwar auf einen möglichen Konflikt zwischen dem in Aussicht genommenen Gesetzesvorhaben und dem Grundrechtskatalog hingewiesen worden ist, selbst jedoch eine Verletzung der Bill of Rights nicht zu erkennen glaubte und sich daher berechtigt sah, das betreffende Gesetz mit einfacher Mehrheit zu verabschieden. Diese beiden Fallgruppen zusammenzufassen ist deswegen gerechtfertigt, weil in beiden Fällen in der subjektiven Sicht des Parlaments ein Widerspruch zwischen Bill of Rights und Gesetz nicht vorliegen würde und daher für die Gerichte klar wäre, daß das Parlament keinesfalls als Verfassungsgebungskörperschaft,sondern nur als einfacher Gesetzgeber tätig werden wollte. Folglich wären solche Gesetze ohne weiteres an der Bill of Rights zu messen und gegebenenfalls auch zu verwerfen. Auf die Konvention käme es hier also gar nicht an. Insofern hätte man es in diesen Fällen mit den gleichen Gegebenheiten wie auch schon beim European Communities Act zu tun; genau wie dort ist der Bill of Rights gegenüber Gesetzen jedenfalls stets dann der Vorzug einzuräumen, wenn das Parlament die Bill of Rights erkennbar nicht derogieren wollte. 281 Diese Vorgehensweise ist den Gerichten jedoch dann versagt, wenn dem betreffenden Gesetz implizit der Anspruch zu entnehmen ist, zur Not auch gegen die Bill of Rights gelten zu sollen. Für diesen Fall sieht ja auch die von den Gerichten zum European Communities Act entwickelte Rechtsprechung vor, dem britischen Gesetz und nicht dem europäischen Recht Geltung zu schaffen. Dies ist somit der eigentlich kritische Fall bei der Anwendung einer Bill of Rights. 280 So auch allerdings mehr en passant - Williams (Anm. 139), S. 280 ff.; ganz deutlich hingegen British Institute of Human Rights (Anm. 279), S. 1064. 281 Siehe oben § 7 Ziffer 2 und § 17 Ziffer 2, Anm. 44 ff. und dazugehörenden Text.

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Denn hier würde vom Parlament verfassunggebende Gewalt in Anspruch genommen, wogegen allein die Konvention helfen könnte, deren Einhaltung sicherzustellen den britischen Gerichten aber versagt ist. Im letzten Abschnitt war nun allerdings gezeigt worden, daß dieser Mangel der Konvention für das derzeitige britische Verfassungsrecht ohne große praktische Bedeutung bleibt. Bei einer Bill of Rights indes hätte die fehlende Justiziabilität der Konvention fatale Folgen, weil mit einem Grundrechtskatalog ein gänzlich anders gearteter Normtypus in das formelle Verfassungsrecht aufgenommen wäre. Das zeigt ein Vergleich zwischen den jeweils eintretenden praktischen Konsequenzen. Jede Änderung der Zusammensetzung des Parlaments zeigt für die gesamte Rechtsordnung Wirkung, weil damit die normative Kraft aller von diesem obersten Rechtssetzungsorgan erlassenen Gesetzgebungsakte in Frage gestellt ist. Die Derogierung einer einzelnen Vorschrift einer Bill of Rights wäre in ihren Folgen dagegen nur auf einen kleinen Regelungsbereich beschränkt. Dies muß um so mehr gelten, wenn eine Vorschrift der Bill of Rights nicht etwa ausdrücklich abgeändert oder modifiziert würde, sondern in der Art der aus der Praxis der Weimarer Republik bekannten Verfassungsdurchbrechung 282 - allerdings eben ohne eine qualifizierte Mehrheit - der Text des Grundrechtskataloges unberührt bliebe und nur einfach der Vorrang eines einzelnen Gesetzes vor der Bill of Rights angeordnet würde. In einem solchen Fall nämlich wären die Wirkungen dieses Verstoßes nur auf dieses Gesetz beschränkt. Nach dem oben Gesagten müßte ein mit einem solchen Gesetz befaßter Richter zwar ebenso wie bei Änderungen etwa des Wahlrechts darüber entscheiden, ob er die damit vom Parlament reklamierte verfassunggebende Gewalt anerkennen soll. Weil aber die hier zu erwartenden praktischen Konsequenzen weitaus begrenzter als dort wären, läge es für ein Gericht auch dementsprechend näher, sich mit dem Vorgehen des Parlaments ohne weiteres abzufmden. Bei der sehr viel geringeren (unmittelbaren) Tragweite einer Verletzung der Bill of Rights ist der Einwand, das Parlament sei auch ohne Befolgung der Konvention jedenfalls stillschweigend vom Volk zur Vornahme derartiger Maßnahmen berechtigt, nur schwer, vor der eher konservativen britischen Richterschaft sicherlich gar nicht zu entkräften. Mit anderen Worten: die vergleichsweise begrenzten Folgen einer Derogierung der Bill of Rights würden die ohnehin geringe Konfliktbereitschaft der britischen Gerichte vermutlich überfordern. Zwar müssen Prognosen über das Verhalten britischer Gerichte in hypothetischen Streitnmen naturgemäß spekulativ sein; die von den Gerichten für den Fall einer versuchten Außerkraftsetzung europäischen Rechts angekündigte Haltung - eine durchaus vergleichbare Lage - spricht allerdings für eine solche pessimistische Prognose. Nichts führt somit daran vorbei: eine Bill ofRights kann gegen die Derogierung durch das Parlament nicht geschützt werden, sofern das Parlament diese Derogie282

Dazu oben § 17 Ziffer I, Anm. 31 f. und dazugehörenden Text.

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rung ausdrücklich wünscht. Merkwürdigerweise scheint demgegenüber die Gefahr, daß das Parlament ohne Einhaltung des vorgeschriebenen Quorums einzelne Vorschriften der Bill ofRights wieder abschafft, sehr viel geringer. Dieser Versuchung ließe sich nämlich relativ einfach vorbeugen, indem für die Fälle des inneren oder äußeren Notstandes eine Möglichkeit zur (vorübergehenden) Außerkraftsetzung jedenfalls mancher Grundrechte in die Bill of Rights selbst aufgenommen würde. Wären so sämtliche Sachverhalte, wo sich vernünftigerweise eine Einschränkung von Grundrechten rechtfertigen ließe, in dem Grundrechtskatalog selbst berücksichtigt, wäre eine Begründung, warum über die in der Bill of Rights selbst enthaltenen Verfahren zu ihrer Abänderung hinaus und entgegen der Bill of Rights die Abschaffung oder Verkürzung eines Grundrechts unverzichtbar sein soll, außerordentlich schwer gemacht. Eine Abschaffung von Grundrechten unter Verletzung der Bill of Rights wäre unter diesen Umständen mit Sicherheit von tiefgreifenden politischen Auseinandersetzungen begleitet. Damit aber wäre es den Gerichten wiederum leichter gemacht, einem gleichwohl die Bill of Rights verletzenden Parlament die Gefolgschaft zu verweigern. Im übrigen ist ein solcher Fall aber nach allen Erfahrungen mit dem britischen Verfassungssystem kaum zu erwarten. 283 Allzu offensichtlich stünde ein derarti ger Vorgang in Widerspruch zur Sache der Freiheit und zu dem mit Erlaß einer Bill of Rights bestätigten Willen, die Freiheit des Bürgers zu schützen und zu achten. Zweifellos wird mit dieser Erwartung auch wieder auf die Integrität der im Vereinigten Königreich politisch Verantwortlichen und auf die Effektivität der politischen Kontrollen vertraut. Aber darin unterscheidet sich das Vereinigte Königreich in nichts von anderen demokratisch verfaßten Staaten. Denn eine Abschaffung von Grundrechten der Bill ofRights in Verletzung der darin hierfür vorgesehenen Verfahren (im Gegensatz zu deren bloßer Durchbrechung für die Zwecke eines einzigen Gesetzes) wäre nichts weniger als ein radikaler Angriff auf die verfassungspolitische Glaubwürdigkeit des gesamten bestehenden Verfassungssystems. Gegen dergleichen ist keine Staatsordnung anders zu schützen als durch den festen Willen aller Rechtsgenossen, insbesondere aber der Gerichte, solchem Vorgehen den Gehorsam zu verweigern. Nicht von solchen allzu krassen Verstößen gegen die Bill of Rights droht einem Grundrechtskatalog Gefahr, sondern vielmehr von dessen schleichender Derogierung durch eine Unzahl von einzelnen Gesetzen, die in ihrer Gesamtheit die Bill of Rights obsolet und wirkungslos werden lassen würden. Hiergegen vennag die Konvention keinen Schutz zu gewähren.

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So ausdrücklich z. B. Zander, Bill of Rights, S. 73.

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e) Der Rückzug des Parlaments als Verjassungsgebungsorgan aus der Verfassung Will man sich mit dieser Lücke nicht abfinden, gibt es nur noch eine Chance, dem abzuhelfen: dem Parlament muß seine zweite Funktion als Verfassungsgebungskörperschaft genommen werden. Denn hier liegt die Wurzel des Übels; solange das Parlament sich jederzeit den Mantel des allmächtigen Souveräns umlegen kann, müssen alle Bemühungen, ihm in seinem bescheideneren Amt als einfachem Gesetzgeber Ketten anzulegen, unvollkommen bleiben. Ein Weg aus diesem Dilemma ist bereits von Dicey gewiesen worden, als er - mehr beiläufig - feststellte, ebensowenig wie der russische Zar könne auch das britische Parlament daran gehindert werden, "zurückzutreten" (to abdicate). 284 Modeme Autoren haben sich dem angeschlossen und die Auffassung vertreten, eine echte Bill of Rights sei nur möglich, wenn das jetzige Parlament eine geschriebene Verfassung mit Grundrechtskatalog beschließe, um dann für immer abzutreten. 285 Ansteuern läßt sich dieses Ziel auf mehreren Wegen. Am konsequentesten wäre es zweifelsohne, wenn das Parlament ein umfassendes Verfassungsdokument ausarbeiten würde, das also nicht nur einen Grundrechtskatalog zu enthalten hätte, sondern ebenso umfassende Vorschriften über Zusammensetzung und Zusammenwirken sämtlicher Verfassungsorgane aller drei Gewalten. 286 In Hinsicht auf die staatsorganisatorischen Regeln einer solchen Verfassung könnte man sich einfach mit der Fixierung des jetzt schon geltenden Rechtszustandes begnügen. 284 Genauso: Cowen (Anm. 166), S. 295 f.; de Smith, Constitutional & Administrative Law, S.74. Anders als sonst alle Autoren widerspricht dem Middleton (Anm. 139), S. 51 f.; diese Auffassung führt indes zu dem merkwürdigen Ergebnis eines auf alle Zeiten unsterblichen britischen Parlaments und ist deswegen unhaltbar. Immerhin gesteht auch Middleton zu, daß eine Beseitigung des Parlaments im Wege einer Revolution möglich bleibt. 285 So etwa Yardley (Anm. 279), S. 347; Mackenzie / Street, Grundfreiheiten in Großbritannien, in: Bettermann / Neumann / Nipperdey, Grundrechte I 2, S. 801 ff. (813); de Smith, Constitutional & Administrative Law, S. 76 f. Mindestens nach der Auffassung einiger Autoren gäbe es übrigens auch hierfür wenigstens ein Vorbild in der britischen Rechtsgeschichte, nämlich der Treaty 0/ Unions von 1707 (siehe hierzu oben § 18 Ziffer 2 a), Anm. 139); siehe etwa Smith (Anm. 139), S. 108 ff. 286 Ein praktisches Vorbild hierfür gab es auch bereits innerhalb des Vereinigten Königreichs, nämlich in Nordirland, wo der Government o/lreland Act von 1920 (siehe oben § 13 Ziffer 2) eine ganze Reihe von Grundrechten vorsah, die für das nordirische Parlament bindend waren und diesem gegenüber von den Gerichten auch durchgesetzt werden konnten; dies war möglich, weil das nordirische Parlament nicht souverän war, sondern, durch Gesetz des britischen Parlaments eingesetzt, von diesem abgeleitete Kompetenzen wahrnahm. Das Westminster-Parlament wurde hier also als echter Verfassungskonvent tätig. Die praktischen Auswirkungen dieser Grundrechte waren aber gering; Donaidson, Fundamental Rights in the Constitution of Northern Ireland, in: Can. Bar Rev. 37 (1959), S. 189 ff. (204) hat für den entscheidenden Bereich der Religionsfreiheit bis 1959 nur einen einzigen einschlägigen Fall feststellen können; ebenso Scarman (Anm. 118), S. 1575; Wade / Bradley, Constitutional & Administrative Law, S.400.

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Um jeden Zweifel darüber zu beseitigen,.daß das diese Verfassung ausarbeitende, tatsächlich souveräne Parlament nicht identisch ist mit dem erst durch die Verfassung konstituierten Gesetzgeber, müßte sich das alte Parlament nach Verabschiedung der Verfassung auflösen. 287 Etwas weniger radikal, aber für die Zwecke einer Bill of Rights völlig ausreichend wäre es, in ein solches Verfassungsdokument zusätzlich zu dem Grundrechtskatalog nur solche Regeln aufzunehmen, die auch jetzt schon - wenn auch nur durch die Konvention - formell-verfassungsrechtlich abgesichert sind, um im übrigen dem so neu geschaffenen Parlament freie Hand bei der übrigen Gestaltung des Verfassungsrechts zu lassen. Diese Vorgehensweise hätte den Vorzug, weniger mit den bisherigen Traditionen des britischen Verfassungsrechts zu brechen, ohne indes irgendetwas für die volle Wirkungskraft einer Bill of Rights Notwendiges zu opfern. Läßt sich die Entlassung des Verfassungsgebungsorgans Parlament aus dem aktiven verfassungsrechtlichen Dienst vielleicht auch ohne förmliches Verfassungsdokument erreichen, also unter strenger Beschränkung nur auf den Grundrechtskatalog und dessen unmittelbare Bedürfnisse? Einen Weg hierzu zeigt eine verblüffend einfache Idee des britischen Staatsrechtlers H. W. R. Wade: 288 er schlug vor, den Amtseid der britischen Richter zu ändern und darin eine ausdrückliche Verpflichtung zur Achtung der Bill of Rights gegenüber allem anderen Recht aufzunehmen. 289 Damit wird das gleiche Problem nur einfach an seinem anderen Ende, nämlich beim Rechtsadressaten, angepackt. Entscheidend ist ja, daß die Beschränkung des Parlaments auf die Aufgaben eines einfachen Gesetzgebers nicht nur vom Parlament wirklich ernst genommen wird, sondern ebenso von den Rechtsgenossen, an deren Spitze von den Gerichten, damit diese notfalls bereitstehen, Rückfälle des Parlaments in alte Attitüden zurückzuweisen. Und hier liegt vermutlich mehr als nur die Hälfte des Problems. Denn bei der konservativen Haltung der britischen Richterschaft und angesichts des von den Gerichten immer wieder betonten Vorsatzes, in allem, was ,,Politisches" im Gegensatz zu ,,Rechtlichem" betrifft, gegenüber dem Parlament grundsätzlich zurücktreten zu wollen, kann der Rückzug des britischen Parlaments aus seiner Funktion als Konstituante nur dann gelingen, wenn dieser Rückzug mit höchstmöglicher Deutlichkeit ausgesprochen wird. Andererseits steht diesem Ziel die ebenso überzeugende Überlegung entgegen, die notwendigen Änderungen des britischen Verfassungsrechts auf das wirklich für die Durchsetzung eines Grundrechtskatalogs Erforderliche zu beschränken, um so die politische Akzeptanz des ganzen Vorhabens durch allzu große Radikalität nicht zu gefährden. Diese Bedingung wird von dem von Wade eingebrachten 287 So auch der Vorschlag von Lord Hailsham, in: The Times, 15.10.1976, S.4; Geisseler, Reformbestrebungen, S. 150 f. Siehe ferner Phi/lips, Parliament and SelfLimitation, in: Cambrian L. Rev. 4 (1973), S. 71 ff. (79). 288 Constitutional Fundamentals, S. 37; siehe auch Elias (Anm. 155), S. 26. 289 Auch Brown, A Bill of Rights for the United Kingdom? in: Parliamentarian 58

(1977), S. 79 ff. (87) erwägt diese Idee.

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Vorschlag scheinbar besser erfüllt als Pläne zur Einführung einer Verfassungsurkunde. Tatsächlich ist das nur bedingt so, denn wenn auf der Seite des Rechtsadressaten (der Gerichte) eine Modifizierung der dieser auferlegten Gehorsamsverpflichtung durchgeführt würde, so bedeutet dies notwendig eine dem genau entsprechende spiegelbildliche Modifizierung der Rechtsmacht desjenigen Organs, das diesen Gehorsam von den Rechtsadressaten verlangen darf. Eine Änderung des Richtereides müßte also eine Entsprechung finden in einer wie immer gearteten Modifizierung der verfassungsrechtlichen Stellung des Parlaments. 290 Und hier bieten sich in der Tat verschiedene Möglichkeiten auch jenseits von Versuchen zur Einführung einer allumfassenden Verfassungsurkunde. So könnte das Parlament sich mit der "bloßen" Abfassung einer Bill of Rights dann begnügen, wenn es gleichzeitig in den Text eines solchen Grundrechtskataloges die Feststellung aufnehmen würde, seine bislang für diese Bereiche wahrgenommenen Gesetzgebungsrechte nur noch nach Maßgabe der Bill of Rights oder aber gemäß der Konvention nach Konsultierung des Volkes wahrzunehmen, um sich insoweit seiner Rechte zu begehen. Letztendlich liegt es allein beim Parlament, durch ein hinreichend deutliches Verhalten jeden Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Absicht zu zerstreuen; zu diesem Behufe wäre als zusätzliche Maßnahme auch eine Änderung des Richtereides zu begrüßen. Im Ergebnis würde eine Kombination dieser beiden Verfahren jedenfalls im Bereich der Grundrechte einen ebensolchen Rückzug des Parlaments als Verfassungsgebungsorgan aus der Verfassung bewirken wie der Erlaß eines kompletten Verfassungsdokuments.

