Zur Bedeutung von Wohltaten für das Gedeihen von Gemeinschaft: Cicero, Seneca und Laktanz über "beneficia" 3515118578, 9783515118576

Senecas Schrift "De beneficiis" ist einzigartig in der uns überlieferten Literatur der griechisch-römischen An

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Zur Bedeutung von Wohltaten für das Gedeihen von Gemeinschaft: Cicero, Seneca und Laktanz über "beneficia"
 3515118578, 9783515118576

Table of contents :
INHALT
VORWORT
EINLEITUNG
FRAGESTELLUNG
UNTERSUCHUNGSGANG
VORÜBERLEGUNGEN
Zu den lateinischen Begriffen
Zur stoischen Ethik
Zum Patronagesystem
Das beneficium als Gabe und Mitteilung
CICERO, DE OFFICIIS
FORSCHUNGSSTAND
AUSRICHTUNG UND PERSPEKTIVE
BEHANDLUNG DER BENEFICENTIA IN DE OFFICIIS
WOHLTATEN UND GEMEINSCHAFTLICHES GEDEIHEN
natura und honestum: Grundlegung der beneficentia
Sed habet multas cautiones: Beneficentia und suum cuique
In universorum animos tamquam influere: beneficentia und utile
Aut opera aut pecunia: Wohltaten der Führungsschicht
Suum cuique tribuere: Schuld als Bindemittel
ZUSAMMENFASSUNG
SENECA, DE BENEFICIIS
FORSCHUNGSSTAND
AUSRICHTUNG UND PERSPEKTIVE
STRUKTUR
WOHLTATEN UND GEMEINSCHAFTLICHES GEDEIHEN
Danda lex vitae: Thematische Grundlegung
Docendi sunt libenter dare, libenter accipere, libenter reddere: Anleitungen für Wohltäter und Empfänger
Res per se expetendae: Stoische Verankerung von beneficium und gratia
Pares animo, inpares fortuna: Beneficium und societas
Hanc materiam consummari decet: Senecas Fazit am Werkende
ZUSAMMENFASSUNG
LAKTANZ, DIVINAE INSTITUTIONES
FORSCHUNGSSTAND
AUSRICHTUNG UND PERSPEKTIVE
STRUKTUR
WOHLTATEN UND GEMEINSCHAFTLICHES GEDEIHEN
Tam liberales fuisse homines: Bedingung und Kennzeichen harmonischer Gemeinschaft
Omnibus immortalitatem spopondit: Perspektive wohltätigen Handelns
Quod homini tribueris, deo tribuitur: Christliche Verankerung der beneficentia
Notionem veritatis munus summ fecit: Beneficentia und Beziehungsstiftung
ZUSAMMENFASSUNG
FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS

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Antje Junghanß

Zur Bedeutung von Wohltaten für das Gedeihen von Gemeinschaft Cicero, Seneca und Laktanz über beneficia Klassische Philologie Franz Steiner Verlag

Palingenesia 109

Antje Junghanß Zur Bedeutung von Wohltaten für das Gedeihen von Gemeinschaft

PALINGENESIA Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft Begründet von Rudolf Stark Herausgegeben von ChrIStoPh SChubErt Band 109

Antje Junghanß

Zur Bedeutung von Wohltaten für das Gedeihen von Gemeinschaft Cicero, Seneca und Laktanz über beneficia

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Warburg-Melchior-Olearius-Stiftung

Coverabbildung: Phönix in einem Mosaik aus Antiochia am Orontes, jetzt im Louvre. Fondation Eugène Piot, Monuments et Mémoires, publ. par l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 36, 1938, 100. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11857-6 (Print) ISBN 978-3-515-11858-3 (E-Book)

- Schreibst du ein Buch? - Ja. - Eine Geschichte! - Nein. - Aber es sind Bilder drin? - Nein, auch nicht. - Wie langweilig!

Und dennoch: Meinem Mann und unseren Kindern

INHALT VORWORT .................................................................................................... 11 EINLEITUNG ............................................................................................... 13 Fragestellung .............................................................................................. 13 Untersuchungsgang .................................................................................... 17 Vorüberlegungen ........................................................................................ 18 Zu den lateinischen Begriffen ............................................................ 18 Zur stoischen Ethik ........................................................................... 22 Zum Patronagesystem ........................................................................ 27 Zum beneficium als Gabe und Mitteilung ......................................... 30 CICERO, DE OFFICIIS ................................................................................. 35 Forschungsstand ......................................................................................... 35 Ausrichtung und Perspektive ..................................................................... 39 Behandlung der beneficentia in De officiis ................................................ 43 Wohltaten und gemeinschaftliches Gedeihen ............................................ 44 Natura und honestum: Grundlegung der beneficentia ....................... 44 off. 1,11–1,15 .......................................................................... 44 off. 1,20–1.22 .......................................................................... 47 off. 3,21–3,32 .......................................................................... 51 Sed habet multas cautiones: beneficentia und suum cuique ............. 56 off. 1,42–1,49 .......................................................................... 56 off. 1,50–1,59 .......................................................................... 62 off. 1,93–1,124 ........................................................................ 71 In universorum animos tamquam influere: beneficentia und utile .... 75 off. 2,14–2,24 .......................................................................... 75 off. 2,25–2,32 .......................................................................... 80 Aut opera aut pecunia: beneficia der Führungsschicht ...................... 84 off. 2,52–2,64 .......................................................................... 84 off. 2,65–2,78 .......................................................................... 88 Suum cuique tribuere: Schuld als Motor von Beziehung .................. 95 Zusammenfassung .................................................................................... 102 SENECA, DE BENEFICIIS ......................................................................... 105 Forschungsstand ....................................................................................... 105 Ausrichtung und Perspektive ................................................................... 111 Struktur..................................................................................................... 114 Wohltaten und gemeinschaftliches Gedeihen .......................................... 116

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Inhalt

Danda lex vitae: Thematische Grundlegung ................................... 116 benef. 1,1,1–1,1,7 .................................................................. 116 benef. 1,1,8–1,4,6 .................................................................. 119 benef. 1,5,2–1,7,3 .................................................................. 125 benef. 1,9,3–1,10,4 ................................................................ 130 Docendi sunt libenter dare, libenter accipere, libenter reddere: Anleitungen für Wohltäter und Empfänger........................... 133 benef. 1,11,1–2,17,4 .............................................................. 133 benef. 2,18,1–2,31,5 .............................................................. 140 benef. 2,32,1–3,4,2 ................................................................ 142 Res per se expetendae: Stoische Verankerung von beneficium und gratia ..................................................................................... 146 benef. 3,6,1–3,17,4 ................................................................ 146 benef. 4,1,1–4,17,4 ................................................................ 149 benef. 4,18 ............................................................................. 153 benef. 4,26–35 ....................................................................... 157 Pares animo, inpares fortuna: beneficium und societas .................. 163 Hanc materiam consummari decet: Senecas Fazit am Werkende ... 178 Zusammenfassung .................................................................................... 181 LAKTANZ, DIVINAE INSTITUTIONES ..................................................... 185 Forschungsstand ....................................................................................... 185 Ausrichtung und Perspektive ................................................................... 188 Struktur..................................................................................................... 193 Wohltaten und gemeinschaftliches Gedeihen .......................................... 195 Tam liberales fuisse homines: Bedingung und Kennzeichen harmonischer Gemeinschaft .................................................. 195 inst. 5,5–5,6 ........................................................................... 195 inst. 5,7–5,8 ........................................................................... 203 Omnibus immortalitatem spopondit: Perspektive wohltätigen Handelns ............................................................................... 210 inst. 5,14,7–5,14,20 ............................................................... 210 inst. 5,15,6–5,18,11 ............................................................... 217 Quod homini tribueris, deo tribuitur: Christliche Verankerung der beneficentia ........................................................................... 221 inst. 6,1–6,10 ......................................................................... 221 inst. 6,11–6,12 ....................................................................... 228 inst. 6,13–6,25 ....................................................................... 240 Notionem veritatis munus summ fecit: Beneficentia und Beziehungsstiftung ................................................................ 244 Zusammenfassung .................................................................................... 257

Inhalt

FAZIT ........................................................................................................... 261 LITERATURVERZEICHNIS ...................................................................... 267

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VORWORT Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Februar 2015 unter demselben Titel an der Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften der TU Dresden angenommen wurde. Die Dissertationszeit habe ich als Weg empfunden, den ich selbst finden, aber nicht allein gehen musste. Nun ist der Moment gekommen, meinen Begleitern zu danken. Ich danke Prof. Dr. Fritz-Heiner Mutschler dafür, mir große Freiheit zugestanden und Vertrauen in meine Arbeit signalisiert zu haben. Ein Dank geht auch an Prof. Dr. Martin Jehne, von dem ich in meinem Vorankommen stets unterstützt wurde. Sehr dankbar bin ich für den Austausch mit Prof. Dr. Stefan Freund; seine wertvollen Anmerkungen zu Laktanz, die aus einem tiefen Interesse an dessen Werk rühren, waren mir ein Segen. Als ebenso segensreich empfand ich die Unterstützung durch Prof. Dr. Christoph Schubert – ich denke hier insbesondere an seine Bereitschaft, meine Arbeit in die Reihe der „Palingenesia“ aufzunehmen, an seine sorgfältige Durchsicht meines Manuskriptes sowie die ausgewogene Erörterung einzelner Beobachtungen. Durch ihn lernte ich zudem Katharina Stüdemann kennen, der ich ebenfalls zu Dank verpflichtet bin, weil sie die vorliegende Publikation von Anfang an mit herzlicher Anteilnahme begleitete. Ein besonderer Dank geht außerdem an Prof. Dr. Dennis Pausch, dessen Elan und Anteilnahme mein Schaffen seit der Abschlussphase meiner Promotion beflügeln. Ihm verdanke ich es, für den Warburg-Melchior-Olearius-Preis für Alte Sprachen nominiert worden zu sein. Den Stiftern des Preises und den Gutachtern der Auswahlkommission gebührt der Dank, die Arbeit prämiert zu haben. Wenn ich an die Anfangszeit zurückdenke, in der es darum ging, überhaupt einen Zugang zu den Texten zu bekommen und erste Hypothesen zu diskutieren, verdanke ich eine solche Gelegenheit Prof. Dr. Jula Wildberger, die mich in dieser frühen Phase meiner Arbeit an die American University of Paris einlud, um bei einer Konferenz zu „Seneca philosophus“ eine Beobachtung aus dem vierten Buch De beneficiis zu präsentieren, was mir wichtige Kontakte und Rückmeldungen einbrachte. Ebenso danke ich Prof. Dr. Marina Münkler, die es mir ermöglichte, im Rahmen einer Tagung zur Freundschaft intensiv über De officiis 1,50–59 nachzudenken. Ein herzlicher Dank geht ferner an Dr. Jochen Walter, der im Rahmen eines Workshops meine ersten Überlegungen zum fünften und sechsten Buch der Divinae institutiones sehr konstruktiv kommentierte und mir insgesamt bestärkend zur Seite stand. Wichtige Hinweise erhielt ich immer wieder von Prof. Dr. Andreas Heil, Dr. Andreas Haltenhoff, Dr. Christoph Lundgreen und Jochen Sauer. Auch dafür bin ich dankbar. Denis Dercourt danke ich für seine erfrischende Art, mich während

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Vorwort

des Schreibprozesses anzuspornen. Für sein lebhaftes Interesse an meinem Manuskript und seine ermutigenden Rückmeldungen danke ich Prof. Dr. David Konstan. Weiterhin empfand ich es als große Bereicherung, alle drei in diesem Buch besprochenen Werke in Seminaren behandeln zu können und im Gespräch mit den Student*innen die Texte aus immer wieder veränderter Perspektive zu lesen. Allen Teilnehmer*innen der Lehrveranstaltungen gebührt mein Dank. Und ich danke Bernhard Kaiser für alle ioca et seria der vergangenen Jahre; ohne ihn wäre ich den Weg nicht gegangen. Dresden, im Sommer 2017

EINLEITUNG De beneficiis dicendum est et ordinanda res, quae maxime humanam societatem adligat.

ZUR FRAGESTELLUNG Senecas siebenbändige Schrift De beneficiis ist in Zuschnitt und Gehalt einzigartig in der uns überlieferten Literatur der griechisch-römischen Antike. Auch im Oeuvre des Autors sticht das Werk heraus, denn mit keinem anderen Sujet hat sich Seneca annähernd so ausführlich auseinandergesetzt. Gleichwohl – für uns leider nicht überliefert – gehört De beneficiis in eine lange Reihe themengleicher Traktate, zumal im Kontext der stoischen Philosophie, welcher Seneca bekanntlich folgte. Meiner Ansicht nach erklärt sich die große Zahl an Schriften, als deren einziger Reflex De beneficiis auf uns gekommen ist, durch die besondere Relevanz der Materie für die stoische Ethik: Diese kreist um die Frage des menschengemäßen Lebens, und als menschengemäß gilt ein Leben in Gemeinschaft. Der hilfsbereite, freigebige, wohltätige Einsatz für andere bildet als gleichsam zwischenmenschliche Tugend dessen Grundlage. In diesem Sinne heißt es im Prooem von De beneficiis programmatisch: „Von Wohltaten soll die Rede sein; es ist die Sache der Reihe nach zu erörtern, welche die menschliche Gemeinschaft am meisten zusammenhält.“1 Einen früheren Reflex stoischer Auseinandersetzung mit der Thematik finden wir rund ein Jahrhundert vor Seneca in Ciceros Erörterung der beneficentia innerhalb von De officiis. Auch Cicero betont die besondere gemeinschaftsdienliche Kraft von beneficia.2 In der Umbruchphase des ausgehenden dritten und beginnenden vierten Jahrhunderts, in der das Christentum sich noch nicht durchgesetzt hat,

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Sen. benef. 1,4,2; siehe Eingangszitat. Die deutschen Übersetzungen stammen hier und im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, von der Verfasserin. Für Handlungen, die dem Gedeihen von Gemeinschaft zuträglich sind, verwende ich synonym Attribute wie „gemeinschaftsdienlich“, „gemeinnützig“, „gemeinwohlorientiert“ o.ä.. Anstelle des Begriffs „Gemeinschaft“ spreche ich auch von „Gruppe“, „Zusammenschluss“ oder „Gesellschaft“. In seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ trennt Ferdinand Tönnies die beiden titelgebenden Konzepte theoretisch voneinander. Während Gemeinschaft für ihn auf Verwandtschaft und Näheverhältnissen aufbaut, versteht er unter Gesellschaft: „einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind.“ (Tönnies 1988, 34). Anders als Gemeinschaft basiere gesellschaftliches Miteinander auf Kontrakten, die sich aus dem Tausch als Ausdruck des sozialen Willens ergäben (ebd. 35, 39). Auch ich verwende den Begriff „Gesellschaft“ eher im Sinne einer politischen Organisationsform; anders als für Tönnies möchte ich im Verweis auf die Etymologie von communitas (s.u. Anm. 23) den Tausch

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Einleitung

jedoch zusehends an Einfluss gewinnt, befasst sich schließlich der Apologet Laktanz in seinem Hauptwerk, den Divinae institutiones, ausführlich mit dem beneficium, und zwar, wie er selbst anmerkt, in expliziter Auseinandersetzung mit Cicero sowie deutlicher, bisweilen polemischer Abgrenzung von der Stoa. Laktanz hebt ebenfalls den besonderen Wert wohltätigen Verhaltens für das Gedeihen von Gemeinschaft hervor. Sowohl Seneca als auch Cicero und Laktanz reflektieren die in der Stoa zentrale, gemeinschaftsstiftende Bedeutung des beneficium. Zugleich ist weder Cicero noch Laktanz Stoiker: Ersterer zieht eklektisch stets diejenige Schule zur Stützung seiner Argumentation heran, deren Aussagen am besten zu seiner jeweiligen Darstellungsabsicht passen. Letzterer befindet sich in einer Art Aushandlungsprozess; er wirkt in einer Zeit, in der die pagane Bildungstradition noch Bestand hat und seine eigene Vorstellung von christlicher Ethik erst vor deren Folie bzw. durch deren umdeutende Aneignung Ausdruck findet sowie Gestalt annimmt. Jeder der drei Autoren bezieht sich also aus einer eigenen Perspektive auf die stoische Ethik, und es lässt sich vermuten, dass, wenngleich übereinstimmend von einer besonderen gemeinschaftsstiftenden Kraft des beneficium die Rede ist, konkret damit doch Verschiedenes gemeint sein dürfte. In der vorliegenden Arbeit habe ich mich zunächst mit der Frage auseinander gesetzt, wie Cicero, Seneca und Laktanz die jeweils behauptete gemeinschaftsstiftende Kraft des beneficium begründen: Warum soll jemand einem anderen beneficia erweisen? Wie dienen beneficia dem Gemeinwesen? Nun wäre – völlig berechtigterweise – einzuwenden, dass doch Ambrosius stärker noch als Laktanz in De officiis ministrorum an Cicero orientiert sei: Sein Werk lässt sich – beginnend beim Titel! – insgesamt als frühchristliche Adaptation von De officiis und damit ebenfalls als Rezeption der Stoa bezeichnen (wie bei Laktanz als Rezeption zweiten Grades, wenn man so will). Auch bei Ambrosius findet sich eine ausführliche Besprechung der beneficentia, gepaart mit dem Gedanken ihrer Gemeinnützigkeit. Für eine christliche Bearbeitung stoischer Theorie sind somit sowohl Laktanz als auch Ambrosius ergiebig.3 Trotzdem soll das Werk des Ambrosius nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. Denn was die genannten Texte von Cicero, Seneca und Laktanz über die Bezugnahme auf die Stoa hinaus verbindet – und was ich bei Ambrosius so deutlich nicht

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ebenso dem Wesen von Gemeinschaft zuordnen und Gemeinschaft – ähnlich wie „Gruppe“ oder „Zusammenschluss“ – als allgemeine Bezeichnung einer Verbindung von Menschen verstanden wissen. Das Thema des Gebens behandelt etwas vor Laktanz auch Cyprian in seiner kleinen Schrift De opere et eleemosynis. Die Verpflichtung zu Werken der Barmherzigkeit begründet er eschatologisch. Cyprian entwickelt seine Überzeugungen nicht in der Auseinandersetzung mit paganer Philosophie, sondern verweist auf biblische exempla, und richtet sich an Mitchristen. Laktanz ist der Erste, der das Geben in ein theologisch-theoretisches Konzept einbettet. Das heißt, er argumentiert vor seinem paganen Bildungshintergrund, von dem seine christliche Ethik durchsetzt ist. Anders als Cyprian, dessen kleine Schrift als Predigt gestaltet ist und sich an ein christliches Publikum wendet, zielt Laktanz auf einen größeren Leserkreis, wie er selbst auch im Prooem des fünften Buches der Divinae institutiones ausführt. Dazu s.u. im Kapitel zu Laktanz.

Einleitung

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sehen kann – ist der bei ihnen jeweils mehrfach formulierte Eindruck einer Bedrohung des Gemeinwesens: Cicero spricht bitter von der res publica amissa; Seneca diagnostiziert eine allgemeine, beklagenswerte Sittenlosigkeit, die (mit epochenspezifischen Schwerpunkten auf einzelnen Fehlhaltungen) prinzipiell immer bestanden habe, und Laktanz thematisiert vielfach die Gewalttaten der Christenverfolger. Klagen über die Verfassung der eigenen Gemeinschaft sind ein gern bemühter Topos, doch angesichts der Entstehungskontexte der Werke (insoweit sich diese rekonstruieren lassen) habe ich mich entschieden, diese Klagen jeweils ernst zu nehmen. Somit lassen sich die Überlegungen der Autoren zum gemeinschaftsstiftenden Wert des beneficium auch als ihre Reaktion auf eine zumindest empfundene Bedrohung der Gesellschaft lesen, als Vorschlag, wie gedeihende Gemeinschaft aussehen kann. In einem zweiten Schritt meiner Untersuchung habe ich auf der Grundlage dieser Überlegungen gefragt, welche Form gute Gemeinschaft bei den Autoren jeweils hat. Diese Frage lässt sich beantworten, wenn man die im ersten Teil der Arbeit zusammengetragenen Begründungen, warum beneficia zu erweisen sind, genauer in Augenschein nimmt: Bereits aus unserer eigenen Erfahrung wissen wir, dass das eigene Geben sehr verschieden motiviert sein kann. Dahinter mag etwa der Gedanke der Pflichterfüllung stehen, der Ausdruck von Zuneigung oder die kluge Vorausberechnung eigenen Nutzens. Daraus ergeben sich wiederum je ganz spezifische Beziehungsformen, die sich in Hinblick auf Nähe und Position der Partner zueinander erheblich voneinander unterscheiden. Diesen Gedanken habe ich auf Cicero, Seneca und Laktanz übertragen: Das heißt, ausgehend von den jeweiligen Begründungen der beneficentia und einer Analyse der Beziehungen, die durch das Geben und Nehmen jeweils entstehen, habe ich, gleichsam hochgerechnet auf das große Ganze der Gemeinschaft, herausarbeiten können, wie menschliches Miteinander grundsätzlich angelegt und wie also Gemeinschaft für jeden Autor gestaltet sein soll. Ciceros De officiis, Senecas De beneficiis und die Divinae institutiones des Laktanz sind als einzelne Werke mehr oder weniger gut erschlossen (dazu s.u. jeweils in den Einleitungen zur Textarbeit), doch zu der von mir skizzierten Themenstellung liegen bislang keine Veröffentlichungen vor. Im Rahmen eines Verbundprojektes mehrerer italienischer Universitäten sind in den vergangenen Jahren einige Arbeiten erschienen, die den gabetheoretischen Implikationen des beneficium bei Seneca nachgehen, zuletzt auch bei Cicero und Seneca im Vergleich.4

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Die Forschung fand statt im Rahmen zweier Programmi di ricerca di rilevante interesse nazionale (PRIN; ab 2004) und stand lange unter der Ägide von Giusto Picone, mit dem ich dank der freundlichen Vermittlung von Jula Wildberger persönlich Kontakt hatte. Ziel der Projekte war es, das zu Unrecht vernachlässigte De beneficiis in anderem Zugriff als dem der Quellenforschung einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen, wie Raccanelli 2010, 8f., ausführt. Folgende Schriften zu den auch von mir behandelten Werken sind aus dem Projekt hervorgegangen: 2015: „Teoria e prassi del beneficium da Cicerone a Seneca“, Alice Accardi; 2013: „Commento tematico“ zu benef. 1, herausgegeben von Giusto Picone; 2010: „Esercizi di dono.

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Einleitung

Für die Untersuchung der beziehungsstiftenden Kraft des beneficium enthalten sie Hinweise, die für meine Auseinandersetzung mit den Texten wertvoll gewesen sind. Wenn ich vom übereinstimmend beschriebenen beziehungs- bzw. gemeinschaftsdienlichen Wert des beneficium spreche, suggeriere ich zunächst, dass Cicero, Seneca und Laktanz stets nur diesen Begriff verwenden, was nicht der Fall ist. Denn sowohl zur Bezeichnung der konkreten Gabehandlung als auch für die zugrunde liegende Tugend finden sich bei allen drei Autoren neben beneficium noch andere Termini. Das Abstraktum beneficentia, welches aller Wahrscheinlichkeit von Cicero geprägt worden ist, kommt nur bei ihm und Laktanz vor. Der Sachverhalt wird daneben bisweilen ausgedrückt in verschiedenen Verben des Gebens; selten verwenden die Autoren Adjektive wie beneficus und Synonyma. Gewiss unterscheiden sich die verschiedenen sprachlichen Darstellungsvarianten in Nuancen voneinander (davon wird später noch zu sprechen sein), doch was sie verbindet, ist, dass sie das vertraglich nicht geregelte Handeln zum Wohle eines oder mehrerer Adressaten bezeichnen. Dieses umfasst ein breites Spektrum möglicher Leistungen: Denkbar sind materielle Zuwendungen – das können Almosen sein, Geschenke, aber auch große Summen, die zur Begleichung von Schulden sowie – an die Gesamtgemeinschaft gerichtet – etwa für die Ausrichtung von Spielen verwendet werden. Ferner kann der tatkräftige Einsatz für andere gemeint sein, etwa in Schutzund Rettungsaktionen oder in Form von Fürsprache bzw. juristischer Verteidigung. Außerdem gehören dazu adhortationes wie Trost und Rat sowie, wenn damit dem anderen gedient ist, Kritik, Beschränkungen und Verbote. Ich scheue mich, im Deutschen hierfür von „Wohltätigkeit“ zu sprechen, womit ja an sich das lateinische Abstraktum beneficentia wortwörtlich übersetzt wäre. Doch meinem Eindruck nach findet der deutsche Begriff häufig im Kontext des modernen Wohlfahrtsstaates Verwendung und wird schnell mit christlicher bzw. philanthropischer Sozialfürsorge in Verbindung gebracht. Um diesen unwillkürlichen Assoziationen vorzubeugen, übernehme ich den Terminus beneficentia und bedeutungsähnliche lateinische Abstrakta unübersetzt in meine Ausführungen. Anderes gilt für den Begriff der Wohltat zur Bezeichnung der konkreten Handlung zum Wohle eines anderen. Dieser scheint mir semantisch weniger stark vorgeprägt zu sein.

Pragmatica e paradossi delle relazioni nel de beneficiis di Seneca“, Renata Raccanelli; 2009: „Benefattori e beneficati. La relazione asimmetrica nel de beneficiis di Seneca“, wiederum herausgegeben von Giusto Picone. In eine ähnliche Richtung geht daneben Martin Degand (2014: „Sénèque au risque du don: une éthique oblative à la croisée des disciplines“). Vgl. S. 105f. in dieser Arbeit.

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UNTERSUCHUNGSGANG Wenngleich Cicero, Seneca und Laktanz den Gedanken der besonderen gemeinschaftsstiftenden Kraft von Wohltaten prominent platzieren, steht die Frage, welchen Beitrag die Unterstützung anderer zum Gedeihen der Gemeinschaft darstellt, nicht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Ihre Werke unterscheiden sich im Zuschnitt insgesamt sehr stark voneinander. Die für die vorliegende Untersuchung relevanten Passagen sind daher zumindest grob in ihren jeweiligen argumentativen Kontext einzuordnen. Um diese inhatliche Verortung zu erleichtern, ist methodisch der Weg weitgehend am Werkverlauf orientierter Interpretationen gewählt, in deren Rahmen nacheinander alle Passagen diskutiert werden, in denen der Einsatz zum Wohle anderer thematisiert wird. Für Seneca ergibt sich die Schwierigkeit, dass die sieben Bücher der umfangreichen Schrift durchweg De beneficiis handeln. Bei der Bearbeitung des Werkes sind diejenigen Passagen herausgehoben, die sich als besonders aussagekräftig im Bezug auf die Fragestellung der Arbeit erweisen. Auch hier folgt die Interpretation dem Textverlauf und berücksichtigt dessen Gesamtgehalt; die Auswahl der stärker fokussierten Abschnitte wird begründet. Die Textinterpretationen nehmen den Großteil der Arbeit ein und bilden die Basis dafür, in systematischer Bündelung der Untersuchungsergebnisse schließlich beschreiben zu können, welche Art von Beziehungen sich für die Autoren durch Wohltaten ergeben – und wie gute Gemeinschaft für sie jeweils aussieht. Der Textarbeit sind einleitende Überlegungen vorangestellt: 1. Zu den Begriffen: Wie eingangs erwähnt, finden sich bei den Autoren neben dem Terminus beneficium und stammverwandten Vokabeln noch andere Varianten, den freigebigen Einsatz zum Wohle anderer auszudrücken. Diese Varianten werden in ihrer jeweiligen Bedeutung kurz besprochen. 2. Zur stoischen Ethik: Um das Textverständnis zu erleichtern, möchte ich skizzenartig in die stoische Ethik einführen, auf die sich sowohl Seneca als auch Cicero und Laktanz – mit unterschiedlichen Intentionen – beziehen. 3. Zum Patronagesystem: Alle drei Autoren schreiben als römische Bürger, zumal: als Angehörige der Oberschicht, denen Modelle der Verankerung von Leistungen zum Wohle anderer in der sozialen Gemeinschaft ein Begriff sind. Aus diesem Grund scheint mir zumindest ein kurzer Verweis auf die Bedeutung von Wohltaten innerhalb des Patronagesystems angezeigt. 4. Zum beneficium als Gabe und Mitteilung: Über den konkreten römischen Kontext hinaus möchte ich die Wohltat ferner in den Zusammenhang gabe- sowie kommunikationstheoretischer Ansätze stellen. Diese dienen mir als begriffliches und methodisches Instrumentarium insbesondere im Hinblick auf die Be-

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schreibung der Beziehungs- und Gemeinschaftsformen, die sich den Anweisungen recht verstandenen Wohltuns jeweils entnehmen lassen, welche die Autoren im Rahmen ihrer Ausführungen formulieren.5 Die Textinterpretationen folgen danach der historischen Abfolge der Autoren; zuerst werden die relevanten Passagen aus De officiis besprochen, danach aus De beneficiis und zuletzt aus den Divinae institutiones. Ganz am Ende der Arbeit findet sich eine gebündelte Rückschau auf die Untersuchungsergebnisse. VORÜBERLEGUNGEN Zu den lateinischen Begriffen Der Begriff des beneficium bezeichnet wörtlich eine gute, ehrenhafte Tat bzw. (schon bei Cato, Plautus und Terenz) ein Gut, das einem anderen entweder durch menschliche oder göttliche Hilfe zuteil wird.6 Beneficia sind Zuwendungen, die an sich im Ermessen des Handelnden stehen. Seneca fasst diesen Gedanken wie folgt zusammen: Beneficium enim id est, quod quis dedit, cum illi liceret et non dare (benef. 3,19,1).7 Damit unterscheiden sich beneficia etwa von vertraglich klar geregelten credita.8 Nach benef. 3,18,1 lassen sich durch diese Grundbedingung der Freiwilligkeit des Handelns beneficia auch von officia und ministeria unterscheiden:9 Ein officium sei pflichtgemäßes Verhalten gegenüber Verwandten, ein ministerium eine verbindliche Dienstleistungen von Sklaven. Mit dem beneficium hingegen bezeichne man dasjenige Handeln, welches jemand einem anderen zuteil werden lasse, ohne verwandt oder anderweitig verpflichtet zu sein.10

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Meine eigene Bezugnahme auf Grundgedanken und Begrifflichkeiten der mauss’schen Gabetheorie und der Kommunikationstheorie von Watzlawick et al. fällt weit zurückhaltender aus als in den im Rahmen der P.R.I.N. entstandenen Werken, welche sich auf die gabetheoretischen Implikationen des beneficium konzentrieren (s.o. Anm. 4). Ich beschränke mich darauf, mithilfe dieser Theorien die Befunde, weswegen jemand nach Ansicht des jeweiligen Autors einem anderen wohltätig gegenübertreten sollte, systematisch auszuwerten. 6 Cato or.frg. 10,4, orig. 95c; Plaut. Bacch. 395, Capt. 358, Poen. 635 u.a.; Ter. Ad. 2,3, Phorm. 2,2. 7 „Eine Wohltat ist nämlich das, was jemand gab, wenn es ihm auch freigestanden hätte, nicht zu geben.“ 8 Sen. benef. 3,7,1; ep. 81,6–10. 9 Griffin 2013,23, und Lentano 2005, 132: Ein officium sei „an action dictated by obligations relating to social roles and relationships or obligations of gratitude for previous benefits“, ein beneficium „a free act not dictated by obligation“. 10 Der lateinische Text lautet wie folgt: Sunt enim, qui ita distinguant, quaedam beneficia esse, quaedam officia, quaedam ministeria; beneficium esse, quod alienus det (alienus est, qui potuit sine reprehensione cessare); officium esse fili, uxoris, earum personarum, quas necessitudo suscitat et ferre opem iubet; ministerium esse servi, quem condicio sua et loco posuit, ut nihil eorum, quae praestat, inputet superiori praeterea. Die Formulierung sunt, qui zeigt, dass die

Einleitung

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Auch der für Ciceros Schrift titelgebende Begriff officium kann also eine Leistung zum Wohle eines anderen bezeichnen, wenngleich sie laut Senecas Referat auf verbindliche Handlungen beschränkt bleibt. In der Forschung wurde und wird ungeachtet dieser wichtigen Einschränkung bisweilen eine Bedeutungsähnlichkeit der Begriffe behauptet.11 Der Textbefund lässt dies jedoch nicht zu, schon gar nicht, wenn man diese Ähnlichkeit aus der Begriffsverwendung in De officiis ableiten will.12 Mit officium gibt Cicero das griechische kathekon wieder, womit in der Stoa eine der Menschennatur entsprechende Handlung bezeichnet wird. Das officium bezeichnet jede Spielart desjenigen Verhaltens, das einem Menschen zukommt. Unter die bei Cicero beschriebenen officia gehören nun auch diejenigen, die das Handeln zum Wohle eines Mitmenschen bezeichnen. Auch beneficia sind also officia, ohne dass die Begriffe deswegen synonym wären. Nur an einer Stelle in De officiis rückt das officium in seiner Bedeutung wirklich nah an beneficium heran: In off. 1,48 beschreibt Cicero den Eifer, denjenigen officia zu erweisen, von denen man sich eigenen Nutzen erhoffe. Hier sind keine verpflichtenden Leistungen gemeint, sondern solche, die im Ermessen des Handelnden stehen – nach der bei Seneca wiedergegebenen Unterscheidung also eher beneficia. An allen anderen Stellen jedoch, an denen Cicero im Zusammenhang mit der beneficentia von officia spricht, bezeichnet der Begriff im stoischen Sinne das kathekon – das also, was von einem Menschen angemessenerweise zu tun ist. Nach Senecas Bemühen, das beneficium vom creditum, ministerium und officium zu trennen, findet sich in benef. 4,29 noch eine weitere Unterscheidung: Beneficia sind mehr als mildtätige Akten der Menschlichkeit (humanitas; s.u.), insofern als sie stets an konkrete Empfänger gerichtet werden. Das dem beneficium stammverwandte Abstraktum beneficentia ist, wie schon erwähnt, aller Wahrscheinlichkeit nach von Cicero geprägt worden. Es hat sich im lateinischen Sprachgebrauch offensichtlich nicht durchsetzen können; die Vokabel

Unterscheidung offenbar nicht von Seneca selbst stammt; wer die Gewährsmänner sind, bleibt unklar. Seneca ordnet den drei Begriffen jeweils typische Gruppen von Handelnden zu; während er für das officium verschiedene Familienmitglieder und für das ministerium die Sklaven nennt, bezeichnet er diejenigen, die beneficia erweisen, als alieni. Weil alienus im Sinne von fremd bzw. ausländisch irreführend wäre, erklärt Seneca den Begriff noch selbst: Mit alienus meine er denjenigen, der auch, ohne dafür getadelt zu werden, untätig bleiben dürfte. Und das sind, nach der von ihm referierten Unterteilung, alle, die in keinem Verwandtschafts- oder Dienstleistungsverhältnis zum Handlungsempfänger stehen. Ganz ähnlich übrigens Sen. maior contr. 2,5,13. 11 Prominent etwa Saller 1982, 15–18. Dabei Verweis auf Serv. 1, 548, wonach sowohl beneficium als auch officium zur Wiedergabe des griechischen kathekon verwendet worden seien. Referat der Forschungsmeinungen zuletzt bei Accardi 2015, 18–21. 12 Dies sieht auch Accardi 2015, 20.