2. Zwischenergebnis und Zusammenfassung Läßt man einmal Vorhaben zur Einführung einer geschlossenen Verfassungsurkunde außer acht, die, weil sie allzu krass mit den Traditionen des Landes brechen müßten, politisch wohl völlig chancenlos sind, so bleiben als Ergebnis der vorstehenden Überlegungen immerhin zwei Wege für die Schaffung einer wirklich durchschlagskräftigen Bill of Rights. Einmal ließe sich eine Bill of Rights als Teil des formell-verfassungsrechtlich allerdings nur unzulänglich durch die Konvention geschützten Normfundus einführen bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung der doppelten Funktion des Parlaments als Gesetzgeber und Verfassunggeber. Ebenso möglich ist es aber, dieses Arrangement selbst zu modifizieren und durch entsprechende Erklärungen des Parlaments dessen verfassunggebende (im Gegensatz zur verfassungsändernden) Rechtsmacht für den Bereich der Bill of Rights alsbald nur noch mit Zustimmung des Volkes zum Zuge kommen zu lassen. 291 290 So im Ergebnis auch Winterton (Anm. 231), S. 270 ff., der auch aus anderen Gründen heftige Kritik an der Wadesehen Idee übt; Stevens / Yardley, Protection of Liberty, S. 176, meinen, der Vorschlag Wades sei theoretisch sehr anziehend, aber praktisch "improbable" .

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Auf den ersten Blick scheint zwischen diesen beiden Vorgehensweisen eine unüberbrückbare Kluft zu bestehen. Tatsächlich wäre jedenfalls in Hinsicht auf den nonntechnischen Aufwand dieser Unterschied keineswegs so bedeutsam, wie man zunächst meinen könnte. Auf seinen Grundgedanken reduziert, geht es mit dem radikaleren der beiden Vorschläge ausschließlich darum, die ja auch jetzt schon bestehende Konvention justiziabel zu machen, ein Ziel, das sich durch einen einzigen richtig fonnulierten Satz bewerkstelligen läßt. Im übrigen wäre auch eine ohne diesen Zusatz verabschiedete Bill of Rights ein gewaltiger Gewinn. Denn sie würde einen Schutz gegen das Parlament in allen Fällen verschaffen, wo das Parlament eine Verletzung der Bill of Rights nicht beabsichtigen würde, insbesondere auch dort, wo das Parlament subjektiv meinen sollte, eine Verletzung nicht zu begehen. Eine solche Bill of Rights würde mithin nur dort versagen, wo das Parlament vorsätzlich in die Grundrechte eingreifen will oder in Entsprechung zu der im deutschen Strafrecht zum Begriff des dolus eventualis entwikkelten Frankschen Fonnel einen Eingriff in Grundrechte zwar nicht ausdrücklich beabsichtigt, aber für den Fall, daß ein Gericht einen solchen Eingriff doch feststellen sollte, seinem Gesetz den Vorzug gegenüber der Bill of Rights einzuräumen wünscht. Diese doch recht schmale Lücke ließe sich durchaus noch zusätzlich verengen. Auch ein solcher Grundrechtskatalog wäre ja nur nach einem Referendum einzuführen; er wäre damit nicht nur fonnal als fonnelles Verfassungsrecht ausgewiesen, sondern für jedennann klar sichtbar mit einer besonderen Qualität und einer besonderen Dignität versehen. Die Gerichte hätten es somit sehr viel leichter als bisher, die von ihnen zu den bisher schon bestehenden common law-Grundrechten entwickelten Interpretationsregeln zum Zuge kommen zu lassen. Auch ohne den oben in § 17 erörterten Ausschluß impliziter Derogation könnten die Gerichte so das Parlament zwingen, seine Absichten, sollten sich diese gegen die Bill of Rights richten, unmißverständlich in dem jeweiligen Gesetzestext auszudrücken, was gegebenenfalls sofort alle denkbaren politischen Sanktionen auslösen würde. Freilich sollte das Parlament besser darauf verzichten, den Gerichten hierbei dadurch auf die Sprünge zu helfen, indem es eine entsprechende Interpretationsregel gleich in den Text des Grundrechtskataloges selbst aufnimmt. Eine derartige Vorschrift könnte mißverstanden werden in dem Sinne, daß das Parlament über die hierzu in der Bill of Rights selbst vorgesehenen Möglichkeiten hinaus eben doch bei nur entsprechend deutlicher Gesetzesredaktion sich einen Weg zur Umgehung des Grundrechtskataloges offenhalten wollte. Ausgesprochen nützlich wäre hingegen eine Vorschrift, welche es den Gerichten gestatten würde, bei Gesetzen, deren Vereinbarkeit mit der Bill of Rights im Laufe eines Rechtsstreites in Zweifel gezogen wird, entgegen dem sonst im 291 Oder auf sonst eine der zahllosen Möglichkeiten zur Verhinderung von übereilten Änderungen der dann fonnell-verfassungsrechtlichen Bill of Rights zurückzugreifen; siehe hierzu die Studie von Menzel (Anm. 235), passim.

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Vereinigten Königreich üblichen Brauch Dokumente und Unterlagen über die parlamentarischen Beratungen des betreffenden Gesetzes beizuziehen. Das nämlich würde es den Gerichten erleichtern, sich auf den Standpunkt zu stellen, daß ein Grundrechtseingriff vom Parlament nicht beabsichtigt gewesen sei, sofern sich entsprechende Äußerungen in den Gesetzesmaterialien nicht finden lassen sollten. Um einer solchen Schlußfolgerung der Gerichte zu entgehen, wäre das Parlament mithin einmal mehr gezwungen, seine Absichten klar anzukündigen, was wiederum die politischen Kontrollinstanzen auf den Plan rufen würde. Insgesamt wäre es also auch ohne den vorgeschlagenen Zusatz für das Parlament außerordentlich schwer gemacht, eine Verletzung der Bill of Rights politisch und juristisch erfolgreich durchzustehen. Zweifelsohne würden sich mit zunehmendem Zeitablauf diese Wirkungen ständig verstärken, jedenfalls dann, wenn die Bill of Rights erst einmal ihre ersten Jahre unbeschadet ohne Eingriffe des Parlaments überstanden haben sollte. Alter verleiht allen Dingen Würde: dies gilt besonders für das Verfassungsrecht und ganz besonders für das Vereinigte Königreich. Nach einer gewissen Zeit wäre eine Bill of Rights unangreifbar geworden und ein ebensolches Sinnbild für die von den Briten genossenen Freiheiten wie das Grundgesetz für den Bürger der Bundesrepublik. Im Ergebnis wäre der uneingeschränkten Kompetenz des Parlaments als Verfassungsorgan dann ebenso zuverlässig ein Ende bereitet wie mit der Aufnahme eines entsprechenden Zusatzes in die Bill of Rights.

3. Die Ausschaltung der verfassunggebenden Funktion des Parlaments durch "pragmatische Verfahren" Mit dem zum Schluß des letzten Abschnitts gewonnenen Ergebnis wird der Weg zu noch einem weiteren Ansatz gewiesen, der zusätzliche Chancen zur Umgehung der verfassunggebenden Kompetenz des Parlaments eröffnen könnte. Denn mit etwas Phantasie gibt es durchaus noch andere Möglichkeiten, um in der Rechtspraxis auch das Parlament unter eine Bill of Rights zu zwingen, sollten sich der Ansteuerung dieses Ziels mit rein verfassungsrechtlichen Mitteln unüberwindbare politische Widerstände in den Weg stellen. a) Die Sicherung des Vorrangs einer Bill 0/ Rights durch die Schaffung einer neuen Verfassungskonvention

Stellt man sich auf den Standpunkt der traditionellen Lehren zur Parlamentssouveränität, so besteht das eigentliche Problem eines Grundrechtskataloges ja darin, daß die einmal verabschiedete Bill of Rights für die zukünftige Gesetzgebungsarbeit des Parlaments nur eine sehr begrenzte Wirkung zu entfalten vermöchte; das alles ist schon eingehend analysiert worden. Läßt sich diesem Mißstand aber nicht vielleicht durch Schaffung einer neuen Konvention abhelfen? Da Konventio-

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nen auch das Parlament binden können - freilich ohne der Kontrolle der Gerichte zu unterliegen - , müßte es eigentlich über eine solche Konvention möglich sein, die Bill of Rights auch für zukünftiges Handeln des Parlaments bindend zu machen. Praktisch in Gang setzen ließe sich die Schaffung einer solchen Konvention etwa wie folgt. Zunächst einmal müßte das Parlament gleichzeitig mit der Verabschiedung der Bill of Rights eine Erklärung abgeben, daß es im weiteren alle seine Gesetze der Bill ofRights unterstellt zu sehen wünscht. Damit wäre rechtlich zunächst noch nicht viel gewonnen, weil die Gerichte im Ernstfall eine solche Klausel auch wieder nur als unzulässigen Versuch einer Selbstbindung und als rechtlich somit belanglose bloße Absichtserklärung behandeln könnten. Jedenfalls wäre aber so vorn Parlament ein Anfang gemacht, der nun allerdings durch eine beständig geübte Praxis zu einer rechtsverbindlichen Konvention ausgebaut werden müßte. 292 Dazu würde es genügen, wenn das Parlament einfach in regelmäßigen Abständen die schon verabschiedete Bill of Rights immer mit dem gleichen Wortlaut neu verabschiedet. Noch besser: das Parlament könnte auch jedes von ihm in Zukunft beschlossene Gesetz mit einer Vorschrift versehen, daß die in dem Gesetz getroffenen Dispositionen nur insoweit gelten sollen, wie sie nicht in Widerspruch zu einern der Grundrechte der Bill of Rights stehen. Wichtig hierbei wäre, daß diese möglichst immer textgleiche Klausel mit der Zeit ganz mechanisch wirklich jedem Gesetz hinzugefügt würde. 293 Hätte sich eine solche Praxis erst einmal erfolgreich eingebürgert, so wäre bald jener kritische Punkt überschritten, wo aus einer freiwillig gewährten Konzession im Bewußtsein des Parlaments und aller Rechtsgenossen eine Rechtspflicht geworden wäre: eine neue Konvention wäre geboren. Diese selbst wäre zwar nicht justiziabel, daraus könnte aber kaum ein Schaden erstehen. Denn jeder Versuch einer Parlamentsmehrheit, die Aufnahme der Klausel in ein Gesetz zu verhindern, wäre für die Opposition und die Öffentlichkeit der deutlichste Hinweis auf die freiheitsfeindlichen Absichten der Regierung, die sich damit einern verschärften Zwang zur Rechtfertigung ihres Vorhabens ausgesetzt sähe. b) Der Schutz der Bill

0/ Rights vor Änderungen

Allerdings wäre so nur die Derogation der Bill of Rights durch spätere Gesetze, nicht hingegen die Abänderung der Bill of Rights selbst zu verhindern. 294 Weil 292 Im Hinblick auf die ähnliche verfassungsrechtliche Lage in Israel, siehe Ratner (Anrn. 236), S. 379.

293 Für eine solche Klausel sei folgender Wortlaut vorgeschlagen:The provisions of this Act shall only apply, rights and duties according to this Act shall only arise subject to and as far as compatible with the Bill of Rights. 294 Auch wenn ein einmal verabschiedeter GrundrechtskataJog über längere Zeit hinweg unverändert und unberührt erhalten bliebe, wird man aus einer solchen Praxis auch nur schwer auf das Bestehen einer Konvention schließen können, derzufolge die Bill of

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jeder Versuch, die Bill of Rights selbst zu ändern, freilich erst recht politische Widerstände wachrufen müßte, wäre eine Regierung, die sich solches vornehmen würde, mit kaum weniger Schwierigkeiten konfrontiert, als wenn sie lediglich ein einzelnes Gesetz von dem Vorrang der Bill ofRights auszunehmen wünschte. Nun ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, daß auch ein Grundrechtskatalog nicht immer und für alle Ewigkeit gelten kann. 295 Einmal gibt es innere und äußere Notstände, die eine gewisse Einschränkung von Grundrechten rechtfertigen mögen; zum anderen kann es auch und sogar in Hinsicht auf die Grundrechte keinem Gesetzgeber verwehrt werden, sich eines Besseren zu besinnen und neuen Einsichten folgend nicht nur neue, bislang nicht erforderliche Grundrechte in den Grundrechtskatalog aufzunehmen und diesen damit zu erweitern, sondern gegebenenfalls auch bislang geltende Grundrechte einzuschränken oder im Extremfall gar ganz abzuschaffen. 296 Damit ein zukünftiges Parlament solche nicht schlechthin von der Hand zu weisenden Rechtfertigungen nicht allzu leichtfertig und forsch reklamiert, wäre es besser, wenn entsprechende Tatbestände in die Bill of Rights selbst aufgenommen und nach Möglichkeit durch die Gerichte zu überprüfen wären. Damit wäre verhindert, daß hier Eingangstore für eine schleichende Zersetzung einer Bill of Rights offen blieben; denn die zum Schutz eines Grundrechtskataloges aufgerichteten politischen Kontrollen können nur dann wirklich zuverlässig ihren Zweck erfüllen, wenn durch entsprechende verfahrensmäßige Vorkehrungen sichergestellt ist, daß alle überhaupt vernünftigerweise vorzubringenden, den Gesetzgeber entlastenden Begründungen für eine Verkürzung oder Beschneidung der Grundrechte in der Bill of Rights selbst abschließend aufgeführt sind. Andernfalls wäre bei der solchen rechtfertigenden Tatbeständen notwendig eigenen "offenen Sprache" zu befürchten, daß deren Konturen verschwimmen und immer weiter ausgedehnt würden. Es kann andererseits nicht angehen, einfach entsprechende Tatbestände zur Verkürzung des durch eine Bill ofRights einmal eingeräumten Grundrechtsschutzes zu formulieren. Einmal abgesehen davon, daß damit nur deklaratorisch etwas festgestellt würde, was zu tun dem Parlament ohnehin freisteht, wären solche Vorschriften geradezu eine Aufforderung an das Parlament, sich nach Belieben alsbald von den störenden Fesseln eines Grundrechtskataloges wieder zu befreien; damit würden bei den Gerichten erneut Zweifel an der Ernsthaftigkeit des ganzen Vorhabens genährt. Unabweislich müssen also irgendwelche einschränkenden Kontrollen bereitgestellt werden. 297 Für die Notstandsverfassung - eine der Rights überhaupt nicht mehr abänderbar wäre; theoretisch auszuschließen wäre vielleicht auch dies nicht. 295 Das wird durchweg von allen BefÜTWortem einer Bill of Rights zugestanden; siehe Sieghart, Problems of a Bill of Rights, in: NU 125 (1975), S. 1184 ff. (1185); Wade (Anm. 24), S. 70. 296 So auch British Institute 0/ Human Rights (Anm. 279), S. 1064. 297 Siehe hierzu Stevens / Yardley, Proteetion of Liberty, S. 180 f.

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beiden eben identifizierten legitimen Ausnahmen - läßt sich dieses Ziel erreichen, indem in die entsprechenden Vorschriften eine Definition dessen, was als Notstand gelten kann, als tatbestandliche Voraussetzung aufgenommen wird. 298 Alternativ (u. U. auch kumulativ) wäre es ferner möglich, die Außerkraftsetzung von grundrechtlichen Gewährleistungen aufgrund einer Notstandslage von der vorherigen förmlichen Feststellung eines Notstandes durch eine qualifizierte Mehrheit im Unterhaus abhängig zu machen. Die Befugnis zur Änderung der Bill of Rights selbst läßt sich hingegen durch irgendwelche materiellen tatbestandlichen Voraussetzungen kaum eingrenzen. Hier können allein verfahrensmäßige Vorkehrungen helfen,299 insbesondere also die Einführung einer qualifizierten Mehrheit als Voraussetzung für die wirksame Änderung der Bill of Rights, d. h. also die Einführung zwar nicht eines verfassungsändernden, aber doch immerhin eines grundrechtsändernden Gesetzgebers. Lassen sich auch solche Bestimmungen durch "pragmatische Verfahren" herbeiführen? Das zentrale Problem der hier vorgeschlagenen Regelungen besteht offenkundig darin, daß bei Festhalten an den traditionellen Vorstellungen von der Parlamentssouveränität solche Vorschriften von zukünftigen Parlamenten einfach ignoriert werden könnten. Wären aber solche Regelungen als ein integraler Teil eines Grundrechtskataloges durch die eben erörterte Konvention nicht ebenso vor Übertretung zu schützen wie die rein materiell-rechtlichen Teile der Bill of Rights? Leider ist dem nicht so: durch die vorgeschlagene Konvention wird ja nicht die Bill ofRights an sich, sondern "lediglich" ihr Vorrang gegenüber allem anderen Recht geschützt. Bei einem Eingriff in die Bill of Rights selbst bleibt dieser Vorrang indessen unberührt; mit einer Konvention ist hier daher nichts auszurichten. Gleichwohl wäre es sinnvoll, entsprechende Vorschriften in die Bill of Rights aufzunehmen. Denn auch wenn ein Gericht bei deren Mißachtung einem entsprechenden Gesetz des Parlaments den Gehorsam nicht verweigern könnte, wäre doch jeder derartige Verstoß ein so eklatanter Widerspruch zu den in einer solchen Bill of Rights ausgedrückten Erwartungen und Hoffnungen des britischen Volkes an sein Parlament, daß man in einem solchen Fall mit den allerschärfsten politischen Widerständen zu rechnen hätte. Auch bei Aufrechterhaltung des Prinzips der Parlamentssouveränität wäre also die Errichtung einer freilich nur politisch geschützten, erhöhten, besser vielleicht: besonderen Bestandskraft für die Bill of Rights durchaus denkbar.