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findet sich selten in der uns überlieferten Literatur. Cicero selbst benutzt sie dreizehnmal,13 Seneca einmal (ep. 90,5, nicht jedoch in De beneficiis), Laktanz sechsmal, jedoch – wie wir sehen werden – in christlicher Umdeutung.14 Als Attribut für wohltätige Handlungen oder wohltätig Handelnde findet sich bisweilen auch das Adjektiv beneficus; für das Handeln selbst der verbale Ausdruck bene facere (außerdem, einmalig in Cic. off. 2,53, benigne facere). Bei Cicero ist, gleichsam explizierend zu seiner Schöpfung beneficentia (hierzu auch s.u. ab S. 47), von liberalitas und benignitas die Rede, außerdem von benevolentia. Das Abstraktum liberalitas bezeichnet zunächst eine Gesinnung oder Handlungsart, wie sie freigeborenen Menschen zukommt; sie manifestiert sich insbesondere in Freigebigkeit und Schenkungen. Liberalitas ist, wenn man so will, eine Tugend der Edelgeborenen und Begüterten. Benignitas lässt sich dagegen als Tugend derer fassen, die von guter Art sind (bene und gignere) und sich gütig gegen andere betragen. Dazu gehört in besonderer Weise wohltätiges, freigebiges Handeln, was wiederum gewisse Ressourcen voraussetzt. Der dritte Begriff, benevolentia, bezeichnet eine wohlwollende Haltung gegen andere, die dem Handeln zugrunde liegt. Als negatives Pendant erscheint bei Cicero largitio, womit zwar zunächst großzügiges Schenken gemeint ist, meist jedoch aus unlauteren Motiven heraus, zur Bestechung.15 Nur selten verwendet er den Begriff neutral (Cic. off. 2,55 und 2,59).16 Laktanz benutzt largitio – wie wir sehen werden in expliziter Absetzung von Cicero – stets ohne pejorative Konnotation; das Verb largiri steht bei ihm für den Akt des Almosengebens (etwa Lact. inst. 6,11,13). Um die Tugend des großzügigen, hilfsbereiten Gebens zu benennen, verwendet Laktanz außerdem misericordia, aequalitas und humanitas.17 Der Begriff der misericordia meint zunächst – wörtlich – eine Herzensregung, ein miserum cor, und zwar aufgrund fremden Leides, und wird demzufolge im Sinne von „Mitleid“ verwendet. Nach der stoischen Lehre gehört misericordia allerdings nicht zu den Tugenden, sondern ist als geistige Fehlhaltung zu bezeichnen, insofern als sie eine seelische Schwäche darstellt. Leidende sollten wohl unterstützt werden, jedoch ohne ein Mit-Leiden des Helfenden

13 U.a. noch in de orat. 2,343; nat. 1,121; div. 1,82. 14 TLL, Bd. 2, Sp. 1877f., Artikel „beneficentia“: Während pagane Autoren die Vokabel kaum verwenden, taucht sie in der christlichen Literatur deutlich häufiger auf. Eine Nebenform, die sich bei Valerius Maximus und Augustinus findet, ist beneficientia. Vgl. auch Hands 1968, 27– 30. 15 Vgl. etwa Cic. Mur. 77. 16 Negativ konnotiert ist bei ihm auch prodigalitas: Damit bezeichnet Cicero Prasserei und Verschwendungssucht (vgl. etwa off. 2,55). Anders hingegen Laktanz, inst. 6,17,18: Er verwendet prodigalitas – explizit gegen das pagane Begriffsverständnis, wie es sich bei Cicero zeigt – positiv. 17 Nach Spanneut 1969, 168f. umfassen die drei Begriffe sogar noch mehr als die „Wohltätigkeit“. Sie beschreiben „tous les devoirs envers l’homme“, welche menschliches Miteinander ermöglichen.

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(Sen. clem. 2,6,4). Auf der Basis emotionaler Anteilnahme kann misericordia „Gebefreudigkeit“ oder „Freigebigkeit“ meinen (Cic. S. Rosc. 145). Bei den paganen Autoren spielt der Begriff insgesamt kaum eine Rolle, anders als bei Laktanz und anderen frühchristlichen Schriftstellern, die ihn vor ihrem Denkhorizont neu deuten; misericordia wird zum Schlagwort für Barmherzigkeit, für uneigennütziges Geben an Bedürftige.18 Aequalitas bezeichnet an sich eine Gleichheit im Hinblick auf äußere oder innere Beschaffenheit bzw. eine Gleichheit im Recht. Laktanz konzentriert sich auf den Gedanken der inneren Gleichheit, wie wir weiter unten noch sehen werden. Hinter humanitas verbirgt sich, wie Gellius zeigt, noch zu Varros und Ciceros Zeiten ein komplexes römisches Konzept, das jedoch im Prinzipat auf eine der darin enthaltenen Bedeutungen, nämlich die der Philanthropie, reduziert wurde.19 Humanitas konnte sowohl Menschenliebe, Freundlichkeit und Güte meinen als auch eine sorgfältige Erziehung, die zu Bildung, Kultur und einem verfeinerten Gefühl für Geschmack, Sitte und Anstand führte. Außerdem stand humanitas auch – frei vom moralischen Wert, der in Paideia und Philanthropia steckt – metonymisch für Menschenleben, Menschengeschlecht und die condicio humana.20 Bei Cyprian, Laktanz und später Ambrosius ist, anders als für die Mehrheit der Apologeten, humanitas zur Beschreibung von Nächstenliebe und Barmherzigkeit ein zentraler Terminus.21 Wenngleich Wohltaten vertraglich nicht geregelt sind, stiften sie doch eine Verbindlichkeit zwischen Gebendem und Empfänger: Hat dieser die Leistung einmal angenommen, muss er, wenn er den anderen nicht brüskieren möchte, Dankbarkeit zeigen, gratia. Als lateinische Entsprechung der Charis kann gratia sowohl für den angenehmen Dienst stehen, den man einem anderen erweist (etwa in der Wendung gratiam facere alicui), andererseits auch für den Dank, den er dafür bekundet (ebenfalls prägnant in Wendungen zu fassen: gratiam habere, gratias agere etc.) und schließlich für die Gunst, die der Wohltäter beim Empfänger genießt, sowie den Einfluss, der sich auf diese Weise ergibt.22 Der Begriff der gratia trägt damit den Gedanken der Wechselseitigkeit menschlichen Handelns in sich.23 Insbesondere für Seneca ist gratia, wie wir sehen werden, von zentraler Bedeutung.

18 Cypr. eleem. 17; Ambr. in psalm. 61,21,1; Belegstellen zu Lact. inst. weiter unten im Text. 19 Gell. Noctes Atticae, 13,17. 20 Für eine sorgfältige Auflistung der möglichen Bedeutungen von humanitas vgl. Reitzenstein 1907, 5. 21 Hierzu Spanneut 1969, 170: „L’humanitas, ainsi christianisée, comporte ‚les œuvres de miséricorde‘ et revêt un caractère plus généreux et plus affectueux que la vertu cicéronienne.“ 22 Cic. off. 2,51; Quinct.1. Lavan 2013, 160, spricht vom „double aspect of the Latin word gratia, which denotes not only the gratitude shown be the recipient of a favour, but also the influence enjoyed by the benefactor.“ 23 Dass Gemeinschaft insgesamt auf Reziprozität beruht, ist auch dem lateinischen Begriff communitas bereits semantisch inhärent: Das Kompositum setzt sich zusammen aus munus und dem Präfix cum-. Munus bezeichnet, vereinfacht gesagt, sowohl eine Gabe als auch eine Aufgabe; dem Begriff wohnt die Überlegung inne, dass eine empfangene Gabe zugleich die Aufgabe mit sich zieht, sich in seinem eigenen Handeln für das Erhaltene erkenntlich zu zeigen.

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Zur stoischen Ethik Wie eingangs gesagt, sind die Überlegungen von Cicero, Seneca und Laktanz zum beneficium – mit verschiedener Zielsetzung – an der stoischen Ethik ausgerichtet. Dass Seneca in De beneficiis stoisch argumentiert, überrascht nicht, da er sich auch sonst als Vertreter der Stoa präsentiert. Cicero, der in seinen philosophischen Schrifren weniger beständig einer bestimmten Schule folgt, gibt in De officiis ebenfalls stoische Gewährsmänner (allen voran Panaitios) an. Laktanz bezieht sich in den Divinae institutiones immer wieder – bald vereinnahmend, bald ausgrenzend – auf die pagane Philosophie, und zwar vor allem in deren römischem Gewand: Über Cicero setzt er sich insbesondere mit der Akademie auseinander, über Seneca mit der Stoa, über Lukrez mit dem Epikureismus. Cicero und Seneca sind die von ihm am meisten zitierten paganen Philosophen; dies gilt auch für seine Erörterung des wohltätigen Einsatzes für andere; die laktanzische Konzeption der beneficentia gewinnt, wie bereits gesagt und wie wir noch en détail sehen werden, ihre Gestalt in der Auseinandersetzung mit Ciceros erklärt stoischer Vorlage in De officiis und, stellvertretend für die Stoa insgesamt, mit Seneca. Die Stoiker sind, ebenso wie die Vertreter der Akademie, des Peripatos und des Kepos „eudaimonists“, wie Long sie nennt; ihnen gehe es darum zu bestimmen, „what happiness is and how happiness is to be attained“.24 Die stoische Bestimmung der Eudämonie gründet in der Physik:25 Die Stoa sieht den Kosmos als planvoll erschaffene und gelenkte Einheit; Eudämonie beschreibt denjenigen Zustand, in dem alle Lebewesen den Platz einnehmen, welcher ihnen aufgrund der ihnen eigenen Natur zukommt.26 Die Grundlagen für diese Entfaltung der jeweils wesensgemäßen Natur werden in der stoischen Oikeiosislehre beschrieben: Danach erfassen alle Lebewesen

Varro beschreibt dieses Ineinandergreifen wie folgt: munus, quod mutuo animo qui sunt, dant officii causa (ling. 5,179). Com-munitas umfasst im Wortsinn all jene, die munera bzw. munia miteinander teilen. Benveniste 1974, 351–358 ; Esposito 2004, 11–15. Ebenso Michel 1962, 501: „Qu’un terme latin, issu de la racine indo-européenne exprimant l’échange, ait pu désigner à la fois un présent et une obligation, voilà qui, s’il en était besoin, suffirait à prouver que les Romains, au début de l’époque historique, connaissaient l’échange des dations réciproques.“ Ähnlich Hands 1968, 27f. Nach Gouldner 1960, 167, ist die Vorstellung der Reziprozität zentral für grundsätzlich alle Gemeinschaften. Zur Typologie der Reziprozität in archaischen Gesellschaften Sahlins 1965, 145–147. 24 Long 1996, 179; in diesem Sinne Atkins/Griffin 1991, xxii. Barney 2003, 304: „At the heart of Stoicism lies its conception of the telos or ‚end‘ of human life, i.e. happiness.“ Zur Unterscheidung zwischen Telos und Skopos Wildberger 2014, 302. Vgl. Diog. Laert. 7,88. 25 In dieser Abhängigkeit der stoischen Ethik von der Physik folge ich Long 1996, bes. 185, 195 und 201. 26 Hierzu Frede 2003, 184. Stob. 2,132 gibt wieder, dass Zenon vom homologoumenos zen gesprochen habe. Wie aus Cic. nat. deor. 2,3 hervorgeht, ist der Kosmos zum Wohl der Menschen genau in dieser Weise eingerichtet; Schofield 1991, 66, spricht hier von einer anthropozentrischen Teleologie. Zum Unterschied zwischen Tieren und Pflanzen Pembroke 1971, 117; zur Fürsorge für die Nachkommen ebd. 122.

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instinkthaft die eigenen „characteristic features“, welche eine je spezifische Form artgemäßen Lebens zur Folge haben.27 Bei den meisten Tieren und beim Menschen gehört zum wesens- bzw. artgemäßen Verhalten auch die Sorge um die Nachkommen bzw. eine grundsätzliche Kooperationsbereitschaft. Was den Menschen betrifft, so ist er besonders stark auf andere hin ausgerichtet. Cicero bezeichnet diese angeborene Hinwendung zu den Mitmenschen als hominum inter homines naturalis commendatio (Cic. fin. 3,63); die Menschen sind von Natur aus „einander anempfohlen“.28 Was den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist die Vernunft.29 Das heißt, er ist in der Lage, seine natürlichen Anlagen durch vernünftige Reflexion zu bewusst gelebten Tugenden auszubilden.30 Wenn der Mensch sich der Vernunft unterstellt und tugendhaft handelt, lebt er gemäß seiner Natur, und ein solches Leben führt ihn zur Eudämonie. Insofern als in der Eudämonie das Telos menschlichen Lebens liegt, lautet die Forderung an den Menschen, seiner Natur zu folgen. Im Lateinischen ist für diese Telosformel vom secundum naturam vivere die Rede.31

27 Klein 2016, 171. 28 Der Begriff „Oikeiosis“ leitet sich ab vom griechischen Wort oikos; das Adjektiv oikeios meint das, was zum Haus gehört, was einem vertraut ist. In den lateinischen Quellen ist für das griechische oikeuoun/oikeiousthai von conciliare/conciliari bzw. commendare/commendari oder den entsprechenden Substantiven die Rede: Cic. off. 1,12; Cic. Lael. 20; fin. 3,16; 3,23; 3,62; 5,41; Sen. epist. 121,16; Sen. epist. 9,17. Vgl. Pembroke 1971, 120. In der Forschung wird bisweilen – in Bezugnahme auf Pohlenz – zwischen einer auf sich selbst und einer auf andere gerichteten Oikeiosis unterschieden, wobei erstere letzterer vorausgehe (Annas 1993, 263, spricht von self-concern und other-concern; Inwood 1983, 195–197, von personal oikeiosis und social oikeiosis). Klein 2015b, passim, weist nach, dass diese Unterscheidung der Stoa selbst nicht inhärent ist. In diesem Ansatz, sowohl Handlungen, die auf das eigene Überleben gerichtet sind, als auch solchen, die einem oder mehreren Mitmenschen zugute kommen und damit das eigene Überleben in den Kontext des Überlebens der eigenen Art einbetten, jeweils Ausprägungen artgemäßen Verhaltens zu sehen und also die Oikeiosis nicht in aufeinander aufbauende Erkenntnisstufen einer vorgängigen Selbst- und hinzukommenden Fremdzueignung zu unterteilen, folge ich ihm. 29 Die ratio durchwaltet den Kosmos und leitet den Menschen. Dazu Schofield 1991, 70: „Just as reason directs the course of the universe as a whole, so it directs individual rational beings in what they should and should not do.“ Sen. epist. 124,8ff. spricht Kindern die Teilhabe an der Vernunft und damit am Guten ab. Das Wissen um das Naturgemäße sei jedoch schon in diesem Zustand angelegt. Zum Logos Pembroke 1971, 117, im Verweis auf Diog. Laert. 7, 86: „The logos supervenes not as the opponent of natural impulse but ‚as the technician to take charge of it‘.“ 30 Long 1996, 192: „Once maturity is achieved, the Stoics think that instinctive patterns of behaviour are superseded by the government of reason.“ Vgl. auch Frede 2011, 75. Außerdem Vogt 2008b, 160 und Frede 2001 passim (zu Cic. fin 3,20–22, wo die Reifung des Menschen beschrieben ist). 31 Vgl. etwa Sen. epist. 5,4: Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere.

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Die Entscheidung zum naturgemäßen und damit auf das höchste Gut gerichteten Leben trifft der Mensch bewusst; 32 das heißt, er hat auch die Wahl, sich dagegen zu entscheiden: Tugendhaftes Handeln setzt immer den Willen dazu voraus.33 Naturgemäße Verhaltensweisen werden als kathekonta bezeichnet, womit „eine ‚der jeweiligen natürlichen Ausstattung eigene‘, d.h. angemessene ‚Bewegung‘“ gemeint ist, wie Bees den Begriff im Verweis auf Diog. Laert. 7,108 definiert.34 Diese naturgemäßen, als zu wählende erkannten Verhaltensweisen gehören zu den adiaphora, bzw., lateinisch, den indifferentia, das heißt, sie sind nicht tugendhaft und nicht gut, wenngleich doch von relativer Richtigkeit.35 Gut und von Wert ist allein tugendhaftes Handeln, und dieses ergibt sich durch die Haltung des Handelnden: Er muss in seinem Tun von der Erkenntnis des Guten, Sittlichschönen durchdrungen sein und in unerschütterlicher Konsistenz leben.36 Solcherlei Handlungen, welche absolut den Anforderungen der ratio entsprechen (Cic. fin. 3,23), werden als katorthomata bezeichnet.37 In der Handlung selbst müssen sich kathekonta und katorthomata also nicht unterscheiden. Dieselbe actio kann sowohl kathekon als auch katorthoma sein. Die Rückerstattung eines anvertrauten Gutes ist

32 Vgl. hierzu Diog. Laert. 7,88; SVF 1,190; Long/Sedley 1987, 63A. Ferner Long 1996, 185 und 188–190, sowie Vogt 2008a, 106. Bees 2004, 265. Die reflektierten Handlungen basieren stets auf Instinkten und gründen insofern in der Oikeiosis. Was diese Handlungen von den instinkthaften unterscheidet, ist, dass sie bewusst bejaht, ausgewählt und gesteuert werden. Vgl. auch ebd. 232; 259; 289; anders hingegen Forschner 2008, 189ff. [kritisch gegen Bees]; Pembroke 1971, Engberg-Pedersen 1986, Annas 1993; McCabe 2005; aktuell Krewet 2013, 52–62, sowie Szaif 2012, 236. Zuletzt Klein 2015. Zum Unterschied zwischen instinktivem und reflektiertem Handeln jedoch Cic. fin 3,21f.: Prima est enim conciliatio hominis ad ea, quae sunt secundum naturam, heißt es zunächst, die dem Menschen die Einsicht in Ordnung und Eintracht der Dinge ermögliche sowie ihn erkennen lasse, dass das Telos in einem Leben im Einklang mit der natura bestehe. Daraus ergäben sich officia, die ab initiis naturae ihren Ausgang nähmen; jedoch: non inest in primis naturae conciliationibus honesta actio. 33 Hager, HWPh 6, 433f. Vgl. auch Pembroke 1971, 117, sowie Bees 2004, 209. In dieser Möglichkeit, die eigene natura zu bejahen oder auch zu verneinen, liegt der Entscheidungsspielraum des Menschen innerhalb des – nach stoischer Vorstellung – von göttlicher providentia durchzogenen Kosmos. Vgl. Frede 2003 passim; außerdem Voelke 1973, 30, der ausführt, dass für die Stoiker „toute connaissance procède d’une activité volontaire“ und damit die voluntas ins Spiel bringt, die bei Seneca, wie wir sehen werden, eine zentrale Rolle einnimmt. 34 Bees 2004, 275. 35 Zur stoischen Güterlehre etwa Diog. Laert. 7, 103–107. Zuletzt Klein 2015a. 36 Pohlenz, 1984, 130. Zum Begriff der Konsistenz als wichtigem Wesensmerkmal des Weisen: Schofield, 2003, 243ff. In diesem Sinne epist. 20,5: quid est sapientia? semper idem velle atque idem nolle. Fuhrer 2010, 74, spricht von der Konstanz des Weisen, Chaumartin 1985, 209, davon, dass er „en harmonie avec la raison immanente à l’univers“ lebe. 37 Die Unterschiede zwischen kathekonta und katorthomata finden sich kurz zusammengefasst u.a. bei Gill 2003, 40f. Vgl. außerdem Chaumartin 1985, 48, der ausführt, dass „l’action morale authentique est le modèle parfait dont l’action morale moyenne n’est que l’imitation, cette dernière ne peut être qu’un simulacrum virtutis ou une similitudo honesti.“

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zunächst ein kathekon; erst die rechtmäßige Rückerstattung macht diese Handlung zu einem katorthoma. Im Hinblick auf die beneficentia lässt sich der Unterschied zwischen kathekon und katorthoma wie folgt fassen: Wohltaten sind zunächst von der Menschennatur vorgegebene kathekonta; derartige Verhaltensweisen sind rechtmäßig und angezeigt, denn sie wurzeln im Mitgefühl für andere, das Bestandteil der Oikeiosis ist. Die gegebene Sache ist dabei gemäß der Güterlehre streng genommen nicht von Wert, sondern fällt unter die adiaphora; was hingegen die Wohltat zum bonum macht, ist die innere Haltung. Konsequent stoisch gedacht, bedeutet dies: „Just as much as only virtue is good, only virtue benefits. According to the Stoics, valuable things do not benefit, no matter how perfectly they are selected (or used). It is thus misleading to think of benefit as some kind of ‚link‘ between things of value and the good – as if both valuable and good things could benefit, if only the valuable things are dealt with correctly. The Stoic notion of ‚benefit‘ is no less ambitious than the Stoic notion of ‚good‘.“38

Das heißt, Wohltaten werden dann zu katorthomata, wenn man die gegebene Sache so auswählt, dass sie dem Empfänger nützt, und das beneficium allein als Ausdruck der virtus versteht: das Gegebene mag dem Empfänger angenehm sein und dem Gebenden ein Opfer abverlangen, doch es ist ein adiaphoron; was allein einen Wert darstellt, ist die innere Haltung. Dies gelingt vollumfänglich allein dem Weisen. Ferner ist der Weise in der Lage, seine Gabe als Dienst am Kosmos zu verstehen und seine Leistung an ein alter ego im Gesamtkörper zu richten, dem alle angehören und dem es insgesamt gut geht, wenn alle Glieder gesund sind. Im katorthoma werden Nahbeziehungen überschritten; bei beständiger Übung der angeborenen Anteilnahme lässt sich bewusst gesteuerte beneficentia auf immer größere Kreise von Mitmenschen ausdehnen.39 Dem Weisen gelingt eine unterschiedslose Hinwendung an andere. Nur er ist Kosmopolit im eigentlichen Sinne: Er erkennt, dass er der kosmischen Gesamtgemeinschaft angehört und ist zugleich bereit, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen, in die er geboren wurde.40

38 Vogt 2008b, 168. 39 Die verschiedenen Ebenen von Beziehungen werden in der Stoa als Anordnung konzentrischer Kreise um den Einzelnen herum beschrieben; je kleiner der Kreis, desto enger ist für den NichtWeisen die Beziehung. Hierzu Hierokles ap. Stob. 671 Hense, Cic. fin. 5,65. 40 Hierzu SVF 1,262 (Einordnung und Deutung bei Vogt 2008a, 86–90. Nach SVF 3,327 ist allein die kosmische Gemeinschaft wirklich eine; die irdischen werden nur als solche bezeichnet. Ähnlich Sen. dial. 8; s.u. ab S. 176. Vogt 2008a, 71 führt aus: „The theory of the cosmic city has, surprisingly, not yet been interpreted as closely connected to the theory of oikeiôsis. The connection has, of course, been seen, but it has been spelled out mostly by those who are interested in understanding the theory of oikeiôsis, not by those who reconstruct early Stoic political philosophy.“ Vgl. auch Bees 2010, 169, wo nachgewiesen wird, dass die Unterteilung in zwei res publicae, eine politische und eine natürliche, genuin stoisch sei und mit der Unterteilung in zwei Rechtsformen (positives Recht und naturae lex) einher gehe (vgl. auch Lact. inst. 6,8,6–9; dazu kurz s.u.).

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Für den Nicht-Weisen hingegen sind sowohl die gegebene Sache als auch die Gegebenheiten der politischen Gemeinschaft von Belang, obwohl sie an und für sich den Status von adiaphora haben. Wohltaten von Nicht-Weisen sind damit keine katorthomata, sondern kathekonta.41 Anders als katorthomata haben kathekonta, wie schon erwähnt, noch keinen moralischen Wert, sind also nicht gut oder schlecht. Sie sind aber insofern relativ wertvoll, als sie sich aus der Oikeiosis, dem von Natur aus Eigenen, ergeben und der Erhaltung und Gestaltung des Lebens dienen.42 Die Kosmopolis, welcher der Mensch in letzter Instanz angehört, ist eine bereits existente Größe, die gleichzeitig mit allen politischen Organisationsformen besteht, wie Vogt betont: „The Stoics are cosmopolitanists. They are not, however, cosmopolitanists in the sense of calling for the establishment of either a worldwide state or worldwide political institutions. The city in which all human beings live need not be created; it is the world. The ‚cosmic city‘ is not an ideal; it is a reality.“43

An späterer Stelle führt sie fort, dass die Existenz der „cosmic city“, zu der alle Menschen gehören, „should transform how we relate to others.“44 Damit stellt die kosmische Gemeinschaft keinen Gegenentwurf zur politischen Gemeinschaft dar, wohl aber einen Bezugsrahmen für die Ausbildung der eigenen, naturgemäßen virtus.45 Vor diesem Hintergrund wiegen gesellschaftliche Krisenzustände weniger schwer. Sie mögen Unruhe auslösen oder zu Entbehrungen zwingen, sind an sich aber ohne Wert. Was allein wirklich zählt, ist das Bemühen, anderen stets in der Weise zu begegnen, wie es der Menschennatur entspricht – und damit das eigene Verhalten an der Ordnung des großen Ganzen auszurichten. 41 Wendet man diesen Ansatz auf individuelle Näheverhältnisse an, mag die fehlende tiefe emotionale Anteilnahme befremdlich wirken; doch genau diese Nahbeziehungen sollen kraft der ratio überschritten werden (Engberg-Pedersen 1986, 176). Annas 1993, 265 schreibt hierzu: „The Stoics are the first ethical theorists clearly to commit themselves to the thesis that morality requires impartiality to all others from the moral point of view, and though this does not imply that philia is ethically indefensible, it is bound to lessen its importance.“ Hierzu auch Vogt 2008a, 5 sowie 104. Im kathekon ist diese Haltung noch nicht erreicht; hier spielen Bindungen eine wichtige Rolle für die Handlungsmotivation: Die Verpflichtung zu wohltätigem Verhalten ist unmittelbar mit dem Nähegrad der Beziehung zum Empfänger verbunden; je näher dem Handelnden ein Mitmensch steht, desto verbindlicher setzt er sich für ihn ein. 42 Solche Handlungen sind adiaphora proegmena. Hierzu Wildberger 2014, 305f. Außerdem Fuhrer/Howald 2000, 86, die anhand von fin. 3,69f. nachweisen, dass der Nicht-Weise zwar nicht im engen Sinne Nützliches für die Gemeinschaft leisten könne (insofern als allein das katorthoma wahrhaften Nutzen mit sich bringt), dennoch aber Zuträgliches zu bewerkstelligen imstande sei. Sie stellen heraus, dass Cicero, um den Nutzen vom „nur“ Zuträglichen zu unterscheiden, von emolumentum vs. commodum spreche. 43 Vogt 2008a, 4. Hierin weicht sie von Schofield 1991, 73, ab, der in der „cosmic city“ (der für ihr Werk titelgebende Begriff findet sich bereits bei ihm passim) ein Ideal, keine Realität sieht. Skepsis bezüglich der Überlegungen Schofields findet sich bei Wildberger 2006, 245. 44 Vogt 2008a, 109. 45 Dazu prägnant Schofield 1991, 103.

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Zum Patronagesystem Im Rahmen der stoischen Ethik lässt sich das beneficium verstehen als Austragungsort von Tugend. Für die römischen Bürger Cicero, Seneca und Laktanz gehört es zugleich in den Kontext des Patronagesystems,46 das besonders in der Zeit der Republik wirkmächtig war, aber auch im Kaiserreich Bestand hatte,47 wenngleich sich – wie Wolkenhauer überzeugend beschreibt – die geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf dessen Bedeutung auswirkten.48 Das Patronagesystem bezeichnet traditionell eine hierarchische Beziehung zwischen einem patronus und – in aller Regel – vielen clientes, die auf Dauer angelegt ist und als verbindlich gelten kann.49 Während der Patron sich verpflichtet, seine Klienten aus Notlagen zu befreien, zu schützen und vor Gericht zu vertreten, leisten die Klienten ihrem Patron in jeder Hinsicht Gefolgschaft.50 Im Rahmen des Patronagesystems ist die Freiwilligkeit, Wohltaten zu erweisen, nur eine relative, insofern als eine Zuwiderhandlung gegen Rollenerwartungen nicht folgenlos blieb.51 Gerade für die Führungsschicht waren Wohltaten ein wichtiger Weg zu politischem Einfluss. Im Kaiserreich konnte der princeps als wichtigster Patron gelten.52 Er bedachte zuallererst seine Familienangehörigen und Freunde mit beneficia

46 Lavan 2013: „Although favours could be exchanged within a relationship of equals, they often worked to create relations of dependence when the exchange was not balanced over time.“ 47 Saller 1982, passim, verteidigt die These der Kontinuität sozialer Strukturen über den politischen Umbruch von der Republik zum Kaiserreich hinweg. Zitiert sei an dieser Stelle ein Teil seines Fazits (ebd. 205): „In this study we have sought to discover in what aspects of Roman life patronage played a part and how it functioned during the early Empire. The evidence suggests that exchange between patrons and clients was of considerable importance in political, legal, social and economical affairs. The aristocratic social milieu of the Republic continued into the Principate, and with it the basic notion that a man’s social status was reflected in the size of his following – a large clientèle symbolizing his power to give inferiors what they needed.“ Die These der Kontinuität der sozialen Organisation Roms wird auch vertreten von Alföldy 2011, 109–120. Vgl. bereits de Ste Croix 1954, 40: „The clientela was already a vital element in Roman politics long before the end of the republican period. With the collapse of the Republic and the virtual elimination of the democratic features of the constitution in the last half-century B.C., patronage and clientship became as it were the mainspring of Roman public life.“ 48 Wolkenhauer 2014, passim. 49 Hierzu kritisch Ganter 2015, 52–54. 50 Saller 1982, 1. Strasburger 1976, 104f. 51 Hierzu Lavan 2013, 183: „The bond between patronus and cliens is extra-legal and depends entirely on convention and social pressure.“ 52 Saller 1982, 41f.; MacMullen 1986, 519. Jehne 2015, 308–316, stellt den Fortbestand des Patronagesystems im Prinzipat nicht infrage. Seinen Ausführungen nach trat allerdings der princeps nicht nur als patronus, sondern auch als pater auf: In einer familia waren die Verhältnisse ebenfalls asymmetrisch; der pater befand über Wohl und Wehe aller Angehörigen, die ihm mit noch größerer Verbindlichkeit zu folgen hatte, als das in Patronagebeziehungen der Fall war.