298 Eine Mindestvoraussetzung wäre natürlich, daß nur das Parlament und nicht etwa die Exekutive darüber befinden dürfte, wann diese Voraussetzungen als erfüllt anzusehen sind (anders Wade [Anrn. 24], S.70); so auch die Empfehlung des Northem Ireland Report, Cmnd. 7009 (1977), S. 16, Anm. 269; S.68, § 7.12. 299 Solche Vorkehrungen werden etwa von Samuels (Anrn. 34), S.428 gefordert. Interessant in diesem Zusammenhang auch die Vorschläge bei O'Boyle, Emergency Situations and the Protection of Human Rights, in: Northem Ireland Legal Q. 28 (1977), S. 160 ff. (184 ff.).

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Auch innerhalb der traditionellen Vorstellungen von der Parlamentssouveränität gibt es aber durchaus Möglichkeiten, für einen verfahrensmäßigen und nicht nur politischen Schutz der Integrität einer Bill of Rights zu sorgen. Einen Weg hierzu weisen die beiden Parliament Acts, mit Hilfe derer dem Oberhaus sein Vetorecht genommen wurde. Es wurde schon vermerkt, daß für einen einzigen Fall das Vetorecht bestehen blieb: die Sitzungsperiode des Unterhauses kann nur mit Zustimmung des Oberhauses verlängert werden; übrigens geschah dies ausdrücklich in der Absicht, eine Kontrolle gegen einen sonst allzu leicht möglichen Machtmißbrauch des House of Commons zu errichten. 300 Ebenso müßte es möglich sein, auch eine Änderung der Bill of Rights oder die Feststellung des Notstandes von der Zustimmung des Oberhauses abhängig zu machen; 301 dazu wäre lediglich eine Änderung des Parliament Act von 1949 notwendig. 302 Diese Vorgehensweise hätte den Vorzug, dem Oberhaus eine Aufgabe zuzuweisen, die genau derjenigen Funktion entspricht, in die das House of Lords nach seiner Entmachtung freilich mehr zufällig hineingewachsen ist, nämlich die eines dem Parteienkampf enthobenen, allein sachlichen Argumenten zugänglichen Organs, das die in der Hektik des politischen Alltagsgeschäfts in der Gesetzgebungsarbeit des Unterhauses unvermeidlich auftretenden Fehler wettmacht. 303 Berücksichtigt man, daß vor allem das Oberhaus sich um die Frage einer Bill of Rights bemüht hat, ist ihm auch durchaus zuzutrauen, daß es sich tatkräftig für die Integrität eines Grundrechtskataloges einsetzen würde und kein willenloses Werkzeug der jeweiligen Parteimehrheit im Unterhaus wäre. Hierbei wäre die Mitgliedschaft auf Lebenszeit, sonst für viele als undemokratisch anstoßerregend, ein offensichtlicher Vorteil.304 Ein gewisses Maß an ,,Entrenehment", an formell-verfassungs300

Siehe hierzu die Hinweise zur Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift bei Mirfield

(Anm. 158), S. 54 f.

301 So auch Sieghart (Anm. 295), S. 1185. Damit würde allerdings nur de lege ferenda - eine Idee von Langheid, Souveränität und Verfassungsstaat, S. 239 f., 263, 293 ff., 300 ff. aufgegriffen, die dieser freilich de lege lata meinte. Seiner These zufolge soll das Oberhaus bereits jetzt eine Kompetenz zur materiellen Normenkontrolle innehaben, eine These, die allerdings nicht durch eine einzige Entscheidung belegt wird; völlig unklar bleibt hier auch, welche konkreten Normen zu der von Langheid behaupteten Normenkontrolle herangezogen werden sollen bzw. können. 302 Man müßte in den Act lediglich einfügen, daß eine Änderung der Bill of Rights eine mehrheitlich getroffene Entscheidung des House of Lords verlangt. 303 Dies ist die allerorts verwendete Rechtfertigung für die Beibehaltung des House of Lords in seiner jetzigen Verfassung; siehe etwa Yardley (Anm. 158), S. 155. 304 Dieses Verfahren ließe sich auch variieren im Sinne eines Vorschlages, der seinerzeit bei Verabschiedung des Parliament Act von 1911 lebhaft erörtert worden ist (siehe Alderson [Anm. 248], S. 74 f.): dieser Idee zufolge hätte das House of Lords wie bisher nur ein aufschiebendes Veto, hätte aber das Recht, anstelle der Einlegung seines Vetos die Abhaltung eines Referendums zu verlangen. Das House of Lords würde so darüber zu entscheiden haben, ob ein die Bill of Rights berührendes Vorhaben ausreichend wichtig und bedenklich ist, um eine Entscheidung des Volkes erforderlich zu machen. Auf diese Weise würden unnötige Referenda vermieden und gleichzeitig dem House of Lords ein neues Wirkungsfeld zugewiesen. Für einen ähnlichen Vorschlag Diceys allerdings aus der Zeit vor den Parliament Acts - , siehe Dicey, in: Contemporary Rev. (Anm. 252), S. 497 f.

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rechtlicher Verankerung wäre gewährleistet, auch ohne die Parlamentssouveränität in Frage zu stellen. Auch andere Verfahren sind durchaus überlegenswert. So könnte man etwa, statt das Oberhaus in die Bill of Rights einzuschalten,305 als Teil des Parlaments ein ganz neues Gremium einrichten, dessen Zustimmung bei Eingriffen in den Grundrechtskatalog vorher einzuholen wäre. Ein solches Gremium ließe sich am besten als Ausschuß des Unterhauses schaffen. Um eine wirklich parteiübergreifende Beschlußfassung in einem derartigen Organ zu erzwingen, müßte der Ausschuß mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, mindestens hätte die Besetzung des Ausschusses durch das Parlament abweichend von den üblichen Regeln mit qualifizierter Mehrheit zu erfolgen. Für das Funktionieren eines solchen Ausschusses wäre die Frage, ob sein Votum für das Unterhaus "bindend" sein könnte,306 nur von untergeordneter Bedeutung. Auch hier gilt, daß eine Mißachtung dieses Verfahrens so schwerwiegende politische Konsequenzen haben würde, daß keine Parlamentsmehrheit einen derartigen Verstoß unbeschadet überstehen könnte. Keinesfalls gebunden wäre das Parlament an solche Vorschriften, die irgendein außerhalb des Parlaments stehendes Organ in das bei Abänderung oder Außerkraftsetzung der Bill of Rights zu beobachtende Verfahren einschalten würden. Grundsätzlich gangbar sind aber auch solche Wege wenigstens dann, wenn in der Bill of Rights nur eine Pflicht zur rechtlich unverbindlichen Konsultierung des betreffenden Organs statuiert würde. Zwar wäre auch die Durchführung einer bloßen Konsultierung unter diesen Umständen gewiß für zukünftige Parlamente keine Pflicht. Indes auch hier wieder wäre eine Mißachtung solcher Vorschriften ein nicht zu kalkulierendes politisches Risiko für jede solches erwägende Regierung. Für den Fall der Änderung der Bill of Rights ließe sich am einfachsten ein Volksreferendum vorschreiben. Durch die Einbeziehung des Volkes selbst wäre von vorneherein jener Kritik der Boden entzogen, derzufolge gerade so weitreichende Entscheidungen wie die über das Fortbestehen von Grundrechten nur von demokratisch unmittelbar legitimierten Körperschaften getroffen werden dürfen. Aus diesem Grunde vielleicht etwas weniger durchschlagend, aber gleichwohl bedenkenswert wäre die Einrichtung einer aus Experten bestehenden Human Rights Commission,307 die sich nicht nur - ähnlich wie entsprechende für die 305 a. a. 0., S. 498, hält auch für erwägenswert, jedem der beiden Häuser das Recht einzuräumen, die Königin zur Verweigerung ihrer Zustimmung zu bestimmten Gesetzesvorhaben aufzurufen, um zu diesen dann ein Referendum abzuhalten. 306 Eine solche Bindung ließe sich in einem gewissen Umfang durchaus begründen, weil der Ausschuß ja ein Teil des Parlaments selbst wäre, mithin ein Mittel der Selbstkontrolle des Parlaments; siehe hierzu unten c), bes. Anm. 309 und dazugehörender Text. 307 Zu der möglichen Ausgestaltung eines solchen Organs, siehe Zander, Bill of Rights, S. 75 f.; Jaconelli (Anm. 27), S. 236 f.; Stacey, Bill of Rights, S. 155 ff.; und schließlich Geisseler, Reformbestrebungen, S. 135. Siehe ferner Lester, in: British Institute of Human Rights, European Convention, S.39. Kritisch Hooson, Bill of Rights, S. 12 f. 19 Koch

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Förderung der Belange der Frauen und der farbigen Bürger bereits eingerichtete Organisationen - um die praktische Implementierung der Bill of Rights im Alltag zu sorgen hätte, sondern bei der förmlich um eine zustimmende Stellungnahme zu etwaigen, die Bill of Rights selbst berührenden Gesetzesvorhaben einzukommen wäre. 308

c) Die Sicherung des Vorrangs einer Bill 01 Rights durch institutionelle Vorkehrungen Mit den vorstehend erläuterten Verfahren, die sich in verschiedenster Form zu einem einheitlichen Gesamtkonzept verbinden und verknüpfen lassen, sind die Möglichkeiten der "pragmatischen Verfahren" aber keineswegs erschöpft; überhaupt ist es ausgeschlossen, hier mit dem Anspruch auf Vollständigkeit sämtliche der zahllosen in den verschiedensten Abschattierungen denkbaren Wege zur Einführung und Abstützung einer Bill of Rights durch "pragmatische Verfahren" aufzulisten. Abschließend sei hier noch ein letzter Ansatz geschildert, der alternativ dem im Abschnitt a) geschilderten Verfahren gegenüberzustellen ist. Dort war der Vorrang der Bill ofRights normtechnisch durch die Einfügung eines entsprechenden Vorbehalts in jedes vom Parlament zukünftig verabschiedete Gesetz erreicht worden. Statt dessen ist es aber auch möglich, einen solchen Vorrang institutionell zu sichern. Zwar verbietet nach traditionellem Verständnis die Parlamentssouveränität jede Art von gerichtlicher Kontrolle des Parlaments; nicht hingegen ausgeschlossen ist eine Kontrolle des Parlaments durch sich selbst, die sich grundsätzlich in zwei Varianten vollziehen kann: präventiv oder repressiv. Die erste dieser beiden Varianten würde die Einrichtung eines ausschließlich dem Schutz der Bill of Rights verpflichteten neuen Parlamentsausschusses voraussetzen. 309 Dabei wäre mit besonderer Sorgfalt auf die Besetzung eines solchen Ausschusses zu achten; denn nur dann, wenn dessen Mitglieder nicht einfach nur als verlängerte Arme der Parteiführungen agieren, wird man von diesem Gremium eine unabhängige und grundrechtsfreundliche Erledigung seiner Aufgaben erwarten können. Aus diesem Grunde wäre es auch hier vielleicht am besten, einem aus Mitgliedern des Oberhauses sich rekrutierenden Ausschuß den Vorzug vor einem Unterhausausschuß zu geben. 3\0 Im übrigen käme viel auf das bei der 308 Recht zurückhaltend beurteilt Zander, Bill of Rights, S. 76 die Möglichkeiten einer Human Rights Commission - vor allem, weil ein solches Organ niemals mit der gleichen Autorität sprechen könne wie die Gerichte. Das ist nicht überzeugend; letztlich käme es allein darauf an, ob für eine solche Körperschaft herausragende Persönlichkeiten gewonnen werden könnten; nichts anderes ist es ja, was auch den britischen Gerichten ihr besonderes Ansehen verschafft hat. Ebenfalls skeptisch ist Street, Freedom, the Individual and the Law, S. 317 f. 309 Hierzu und zu anderen jeweils den gleichen Ansatz verwendenden Verfahren, siehe Sieghart (Anm. 295), S. 1185; Stacey, Bill of Rights, S. 154 f.

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Einsetzung eines solchen Gremiums beobachtete Protokoll an, das nach Möglichkeit so auszugestalten wäre, daß daran die herausgehobene Stellung seiner Mitglieder ablesbar wird; gerade im Vereinigten Königreich, wo man bei allen Staatsgeschäften einem sorgfältig inszenierten Ritual einen hohen Stellenwert einräumt, gibt es hierfür besondere Chancen und Möglichkeiten. Neben den Vorschriften über die Einsetzung eines solchen Ausschusses müßte die Bill of Rights als operative Regelung eine Bestimmung enthalten, derzufolge sämtliche vom Parlament im weiteren zur Beratung anstehenden Gesetzesvorhaben vor deren endgültiger Verabschiedung dem Ausschuß vorzulegen sind, damit dieser die Vereinbarkeit mit der Bill of Rights überprüfen kann. Auch hier wieder käme es darauf an, daß ein solches System für eine gewisse Zeit reibungslos funktioniert, damit sich eine bindende Konvention herausbilden könnte, welche es einer Parlamentsmehrheit verbieten würde, ein ablehnendes Votum des Ausschusses zu ignorieren. Eine weitere Konvention müßte es den Parteien und allen anderen Instanzen verwehren, auf die Entscheidungen des Ausschusses irgendwelche nicht in der Sache selbst begründeten Einflüsse auszuüben. 311 Ein derartiges Verfahren, für das es in anderen Ländern durchaus Vorbilder gibt,312 würde als ein Mittel der Selbstkontrolle das Parlament zu der Einhaltung des Grundrechtskataloges auch bei seiner zukünftigen Arbeit anhalten. Zudem wäre so einem der gewichtigsten Vorbehalte gegenüber einer Bill of Rights Rechnung getragen: daß es nämlich nicht Richtern ohne eine unmittelbare demo3\0 In einer anderen Variante der gleichen Idee hat Fawcett (Anm. 214), S. 62, vorgeschlagen, für diese Aufgabe das Judicial Committee of the Privy Council heranzuziehen. Genauso Carson (Anm. 3), S. 621 ff. Siehe ferner Fawcett, in: British Institute of Human Rights, European Convention on Human Rights, S. 29 f. 311 Fawcett (Anm. 310), S. 30, hat als weitere Variante der gleichen Idee vorgeschlagen, für diese Aufgabe den Parliamentary Commissioner (zu dessen Amt, siehe oben § 2, bes. Anm. 62 und dazugehörenden Text) heranzuziehen. 312 Kastari, Über die Normativität und den hierarchischen Vorrang der Verfassungen, in: FS Leibholz 11, S. 49 ff. (58 f.), berichtet, daß von einem nach üblichem Verfahren zusammengesetzten Parlamentsausschuß innerhalb der fInnischen Verfassung die Verfassungsgemäßheit von zur Beratung anstehenden Gesetzesentwürfen geprüft wird; auf Grund langer Übung werden die Entscheidungen dieses Ausschusses vom Parlament stets übernommen. - Interessant in diesem Zusammenhang ist auch Art. 61 der französischen Verfassung von 1958 (V. Republik), der dem "Conseil constitutionnel" auf Antrag entweder des Staatspräsidenten, des Premierministers oder eines der Präsidenten einer der beiden Parlamentskammern das Recht einräumt, bereits vom Parlament verabschiedete, aber vom Staatspräsidenten noch nicht promulgierte Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu überprüfen; siehe hierzu Cappelletti, The ,Mighty Problem' of Judicial Review, in: Legal Issues ofEurop. Integration 1979/2, S. 1 ff. (5 f.); McWhinney, Supreme Courts and Judicial Law-Making, S. 19 f. Dieses Verfahren ließe sich im Vereinigten Königreich problemlos kopieren; auch hier gilt ja, daß eine Gesetzesvorlage erst durch die Zustimmung des Monarchen (,.royal assent") zum nicht mehr vor Gericht angreifbaren statute wird. Die Normenkontrolle wird so zu einem Teil des Gesetzgebungsverfahrens selbst; siehe hierzu auch Cappelletti I Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, in: JöR NF 20 (1971), S. 65 ff. (66 f.) mit weiteren Beispielen.

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

kratische Legitimität obliegen dürfe, über die mit Menschenrechtsfragen aufgeworfenen Probleme möglicherweise entgegen dem vom Volk unmittelbar gewählten Parlament zu befinden. Andererseits sind auch gewisse Nachteile nicht zu übersehen. Zum ersten wäre ein solcher Ausschuß in seiner Anfangs- und Aufbauzeit besonders gefährdet. Nur wenn er sich über einen längeren Zeitraum hinweg Reputation und Ansehen verschafft hätte und sich vielleicht auch in einigen Fällen erfolgreich gegenüber einer Parlamentsmehrheit durchsetzen konnte, würde er sich als Faktum des politischen Lebens so etablieren, daß jeder unsachgemäße Eingriff in seine Arbeit die notwendigen politischen Reaktionen hervorrufen müßte, die es unmöglich machen würden, ihn ungestraft zu übergehen. Mit anderen Worten: der gute Wille aller Parteien müßte in der Anfangszeit jene von außen ansetzenden politischen Kontrollen ersetzen, die erst dann zum Zuge kommen könnten, wenn dieser gute Wille sich über eine gewisse Zeitspanne auch unbeschadet erhalten hätte. Im übrigen ist das Instrument präventiver Verfassungskontrolle an sich nicht frei von Mängeln. So ist es gerade der Vorteil judizieller Kontrollverfahren, die ja stets an Einzelfällen ansetzen, daß so auch verborgene, auf den ersten oder zweiten Blick gar nicht erkennbare Widersprüche zwischen Gesetz und Grundrechtskatalog aufgedeckt werden können. Ein nach dem hier erörterten Verfahren nach Zustimmung durch den Ausschuß verabschiedetes Gesetz wäre aber nachträglich vor keinem (britischen) Richter mehr anfechtbar, auch dann nicht, falls nachträglich Zweifel an seiner Vereinbarkeit mit der Bill of Rights aufkommen sollten. 313 Das aber macht deutlich, daß die Funktion der Grundrechtsinnovation durch einen Ausschuß dieser Art kaum oder gar nicht wahrgenommen werden könnte.

Auch diese Mängel lassen sich indes beseitigen. Dem Ausschuß müßte nur in einem näher zu regelnden Umfang auch ein Recht zur nachträglichen Überprüfung von bereits in Kraft getretenen Gesetzen eingeräumt werden. Vorstellen etwa ließe sich ein Verfahren ähnlich dem der konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG. Jedes ordentliche Gericht hätte sich vor Anwendung eines für die Entscheidung des Rechtsstreites erheblichen Gesetzes von dessen Vereinbarkeit mit der Bill of Rights zu überzeugen; sollten die Richter dabei zu der Überzeugung kommen, daß ein nicht auszuräumender Widerspruch zwischen Gesetz und Grundrechtskatalog vorliegt, so müßten sie den Fall dem Ausschuß zur endgültigen Entscheidung vorlegen; der Rechtsstreit bliebe in der Zwischenzeit ausgesetzt. Sollte auch der Ausschuß zu dem Ergebnis kommen, daß mit dem Gesetz in die Bill of Rights in unzulässiger Weise eingegriffen wird, so wäre damit zwar nicht eo ipso das Gesetz insoweit aufgehoben - dazu bedürfte 313 Dieser Umstand könnte sich freilich für die politische Durchsetzbarkeit dieses Verfahrens auch wieder als Vorteil erweisen, weil so die von manchen Kritikern befürchtete Rechtsunsicherheit, die mit einer jederzeit einklagbaren Bill of Rights geschaffen würde, vermieden wäre.

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es eines Beschlusses des ganzen Unterhauses. Der Ausschuß müßte also dem Parlament einen entsprechenden Vorschlag erst unterbreiten. 314 Durch das Votum des Ausschusses wäre aber ebenfalls wieder eine politische Lage geschaffen, die es für das Parlament außerordentlich schwer machen würde, sich diesem Vorschlag zu verschließen. Mit verschiedenen Mitteln ließe sich dieses Verfahren zu einer Automatik verdichten, die dann ihrerseits wieder zu einer Konvention gerinnen könnte. Das Unterhaus könnte zum Beispiel im Wege der Gesetzgebungsdelegation den Ausschuß zur selbständigen Aufhebung der von ihm für grundrechtskatalogwidrig befundenen Gesetze ermächtigen. Eine solche Delegation wäre sicherlich ungewöhnlich. Aus der Sicht der Parlamentssouveränität gäbe es gegen einen solchen Schritt jedoch nichts einzuwenden, "theoretisch" könnte das Unterhaus seine Ermächtigung ja wieder zurücknehmen, auch wenn die Geltendmachung dieses Rechtes politisch praktisch unmöglich wäre. Im Ergebnis wäre ein mit solchen Befugnissen versehener Ausschuß von einem Verfassungs gericht nicht mehr zu unterscheiden. d) Noch einmal: Parlamentssouveränität und formelles Verfassungsrecht Diese Überlegungen machen deutlich, daß auch und sogar bei Festhalten an der traditionellen Vorstellung von der Parlamentssouveränität eine echte Bill of Rights durchaus möglich ist. Steht das nicht im Widerspruch zu der oben wiederholt getroffenen Feststellung, daß nämlich organschaftliche Souveränität und formell-verfassungsrechtlich begründeter Grundrechtskatalog sich gegenseitig ausschließen? Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine genauere Einordnung der "pragmatischen Verfahren". Diese beruhen ja sämtlich auf der Idee, gegenüber der Parlamentssouveränität als Rechtssatz eine hiermit sich nicht deckende politische Wirklichkeit aufzurichten und so das Rechtliche durch das Politische zu überspielen. Dieses Verfahren macht sich zunutze, daß die britische Verfassungslehre die Parlamentssouveränität noch nie als erschöpfende Beschreibung der britischen Verfassungsrealität behandelt hat, sondern ihren Aussagegehalt stets streng auf das allein Rechtliche beschränkte. 315 Das müßte nicht so sein. Denn es wäre auch ein Verfassungssystem denkbar, in dem das Parlament nicht nur rechtlich alles darf, sondern tatsächlich auch alles kann. Die Parlamentssouveränität wäre dann nicht nur Rechtssatz, sondern zugleich eine exakte Wiedergabe der politischen Wirklichkeit, hätte also einen ambivalenten Charakter als Aussage über zugleich das (rechtliche) Sollen und das (politische) Sein.

314 Ein solches Verfahren wurde etwa von Lester, Democracy and Individual Rights, S. 15 vorgeschlagen. 315 Siehe hierzu ausführlich Middleton (Anm. 123), S. 139 ff., 150 ff.

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4. Kap.: Die Typologie einer britischen Bill of Rights

Tatsächlich war bis zu der demokratischen Umgestaltung der britischen Verfassung weit mehr als heute das Parlament auch "wirklich" souverän. Der Einbau der Demokratie machte es notwendig, diese "tatsächliche" Souveränität des Parlaments zu beenden. Das eigentlich Originelle der britischen Verfassungsentwicklung lag nun darin, die Souveränität des Parlaments nicht überhaupt abgeschafft zu haben, so wie andere Staaten mit der Souveränität des Fürsten verfuhren, sondern diese auf das Rechtliche zu begrenzen und damit scheinbar die Kontinuität der Verfassungsordnung zu wahren. Die Pointe der "pragmatischen Verfahren" ist es, in Hinsicht auf einen formell-verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalog genau diese Linie fortzusetzen. Während nämlich im Rechtssinne formelles Verfassungsrecht nicht eingeführt würde, wären doch alle tatsächlich damit verknüpften Wirkungen herbeigeführt. So gesehen würde mit den "pragmatischen Verfahren" also nur jene Entwicklung konsequent zu Ende geführt, die im vorherigen Jahrhundert mit der Demokratisierung der britischen Verfassung begonnen wurde, ohne aber bislang den ihrer inneren Logik entsprechenden Abschluß gefunden zu haben. Es bleibt also dabei: rechtliche Allmacht schließt formelles Verfassungsrecht aus. Da aber das Parlament politisch-tatsächlich nicht allmächtig ist, bleibt es der britischen Verfassung unbenommen, jene politisch-tatsächlichen Wirkungen herzustellen, die mit dem Rechtsinstitut des formellen Verfassungsrechts verknüpft sind. Durch die Rechtsquelle der Konvention wäre freilich gewährleistet, daß über kurz oder lang solche ,,nur" politischen Tatbestände zu Verfassungsrecht verdichtet würden. Damit aber wäre nur das gleiche bewirkt, wie mit der "doctrine of mandate" in Hinsicht auf das Demokratiegebot. Auch von daher zeigt sich, daß die Einführung einer Bill of Rights über "pragmatische Verfahren" ganz auf der Entwicklungslinie liegt, die die britische Verfassung vor über 150 Jahren mit der Reform Bill von 1832 erstmals eingeschlagen hat. Auf diesem Hintergrund wird das Problem des "entrenehment" , der Frage also, ob der Bill of Rights trotz Parlamentssouveränität ein besonderer Schutz gegen ihre Änderung beigegeben werden kann, zu einem Streitpunkt, dessen Dringlichkeit durch die weitere politische Entwicklung bis zur Bedeutungslosigkeit entschärft würde. The ordinary citizen, to whose vote at election time Parliament owes not only its legitimacy but its very existence, takes little notice of scholastic disputes of this kind. Once Parliament has given its word that it will not do something ... he would treat that as a binding promise. 316 316 Sieghart (Anm. 295), S. 1185. Ähnlich Levenson, Some Reßections on Civil Liberty, in: Law Teacher 12 (1978), S. 142 ff. (152); Wilberforce (Anm. 118), S.275; skeptischer demgegenüber der Leitartikler der NU, in: NU 125 (1975), S. 1105 f. (1106). Ein praktisches Beispiel hierfür zeigt Fitzgerald, An English Bill of Rights? in: Georgetown L. J. 70 (1982), S. 1229 ff. (1259 f.): in Neuseeland sah der Electoral Act von 1956 vor, daß bestimmte seiner Vorschriften nur durch eine 3/4-Mehrheit oder durch ein Referendum geändert werden können, und zwar obwohl das neuseeländische

§ 19 Die sog. Revolutionäre Lösung

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Daraus folgt: Ob eine echte Bill of Rights eingeführt wird oder nicht, ist in letzter Analyse kein Problem, das sich rechtlich lösen läßt. Wer eine Bill of Rights ablehnt, weil das britische Verfassungsrecht solches verbiete, der zeigt nur, daß er politisch einen solchen Schritt mißbilligt; das Recht und seine vermeintlich unentrinnbare Zwanghaftigkeit dient hier nur als bequemes Alibi, hinter dem sich sehr achtbare Motive verstecken mögen, die aber eben politisch, nicht rechtlich begründet sind. In Wahrheit bietet das britische Verfassungsrecht etwas Einfallsreichtum vorausgesetzt, woran es im Vereinigten Königreich wahrlich nicht fehlt - eine Fülle von Ansätzen, um ein Vorhaben dieser Art zu verwirklichen - sofern es nur gewollt wird. Gerade derjenige, der eine Bill of Rights mit der Parlamentssouveränität nicht für vereinbar hält, weil das Verbot der Selbstbindung dergleichen ausschließe, kann daraus kein Argument gegen eine Bill of Rights herleiten, sondern allenfalls gegen die Effektivität einer Bill of Rights. Aus dieser Sicht wäre eine Bill of Rights rechtlich nutzlos, aber gleichzeitig gerade deswegen auch unschädlich. Zu fürchten hat eine Bill of Rights nur derjenige, der die Parlamentssouveränität für kein entscheidendes Hindernis hält, weil die Politik sich, kommt es hart auf hart, um die Parlamentssouveränität nicht scheren wird. Es ist merkwürdig, daß Gegner der Bill of Rights diesen Zusammenhang kaum erkennen - jedenfalls ihn nicht aussprechen. 317 Letztlich zeigen die ohne Zweifel erheblichen Vorbehalte gegenüber einer Bill of Rights, daß es bislang an einer wirklich durchgreifenden Bereitschaft zur Operationalisierung der verfassunggebenden Gewalt fehlt. In Abwesenheit dieser Bereitschaft ist eine formell-verfassungsrechtliche Bill of Rights unmöglich. Umgekehrt wäre bei Vorliegen dieser Bereitschaft die Entscheidung über den hierzu im einzelnen einzuschlagenden Weg nur noch von zweitrangiger Bedeutung; das Ob einer Bill of Rights hängt hiervon nicht ab.

ebensowenig wie das britische Parlament seine Nachfolger binden kann; hier wurde somit ganz bewußt eine Vorschrift geschaffen, die sich allein auf eine politische, nicht auf eine rechtliche Normativität stützt. 317 Eine Ausnahme ist Fawcett (Anm. 310), S. 62 f.

Fünftes Kapitel

Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (Zweiter und letzter Teil) § 20 Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratieprinzip und Gewaltenteilungsgrundsatz 1. Die Einwände gegen eine britische Verfassungsgerichtsbarkeit

Die im letzten Kapitel dargelegten Überlegungen haben nachgewiesen, daß die britische Verfassung zwei Wege für die Einführung einer echten Bill of Rights bietet. Die Parlamentssouveränität stellt somit kein unüberwindbares Hindernisfür einen Grundrechtskatalog dar. Wichtiger noch ist aber die Erkenntnis, daß mit Hilfe verschiedenster "pragmatischer Verfahren" Bill of Rights und Parlamentssouveränität in überraschender Harmonie miteinander verbunden werden können, und somit die befürchtete radikale Abkehr von den bislang geltenden verfassungsrechtlichen Grundlagen durchaus überflüssig wäre. Entgegen Behauptungen, daß mit einern Grundrechtskatalog etwas zutiefst "Unbritisches" in die geltende Verfassung eingefügt würde, wäre eine mit "pragmatischen Verfahren" abgesicherte Bill of Rights in gewisser Weise die Vollendung der britischen Verfassungsentwicklung, keineswegs ihre Umkehrung oder gar Widerlegung, und böte gerade dem erstarrten alten cornrnon law neue und großartige Chancen. 1 Unter diesen Umständen ist der ständige Hinweis auf die angeblich einer Bill of Rights im Wege stehende Parlamentssouveränität vor allem ein Indiz, daß es noch andere Vorbehalte gegen einen Grundrechtskatalog gibt, die freilich mehr im Hintergrund gehalten werden, weil sie anders als die verfassungsrechtlich vorgegebene Parlamentssouveränität sich nicht auf die (vermeintliche) objektive Autorität des Rechts stützen können und mithin weniger zwingend und weniger überzeugend sind. 2 Ähnlich Geisseler, Reformbestrebungen, S. 55. Hierher gehört auch die meistens nicht eindeutig greifbare, aber eben doch bei vielen Gegnern einer Bill of Rights zu verspürende rein gefühlsmäßige Ablehnung eines Grundrechtskataloges, weil dergleichen als unvereinbar mit "britischen" Traditionen, ja eben einfach als "unbritisch" empfunden wird (dieser Gedanke wird unten § 21 Ziffer 2, bes. Anm. 58 f. und dazugehörender Text, weiterentwickelt). Die ganz erhebliche Bedeutung dieser mehr unterirdisch wirkenden Haltung zeigt sich nicht zuletzt daran, 1

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§ 20 Verfassungsgerichtsbarkeit

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Hier ist nun die oben angestellte Analyse zu der kanadischen Bill of Rights von 1960 hilfreich. Dort war offenbar geworden, daß nicht die Parlamentssouveränität, wohl aber das Amtsverständnis der kanadischen Richter eine effektvolle Durchsetzung des Grundrechtskataloges verhindert hatte. 3 Unter Berufung auf die angeblich "unpolitische" Aufgabe der Judikative stellten sich die Gerichte auf den Standpunkt, der ihnen von der Verfassung zugewiesene Platz verbiete ihnen, völlig eindeutig gefaßte Gesetze außer Kraft zu setzen. Vor allem die mit einer Bill of Rights notwendig verbundene richterliche Normenkontrolle ist es also, die ein ganz wesentlicher Grund für die Ablehnung einer Bill of Rights ist. Tatsächlich ist auch im Vereinigten Königreich von Gegnern einer Bill of Rights diese Argumentation aufgegriffen und ergänzt worden. Neben dem Hinweis auf die durch eine Bill of Rights drohende Politisierung der britischen Richterschaft wird vor allem auch ein Verlust an demokratischer Substanz gefürchtet, wenn Richtern, die ihr Amt einer bürokratischen Entscheidung und nicht einem Mandat des Volkes verdanken, das Recht eingeräumt würde, den Willen des demokratisch unmittelbar legitimierten Vertreters des Souveräns zu übergehen und für nichtig zu erklären. 4 Schließlich wird von Kritikern auch bezweifelt, daß Ausbildung, daß fast alle Fürsprecher einer Bill of Rights sich damit zum Teil sehr ausführlich auseinandersetzen und dergleichen einerseits unter Hinweis auf die große Tradition englischer GrundrechtskodifIkationen (Magna Charta etc.), andererseits auf die in fast allen ehemaligen britischen Kolonien unter maßgeblicher Beteiligung britischer Stellen ausgearbeiteten Grundrechtskatalogen energisch zurückweisen. Siehe u. a. Riedei, The Bill of Rights Fallacy, in: FS MitchelI, S. 38 ff. (44 f.); Zander, Bill of Rights, S. 43 ff.; Brown, A Bill of Rights for the United Kingdom? in: Parliamentarian 58 (1977), S. 79 ff. (79); Hailsham, The Right Road to Reform, in: Stankiewicz, British Government in an Era of Reform, S. 94 ff. (95); Lester, Fundamental Rights, in: PL 1984, S. 46 ff. (46 f., 55 ff.); Yardley, Effectiveness of the Westminster Model, in: YB World Affairs 31 (1977), S. 342 ff. (346); Stacey, Bill of Rights, S. 23 ff. und Jacobs, The Convention and the English Judge, in: Matscher I Petzold, Protecting Human Rights, FS Wiarda, S. 273 ff. (275 f.) unter Hinweis auf das Wirken des Judicial Committee of the Privy Council. Vollends widerlegt wird die These von der "unbritischen" Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Tatsache, daß bis 1973 in Nordirland unter dem Government o/Ireland Act eine ebensolche Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber dem allerdings nicht souveränen Stormont-Parlament (siehe hierzu § 13 Ziffer 2, Anm. 168) ausdrücklich vorgesehen war (siehe § 19, Anm. 286). Auch die gescheiterten Devolutionsvorhaben für Schottland und Wales sahen dergleichen vor; siehe Bogdanor, English Constitution and Devolution, in: Political Q. 50 (1979), S. 36 ff. (46 f.). 3 Siehe oben § 17 Ziffer 3 c). 4 MitchelI, Constitutional Law, S. 16: "Courts are not the appropriate arenas in which policy should be determined." Ähnliche Stimmen fInden sich bei Winterton, Parliamentary Supremacy and the Judiciary, in: LQR 97 (1981), S. 265 ff. (266 f.); Lloyd 0/ Hampstead, Do We Need a Bill of Rights? in: MLR 39 (1976), S. 121 ff. ( 124 ff.); Lord Fraser, in: British Institute of Human Rights, European Convention, S. 44 f.; Jones, British Bill of Rights, in: Parliamentary Affairs 43 (1990), S. 27 ff. (35 f.). Dazu Lester (Anm. 2), S. 47; Lawrence, Rights and Remedies, in: Campbell, Do We Need a Bill of Rights? S. 10 ff. (14); Jacobs (Anm. 2), S. 275 ff.; Leitartikel, Judging Rights, in: Times 12.12.1986. - Williams, Constitution of the UK, in: CU 31 (1972), S. 266 ff. (278 f.) verweist darauf, daß die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit auch deswegen