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(die ein breites Spektrum an Auszeichnungen, Schenkungen und Privilegien umfassten),53 wobei die Freunde eine amorphe Gruppe darstellten:54 Zu dieser gehörten sowohl diejenigen in seiner Nähe, die ihm sozial weitgehend ebenbürtig waren, als auch jene, die niedriger standen.55 Der Begriff des amicus wurde aus Gründen der Höflichkeit häufig auch in Klientelverhältnissen verwendet; cliens und patronus tauchen vergleichsweise selten auf. Diese breite semantische Ausdehnung der amicitia erfordert stets eine genaue Prüfung, um welche Art von Beziehung es sich unter diesem Etikett handelt.56 Insbesondere sozial hochrangige amici wurden durch kaiserliche beneficia in die Lage versetzt, ihrerseits wiederum als Patrone zu wirken57 und damit – indirekt – die Zahl derjenigen, die dem Kaiser durch gratia verpflichtet waren, zu vergrößern.58 Wolkenhauer führt aus, dass die Senatsaristokratie in der Kaiserzeit das

53 Lavan 2013, 158: „A wide range of imperial decisions were regularly described as beneficia and seen as personal favours.“ Zu den verschiedenen Leistungen Saller 1982, 59–63. 54 Die Bezeichnung eines Gegenübers als amicus kann, wie Saller 1982, 12, in Bezugnahme auf Brunt und im Verweis auf Sen. benef. 6,33 ausführt, die verschiedensten Beziehungsformen um fassen: „… although friendship was ideally to be based on mutual affection with no thought for profit, a necessary part of friendship was mutually beneficial exchange of goods and services.“ Dieser wechselseitige Austausch sei zentraler Gehalt der amicitia gewesen, ebd. 13: „The fundamentally instrumental nature of Roman friendship was a corrolary of the underdevelopment of rational, impersonal institutions for the provision of services.“ Die tatsächliche Beziehungsnähe und -hierarchie in Verbindungen, die als amicitia bezeichnet werden, können sehr unterschiedlich ausfallen (zur Freundschaft unter sozial Ungleichen etwa Hands 1968, 35; Winterling 2008, 302 Anm. 7). Dazu Griffin 2013, 32–34, außerdem ebd. 66: „The Romans knew that they had a hierarchical society, and they defended it, but in social relations between individuals, especially within the upper orders, a pretence of equality was supposed to be maintained by the superior party – whatever deference was actually shown, and indeed expected, from the inferior.“ Ferner Hellegouarc’h 1972, 56; Zur semantischen Weite des amicitia-Begriffs inv. 2,167f.; demgegenüber nat. deor. 1,122; zur Tugendfreundschaft: Lael. passim. 55 Saller 1982, 63. Dazu kamen diejenigen, die aufgrund ihrer literarischen oder rhetorischen Begabung Zugang zum Kaiser hatten bzw. ihm als Lehrer und Ärzte dienten, weiterhin Frauen, Sklaven und Freigelassene (ebd.,63f.). 56 Saller 1982,9, führt aus, dass der Begriff des patronus in aller Regel (außer bei Tacitus, ebd. 10) nur „restricted to legal advocates, patrons of communities and ex-masters of freedmen“ verwendet würde; dies sei bereits bei Cicero so (23 Verwendungen des Begriffes, davon nur zwei in der Bedeutung „einflussreicher Beschützer/Wohltäter“); cliens finde sich ähnlich selten; und zwar aus folgendem Grund, ebd. 9: „The reason for the infrequent appearance of patronus and cliens in literature lies in the social inferiority and degradation implied by the words.“ 57 Saller 1982, 78: „The most successful emperors were those who, like Augustus, were able to utilize skillfully the offices, honors, statuses and administrative decisions at their disposal to produce cohesion in a web of personal exchange relationships extending from themselves.“ 58 Saller 1982, 78, führt aus, der Kaiser „granted them [sc. the friends] the resources to build their own clientèles whose loyalty was thus indirectly secured.“ Den Unterschied zur senatorischen Patronage der Republik fasst er ebd. 141f., wie folgt zusammen: „During the Republic a senator’s political effectiveness was related to the strength of his clientèle and the power of his

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Benefizienwesen auch als Mittel der Distinktion von wirtschaftlich starken Emporkömmlingen verstand, welche sich oftmals durch arrogantes Gebaren von ihrer Herkunftsschicht abzugrenzen versuchten. Die Vertreter der alten Oberschicht hingegen seien bemüht gewesen, durch betont kultiviert erwiesene beneficia ihre eigene zumindest moralische Überlegenheit zu betonen.59 Das Patronagesystem bestimmte – sowohl in republikanischer Zeit als auch in kaiserlicher – die Ausrichtung der politischen Gemeinschaft in entscheidender Weise.60 Es brachte Einzelnen Macht und Einfluss, vielen ein gewisses Auskommen.61 Das Ineinandergreifen von Patronage und Gefolgschaft stellt eine wichtige Variante informeller und doch verbindlicher Strukturen dar, auf denen das römische Gemeinwesen basierte.62

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amici. With the emergence of a single princeps this changed, and proximity to the emperor became the most important single determinant. While lower-class clientèles lost most of their relevance to political power after 14 A.D., a man’s senatorial following continued to have political value.“ Wolkenhauer 2014, 407 und 439. Saller 1982, 205 verweist darauf, dass das Patronagesystem mit seinen auf Dauer angelegten Verbindungen ein Faktor gewesen sei, dass ein so großes Imperium mit so gering ausgebildeter Verwaltung funktionieren konnte. Hierzu auch Wagner-Hasel 2000, 69, die betont, „daß antike Herrschaftssysteme […] einen stark persönlichen Charakter trugen, auch wenn der institutionelle Rahmen variierte.“ In diesem Sinne erklären Eisenstadt/Roninger 1984, 57, das römische Klientelwesen aus sozialer Notwendigkeit heraus: „Clients hoped to derive some advantage from submission in a society in which low-standing social strata had no lands and no protection before the courts.“ Ähnlich MacMullen 1986, 513, und Martin 1994, 103: „Für die Sicherheit des Lebens in Rom oder im römischen Gebiet tat die römische Führung wenig – schon hier war der Schutz von Patronen unerläßlich. Das gleiche gilt für die materiellen Bedingungen des Lebens.“ Ferner merkt Saller ebd. 25 an, dass die Vergeltungspflicht auch als gewisse Sicherheit für Notzeiten wahrgenommen werden konnte: Beneficia, deren Vergeltung noch ausstand, „were felt to be insurance against misfortune since in time of need they could be called in.“ Schließlich fasst er ebd., 207, zusammen: Wegen der großen Ungleichheit an Reichtum, Macht und Status seien persönliche Bindungen zwischen Ungleichen besonders wichtig. Michel 1962, 578, beschreibt die wirtschaftliche Situation in der späten Republik und dem frühen Kaiserreich so, dass der Einzelne relativ große Reichtümer anhäufen konnte, „sans pouvoir être assuré cependant de les conserver ni être à même de les rendre productives“; daher schien es klüger, sie zu nutzen, um durch eigenes Geben Dankbarkeit und Prestige zu erwerben. Hierzu Inwood, 1995, 244: „Roman society, more than some other hierarchically organized ancient cultures, depended on the reciprocal exchange of services and favours among members of the same social class and also between members of different classes. Patronage and clientela are institutions vital to anyone aiming to understand Roman history and the functioning of Roman society.“ Außerdem MacMullen 1986, 524, der ausführt, dass oft „a beneficium was intended solely or chiefly as a sort of investment in someone else’s future compliance or service. Between these two forms of inducement, however, it is plain that the persons of local or empirewide authority, equally, built up their power and controlled the world around them.“

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Das beneficium als Gabe und Mitteilung Insofern als sich für das antike Rom sowohl republikanischer als auch kaiserlicher Zeit der Befund ergibt, dass scheinbar informelles, tatsächlich aber vielmals verbindlich strukturiertes Ineinandergreifen von Wohltat und Vergeltung einen wichtigen Beitrag zum Gedeihen des Gemeinwesens leistete,63 lassen sich, wie Dixon überzeugend nachweist, die Befunde zur Funktion des Gabentauschs in vormonetären Gesellschaften, als deren Vorreiter Mauss gelten kann,64 mit einer gewissen Vorsicht auf Rom übertragen.65 Folgt man Mauss, ist der Einsatz eigener Mittel zugunsten anderer als Verhaltensweise aufzufassen, die sowohl in archaischen als auch in späteren Zeiten stets beziehungsinitiierenden bzw. -definierenden Charakter hat,66 insofern als solches Handeln reziprok angelegt ist und also stets vergolten

63 Lavan 2013, 159: „As in other societies where gift exchange plays so prominent a role, great emphasis was placed on the principle of reciprocity:“ 64 Der im Jahr 1924 erschienene „Essai sur le don“ von Mauss bildet den Beginn einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Gabe. Wie Wagner-Hasel 2000, 59, ausführt, gehört der Gabediskurs stets auch in den Zusammenhang der Frage nach Ursprung und Anlass von Gemeinschaft. Insbesondere in der französischen Kultursoziologie bzw. –Philosophie wurden die Ergebnisse des „Essai“ kommentiert und durch Gegenentwürfe etwa von George Bataille, Claude Lévi-Strauss und Jacques Derrida beantwortet. Zu deren Ansätzen sowie dem mauss’schen Essai vgl. die kurze Einführung von Därmann 2010. Eine kritische Auseinandersetzung mit den französischen Reaktionen auf Mauss unternimmt Hénaff 2014. 65 Dixon 1993, passim; bes. 455. Für Mauss 1990, 121–124, selbst gehört nur das nexum in den Kontext der Gabetheorie (zum nexum Michel 1962, 107–113); Strukturen wie das römische Patronagesystem lässt er überraschenderweise beiseite. Rom beurteilt er ebd., 121, als wirtschaftlich hoch entwickelte Gesellschaft. Dagegen betont Martin 1994, 107: „Insgesamt sind also in der römischen Republik ‚archaische‘ Formen der Sozialisation nicht […] zerschlagen, sondern in einen politischen Zusammenhang eingeordnet worden. In der Stadt der Kaiserzeit finden gewisse Modifikationen statt, die aber den beschriebenen konzeptionellen Rahmen nicht sprengen.“ Michel 1962, passim, macht ganz ähnlich die These stark, dass in Rom, und zwar auch im spätantiken Kaiserreich, weite Teile des Miteinanders nicht vertraglich geregelt gewesen seien. Er unterscheidet zwischen „contrats gratuits“ und „contrats onéreux“; bei letzteren seien Sanktionen der Nichteinhaltung rechtlich klar geregelt; für erstere merkt er ebd., 585, an: „La réciprocité est assurée par le souci de chaque partenaire de maintenir les rapports qu’il entretient avec l’autre et auxquels il trouve son intérêt et son agrément.“ Ebd., 596, wird deutlich, dass der contrat gratuit deswegen aber nicht minder verbindlich sei: „Tandis que l’acte onéreux est complet par lui-même, le service gratuit n’est que la concrétisation actuelle d’un lien durable.“ Michel stellt ebd., 519–529, heraus, dass die in Rom üblichen beneficia sehr deutliche Parallelen zu den bei Mauss beschriebenen Gabeformen aufwiesen. Dass er Interaktion zwischen Einzelnen mit Verbindungen zwischen Clans vergleicht, ist ihm dabei wohl bewusst. Für eine kurze Beurteilung der Thesen Michels Griffin 2003, 107f. 66 Hierzu Hénaff 2014, 56f.: „Worum es bei den von Mauss erörterten Tatsachen geht, ist eine intensive Bindung zwischen den Partnern, ein zugestandenes und erworbenes öffentliches Ansehen, ein zustande gekommenes Bündnis.“ Zum Begriff der Beziehung, näherhin sozialen Beziehung, Weber 1984, 47, der darunter „ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer“ versteht. Auf welche Weise

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werden muss.67 In den bei ihm beschriebenen Beispielen geht es um Beziehungen zwischen Clans bzw. Stammesgesellschaften.68 Diese Verbindungen werden durch jede Gabe neu verhandelt – Gaben erweisen sich als Mittel der Diplomatie, die auch dazu dienen, die Stellung der Clans zueinander zu bestimmen. Mauss beschreibt, wie durch Praktiken der wechselseitigen Überbietung phasenweise Asymmetrien zwischen gebender und empfangender Gruppe entstehen und auf diese Weise auch politische Hierarchien hergestellt werden.69 In der beneficentia geht es v.a. um Leistungen zwischen Einzelnen bzw. von Einzelnen an bestimmte Gruppen. Doch wie wir gesehen haben, spielt auch da der Aspekt der Beziehungsstiftung eine entscheidende Rolle: In Patronageverhältnissen etwa ziehen die Beteiligten zwar wechselseitig Nutzen aus dem Ineinandergreifen von Beistand und Gefolgschaft, doch darüber hinaus trägt die Verbindung zur Stärkung von Gemeinschaft bei.70 Auf das römische beneficium übertragbar ist also die Überlegung, dass den res, die einem anderen zugeteilt werden, die Kraft innewohnt, Bindungen zu stiften,71 die auf Dauer, oft sogar generationenübergreifend angelegt sind.72 Im Hinblick auf diese beziehungsstiftende Kraft und die Funktion,

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dieses Miteinander sich gestaltet, ist dabei zunächst völlig offen: „Der Begriff besagt also nichts darüber, ob ‚Solidarität‘ der Handelnden besteht oder das gerade Gegenteil.“ (ebd.) Zu Formen der Reziprozität Sahlins 1972, 193–196. Wie Mauss im „Essai sur le don“ am Beispiel vormonetärer Gesellschaften gezeigt hat, kann ein solcher Prozess wechselseitigen Gebens und Nehmens, wenn er einmal begonnen ist, nicht ohne weiteres unterbrochen oder beendet werden: Am Anfang steht die Eröffnungsgabe, die der Empfänger, wenn er sie annimmt, durch eine Gegengabe beantworten muss (Mauss 1990, 48f.; hierzu Michel 1962, 451). Dadurch werden zugleich die Rollen getauscht – der Urheber der ersten Gabe wird zum Empfänger der zweiten und muss nun seinerseits durch eine angemessene Entgegennahme und Vergeltung der Gabe reagieren (Zusammenfassung Mauss 1990, 119). Wie Därmann 2010, 25, in ihren Ausführungen zum „Essai sur le don“ anmerkt, gibt es beim Gabentausch keine Garantie auf Kontinuität: „Jede Gabe… kann aus Zufall, Absicht oder Vergesslichkeit unerwidert bleiben.“ Allerdings ist bei allen von Mauss beschriebenen Praktiken diese Kontinuität zumindest moralisch geboten; eine Unterbrechung des Austauschs stellte einen schweren Affront dar. In ähnlicher Weise spricht Assmann 1995, 61, in seinen Ausführungen zur altägyptischen Ma'at von der „Verfugung“ allen Handelns: Keine Handlung steht für sich allein, sondern ist actio und reactio zugleich. Mauss 1990, 21, bezeichnet Clans, Stämmen und Familien als „Kollektive“, „die einander gegenübertreten“. Mauss 1990, 170. Sahlins 1965, 143, spricht in diesem Zusammenhang von der „instrumental function“ von Gaben. Hands 1968, 66: Das Ziel der beneficentia sei es „to secure the internal cohesion of the community.“ In den Beispielen der mauss’schen Studie kommt es beim Gabentausch u.a. auch darauf an, Überflüssiges und Unnötiges zu schenken; für ihn ist der Nutzen der gegebenen Sache absolut nachrangig (Mauss 1990, 167; erläuternd hierzu Hénaff 2014, 57 und 103); im Vordergrund steht ebd., 103, die Überlegung, dass den Dingen „eine bestimmte Kraft innewohnt, die sie zwingt, zu zirkulieren, gegeben und erwidert zu werden.“ Michel 1962, 454: „… même qu’on a rendu, on reste redevable de quelque chose, qui ne s’évalue peut-être pas, mais qui unit les deux parties et qu’on appelera, faute de mieux, l’amitié.“ Vor diesem Hintergrund ist pace Saller 1982, 17, zu sagen, dass trotz materiellem Ausgleich

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die Positionen der Beteiligten zueinander zu bestimmen, können beneficia als Gaben im mauss’schen Sinne bezeichnet werden.73 Indem nun also Gaben/beneficia einerseits einen Inhalt darstellen, den der Gebende dem Empfänger zuteilt, andererseits aber (und für die mauss’schen Gaben: vorrangig) über den Gabeinhalt zugleich die Beziehung der Partner zueinander verhandelt wird, lassen sich die Auswirkungen von Gaben/beneficia auch mithilfe der Kommunikationstheorie von Watzlawick, Beavin und Jackson beschreiben.74 Die

ein Band zwischen Wohltäter und Empfänger bestehen bleibt, welches den Austauschvorgang überdauert: Saller betont ebd., dass Wohltaten zwar stets zu vergelten seien, dabei jedoch kein genauer materieller Ausgleich hergestellt werde, denn: „…balanced reciprocity may tend to self-liquidation“. Daher ergebe sich, dass jeder der Partner „pretends to be under obligation of the other.“ Mit Dixon 1993, 457, wäre hier einzuwenden, dass die Partner nicht vorgeben müssen, einander verpflichtet zu sein, sondern dies tatsächlich sind; denn der materielle Ausgleich stellt nur einen Teil der Vergeltung dar: „In any case, payment was never quite complete for the obligation outlasted the specific repayment.“ Im Falle der Patronage, wo der Empfänger ohnehin nicht in der Position sei, dem Wohltäter im Hinblick auf die materiellen Möglichkeiten gleichzukommen, bestehe für diesen stets die Pflicht „to enhance the honour of the donor by advertising his or her generosity.“ 73 Auch Griffin 2003, insbes. 99f., schlägt diesen Bogen vom römischen beneficium zur mauss’schen Gabe, wobei sie sich in ihren Überlegungen konkret auf Seneca bezieht; ähnlich Griffin 2013, 40–43. Außerdem Winterling 2008, 315, der De beneficiis als „eine normative Theorie von Gabentausch-Beziehungen“ bezeichnet. Zu den Grenzen der Übertragbarkeit Lentano 2005, 127. Ferner ist einschränkend zu betonen, dass, wie Hénaff 2014, 103, zusammenfasst, mauss’sche Gaben keine ökonomischen Gaben darstellen, dass sie also nicht mit wechselseitiger Hilfeleistung gleichzusetzen sind. Dieses Kriterium lässt sich aus der beneficentia so nicht fernhalten; die Reziprozität, die sich in beneficia manifestiert ist die bei Gouldner 1960, 171, beschriebene, die zum wechselseitigen Nutzen gereicht und gleichartig bzw. gleichwertig sein kann (Winterling 2008, 299, nennt die wechselseitigen Leistungen „konvertierbar“ und erklärt: „Unterstützung in Konflikten kann durch Aushelfen in Geldangelegenheiten oder Karriereförderung vergolten werden.“). Ein weiterer Unterschied zwischen der mauss’schen Gabe und dem beneficium liegt darin, dass erstere, wie Hénaff ebd., 251, zusammenfasst, immer „mit präzisen Ritualen verbunden“ ist, das beneficium jedoch nicht. Zentral ist für mich jedoch, dass mit beiden, sowohl dem beneficium als auch der mauss’schen Gabe, stets Beziehungen verhandelt werden, und darum möchte ich – obwohl die Begriffe nicht deckungsgleich sind – daran festhalten, den mauss’schen Gabebegriff in meiner Untersuchung der beneficentia zu verwenden und Verbindungen, die durch beneficia gestiftet oder gestärkt werden, als Gabebeziehungen bezeichnen. 74 Die Kommunikationstheorie der Forschergruppe um Watzlawick, die 1967 in der englischen Originalausgabe veröffentlicht wurde und weite Verbreitung fand, behandelt in Fortführung der Studien Batesons die Pragmatik menschlicher Kommunikation, mit dem Ziel, insbesondere Verhaltensstörungen und Beziehungskonflikte beschreibbar zu machen. Die Autoren formulieren selbst (Watzlawick et al. 1980, 13): „Die Pragmatik der menschlichen Kommunikation ist eine Wissenschaft in Kinderschuhen, die noch weit davon entfernt ist, ihre eigene brauchbare Sprache zu entwickeln.“ In vielerlei Hinsicht haben Watzlawick et al. mit ihren Axiomen den Grundstein für spätere Beiträge zur Kommunikationstheorie gelegt. Ich verweise an dieser Stelle beispielhaft auf Schulz von Thun, der im Vorwort zu „Miteinander Reden 1. Störungen und Klärungen“ explizit darauf verweist, seine eigene Theorie auch ausgehend von Watzlawick et al. entwickelt zu haben (Ausgabe von 1995, 13). Er unterscheidet den Sach-, Beziehungs-,

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Autoren vertreten ein weites Verständnis von Kommunikation als einem Aufeinanderbezogensein allen Handelns,75 das sich nicht im sprachlichen Austausch erschöpft, sondern alle Arten von Verhalten (also auch Gaben) umfasst,76 und unterscheiden in den Inhalts- und den Beziehungsaspekt menschlichen Verhaltens: Der Inhaltsaspekt liefert die eigentliche Sachinformation (die Daten), der Beziehungsaspekt gibt als Metainformation an, wie die Daten vom Empfänger verstanden werden sollen.77 Wendet man das Axiom auf die Gabe/Wohltat an, entspricht der Gegenstand der Gabe dem Inhaltsaspekt; entscheidend ist aber die Metainformation der Beziehungsbotschaft, deren Interpretation sich auf die Verbindung der Handlungspartner zueinander auswirkt. Gaben gelten nach Watzlawick et al. als analoge Mitteilungen, die vom Empfänger digitalisiert (also entschlüsselt und gedeutet) werden müssen; die Digitalisierung (etwa als „Ausdruck der Zuneigung, eine Bestechung oder eine Wiedergutmachung“78) hängt davon ab, wie er die Beziehung zum Gebenden versteht.79 Die Interpretation einer Mitteilung wird außerdem bestimmt vom jeweiligen Blickwinkel, nach dem Handlungen stets als Ursache bzw. Wirkung darauf bezogener Verhaltensweisen gelten. Mit Watzlawick et al. ist hier von der Interpunktion von Ereignisfolgen zu sprechen, die – an sich kreisförmig – doch von den Beteiligten in jeweils eigener Weise strukturiert werden.80 Bezogen auf die beneficentia beschreibt das Axiom der Interpunktion zum Beispiel, dass der Wohltäter verstimmt sein kann, weil der Empfänger sich undankbar zeigt, dieser aber seinerseits aus Ärger über die als herablassend empfundene Art des Gebens (also aufgrund seiner

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Selbstoffenbarungs- und Appellaspekt menschlicher Kommunikation; die beiden letztgenannten Seiten dieses kommunikativen Quadrates (ebd. 15) sind neu; die ersten beiden erfassen Watzlawick et al. in ihrer Theorie. Nach eigener Aussage (ebd. 14) kombiniert er Watzlawick mit Bühler, der bereits 1934 mit Symbol, Symptom und Appell „drei Aspekte der Sprache“ unterschieden habe. Eine vehemente, oftmals unsachliche Kritik an Watzlawick, die über jedes Ziel hinausschießt und sich eher als Schmähschrift präsentiert, findet sich bei Girgensohn-Marchand 1996 passim. Dieses Aufeinanderbezogensein ist, wie gesehen (s.o. Anm. 23), der lateinischen Wurzel von „Kommunikation“, communitas, bereits inhärent, worauf auch das Verb communico zurückzuführen ist. Es enthält zwei Positionen, zum einen diejenige, einen anderen an einer Sache Anteil nehmen zu lassen, und daneben die Bedeutung, an einer Sache Anteil zu haben oder etwas mit tragen zu helfen (vgl. etwa Cic. Balb. 9; Cael. 6). Watzlawick et al. 1980, 50f. (erstes pragmatisches Axiom). Zu den Begrifflichkeiten ebd.: Die einzelne Kommunikation bezeichnen sie ebd. als „Mitteilung“, den Austausch von Mitteilungen als „Interaktion“. Bemerkenswert ist, dass Martin 1994, 106, nebenbei sowohl die mausssche Gabetheorie als auch die Kommunikationstheorie auf die beneficentia überträgt, indem er vom „Gabentausch als Kommunikation“ spricht. Watzlawick et al. 1980, 53 und 55. Watzlawick et al. 1980, 97. Vereinfacht gesagt, umfasst digitale Kommuniktion sprachliche Äußerungen, analoge alle übrigen Mitteilungen. Vgl. hierzu Watzlawick et al. 1980, 68. Watzlawick et al. 1980, 57f. Vgl. auch Raccanelli 2009, 306f.

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Interpretation der Beziehungsbotschaft) keinen Anlass sieht, sich erkenntlich zu zeigen. Zuletzt hängt die Interpretation der Beziehungsbotschaft auch ab von der Auffassung, welche die Beteiligten bezüglich ihrer Positionierung zueinander haben. Watzlawick et al. unterscheiden zwischen symmetrischen und komplementären Beziehungen. Während erstere sich durch ein Streben nach Gleichheit auszeichnen, basieren letztere auf dem Miteinander eines superioren und eines inferioren Partners.81 Das gilt ebenso für Beziehungen etwa zwischen Arzt und Patient wie auch – bezogen auf die Thematik der beneficentia – die zwischen Patron und Klient, die ja aber durchaus durch den Anschein von Symmetrie (amicitia) maskiert sein kann. Das Verhältnis der Partner zueinander kann (muss jedoch nicht) durch äußere Parameter festgelegt sein und wird mit jeder Mitteilung – bezogen auf diese Arbeit: mit jedem beneficium – neu verhandelt, entweder bestätigt oder infrage gestellt.82 Eine Infragestellung ergibt sich etwa dann, wenn die Gabe der Beziehungsdefinition eines Partners zuwider läuft, wenn also beispielsweise der inferiore Partner dem anderen eine Wohltat erweist, die dessen Superiorität tatsächlich oder vermeintlich angreift.83 Mithilfe der watzlawickschen Axiome lässt sich gut beschreiben, wie sich Wohltaten nach Darstellung der Autoren auf die Beziehungen zwischen Gebendem und Empfänger auswirken. Die Beziehungen, die nach Meinung der Autoren gestiftet oder gestärkt werden sollen, erlauben, gleichsam hochgerechnet auf das große Ganze, Rückschlüsse auf die Gestalt von Gemeinschaft.

81 Watzlawick et al. 1980, 69. 82 In Beziehungen, die noch nicht festgelegt sind, werden die Positionen der Partner zueinander kommunikativ ausgehandelt, in solchen, wo die Positionen klar sind, ergeben sich auch bestimmte wechselseitige Erwartungen. Pointiert formuliert Sahlins 1972, 189, diesen Gedanken wie folgt: „A specific social relation may constrain a given movement of goods, but a specific transaction – ‚by the same token‘ – suggests a particular social relation. If friends make gifts, gifts make friends.“ 83 Hierzu auch Weber 1984, 48: Es ist nicht selbstverständlich, dass die Handlungspartner „im Einzelfall den gleichen Sinngehalt in die soziale Beziehung legen.“ Der Handelnde setzt vom Partner eine bestimmte Einstellung ihm gegenüber voraus und orientiert sein eigenes Verhalten daran. Im Fall klar festgelegter Positionen bedingt die äußere Situation das Verhalten der Interaktionspartner, ist das Verhältnis noch unklar, dient das aktuelle Handeln der beiden als Indiz für momentane oder künftige Rollen. Zu den Begriffen Rolle und Position Stegbauer 2011, 9395. Dort wird im Verweis auf Linton/Nagel folgende Begriffsbestimmung sowie Unterscheidung vorgenommen: Jede Position sei mit einer bestimmten Rolle verbunden; die Rolle (aktive Komponente) drücke in Verhaltensweisen aus, was die Position (statische Komponente) zur Geltung bringe. Zur Stiftung hierarchischer Beziehungen mittels beneficia Dixon 1993, 456: „The bestowal of gifts and favours and its public acknowledgement was, in my view, an essential element of the construction of Roman élite status. This status required donations both within and below the élite ranks and always involved a return of some kind – that is, it was a reciprocal exchange.“

CICERO, DE OFFICIIS FORSCHUNGSSTAND Ciceros De officiis ist das am umfangreichsten besprochene der drei in dieser Arbeit behandelten Werke. Ein wichtiger Untersuchungsbereich war und ist dabei die Quellenforschung, die angetrieben wird von dem Bedürfnis, Ciceros eigene schöpferische Leistung angemessen zu würdigen und den Charakter von De officiis in der rechten Weise zu bestimmen.84 Cicero selbst gibt bereits zu Beginn seines Textes an, dem Stoiker Panaitios zu folgen, der eine Schrift Peri tou kathekontos abgefasst hatte. Im dritten Buch De officiis nennt Cicero für eine Reihe im Text herangezogener Beispiele weitere stoische Quellen.85 Die Beantwortung der Frage, wie konsequent Cicero sich an seinen Vorlagen orientiert, wird erschwert durch den unglücklichen Umstand, dass die panaitianische Pflichtenlehre sowie weitere mögliche Prätexte verloren sind und jeder Versuch, aus De officiis die Lehre des Panaitios zu rekonstruieren, um sie mit Ciceros eigenen Überlegungen zu vergleichen, die Gefahr von Zirkelschlüssen in sich birgt.86 Gleichwohl hat es diese Versuche immer gegeben. Pohlenz legt bereits 1934 eine Untersuchung zum „Lebensideal des Panaitios vor“, das er aus den ersten beiden Büchern De officiis rekonstruiert; er verzichtet allerdings in dieser wie auch in allen übrigen Arbeiten weitgehend auf genaue Stellenbelege und Anmerkungen, was die Überprüfbarkeit seiner Befunde kaum möglich macht.87 In der Tradition der Quellenforschung steht auch Steinmetz, der vorrangig aus Ciceros Laelius de amicitia, ergänzt durch die Passagen off. 2,1–30 Rückschlüsse auf die „Freundschaftslehre des Panaitios“ zieht. Er beruft sich auf Gellius, wo Theophrasts Peri philias als direkte Vorlage für Ciceros Laelius genannt ist, und folgert seinerseits, dass sich Panaitios auf Theophrast bezogen habe und Cicero wiederum Panaitios rezipiere.88

84 Für eine Zusammenfassung der Quellendiskussion vgl. Fiori 2011, 199–205. 85 In off. 3 verweist Cicero auf Poseidonius, einen Schüler des Panaitios, sowie auf Diogenes von Babylon, einen Schüler des Chrysipp, und Antipater von Tarsos, einen Schüler des Diogenes. 86 In diesem Sinne hält Long 1995, 215, die Versuche, Panaitianisches und Ciceronisches voneinander zu trennen, für wenig ertragreiche Spekulationen. 87 Pohlenz 1934. Er vertritt die These einer weitgehenden Übernahme panaitianischen Gedankengutes durch Cicero. Zeitgleich und ähnlich Labowsky 1934 (beschränkt auf die Abschnitte zum decorum in off. 1); vorher bereits Müller 1882, Holden 1899. Zu Pohlenz’ Auseinandersetzung mit Panaitios vgl. Dyck 1996, 24–28; außerdem Büchner 1967, 86. 88 Sandbach 1968, 310, beurteilt die Untersuchung in seiner Rezension insgesamt positiv: Auch wenn Steinmetz „sometimes expresses himself with more confidence than I think justified“,

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Gegen die von Pohlenz und Steinmetz vertretene These der weitgehenden Nachfolge stellt sich Lefèvre, dessen Ziel der Nachweis ist, dass Cicero aus Panaitios’ „Handbuch der stoischen Ethik ein Lehrbuch für den angehenden Politiker“ mache.89 Für Lefèvre geht es nicht darum, in seiner Untersuchung Cicero „eine falsch verstandene, d.h., von ihm gar nicht erstrebte Originalität zuzuerkennen. Doch soll der moderne Leser nach Möglichkeit auf dieselbe Stufe gestellt werden wie der zeitgenössische, der Panaitios’ Werk oder wenigstens dessen Gedankengänge kennt und daher das Neue in Ciceros Darstellung ohne viel Mühe würdigen kann.“90 Ausgehend von der Zueignung des Werkes an Ciceros Sohn weist er ferner dessen „ernsthafte pädagogische Tendenz“ nach.91 In einem sorgfältigen Durchgang durch den gesamten Text und in Berücksichtigung gerade auch der älteren Forschung werden die Unterschiede zwischen ciceronischem und panaitianischem Denken sichtbar gemacht, wobei Lefèvre sich zurückhaltend auf skizzenartige Annahmen zum Gehalt von Peri tou kathekontos beschränkt. Lefèvre macht deutlich, dass Cicero im ersten Buch De officiis der panaitianischen Vorlage wesentlich stärker folge als im zweiten; das dritte sei selbständig gestaltet (marte nostro, wie Cicero in off. 3,34 auch selbst angibt). Für meine Fragestellung nach der Begründung der gemeinschaftsstärkenden Funktion von Wohltaten sind die Arbeiten zur Quellenforschung insofern wichtig, als sie mir dabei helfen, das Verhältnis stoischer vs. politischer Argumentation genauer bestimmen zu können. Insbesondere die Untersuchung von Lefèvre ist hierbei für mich sehr wertvoll: Die Passagen zur beneficentia nehmen, wie wir sehen werden, insbesondere in den ersten beiden Büchern De officiis breiten Raum ein. Wenn Lefèvres Beobachtungen zutreffen, ist zunächst eher eine philosophische, später eine stärker politisch verankerte Darstellung zu erwarten. Auch Heilmann setzt sich mit dem Nebeneinander von philosophischer und politischer Betrachtung in De officiis auseinander. Er stellt heraus, dass das Werk als Ausdruck des Gruppenbewusstseins der römischen Aristokratie gelten könne, worin sich in erster Linie die Unfähigkeit spiegle, den geänderten politischen Rahmenbedingungen zu begegnen. Die Schrift zeige die Verbundenheit mit Wertvorstellungen, die einer ideal vorgestellten Tradition entnommen würden; insgesamt bestimme das Normative die Erörterung, obwohl Cicero praktikable praecepta in Aussicht stelle.92 Tatsächlich beziehe Cicero die Realität nur in eingeschränkter Weise ein; der Versuch, ethische Reflexion und römische Lebenswirklichkeit zu

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seien die Ergebnisse doch weitgehend überzeugend, und es zeige sich klarer als etwa bei Pohlenz, dass Cicero im allgemeinen Panaitianisches übernehme. Lefèvre 2001, 8. Schubert 2002 spricht von einer petitio principii, doch führe „die keinen Problemen ausweichende Ausführlichkeit und Behutsamkeit der Argumentation […] nicht zu fundamentalen Zirkelschlüssen.“Außerdem Bees 2010, 161 Anm. 87, der Lefèvres Arbeit anerkennend einen beachtenswerten Versuch nennt. Lefèvre 2001, 10f. Lefèvre 2001, 11. Heilmann 1982, 9.

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verbinden, wird von Heilmann als gescheitert beurteilt.93 Nach Heilmann ist der Bezugsrahmen von De officiis die verlorene res publica; Cicero weiche der persönlich empfundenen Krisensituation rückwärtsgewandt aus. Mit der Verbindung philosophisch-ethischer und politischer Argumente bei Cicero (nicht allein bezogen auf De officiis) beschäftigt sich auch Gotter, kommt aber zu einer anderen Einschätzung als Heilmann. Während seiner Beobachtung nach im griechischen Raum theoretische Ethik und praktisches Handeln unverbunden nebeneinander stehen konnten, ohne dass inhaltliche Widersprüche thematisiert werden mussten, habe Cicero philosophische Überlegungen beständig praktisch rückgebunden.94 In seiner Dissertation führt Gotter aus, dass Cicero eine konservative Grundhaltung vertrete (Bewahrung der res publica) und er sich besonders seit der Catilinarischen Verschwörung mit der politischen Ordnung Roms identifiziere.95 Nach diesem Ansatz ist die Verteidigung der res publica stets auch Selbstverteidigung, die durch die Einbeziehung philosophischer Argumente zusätzliche Legitimation erfährt. Dyck geht in seinem Kommentar zu De officiis von der Feststellung aus, dass das Werk „stands at the confluence of several agenda, personal and political, a fact that has made it hard to evaluate. It has proved difficult for modern scholarship to separate the strands and determine where we hear the voice of the Rhodian philosopher Panaetius or other philosophical sources, where the voice of Cicero himself […].“96

Gegen Pohlenz macht er (ähnlich wie Lefèvre) die These stark, dass Cicero sich häufig von seiner stoischen Vorlage löse.97 Gesonderte Abhandlungen zur beneficentia bei Cicero finden sich nicht, abgesehen von einem Aufsatz Feuvrier-Prévotats. Sie beginnt mit einem Verweis darauf, dass De officiis an die mauss’schen Ausführungen erinnere, wobei sie keinen

93 Heilmann 1982, 155. 94 Gotter 1996, 355. 95 Gotter 1996,109f. und 123. In Phil. 2,1 identifiziert sich Cicero selbst mit der res publica: Quonam meo fato, patres conscripti, fieri dicam, ut nemo his annis viginti rei publicae fuerit hostis, qui non bellum eodem tempore mihi quoque indixerit? Die Gleichsetzung seiner selbst mit der res publica findet sich auch schon an früherer Stelle in Ciceros Werk: Cic. Sest. 15; Cic. dom. 96; Cic. red.sen. 36. 96 Dyck 1996, 2. 97 Dyck 1996, x. Dycks Anliegen ist es, wie er ebd., x, angibt, einen benutzerfreundlichen Kommentar zu erstellen, indem er seine fortlaufenden Anmerkungen eher knapp gestaltet. Er diskutiert textkritische Fragen, wenn dies für das Verständnis der Passage wichtig ist, zitiert antike Parallelstellen, verweist auf Literatur, in der sich Hintergrundinformationen finden, und beurteilt die jeweils besprochene Stelle kurz selbst. Zusätzlich führt er in längere, zusammenhängende Abschnitte ein, indem er deren Struktur und Gehalt darstellt und damit einen ersten Überblick ermöglicht. Auch die Passagen zur beneficentia in off. 1 und 2 werden auf diese Weise eingeführt, wobei Dyck ebd., 155, für off. 1,42–60 Cicero „apparent lack of interest in the topic“ attestiert, was zu prüfen sein wird (Zu off. 2 ebd. 436; 456; 461).

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Vergleich beider anstrebt, sondern das Syntagma Geben/Nehmen bei Cicero untersuchen will, insgesamt jedoch kaum mehr als eine Paraphrase der entsprechenden Passagen bietet.98 Sie stellt fest, dass Cicero für den Komplex der officia/beneficia mit Vokabeln des Gebens und Nehmens arbeite, diese aber ebenso für „échanges commerciaux“ verwende, außerdem Begriffe der Handels- und Finanzsprache häufig im Zusammenhang mit der beneficentia benutze.99 Diese letzte Bemerkung, welche – um meiner Interpretation an dieser Stelle kurz vorzugreifen – für die insbesondere in off. 2 skizzierte Funktion von Wohltaten bedeutsam ist, wird leider nur im Nachsatz angeführt, Feuvrier-Prévotat wünscht sich dafür eine gesonderte Analyse, die es jedoch, soweit ich dies überblicken kann, noch nicht gibt. Ergiebig für meine Themenstellung sind Untersuchungen, die den Stellenwert der iustitia in De officiis beleuchten, als deren Teil Cicero die beneficentia einführt (off. 1,20). Genannt sei an dieser Stelle Atkins,100 welche die These vertritt, dass Cicero eine neuartige Gerechtigkeitskonzeption vorlege: „De officiis contains the earliest theory of justice we possess that explicitly defines justice as that which builds up society.“101

Anders als diejenigen Kommentatoren, nach deren Auffassung Cicero in off. 1 vor allem aus der Stoa schöpfe, ist Atkins überzeugt, dass die Verbindung von iustitia und beneficentia originär ciceronisch sei; sie ergebe sich, weil „Cicero can see justice and beneficence as playing complementary roles in the single task of building up societas.“102 Atkins betont, dass beneficentia ein „valuable object of social bonding“ gewesen sei und dass genau deswegen Cicero die Tugend zur iustitia gestellt habe, die er ja als gemeinschaftsstiftend und -erhaltend bestimme.103 98 99 100 101

Feuvrier-Prévotat 1985, 257. Feuvrier-Prévotat 1985, 279f. Außerdem sei verwiesen auf Fiori 2011. Atkins 1990, 258 (ähnlich Atkins 2000, 509). Sie hat zudem im Jahr 1991 gemeinsam mit Griffin eine hervorragend eingeleitete und mit Anmerkungen versehene zweisprachige (lateinischenglische) Ausgabe von De officiis herausgegeben. 102 Atkins 1990, 266. Ebd. 278, greift sie die Frage nach dem Anteil des Panaitianischen in off. auf: „Finally, we might ask how original Cicero’s interpretation of iustitia is. It has been standard to attribute the essentials to Panaetius. I am happy to accept that Cicero exploited the latter’s attempt to ground the virtues in rational human nature, and indeed borrowed from the Greeks the four canonical virtues. There are good reasons, however, for thinking that some of the organisation, and much of the detailed content, of Cicero’s discussion of justice is his own.“ 103 Atkins 1990, 280. Wie Dihle 1978, 269, ausführt, ist in der griechisch-römischen Antike der Gedanke der Reziprozität wesentlicher Inhalt der Gerechtigkeit, die er als „soziale Tugend schlechthin“ bezeichnet, welche „in dieser Eigenschaft in engste Beziehung zur Menschenliebe, Freundschaft und dergleichen treten“ müsse. Bereits in der griechischen Tragödie habe die Gerechtigkeit, in der dikaiosyne und chrestotes enthalten seien, als soziale Verhaltensnorm eine Sonderposition unter den Kardinaltugenden eingenommen (ebd. 234). Innerhalb der Gemeinschaft soll nach Dihle „das Erweisen und Vergelten von Leistungen immer wieder neu einen ausgewogenen Zustand herbeiführen.“ Dies zeige sich am deutlichsten beim Warenaustausch und bei der strafenden Vergeltung (ebd. 248). Insofern ist es nicht überraschend, dass die beneficentia der iustitia beigestellt wird.

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AUSRICHTUNG UND PERSPEKTIVE Ciceros Schrift De officiis präsentiert sich als Brief an seinen Sohn Marcus, der zur Abfassungszeit des Werkes in Athen weilte und dort Philosophie studierte.104 Im Epilog führt Cicero aus, dass sein Plan, Marcus zu besuchen, sich umständehalber nicht habe verwirklichen lassen (off. 3,121). Mit den drei Büchern De officiis sei nun schriftlich dargelegt, was er von Angesicht zu Angesicht hätte sagen wollen.105 Damit wird De officiis zunächst zum Austragungsort der Beziehung von Cicero und Marcus. Insofern als der Text zur Veröffentlichung bestimmt war, beschränkt sich die Kommunikationssituation jedoch nicht auf Verfasser und Adressaten, sondern erstreckt sich zugleich auf einen weiteren Rezipientenkreis. Diese doppelte Gerichtetheit des Werkes zeigt sich deutlich in off. 2,45, wo Cicero anmerkt, er habe diese Darstellung nicht allein für seinen Sohn unternommen, sondern um dessen ganzer Generation willen.106 Dyck bezeichnet De officiis als Ciceros „personal and political legacy“, worin jedoch „less of Cicero the philosopher than Cicero the father and politician“ zu sehen sei.107 Cicero möchte also nicht nur Marcus für seinen Lebensweg rüsten und unterweisen, sondern wendet sich an die jungen Aristokraten überhaupt.108 Die Unterweisung zielt zunächst auf imitatio; Cicero wirft immer wieder sein eigenes Beispiel in die Waagschale: Gleich zu Beginn, im Zuge der Zueignung an Marcus, empfiehlt er eine gründliche philosophische und rhetorische Ausbildung – und zwar auf Griechisch und Latein. Was Cicero selbst für sich geltend macht, ist die Fähigkeit, philosophische Gedanken in eine ansprechende, rhetorischen Prinzipien folgende sprachliche Form zu bringen (apte, distincte, ornate dicere; off. 1,2)109 – dies illustriere sein Oeuvre, zu dessen Studium er grundsätzlich aufruft.

104 Der „Brief“ wird eingerahmt von einer Anrede in off. 1,1 (Marce fili) und einem Abschiedsgruß in off. 3,121 (Vale igitur, mi Cicero). Marcus wird im Werk insgesamt 32 Mal direkt adressiert (Dyck 1996, 60). 105 Die Einseitigkeit der Kommunikation, die sich schriftlich zwangsläufig ergibt, weil der Angesprochene auf die erörterten Inhalte erst nach Erhalt des Briefes reagieren kann, hätte sich in diesem Fall im mündlichen Gespräch vermutlich kaum anders dargestellt: Ciceros Anliegen ist es, Marcus zu ermahnen, zu unterweisen und zu einem soliden Lebensweg hin zu führen; die passive, hörende bzw. lesende Rolle des Sohnes dürfte insgesamt der erzieherischen Bemühung des Vaters geschuldet sein. 106 Mihi autem haec oratio suscepta non de te est, sed de toto genere. Genus mit Generation zu übersetzen, scheint mir deswegen plausibel, weil es zuvor schon um das besondere Los dieser Generation ging (tua autem aetas incidit in id bellum...; ebd.), Cicero daraufhin seines Sohnes Verdienste im Heer des Pompeius herausstellte, um dann aber mit dem zitierten Satz wieder zur Gesamtschau überzugehen. Nickel und Gunermann beziehen genus auf die Fragestellung des Abschnittes, die Gewinnung von gloria, und übersetzen den Begriff mit „Thema“ (Nickel) bzw. „Problemstellung“ (Gunermann). Zur Ausrichtung des Werkes vgl. Dyck 1996, 29. 107 Dyck 1996, 36 und 39. 108 Colish 1990, 143f. 109 In off. 1,1 heißt es: ... ut ipse ad meam utilitatem semper cum Graecis Latina coniunxi neque id in philosophia solum, sed etiam in dicendi exercitatione feci, idem tibi censeo faciendum, ut

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Um nun aber dem Sohn hoc tempore110 eine eigene Schrift zu widmen, sei es nötig gewesen, aus der Fülle möglicher philosophischer Fragestellungen ein Thema auszuwählen, das sich einerseits für dessen Alter, andererseits für Ciceros auctoritas eigne. Als passend erscheint ihm, wie er ausführt, eine Behandlung der officia, der Pflichten menschlichen Handelns. Cicero spricht Marcus hier direkt an; er macht deutlich, dass weder dann, wenn dieser auf sich allein gestellt sei, noch dann, wenn er mit anderen zusammen handle, es einen Moment ohne officia geben könne. Es ist durchaus von Bedeutung, dass Cicero officia für Marcus – und, stets mitgedacht: seinesgleichen – formulieren will. Pflichten also, die jungen Aristokraten helfen sollen, einen Lebensweg einzuschlagen, der ihrer Position entspricht. Für die Besprechung der officia möchte Cicero, wie er nun weiter ausführt, der Stoa folgen, wobei er betont, dass er keine Übersetzung stoischer Theorie anstrebe, sondern auf seine gewohnt eklektische Weise aus der Lehre schöpfe, wie es ihm günstig scheine.111 In off. 1,7 kündigt er zunächst an, bestimmen zu wollen, was ein officium sei, was Panaitios, wie Cicero mit Verwunderung feststellt, versäumt habe. An dieser Stelle muss der Leser wissen, dass Panaitios vor Cicero eine Pflichtenlehre verfasst hat, Peri tou kathekontos. Ganz nebenbei wird hier die wichtigste Vorlage von De officiis eingeführt.112 Eine kurze Begründung dafür, gerade den Stoikern zu folgen, findet sich erst in off. 3,20, wo Cicero ihnen die für ihn selbst zentrale Maxime zuschreibt, das Gemeinwohl stets über Einzelinteressen zu setzen

par sis in utriusque orationis facultate. Die Formulierung ist uneindeutig: Empfiehlt Cicero seinem Sohn, Griechisch und Latein parallel zu studieren, oder sollen Philosophie und Rhetorik ineinandergreifen? Da Cicero im Folgenden ausführt, dass er zwar vielen zugestehe, sich aufs Philosophieren zu verstehen, die Fähigkeit einer rhetorischen Durchgestaltung der Rede aber als sein Verdienst herausstellt, halte ich die zweite Lesart für wahrscheinlicher. 110 Das Werk entstand vermutlich im Herbst 44. Zur Datierung Cic. Att. 15,13,6 vom 28.10. 44; darin kündigt Cicero seinem Freund die Pflichtenlehre an; am 5.11. (Att. 16,11,4) vermerkt er, die Bücher 1 und 2 seien fertig. Long 1995, 220f. formuliert die Vermutung, dass Cicero bereits im Sommer und Frühherbst an De officiis gearbeitet habe, denn im Oktober und November sei er sehr ausgelastet gewesen (ebd. 221; 224: „Cicero may well have begun thinking about Off. immediately after he despatched De gloria to Atticus. That chronology would help to explain why the topic of glory looms so large in the first two books of Off.“) 111 Cic. off. 1,6: Sequimur igitur hoc quidem tempore et hac in quaestione potissimum Stoicos, non ut interpretes, sed, ut solemus, e fontibus eorum iudicio arbitrioque nostro quantum quoque modo videbitur, hauriemus. Zum Eklektizismus off. 3,20: Nobis autem nostra Academia magnam licentiam dat, ut, quodcumque maxime probabile occurrat, id nostro iure liceat defendere. Dyck 1996, 357, merkt an, dass Cicero im zweiten Buch der Pflichtenlehre viel peripatetisches Gedankengut aufgegriffen habe, das so bereits in der Vorlage des Panaitios zu finden gewesen sein dürfte: „in a sense, then, Panaetius himself was something of an eclectic.“ Long 2003, 198f. und Bees 2010, 169 stehen der Bezeichnung Ciceros als Eklektiker kritisch gegenüber; Bees ebd. nennt Cicero im Herzen einen Stoiker. 112 Prägnant ist außerdem eine Bemerkung im dritten Buch: Panaetius … quem nos correctione quadam adhibita potissimum secuti sumus (off. 3,7). Auch in off. 2,60 wird auf Panaitios als Vorlage verwiesen, wiederum verbunden mit dem Hinweis, dessen Theorie nicht als Übersetzer zu übernehmen.

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bzw., recht verstanden, Gemeinwohl und Einzelinteressen in eines fallen zu lassen.113 Panaitios als prominenter Vertreter der sogenannten „mittleren Stoa“114 stellte die kathekonta, die prinzipiell für alle gelten, ins Zentrum seiner Überlegungen.115 Bei Cicero werden die katorthomata als recte facta bzw. perfecta officia (off. 1,8) wiedergegeben, kathekonta als media officia, oft auch ohne Attribut;116 wie Panaitios möchte Cicero sich mit letzteren befassen, weil sie sich auf das tägliche Leben bezögen (off. 1,7) und an alle gerichtet seien, die den Keim der Tugend in sich trügen (off. 1,46; ganz ähnlich auch off. 3,15f.).117 So ist De officiis insgesamt eine Erörterung derjenigen Handlungen, die grundsätzlich natürlich angelegt sind, kraft der ratio bejaht und entwickelt werden und deren Ausführung nicht dem Weisen vorbehalten bleibt.118 Die Handlungsanweisungen sind stoisch fundiert und an der römischen res publica ausgerichtet.119

113 Cicero spricht von einer formula. Deren Wortlaut wird im Text nicht klar begrenzt. Zur Stelle Dyck 1996, 523–525. 114 Begriff nach Schmekel 1892: „Die Philosophie der mittleren Stoa“; vgl. auch Dihle 1978, 268. Der Begriff ist nach wie vor gebräuchlich, vgl. etwa Colish 1990, 45 u.a., oder, bereits im Buchtitel, Vimercati 2004: „Il Mediostoicismo di Panezio“. Er bleibt aber nicht unwidersprochen, vgl. Sedley 2003, 23f. 115 Dazu Dihle 1978, 269: „Mehr als für die orthodoxen Stoiker stehen für Panaitios und Poseidonios die realen Gegebenheiten und Erfordernisse des staatlichen Lebens im Vordergrund.“ Colish 1990, 45, urteilt, dass es den Vertretern der mittleren Stoa darum gegangen sei, „to soften the rigor oft he orthodox position in some respects.“ Ähnlich schon Labowsky 1934, 1. Ferner Büchner, 1964, 437f.; Dyck 1996, 161; Bringmann, 2003, 157; Gill 2003, 33; Gotter, 2003, 179. Die größere Lebensnähe ändert nichts am Ziel des eigenen Strebens; dieses bleibt auch in der mittleren Stoa die Eudämonie des Weisen. Hierzu Fiori 2011, 57. 116 Zur Problematik der Übersetzung kathekon – officium – Pflicht: Pohlenz, 1984, 135; Bees 2004, 275. Zur Deutung des Werktitels De officiis Atkins 2000, 505: „Cicero was following a Greek tradition of writing about to kathekon […]. However, by using the word officium (and self consciously using the plural (Att. XVI.11.4)) he gave his discussion a thoroughly Roman nuance. Unlike kathekon, officium is intrinsically linked to a role or relationship: one might talk of the officium of a consul, or of a friend. Moreover, an officium requires a beneficiary […]. The word is given its moral life by the complete web of personal and institutional relationships that structured Roman society.“ 117 Cicero verweist darauf, dass seine Erörterung an der communis opinio ausgerichtet sei; er formuliert: Popularibus enim verbis est agendum et usitatis, cum loquimur de opinione populari, idque eodem modo fecit Panaetius (Cic. off. 2,35). 118 Colish 1990, 145, vertritt die These, dass De officiis ein „Ciceronian amalgam“ darstelle, worin die Stoa zwar eine zentrale Rolle spiele, die Lehre aber mit anderen philosophischen Strömungen, römischen Wertvorstellungen und Ciceros politischen Visionen vermischt sei. Was die Einflüsse anderer Philosophenschulen betrifft, sei nicht klar bestimmbar, was davon vielleicht schon bei Panaitios so stand. 119 Zum Unterschied römischen Philosophierens gegenüber dem der griechischen Vorlagen Fuhrer 2012, 248: „Die Bedeutung der philosophischen Schulen und ihrer Lehrinhalte war im kaiserzeitlichen Rom klar eine andere als im klassischen und hellenistischen Athen. Man könnte von einer Politisierung der philosophischen Kommunikationsräume sprechen. Dies ist eine Tendenz, die sich mit Sicherheit in anderen Städten und in anderen Zeitstellungen ebenfalls

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Wie Heilmann richtig beobachtet, vernachlässigt Cicero die tatsächlichen Gegebenheiten des Jahres 44 v. Chr. zugunsten eines nicht mehr gültigen Staatsmodells,120 das in seiner Darstellung auf Eintracht und Macht der Senatsaristokratie basierte. Liest man Ciceros Pflichtenlehre nun aber als den Versuch, im Rekurs auf stoische Theorie genau dieses verlorene Staatsmodell als beste Vergemeinschaftungsform herauszustellen und Verhaltensregeln zu formulieren, die in einer so wiederherzustellenden res publica praktisch anwendbar wären, ergibt sich eine philosophische Rechtfertigung der eigenen konservativen Überzeugung und, insofern als das Vergangene auch für die Zukunft als bester Weg erscheint, ein restaurativer Ansatz.121 In diesem Sinne bezeichnet Atkins De officiis als „a conservative moral response to the revolution through which he was living.“ Ihrer Ansicht nach lässt sich das Werk verstehen als „“the philosophic counterpart to the Philippics.“122 Das bedeute nicht „that his theory was timely in the sense that it could have provided a practical remedy for the ills of his age“, doch wenngleich De officiis keinen zeitgemäßen Lösungsvorschlag der Krise biete, „it was not, surely, valueless to suggest an alternative strategy for restoring and maintaining peace.“123 Mein Anliegen ist nicht ein Abgleich der ciceronischen praecepta mit der Lebenswirklichkeit der Zeit; dies wurde und wird in althistorischen Publikationen überzeugend erörtert.124 Für mich ist die Grundannahme entscheidend, dass die in

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beobachten ließe, die sich aber in Rom durch die politische Präsenz der Philosophen bzw. der sie beschreibenden Texte und Autoren besonders deutlich ausgeprägt hat.“ Wenngleich hier vom Rom der Kaiserzeit die Rede ist, trifft die Beobachtung auch schon auf Cicero zu, wie sich aus Fuhrers Darstellung insgesamt ablesen lässt. Heilmann 1982, 151. „Modell“ wird verwendet im Sinne Stachowiaks als verkürzte Abbildung eines Originals (Stachowiak 1973, 128–133, nennt drei allgemeine Merkmale von Modellen: 1) Abbildungsmerkmal, 2) Verkürzungsmerkmal 3) Pragmatisches Merkmal). Cicero ist, wie entsprechenden Bemerkungen zu entnehmen ist, durchaus bewusst, dass die res publica zum Abfassungszeitpunkt von De officiis schon verloren war. In off. 2,26f. datiert er den Beginn des Verfalls der res publica auf die Zeit post Sullae vero victoriam. Griffin 2013, 10f.: „Cicero tried to formulate in theoretical terms the ancestral code of behaviour of the Republican governing class, a code that he saw threatened by the apparently irreversible change in political conditions. […] Cicero was encouraging the young to preserve and live up that social code.“ Ähnlich bereits Griffin 2003, 106; dort bezeichnet sie den mos maiorum als Ciceros „recipe for the regeneration of the Roman governing class“. Strasburger 1976, 97f., merkt an, dass es eine grundsätzliche, bereits in der Sprache zu fassende Neigung der Römer gewesen sei, das Vergangene zu verklären. Ebd., 98, heißt es: „Der Gleichung ‚alt – gut‘ entspricht die optische Vorstellung ‚alt – hoch‘. Vergangenheit heißt lateinisch superior aetas, die ihr zugehörigen Menschen superiores. Superior und summus sind aber zugleich Qualitätsbegriffe.“ Atkins 2000, 513. Atkins 2000, 515f. In der übersetzten Ausgabe, die von Atkins gemeinsam mit Griffin vorgelegt hat, heißt es im Vorwort (Atkins/Griffin 1991, xv): „The political assumptions of De Officiis are not therefore unrealistic, for it was the time of genuine political ambiguity, and the concern of the work with the difficulty of moral decision exactly suits the corresponding moral ambiguity that individuals faced.“ Verweisen möchte ich in diesem Zusammenhang an erster Stelle auf die Arbeiten Gotters.

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De officiis formulierten praecepta nach Ciceros Darstellung darauf ausgelegt sind, umgesetzt zu werden.125 Hiervon ausgehend, wende ich mich also der Frage zu, welche Funktion nach Cicero die beneficentia für das Gemeinwesen hat und welchen Charakter dieses Gemeinwesen trägt. Ciceros Perspektive ist die der Oberschicht, seine Zielgruppe sind mit Marcus und den jungen Aristokraten die potentiell Gebenden.126 Dieser Blickwinkel ist während der Textlektüre immer wieder spürbar und in den Deutungen der praecepta stets zu berücksichtigen. BEHANDLUNG DER BENEFICENTIA IN DE OFFICIIS Ciceros Überlegungen zur beneficentia finden sich nicht konzentriert an einer Stelle im Werk, sondern nehmen Teile aller drei Bücher ein. In den Büchern 1 und 2 werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt; im dritten Buch finden sich Überlegungen aus Buch 1 wieder aufgenommen und vertieft. Cicero unterteilt die pflichtgemäßen Handlungen in tugendhafte und nützliche; das erste Buch ist dem Tugendhaften gewidmet, das zweite dem Nützlichen, für das dritte ist ein Vergleich beider angekündigt.127 Wie Cicero selbst angibt, sind die Begriffe eigentlich nicht voneinander zu trennen: Das Tugendhafte bildet stets die Grundlage des Nutzens, der, wofern die Gerechtigkeit gewahrt bleibt, auch in der Erfüllung eigener Wünsche bestehen kann.128 Dieser Zusammenhang zieht sich als Leitgedanke durch die gesamte Pflichtenlehre. Das Tugendhafte gründet für Cicero im menschlichen Wesen. Das erste Buch ist folgendermaßen strukturiert: 1. In off. 1,11–14 referiert Cicero die Grundzüge des menschlichen Wesens. 2. In off. 1,15–17 nennt er, davon ausgehend, die vier Kardinaltugenden, die 3. ab off. 1,18 im weiteren Verlauf des ersten Buches De officiis ausführlich im Hinblick auf die sich daraus ergebenden Verpflichtungen zur Untersuchung kommen.129 Bezogen auf die beneficentia ergibt sich folgender Argumentationsgang: 1. Die Anlage zur beneficentia wird im geselligen Wesen des Menschen verortet (off. 1,12); 2. als Tugend wird sie gemeinsam mit der iustitia und der Vertragstreue der zweiten Kardinaltugend zugeordnet (off. 1,15) 3. und systematisch in off. 1,42–59 untersucht (sowie kurz in off. 1,20–22 eingeführt; ferner sind die Abschnitte off. 1,93–1,124 einzubeziehen).

125 Zu Ciceros Intention Fiori 2011,59: „ Il suo intento non è di istruire alla filosofia, ma di convincere i propri lettori spiegando in forma nuova, attraverso la filosofia, la necessità di tornare ai valori tradizionali che ispirano il partito degli ottimati.“ 126 Heilmann 1982, 2f.; Long 1995, 214; Raccanelli 2009, 320; Griffin 2013, 11 und 49. 127 Vgl. zu dieser Anordnung off. 1,9f. 128 Hierzu Colish 1990, 148–152. 129 Diese Anordnung entspricht der stoischen Ethik: Das Wesensgemäße, Triebhafte bildet die Grundlage des vernunftgeprüften Tugendhaften.

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Aufbauend auf den Ausführungen zum Tugendhaften werden im zweiten Buch Wohltaten – ungleich ausführlicher – im Hinblick auf ihren Nutzen behandelt. Im Vordergrund steht der Nutzen des Handelnden, des Wohltäters – stets aber orientiert am Kriterium der Tugendhaftigkeit. Dazu wird ausgeführt, 1. in welcher Weise Tugendhaftigkeit und Nutzen grundsätzlich aufeinander bezogen sind (off. 2,1–2,10), 2. wie das utile (im Sinne größtmöglicher Vorteile für alle) durch artes operosae und gute Führung der Gemeinschaft zu erreichen ist (off. 2,13–17), 3. dass die Führung auf Gefolgschaft beruht und diese wiederum v.a. auch durch beneficia zu erlangen ist (off. 2,19f.; 2,32), 4. und schließlich, wie beneficia der Führungsschicht aussehen sollten (off. 2,52– 2,72). Im dritten Buch De officiis ist eine Wiederholung zentraler Aussagen zum honestum aus Buch 1 zu beobachten, insbesondere zur Fundierung der iustitia/beneficentia in der stoischen Ethik. Aufgrund der großen inhaltlichen Nähe sollen die entsprechenden Passagen (off. 3,21–32) im Zuge der Untersuchung von off. 1 mit besprochen werden. Im übrigen folgt der Untersuchungsgang im Wesentlichen dem Werkaufbau. WOHLTATEN UND GEMEINSCHAFTLICHES GEDEIHEN natura und honestum: Grundlegung der beneficentia off. 1,11–1,15 Unmittelbar nach dem Prooem setzt Cicero in off. 1,11 ein mit Überlegungen zur natürlichen Ausstattung aller Lebewesen130 und zur Sonderstellung des Menschen, die sich aus der Vernunftbegabtheit ergibt. Cicero referiert hierfür Grundgedanken der stoischen Oikeiosislehre. In off. 1,12 verwendet Cicero – wie nach ihm Seneca – das lateinische Verb conciliare zur Wiedergabe des griechischen oikeioun:131 … natura vi rationis hominem conciliat homini et ad orationis et ad vitae societatem (off. 1,12).132 Cicero hebt insbesondere hervor, dass die natura jedem Einzelnen

130 Cicero führt aus, dass jedem Lebewesen zuallererst der Selbsterhaltungstrieb gegeben sei: Es schütze sich von Natur aus selbst, meide Schädliches, strebe nach Lebenserhaltendem. Dazu gehörten der Drang, die eigene Spezies fortzupflanzen, sowie eine gewisse Fürsorge für die eigenen Nachkommen. Ganz ähnlich Cic. fin 3,16. 131 S. o. Anm. 28 im Abschnitt zur Oikeiosis. 132 „… die Natur bringt auch kraft der Vernunft den Menschen dem Mitmenschen nahe zur Gemeinschaft der Rede und der Lebensgestaltung.“ (Übersetzung Gunermann 1992) Aus off. 1,12 ergibt sich als für Cicero wesentlicher Bestandteil des menschlichen Wesens die Kommunikationsfähigkeit. Die Entwicklung der Sprechfähigkeit wird auch in off. 1,50 sowie in De re publica dargestellt, und zwar am lückenhaft überlieferten Beginn des dritten Buches, wo sich

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eine außerordentliche Liebe zu den eigenen Nachkommen einpflanze, ihn zu Versammlungen und Zusammenkünften geneigt mache sowie dazu veranlasse, nicht nur für sich zu sorgen, sondern für alle, die ihm nahe stehen. Die Untersuchung der Pflichten menschlichen Handelns nimmt also ihren Anfang in der Überlegung, dass der Mensch grundsätzlich gesellig und hilfsbereit geartet ist.133 Cicero beschreibt Geselligkeit und Hilfsbereitschaft (insbesondere gegen Nahestehende) als instinktive Neigungen (natura ingenerat, impellit); damit sind sie zwar noch keine Tugenden, bilden aber deren Grundlage.134 Die Tugenden werden in off. 1,15 genannt, wobei Cicero jedoch die konkreten Bezeichnungen der Kardinaltugenden durch Umschreibungen ersetzt.135 Aus der Geselligkeit bzw. Fürsorge für Nahestehende ergeben sich drei Bereiche tugendhaften Handelns, nämlich erstens, die Gemeinschaft zu schützen ([sc. omne, quod Cicero, wie wir durch Augustin und Laktanz wissen, mit der menschlichen natura auseinandergesetzt hat. Trotz seiner körperlichen Unzulänglichkeiten beschreibt Cicero – nach der Darstellung bei Lact. opif. 3,16–19 – den Menschen als den übrigen Lebewesen überlegen, weil ihm allein die Vernunft gegeben sei, die ihn einerseits klug und erfinderisch mache und auf deren Grundlage er andererseits in der Lage sei, von verschwommenen Lauten zu Worten zu finden: … hominesque antea dissociatos iucundissimo inter se sermonis vinculo conligavit (rep. 3,3). 133 Aus den Tugenden lassen sich wiederum certa officiorum genera ableiten, was Cicero ab off. 1,18 im weiteren Verlauf von off. 1 unternimmt. Die Reihenfolge der Aufzählung ist eine andere als in off. 1,11–14, wird so aber dann auch in der Darstellung der einzelnen kathekonta/ officia beibehalten. Atkins 1990, 270, beschreibt Ciceros Ausführungen als deskriptiv und normativ zugleich: Deskriptiv seien sie in der Annahme der Naturgemäßheit von Gemeinschaft; normativ insofern, als „by accepting the premise, we acquire the motivation to act in accordance with a iustitia interpreted as Cicero interprets it.“ 134 Diese Vorstellung von der natürlichen Geselligkeit des Menschen durchzieht das Werk. Am Ende des ersten Buches stellt sich Cicero explizit gegen die sogenannte Schwächetheorie (Begriff nach Gehlen; vgl. Steinmetz 1969, 181), nach der Zusammenschlüsse und Fürsorge eine Notwendigkeit seien, die das Überleben des Einzelnen überhaupt erst ermöglichten: Nec verum est quod dicitur a quibusdam propter necessitatem vitae, quod ea, quae natura desideraret, consequi sine aliis atque efficere non possemus, idcirco initam esse cum hominibus communitatem et societatem (off. 1,158). In De officiis finden sich andererseits durchaus Passagen, in denen der Nutzen von Zusammenschlüssen ausgeführt und insbesondere die Sicherheit des Einzelnen als deren Aufgabe begriffen wird. Stets unterstreicht Cicero jedoch, dass der Ursprung von Gemeinschaft im geselligen Wesen des Menschen zu sehen sei. Vgl. hierzu Steinmetz 1969, 182 und 187, Atkins 1990, 285–289 sowie Griffin 2013, 26. 135 Die Tugenden lassen sich jeweils einem der Wesensmerkmale aus off. 1,11–14 zuordnen: off. 1,11–14: Anlagen

off. 1,15: Tugenden

off. 1,13: Wahrheitsstreben

Aut enim in perspicientia veri sollertiaque versatur.

off. 1,12: Geselligkeit, Fürsorge für Angehörige

aut in hominum societate tuenda tribuendo suum cuique et rerum contractarum fide,

off. 1,13: Führungsstreben

aut in animi excelsi atque invicti magnitudine ac robore

off. 1,14: Sinn für Maß und Ordnung

aut in omnium, quae fiunt quaeque dicuntur ordine et modo, in quo inest modestia et temperantia.