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5. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (11)

Herkunft und Werdegang die Richter dazu befähigen, sinnvoll über die regelmäßig besonders weitreichenden Probleme zu entscheiden, die mit der Auslegung und Anwendung von Menschenrechten verbunden sind. 5 Freilich handelt es sich hierbei wohl mehr um ein Hilfsargument, das ernstzunehmen etwas Mtihe bereitet: Richter entscheiden auch jetzt bereits über eine Vielzahl von Sachverhalten, die ihnen aus persönlichem Erleben kaum bekannt sein dürften, ohne daß daran Anstoß genommen wird. 6 Diese Ansicht soll daher im folgenden außer acht bleiben. 7 Es bleiben also zwei bedenkenswerte Einwände gegen eine Gesetzeskontrolle durch die Gerichte. Einmal ist auf die Furcht vor einer Politisierung der Justiz einzugehen; zum anderen muß nach der demokratischen Legitimität einer Verfassungsgerichtsbarkeit geforscht werden. Bei den damit angeschnittenen Fragen handelt es sich allerdings um verfassungspolitisch, nicht verfassungsrechtlich zu entscheidende Probleme, denn irgendwe1che hierzu einschlägigen Rechtsnormen wird man im britischen Verfassungsrecht vergeblich suchen. Dies sei hier noch einmal ausdrücklich betont, denn damit ist klar, daß die Frage nach einem im Vereinigten Königreich einzuführenden Grundrechtskatalog sich nicht mehr unter dem Gesichtspunkt des rechtsnormativ bestimmten Könnens stellt; insoweit hat das letzte Kapitel eine abschließende Klärung gebracht. Vielmehr geht es hier nur noch um Zweckmäßigkeit, nämlich darum, ob es gemessen an bestimmten verfassungsstrukturellen Grundsätzen auch sinnvoll ist, eine Bill of Rights einzuführen. Das Argument von der befürchteten ,,Politisierung" der britischen Richterschaft durch eine Bill of Rights haben manche Befürworter eines Grundrechtskatalogs gemeint, ohne weiteres beiseite schieben zu können, weil bereits jetzt die britische Justiz durchaus politisch tätig sei. S Nach einer im Vereinigten Königreich vielbedie Stellung jedes einzelnen Parlamentsmitgliedes und damit die politischen Verfahren zur Konfliktlösung schwächen muß, weil unter diesen Umständen der durch ein Gesetz belastete Bürger sich nur noch an das Verfassungsgericht, nicht mehr - wie bisheran "seinen" Parlamentsabgeordneten wenden würde. 5 Lloyd 0/ Hampstead (Anm. 4), S. 125 f.; Jones (Anm. 4), S. 37; Street, Freedom, the Individual and the Law, S. 317. In einer anderen Variante ist dieses Argument auch von den BefÜfWortern einer Bill of Rights zu hören, daß nämlich die konsequent gesetzespositivistische Tradition der britischen Richter eine effektive Operationalisierung der Bill of Rights verhindern werde; hierzu siehe Zander, Bill of Rights, S. 60 f. 6 Levenson, Some Reflections on Civil Liberty in the English Legal System, in: Law Teacher 12 (1978), S. 142 ff. (152 f.); Riedel (Anm. 2), S. 49; Hooson, Bill of Rights, S. 4 ff.; Jacobs (Anm. 2), S. 275 ff. Interessant hierzu die Auffassung eines amerikanischen Verfassungsrichters, Brennan, Why Have a Bill of Rights? in: Oxford J. Legal Studies 9 (1989), S. 425 ff. (439). 7 Im übrigen bemerkt Milne, Should We Have a Bill of Rights? in: MLR 40 (1977), S. 389 ff. (389 f.) sehr richtig, daß die Behauptung, Richter seien zur Auslegung einer Bill of Rights ungeeignet, natürlich ebenso überhaupt jeden mit den Mitteln des Rechts betriebenen Menschenrechtsschutz in Zweifel ziehen muß. S So aber Zander, Bill of Rights, S. 65 ff.; Brown (Anm. 2), S. 84 f. Anders dagegen und wie hier Jacobs (Anm. 2), S. 278.

§ 20 Verfassungsgerichtsbarkeit

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achteten Untersuchung von Griffith 9 scheint es in der Tat keinen Zweifel geben zu können, daß britische Richter entgegen der von ihnen gerne für sich in Anspruch genommenen Neutralität in einer Reihe von Fällen in Vergangenheit und Gegenwart aus eindeutig politischer Voreingenommenheit entschieden haben. 10 Mit solchen Thesen ist die eingangs gestellte Frage indes noch nicht abgetan. Denn die von Griffith festgestellte Politisierung der Richter bezeichnet ein normwidriges Verhalten, setzt also gerade voraus, daß die Richter an sich zur politischen Neutralität verpflichtet sind. Niemand wird bestreiten, daß Richter, wenn sie dies wollen, ihre politischen Präferenzen zum Maßstab ihrer Urteile machen können und damit dann freilich ihre Gehormsamspflicht gegenüber dem Gesetzgeber verletzen. Zwar sucht man vergeblich nach genaueren Aufschlüssen darüber, was im einzelnen die Gegner einer Bill of Rights mit ,,Politisierung" meinen; wie so häufig fehlt es auch hier an exakten dogmatischen Einordnungen. Bei näherem Hinsehen wird allerdings deutlich, daß die befürchtete Politisierung nicht in der Form normwidrigen Verhaltens erwartet wird, sondern als notwendige mit einer Bill of Rights verbundene Konsequenz, die wegen der besonderen Natur eines solchen Normwerkes durchaus normgemäß wäre. 11 Was aber ist es denn nun eigentlich, das einer solchen ,,Politisierung" der Dritten Gewalt etwas derartig Anstößiges gibt? Offensichtlich liegt diesem Werturteil die Vorstellung zu Grunde, daß das Recht von der Politik sauber zu trennen sei, daß es sich hierbei um grundverschiedene Funktionen handle, die innerhalb des gewaltenteilenden Verfassungsstaates zwei verschiedenen Gewalten zugeordnet seien: die Politik der Legislative, das Recht der Judikative. 12 In diesem Modell verstieße eine ,,Politisierung" der Richterschaft also gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz. Gleichzeitig wird damit deutlich, daß das Politisierungsargument nur die Kehrseite jener Ansicht ist, die die Richter mangels ausreichender demokratischer Legitimität von einer Entscheidung über Menschenrechtsfragen ausschließen will. Denn diese fehlende demokratische Legitimität ergibt sich ja eben 9 Politics of the Judiciary 1978. Für eine Bewertung der ausgesprochen provokanten Thesen Griffith's, siehe die Rezensionen von Ruete, in: DuR 10 (1982), S. 457 ff. und Devlin, Judges, Government and Politics, in: MLR 41 (1978), S. 505 ff., sowie ferner Zander, Bill of Rights, S. 50. 10 Ähnlich Lester, Fundamental Rights in the UK, in: Human Rights Rev. 2 (1977), S. 49 ff. (57 ff.); dazu auch MarshalI, Constitutional Theory, S. 81 ff.; Stevens / Yardley, Protection of Liberty, S. 179. 11 Zander, Bill of Rights, S. 66; das gilt nicht nur, weil ein Verfassungsgericht parlamentarisches Recht verwerfen könnte, sondern mehr noch wegen dessen grundrechtsinnovativer Aufgaben, mit der "eigentlich" dem Parlament aufgegebene Funktionen übernommen würden; diese Konsequenz wird auch von den Gegnern einer Bill of Rights klar gesehen, siehe Anm. 4 oben. 12 Genau in diesem Sinne eine Äußerung von MarshalI, zitiert bei McCrudden, Judicial Discretion and Civil Liberties, in: Northern Ireland Legal Q. 25 (1974), S. 119 ff. (125). Hierzu ferner Geisseler, Reformbestrebungen, S. 124 f.

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5. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (II)

daraus, daß allein das Parlament, nicht aber die Richter zur politischen Entscheidung berufen sein sollen, und daher auch nur das Parlament vom Volk gewählt wird. Durch eine Bill of Rights scheint all dies in Zweifel gezogen. 13 Verträgt sich eine normenkontrollierende Verfassungsgerichtsbarkeit mit einem so verstandenen Gewaltenteilungsgrundsatz - das also ist hier die Frage, und sie fUhrt geradewegs zum Kern des mit jeder Art von Verfassungsgerichtsbarkeit für den demokratisch verfaßten Staat aufgeworfenen Problems, das seit den ersten Anfängen dieses Rechtsinstituts sein ständiger Begleiter war. 14 In den letzten Jahren hat diese Frage in den Staatswissenschaften wieder verstärktes Interesse gefunden, verstummt war sie aber nie. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sollten an dieser Stelle die hierzu bestehenden weit verzweigten Streitstände neu aufgerollt und bewertet werden. Im folgenden sollen daher nur solche Gesichtspunkte dieses Problems erörtert werden, die sich aus den Besonderheiten der britischen Verfassung ergeben.

2. Die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative in der britischen Verfassung Der Gewaltenteilungsgrundsatz l5 hat sich im Vereinigten Königreich wie alle tragenden Strukturmerkmale der britischen Verfassung nur langsam herausgebil13 Genau dies war der Grund, warum die aus der französischen Revolution hervorgegangenen Staatsordnungen und alle ihre Nachfolger einen von der Dritten Gewalt gegenüber den Gesetzen anwendbaren Grundrechtskatalog ablehnten, siehe Kastari, Guarantees of Fundamental Rights and the Constitutional Principle, in: JöR NF 13 (1964), S. 437 ff. (445 ff.); erst in den letzten Jahren hat sich hier ein grundlegender Sinneswandel angebahnt (siehe § 5, Anm. 163). 14 Das Institut der normenkontrollierenden Verfassungsgerichtsbarkeit hat in den letzten Jahrzehnten eine rasante Verbreitung erlebt und wurde von einer ganzen Reihe von Staaten übernommen, die aus verschiedenen Gründen dieser Einrichtung gegenüber sich lange ablehnend verhalten haben; zu den Gründen siehe McWhinney, Supreme Courts & Judicial Law, S. 1 ff. Besonders eindrucksvoll vielleicht der Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit im lange abseits stehenden Frankreich, siehe Cappelletti, The "Mighty Problem" of Judicial Review, in: Legal Issues of Europ. Integration 1979/2, S. 1 ff. (4 ff.). Kaum weniger interessant sind die Experimente sozialistischer Staaten mit der Verfassungsgerichtsbarkeit, siehe etwa Garlicki, Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen, in: JZ 39 (1984), S. 501 ff.; Racz, Introduction du contröle constitutionnel en Hongrie, in: rev. internationale du droit compare 37 (1985), S. 136 ff. Auch in Staaten des englischen Rechtskreises hat die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit immer mehr Anklang gefunden; zu Irland, siehe Walsh, Der irische Supreme Court, in: EuGRZ 5 (1978), S. 508 ff.; zu anglophonen Staaten Afrikas, siehe de Smith, Fundamental Rights II, in: ICLQ 10 (1961), S. 215 ff. Zum Commonwealth allgemein Sornarajah, Bills of Rights: the Commonwealth Debate, in: Comp. & Intern'l L. J. of Southern Africa 9 (1976), S. 161 ff. 15 Richtigerweise sollte man wie in den meisten Staaten - auch im Vereinigten Königreich nicht von Gewaltentrennung, sondern von Gewaltenteilung sprechen; so MitchelI, Constitutional Law, S. 48 f. - Zum ideengeschichtlichen Hintergrund, siehe Jennings, Law & Constitution, S. 18 ff.

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det und sich auch nie konsequent in der britischen Verfassungspraxis durchsetzen können. 16 Insofern kommt ihm im Vereinigten Königreich (natürlich) keinerlei normative Kraft zu; allenfalls kann er als rein deskriptiv gemeinte, schlagwortartige Zusammenfassung gewisser verfassungsrechtlicher Gegebenheiten gelten. Gerade in der zentralen Frage nach der Natur der von Legislative und Justiz im Rahmen der Gewaltenteilung wahrgenommenen Funktionen war die britische Entwicklung bedeutend zögerlicher als auf dem Kontinent. Auch wiederum wegen der Parlamentssouveränität kann es ohnehin keinen der Dritten Gewalt zur alleinigen Verantwortung überlassenen Bereich geben. 17 Vielmehr gilt, daß alles was ein britisches Gericht kann, auch das Parlament darf; folglich steht es auch im Belieben des Parlaments, Einzelfallregelungen zu treffen, die in der Sache einem Verwaltungsakt oder einem Gerichtsurteil gleichkommen, 18 oder aber umgekehrt - derartige von den beiden anderen Gewalten getroffene Entscheidungen rückgängig zu machen. 19 Eine von Rechts wegen geschützte Aufgabenverteilung auf der Grundlage einer dem Wesen jeder Gewalt entsprechenden Funktionszuweisung gibt es im Vereinigten Königreich mithin nicht. 20 Hinzukommt eine Besonderheit im Verständnis des britischen Parlaments, die deutlich von den feudalen Ursprüngen dieses Organs zeugt. Bis in die jüngste Gegenwart wurde die britische Gesetzgebungskörperschaft als "High Court of Parliament" bezeichnet. 21 Die sich in diesem Namen ausdrückende Vorstellung von Parlament als oberstem Gericht des Landes spiegelte sich in seiner Arbeitsweise, insbesondere in Stil und Aufbau der parlamentarischen Gesetze. 22 Tatsäch16 Das sinnfälligste Beispiel hierfür ist das House of Lords, das nicht nur ein Teil der Legislative ist, sondern außerdem oberstes Appellationsgericht, siehe hierzu und zu den anderen richterlichen Funktionen des House of Lords Rollis, Parliament and its Sovereignty, S. 56 ff.; Loewenstein, Staatsrecht & Staatspraxis I, S. 86 ff.; siehe ferner Lester, in: British Institute of Human Rights, European Convention, S. 42; Kingston I Imrie, Grundrechte im Vereinigten Königreich, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und USA, S. 715 ff. (752 ff.); Mitchell, Constitutional Law, S. 42 ff. Übertreibend dagegen Thelen, Vereinbarkeit mit dem EWGV, S. 118, wenn dieser meint, daß der Gewaltenteilungsgrundsatz "im britischen Verfassungsrecht so gut wie keinen Platz fmdet". 17 Wenn Mitchell, Constitutional Law, S. 47 und HLE 8, § 813 meinen, der Gewaltenteilungsgrundsatz solle vor allem die Unabhängigkeit der Richterschaft sichern, so ist auch dies nicht als Rechtsfeststellung zu verstehen, sondern nur als eine Aussage über eine vom Parlament zu erfüllende menschenrechtliche Forderung. 18 Siehe hierzu Jennings, Law & Constitution, S. 283 f. 19 Siehe § 4, bes. Anrn. 110 ff. und dazugehörender Text. 20 Giesen, Auswirkungen des Beitritts Großbritanniens zur EWG auf das britische Verfassungsrecht, in: Monatsschrift dt. Auslandsbeamter 1968, S. 295 ff. (299); Mitchell, Constitutional Law, S. 44 ff. 21 Hierzu siehe Allot, The Courts and Parliament: Who Whom? CU 38 (1979), S. 79 ff. (91 f.); Loewenstein, Staatsrecht & Staatspraxis 11, S. 3 f.; Winterton (Anrn. 4), S. 595 f.; Jennings, Law & Constitution, S. 138 f. 22 Und diente übrigens auch lange als eine Begründung für die Parlamentssouveränität, denn es ist unmittelbar einleuchtend, daß die Entscheidungen des "obersten Gerichts" nicht durch ein anderes, notwendigerweise im Rang nachgeordnetes Gericht überprüft oder gar aufgehoben werden können; siehe hierzu Winterton (Anrn. 4), S. 595. Pope,

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lich zeichnen sich britische Gesetze ja auch heute noch durch ein konsequentes Bemühen um Detailgenauigkeit aus. Stets wird den eigentlichen operativen Vorschriften ein häufig umfangreicher Katalog von penibel formulierten Legaldefinitionen der im folgenden verwendeten Begriffe vorangestellt und nach Möglichkeit jede Generalklausel, auch jede durch Wertungen aufzufüllende Umschreibung vennieden. Ein britisches Gesetz steht daher in der Tat im Hinblick auf die dort angewandte Technik einem Urteil weitaus näher, als dies etwa in der deutschen Verfassungsordnung gilt. Schließlich sei hier noch einmal hingewiesen auf die Abneigung des britischen Gesetzgebers gegenüber allen Vorschlägen, ganze Rechtsgebiete durch ein einziges Gesetz zu reglementieren, ein Vorhaben, das ja ohne die großzügige Verwendung von Generalklausein gar nicht möglich wäre und schon deswegen britischen Usancen widerspräche. Anders als solche einen Gesamtplan realisierenden Gesetze bevorzugt man im Vereinigten Königreich nur auf ganz konkrete Probleme zugeschnittene Regelwerke, die in der Rechtspraxis der unmittelbaren Vergangenheit beobachtete Normierungsdefizite ausgleichen sollen. Der britische Gesetzgeber reagiert daher weit mehr, als daß er agiert; darin drückt sich eine gewisse Nähe zum judiziellen Entscheidungsverfahren aus. Angesichts dieser Gegebenheiten wird die Ansicht verständlich, die immerhin kein Geringerer als der große Dicey vertrat, daß nämlich auch Gesetze im Grunde wie die Urteile eines Gerichtes seien. 23 Wird unter solchen Voraussetzungen aber Gewaltenteilung in der geschilderten Verbindung mit dem Demokratieprinzip nicht in Frage gestellt? Die Diceysche Lehrmeinung ist in Zusammenhang zu sehen mit den zu seiner Zeit im Vereinigten Königreich herrschenden Anschauungen über das Wesen des Rechts, die ihrerseits wiederum seit Jahrhunderten die Rechtfertigung für das britische System des Richterrechts bildeten. Recht ist nach dieser Ansicht eine statische Größe und im wesentlichen der Rechtsgemeinschaft vorgegeben. Der Richter schafft das Recht nicht, er findet es vermöge einer besonderen Nähe zu den Rechtsquellen; 24 hat er es einmal gefunden, kann er es durch Anwendung auf neue Sachverhalte höchstens fortentwickeln, aber nicht verändern. Über festgestelltes Recht sich hinwegzusetzen und damit das Recht zu dynamisieren,25 war in diesem System allein dem Parlament vorbehalten. Justiz und Parlament ergänzten sich somit in der gemeinsam und gleichberechtigt zu erledigenden Aufgabe der Rechtsschöpfung. Das Sonderbare dieser Funktionsteilung bestand nun darin, daß hier offenbar gerade nicht von jener strikten Fundamental Law and the Power of the Courts, in: HLR 27 (1913), S. 45 ff. sieht hierin sogar den alleinigen Grund, warum der amerikanische Kongress einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt, das britische Parlament hingegen nicht - sicherlich eine Überschätzung. 23 Siehe hierzu Daintith, Protection of Human Rights in the UK, in: HRJ 1 (1968), S. 275 ff. (280 f.) 24 Hierzu v. Simson, Verfassungszweifel in England, in: FS Carstens 11, S. 853 ff. (853 f.). 25 Dazu Winterton (Anm. 4), S. 596.

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Trennung zwischen Politik und Recht ausgegangen wurde, die die Gegner einer Bill of Rights in Gefahr meinen. Nicht als Gegensätze, die völlig verschiedenartige Rechtsgestaltungsakte bezeichnen, traten Urteil und Gesetz einander in diesem Modell gegenüber, sondern als komplementäre Funktionen, die freilich zu ihrer Ausübung einer je eigenen Legitimation bedurften: die des Richters ergab sich aus seiner besonderen Sachkenntnis, die des Parlaments aus seinem Amt als Ständevertretung. Dieser Gleichgewichtszustand ist heute dahin. Das Parlament gab seine zuvor gezeigte Zurückhaltung bei der Rechtsetzung auf, so daß es heute im Vereinigten Königreich nicht weniger "gesetztes" im Gegensatz zu "gefundenem" Recht gibt als anderswo auch. Dieses heute unbestreitbare Übergewicht von statute über common law resultierte im übrigen aus der erlahmenden Dynamik des Richterrechts, das sich als ungeeignet erwies, den neuen Rechtsbedürfnissen eines Wohlfahrtsstaates gerecht zu werden und damit weite Regelungsgebiete für das Parlament freigab. Ebenso war für diese Entwicklung aber der durch seine Demokratisierung neu gewonnene Impetus des House of Commons verantwortlich zu machen, das sich nunmehr im Besitz einer überlegenen Legitimation sah. Im Zuge der weiteren Entwicklung fiel den Gerichten vor allem der Part eines Kontrolleurs der Exekutive zu. Damit bildete sich jenes Schema heraus, das sich so oder ähnlich in allen demokratisch verfaßten Staaten wiederfmdet: das Parlament setzt das Recht, die Exekutive führt es aus, und die Judikative überwacht seine Ausführung. 26 In diesem Modell nimmt die Judikative in Hinsicht auf die Rechtsschöpfung keine neben dem Parlament stehende gleichberechtigte Rolle mehr ein: 27 sie fungiert im wesentlichen nur noch als Vollstreckerin des Willens des Parlaments, während ihre rechtsschöpferische Aufgabe verkümmert. 28 Zwar 26 Anders als in Verfassungsordnungen mit Verfassungsurkunde kann die Judikative sich freilich bei dieser Aufgabe nicht auf eine entsprechende sie hierzu ermächtigende generelle Vollmacht der Verfassung stützen; das wiederum ist der Grund, warum der verwaltungsrechtliche Rechtsschutz im Vereinigten Königreich so lückenhaft und unvollständig geblieben ist. 27 Von einer solchen gleichberechtigten Rolle der Gerichte ging auch noch Dicey aus, insbesondere bei seiner Behauptung, die britische Verfassung biete dem Freiheitsschutz eine bessere Chance als Systeme mit geschriebener Verfassung, weil im Vereinigten Königreich das vom Richter geschaffene common law - anders als die oftmals vagen Verbürgungen geschriebener Verfassungen - praktisch unmittelbar wirksame Grundrechte geschaffen habe; tatsächlich hat gerade das Institut der Verfassungs gerichtsbarkeit den Gerichten jene Stellung vermittelt, die sie zuvor nur in den common-IawLändern hatten, so daß heute das Richterrecht - jedenfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts - in einem Land wie der Bundesrepublik eine weitaus größere Rolle zu spielen hat als im Vereinigten Königreich, eine sehr merkwürdige Vertauschung der Fronten; siehe Barendt, Dicey and Civil Liberties, in: PL 1985, S. 596 ff. (599 f.). Zum gleichen Ergebnis kommt auch Mezey, Civil Law and Common Law Traditions, in: ICLQ 32 (1983), S. 689 ff. (bes. 707). 28 Vgl. Dahrendorf, A Confusion of Powers: Politics and the Rule of Law, in: MLR 40 (1977), S. 1 ff. (14); Lester (Anm. 10), S. 50; McCrudden (Anm. 12), S. 120, der sehr richtig bemerkt, daß auch dies zeige, daß es im Vereinigten Königreich keine einander gleichberechtigten Gewalten, mithin keine echte Gewaltenteilung gebe.

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war auch in dem alten Gleichgewichtsverhältnis zwischen den beiden Gewalten dem Parlament und seinem Recht gegenüber den Gerichten der Vorrang gesichert. Dieser Vorrang bezog sich aber auf eventuelle Konkurrenzen zwischen statute und common law und ist heute praktisch gegenstandslos geworden, weil die Gerichte im Bereich des öffentlichen Rechts ihre rechtsschöpferische Aufgabe kaum noch ausüben. Als Rechtsanwender dagegen, und zwar als Anwender parlamentarischen Rechts, stehen sie offenkundig hinter dem Schöpfer dieses Rechts, dem Parlament zurück. Nicht mehr als gemeinsame Verwalter des Rechts agieren Parlament und Justiz heute, sondern als Träger in der Tat ganz unterschiedlicher Funktionen, was kraft Natur der Sache die Justiz zur Dienerin des Parlaments machen mußte. Diese Zurückstellung, ja völlige Unterwerfung der Gerichte gegenüber dem Parlament, die überdies von den Gerichten selbst mit der größten Eilfertigkeit bestätigt wird, fmdet ihren sprechendsten Ausdruck in einer mechanistisch zu nennenden Vorstellung vom Prozeß richterlicher Rechtsfmdung. Ein strenger Rechtspositivismus, der die Berücksichtigung teleologischer und historischer Parameter verbietet und sich allein am Ideal bestmöglicher Gesetzestreue orientiert, macht den Richter zum Roboter, zum gefügigen Werkzeug des Parlaments, denn der Richter, der bei seiner Entscheidung auch jenseits des Gesetzeswortlauts schaut, ist ein Richter, der die alleinige Herrschaft des Gesetzgebers in Frage stellt. Diese Rollenverteilung läßt sich auch historisch erklären. Waren die Richter in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Hochzeit der Auseinandersetzung mit der Krone gelegentlich durchaus bereit, gegenüber den Gesetzen des Parlaments sogar einen Vorrang ihres Rechts, des common law, zu behaupten, erledigte sich der damit erhobene Anspruch, nachdem der sich darin ausdrückenden Idee durch den Sieg des Parlaments und dessen im weiteren innerhalb des "King-inParliament" erlangten Übergewichts zum Durchbruch verholfen worden war: 29 die Gesetze stellten sich nunmehr nicht mehr dar als Willkürakte eines die Freiheit bedrohenden Despoten, sondern als der legitime Ausdruck des im Parlament dargestellten Volkswillens. 30 Demgegenüber fehlt der britischen Tradition eine nachwirkende Erfahrung, daß das Parlament eine ebensolche Quelle von Willkür zu sein vermag, 31 was notwendigerweise diesem gegenüber eine wesentlich wohlwollendere Einstellung befördern mußte und letztendlich in dem heutigen Verhältnis von Judikative und Exekutive mündete. 32 Lester (Anrn. 10), S. 50. v. Simson (Anrn. 24), S. 856. 31 Einzig am Abschluß des englischen Bürgerkrieges (1646 - 1649) war dieser Gedanke vereinzelt bereits aufgetaucht. Dm zu seinem konsequenten Abschluß zu führen, blieb allerdings den amerikanischen Revolutionären vorbehalten, siehe zu diesen Bezügen Fitzgerald, An English Bill of Rights? in: Georgetown L. J. 70 (1982), S. 1229 ff. (1237 f.). Vorherrschend blieb demgegenüber die Vorstellung, daß das Parlament und nicht die Gerichte der richtige Adressat sei für alle Anstrengungen, Ungerechtigkeiten abzuhelfen, siehe iones (Anrn. 4), S. 30 f. 29

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Allerdings zeigt sich hier auch die Grenze dieses Ansatzes. Denn auch im Vereinigten Königreich weiß man, daß Rechtsanwendung mehr ist als die bloße, gewissermaßen mit mathematischer Unausweichlichkeit erfolgende Operationalisierung einer Regel; jeder sprachliche Ausdruck ist mehrdeutig und verlangt zu seiner Subsumtion eine durch den Rechtsanwender zu leistende Entscheidung. 33 Interpretation und Rechtsschöpfung sind nicht einander scharf gegenüberstehende Gegensätze, sondern bezeichnen graduelle Unterschiede. 34 Politik und Recht lassen sich so nicht scheiden. 35 Welche Nutzanwendung ergibt sich aus alledem für eine Bill of Rights? Nach dem alten Gewaltenteilungsmodell hätte es für eine Verfassungsgerichtsbarkeit ohne weiteres Raum gegeben; eine Bill of Rights würde als Fundus dienen, aus dem die Gerichte neues Recht entwickeln könnten. Das Politisierungsargument hätte nicht greifen können, weil das ,,Politische" im Sinne dieses Einwandes in der alten Gewaltenteilung nicht als Monopol nur einer Gewalt zugeordnet war. ,,Politisch" wird ja hier offenbar gemeint als Synonym für jene Bereiche, die dem Parlament, nicht der Justiz, vorbehalten sein müssen, weil das Parlament gewählt ist, die Richter hingegen nicht. Nach der heute gültigen Aufgabenteilung ist Politik als Synonym von Rechtssetzung gemeint: nur das Parlament soll nach der Ansicht der Gegner einer Bill of Rights hierzu befähigt sein. 36 Gerade diese Prämisse teilte die alte Gewaltenteilung aber nicht, weil sie Parlament und Justiz als gleichermaßen zur Setzung von Recht berechtigt ansah, auch wenn sie dem Recht des Parlaments den höheren Rang einräumte. Eine Bill of Rights und die damit den Gerichten vermittelte Aufgabe rechts schöpferischer Grundrechtsinnovation wäre nichts weniger als eine Bestätigung dieses Systems und seines Ansatzes. Auch wenn die Verhältnisse sich insoweit gewandelt haben, verdient dieses bei der Rechtsgeschichte anknüpfende Ergebnis Beachtung, weil es einmal mehr 32 Ähnlich Zander, Bill of Rights, S. 52 f. Vgl. ferner Dixon, The Law and the Constitution, in: LQR 51 (1935), S. 590 ff. (592), der diese britische Sonderentwicklung mit der des Kontinents vergleicht, und Cappelletti, The Law-Making Power of the Judge and its Limits, in: Monash L. Rev. 8 (1981), S. 15 ff. (27 f.). 33 Siehe hierzu und zur ,,Revolte gegen den Formalismus" Cappelletti (Anm. 32), S. 18 ff., 20 ff.; Scheuner, Fortbildung der Grundrechte durch die Rechtsprechung, in: FS Schlochauer, S. 899 ff. (899 ff.). 34 So exakt der Standpunkt von Cappelletti (Anm. 32), S. 16 f. 35 Was natürlich nicht bedeutet, daß Richter und Gesetzgeber das gleiche sind oder das gleiche tun. Zu einer Abgrenzung der wesensmäßigen Unterschiede, siehe Cappelletti (Anm. 32), S. 42 ff. 36 Dieser Schluß wird gelegentlich mit der Überlegung gestützt, daß die richterliche Entscheidungsfindung auf Unparteilichkeit und Neutralität in Wertfragen beruhe, während vom Politiker gerade umgekehrt möglichst ausgeprägte Überzeugungen erwartet würden; siehe Lloyd 0/ Hampstead (Anm. 4), S. 125 f. Anders dagegen Lester, in: British Institute of Human Rights, European Convention, S. 38, und McCrudden (Anm. 12), S. 128 ff., die beide meinen, die Gerichte würden sehr wohl von ihnen zugewiesenen' Spielräumen Gebrauch machen, würde ihnen nur ein solcher Spielraum gegeben werden.

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5. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (11)

zeigt, daß der mit einer Bill of Rights angestrebte Verfassungsumbau keineswegs diametral allen verfassungsrechtlichen Traditionen widerspricht, wie dies von den Gegnern eines Grundrechtskataloges immer behauptet wird. Für die Gegenwart wird man jedoch nicht umhinkommen, sich an den heute herrschenden Gegebenheiten zu orientieren. Diese haben die Kompetenz zur Rechtssetzung als "politische" Aufgabe praktisch in den Händen des Parlaments monopolisiert. Eine zur Grundrechtsinnovation bevollmächtigte Justiz scheint in einem solchen System in der Tat keinen Platz zu finden. Und doch lohnt es sich, noch etwas genauer die heute gültige Funktionsverteilung zwischen Parlament und Justiz zu betrachten. Das Politisierungsargument behauptet ja, eine Bill of Rights erlaube es den Gerichten, aus der Unterordnung unter das Parlament auszubrechen und damit den im Parlament versammelten Volks willen zu überspielen. Dies ist jedenfalls insoweit richtig, als definitionsgemäß eine gesetzeskontrollierende Verfassungsgerichtsbarkeit in einem gewissen durch den Grundrechtskatalog bestimmten Rahmen den Willen des Parlaments außer Kraft setzt. Freilich muß an diese Feststellung eine wichtige Qualifizierung angebracht werden. Denn nicht das Parlament schlechthin wird durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit entmachtet, sondern die (einfache) Parlamentsmehrheit,37 jedenfalls dann, wenn kein Teil des Grundrechtskataloges überhaupt unveränderbar wäre. 38 Dem verfassungsändernden Gesetzgeber blieben auch verfassungsgerichtlich tätige Richter unterstellt, und zwar in einer doppelten Weise. Zum einen wäre es ja das Parlament selbst, das eine Bill of Rights zu beraten und zu verabschieden hätte; nur bei ihm also liegt es, die darin aufzunehmenden Vorschriften so zu fonnulieren, daß solche einfachgesetzlichen Regelungen, die auch in Zukunft von Verfassung wegen erlaubt sein sollen, durch eine Bill of Rights nicht verboten werden. 39 Zum anderen kann der verfassungsändernde Gesetzgeber aber auch nachträglich Veränderungen an der Bill of Rights vornehmen oder auch bereits rechtskräftige verfassungsgerichtliche Entscheidungen korrigieren. 40 Für ein solches Vorgehen, das in anderen parlamentarisch verfaßten Staaten mit Verfassungsurkunde eher unüblich sein dürfte, gibt es ja gerade im Vereinigten 37 Hierzu siehe v. Simson, Towards a Bill of Rights, in: Schwarze I Vitzthum, Grundrechtsschutz, FS v. Simson, S. 177 ff. (180 ff.). Eben wegen der Parlamentssouveränität mag die Gleichsetzung des Willens der Mehrheit mit dem Willen des Volkes überhaupt besonders naheliegend scheinen; daß das Mehrheitsprinzip selbst durchaus auch einer Rechtfertigung bedarf und keineswegs ohne weiteres aus dem Gedanken der Demokratie folgt (für eine britische Stimme hierzu siehe Finer, Comparative Government, S. 46), wird in der Bill of Rights-Debatte dagegen stets übersehen. 38 Diese Voraussetzung wird von sämtlichen hier zur Diskussion gestellten Modellen erfüllt. 39 Siehe Geisseler, Reformbestrebungen, S. 122 f. 40 Insgesamt weniger überzeugend, aber eben doch auch zutreffend, ist der Hinweis, daß gerade Verfassungsrichter - im Gegensatz oft zu anderen Richtern - unmittelbar von ihrerseits demokratisch legitimierten Institutionen (dem Parlament, dem Premierminister usw.) ernannt werden; siehe hierzu Cappelletti (Anm. 32), S. 53.