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est honestum, versatur] in hominum societate tuenda), ferner, jedem das Seine zuzuteilen (tribuendo suum cuique) und drittens, verbindlich zu Verträgen zu stehen (rerum contractarum fide). Mit der Formulierung vom suum cuique tribuere fällt hier ein Schlagwort, das, wie Dihle ausführt, in der Antike – auch in der Stoa136 – in Begriffsbestimmungen der Gerechtigkeit enthalten gewesen sei.137 Der Gedanke des suum cuique wurzelt in der Grundüberzeugung, dass das Weltganze dann gedeiht, wenn alles darin Befindliche sich wesensgemäß entfalten kann. Pflanzen wachsen dann gut, wenn sie die Lebensbedingungen vorfinden, die ihrer Art entsprechen; Tiere suchen instinktiv nach dem, was sie brauchen. Allein der Mensch kann (und soll!) aufgrund seines Wesens bewusst entscheiden, was ihm selbst und anderen wirklich zukommt.138 Der Zustand gesamtkosmischer Harmonie, den es zu erreichen gilt, gründet – was den Menschen betrifft – demnach in dieser Fähigkeit, entscheiden zu können, was jedem Einzelnen zuzuteilen ist, in der Gerechtigkeit also. Der Verweis auf die danach separat genannte Vertragstreue, die den dritten Teil der zweiten Tugend bildet, erlaubt die Folgerung, dass das suum cuique sich zunächst auf Handlungen bezieht, die außerhalb vertraglicher Bindungen ablaufen. Was für Cicero zu dieser zweiten Tugend gehört, sind Verhaltensweisen, die dazu beitragen, die Gemeinschaft zu bewahren. Dazu gehört auch gerechtes Handeln, das zwar nicht explizit als solches bezeichnet wird, sich aus der Maxime, jedem das Seine zuzuteilen, die traditionell das Gerechte definiert, aber implizit ergibt.139 Zugleich verweist Cicero mit dieser Wendung des suum cuique tribuere, zumal im Kontext der Oikeiosislehre (off. 1,12), an dieser Stelle auf wohltätiges Verhalten im oben bestimmten, weiten Wortsinn. Gerechtes und wohltätiges Handeln erscheinen auf diese Weise, so lässt sich implizit folgern, als eng miteinander verklammert.140

136 Dyck 1996, 111f. Vgl. auch nat. deor. 39, wo Cotta kurze Begriffsbestimmungen der Kardinaltugenden gibt; zur Gerechtigkeit sagt er: iustitia, quae suum cuique distribuit. Zu Verwendungen des Begriffes in der Stoa vgl. SVF 3,63,27; 3,64,1f.; 3,64,8; 3,65,24. Zur möglichen stoischen Provenienz der Formulierung vom suum cuique Liscu 1930, 232, Atkins 1990, 263. 137 Dihle 1978, 283f. Er verweist ebd. ferner darauf, dass die Verbindung von iustitia und suum cuique dem juristischen Sprachgebrauch entstamme. Vgl. auct. ad Herenn. 3,3: iustitia est aequitas ius unicuiusque retribuens pro dignitate cuiusque. Ähnl. Cic. inv. 2,160: iustitia est habitus animi communi utilitate conservata suam cuique tribuens dignitatem. In leg. 1,19 wird die Formel des suum cuique mit Platon in Verbindung gebracht, indem Cicero sie aus dem griechischen Begriff nomos herleitet. Zum suum cuique bei Platon etwa rep. 433a. 138 In SVF 3,48f. bezeichnet Porphyrius die Oikeiosis als Ursprung der Gerechtigkeit; ähnlich Cic. leg. 1,28: nos ad iustitiam esse natos (vor stoischem Hintergrund formuliert; vgl. Bees 2010, 151; Griffin 2013 21f.). 139 Hierzu Dyck 1996, 107: „That the second virtue involves justice became clearer in §15.“ 140 Damit umfasst die zweite Kardinaltugend hier mehr als die iustitia, mit der sie üblicherweise bezeichnet wird. Dies mag erklären, weshalb Cicero in off. 1,15 anstelle prägnanter Begriffe für die vier Tugenden auf Umschreibungen zurückgreift. Hierzu Atkins 1990, 265f. und 280. Ebd. 266 fasst sie prägnant zusammen: „Cicero can see justice and beneficence as playing complementary roles in the single task of building up societas.“

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off. 1,20–1,22 Die Zusammengehörigkeit von Gerechtigkeit und wohltätigem Handeln wird in off. 1,20 auch explizit greifbar: „Von den drei übrigen Quellen pflichtgemäßen Handelns [Anm. AJ: nach der knappen Behandlung des Erkenntnisstrebens in off. 1,18f.]141 habe dasjenige Verhalten die weiteste Geltung, durch das die Verbindung der Menschen untereinander und gleichsam die Lebensgemeinschaft bewahrt werde; dieses Verhalten gliedere sich in zwei Teile: in die iustitia, und, damit verbunden, in die beneficentia, die man auch benignitas oder liberalitas nennen könne.142 Während in off. 1,15 mithilfe einer dreiteiligen Beschreibung das Bild einer auf die Mitmenschen und die Gemeinschaft gerichteten Tugend entworfen wurde, macht Cicero hier die Wahrung der Gemeinschaft (= societas tuenda aus off. 1,15) gleichsam zum Dach, das auf den Säulen iustitia und beneficentia ruht.143 Am Wesen der Tugend hat sich durch diese Verschiebung nichts Entscheidendes geändert; sie wird nach wie vor durch eine Haltung gekennzeichnet, die dem Miteinander bzw. der Gemeinschaft nützlich ist. Die beschriebene Tugend steht – das geht aus der Passage ebenfalls hervor – für Cicero vor den übrigen honesta (latissime patet).144 Die konkreten Bezeichnungen iustitia und beneficentia erscheinen nach den Umschreibungen in off. 1,15 im Werk an dieser Stelle zum ersten Mal; beneficentia, als Ableitung von beneficium bzw. des Adjektivs beneficus, wurde, wie bereits erwähnt, vermutlich sogar von Cicero geprägt. Es ist bemerkenswert, dass er diesen Begriff beinahe unkommentiert einführt; er beschränkt sich darauf, ihm mit benignitas und liberalitas zwei Synonyme (quam eandem appellari licet) zur Seite zu stellen.145 Ähnlich leitet er die Auseinandersetzung mit den officia beneficentiae

141 Die Pflichten, die sich aus dem Streben nach Weisheit ergeben, werden zwar zuerst erörtert, doch es zeigt sich sowohl in der Kürze der Ausführungen als auch im Lob des aktiven Handelns in off. 1,19, dass sie für Cicero nicht an erster Stelle stehen. 142 De tribus autem reliquis latissime patet ea ratio, qua societas hominum inter ipsos et vitae quasi communitas continetur; cuius partes duae: iustitia, in qua virtutis splendor est maximus, ex qua viri boni nominantur, et huic coniuncta beneficentia, quam eandem vel benignitatem vel liberalitatem appellari licet. Zur Verbindung von iustitia und beneficentia auch SVF 3,64, wo chrestotes, eukoinonesia u.a. als der dikaiosyne untergeordnete Tugend bezeichnet werden. 143 Die Vertragstreue aus off. 1,15 wird zu Beginn von off. 1,23 gleichsam „nachgereicht“. Hierzu Dyck 1996, 114, außerdem Atkins 1990, 268. 144 Die Vorrangstellung der zweiten Kardinaltugend zeigt sich allenthalben in off. 1. In der Besprechung der fortitudo ab off. 1,62 etwa betont Cicero, dass Tapferkeit nur dann als solche gelten dürfe, wenn sie an der Gerechtigkeit und am Gemeinwohl rückgebunden sei. Die Besprechung des decorum ist – nicht nur in den Passagen zur Persona-Theorie (dazu s.u. ab S. 71) – vom Gedanken des suum cuique durchzogen. Und im Fazit des ersten Buches, in dem Cicero überlegt, welche Handlungspflichten denn die wichtigsten sind, kommt er mehrfach zu dem Ergebnis, dass diejenigen, die der Gemeinschaft dienten, stets den Vorrang haben müssten. S. Anm. 158 am Ende. 145 Zum Begriff s.o. S. 16 und 19f. Er kommt u.a. noch vor in de orat. 2,343, nat. deor. 1,121, div. 1,82 und ist vor Cicero nicht belegt.

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in off. 1,42 ein: de beneficentia ac de liberalitate dicatur, auch hier wiederum, ohne die Begriffe zu definieren.146 Nach der Einführung der zweiten Tugend in off. 1,20 skizziert Cicero im direkten Anschluss kurz ihre Funktion, wiederum sortiert nach ihren beiden Bestandteilen: Zur iustitia gehöre es zuallererst, niemandem zu schaden, es sei denn, man wurde durch (selbst erlittenes) Unrecht dazu provoziert, außerdem falle in ihren Bereich, communia und privata jeweils als solche zu behandeln.147 Die Pflicht, einem anderen nicht zu schaden (wenngleich relativiert durch den Nachsatz) bezeichnet das Recht auf Unversehrtheit; davon getrennt (wenngleich inhaltlich zugehörig) formuliert Cicero die Pflicht, Gemeineigentum und Privateigentum zu wahren. Das heißt einerseits, dass communia tatsächlich allen zugänglich sein sollten, andererseits aber, dass bestehende Eigentumsverhältnisse zu achten sind.148 Die Pflicht, Privateigentum zu wahren, lässt sich nur schwer mit der Stoa verbinden, die stets beim Naturgemäßen ansetzt. Das sieht Cicero auch selbst; in Fortsetzung der zitierten Passage gesteht er ein: Sunt autem privata nulla natura (off.

146 Ähnlich off. 2,52: de beneficentia ac de liberalitate dicendum est, cuius est ratio duplex. Beneficentia, liberalitas und benignitas – dieser dritte Begriff erscheint etwas später im selben Abschnitt – werden von Cicero synonym verwendet und bezeichnen, wie eine Unterscheidung in off. 2,52 anzeigt, sowohl materielle, besonders finanzielle, als auch tatkräftige Unterstützung anderer. Barmherzige Handlungen, die Seneca in De beneficiis als Akte der humanitas bezeichnet (Sen. benef. 4,29), beschreibt Cicero als vulgaris liberalitas (off. 1,52); humanitas kommt im Sinne von „Barmherzigkeit“ nicht vor. Liberalitas und beneficentia bezeichnen außerdem die allem Wohltun zugrunde liegende Tugend der freigebigen, großzügigen Gesinnung. Aus der Gegenüberstellung von liberalitas und prodigalitas in off. 2,55 ergibt sich, dass liberalitas stets eine Art der Freigebigkeit bezeichnet, die das rechte Maß zu wahren weiß. Prodigalitas, als negatives Pendant, steht für unmäßige, gedankenlose Prasserei. Auf materielle, besonders finanzielle Hilfeleistungen beschränkt bleibt stets der Begriff largitio, der im gesamten Werk teils neutral, teils mit pejorativem Beiklang verwendet wird: Es ist zu beobachten, dass das Verb largiri mehrfach im Zusammenhang falsch verstandenen Wohltuns vorkommt, das für Cicero mit Verstößen gegen die Maxime des suum cuique einher geht: Fremdes Eigentum wird geraubt, um Mittel für Schenkungen zu haben (off. 1,43; 2,83). Die Urheber von largitiones sind häufig Personen, die Cicero zufolge keine ehrbaren Absichten verfolgen oder unbedacht ihr Vermögen verschleudern (besonders deutlich in off. 2,54; 2,63); der Begriff rückt mitunter in die Nähe der corruptela und wird den assentatores populi als manipulatives Instrument zugeschrieben (off. 2,53). In off. 2,63 etwa stellt er benignitas und largitio einander gegenüber; erstere bezeichnet „gute“ Leistungen, die etwa Gefangenenfreikauf und finanzielle Unterstützung von Freunden umfassen, letztere steht insbesondere für Schenkungen, die Cicero tendenziell mit Bestechung oder Volksverführung gleich setzt: Hanc ergo consuetudinem benignitatis largitioni munerum longe antepono; haec est gravium hominum atque magnorum, illa quasi assentatorum populi multitudinis levitatem voluptate quasi titillantium. Bei aller Reserve gegen unrechte oder unbedachte Schenkungen gesteht Cicero in off. 2,54 dennoch ein, dass largitiones unter bestimmten Umständen angezeigt seien. 147 … ut communibus pro communibus utatur, privatis ut suis. 148 Weder ist es also statthaft, sich zum eigenen Vorteil am Gemeineigentum zu bereichern, noch jemandes Privateigentum so zu behandeln, als gehöre es der Allgemeinheit. Vgl. hierzu Picone 2012, XXIII.

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1,21).149 An dieser Stelle muss er vom Rekurs auf die natura absehen und auf andere Weise argumentieren. Er nennt verschiedene Möglichkeiten, Land in Besitz zu nehmen: aut vetere occupatione […], aut victoria […], aut lege, pactione, condicione, sorte150 und folgert: Ex quo, quia suum cuiusque fit eorum, quae natura fuerant communia, quod cuique obtigit, id quisque teneat (off. 1,21).151 Alles Private sei ursprünglich Gemeineigentum gewesen; dennoch solle jeder behalten dürfen, was sich durch die genannten Varianten der Inbesitznahme als sein Eigentum ergeben hat. In der Mahnung, bestehende Eigentumsverhältnisse nicht anzutasten, ist die Formulierung des suum cuique enthalten (suum cuiusque fit; quod cuique obtigit, id quisque teneat). Anders als in off. 1,15, wo die Maxime, jedem das ihm Gemäße zuzuteilen, sich aus der fürsorglichen, hilfsbereiten natura des Menschen ergibt und also stoisch fundiert ist (oikeion), wird hier mit dem suum cuique das durch Gewohnheitsrecht zum Eigentum Gewordene bezeichnet. Alle Versuche, an solcherart gewachsenen Verhältnissen etwas zu ändern, gelten Cicero als gefährliche Angriffe auf das ius humanae societatis. Die Wahrung des Privateigentums führt, wie sich im Umkehrschluss zeigt, zu gemeinschaftlicher Stabilität.152 Hier haben wir es mit einem Leitgedanken Ciceros zu tun, der sich durch das gesamte Werk zieht und gleichsam den Rahmen allen Handelns absteckt. In off. 1,22 betont Cicero, dass – auch wenn Privateigentum als solches zu achten ist – doch stets der gemeinsame Nutzen im Vordergrund stehen müsse. Platon zitierend, merkt er an, wir seien nicht nur für uns selbst geboren, sondern auch für andere;153 sodann führt er, im Verweis auf die Stoa (ut placet Stoicis), den Gedanken der Vorsehung aus: Alles auf der Erde sei für den Menschen gemacht, die Menschen wiederum füreinander, um der wechselseitigen Hilfe willen. Darin müsse man der Führung der Natur folgen, dass man den gemeinsamen Nutzen in den Mittelpunkt stelle und die Gemeinschaft der Menschen untereinander durch wechselseitige Leistungen festige.154 An dieser Stelle erscheint erstmals im Werk

149 Hierzu Colish 1990, 146. 150 „…entweder aufgrund weit zurückliegender Inbesitznahme […] oder durch Gesetz, Vertrag, Übereinkunft oder Los.“ (Übersetzung Gunermann 1992) 151 „Daher, weil persönliches Eigentum eines jeden von ihnen das wird, was von Natur Gemeineigentum gewesen war, behalte ein jeder für sich, was ihm zugefallen ist.“ (Übersetzung Gunermann 1992) 152 Cicero formuliert aus der Perspektive derjenigen, die viel zu verlieren haben. Dennoch muss das Eigentumsrecht seiner Überzeugung nach nicht nur für locupletes, sondern auch für tenuiores/infimi gelten (off. 1,41; 2,85): Er betont, auch gegen infimi müsse die Gerechtigkeit gewahrt werden, ersteren dürfe ihr Reichtum nicht geneidet werden, letztere solle man nicht aufgrund ihrer niedrigen Stellung hintergehen. 153 Angeführt werden patria und amici; es erstaunt, dass hier, anders als in off. 1,58, die Eltern fehlen; in der platonischen Vorlage (ep. 9,358a) werden sie genannt. Hierzu auch Dyck 1996, 113. 154 … in hoc naturam debemus ducem sequi, communes utilitates in medium adferre, mutatione officiorum, dando accipiendo, tum artibus, tum opera, tum facultatibus devincire hominum inter homines societatem.

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die stoische Telos-Formel (naturam debemus ducem sequi);155 als Handlungen, die zum Telos hinführen, werden verschiedene Varianten (artes, opera, facultates) wechselseitigen Gebens und Nehmens bestimmt (communis, mutatio, dare relational zu accipere).156 Wenngleich Cicero hier an sich noch mit den munera iustitiae befasst ist, gehören die Überlegungen in off. 1,22 eher zum zweiten Teil der zweiten Kardinaltugend, zur beneficentia.157 Wechselseitiges Geben, so wird deutlich, dient dem Ziel, die Gemeinschaft zu stärken (devincire societatem). Dass Cicero die Telos-Formel an dieser Stelle platziert, entspricht der stoischen Ethik, nach der das tugendhafte, helfende Miteinander als wichtigste Aufgabe des Menschen erscheint. In diesem Sinne hebt Cicero hervor, dass diese Verpflichtung alle gleichermaßen betrifft (debemus, 1. Person Plural!).158

155 Dyck 1996, 114; die Telos-Formel geht zurück auf Zenon, referiert bei Diog. Laert. 7,87. 156 Beispiele für artes, opera und facultates führt Cicero zu Beginn des zweiten Buches De officiis an. Er nennt Beispiele aus den Bereichen der Landwirtschaft, des Bergbaus, der Krankenpflege und der Baukunst im allgemeinen, ferner verweist er auf die menschliche Fähigkeit, Tiere zu zähmen und für verschiedene Aufgaben nutzbar zu machen (off. 2,12–14). 157 Dyck 1996, 113, ist wie ich der Überzeugung, dass in off. 1,22 Einführendes zur beneficentia gesagt wird. Der Übergang ist freilich recht unvermittelt: Dyck spricht ebd. davon, dass der Abschnitt „oddly placed“ sei. Wenn man davon ausgeht, dass Cicero nach off. 1,20 die Bestandteile der zweiten Kardinaltugend kurz umreißen will, bevor er diese ab off. 1,23 (iustitia) und 1,42 (beneficentia) ausführlicher untersucht, wäre die Einführung in die beneficentia hier nicht verwunderlich. Was den Übergang betrifft, so bildet möglicherweise das ius humanae societatis eine Art Bindeglied. Der Einwand sed könnte darauf abheben, dass vorher quasi die Integrität des Einzelnen im Fokus war und nun, darüber hinaus, das aktive zwischenmenschliche Handeln in den Blick genommen wird. Es wäre auch denkbar, dass Cicero, nachdem es um die privata ging, nun zu den communia kommt. Damit würde sich letztendlich zeigen, dass sowohl der Einzelne als auch die Gemeinschaft durch entsprechendes Handeln zu schützen sind – und die iustitia erschiene sehr eng mit der beneficentia verklammert. 158 In der kurzen Erörterung des Strebens nach Weisheit in off. 1,18 verweist Cicero ebenfalls auf dessen Naturgemäßheit (maxime naturam attingit humanam), doch ist in dieser Feststellung noch keine Handlungsanweisung im Sinne der Telos-Formel des secundum naturam vivere enthalten. Da die Behandlung der iustitia/beneficentia (zweite Kardinaltugend) sich aufgrund der systematischen Behandlung der vier Kardinaltugenden unmittelbar an diese erste anschließt, wäre die Beobachtung, dass im Zusammenhang mit der beneficentia die Formel erstmalig erscheint, zunächst noch kein Hinweis auf deren Vorrangstellung. Insofern als in der Erörterung der Tapferkeit (magnus animus, drittes honestum) die Telosformel jedoch nicht genannt wird und in der Auseinandersetzung mit der vierten Kardinaltugend zwar erscheint, diese sich jedoch laut Cicero v.a. auch in der rechten Ausübung der übrigen drei manifestiert, kann die Telos-Formel in off.1,22 dann doch als bemerkenswerte Hervorhebung der beneficentia gelten, zumal in Verbindung mit off. 1,20, wo Cicero die zweite Kardinaltugend als wichtigste und weitreichendste bezeichnet. Ähnlich fin. 3,65: Impellimur autem natura, ut prodesse velimus quam plurimis in primisque docendo rationibusque prudentiae tradendis. Dieser Eindruck wird auch durch den Vergleich der Tugenden, der ab off. 1,152 nach der Untersuchung der einzelnen officia beginnt, bestätigt. Dort heißt es zunächst: Placet igitur aptiora esse naturae ea officia, quae ex communitate, quam ea, quae ex cognitione ducantur (off. 1,153). Illustriert wird diese Überlegung anhand des Beispiels eines Weisen, der im größten Überfluss Gelegenheit zu theoretischen Studien hätte, dabei aber allein leben müsste.

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Ciceros einführende Überlegungen im Zusammenhang mit der beneficentia sind in der folgenden Tabelle nochmals zusammengefasst: off. 1,12

natürliche Ausrichtung Geselligkeit und Hilfsbereitschaft sind dem Menschen auf andere angeboren und also wesensgemäß.

off. 1,15

bewusst ausgebildete Tugend

Die Gemeinschaft zu schützen, jedem das Seine zuzuteilen und zu Verträgen zu stehen, macht das Wesen der zweiten Kardinaltugend aus, die sich aus einer vernunftmäßigen Bejahung und Ausbildung der in off. 1,12 genannten Disposition entwickeln lässt.

off. 1,20–22

Vorrangstellung der zweiten Kardinaltugend

Die zweite Kardinaltugend setzt sich zusammen aus iustitia und beneficentia. Beide sind miteinander verbunden.

off. 1,21

Aufgaben der Gerechtigkeit

Man darf niemandem schaden (es sei denn, erlittenes Unrecht ist zu vergelten). Jeder soll das ihm Zustehende erhalten. Privateigentum ist zu wahren, Gemeineigentum ebenso.

off. 1,22

Das Gemeinwohl muss immer an erster Stelle stehen. Durch wechselseitige Leistungen ist das Gemeinwesen zu stärken.

off. 3,21–3,32 Ganz ähnlich wie in den eben besprochenen Passagen stellt Cicero auch im dritten Buch De officiis dasjenige Verhalten als besonders wichtig heraus, welches auf die Wahrung bzw. Stärkung der Gemeinschaft gerichtet ist. Aufgrund der großen inhaltlichen Nähe zu off. 1,15 und 1,20–22 sollen die entsprechenden Abschnitte (off. 3,21–32) an dieser Stelle kurz besprochen werden.159 Als schlimmster Angriff auf die Gemeinschaft gilt Cicero die Missachtung des suum cuique. Er hält ein solches

Für Cicero müsste er jedoch an der dem Menschen widernatürlichen Einsamkeit zugrunde gehen (ebd.). Schließlich folgert er, dass also die Pflicht, die a communitate ducatur, die wichtigste sein müsse (off.1,154). Außerdem Atkins/Griffin 1991, xxv: „When Cicero comes to compare the obligations under the different virtues (1.152–1.160), he is again at pains to emphasize our duty to society, for the claims of each of the other three virtues are compared with those of justice, not of each other.“ Zur Problematik der comparatio Dyck 1996, 338–340. 159 Diese Zuordnung von off. 3,21–32 zu off. 1,15/1,20–22 wird bei Long 1995, 234f. und Bees 2010, 163 in ähnlicher Weise vorgenommen. Atkins 1990, 262, beobachtet, dass das dritte Buch beinahe vollständig der iustitia gewidmet ist; die inhaltliche Nähe von off. 1 und 3 sieht sie ebd. 266 und 270.

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Handeln für in höchster Weise contra naturam – widernatürlich im stoischen Sinne, insofern als damit das vorgesehene Gleichgewicht unter den Lebewesen gestört wird (off. 3,21).160 Cicero geht es nun aber nicht um die kosmische Gesamtgemeinschaft, sondern konkret um die Menschengemeinschaft, die für ihn in höchster Weise der Natur entspricht (ebd.). Die Gefahr für die Gemeinschaft, die von einer Missachtung des suum cuique ausgeht, illustriert Cicero mit dem Bild eines Körpers, in dem jedes Glied zu Lasten anderer wachsen wolle, wodurch letztlich der ganze Körper geschwächt werde (off. 3,22). Während Cicero in off. 1,21 Verstöße gegen das suum cuique als Verletzung des ius humanae societatis bezeichnet, verweist er hier darauf, dass solches Verhalten, das einem anderen zum eigenen Vorteil schade, nicht nur natura, id est iure gentium, sed etiam legibus populorum unter Strafe gestellt sei.161 Entscheidend bleibt jedoch die natura als Richtschnur:162 Wer sich einmal für ein naturgemäßes Leben entscheide, sei davor gefeit, die Integrität anderer zu missachten (off. 3,23).163 Es kommt auf den Willen an, auf die bewusste Bejahung des menschengemäßen, gemeinschaftsorientierten Wesens.164 Ein menschengemäßes Leben meint nun einerseits, wie aus off. 3,21–23 nochmals hervorgeht, niemandem zum eigenen Vorteil zu schaden, und andererseits, wie Cicero ab off. 3,24 ausführt, sich aktiv ins Gemeinwesen einzubringen.165 In off. 3,27 heißt es zusammenfassend: Atque etiam si hoc natura praescribit, ut homo homini, quicumque sit, ob eam ipsam causam, quod is homo sit, consultum velit, necesse est secundum eandem naturam omnium utilitatem

160 Detrahere igitur alteri aliquid et hominem hominis incommodo suum commodum augere magis est contra naturam quam mors, quam paupertas, quam dolor, quam cetera, quae possunt aut corpori accidere aut rebus externis. 161 Für die Stoa umfasst die lex naturae Verhaltensnormen, die der angeborenen Moralität und Geselligkeit des Menschen entsprechen und von allgemeiner Gültigkeit sind. Naturae lex, deus und divina ratio sind für die Stoiker identisch, wie Seneca in benef. 4,7,1 formuliert. Zum Naturrecht bei Cicero Sauer 2007, 258. Zum Verhältnis von positivem und Naturrecht bei Cicero Fiori 2011,192-195. 162 Für die natura hat Cicero in kurzer Folge drei Alternativbezeichnungen parat: Er spricht synonym vom ius gentium, von der naturae ratio und von der lex divina et humana. Ähnlich auch Seneca (vgl. vorige Anmerkung). 163 Atque hoc multo magis efficit ipsa naturae ratio, quae est lex divina et humana; cui parere qui velit – omnes autem parebunt, qui secundum naturam volent vivere – , numquam committet, ut alienum appetat et id, quod alteri detraxerit, sibi adsumat. Hierzu Bees 2010, 164: „Es ist das stoische Telos, das Cicero in Anwendung bringt, auf das er die Rechtsordnung zurückführt: Willentlich zu tun, was die Natur befiehlt.“ Vgl. dazu oben die Ausführungen zur stoischen Kosmopolis. 164 Hierzu Atkins 1990, 270: „… our being naturally sociable means that we want to live in society and are happiest when we do so. By accepting the premise, we acquire the motivation to act in accordance with a iustitia interpreted as Cicero interprets it.“ 165 Cicero ruft zur imitatio des Herkules auf, den hominum fama beneficiorum memor in concilio caelestium conlocavit (off. 3,25).

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esse communem. Quod si ita est, una continemur omnes et eadem lege naturae, idque ipsum si ita est, certe violare alterum lege naturae prohibemur.166

In Fortführung des Gedankens aus off. 3,25, wo gemeinschaftsabgewandte Lebensformen als wenig naturgemäß erschienen, und in Wiederaufnahme der Überlegungen aus off. 1,12 lautet Ciceros Prämisse, dass der Mensch aufgrund seines bloßen Menschseins für den Mitmenschen gesorgt wissen wolle; aus dieser Prämisse folgert er, dass der Nutzen aller und der gemeinsame Nutzen ineinander zu setzen seien (necesse est). Diese Formulierung kann zur Erläuterung von off. 1,22 herangezogen werden, wo es hieß, man solle mittels wechselseitiger Wohltaten communes utilitates in medium ferre. Aus der Ineinandersetzung der omnium utilitas und der communis utilitas ergibt sich, dass für Cicero der Nutzen, der jemandem durch eine bestimmte Handlung zuteil wird, mit dem gemeinsamen Nutzen im Einklang stehen und zugleich auch diesem dienen muss.167 Auf die kurze Bestimmung der beneficentia aus off. 1,22 angewendet, lässt sich also sagen: Wechselseitiges Geben zwischen Einzelnen nützt (implicite: indem es mit dem Gemeinwohl im Einklang steht) zugleich der Stabilität der Gesamtgemeinschaft. Dabei ist, das wird aus der o.g. Prämisse zuletzt auch nochmals gefolgert, stets das Recht auf Unversehrtheit zu wahren (violare alterum lege naturae prohibemur). In diesem Zusammenhang schließen sich ab off. 3,29 Einzelfallüberlegungen an, in denen Cicero ausführt, unter welchen Bedingungen (v.a. Notlagen) die Unversehrtheit eines Menschen mehr wert ist als die eines anderen. Für ihn gilt dies nur für den Fall deutlich verschiedener „Wertigkeit“ für das Gemeinwesen, die sich aufgrund verschiedener Tugendhaftigkeit ergibt: ein Mensch, beschrieben als sapiens, bonus, fortis (off. 3,31), der für die Gemeinschaft von besonderer Bedeutung ist, hat seiner Darstellung nach das Recht, zum Schaden eines anderen, Minderwertigen (iners, inutilis, ebd.), sein eigenes Überleben möglich zu machen.168 Was diese Wertigkeiten angeht, werden abschließend diejenigen genannt, die in der Skala am tiefsten stehen, nämlich die, welche der Gemeinschaft Schaden zufügen. War es vorher als nicht naturgemäß beschrieben worden, gemeinschaftsabgewandt zu leben (off. 3,25), also passiv zu bleiben und nichts zum Gemeinwohl beizutragen, wird nun eine aktive Gemeinschaftsgefährdung folgerichtig als das schlimmste Übel bezeichnet.

166 „Und auch, wenn die Natur dies vorschreibt, daß der Mensch will, es sei für den Mitmenschen – wer er auch immer sei, nur aus dem Grunde, weil er ein Mensch ist – gesorgt, so ist es notwendig gemäß derselben Natur, daß der Nutzen aller Gemeininteresse sei. Wenn dem so ist, dann stehen wir alle unter ein und demselben Gesetz der Natur, und wenn ebendies so ist, dann werden wir sicherlich durch das Gesetz der Natur gehindert, den Nächsten zu verletzen.“ (Übersetzung Gunermann 1992) 167 Hierzu Long 1995, 228: „Cicero tries to prove more than once that an individual’s interests, properly construed, coincide with the interests of the community, and vice versa.“ 168 Die Überlegung, dass in einer Notlage derjenige mit der höheren moralischen Qualifikation überleben solle, wurde so auch von Hekaton angestellt; nach Pembroke 1971, 129, steht die Folgerung auch im Einklang mit der alten Stoa.

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So greift Tyrannen gegenüber das Recht auf Unversehrtheit nicht, denn sie gehören für Cicero nicht zur Gemeinschaft: nulla est enim societas nobis cum tyrannis et potius summa distractio est, neque est contra naturam spoliare eum, si possis, quem est honestum necare (off. 3,32).169

In Wiederaufnahme des Bildes vom Gesamtkörper schreibt Cicero, dass es mitunter notwendig werde, einzelne Glieder zu amputieren, wenn sie den übrigen Schaden zufügten – auf diese Weise wird diese stoische Vorstellung, die in off. 3,22 dazu diente, das Recht auf Unversehrtheit und Eigentum zu legitimieren, nun dazu herangezogen, um Ausnahmen zu begründen.170 Am Ende des Abschnitts geht Cicero noch einen letzten Schritt weiter, der durch die Bemerkung, es gebe keine Gemeinschaft mit Tyrannen, schon vorbereitet wurde: Allen, die der Gemeinschaft schaden, wird die Bezeichnung Mensch entzogen; sie sind für ihn Bestien in menschlicher Gestalt (in figura hominis feritas et immanitas beluae a communi tamquam humanitate segregenda est; ebd.).171 Während in off. 1 auf die natura bzw., in der Legitimation des Privateigentums, auch auf das Gewohnheitsrecht Bezug genommen wurde, ist im dritten Buch der Verweis auf die natura durchgängig und wird in der Formulierung einer naturae lex sogar noch verstärkt. Diese naturae lex beinhaltet zunächst das Eigentumsrecht

169 „Wir haben ja gar keine Gemeinschaft mit Tyrannen, vielmehr die entschiedenste Trennung, und so ist es nicht gegen die Natur, den zu berauben – falls du es könntest –, den zu töten ehrenvoll ist.“ (Übersetzung Gunermann 1992) 170 Abgestorbene Glieder, die dem übrigen Körper schadeten, würden – zum Wohl der gesunden Glieder – amputiert. Vor dem Hintergrund dieses Bildes fallen für Cicero eigener Nutzen und der Nutzen aller in eins: Was dem einzelnen Körperglied wahrhaft nützlich ist, tut auch dem Gesamtkörper gut (3,26). 171 Vgl. hierzu off. 3,30: In einer Notlage dürfe ein weiser, dem Gemeinwesen sehr nützlicher Mann einem anderen, nutzlosen, etwas wegnehmen, um selbst am Leben zu bleiben (off. 3,90). Das Motiv solchen Handelns, das im Einklang mit der lex naturae stehe, solle dabei nie Selbstliebe sein, sondern der Blick auf die Mitmenschen und das Gemeinwohl (off. 3,31). Die Befugnis, einem anderen etwas zum eigenen Überleben zu entziehen, ergibt sich für Cicero aus der radikalen Unterscheidung in Menschen und Nicht-Menschen aus off. 3,32 (vorbereitet in off. 3,26: Si nihil existimat contra naturam fieri hominibus violandis, quid cum eo disseras, qui omnino hominem ex homine tollat?). Vgl. auch off. 3,107, außerdem off. 1,105: sunt enim quidam homines non re, sed nomine. Vgl. ferner Arist. Pol. 1253a27–29: Wer nicht in Gemeinschaft leben kann oder ihrer nicht bedarf, der gehört nicht zum Staat und ist entweder ein wildes Tier oder Gott. Zur Figur des Ausschlusses radikaler Devianz: Kripke 1987, 116f.; Goffman 1967, 172–180; Huizinga 2009, 20 (Figur des Spielverderbers). Scharfe Kritik dieser Überlegungen findet sich bereits bei Lact. inst. 5,17. Strasburger 1990, schreibt 90, in seinen Notizen zur Stelle: „Die Gedankenführung endet und gipfelt im Ausschluß des Tyrannen aus dieser Gemeinschaft: wie ein verfaulendes Glied am menschlichen Körper amputiert werden müsse, um die übrigen Teile des Körpers zu retten, so müsse dieses wilde Tier in Menschengestalt aus sozusagen der menschlichen Menschengemeinschaft ausgeschieden werden (32). Kein Zweifel, nach dem Gesamtwortlaut, daß Caesar gemeint ist, obwohl ‚Phalaris‘ gesagt wird (29 und 32).“ Insgesamt richte sich Cicero jedoch, wie Strasburger ebd. fortsetzt, gegen „das Prinzip der unbeschränkten Macht“.