§ 21 Die These vom Vorrang der Politik gegenüber dem Recht

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Königreich - allerdings natürlich nur auf der Ebene des nonnalen statute law - eine Reihe von Beispielen. 41 Verfassungsgerichtsbarkeit bedeutet somit keinesfalls, daß eine jeder demokratischen Kontrolle entzogene neue Rechtsquelle eröffnet wird. Gesetzeskontrolle verhält sich vielmehr zur formellen Verfassung und zum Verjassunggeber so wie Vollzugskontrolle zum Gesetz und zum Gesetzgeber. 42 Entgegen der Behauptung, daß eine Verfassungsgerichtsbarkeit eine unerträgliche Verschiebung der Gewichte darstellen würde, wäre damit nur das logische Gegenstück zur Einführung eines Verfassunggebers im Vereinigten Königreich geschaffen und so genau jene Balance zwischen Legislative und Judikative auf einer nonnqulllitativ freilich höheren Ebene kopiert, die auch jetzt bereits in Hinsicht auf das Gesetzesrecht gilt. Dann aber ist nicht die Stellung des Richters in einem solchen Verfassungssystem das eigentliche Problem und auch nicht das Demokratieprinzip, das vielmehr strikt gewahrt bleibt. Außer Kraft gesetzt wird durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit nur ein freilich häufig unkritisch mit dem Demokratieprinzip gleichgesetzter Grundsatz, nämlich die Mehrheitsregel, 43 die doch tatsächlich nur ein Komprorniß ist zwischen den gleichennaßen unabweislichen Bedürfnissen nach Entscheidungsfahigkeit und Entscheidungsakzeptanz. Es bleibt damit die Frage, warum von diesem in Gestalt der Mehrheitsregel gefundenen und zweifellos höchst sinnvollen Komprorniß im Bereich der Menschenrechte abgegangen werden sollte. Diesem Problem soll im abschließenden Abschnitt nachgegangen werden.

§ 21 Die These vom Vorrang der Politik

gegenüber dem Recht

1. Verfassungsrecht und Politik Den Gegnern einer Bill of Rights bleibt ein letztes Argument; wahrscheinlich ist es ihr stärkstes und dasjenige, das am schwersten zu entkräften sein wird. Siehe oben die Burmah-Entscheidung, § 4 Anm. 119. Aus der Sicht des Juristen unergiebig ist dagegen die Überlegung von Ratner, The Function of a Bill ofRights in Israel and the United States, in: AJCL 26 (1978), S. 373 ff. (383 f.): ,.A judicially-enforced written constitution is thus a procedurallimitation imposed by the majority on itself and therefore subject ultimately to change by a bare majority, if necessary through revolution ..." Das ist zwar richtig, aber wegen der Rekurrierung auf einen metajuristischen Vorgang eben keine im Recht begründete Rechtfertigung. 43 Auch durchaus bei britischen Autoren fmdet sich dieser entscheidende, Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit verbindende Gedanke: daß nämlich die gerichtliche Normenkontrolle nur das Mehrheitsprinzip, nicht die Demokratie beschneidet. Siehe Lester, Democracy and Individual Rights, S. 1 ff. mit Verweisen auf lohn Stuart Mill und Harold Laski. Anders dagegen Wallington / McBride, Civil Liberties, S. 14 f. Siehe hierzu allgemein Müller, Fundamental Rights in Democracy, in: HRLJ 4 (1983), S. 131 ff. (135 f.); Cappelletti (Anm. 32), S. 58. Zur Mehrheitsregel allgemein Eisel, Plädoyer für die Mehrheitsregel, in: ZParl 16 (1985), S. 576 ff. 41

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5. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (II)

Wenn alles gesagt ist über Parlamentssouveränität und Gewaltenteilung, über Grundrechte und deren bestmögliche Absicherung bleibt die Frage, was denn überhaupt das Recht gegen einen menschenrechtsindifferenten oder gar menschenrechtsfeindlichen Staat vermöchte. Die in dieser Frage sich andeutende Ansicht ist in verschiedenen Variationen im Laufe der Debatte um einen Grundrechtskatalog vertreten worden. In ihrer wohl polemischsten Form findet sie sich bei jenen Autoren, die etwa mit einem Verweis auf die Machtübernahme Adolf Ritlers belegen wollen, daß auch ein Grundrechtskatalog letztlich eine menschenverachtende Diktatur nicht verhindern könne. 44 Aber auch die sich im Vereinigten Königreich großer Beliebtheit erfreuende Feststellung, daß das Land auch ohne Bill of Rights offenkundig und unbestreitbar in praxi seinen Bürgern weitaus mehr Menschenrechte habe sichern können als die überwiegende Mehrheit der Staaten, beruht auf der Prämisse, daß letztendlich nicht das Recht, sondern die tatsächlich obwaltenden politischen Verhältnisse über das Maß der real genossenen Freiheiten entscheiden. Weil die Politik gegenüber dem Recht den Vorrang habe, sich die Politik gegenüber dem Recht allemal durchsetze,45 könne eine Bill of Rights nie mehr Freiheit schaffen, als die Staatsorgane ohnehin auf Grund eines entsprechenden politisch gefaßten Vorsatzes zuzugestehen bereit seien: das ist die hier aufgestellte These. Die Implikationen dieser Meinung sind weitreichend. Nichts weniger wird hier behauptet als die Ungeeignetheit des Instruments des Grundrechtskatalogs für die Zwecke des Menschenrechtsschutzes. 46 Zur Widerlegung dieser These genügt es eigentlich, einfach auf die Erfahrungen all jener Staaten hinzuweisen, die seit Jahrzehnten bereits mit einem formell-verfassungsrechtlich abgesicherten Grundrechtskatalog leben; unbestreitbar und unbestritten sind die freiheitsstiftenden Leistungen der Verfassungsgerichtsbarkeit dieser Länder. Im übrigen muß man aber auch bezweifeln, daß sich den Erfahrungen mit der Auflösung der 44 Siehe z. B. Yardley, Constitutional Reform in the UK, in: Current Legal Problems 33 (1980), S. 147 ff. (163). - In nur wenig gemilderter Form fmdet sich diese Ansicht sogar bei Autoren, die sich grundsätzlich für eine Bill of Rights ausgesprochen haben, siehe Lester, Democracy and Individual Rights, S. 13; Zander, Bill of Rights, S.40; Brown (Anm. 2), S. 85. 45 So etwa Yardley, Modem Constitutional Developments, in: PL 1975, S. 197 ff. (212). Genau diese Prämisse liegt auch der Parlamentssouveränität zu Grunde, siehe Iones (Anm. 4), S. 30 f. 46 Z. B. Ezejiojor, Human Rights, S. 157: " ... the question should turn on whether human rights would be better protected by a Bill of Rights than under the law as it is as present: and there is no ground for an affirmative reply to this question." Oder Lord Lloyd oj Hampstead, Controversy Regarding a Bill of Rights, in: Israel YB Human Rights 10 (1980), S. 347 ff. (352) mit einer anderen Variante des gleichen Ansatzes: "either it [a Bill of Rights] contains something which is already law, in which case all we have is two laws dealing with the same thing, ... or, it is in such general terms that it is impossible to say what effect it would have." Oder Miller, A Bill of Rights? in: Political Q. 47 (1976), S. 137 ff. (148): "The people of no nation ... are going to be saved from their follies ... by a written Bill of Rights or by a group of lawyers sitting on a tribunal ... "

§ 21 Die These vom Vorrang der Politik gegenüber dem Recht

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Weimarer Republik irgendetwas von Relevanz für das Vereinigte Königreich entnehmen läßt. Nicht die Machtergreifung eines Hitler gilt es im Vereinigten Königreich abzuwehren, sondern einem in Hinsicht auf den Grundrechtsstandard relativ zu anderen Staaten sicherlich ohnehin gut dastehenden Verfassungs system mögliche und notwendige Verbesserungen hinzuzufügen. Hinweise auf den Nationalsozialismus sind daher für die heutigen britischen Verhältnisse völlig unergiebig. 47 Wenn andererseits die menschemechtlichen Leistungen des Vereinigten Königreichs im Verhältnis zu allen anderen Staaten betont werden, so ist auch damit nicht viel gewonnen, und zwar weil hier eine im Grunde unzulässige Vergleichsgruppe bemüht wird. Leider ist der weltweit "durchschnittlich" von den Menschen genossene Grundrechtsstandard in der Tat nach wie vor erschreckend niedrig; allein die zahlenmäßig wenigen parlamentarisch-demokratisch organisierten Industriestaaten heben sich von diesem düsteren Bild ab, so daß das Vereinigte Königreich, einfach wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, mühelos einen nach weltweiten Maßstäben gemessen relativ hohen Rang einnehmen kann. Nicht an der Gesamtheit aller Staaten sollte das Vereinigte Königreich sich indes ausrichten, sondern allein an jenen wenigen Staaten, die eine ähnliche verfassungsrechtliche Grundstruktur aufweisen. Beurteilt man das Vereinigte Königreich aber nach dieser Bezugsgröße, erweist es sich als eher (relativ) wenig leistungsfahig. Richtig bleibt indes, daß Grundrechtskatalog und Verfassungsgerichtsbarkeit dann versagen müssen, wenn die Verfassungsorgane den Menschemechten gegenüber konsequent feindlich eingestellt sind. Der Erfolg jeder Art von Grundrechtsschutz, gleich ob politisch oder rechtlich, hängt also zunächst einmal davon ab, daß alle mit Staatsgewalt ausgerüsteten Institutionen, besonders aber Gesetzgeber und Richter, eine grundsätzliche Entscheidung zugunsten eines möglichst grundrechtsfreundlichen Verhaltens getroffen haben. 48 Die britische Verfassungspraxis zeigt, daß für das Vereinigte Königreich diese Entscheidung als getroffen gelten kann; wenn sie nicht immer zureichend zum Tragen kommt, so sind hierfür vor allem die im 3. Kapitel aufgezeigten institutionellen Mängel verantwortlich zu machen. Nicht den menschenverschlingenden Umechtsstaat abzuwehren kann 47 Dabei sei nur am Rande vermerkt, daß auch und sogar gegenüber dem Totalitarismus ein Grundrechtskatalog durchaus einen wichtigen Zweck erfüllen kann; denn in einem System wie dem britischen ist tatsächlich eine völlig legale Machtergreifung a la 1933 möglich, während die Existenz eines Grundrechtskataloges mit Verfassungsgerichtsbarkeit die Diktatur zwingt, diese - rechtswidrig - außer Kraft zu setzen und damit ein wichtiges Alarmzeichen auszulösen. ,,Auch der Richterspruch, und nicht nur das Gesetz selbst, müßte mißachtet werden. Damit wäre nicht nur eine Einzelmaßnahme . . . in Frage gestellt, sondern das ganze System von ,lawand order' ... Diese Verschränkung des vielleicht ... unbedeutend Erscheinenden mit dem dadurch bedrohten Prinzipiellen ist der eigentliche Sinn ... einer Bill ofRights." So sehr klar v. Simson (Anm. 24), S. 865. 48 So auch Legislation on Human Rights, § 2.03; Jones (Anm. 4), S. 39; Jolowicz, Judicial Protection of Fundamental Rights, S. 45 f.

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5. Kap.: Für und Wider einer Bill of Rights: Eine Analyse (11)

daher der Zweck einer Bill of Rights sein, sondern eine an sich durchaus passable menschenrechtliche Leistung durch geeignete institutionelle Vorkehrungen weiter zu verbessern, 49 oder anders gesagt, es geht darum, den zweifellos vorhandenen guten Willen in die Lage zu versetzen, gute Taten zu tun. Neben all dem, was zur Wirkungsweise einer Bill of Rights bereits gesagt wurde, läßt sich auf dem geschilderten allgemein-politischen Hintergrund noch auf ein weiteres verweisen. So ist den Kritikern einer Bill of Rights zwar recht zu geben, daß mit den "offenen", in hohem Maße interpretationsbedürftigen Vorschriften eines Grundrechtskataloges nicht unbedingt ein höheres Maß an Rechtssicherheit, genauer: Grundrechtssicherheit einhergehen muß. Entgegen der bei Laien anzutreffenden Vorstellung von der vermeintlichen Objektivität des Rechts, vermöge welcher sich mit mechanischer Unbeirrbarkeit für jeden Sachverhalt eine zwingend vorgegebene Rechtsfolge ermitteln lassen soll, ist gerade bei judizieller Auslegung von Grundrechten dem anwendenden Richter ein Spielraum gelassen, der kaum weniger groß sein dürfte als der des Parlamentariers, der ohne Anleitung durch einen Grundrechtskatalog über die Freiheitsverträglichkeit eines bestimmten in Rede stehenden Gesetzesvorhabens zu befmden hat. Das ändert aber nichts daran, daß mit der Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit es nunmehr zwei Institutionen sind, die den Menschenrechtsschutz in seinen verschiedenen Funktionen wahrnehmen: nämlich Parlament und Gerichte. Zwar können sich diese beiden Instanzen in ihren Bemühungen auch durchaus blockieren. so In diesem Zusammenhang kann man etwa an den amerikanischen Supreme Court der 30er Jahre denken, der sich hartnäckig gegen die von Präsident Roosevelt veranlaßte Sozialgesetzgebung wehrte; hier zeigt sich das schon eingangs im ersten Kapitel erwähnte Problem, daß ein Grundrechtskatalog wegen der Notwendigkeit, Grundrechte gegeneinander abzuwägen und abzugrenzen, durchaus auch gegen Grundrechte verwandt werden kann. SI Insgesamt bleiben solche Fälle aber die Ausnahme. 52 Weil derartig dramatische Vorkommnisse in besonderem Maße die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen mit der Gefahr entsprechend heftiger Reaktionen, werden beide Seiten, Parlament ebenso wie Verfassungsgerichtsbarkeit, einem solchen Konflikt aus dem Wege gehen. Brown (Anm. 2), S. 85. so Dieser Gesichtspunkt vor allem ist maßgeblich für die sehr zurückhaltende Beurtei-

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lung, der dem Plan einer britischen Bill of Rights von Dahrendor[ (Anm. 28), S. 6 f., 10, 13 entgegengebracht wird. SI Diese Befürchtung fmdet sich insbesondere bei politisch links stehenden Autoren, siehe Lester, Democracy and Individual Rights, S. 15; Duncanson, Baloonists, Bill of Rights and Dinosaurs, in: PL 1978, S. 391 ff. (397 f.); Levenson, Some Reflections on Civil Liberty in the English Legal System, in: Law Teacher 12 (1978), S. 142 ff. (154); dazu auch Zander, Bill of Rights, S. 48 mit weiteren Belegen; Riedel (Anm. 2), S. 46 f. Dahrendor[ (Anm. 28), S. 14 meint, neben "elective despotism" im Vereinigten Königreich gebe es auch ,judicial despotism" in Deutschland und den USA. 52 Hienu allgemein, siehe Müller (Anm. 43), S. 137 ff.

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Daß es überhaupt zu einem solchen Konflikt mit den davon ausgehenden abschreckenden Wirkungen kommt, ist übrigens auch eigentlich wieder ein Verdienst und kein Nachteil eines Grundrechtskataloges, ohne den das Parlament wie im Vereinigten Königreich unbemerkt und somit sanktionslos seine möglicherweise grundrechtswidrigen Absichten durchsetzen könnte. Es bleibt somit dabei, daß die Bemühungen der Verfassungsgerichtsbarkeit um einen optimalen Grundrechtsschutz sich addieren lassen zu dem, was das Parlament in gleicher Sache unternimmt, mit der logisch zwingenden Konsequenz, daß durch das kumulative Zusammenwirken beider Gewalten ein größeres Maß an Bürgerfreiheit geschaffen werden kann als nur durch eine der beiden Gewalten. 53 Die Behauptung, Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechtskataloge könnten nicht mehr für die Grundrechte tun, als allein die Politik zu Wege bringt, sollte damit widerlegt sein. 2. Die Entscheidung über die Einführung einer Bill of Rights als Dezision Mit dieser im Vorstehenden behandelten Position erschöpft sich die These vom Vorrang der Politik gegenüber dem Recht indes nicht. Daß es durch Bill of Rights und Verfassungsgerichtsbarkeit möglich ist, den Menschenrechtsschutz zu optimieren, schließt ja keineswegs den Nachweis ein, daß Bill of Rights und Verfassungsgerichtsbarkeit auch nötig sind. Schon in dem Abschnitt über die institutionellen Vorkehrungen zur Sicherung der Grundrechtsinnovation wurde auf die offensichtliche Tatsache hingewiesen, daß sich jedes Nachdenken über alle Arten von verfahrensmäßiger Absicherung der Grundrechte erübrigt, wenn der mit solchen Vorkehrungen angestrebte Zustand ohnehin schon besteht. Grundrechtsschutz ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, das überflüssig wird, wenn sein Zweck auf anderem Wege bereits erreicht wurde. Wenn also über die menschenrechtlichen Qualitäten des britischen Verfassungssystems zu urteilen ist, so hat dabei allein Ausschlag zu geben, wie es um den tatsächlich gewährten Grundrechtsstandard steht; Betrachtungen zu den institutionellen Voraussetzungen der Verfassung, die ursächlich sind für Ausmaß und Höhe des Grundrechtsstandards, haben demgegenüber nur eine sekundäre oder erklärende Bedeutung. Umgekehrt folgt aus dieser Erkenntnis, daß eventuelle Defizite des Grundrechtsstandards keineswegs durch einen Grundrechtskatalog beseitigt werden müssen, solange sie nur überhaupt beseitigt werden. An dieser Stelle nun können diejenigen ansetzen, die eine Bill of Rights ablehnen. Da es für den Menschenrechtsschutz am Ende immer nur darauf ankommt, den Bürgern einen möglichst hohen Grundrechtsstandard zu sichern, könnten die bestehenden Mängel ebensogut politisch beseitigt werden, statt sich 53

So im Ergebnis auch Dahrendor[ (Anm. 28), S. 15.