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(off. 3,23) und wird sodann auf das Recht auf Unversehrtheit (off. 3,27) ausgeweitet. Sie erstreckt sich auf alle Menschen (una continemur omnes, ebd.) und bildet die Grundlage des Gedeihens von Gemeinschaft. Für die Legitimation des Eigentumsrechtes hatte Cicero in off. 1,21 die Maxime des suum cuique aus off. 1,15 herangezogen. Diese Maxime wird im dritten Buch nicht explizit genannt, doch der Gedanke, dass jedem etwas ihm Gemäßes zusteht, liegt seit off. 1,15, wo das suum cuique als wichtiger Bestandteil der zweiten Kardinaltugend genannt worden war, den Ausführungen implizit zugrunde: Das solchermaßen zu erschließende suum cuique ist, wie off. 3,21–32 anzeigen, am Eigentumsrecht, am Recht auf Unversehrtheit sowie, drittens, wie die Einzelfallüberlegungen aus off. 3,29ff. verdeutlichen, an der moralischen Qualifikation jedes Einzelnen zu bestimmen. In der folgenden Tabelle findet sich eine vergleichende Gegenüberstellung der besprochenen Passagen off. 1,21f. und 3,21–32: Eigentumsrecht off. 1,21

Eigentum ist nicht natürlich, aber Angriffe darauf verletzen das ius humanae societatis.

off. 3,21

Verletzungen des Eigentumsrechts sind gegen die Natur. Sie fügen der Gemeinschaft Schaden zu.

off. 3,22

Gemäß dem Bild des kosmischen Gesamtkörpers muss jedes Glied das ihm von Natur aus Zustehende bekommen, darf sich aber nicht darüber hinaus bereichern, um dem Gesamtkörper nicht zu schaden.

off. 3,23

Dies ist im ius gentium (= lex divina et humana) wie im positiven Recht festgeschrieben. Ersteres steht über letzterem. Es beruht auf Willensentscheidung und nicht auf Sanktionen. Recht auf Unversehrtheit

off. 1,21

Erste Aufgabe der iustitia ist es, niemandem zu schaden.

off. 3,26

Wer naturgemäß lebt, kann einem anderen nicht schaden.

off. 3,27

Alle Menschen stehen unter derselben lex naturae, die es verbietet, einem anderen zu schaden.

off. 1,21

Man darf Schaden zufügen, wenn man durch Unrecht gereizt wird.

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off. 3,30

In bestimmten Notlagen und bei unterschiedlicher „Wertigkeit“ darf derjenige, der für die Gemeinschaft höherwertig ist, zum Schaden eines anderen sein Überleben durchsetzen.

off. 3,32

Zum Schaden eines anderen zu handeln ist immer zulässig, wenn dieser andere der Gemeinschaft schadet, denn für diesen Fall gehört er nicht zur Gemeinschaft und ist kein Mensch. Gemeinwohl

off. 1,22

Naturgemäß ist es, das Gemeinwohl (communes utilitates) in den Vordergrund zu stellen, das heißt, durch Wohltaten die Gemeinschaft zu stärken.

off. 3,27

Gemäß der Natur muss der Nutzen aller (omnium utilitas) zugleich gemeinsamer Nutzen (utilitas communis) sein.

Sed habet multas cautiones: Beneficentia und suum cuique off. 1,42–1,49 In off. 1,42 beginnt die ausführliche Erörterung derjenigen Verpflichtungen, welche den zweiten Teil der zweiten Kardinaltugend – also die beneficentia – betreffen: Deinceps, ut erat propositum, de beneficentia ac de liberalitate dicatur, qua nihil est naturae hominis accomodatius, sed habet multas cautiones.172

Ähnlich wie bereits in off. 1,22 wird die Veranlagung zur beneficentia als dem Menschen naturgemäß herausgestellt (hier im verneinten Komparativ). Die Ausübung der beneficentia als bewusst gelebte Tugend, die in diesen natürlichen Impulsen gründet, verlangt, wie der Nachsatz anzeigt, dem Handelnden jedoch stets gründliche Reflexion ab (sed habet multas cautiones).173

172 „Sodann soll, wie angekündigt war, über wohltätiges Handeln und Freigebigkeit gesprochen werden. Nichts ist der Natur des Menschen angemessener, aber sie erfordert viel Vorsicht.“ Hierzu Dyck 1996, 156: „The unusually clear organization of these paragraphs shows that Cicero is, at least in outline, closely following his Panaetian model (or a part of it) […]. However, the paucity of illustration […] suggests that Cicero is according perfunctory treatment to material that did not interest him greatly.“ 173 Walsh 2000, xviii, merkt an, dass Cicero sich in der Behandlung der beneficentia ab off. 1,42 stark an Arist. Nic. Eth. 1120a ff. anlehne. Dieser Beobachtung ist nur bedingt zuzustimmen: Bei Aristoteles geht es um die Bestimmung dessen, was Großzügigkeit (als goldene Mitte zwischen Verschwendungssucht und Geiz) ausmacht. Zu den Kriterien gehören das Geben um

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Cicero formuliert drei Grundregeln, die in der beneficentia stets zu beachten seien: Erstens solle die benignitas weder denen schaden, denen sie zugute kommen solle, noch anderen (primum, ne obsit benignitas et iis ipsis, quibus benigne videbitur fieri et ceteris). Zweitens dürfe die eigene Gebefreudigkeit nie die eigenen Möglichkeiten übersteigen (deinde ne maior benignitas sit, quam facultates), und drittens solle man das eigene Geben an der dignitas des anderen bemessen (tum, ut pro dignitate cuique tribuatur).174 Dies alles zusammen bilde die Grundlage der iustitia, an der, wie Cicero in Fortführung von der in off. 1,20 angemerkten Verbindung zwischen iustitia und beneficentia mahnt, alles Handeln auszurichten sei.175 Ab off. 1,42b erläutert Cicero diese drei Grundregeln der beneficentia und formuliert konkrete Handlungsanweisungen, deren verbindliche Geltung in zahlreichen Verben des Müssens und Sollens sowie Gerundivformen unterstrichen wird. In den Ausführungen ist zu beobachten, dass Cicero, wie bereits eingangs vermerkt, aus der Perspektive des potentiellen Wohltäters formuliert und sich nur mit zu erweisenden Wohltaten beschäftigt (mitunter in der ersten Person Plural); für ihn ist die Frage des richtigen Entgegennehmens bzw. Vergeltens von geringerem Interesse. In der Erläuterung der ersten Regel führt Cicero aus: Diejenigen, die einem anderen mit dem Wunsch, ihm zu nützen, etwas schenkten, das ihm tatsächlich schade, seien keine Wohltäter, sondern verderbenbringende Schmeichler.176 Manche hingegen fügten jemandem Schaden zu, um anderen gegenüber großzügig sein zu können. Damit rissen sie fremdes Eigentum zum eigenen Vorteil an sich. Wie in off. 1,20 beschrieben (und in off. 3,21ff. breit ausgeführt), verstößt solches

des Gebens willen, die Freude beim Geben, rechte Empfängerauswahl, ein angemessener Gabeinhalt und der rechte Gabezeitpunkt. Weiterhin wird darauf verwiesen, dass ein großzügiger Mensch, der Geld an sich keinen Wert beimisst, sich nicht auf unlautere Weise bereichert, wohl aber für sein eigenes Vermögen Vorsorge trage, um es mit Bedacht für Wohltaten einsetzen zu können, und außerdem beim Geben seine eigenen Ressourcen im Blick behalte. Für die Würdigung einer Wohltat sei es wichtig, diesen letzten Punkt besonders zu berücksichtigen, weil stets zu beachten sei, ein wie großes „Opfer“ der jeweils Gebende erbracht habe. Gewiss ähneln die Kriterien teilweise denen Ciceros, doch das stete Augenmerk auf der Wahrung des eigenen Vermögens, die in off. greifbar wird, ist bei Aristoteles nicht zentral; ihm geht es um eine philosophische Bestimmung der aurea mediocritas auf dem Gebiet des Gebens. Es ist gut denkbar, dass peripatetische Überlegungen Eingang in Panaitios’ Darstellung gefunden haben und Cicero also gar nicht direkt auf Aristoteles Bezug nimmt (diese Vermutung findet sich auch bei Walsh ebd., 170). 174 Zum Gehalt von dignitas etwa Cic. inv. 2,166; fin. 3,1(ehrenhafte Gesinnung), Cic. or. 89 (Ansehen und Ehre sowie Rang und Stellung), Cic. off. 1,130 (Adel in der Erscheinung). 175 Hierzu Griffin 2013, 22: „Cicero, however, […] places a lot of emphasis on cautioning against improper forms of generosity that transgress justice.“ 176 Diesen Gedanken, dass eine Wohltat u.U. auch darin bestehen kann, den Wunsch eines anderen gerade nicht zu erfüllen, entwickelt Cicero in off. 1,94 am Beispiel von Phaeton, dem eine Absage das Leben gerettet hätte (weitere Beispiele in off. 3,95; ähnlich auch off. 1,31f.).

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Handeln (welches Cicero als iniuria bezeichnet) gegen die Maxime des suum cuique im Sinne des Eigentumsrechtes, ferner gegen das Recht auf Unversehrtheit (iustitiae primum munus: ut ne cui quis noceat). Beweggrund für derart falsch verstandenes Geben ist für Cicero die Gier nach Ruhm (cupidi splendoris et gloriae; arbitrantur se beneficos in suos amicos visum iri, off. 1,43); dieses Motiv wird nicht rundheraus getadelt, doch Cicero mahnt, im Bemühen, sich den amici wohltätig zu zeigen, stets darauf zu achten, dass niemand Schaden nimmt (ebd.). Das heißt, der Wohltäter ist zunächst verpflichtet, das eigene Handeln an den wirklichen Bedürfnissen des Empfängers auszurichten. Ferner muss er die Unversehrtheit jedes Dritten, also jedes an der Leistung Unbeteiligten, achten. Dass in off. 1,42–43 zweimal auf die amici als konkrete Empfängergruppe Bezug genommen wird, überrascht und lässt – zumal nachdem sie auch in off. 1,22 schon genannt worden waren – vermuten, dass sie für Cicero eine wichtige Adressatengruppe innerhalb der Gemeinschaft darstellen. Diese Beobachtung ist an anderer Stelle vertieft worden und soll hier nicht nochmals schwerpunktmäßig zur Untersuchung kommen.177 In der zweiten Regel geht es Cicero um eine Prüfung der eigenen Möglichkeiten. Diese Überlegung wäre nun – unter Einbeziehung des stoischen Bildes vom Gesamtkörper (off. 3,22) – zunächst in der Weise auslegbar, dass eigenes Geben immer nur so weit gehen darf, dass der Wohltäter selbst keinen Schaden nimmt, wird aber, wie der Kontext anzeigt, an dieser Stelle vor allem im Hinblick auf die Rechte der proximi – Nahestehende: Familienmitglieder und Freunde – ausgeführt. Wer mehr gebe, als die eigenen Mittel erlaubten, handle ihnen gegenüber unrecht (in eo peccant, quod iniuriosi sunt in proximos). Denn das, was billigerweise ihnen zustehe und ihnen hinterlassen werden solle, verwendeten sie für Fremde (ad alienos). In der Gegenüberstellung von proximi und alieni und dem Verweis, dass ersteren das gebühre, was letztere fälschlicherweise erhalten, scheint – wiederum implizit – die Maxime des suum cuique durch, hier nun auf einen Aspekt bezogen, der sich so bislang noch nicht fand: Das Gegensatzpaar Nahestehende/Fremde zeigt an, dass offenbar auch je nach dem Nähegrad einer Beziehung verschiedene „Zuteilungen“ angemessen (und also: gerecht) sind; Verstöße werden zwar nicht als Verletzung der Gemeinschaft deklariert, aber doch als Vergehen (peccant/iniuriosi) an den proximi, einer konkreten Gruppe, welcher der jeweils Handelnde angehört. Wie schon in der Erläuterung der ersten Regel, in der ebenfalls die Ruhmsucht als Antrieb beschrieben wurde, bezeichnet Cicero auch hier wieder die so Handelnden als gloria ductos, deren Gaben nicht a voluntate, sondern ab ostentatione ausgingen und keine Wohltaten seien. In der dritten Regel ermahnt Cicero dazu, in der beneficentia einen dilectus dignitatis vorzunehmen (off. 1,45), damit, wie es in off. 1,42 hieß, pro dignitate cuique tribuatur. Bereits im Wortlaut erinnert diese Formulierung an die Maxime

177 Junghanß 2015, passim.

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des suum cuique tribuere aus off. 1,15 – und wie sich hier nun zeigt, ist das suum immer auch an der dignitas des anderen zu bemessen. Diese lässt sich, wie Cicero in off. 1,45 zusammenfasst, anhand folgender Kriterien bestimmen:178 – – – –

einer Prüfung seiner mores, seiner Haltung gegenüber dem Wohltäter der Dienste, die er seinerseits bereits zum Nutzen des Wohltäters geleistet hat. der Beziehungsnähe (Exkurs ab off. 1,50: communitas ac societas vitae).

Das heißt, im dilectus dignitatis stehen der Charakter des anderen und außerdem die Beziehung zwischen (potentiellem) Wohltäter und Empfänger im Mittelpunkt. Im Hinblick auf die charakterliche Eignung schreibt Cicero: Je mehr sich die Tugendhaftigkeit im anderen zeige, in desto höherem Maße stünden ihm Wohltaten zu. In der Forderung, die sittliche Eignung des anderen zu prüfen, bezeichnet Cicero konziliant, vermutlich an Panaitios orientiert, als vir bonus bereits denjenigen, der Zeichen von Tugendhaftigkeit erkennen lasse (off. 1,46).179 Daraufhin nimmt er in off. 1,47 die Beziehung zwischen Wohltäter und Empfänger in den Blick. Für ihn ist es zuallererst verpflichtend, demjenigen am meisten zukommen zu lassen (er verwendet das Verb tribuere, das wiederum an die Maxime des suum cuique tribuere erinnert), von dem man am meisten geliebt werde – ein Kriterium des pro dignitate cuique tribuere ist also die dem Wohltäter entgegengebrachte Zuneigung. Nach der Prüfung von Zuneigung/Wohlwollen des anderen zum Gebenden wird an dritter Stelle noch ein weiteres Kriterium genannt, das die Beziehung

178 Fiori 2011, 223 merkt an, dass sich hier zeige, dass die beneficentia ebenso wie die iustitia im suum cuique gründe. 179 Vgl. Dyck 1996, 161. Dabei bevorzugt er eine Ausstattung mit virtutibus his lenioribus: modestia, temperantia […], iustitia, weil die dritte Kardinaltugend (fortis animus et magnus) in homine non perfecto nec sapiente ferventior plerumque est (off. 1,46). Hierzu wiederum Dyck ebd., 162: „The danger of the potentially antisocial third virtue is explicitly recognized.“ Zur Herleitung des vir bonus aus virtus Cic. off. 1,20: … iustitia, in qua virtutis splendor est maximus, ex qua viri boni nominantur. Weiterhin jedoch auch off. 1,45: Quoniam autem vivitur non cum perfectis hominibus planeque sapientibus, sed cum iis, in quibus praeclare agitur, si sunt simulacra virtutis... Ein vir bonus ist derjenige, der sich um Tugendhaftigkeit bemüht. Das Attribut des bonus ist in Ciceros Darstellung stets von seinem Urteil abhängig und damit, wie Hellegouarc'h 1972, 492 schreibt, „quelque peu élastique“. Dazu auch off. 1,76, wo es heißt: virum bonum esse, qui prosit, quibus possit, noceat nemini nisi lacessitus iniuria. Die Maxime, stets zu unterstützen und nie zu schaden, wird eingeschränkt durch den Nachsatz. Hier muss sich die Frage stellen, ab wann ein vir bonus sich herausgefordert fühlt und was für ihn unter iniuria fällt. Gotter 1996a, 112 verweist darauf, dass Cicero nach der von ihm selbst betriebenen Verwässerung des Gegensatzes optimati/populares in der Antinomie boni/improbi geeignetere Kategorien gefunden habe, um das „Normative in Reinkultur“ zutage treten zu lassen. Die boni seien die „Hüter der tradierten Verfaßtheit“, die „im Einklang mit dem mos maiorum handelten.“ Wie Walsh 2000, 131, anmerkt, hat die Bezeichnung des vir bonus „not only moral overtones“, sondern auch eine „political nuance“, insofern als sie sich auf die politisch Führenden beziehe.

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zwischen Wohltäter und Empfänger betrifft, und zwar – entgegen der Anordnung im Text – sogar zuallererst den Ausschlag für eine Wohltat geben sollte: nullum enim officium referenda gratia magis necessarium est. An dieser Stelle führt Cicero kurz das Reziprozitätsprinzip aus, das Tauschhandlungen aller Art und eben auch der beneficentia stets zugrunde liegt:180 Etenim, si in eos, quos speramus nobis profuturos, non dubitamus officia conferre, quales in eos esse debemus, qui iam profuerunt? Nam cum duo genera liberalitatis sint, unum dandi, alterum reddendi, demus necne in nostra potestate est, non reddere viro bono non licet (off. 1,48).181

Zunächst werden mit dem Partizip Futur und dem Perfekt von prodesse diejenigen einander gegenübergestellt, von denen – in der ersten Person Plural – potentielle Wohltäter sich künftigen Nutzen versprechen bzw. bereits Nützliches erhalten haben. Das Erweisen von Wohltaten in der Hoffnung auf erwünschte Gegenleistungen (quos speramus nobis profuturos) geschieht ganz klar im Vertrauen auf das Reziprozitätsprinzip: Wäre die Hoffnung auf die entsprechende Gegenleistung nicht hinreichend wahrscheinlich, ginge man das Risiko der eigenen Vorleistung nicht ein.182 Nun fordert Cicero aber, diese Wohltaten gegenüber jenen hintanzustellen, durch die man selbst genossene Vorteile ausgleicht (man soll also denen geben, qui iam profuerunt). Hier wird das Handeln im Sinne des Reziprozitätsprinzips explizit als Verpflichtung herausgestellt: Während die Entscheidung darüber, eine Eröffnungsgabe zu machen, prinzipiell frei stehe (in nostra potestate est),183 sei die Vergeltung nicht freiwillig: non reddere viro bono non licet.184 180 Vgl. hierzu Mauss 1990, 22: Den Kreislauf von Gabe, Annahme und Gegengabe bezeichnet er als „System der totalen Leistungen“, die sich in eher freiwilliger Form vollzögen, obwohl sie verpflichtend seien, „bei Strafe des privaten oder öffentlichen Krieges“. Michel 1962, 515 vergleicht die mauss’sche Theorie der totalen Leistungen mit den Ausführungen in Cic. off. 1,47: „Non sans rhétorique, Cicéron énonce ici le principe général qui gouverne les dations réciproques et les services d’amis: il faut rendre, si l’on a reçu; il est permis de rendre autant ou plus, mais on ne pourrait sans déchoir rendre moins.“ 181 „Denn wenn wir ohne Bedenken Leuten, die, wie wir hoffen, uns förderlich sind, Gefälligkeiten erweisen – wie müssen wir dann erst gegen diejenigen sein, die uns schon förderlich gewesen sind?“ (Übersetzung Gunermann 1992) 182 Steht der andere gerade in der Schuld, ist die eigene, berechtigte Erwartung einer Gegenleistung immer ein Stück weit unsicher, denn wiewohl es eine moralische Verpflichtung zur Vergeltung gibt (und Cicero, wie wir gesehen haben, in off. 2,64 dahingehend von einem ius spricht) , können Verstöße nie ausgeschlossen werden. Eine ausbleibende Leistung, also eine dauerhaft unausgeglichene Schuld, kann zum Ende einer Freundschaft führen (vgl. Lael. 77). 183 Die Freiwilligkeit von Eröffnungsgaben wird nur an dieser einen Stelle so ausgeführt. Sie ergibt sich insofern, als der Einzelne in der konkreten Hilfeleistung selbst darüber entscheidet, ob und wie er seine natürlich bedingte Anteilnahme zum Ausdruck bringt und also entscheiden kann, wann und auf welche Weise ihm dies besonders wichtig scheint. Hierzu Griffin 2013, 8. 184 Diese Verpflichtung (non reddere non licet) ist, wie Fiori 2011, 187 anmerkt, nicht im positiven Recht, sondern der naturae lex festgeschrieben. Ebd. 193 betont er, dass die Trennung von positivem Recht und „doveri etici/sociali“ im alten Rom nicht so stark gewesen sei; er spricht von einer „doverosità diffusa“.

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In dieser Bemerkung wird zugleich die beziehungsstiftende Kraft von beneficia angedeutet: Deren Annahme macht zwingend eine Reaktion erforderlich, die gemäß dem Reziprozitätsprinzip mindestens auf einen Ausgleich, eher aber noch auf ein Übertreffen der selbst empfangenen Leistung angelegt ist (Cicero verwendet das Bild fruchtbarer Äcker, die mehr hervorbringen, als in sie eingebracht wurde, off. 1,48) und nun wiederum den anderen zum Schuldner macht, der seinerseits erneut bestrebt sein wird, sich von seiner Schuld zu befreien. Da also durch eine Eröffnungsgabe ein solcher beziehungsbildender Prozess ausgelöst wird, mahnt Cicero zur Vorsicht bei der Annahme von beneficia (off. 1,49), also zur Berücksichtigung der Frage, zu wem der Wohltäter eine Beziehung eingehen möchte. Insofern als das Reziprozitätsprinzip zur dritten Grundregel gehört, lässt sich dafür ein weiteres Kriterium hinzufügen, das als Pflicht der Schuldenbegleichung bezeichnet werden kann. Was einem anderen gegenüber gerecht ist, muss also vor allem auch anhand der Schuld bestimmt werden, die man ihm gegenüber abzutragen hat. Besonders der Erläuterung des pro dignitate cuique tribuere ist zu entnehmen, dass für Cicero das Erweisen von Wohltaten grundsätzlich mit Vorsicht und Sorgfalt geschehen muss. Antithetisch stellt er verlässliches Geben (stabilitate potius et constantia) gegen impulsives, von Leidenschaft getriebenes (adulescentulorum more ardore quodam amoris; off. 1,47; ganz ähnlich iudicio, considerate, constanterque gegen temeritate quadam sine iudicio, vel morbo in omnes vel repentino quodam quasi vento impetu; off. 1,49). In off. 1,49 führt Cicero die Erörterung der dritten Grundregel zu Ende, indem er anmerkt, dass bei einer Konkurrenz gleichwertiger Empfänger derjenige zuerst zu berücksichtigen sei, welcher der Unterstützung in höherem Maße bedürfe. Die Ausführlichkeit der Handlungsanleitungen zeigt, dass eine recht verstandene Wohltat stets in sorgfältiger Reflexion gründet. In off. 1,49 spricht Cicero nun davon, eine Wohltat anzulegen (beneficium collocare). Collocare ist ein Verb der Geschäftssprache; die Wendung pecuniam collocare bezeichnet das kluge, gewinnbringende Anlegen von Geld.185 Diese Formulierung ist nicht von ungefähr gewählt; wie das Ende von off. 1,49 anzeigt, darf in der Sorgfalt beim Erweisen von Wohltaten auch ein gewisses Kalkül enthalten sein, ohne jedoch dazu zu führen, den erwartbaren eigenen Vorteil zum Handlungsmotiv zu machen.

185 Das Verb collocare meint als terminus technicus der Geschäftssprache, Geld gewinnbringend anzulegen. Cicero verwendet collocare als Verb des Finanzvokabulars in off. 1,49; 2,42; 2,69; 2,71; 2,87. In epist. 81,9f. kritisiert Seneca die Verwendung von Finanz- und Zinsvokabular im Zusammenhang mit der beneficentia. S.u. S. 126. Hands 1968, 31, merkt an, dass es sich zwar um eine „dead metaphor“ handle, dennoch die Berechnung der Vergeltung eine wichtige Rolle spiele.

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off. 1,50–1,59 Im Anschluss entwickelt Cicero in einem längeren Exkurs (off. 1,50–59) das noch verbleibende Kriterium der dritten Grundregel, das wiederum wiederum die Beziehung von Gebendem und Nehmendem betrifft und in off. 1,45 mit communitas ac societas vitae bezeichnet worden war. Er beginnt folgendermaßen: Optime autem societas hominum coniunctioque servabitur, si, ut quisque erit coniunctissimus, ita in eum benignitatis plurimum conferetur.186

In off. 1,22 hieß es, dass durch wechselseitiges Geben und Nehmen Gemeinschaft grundsätzlich gestärkt werde. Dieser Gedanke wird hier um die (bereits durch die Gegenüberstellung von proximi und alieni in off. 1,44 vorbereitete) Überlegung erweitert, dass eine Abstufung der eigenen Gebefreudigkeit je nach Beziehungsnähe noch besser sei für die Gemeinschaft. Im Folgenden gibt Cicero eine Anleitung, wie diese Abstufung konkret aussehen soll.187 Er beginnt mit der größtmöglichen Gemeinschaft, der universi generis societas, die kraft der Bindeglieder ratio et oratio die Menschen einander auf natürliche Weise verbinde und zugleich von den Tieren scheide (ebd.). Diese Ausführungen erinnern teilweise wörtlich an off. 1,11 (Unterschied zwischen Tier und Mensch) und off. 1,12 (eademque natura vi rationis hominem conciliat homini et ad orationis et ad vitae societatem). Ähnlich wie dort wird die naturgemäße Veranlagung des Menschen auch hier als gesellig und hilfsbereit beschrieben.188 Sodann führt Cicero hier aber aus, was auf der Ebene dieser allumfassenden Gemeinschaft anderen zuzuteilen sei. Er betont, dass es vor allem darum gehen müsse, Gemeineigentum als solches zu behandeln (In qua [sc. societate] omnium rerum, quas ad communem hominum usum natura genuit, est servanda communitas.). Dazu gehöre zum Beispiel, einem anderen Zugang zu Feuer und Wasser zu gewähren, ihm den Weg zu weisen sowie auf Wunsch Rat zu erteilen.189 Mit solchen Leistungen solle man zum Gemeinwohl beitragen (aliquid ad communem utilitatem afferendum, off. 1,52). In der Besprechung dieser ersten Gemeinschaft fällt auf, dass Cicero in off.

186 „Am besten aber wird die Gemeinschaft und Verbindung der Menschen gewahrt werden, wenn auf einen umso mehr Güte verwendet wird, je enger er einem verbunden ist.“ (Übersetzung nach Gunermann 1992) 187 Cicero beginnt seine Darlegung hierzu wie folgt: Sed quae naturae principia sint communitatis et societatis humanae, repetendum videtur altius (off. 1,50). Er beruft sich auf die Natur und ist, insofern als die folgenden Ausführungen dem Beleg sowie der Illustration der Ausgangsbehauptung dienen sollen, bestrebt, die Verbindung von Beziehungsnähe und Einsatzbereitschaft (mit dem Ziel der Bewahrung der communitas) als naturgewolltes gemeinnütziges Verhalten herauszustellen. Anders Dyck 1996, 165, der hierzu schreibt: „... there is no indication of why such an explanation is needed at this point.“ 188 Gleichzeitig lässt sich hieraus schließen, dass diejenigen, denen das dem Menschen Naturgemäße fehlt (vgl. off. 3,32), nicht zur Menschengemeinschaft gehören. 189 Cicero zitiert Enn. scaen. fab. inc. 398–400 (Va. S. 195f.). Hierzu auch Ov. met. 6,349 (lykische Bauern).

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1,51–52 sechsmal communis bzw. communitas verwendet; zweimal betont er, dass Leistungen im Rahmen dieser größtmöglichen communitas, gegenüber Fremden also, mit denen man nur das eigene Menschsein teilt, dem Gebenden keine Last sein und stets das beinhalten sollten, was ohne Nachteil gewährt werden könne und wodurch das eigene Eigentum nicht angetastet werde: quoniam copiae parvae singulorum sunt, eorum autem, qui his egeant, infinita est multitudo, vulgaris liberalitas referenda est ad illum Enni finem ‚nihilominus ipsi lucet‘, ut facultas sit, qua in nostros simus liberales (off. 1,52).190

Hier zeigt sich, dass Cicero, der beständig die Perspektive des potentiellen Wohltäters einnimmt, diesen als Mitglied einer begüterten Minderheit sieht (singuli), der er selbst angehört (erste Person Plural) und deren Vermögen angesichts der großen Menge Bedürftiger (infinita multitudo) lieber den Nahestehenden (nostri) zugute kommen solle; für Leistungen an bedürftige Fremde wählt er die Bezeichnung vulgaris liberalitas. Es gibt also eine gewisse Minimalverantwortung gegenüber Fremden, die jedoch ihre Grenzen hat. Bereits in off. 1,22 beschrieb Cicero es als Teil der iustitia, ut communibus pro communibus utatur, privatis ut suis. Aufopfernde Hinwendung an Fremde wird damit zum Unrecht, weil die unterschiedlichen Bezugsgrößen von communia und privata nicht gewahrt bleiben. Ausgehend von dieser größten Gemeinschaft aller mit allen nennt Cicero in off. 1,53 weitere gradus societatis. Angefangen mit der Gemeinschaft eiusdem gentis, nationis, linguae, die als propior bezeichnet wird, folgt als wiederum interius die Zugehörigkeit zur selben civitas. Diese größere Nähe ergibt sich durch die identifikatorische Kraft gemeinsamer religiöser, juristischer und politischer Bezüge (forum, fana, leges, iura, iudicia, suffragia) sowie kultureller Gewohnheiten (consuetudines, familiaritates). Als wiederum artior wird die societas propinquorum angeführt. Anders als im Bezug auf die große Gemeinschaft aller mit allen wird hier nicht beschrieben, wie verbindlich der Einsatz für andere in diesen kleineren Gruppen sein sollte; Cicero belässt es nach dieser Nennung immer kleinerer Kreise, die er, wie angeführt, mithilfe von Adjektiven illustriert, die wachsende Nähe anzeigen, bei dem zusammenfassenden Satz, ausgehend von der unermesslichen Gemeinschaft aller mit allen diese Zusammenschlüsse auf Enge und Begrenztheit zuliefen, auf eine Art Ursprungsgemeinschaft (prima societas), die für Cicero, wie er im Verweis auf den allen Lebenwesen eingepflanzten Fortpflanzungstrieb angibt, in der Ehe liegt (off. 1,54). Mit dem Verweis auf diese prima societas ist nun aber merkwürdigerweise nicht der Endpunkt der Darstellung erreicht, sondern nun führt Cicero aus – wie Dyck anmerkt, „from a different, evolutionary perspective“191 – wie sich ausgehend

190 „Da aber die Mittel der Einzelnen gering sind, die Menge derer, die ihrer bedürfen, unbegrenzt ist, so ist jene alltägliche Freigebigkeit zu bemessen an jener Begrenzung des Ennius: ‚das leuchtet ihm trotzdem‘, damit noch die Möglichkeit bleibt, gegenüber den Unsrigen freigebig zu sein.“ Hierzu Hands 1968, 46. 191 Dyck, 1998, 172.

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vom Fortpflanzungstrieb Gemeinschaft entwickle. Er begründet den Hausstand als principium urbis et seminarium rei publicae (off. 1,54) sowie die erweiterte Verwandtschaft als origo rerum publicarum (ebd.).192 Danach bezeichnet Cicero – völlig außerhalb der bisher genannten Vergemeinschaftungsebenen – unvermittelt die Freundschaft als wichtigste Gemeinschaft. Deren Bedeutung für ihn war in den bisher behandelten Passagen bereits mehrfach sichtbar geworden; die Folgerung, die er in off. 1,55 vornimmt, wurde jedoch durch den Text nicht vorbereitet: Keine Gemeinschaft sei herausragender, keine fester als die zwischen viri boni, die einander ähnlich und in Freundschaft verbunden seien (familiaritate coniuncti). Und wenngleich jede Erscheinungsform der virtus anziehend sei und dazu führe, dass man diejenigen zu Freunden wähle, bei denen man sie vorfindet, bewirkten dies doch vor allem iustitia und liberalitas.193 Es ist denkbar, dass die Überleitung von Verwandtschaft zu Freundschaft (oder: von Bluts- zu Wahlverwandtschaft)194 damit zusammenhängt, dass sich Cicero im Rahmen des ungefähr zeitgleich entstandenen Dialoges Laelius De amicitia mit deren Verhältnis befasste und die dort angestellten Überlegungen in die Pflichtenlehre diffundierten.195 Nach wie vor befinden wir uns innerhalb der Auseinandersetzung mit der Beziehungsnähe als Aspekt des pro dignitate cuique tribuere. Es zeigt sich, dass diese einerseits anhand äußerer Parameter (Verwandtschaftsverhältnis) gemessen werden kann, andererseits aber im Rahmen einer Freundesgemeinschaft beidseitiger tiefer Zuneigung entspringt, welche durch eine ähnliche innere Disposition möglich wird.196 Eine Sonderform der Freundesgemeinschaft wird in off. 1,56 genannt:

192 Während in off. 1,50 die gemeinsame Vernunft- und Sprachbegabtheit als Bindeglied aller Menschen mit allen und in off. 1,53 die identifiktorische Funktion gemeinsamer Einrichtungen innerhalb der civitas beschrieben wurden, die Angabe des Bindegliedes in der societas propinquorum jedoch fehlte, wird diese nun an dieser Stelle mit dem Verweis auf Blutsverwandtschaft und gemeinsame Ahnenverehrung gleichsam nachgereicht (off. 1,55). 193 Die Abschnitte zur Freundschaft in off. 1,55–56 werden als problematisch angesehen; Dyck 1996, 174f. referiert die philologische Debatte und kommt zu dem, wie ich meine, richtigen Schluss, dass die Passage im Kontext notwendig sei (Dyck 1996, 176). 194 Wie in off. 1,47 verwendet Cicero an dieser Stelle das Verb diligere, bei dem der Fokus auf der bewussten Auswahl liegt. Anstelle von „lieben“ ließe sich hier auch übersetzen „auswählen“ – Kriterium für die Auswahl ist die virtus des anderen. 195 In Lael. 19 heißt es: Namque hoc praestat amicitia propinquitati, quod ex propinquitate benevolentia tolli potest, ex amicitia non potest; sublata enim benevolentia amicitiae nomen tollitur, propinquitatis manet. 196 Während sich in den anderen Vergemeinschaftungsebenen die Verbindlichkeit von beneficia durch äußere Gegebenheiten wie verwandtschaftliche oder räumliche Zugehörigkeit verpflichtend ergab, beruht hier das eigene Handeln auf bewusster, freiwilliger Auswahl; gestärkt wird eine Gemeinschaft, die auf Ähnlichkeit beruht (Diese Ähnlichkeit wird sprachlich hervorgehoben: morum similitudo bonorum; eadem studia, eaedem voluntates; … ut aeque quisque altero delectetur, unus fiat ex pluribus, off. 1,56). Hierzu Griffin 2013, 36.