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auf die ungewissen Auswirkungen eines Grundrechtskataloges zu verlassen. In seiner Beschränkung auf das Staatsorganisationsrecht bietet die britische Verfassung ideale Voraussetzungen für das Herbeiführen von Entscheidungen; eben weil es keinen Grundrechtsschutz von Verfassung wegen gibt, gibt es auch nichts, was einer Entscheidung des dafür zuständigen Organs, rechtlich des Parlaments, praktisch der Regierung, im Wege stünde, es sei denn politische Widerstände. Dann aber steht es den Briten und deren Vertreter, dem britischen Parlament, auch ohne Grundrechtskatalog gänzlich frei, durch die Verabschiedung der notwendigen Gesetze allen Mängeln im britischen Grundrechtsschutz abzuhelfen und eine Bill ofRights damit überflüssig zu machen. 54 Sofern von diesen Möglichkeiten aber kein Gebrauch gemacht wird, kann der Grund hierfür nur darin zu suchen sein, daß die vermeintlichen menschemechtlichen Defizite offenbar nicht als solche empfunden werden, entsprechende Rechtsänderungen also gar nicht gewünscht werden. Angesichts dieses Tatbestandes muß es aber demokratische Pflicht sein, die sich darin ausdrückende Meinung des Volkes zu respektieren und sie nicht auf dem Umweg über einen Grundrechtskatalog auszuhebeln. Da der politische Prozeß im Vereinigten Königreich offenbar ungehemmt von staatliehen oder anderen Eingriffen ablaufen kann, erübrigen sich rechtliche Vorkehrungen zum Grundrechtsschutz. Pointiert zusammengefaßt: entweder kann die Politik auch ohne die Hilfe des Verfassungsrechts Grundrechtsschutz gewährleisten, dann bedarf es dieses Verfassungsrechts nicht, oder aber der politische Prozeß zeigt, daß eine bestimmte Schutzmaßnahme nicht gewollt wird, dann wäre es undemokratisch, sie über das Verfassungsrecht herbeizuzwingen. 55 Damit ist auch wieder eine Brücke geschlagen zu der am Ende des letzten Abschnittes stehen gelassenen Frage nach der Rechtfertigung formell-verfassungsrechtlicher Grundrechtskataloge unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips. Es sei deutlich gesagt, daß dieser Gedankengang nur in einem begrenzten Sinne widerlegt (oder bewiesen) werden kann. Klar wird hier endgültig das nur verfassungspolitische oder gar verfassungsjuristische Terrain verlassen; letztendlich können es daher nur bei einer Entscheidung zu berücksichtigende Gesichtspunkte sein, die im folgenden dargelegt werden, nicht aber zwingende Argumente: 54 So etwa Lloyd 0/ Hampstead, Do We Need a Bill of Rights? in: MLR 39 (1976), S. 121 ff. (125, 128). Knapp formuliert Milne (Anrn. 7), S. 395 diese Position so: ,.... in the United Kingdom when a Bill of Rights is necessary it won't work and when it will work it is not necessary." Ähnlich MitchelI, Constitutional Law, S. 12: ,. ... the protection given to the so-called fundamentalliberties by a written constitution can be overemphasised ... any civilised system of law may well reach broadly similar results irrespective of constitutional forms." Weniger klar, aber in die gleiche Richtung weist Lord Boston 0/ Faversham, Arguments Against a Bill of Rights, in: Campbell, Do We Need a Bill of Rights? S. 23 ff. (35). 55 Genau diese Vorstellung lag übrigens - u. a. - der Ablehnung eines Verfassungsgerichts bereits im Frankreich von ·1789 zu Grunde; siehe Cappelletti (Anrn. 14), S. 3; Favoreu, Actualite et legitimite du contröle juridictionnel des lois, in: rev. du droit public 1984, S. 1147 ff. (1174 f.).

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insoweit verlangt die Debatte um die Bill of Rights eine Dezision im Sinne earl Schmitts. 56 Gibt es also Gründe, welche für eine Bill of Rights sprechen, auch wenn gegebenenfalls vorhandene Defizite des Grundrechtsstandards auf herkömmlichen Wegen beseitigt werden könnten? Betrachtet man nur etwa die Tradition französischer Menschenrechtserklärungen bis in die jüngste Vergangenheit, so scheint es in der Tat keineswegs nur praktische Erwägungen zu geben, die in der Vergangenheit die Niederlegung von Menschen- und Grundrechten in einem geschlossenen Dokument veraniaßt haben. Denn wie bei vielen anderen Grundrechtskatalogen insbesondere des vorigen Jahrhunderts waren die französischen Menschenrechte vor Gerichten nicht einklagbar; 57 folglich konnte eine unmittelbare rechtliche Wirkung mit derartigen Menschenrechtserklärungen weder hergestellt werden noch beabsichtigt sein. Grundrechte erfüllen aber auch eine staatsintegrative oder ideologische Funktion, die sich besonders deutlich an den beiden großen Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts in Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika ablesen läßt. Die damals geschaffenen Menschenrechtserklärungen legten die Legitimationsbasis, mit der durch die damit vollzogene Abwendung vom absolutistischen Staat eine ganz neue Staatlichkeit konstituiert wurde. Damit sind Grundrechtskataloge, jedenfalls soweit sie den menschenrechtlichen Wertebestand zum Gegenstand haben, auch ein Gegenentwurf zur gegenwärtig vorgefundenen Staatswirklichkeit, dem sich ständig weitestmöglich anzunähern die Aufgabe zukünftiger Politik sein muß. Menschenrechtserklärungen schaffen somit eine unverwechselbare Identität, ein Vorgang, der besonders bei den jungen Staatsgründungen der Dritten Welt wieder zu beobachten ist. 58 Daß auch für das Vereinigte Königreich mit solchen Wirkungen gerechnet werden kann, muß allerdings in Frage gestellt werden. 59 Ohne Zweifel ist langfri56 So auch schon anläßlich des Beitritts zur EG, Petersmann, Souveränität des Britischen Parlaments, S. 316 ff.; ähnlich Geisseler, Reformbestrebungen, S. 119. 57 Siehe oben § 5, Anm. 163. 58 "Integration als grundlegenden Lebensvorgang des Staates" und als wesentliche Funktion des Staates herauszuarbeiten ist der Grundansatz der Verfassungslehre Rudolf Smends; siehe dessen Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136 ff. Smend wendet diesen Gedanken konsequent auf die Grundrechte an, durch die "allgemeinere Werte national positiviert" werden und so "den Angehörigen [der] Staatsnation etwas [geben], einen materiellen Status, durch den sie sachlich ein Volk, untereinander und im Gegensatz gegen andere, sein sollen" (a. a. S., S. 264 und allgemein S. 262 ff.). Die Geeignetheit eines bestimmten konkreten Grundrechtskataloges und - wie man wohl hinzufügen muß - auch die Geeignetheit einer bestimmten Methode der Grundrechtssicherung erweist sich somit auch an der ihr unter den jeweiligen spezifischen historischen Umständen möglichen integrierenden Kraft. 59 Auf dem Hintergrund der seinerzeit diskutierten Devolution für Schottland und Wales meint Lester (Anm. 10), S. 53 ff., daß eine Bill of Rights helfen könne, im Bereich der Grundrechte Rechtseinheitlichkeit zu bewahren ähnlich wie die berühmte "commer-

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stig mit gewissen edukatorischen Effekten zu rechnen: eine Bill of Rights würde gewißlich das Grundrechtsbewußtsein der Briten schärfen, 60 und damit den grundrechtsinnovativen Druck auf Parlament und Gerichte verstärken. Zuzugestehen ist allerdings, daß ähnliche Folgen vermutlich auch ohne Bill of Rights mit einer Human Rights Commission herbeigeführt werden könnten. Wie auch immer: über solche edukatorischen Wirkungen hinaus kann eine Bill of Rights im Vereinigten Königreich eine staatsintegrative Wirkung kaum entfalten. Das Vereinigte Königreich hat ja nicht zuwenig staatliche Identität, im Gegenteil wird man kaum einen ähnlich traditionsreichen Staat finden. Diese Traditionen aber sind untrennbar mit einer im Vergleich zum Kontinent und zur ganzen Welt als Sonderweg zu bezeichnenden Verfassungsentwicklung des Vereinigten Königreichs verknüpft. Dieser Sonderweg wiederum resultiert vor allem aus der Parlamentssouveränität, d. h. gerade aus dem Fehlen eines Grundrechtskataloges. Die Einführung einer Bill of Rights wäre aus der Sicht der Briten daher nichts weniger als die Aufgabe dieses britischen Sonderwegs. 61 Nicht mehr, sondern weniger Identität und Staatsintegration zöge eine Bill of Rights also nach sich. Daß diese Annahme keineswegs bloße Spekulation ist, zeigt das von manchen Gegnern einer Bill ofRights verwendete Vokabular, etwa wenn ein Grundrechtskatalog als "unbritisch" oder "unenglisch" apostrophiert wird. Solche pejorativ gemeinten Qualifizierungen bleiben als Sachaussagen unverständlich; sie verraten aber eine sehr tiefsitzende, gefühlsmäßige Ablehnung, die häufig sehr viel schwerer wiegt als bloße verfassungsrechtliche Vorbehalte. Der Gesichtspunkt der Staatsintegration spricht somit eher gegen, nicht für eine Bill of Rights. 62 Überhaupt aber können Menschenrechtserklärungen in verfassungsrechtlich entwikkelten Staaten nicht annähernd mehr jenes Pathos mobilisieren, wie seinerzeit im 18. Jahrhundert; die kanadische Charter 0/ Rights and Freedoms von 1982 ist hierfür ein gutes Beispiel. Eine Bill of Rights dient allerdings nicht nur instrumental der Durchsetzung von Grundrechten. Vielmehr ist die Entscheidung für eine Bill of Rights selbst cial clause" der ~~rikanischen Verfassung. Mit dem Scheitern der Devolutionsvorhaben dürfte sich diese Uberlegung (vorerst) erledigt haben. 60 Auch dies ist ein immer wieder angeführtes Argument für eine Bill of Rights; siehe etwa Wilberjorce, Need for a Constitution in the UK, in: Israel L. Rev. 14 (1979), S. 269 ff. (278 f.); Riedel (Anm. 2), S. 41, 48; Iones (Anm. 4), S. 39; Iolowicz, Judicial Protection of Fundamental Rights, S. 46, meint sogar, die erzieherische Wirkung einer Bill of Rights sei der wichtigste zu erwartende Effekt überhaupt. 61 Zu diesem britischen Sonderweg, der auf das engste mit dem Fehlen einer Bill of Rights verknüpft ist, siehe Iones (Anm. 4), S. 28 ff. 62 Gleichwohl möchte man den Briten folgende Erkenntnis des großen amerikanischen Richters Oliver WendeIl Holmes entgegenhalten: "The law, so far as it depends on learning, is indeed ... the government of the living by the dead. To a very considerable extent no doubt it is inevitable that the living should be so governed ... But the present has a right to govern itself so far as it can, and it ought always to be remembered that historie continuity with the past is not a duty, it is only a necessity." (Hervorhebung vom Verf.; Collected Legal Papers, S. 138)

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die Erfüllung eines Grundrechts. 63 Mit einem durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit geschützten formell-verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalog wird die alleinige Entscheidungsbefugnis über menschenrechtliche Fragen dem politischen Bereich entzogen und zwischen diesem und der Dritten Gewalt aufgeteilt. Die Verrechtlichung der Menschenrechte soll Berechenbarkeit schaffen und zugleich vermöge der Eigenart des judiziellen Entscheidungsverfahrens dem betroffenen Bürger die Möglichkeit einräumen, vor denjenigen, die über sein Anliegen zu befinden haben, seine Ansichten und Gründe selbst vorzutragen. Die Bill of Rights entspräche also einer Forderung nach formeller und materieller Rechtssicherheit; insoweit kommt ihr grundrechtliche Eigenständigkeit zu. Auch wenn es für einen Grundrechtskatalog indirekt in seiner instrumentellen Funktion also tatsächlich nichts zu tun gäbe, so bliebe doch wenigstens ein Gewinn an Rechtssicherheit.

Freilich mag es vielen kaum wert sein, um dieses vielleicht nur schmalen Vorteils willen dem britischen Verfassungssystem die zweifelsohne erheblichen Mühen aufzuladen, die die Einführung einer Bill of Rights bedeuten. Folgt man der Ansicht, daß nichts von dem, was von einer Bill ofRights für den Grundrechtsstandard getan werden könnte, nicht auch innerhalb der derzeitigen Verfassungsordnung bewirkt werden könnte, so wäre also in der Tat eine Bill of Rights überflüssig, und man täte besser daran, ganz konkret jene Regelungsbereiche zu benennen, die in grundrechtlicher Hinsicht unzureichend sind. Zweifelsohne entspräche dies auch genau der von vielen britischen Juristen bevorzugten Verfahrensweise. Gibt es also nichts, was die These widerlegen könnte, daß eine verfassungsrechtliche Fundierung von Grundrechten sich erübrigt? Mit dieser Ansicht wird auf das Prinzip Vertrauen gesetzt: Vertrauen darauf, daß sich durch einen ungestört verlaufenden politischen Prozeß genau jenes einstellen wird, das durch Verfassungsrecht mühsam erst herbeigezwungen werden müßte. Mit dieser Prämisse aber läßt sich nicht nur das (formelle) Verfassungsrecht widerlegen, sondern überhaupt jedes Recht, ja sogar der Staat als Ganzes. Begreift man mit Schopenhauer den Staat konsequent als "bloße Schutzanstalt" ... gegen äußere Angriffe des Ganzen und innere der Einzelnen unter einander"64, so folgt hieraus ... daß die Nothwendigkeit des Staats, im letzten Grunde, auf der anerkannten Ungerechtigkeit des Menschengeschlechts beruht: ohne diese würde an keinen Staat gedacht werden; ... (denn) wenn auf der Welt Gerechtigkeit herrschte, wäre es hinreichend, sein Haus gebaut zu haben, und es bedürfte keines anderen Schutzes, als dieses offenbaren Eigenthumsrechts. 65

63 So die zentrale These bei Müller (Anm. 43), S. 134 f., 136 f. 64 Die Welt als Wille und Vorstellung, Kap. 47, S. 696; Zur Rechtslehre und Politik, § 123, S. 263. 65 Zur Rechtslehre und Politik, § 123 f., S. 263.

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Das Recht, jedenfalls das mit staatlicher Zwangsgewalt bewehrte positive Recht, kann nur dann Sinn machen, wenn als anthropologische Prämisse vorausgesetzt wird, daß der Mensch spontan, d. h. ohne durch das Recht vermittelten Zwang, nur allzu selten sich bereit finden wird, seinem Mitmenschen das zu geben, was zu geben er ihm schuldet. Diese Prämisse bestreiten zu wollen, scheint sclllechterdings unmöglich angesichts der schier überwältigenden Fülle von empirischen Nachweisen für die Verletzung der Gebote der Menschenwürde durch den Menschen, besonders wenn dieser mit staatlich gewährter Arntsautorität auftritt. Wer diese Einsicht nicht teilt, der mag dann tatsächlich auf Grundrechte verzichten; genauso kann er dann aber das gesamte öffentliche Recht, überhaupt das Recht, aufs Altenteil setzen. Mindestens muß er angeben, was es ist, das eine spontane Befolgung der Grundrechte sichert, nicht aber die ebenso spontane Achtung etwa fremden Eigentumsrechts. Derjenige, der es lieber mit dem Grundsatz hält, daß jede Macht durch Gegenrnacht begrenzt und kontrolliert werden muß, wird dagegen einen Grundrechtskatalog begrüßen als eine ständige Mahnung, die der Verpflichtung aller staatlichen Organe zum Schutz und Ausbau der Menschenrechte Stetigkeit gibt und verhindert, daß diese zwar ständig im Munde geführt, aber sehr viel seltener in die Tat umgesetzt werden. Denn obwohl Grundsätze und abstrakte Erkenntniß überhaupt keineswegs die Urquelle, oder die erste Grundlage der Moralität sind; so sind sie doch zu einem moralischen Lebenswandel unentbehrlich, als das Behältniß, das Reservoir, in welchem die aus der Quelle aller Moralität, als welche nicht in jedem Augenblicke fließt, entsprungene Gesinnung aufbewahrt wird, um, wenn der Fall der Anwendung kommt, durch Ableitungskanäle dahin zu fließen. 66

66

Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral, § 17, S. 254.

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