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Magna etiam illa communitas est, quae conficitur ex beneficiis ultro et cito datis acceptis, quae et mutua et grata dum sunt, inter quos ea sunt firma devinciuntur societate.197

Anders als in off. 1,55, wo die Zuneigung zur societas mit dem anderen führt, beruht (conficitur) hier die communitas auf wechselseitigen beneficia (sprachlich sehr deutlich durch die relationalen Bezeichnungen ultro et cito datis acceptis sowie durch mutua), die allen Beteiligten nützlich sind (grata).198 Eine solche Beziehung wird hier von Cicero nicht explizit als Freundschaft bezeichnet, beschreibt aber durchaus eine Form der amicitia: Idcirco amicitiae comparantur ut commune commodum mutuis officiis gubernetur (Cic. S. Rosc. 111).199 Beide Varianten der Freundschaft existieren nicht außerhalb der übrigen Zugehörigkeitsebenen, sondern sind darin angesiedelt; insofern als sie jedoch den im übrigen räumlich, politisch und verwandtschaftlich definierten gradus societatis das Kriterium der selbst bestimmten Beziehungsnähe hinzufügen, lassen sie sich darin nicht klar einordnen und erscheinen in einer gesonderten, herausgehobenen Position.200 In derselben Weise wie in off. 1,55 die Freundschaft als engste communitas bezeichnet wurde, schreibt Cicero nach deren Behandlung nun in off. 1,57: Sed cum omnia ratione animoque lustraris, omnium societatum nulla est gravior, nulla carior quam ea, quae cum re publica est uni cuique nostrum. Cari sunt parentes, cari liberi, propinqui,

197 „Bedeutsam ist auch jene Gemeinschaft, die sich bildet aus dem gegenseitigen Erweisen und Empfangen von Wohltaten.“ (Übersetzung nach Gunermann 1992) 198 Dyck 1996, 177, liest diese kurze Bemerkung zur Nutzenbeziehung ebenso wie ich als Verweis auf eine weitere Art von amicitia. Er schreibt:„It may not be the highest form of friendship […], but this, too, is a type of society to which the ancients attached importance.“). Auch in einer solchen Nutzen-Freundschaft ergibt sich die Gemeinschaft nicht durch äußere Faktoren, sondern durch Wahl; das zugrunde liegende Kriterium ist jedoch nicht die Nähe (vgl. off. 1,45 bzw. 1,47), sondern der wechselseitige Nutzen, der sich in Beachtung des in off. 1,48 ausgeführten Reziprozitätsprinzips ergibt. 199 Entscheidend für amicitiae war politischer Gleichklang (Lael. 102). Wie schwer politischer Erfolg ohne die Unterstützung der amici sich einstellen konnte, wird beispielsweise deutlich in einer kurzen Bemerkung Ciceros in einem Brief an seinen Freund Atticus, in dem er über die Konsulatsbewerber des Jahres 65 berichtet und zwei Kandidaten nennt, die inopes et ab amicis et ab existimatione wenig Aussicht auf Erfolg hätten (Cic. Att. 1,1,2). In der res publica Romana, wo es noch keine festen Parteien gab, hingen Macht und Einflussnahme ab von der Zahl derer, die den eigenen Projekten unterstützend oder befürwortend zur Seite standen. Dazu Gotter 1996b, 345. Vgl. auch Schuricht 1994, 10; Hutter 1978, 139–141. Ebd. 141: „The three weapons for the achievement of glory were family, money, and personal connections within which friendship was the most important.“ 200 Dieser besondere Fokus auf der amicitia dürfte sich durch Ciceros eigene Erfahrungen erklären lassen: Für ihn als homo novus waren amici – aller couleur – diejenigen, die ihm an erster Stelle bei seinem Bedürfnis nach politischer Einflussnahme unterstützend zur Seite standen. Ein nobilis aus einer arrivierten Familie konnte sich bei seinem Aufstieg zunächst auch auf seine verwandtschaftlichen Beziehungen verlassen – Cicero konnte das nicht. Für diese Anregung bin ich meinem Kollegen Andreas Heil zu Dank verpflichtet.

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Cicero familiares, sed omnes omnium caritates patria una complexa est, pro qua quis bonus dubitet mortem oppetere, si ei sit profuturus?201

Unvermittelt wird die Vorrangstellung der amicitia ersetzt durch die der res publica; beide werden superlativisch (im verneinten Komparativ) als nulla firmior/praestantior (off. 1,55: amicitia) bzw. nulla gravior/carior (res publica) herausgestellt. Beide societates könnten nach diesem Satz den ersten Rang für sich beanspruchen. Indem danach jedoch beschrieben wird, wie die Liebe zu Eltern, Kindern, Verwandten und Freunden in der zur patria aufgeht, ergibt sich, dass die Freundschaft, die als einer der gradus societatis genannt wird (wenn auch ohne klare Angabe der Position innerhalb dieser Vergemeinschaftungsebenen), innerhalb der res publica von herausragender Bedeutung ist.202 In derselben Weise wie in der Begründung der Freundschaft als herausragender Bezugsgröße bringt Cicero auch in den Ausführungen zur res publica das Kriterium der Zuneigung in Anschlag, indem er Varianten von carus/caritas mehrfach im Abschnitt platziert. Die Verbindlichkeit des eigenen Einsatzes für die patria muss sogar, wie Cicero ausführt, bis zur Bereitschaft reichen, sein Leben zu geben. Indem die patria als dem Einzelnen liebste und wichtigste Bezugsgröße erscheint, ergibt sich nach der Eingangsthese aus off. 1,50 (ut quisque erit coniunctissimus, ita in eum benignitatis plurimum conferetur) diese Folgerung ganz zwangsläufig: die größte Beziehungsnähe führt zum größten denkbaren Einsatz.203 Die Einführung neuer Folgerungen mit sed... setzt sich nach der eben untersuchten Folgerung (und Forderung) in off. 1,58 fort: Sed si contentio quaedam et comparatio fiat, quibus plurimum tribuendum sit officii, principes sint patria et parentes, quorum beneficiis maximis obligati sumus, proximi liberi totaque domus, quae spectat in nos solos neque aliud ullum habere potest perfugium, deinceps bene convenientes propinqui, quibuscum communis plerumque fortuna est.204

201 „Aber wenn du alles mit Vernunft und Überlegung betrachtest, dann ist von allen Gesellschaftsbildungen keine wichtiger, keine teurer als diejenige, die ein jeder von uns mit dem Gemeinwesen hat. Geliebt sind die Eltern, geliebt auch die Kinder, Verwandten und Vertrauten, aber alle Liebesbande zu allen umschlingt die eine Vaterstadt.“ (Übersetzung Gunermann 1992) 202 Die officia gegenüber der patria umfassen also die dargestellten abgestuften Verbindlichkeiten im Rahmen der verschiedenen Vergemeinschaftungsebenen. Mit dem stets darüber zu setzenden Bezugspunkt der patria ist ausgedrückt, dass jede Hinwendung an andere am Gemeinwohl zu orientieren ist. Zur Vorrangstellung der patria Atkins 1990, 273–275. 203 Insofern als hier kathekonta erörtert werden, ist das Opfer des eigenen Lebens tatsächlich das größtmögliche. Wie Szaif 2012, 233f. ausführt, stellt sich dies für den Weisen anders dar: Ihm ist es möglich, die „ursprünglichen natürlichen Strebensziele“, die sich aus der Oikeiosis ergeben, hintanzustellen, wenn „das kausale Geschehen in der Gesamtnatur, das er als durch und durch gut erkennt“ dazu führt, dass z.B. sein eigenes Leben zum Wohle der Gesamtnatur aufgegeben werden muss. Das Leben ist ihm zwar etwas Vorzuziehendes, dessen Verlust jedoch kein Schaden. Hierzu auch Atkins 1990, 274. 204 „Aber wenn es gewissermaßen zu Wettstreit und Vergleich kommen sollte, welchen Leuten gegenüber das meiste an Verpflichtungen abzuleisten ist, so sind die ersten Vaterstadt und

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Nachdem in off. 1,57 schon das größtmögliche officium beschrieben wurde, das der Einzelne gewähren kann, und dieses dem Wohl der patria dienen sollte (ei profuturus) bestimmt Cicero nun patria et parentes gleichermaßen als erste Empfänger eigener Leistungen, diesmal im Verweis auf selbst empfangene Leistungen, die gemäß dem in off. 1,48 ausgeführten Reziprozitätsprinzip zuerst zu vergelten sind. Worin die staatlichen und elterlichen beneficia bestehen, führt Cicero nicht explizit aus. Es ist zu vermuten, dass es sich in beiden Fällen um Fürsorge handelt: Eltern ermöglichen durch Pflege und Erziehung ein gutes Heranwachsen ihrer Kinder;205 die res publica steht für Recht und Ordnung sowie den Schutz des Einzelnen (off. 2,73). Es ist letztlich unmöglich, durch eigenes Handeln die beneficia von res publica oder Eltern aufzuwiegen, weil beide gleichsam Vorsprung im Wohltun haben. Die Aufgabe, sich gerade diesen beiden Bezugsgrößen gegenüber hilfsbereit zu zeigen, wird auf diese Weise niemals aufgehoben, der Umfang der eigenen Schuld kommt einem beständigen Handlungsappell gleich (obligati sumus). Danach folgt ein Verweis auf das Angewiesensein (spectat in nos solos) der Kinder und der Hausgemeinschaft sowie weiterer, wohl gelittener (bene convenientes) Angehöriger sowie die Schicksalsgemeinschaft (communis fortuna), in der man mit ihnen lebt; beides führe zu verbindlichen Verpflichtungen ihnen gegenüber; man schulde ihnen, so fährt Cicero fort, necessaria praesidia vitae (off. 1,58). Daraufhin kommen überraschend nochmals die amici ins Spiel, wiederum außerhalb der eben genannten Bezugsgruppen: vita autem victusque communis, consilia, sermones, cohortationes, consolationes, interdum etiam obiurgationes in amicitiis vigent maxime, estque ea iucundissima amicitia, quam similitudo morum coniugavit (ebd.).206

Als beneficium in einer (Tugend-)Freundschaft207 gilt Anteilnahme am anderen, die sich in gemeinsamer Lebensgestaltung niederschlagen kann und zu aufrichtigem Miteinander führt, das – wie aus Parallelstellen im Laelius hervorgeht – der Vervollkommnung beidseitiger Tugendhaftigkeit dient.208

205 206

207 208

Eltern, durch deren sehr große Wohltaten wir verpflichtet sind; die nächsten die Kinder und die ganze Familie, die auf uns allein schaut und sonst keine Zuflucht haben kann; dann in gutem Einvernehmen mit uns stehende Verwandte, mit denen man meistens auch das Schicksal gemeinsam hat.“ (Übersetzung Gunermann 1992) Vgl. Sen. benef. 3,11. Dort wird u.a. auch diskutiert, ob das Geschenk des Lebens als erstes beneficium bezeichnet werden könne. „… gemeinsame Lebensführung und Lebensgestaltung, Ratschläge und Aussprache, Ermutigungen und Tröstungen, bisweilen auch Zurechtweisungen, haben ihren Platz besonders in Freundschaften, und es ist dies die angenehmste Freundschaft, welche eine Ähnlichkeit des Charakters geknüpft hat.“ (Übersetzung nach Gunermann 1992) Der letzte Satz, in dem auf diese angenehmste Art der amicitia verwiesen wird, zeigt zugleich an, dass es daneben noch weitere Arten der Freundschaft gibt – wie etwa die in off. 1,56 beschriebene Nutzenbeziehung. Cic. Lael. 83; 90.

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Abschließend formuliert Cicero in off. 1,59, ähnlich wie schon in off. 1,49, das Kriterium der Dringlichkeit einer Leistung, welches stets mit zu beachten sei. Während in off. 1,49 davor gewarnt wurde, anstelle der Bedürftigkeit des Empfängers künftigen eigenen Nutzen zum Handlungsgrund zu machen, wird hier geraten, stets zu beurteilen, was der Empfänger aus eigener Kraft bewältigen kann und wo er auf Wohltaten angewiesen ist: quid quisque vel sine nobis aut possit consequi aut non possit. Die Abstufung der Leistungen nach Dringlichkeit (gradus temporum) kann sich, wie Cicero anmerkt, damit von jener nach Beziehungsnähe (necessitudinum gradus) unterscheiden; hierzu bringt er zwei Beispiele, aus denen hervorgeht, dass bestimmte Leistungen eher nach Dringlichkeit (Einbringen der Feldfrüchte), andere, aufwändigere, eher nach Beziehungsnähe (Verteidigung vor Gericht) erwiesen werden sollten. Im letzten Satz zur Behandlung der beneficentia im ersten Buch fasst Cicero seine Ausführungen wie folgt zusammen: Haec igitur et talia circumspicienda sunt in omni officio […] ut boni ratiocinatores officiorum esse possimus ed addendo deducendoque videre, quae reliqui summa fiat, ex quo quantum cuique debeatur intellegas (Cic. off. 1,59).209

In der Aufforderung circumspicienda sunt schließt sich der Kreis zu den in off. 1,42 genannten und danach ausgeführten cautiones, die bei jeder zu erweisenden Wohltat (officium synonym zu beneficium; s.o. S. 19) zu beachten sind. Durch dieses sorgfältige Abwägen wird jede Leistung für Cicero zur Rechnung – ähnlich wie in off. 1,49, wo mit collocare ein Verb der Finanz- und Handelssprache verwendet wurde, greift Cicero auch hier auf entsprechende Begriffe zurück (ratiocinatores; addendo deducendo; summa). Diese Berechnung dient nun, wie er ganz am Ende des Paragraphen formuliert, dazu, zu verstehen, was man jedem anderen schuldet (quantum cuique debeatur). An dieser Stelle zeigt sich explizit, dass die cautiones/circumspicienda Facetten des suum cuique tribuere angeben. Solchermaßen sorgfältig berechnete beneficia tragen in besonderer Weise (optime, off. 1,50) zur Bewahrung der Gemeinschaft bei, wie insbesondere im Zusammenhang mit der Erörterung des Nähe-Kriteriums in off. 1,50 deutlich wurde (optime societas hominum coniunctioque servabitur). In einem Fragment des späten Stoikers Hierokles werden in ganz ähnlicher Weise wie in off. 1,50–53 (beziehungsweise, aus anderer Perspektive, off. 1,54) konzentrische Kreise um den Menschen gezogen, die für verschiedene Vergemeinschaftungsebenen stehen, denen er angehört: Der erste Kreis umfasst den Einzelnen selbst, insofern als er – gemäß der Oikeiosis – zuerst für sich selber und die eigenen Bedürfnisse Sorge trägt. Der zweite Kreis erstreckt sich auf Eltern, Geschwister, Ehefrau und Kinder, der dritte und vierte auf die weitere Verwandtschaft, und ab dem fünften Kreis werden politisch bestimmte Zugehörigkeitsebenen

209 „Diese und dergleichen Rücksichten sind bei jeder Verpflichtung zu nehmen […], damit wir gute Berechner der Verpflichtungen sein und durch Hinzufügen und Abziehen absehen können, wie die Restsumme ausfällt, damit du daraus Einsicht gewinnen kannst, wieviel man einem jeden schuldet.“ (Übersetzung Gunermann 1992)

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(angefangen beim Demos) dargestellt. Den größtmöglichen Kreis bildet die Gemeinschaft aller mit allen.210 Anders als in De officiis aber, wo die Verbindlichkeit der eigenen Hilfsbereitschaft gegenüber den jeweiligen Bezugsgruppen vor dem Hintergrund des suum cuique klar geregelt und abgestuft ist (gradus societatis), geht es Hierokles um Folgendes: „Unsere Aufgabe ist es, diese Kreise nach Möglichkeit zusammenzuziehen, das ideale Ziel wäre die Vereinigung sämtlicher Peripherien mit derjenigen des ersten Kreises.“211 Es hat sich gezeigt, dass Cicero in der grundsätzlichen Herleitung der iustitia/ beneficentia in ihrer Verklammerung im Einklang mit der Stoa argumentiert, indem er ausgehend von der Oikeiosis das honestum der iustitia/beneficentia als wichtigste, weil der Gemeinschaft am meisten dienliche Tugenden bezeichnet. Nach der Stoa ist die in allen Menschen wesenshaft angelegte Anteilnahme im eigenen Handeln bewusst auszubilden und zu entwickeln. Diese Entwicklung ist dynamisch angelegt, insofern als der Einzelne kraft der ratio, orientiert auf das Telos, immer

210 Hierocl. ap. Stob. 671 Hense/90 Ramelli. Inhaltlich ähnlich fin. 5,65 (eigtl. aristotelisch): In omni autem honesto, de quo loquimur, nihil est tam illustre nec quod latius pateat quam coniunctio inter homines hominum et quasi quaedam societas et communicatio utilitatum et ipsa caritas generis humani. Quae nata a primo satu, quod a procreatoribus nati diliguntur et tota domus coniugio et stirpe coniungitur, serpit sensim foras, cognationibus primum, tum affinitatibus, deinde amicitiis, post vicinitatibus, tum civibus et iis, qui publice socii atque amici sunt, deinde totius complexu gentis humanae. Quae animi affectio suum cuique tribuens atque hanc, quam dico, societatem coniunctionis humanae munifice et aeque tuens iustitia dicitur, cui sunt adiunctae pietas, bonitas, liberalitas, benignitas, comitas, quaeque sunt generis eiusdem. Der Verweis auf die sich ausweitende Zuneigung (serpit sensim foras) überrascht nicht, wenn man berücksichtigt, dass in der Forschung ein enger Zusammenhang zwischen peripatetischer und stoischer Ethik diskutiert wird (Szaif 2012, 263). Auch in fin. 5,65 wird zunächst die Orientierung auf die Gemeinschaft als wichtigste Tugend (nihil tam illustre nec quod latius pateat) herausgestellt; danach wird, ähnlich wie in off. 1,54 die Entstehung von Gemeinschaft beschrieben, dabei aber, anders als in De officiis, ausgehend von der Liebe der Eltern zu ihren Kindern eine Ausweitung dieser Liebe auf weitere Kreise – Verwandte, Freunde, die Mitmenschen insgesamt – dargestellt. Die Freunde werden hier in die Vergemeinschaftungsebenen eingeordnet, während sie in De officiis extra stehen. In fin. 5,65 wird ausgehend von dieser animi affectio jedem das Seine zugeteilt; was das jeweils ist, lässt sich aus der Passage nicht ablesen. Dass dies aber in jedem Fall dem Wohl der Gesamtgemeinschaft dient, zeigt sich in fin. 5,66, wo Cicero ausführt, der Mensch habeat quiddam ingenitum quasi civile atque populare, quod Graeci πολιτικόν vocant, weswegen keine tugendhafte Handlung je a communitate […] abhorrebit. 211 Praechter 1901, 9. Dieses Zusammenziehen wird jedoch nicht allein durch affectio möglich, sondern durch willentliche Anstrengung; vgl. auch von Arnim 1906, XXXIVf. Zunächst solle man nach Hierokles versuchen, die Mitglieder des zweiten Kreises zu behandeln wie jene des ersten, die des dritten wie jene des zweiten usw. Wie aus der ethischen Elementarlehre des Hierokles hervorgeht, beruht diese Ausdehnung auf Wahl und bewusster Willensentscheidung (24 Ramelli). Hier zeigt sich wiederum, dass Mensch seine natürliche Veranlagung kraft der ratio zur Tugend ausbilden kann und muss. Vgl. auch den Kommentar von Ramelli 2009, 59– 62. Zu den konzentrischen Kreisen bei Cicero und Hierokles Long 1995, 238f. Zur Abstufung des eigenen Handelns je nach Beziehungsnähe NE 1126b

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größere Kreise als wesensverwandt begreifen und seine Zuneigung über Nahbeziehungen hinaus auf entferntere Gruppen ausdehnen soll; Verbindlichkeit und Ausmaß des eigenen Einsatzes können im besten Fall Fremden gegenüber genau so aussehen wie nahen Angehörigen.212 Hierin weicht Cicero mit seinen gradus societatis von der stoischen Lehre ab; in De officiis ist keine Rede von einer zunehmenden Identifikation mit immer weiter entfernten, immer größeren Gruppen. Der Einzelne wird zwar nach stoischem Vorbild als Mittelpunkt einer Reihe konzentrischer Kreise gedacht, die er sich jedoch nicht immer mehr zu eigen macht, sondern genau so nah bzw. fern bleiben lässt, wie sie es von Anfang an sind. Die Verbindlichkeit des eigenen Gebens ist innerhalb der Darstellung der Vergemeinschaftungsebenen fest mit dem Nähegrad der Beziehung verknüpft; eine Anstrengung, sich Fremden ebenso nahe zu fühlen, wird nicht beschrieben. Während in der stoischen Ethik durch eine idealiter unterschiedslose Hinwendung an die Mitmenschen Gemeinschaft am besten gedeiht und damit das Bild einer sich immer weiter ausdehnenden communitas zugrunde liegt, nützt es für Cicero der Stabilität der Gemeinschaft in höchstem Maße, wenn die eigene Gebefreudigkeit sehr wohl verschiedene Stufen des Engagements kennt und von der Nähe zum potentiellen Empfänger sowie anderen Kriterien des suum cuique bestimmt wird. In diesem Sinne heißt es in off. 1,160: In ipsa autem communitate sunt gradus officiorum, ex quibus quid cuique praestet intellegi possit, ut prima diis immortalibus, secunda patriae, tertia parentibus, deinceps gradatim reliquis debeatur.213

Die Götter, die noch vor der patria stehen, erscheinen nur hier;214 im übrigen ähnelt diese Zusammenfassung den Ausführungen aus off. 1,50–57, und es wird nochmals deutlich, dass diese Abstufung (gradus, gradatim) im Sinne des suum cuique geschieht (quid cuique). Cicero geht es nicht um Ausweitung, um Integration, sondern um Bewahrung der insgesamt als naturae principia ausgewiesenen gradus societatis. Denn dies fällt auf: dass ebenso wie in der Stoa, wo die unterschiedslose Hinwendung an andere Bestandteil des wahrhaft ausgebildeten secundum naturam vivere ist (Telosformel, vgl. off. 1,22), auch Cicero in seiner Herleitung der abgestuften Hilfsbereitschaft auf naturae principia verweist und – obwohl er inhaltlich von der Stoa abweicht – doch formal dieselben Bezüge herstellt.

212 S.o. zur Stoa; vgl. McCabe 2005, 421–423; Pembroke 1971, 126: „It is something if persons in one circle can be treated as though they belonged to its immediate neighbour on the inside.“ 213 „Gerade in der Gemeinschaft gibt es Abstufungen unter den pflichtgemäßen Leistungen, aus denen, was jeweils das Bessere ist, eingesehen werden kann, so daß die erstrangigen den unsterblichen Göttern, die zweiten dem Vaterland, die dritten den Eltern, die folgenden in Abstufungen den übrigen geschuldet werden.“ (Übersetzung Gunermann 1992) 214 Walsh 2000, xxi, konstatiert: „This list of priorities is not wholly consistent with the rankings at 1.58.“ Dyck 1996, 351f. erklärt dies mit einer möglicherweise anderen Quelle für den Abschnitt.

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off. 1,93–1,124 Ein letztes Kriterium des suum cuique wird, wie nun zu zeigen ist, im Rahmen der Erörterung der vierten Kardinaltugend (ab off. 1,93) herausgestellt, die Cicero als verecundia et quasi quidam ornatus vitae, temperantia et modestia omnisque sedatio perturbationum animi et rerum modus215 sowie kurz als das Schickliche, decorum, beschreibt. Insofern als für ihn das decorum nicht vom honestum zu trennen ist und damit auch in den übrigen drei Kardinaltugenden zutage tritt (quod decet honestum est et quod honestum est decet […]. Itaque non solum in hac parte honestatis, de qua hoc loco disserendum est, sed etiam in tribus superioribus quid deceat apparet; off. 1,94),216 enthalten die Ausführungen zum decorum zusätzliche Hinweise darauf, in welcher Weise die übrigen Kardinaltugenden – darunter die hier untersuchte zweite (iustitia/beneficentia) umzusetzen sind.217 In der Auseinandersetzung mit dem decorum werden die Überlegungen zur natura hominis im Rahmen der Persona-Theorie um die Beschreibung verschiedener Ausprägungen des Naturgemäßen erweitert,218 wodurch sich zugleich eine differenziertere Bedeutung der Telosformel des secundum naturam vivere ergibt.219 Insofern als diese Formel in der kurzen Skizze der beneficentia in off. 1,22 erstmals im Werk erschien und darauf schließen ließ, dass das Erweisen von beneficia in höchstem Maße

215 „… das Anstandsgefühl und gleichsam eine Art Schönheitssinn in der Lebensgestaltung, Sichbescheiden, Mäßigung und überhaupt die völlige Beherrschung der Leidenschaften und rechtes Maß…“ (Übersetzung Gunermann 1992) 216 Hierzu Bellincioni 1986, 42; Fiori 2011, 228, Picone 2012, XIX. Außerdem Dyck 1996: „Panaetius evidently claims, not merely that decorum always accompanies the honestum, but that it is an external signal to the inner presence of the honestum since the hierarchically superior honestum is the condition for its manifestation.“ Anders Plat. Hipp.mai. 294a: Etwas kann schicklich sein (prepon), ohne zugleich auch gut (kalon) zu sein. Zum prepon Labowsky 1934, 4–7. 217 Hierzu wiederum Dyck 1996, 251: „That action in accord with the other virtues is decorous was not mentioned when they were discussed previously.“ In off. 1,15 heißt es, dass die honesta ... inter se colligata atque implicata sunt, sich aus ihnen jedoch verschiedene officia ergeben. An dieser Stelle wird ebenfalls deutlich, dass die Tugenden nicht klar trennbar sind, anders als in off. 1,15 wird aber betont, dass das decorum zugleich auch in den officia der anderen Tugenden erscheinen muss. Zur zweiten Kardinaltugend schreibt Cicero: et iusta omnia decora sunt, iniusta contra (ebd.). 218 Die Persona-Theorie Ciceros geht nach der communis opinio in der Forschung mindestens teilweise auf Panaitios zurück (Sorabji 2006, 158), für Vimercati 2004, 130 sogar vollständig (in diesem Sinne bereits Labowsky 1934, 67f.). Hierzu Atkins 2000, 513. Die Unterteilung in die allen Menschen gemeinsame und die individuelle Natur findet sich bereits bei Zenon (referiert bei Diog. Laert, 7,87). Zum Begriff persona bei Cicero und Seneca: Bellincioni 1986, 35– 99 (zu persona in Cic. off.: 41–45). Picone 2012, XIX verweist darauf, dass „nel de officiis si trovi la discussione più approfondita che la letteratura romana abbia prodotto sulla pluralità dei modelli esistenziali“. 219 Hierzu Gill 2003, 41: Die Persona-Theorie erlaube „more closely specified advice for what is ‚appropriate‘ to us.“

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naturgemäß ist, enthält deren Neubestimmung Folgerungen für recht verstandene beneficentia. Zunächst zieht Cicero das Bild des Dichters heran, der jeder von ihm beschriebenen Rolle (persona) gewisse passende Charakterzüge verleihe (off. 1,98), analog dazu verleihe die natura dem Menschen eine ihm zukommende Rolle (ebd.), welche im Streben nach constantia, moderatio und den übrigen genannten Bestandteilen des decorum besteht, die, wie schon in off. 1,94 gesagt, in den einzelnen Tugenden aufscheinen.220 Mit diesem Bild der naturgemäßen Rolle, der im Handeln entsprochen wird, variiert Cicero die für alle Tugenden gültige Überlegung, dass Tugendhandeln eine Entfaltung der Menschennatur darstellt.221 Die natura des Menschen wird für Cicero zunächst in bereits bekannter Weise durch die ratio definiert; als decorum gilt es zunächst, die Begierden zu zügeln (off. 1,103).222 Sodann wird die natura aber erweitert: Intellegendum etiam est duabus quasi nos a natura indutos esse personis; quarum una communis est ex eo, quod omnes participes sumus rationis […], altera autem, quae proprie singulis est tributa (off. 1,107).223

Der allen gemeinsam gegebenen Vernunft, die als menschliches Gattungsmerkmal gelten kann (erste persona), wird eine zweite, ebenfalls natürlich angelegte Wesensart (zweite persona) hinzugefügt, die nicht bei allen gleich ausfällt, sondern die jeweils spezifischen Anlagen und Begabungen jedes Einzelnen umfasst. Diese

220 Bellincioni 1986, 37, verweist darauf, dass in der Verwendung von persona „quello di ‚maschera‘ e quindi anche di ‚personaggio‘ teatrale“ nach wie vor die gängige gewesen sei. Ebd. 45– 50 führt sie aus, in welchen Bedeutungen der Begriff insgesamt gebräuchlich war. Ähnlich Vimercati 2004, 131f. 221 Hier wird ähnlich wie in off. 1,22 wieder dazu aufgerufen, sich der Führung der Natur anzuvertrauen: hanc primum habet viam, quae deducit ad convenientiam conservationemque naturae; quam si sequemur ducem, numquam aberrabimus (off. 1,100). Zur Formulierung Labowsky 1934, 21. 222 In off. 1,105 heißt es: sunt enim quidam homines non re, sed nomine. Hier wird ein Gedanke formuliert, der auch den Ausführungen zur Berechnung der eigenen Hilfsbereitschaft je nach moralischer Qualifikation des Empfängers zugrunde liegt – diejenigen, bei denen sich eben keine significatio virtutis zeigt, gehören nicht zur Gemeinschaft (off. 1,46: neminem omnino non esse neglegendum, in quo aliqua significatio virtutis appareat; off. 3,31: nulla societas nobis cum tyrannis; 3,32: in figura hominis feritas et immanitas beluae). 223 „Auch muß man einsehen, daß wir von der Natur gleichsam mit zwei Rollen ausgestattet sind: die eine davon ist eine allen gemeinsame – deswegen, wie wir alle gleichermaßen der Vernunft teilhaftig sind […], die andere jedoch, die den Einzelnen individuell zugeteilt wurde.“ (Übersetzung nach Gunermann 1992) An sich ist der Gedanke der menschlichen Verschiedenheit jedoch nicht neu; Platons Staatsentwurf etwa basiert auf der Vorstellung, dass die Menschen unterschiedliche Begabungen haben. Vgl. Plat. rep. 434a. Hager, HWPh 6, 434, schreibt, Cicero verstehe den Begriff der natura nicht nur als „die in der Vernunft des Menschen begründete Humanität im allgemeinen, sondern bezieht ihn auch auf die individuellen Aufgaben jedes einzelnen Menschen.“ Die Formulierung „Aufgaben“ ist ungenau, denn an sich bezieht Cicero den Begriff auf die individuellen Anlagen jedes Einzelnen, die dann – in Berücksichtigung auch der dritten und vierten persona – zu bestimmten Aufgaben führen.

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Unterschiede treten in corporibus, in formis und in animis zutage (ebd.) und werden anhand einer Reihe von Beispielen illustriert. In off. 1,110 folgert Cicero: Admodum autem tenenda sunt sua cuique, non vitiosa, sed tamen propria, quo facilius decorum illud, quod quaerimus, retineatur. Sic enim est faciendum, ut contra universam naturam nihil contendamus, ea tamen conservata nostram sequamur.224

Hier erscheint die Formulierung des suum cuique explizit:225 Hier ergibt sich das jeweils Zustehende dadurch, dass der Einzelne im Einklang mit der allgemeinen Menschennatur (contra universam naturam nihil) die eigenen Begabungen (non vitiosa, sed tamen propria) ausbildet; dabei ist es nötig, die eigenen Anlagen zu erkennen, um nicht fälschlicherweise aliorum naturam imitans die eigene zu verlieren (off. 1,111).226 Im Hinblick auf die beneficentia ergibt sich hieraus eine Ergänzung zu off. 1,22, wo erstmals dazu aufgefordert wurde, sich der Führung der Natur zu unterwerfen und durch verschiedene Varianten des Einsatzes für andere (tum artibus, tum opera, tum facultatibus) die menschliche Gemeinschaft zu festigen. Diese verschiedenen Varianten bezeichnen vor dem Hintergrund der zweiten persona des Menschen dasjenige Verhalten, das am meisten im Einklang mit den eigenen Begabungen und Fähigkeiten steht; die Telosformel wird erweitert, indem sie als naturgemäß das bezeichnet, was im Einklang mit der allgemeinen Menschennatur zugleich auch der spezifisch eigenen natura entspricht. Die erste persona des Menschen enthält also die grundsätzliche Disposition zur beneficentia, (die, wie off. 1,12 anzeigte, in der Oikeiosis gründet). Die zweite persona – dies wird hier ergänzt – zeigt an, in welcher Weise die allen gleichermaßen naturgemäße Hilfsbereitschaft konkret auszubilden ist.227 Hieraus ergibt sich, wie in off. 1,110 und 1,114 deutlich wird, implizit ein weiteres Kriterium des suum cuique, das den Wohltäter in den Blick nimmt: Welche Arten von beneficia er

224 „Jeder muss besonders an dem festhalten, was ihm entspricht, zwar nicht am Fehlerhaften, aber doch am Charakteristischen, damit umso leichter das Schickliche, das wir untersuchen, bewahrt werden kann. So nämlich ist zu verfahren, dass wir gegen die allen gemeinsame Natur nicht angehen, dass wir in ihrem Rahmen aber doch unserer eigenen folgen.“ 225 Hierzu Dyck 1996, 279: „The formula tenenda sunt sua cuique has, of course, been transferred from the treatment of justice.“ 226 Cicero mahnt sodann: Suum quisque igitur noscat ingenium acremque se et bonorum et vitiorum suorum iudicem praebeat, ne scaenici plus quam nos videantur habere prudentiae (off. 1,114). Hierzu Bellincioni 1986, 43. Hier nimmt Cicero den Gedanken der Rollenvielfalt der Dichtung aus off. 1,98 wieder auf. Weiter schreibt er: Während der Dichter als Urheber die verschiedensten personae erschaffen könne, sei es die Aufgabe des Schauspielers, sich kraft der eigenen Urteilsfähigkeit (iudex) aus der Auswahl an Charakteren und Geschichten für diejenigen zu entscheiden, die ihm am meisten zum eigenen Wesen zu passen scheinen (illi enim non optumas, sed sibi accomodatissimas fabulas eligunt, ebd.). 227 Hierzu Bellincioni 1986, 43: „Per questo il decorum differisce da uomo a uomo anche se sempre coincide con l’honestum […]. Quod oportet diventa, al momento in cui si traduce in atto, quod decet.“

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leisten sollte, ist anhand seiner zweiten persona zu bestimmen.228 In off. 1,115 fügt Cicero nochmals zwei personae hinzu, die nicht naturgegeben sind: Ac duabus iis personis, quas supra dixi, tertia adiungitur, quam casus aliqui aut tempus imponit, quarta etiam, quam nobismet ipsi iudicio nostro accomodamus.229

Im Hinblick auf die dritte persona, welche die soziale Position bezeichnet, belässt es Cicero bei einem kurzen Verweis darauf, dass diese von den Umständen bestimmt werde (regna, imperia; finanziell: divitiae, opes). Die vierte persona hingegen wird durch eigene Entscheidung (iudicium/voluntas) definiert;230 in den angeführten Beispielen zeigt sich, dass es dabei insbesondere um die „Berufswahl“ geht.231 Für jeden Menschen stellt sich also die Aufgabe, sich selbst zunächst als vernunftbegabt zu erkennen und zu verhalten (inklusive der bewussten Bejahung der Anlagen zur Tugendhaftigkeit), dabei die eigenen Begabungen auszubilden und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten (dritte persona: soziale Position) kraft eigener Entscheidung für einen bestimmten Lebensweg (vierte persona) auch einzusetzen.232 Aus den beiden zusätzlichen personae ergibt sich, ohne dass Cicero dies explizit sagt, ein weiteres Kriterium des suum cuique: Die durch casus und tempus festgelegten unterschiedlichen sozialen Positionen sind mit entsprechenden Rollen innerhalb der Gemeinschaft verbunden. Die soziale Position eines Menschen führt

228 Die Anweisung, den eigenen Begabungen gemäß zu handeln, wird in off. 1,114 relativiert, wenn Cicero ausführt, dass es mitunter notwendig sei, Dinge zu tun, für die man nicht ausgewiesen sei. In einem solchen Fall solle man sich darum bemühen, sie wenn schon nicht decore, so doch minime indecore zu bewältigen. Dies mag auch für beneficia gelten: In off. 1,49 und off. 1,59 verwies Cicero auf die Dringlichkeit von Leistungen, die sich mitunter ergeben könne – in einer solchen Situation wird man möglicherweise angehalten sein, einem anderen in einer Weise hilfreich beizuspringen, in der man wenig bewandert ist. 229 „Und zu den zwei Rollen, die ich oben besprochen habe, fügt sich eine dritte, die irgendein Zufall oder ein Zeitumstand auferlegt, ferner eine vierte, die wir uns selbst aufgrund unseres persönlichen Urteils zumessen.“ (Übersetzung Gunermann 1992) 230 Zum Verhältnis von providentia und voluntas bei Panaitios vgl. Dyck 1996, 288. 231 In Anführungszeichen insofern, als keine Berufe im modernen Sinne gemeint sind, sondern eher Varianten der politischen bzw. militärischen Laufbahn. Denn, wie Michel 1962, 147, anmerkt: „Pour le Romain de qualité, à la fin de la République ou sous le Haut-Empire, – qu’il soit sénateur ou chévalier – le propre de l’homme libre est de n’avoir point de profession, c’est de n’être pas obligé de travailler pour vivre.“ Es fällt auf, dass Cicero auch hier wieder aus der Perspektive der Oberschicht formuliert, die allein die Möglichkeit zu den hier dargestellten Lebenswegen hatte. Bei berühmten patres/maiores empfiehlt er, sich entweder für dieselbe Laufbahn zu qualifizieren, oder zwar denselben Weg zu beschreiten, diesem aber etwas Eigenes hinzuzufügen, oder, als dritte Möglichkeit, eine völlig eigene Richtung einzuschlagen. Diese letzte Variante gelte immer für obscuris orti maioribus, also homines novi, wie Cicero selbst einer war (off. 1,116). Zur Bewertung von Arbeit bei Cicero vgl. off. 1,150f. 232 Ähnlich wie in off. 1,50–53, wo Cicero ausgehend von der Gemeinschaft aller mit allen immer kleinere Vergemeinschaftungsebenen anführte, zieht er auch in der Persona-Theorie immer kleinere Kreise. Dieselbe Beobachtung stellt Dyck 1996, 269 an.

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dazu, dass von ihm bestimmte Verhaltensweisen erwartet werden bzw. sich umgekehrt ihm gegenüber ziemen (So beschreibt Cicero in off. 1,124 kurz verschiedene munera von magistratus, cives und peregrini).233 Abschließend sollen die ab off. 1,42 erläuterten cautiones, die bei jeder zu erweisenden Wohltat zu beachten sind, nochmals in einer Übersicht zusammengefasst werden: Unversehrtheit (off. 1,43)

Weder dem Empfänger noch unbeteiligten Dritten darf durch eine Wohltat Schaden entstehen.

Eigentum (off. 1,44)

Der Wunsch, eine Wohltat zu erweisen, darf nicht dazu führen, jemandem etwas wegzunehmen, um es einem anderen zu schenken.

moralische Qualifikation (off. 1,45)

Die Verbindlichkeit des eigenen Einsatzes ist je nach der Tugendhaftigkeit des anderen zu bestimmen.

Zuneigung (off. 1,47f.)

Wohltaten sind vor allem denjenigen zu erweisen, die dem Wohltäter mit Zuneigung und Wohlwollen begegnen oder mit denen er aufgrund eigener Wahl eine Gemeinschaft eingehen möchte.

Schuld (off. 1,49)

Im Sinne des Reziprozitätsprinzips sind selbst empfangene Leistungen unbedingt zu vergelten.

Nähe (off. 1,50–58)

Die Verbindlichkeit der Wohltaten richtet sich nach der Beziehungsnähe.

Dringlichkeit (off. 1,59)

Neben den genannten Kriterien ist auch situationsgebunden die Bedürftigkeit des anderen zu beachten.

personae (off. 1,107; off. 1,115)

Wohltaten müssen den eigenen Begabungen, der sozialen Position sowie dem gewählten Lebensweg entsprechen.

In universorum animos tamquam influere: beneficentia und utile off. 2,1–2,24 Zu Beginn von off. 2 meint Cicero, nun hinreichend dargelegt zu haben, wie die pflichtgemäßen Handlungen aus der Tugend entspringen und kündigt eine Erörterung derjenigen Pflichten an, die zur Ausgestaltung des Lebens nützlich sind.234 233 Hierzu Dyck 1996, 283: „... what Cicero actually discusses in the sequel are rôles conventional in society.“ 234 Diese kurze Angabe zum weiteren Gehalt des Textes findet sich in off. 2,1: Sequitur, ut haec officiorum genera persequar, quae pertinent ad vitae cultum et ad earum rerum, quibus utuntur homines, facultatem, ad opes, ad copias. Zum Wortlaut des Satzes vgl. Dyck 1996, 361f. Das utile selbst wird an dieser Stelle noch nicht genannt; hier verwendet

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Das Nützliche sei nur aufgrund falschen Sprachgebrauchs überhaupt von der Tugend getrennt worden (lapsa consuetudo deflexit de via), der es eigentlich angehöre (diese Entwicklung bezeichnet Cicero als pernicies).235 Es müsse darum gehen, durch tugendhaftes Verhalten (honestis consiliis iustisque factis, off. 2,10) das zu erreichen, was man will.236 In off. 2 steht, wie sich nun zeigen wird, wiederum das menschliche Miteinander im Vordergrund, sodass auch dieses Buch sich als ausgesprochen ertragreich für die Untersuchung der Frage erweist, wie Gemeinschaft für Cicero gedeiht. Die Besprechung des utile nimmt ihren Anfang mit der „eulogy of human cooperation“,237 die nach einer Unterteilung des dem Menschen Nützlichen in inanima/animalia sowie, für letztere wiederum, in rationis expertia und ratione utentia (off. 2,11) zur Feststellung führt, dass Menschen einander in höchstem Maße nützlich sein können (ebd.). Illustriert wird dies anhand von Beispielen, in denen deutlich wird, welcher Ertrag (fructus/utilitates) sich aus Unbelebtem gewinnen lässt, (off. 2,14), welche Möglichkeiten sich durch die Zähmung von Tieren ergeben (ebd., unter Verwendung von commoditas, usus und zweimal fructus). Es wird jeweils betont, dass nur das Zusammenwirken der Menschen zu dieser Nutzbarmachung der belebten wie der unbelebten Natur und letztlich zu zivilisatorischem Fortschritt führe, durch den das Leben sicherer sei und man mit allem Notwendigen versorgt sei (atque ut dando et accipiendo mutandisque facultatibus et commodis nulla re egeremus; off. 2,15). Die Formulierung erinnert an off. 1,22, wo das Ineinandergreifen von Geben und Nehmen zum gemeinsamen Nutzen (wie wir gesehen haben, war von communes utilitates die Rede) als wahrhaft naturgemäß herausgestellt wurde. Hier zeigen die aufeinander bezogenen Vokabeln (dare/accipere, mutare) in ähnlicher Weise Reziprozität an. In off. 2,10–15 stehen jedoch zunächst die Interessen der Handelnden im Vordergrund (ea, quae velint, consequi posse, off. 2,10), woraus folgt, dass utile bzw. utilitas im ersten Buch De officiis und hier verschiedene Semantiken haben: Während im ersten Buch die Frage behandelt wurde, durch welche Verhaltensweisen Gemeinschaft (off. 1,22) begründet und gefestigt werden kann

Cicero das Verb uti. Explizit taucht das utile in off. 2,9 auf, wo sich Cicero nach einem längeren Exkurs über die Bedeutung seiner philosophischen Schriftstellerei wieder dem Thema zuwendet: Hoc autem, de quo nunc agimus, id ipsum est, quod utile appellatur. Zur Disposition von off. 2 Lefèvre 2001,84 und 87. 235 Diesem schweren Irrtum begegnet Cicero mit einem stoischen Syllogismus (Denn sie dürften mit den summa auctoritate philosophi in off. 2,10 gemeint sein): Was gerecht sei, müsse auch als nützlich gelten; was ehrenhaft sei, sei zugleich gerecht. Damit ergibt sich eine Entsprechung von utile und honestum (off. 2,10). Der Syllogismus ist schief; dazu Dyck 1996, 372f. 236 Diesen Satz bezeichnet Dyck 1996, 375, als „keynote“ des zweiten Buches De officiis; seiner Ansicht nach formuliert Cicero hier sein Untersuchungsziel, das darin bestehe, die Leser zu überzeugen „that it is possible to attain their ends without resorting to deceit or other unethical practices.“ Dyck 1996, 375. 237 Dyck 1996, 381. In off. 2,13–15 führt Cicero aus, in welcher Weise inanima und animalia durch menschliches Miteinander zum wechselseitigen Nutzen dienstbar gemacht wurden und sich daraus die Zivilisation entwickelte.

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(coetus et esse et obiri; tueri/devincire/servare societatem u.a.) und diese Gemeinschaft als nützlich im Sinne von lebenserhaltend sowie naturgemäß bezeichnet wird, steht der Nutzen im zweiten Buch für Annehmlichkeiten und Vorteile jedes Einzelnen (commoda; ut nulla re egeremus u.a.). Dass diese commoda, die durch Geben und Nehmen jedem Einzelnen erwachsen, letztlich den gemeinsamen Nutzen befördern, kann aus off. 2,10 durchaus implizit abgeleitet werden, indem sich, ausgehend von der Forderung, das utile immer am honestum zu orientieren, der wechselseitige, jeweils eigene Nutzen mit dem gemeinsamen Nutzen gleichsetzen lässt – im Sinne des in off. 3,27 formulierten Ineinanderfallens von omnium utilitas und communis utilitas. Ein weiterer Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Buch De officiis besteht darin, dass ab off. 2,17, wie wir sehen werden, klar der Blickwinkel der Führungsschicht eingenommen wird und eine solche Sprecherperspektive im ersten Buch zwar einigen Andeutungen zu entnehmen, aber nicht in dieser Deutlichkeit zu fassen ist. Diese Perspektive, aus der heraus auch die beneficentia zur Untersuchung kommt, wird für den Rest des zweiten Buches beibehalten und hat dem Werk Lefèvres Beurteilung als „Vademecum für Politiker-Adepten“ eingebracht.238 Greifbar ist diese konkrete Ausrichtung insbesondere in der häufigen Verwendung der ersten Person Plural, die zugleich impliziert, dass Cicero sich selbst der Adressatengruppe zurechnet, für die er Handlungsanweisungen formuliert. Nachdem in off. 2,13–15 Varianten beschrieben wurden, in der Beherrschung der unbelebten Natur sowie der Zähmung von Tieren zum wechselseitigen Nutzen beizutragen,239 behandelt Cicero ab off. 2,17 die Lenkung der Menschen. Zuerst definiert er diese Fähigkeit als Aufgabe der Tugendhaften: proprium hoc statuo esse virtutis, conciliare animos hominum et ad usus suos adiungere. Es sei Zeichen der Tugend, „die Menschen zu versöhnen und zur Wahrnehmung ihres Nutzens zu bringen.“240 Das Abstraktum der virtus steht für tugendhafte Männer, wie kurz darauf in einer Wiederholung dieses Gedankens deutlich wird: ... hominum autem studia, ad amplificationem nostrarum rerum prompta ac parata, virorum praestantium sapientia et virtute excitantur (ebd.).241

238 Lefèvre 2001, 89. Ähnlich auch Pohlenz 1934, 143; Dyck 1996, 354; Michel 1962,512. Ferner Griffin 2013, 28. 239 Cicero führt verschiedene Beispiele von artes operosae aus; je nach Begabungen (zweite persona) bringen sich nach seiner Darstellung die Menschen in die Gemeinschaft ein. 240 Übersetzung Gunermann 1992. Wie in off. 1,12 verwendet Cicero das Verb conciliare. Hier ist jedoch nicht – gemäß der Oikeiosis – die natura Urheber der conciliatio, sondern viri boni. Die Übersetzung des Verbs mit „versöhnen“ ist nicht ganz glücklich, denn im Sinne des griechischen oikeioun geht es hier darum, die Menschen einander nahe zu bringen. 241 „… die Bereitschaft aber und Begeisterung unserer Mitmenschen zur Förderung unserer Interessen werden durch die Weisheit, d.h. durch Vollkommenheit [überragender Männer] wachgerufen.“ (Übersetzung Gunermann 1992) Die Tugendhaftigkeit der viri praestantes wird in den verschiedenen Kardinaltugenden verortet, die, wie in off. 1 deutlich wurde, stets am Gemeinwohl auszurichten sind. Hier ist deren Anordnung eine andere als in off. 1,15; außerdem

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Das Possessivum der ersten Person Plural irritiert zunächst, lässt sich aber, wie Dyck formuliert, als „ours as men“ lesen,242 wenngleich – gerade auch in der Zusammenschau mit den darauffolgenden Ausführungen, bei denen die Belange einer konkreten, Cicero umfassenden Adressatengruppe in den Blick genommen werden – auch eine andere Lesart möglich ist: dass nämlich durch kluge Lenkung der Menschen der Nutzen genau dieser Gruppe befördert werden soll.243 So empfiehlt Cicero etwa in off. 2,18, iis, quibuscum congregemur, uti moderate et scienter, quorum studiis ea, quae natura desiderat, expleta cumulataque habeamus.244 Es geht darum, mit den anderen, zu denen man selbst gehört (hier verwendet er die erste Person Plural) auf rechte Weise umzugehen (uti), um möglichst großer Vorteile willen (expleta cumulataque habeamus). Weiter heißt es: per eosdemque, si quid importetur nobis incommodi, propulsemus ulciscamurque eos, qui nocere nobis conati sint;245 durch einen maßvollen Umgang mit anderen sichert man sich (Cicero spricht wiederum in der ersten Person Plural) deren Gefolgschaft, welche die eigene Stellung stabilisiert und also zunächst dem Handelnden selbst Vorteile bringt.246 Das Verb uti, mit dem in off. 2,1 die Thematik des zweiten Buches eingeführt wurde, wird hier nicht mit einem sächlichen Objekt verbunden, sondern hier wird beschrieben, wie man sich Menschen (Mitglieder, der Gruppe, der man selbst angehört) zunutze machen kann. Wie wichtig es ist, die Gefolgschaft der Menschen zu erringen, zeigt sich ab off. 2,19, wo Cicero programmatisch formuliert: Quibus autem rationibus hanc facultatem assequi possimus, ut hominum studia complectamur eaque teneamus,

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ist (ganz im Sinne der thematischen Ankündigung in off. 2,1) zu beobachten, dass die Tugenden mit solchen Handlungsanweisungen verknüpft werden, die zum Nutzen gereichen. Dyck 1996, 385. Anders Lefèvre 2001, 88. Gärtner 1981,111 deutet off. 2,17 so, „daß eine führende politische Persönlichkeit durch ihre arete, Tüchtigkeit, durch das Gewinnende dieser Haltung die Billigung der Menschen findet und so ihre Gefolgschaft zu Taten von allgemeinem Nutzen aktivieren kann.“ Diese Deutung steht im Zusammenhang mit der panaitianischen Prepon-Lehre, die Gärtner aus off. und Polybios rekonstruiert: In der Anakyklosis des Polybios zeige sich, dass die Menge über einen Wertmaßstab verfüge, auf dessen Grundlage sie einem guten Herrscher ihre Zustimmung gebe. In off. 2,16 heißt es ganz ähnlich, dass mit der Zustimmung der Menge Großes möglich sei, und in off. 2,32 schreibt Cicero, man empfinde von Natur aus Zuneigung zu denen, bei denen sich das honestum decorumque in besonderer Weise manifestiere. Man könne aber, schreibt Cicero, auf Dauer nichts vorspiegeln, was man nicht auch tatsächlich sei. „… mit denen, mit welchen wir uns zusammenscharen, rücksichts- und verständnisvoll umzugehen, damit wir durch ihre Mitarbeit das, was die Natur braucht, in Hülle und Fülle zu Gebote haben…“ (Übersetzung Gunermann 1992) „… und damit wir auch durch sie, wenn uns irgendein Nachteil zugefügt wird, diese abwehren und uns an denen rächen, die uns zu schaden versucht haben…“ (Übersetzung Gunermann 1992) Die erste Person Plural wird auch in der kurzen Darstellung der Tapferkeit beibehalten. Die zweite und dritte Kardinaltugend gehören hier zusammen als „social virtues“ (Dyck 1996, 385).

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dicemus (off. 2,19; wieder erste Person Plural!)247 bzw., nur wenig später ganz ähnlich, dicendum est, quonam modo hominum studia ad utilitates nostras allicere atque excitare possimus (off. 2,20; ebenso: erste Person Plural sowie Possessivum in der ersten Person Plural).248 Die hominum studia sollen gewonnen werden (complecti, tenere, allicere, excitare), und zwar ad utilitates nostras. Ähnlich wie in off. 2,17 kann damit der gemeinsame Nutzen und derjenige der Handelnden (zu denen Cicero sich selbst rechnet) gemeint sein. Letzterer besteht darin, sich die anderen zu Diensten zu machen. Insofern als aber nach Cicero diejenigen, deren Bestreben es ist, andere zu führen, als viri praestantes sapientia et virtute gedacht sind249 und das utile stets mit dem honestum in eines fällt, muss der Nutzen, der sich aus der Gefolgschaft ergibt, ohnehin dem Gemeinwohl dienen.250 Gefolgschaft führt zu Einfluss und Macht; der Weg dorthin wird nach den Ankündigungen in off. 2,19 und 2,20 ab off. 2,21 ausgeführt, indem Cicero sich damit auseinandersetzt, aus welchen Gründen Menschen einen Einzelnen aus der Masse herausheben. Quaecumque igitur homines homini tribuunt ad eum augendum atque honestandum, basiere auf einem der folgenden Gründe: – – – – – –

aut benevolentiae gratia faciunt aut honoris aut cui fidem habeant aut cuius opes metuunt aut contra, a quibus aliquid exspectant aut postremo pretio ac mercede ducuntur251

Drei dieser Gründe, nämlich die Aussicht auf Belohnung, die Furcht vor Strafe sowie der Weg der Bestechung bilden nach Ciceros Überzeugung keine tragfähige

247 „Durch welche Mittel wir aber die Fähigkeit erlangen können, die Sympathien der Mitmenschen zu gewinnen und zu erhalten, das werden wir sagen…“ (Übersetzung Gunermann 1992) 248 „… es gilt zu sagen, auf welche Weise wir die Mitarbeit der Menschen für unsere Vorteile gewinnen und aufrufen können.“ (Übersetzung Gunermann 1992) 249 Es gehe im Handeln darum, malitia und sapientia auseinanderzuhalten und sich von Betrug und Unredlichkeit fern zu halten, wie Cicero in off. 2,10 betont. 250 Dessen Gehalt kann freilich – als leerer Signifikant – perspektivabhängig bestimmt werden. Hierzu Laclau 2002, 74. 251 Der Abschnitt lautet im Ganzen wie folgt: „Alle Dienste also, die Menschen einem Mitmenschen erweisen zu seiner Förderung oder Ehrung, leisten sie entweder aus Wohlwollen, wenn sie einen aus irgendeinem Grunde schätzen, oder zur Ehrung, wenn sie zu jemandes Vollkommenheit aufblicken oder ihn der allerhöchsten Stellung für wert halten oder ihm Vertrauen schenken und meinen, er sorge gut für ihr Anliegen, oder wenn sie jemandes Macht fürchten, oder andererseits von irgendwelchen Leuten Bedeutendes erwarten – so, wenn Monarchen oder Demagogen irgendwelche Schenkungen in Aussicht stellen –, oder endlich lassen sie sich dabei von einem Preis oder einer Belohnung leiten.“ (Übersetzung Gunermann 1992)

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Grundlage für beständigen Machterhalt (malus custos diurnitatis, off. 2,23);252 er empfiehlt stattdessen, sich so zu verhalten, dass die Gefolgschaft der Menge sich durch Wohlwollen ergibt (benivolentia fidelis [sc. custos] vel ad perpetuitatem, ebd.).253 Mit der Zuneigung anderer (caritas) könne man leicht alles erreichen, was man privatis in rebus et in re publica anstrebe (off. 2,24). off. 2,25–2,32 Die Konzentration auf die Belange der Führungsschicht hat zur Folge, dass Cicero nun zugleich auch die konkrete Gemeinschaft in den Blick nimmt, in der diese Schicht in ihrem Handeln verhaftet ist – nämlich die res publica Romana:254 Cicero präsentiert ab off. 2,25 eine Reihe zunächst griechischer Beispiele von Tyrannen, die ihre Macht nur zu einem hohen Preis aufrecht erhalten konnten, nämlich dem, selbst in beständiger Furcht zu leben. Danach formuliert er einen bitteren Kommentar: Er erinnere sich in diesem Zusammenhang an Beispiele aus anderen Ländern als aus Rom (off. 2,26), ergänzt durch die Überlegung, dass die römische Herrschaft, solange sie auf Wohltaten und nicht auf Unrecht beruhte, mehr als patrocinium orbis terrae denn als imperium wahrgenommen worden sei (off. 2,26f.). Abschließend heißt es, wiederum voller Bitterkeit: Itaque parietes modo urbis stant et manent, iique ipsi iam extrema scelera metuentes, rem vero publicam penitus amisimus (off. 2,29).255

Es steht zu vermuten, dass Cicero, indem er die Fälle griechischer Tyrannen darstellt und sagt, er wolle über Römisches in diesem Zusammenhang lieber nicht sprechen, wahrscheinlich – ohne dies explizit zu machen – zugleich Caesar als einen solchen verstanden wissen will.256 In unmittelbarem Anschluss an diese pessimistischen Andeutungen zur römischen Zeitgeschichte schreibt er, nun sei zum Thema zurückzukehren – dass es nämlich besser sei, geliebt als gehasst zu werden. Damit entsteht der Eindruck,

252 Dabei formuliert er jedoch konziliant, in bestimmten Fällen sei pecunia ein subsidium necessarium (off. 2,22) 253 Der Abschnitt off. 2,22 bildet in gewisser Weise den locus gemellus hierzu, allerdings mit kleinen Variationen. Die Motive sind ähnlich; das in off. 2,21 zuerst genannte wird hier jedoch in zwei Teile aufgegliedert (Wohlwollen und die Größe der Wohltaten). 254 Atkins 2000, 511: In off. 2 „the political reference becomes even clearer.“ 255 „Deshalb stehen nur mehr die Mauern der Stadt, und selbst die schon in Furcht vor den schlimmsten Verbrechen; das Gemeinwesen aber haben wir vollkommen verloren.“ (Übersetzung Gunermann 1992) 256 Ähnlich auch schon im Prooem von off. 2: Atque utinam res publica stetisset quo coeperat statu (off. 2,3). Dyck 1996, 393, meint, dass die Abschnitte 2,26–2,29 „comprise Cicero’s most extensive use of Roman examples to advance his political Agenda in Off. 1–2.“ Zur Geschichtsverklärung Bees 2010, 168.

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dass die folgenden Handlungsanweisungen dafür, Beliebtheit mit Ehre und Vertrauen zu erlangen (adipisci cum honore et fide caritatem; off. 2,29) in gewisser Weise den Versuch darstellen, auf diese Weise der unglückseligen Entwicklung etwas entgegenzusetzen, das die faktisch verlorene, aber noch greifbar nahe res publica wieder herzustellen hilft.257 Das Ziel des Führungswilligen muss also darin bestehen, sich durch das eigene Handeln den Ruf zu erarbeiten, vertrauenswürdig und ehrenwert zu sein.258 Schlagwort hierfür ist gloria,259 im Sinne hohen Ansehens, das von außen zugeschrieben bzw. zuerkannt wird.260 Ruhm basiert, wie Cicero in off. 2,31 zusammenfasst, auf drei Komponenten: Zuneigung der Menge (si diligit multitudo), Vertrauen der Menge (si fidem habet) sowie Bewunderung bzw. Würdigung der eigenen Verdienste durch die Menge (si cum admiratione quadam honore dignos putat). Ziel ist es, durch verdienten Ruhm in universorum animos tamquam influere (ebd.). Es geht um den Zugang zur Menge, um durch die Gefolgschaft möglichst vieler die eigene Machtposition zu sichern bzw.

257 Hierzu Picone 2012, XXVIII: „Urge quindi una ristrutturazione delle prerogative della beneficentia perché essa possa riprendere a svolgere l’indispensabile funzione di collante interpersonale in una società devastata dalla guerra civile.“ Philosophie als remedium – Long 2003, 192. Dazu aber Ciceros Anspruch der Allgemeingültigkeit in off. 2,74: neque tamen de nostra, sed de omni re publica disputo. 258 In off. 2,30 heißt es: Sed ea [sc. caritate] non pariter omnes egemus, nam ad cuiusque vitam institutam accomodandum est, a multisne opus sit an satis sit a paucis diligi. Hier wendet Cicero wieder die Persona-Theorie an: Je nach Lebensweg ergeben sich in dieser Hinsicht Unterschiede; dass es aber auch für den „kleinen Mann“ nötig ist, familiaritates habere fidas amantium nos amicorum et nostra mirantium, steht für Cicero außer Frage, und somit stellt sich diese Aufgabe – in unterschiedlichem Ausmaß – an sich zunächst für jeden. 259 Gloria erscheint bereits in off. 1,42f., wird dort aber als Motiv für wohltätiges Handeln kritisch betrachtet. 260 In off. 2,31 spricht Cicero von summa und perfecta gloria, vermutlich in Absetzung von einem möglichen pejorativen Gebrauch im Sinne eitler Ruhmsucht; ihm geht es darum, sich durch tugendhaftes Handeln einen guten Ruf zu erarbeiten, der unmittelbar von der Sicht der Menge abhängt. Vgl. off. 1,68: Cavenda etiam est gloriae cupiditas. Hierzu Thomas 2002, 436; Atkins 2000, 512. Ruhm geht für Cicero immer damit einher, den Anschein zu erwecken, ein guter Mann zu sein, freilich ohne sich zu verstellen, denn auf Dauer könne man nur das repräsentieren, was man wirklich vertrete (off. 2,43f.). Selbst unter Schurken, die ja ebenfalls einen gewissen Regelkodex hätten, spiele dieser Anschein von Gerechtigkeit eine Rolle (off. 2,40). In diesem Sinne Heilmann 1982, 3, der ausführt, Ciceros Ziel sei, Führungswilligen zu zeigen, dass sie „durch ehrenvolle Pläne und gerechte Handlungen, nicht durch Betrug und Schurkerei“ Erfolg haben könnten. Vgl. off. 2,42f. Ex negativo: off. 1,44; off. 2,54. Hierzu insbesondere auch Long 1995, 224–233 (zum normativen Konzept der summa gloria ebd. 229). Für eine linguistische Untersuchung von gloria vgl. Thomas ebd., 426: „Das Basis-Sem von gloria lässt darauf schließen, dass das Wort etymologisch mit ‚Glanz‘ zu tun haben und der Wurzel *gel (strahlen) angenähert werden kann.“ Gloria kann den Glanz meinen, den man sich selbst gibt, aber, und das ist bei Cicero der Fall, den von anderen gesehenen Glanz bezeichnen, also den Ruhm, der von anderen zuerkannt wird und damit vom Urteil einer bestimmten Gruppe abhängt.

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auszubauen (Cicero spricht von universorum animi, von homines, von multitudo; letzteres wird allein in off. 2,31 dreimal verwendet).261 Die Zuneigung der Menge als eine wichtige Säule des Ruhmes262 lässt sich, wie Cicero in off. 2,32 ausführt, insbesondere über wohltätiges Verhalten gewinnen.263 Es komme darauf an, mittels Wohltaten bzw., wenn die Mittel nicht zu Gebote stünden, dann doch durch den Willen zur beneficentia in den Ruf zu gelangen, freigebig zu sein (So heißt es in off. 2,32: vehementer autem amor multitudinis commovetur ipsa fama et opinione liberalitatis, beneficentiae, iustitiae…).264 In so eingesetzter beneficentia finden insbesondere zwei Kriterien des suum cuique Anwendung: die Persona-Theorie und das Reziprozitätsprinzip. Zunächst lässt sich sagen, dass Cicero seine Ausführungen für in ihren Anlagen besonders geeignete (zweite persona) Angehörige der Oberschicht (dritte persona) formuliert, die sich für eine politische Laufbahn entschieden haben (vierte persona). In diese Gruppe der Führenden ordnet Cicero sich selbst mit ein, wie sich in den Formulierungen in der ersten Person Plural zeigt. Führungswillige/Führende sind, um ihrer Position bzw. Rolle gerecht zu werden, auf Einfluss sowie Macht und dazu auf die Gefolgschaft der von ihnen zu Führenden angewiesen; diese Gefolgschaft zu erlangen, gehört zu den Verpflichtungen, die ihnen zukommen; so verstandene beneficia werden also an potentielle Gefolgsleute gerichtet.265 Im Sinne des Reziprozitätsprinzips sind Wohltaten stets zu vergelten. Die Vergeltung für Wohltaten Führungswilliger besteht auf Empfängerseite in amor/benevolentia/caritas; dadurch erlangt der Wohltäter Gefolgschaft und kann die seiner Position entsprechende Macht ausüben. Ebenso wie es sich nach Ciceros Darstellung für praestantes viri gebührt, die Gemeinschaft zu führen und aus dieser Position heraus als Wohltäter aufzutreten (vgl. die munera magistratus aus off.

261 Prägnant zusammengefasst bei Long 1995, 229: „The relevance of glory is the great help it gives to the politician in doing his job.“ Ferner Hands 1968, 43. 262 Hierzu Dixon 1993, 457 (s.o. Anm. 72). Insofern als im zweiten Buch, wie wir gesehen haben, zunächst herausgestellt wird, dass die Zuneigung der Menge ein Garant für dauerhafte Herrschaft ist, kann das Erringen dieser Zuneigung tatsächlich als wichtigste Säule für gloria gelten. 263 Die Beantwortung der Frage, wie (angehende) Politiker zu Ruhm kommen können, füllt den Großteil des zweiten Buches De officiis aus (off. 2,31–2,85). Vgl. Dyck 1996, 355 sowie ebd. 32. Außerdem Long 1995 passim. Zur Bedeutung der beneficentia in off. 2 Atkins 2000, 510: „It is so important a means, indeed, that the discussion takes up a third of the book.“ 264 „In hohem Maß aber wird die Zuneigung der Menge gewonnen allein schon durch den Ruf und die Vorstellung, freigebig, wohltätig, gerecht, verlässlich zu sein und all die Tugenden zu besitzen, die zur Freundlichkeit und Umgänglichkeit des Wesens gehören.“ (Übersetzung nach Gunermann 1992) 265 In diesem Sinne verweist Cicero in off. 2,63 darauf, dass bestimmte Leistungen traditionell ab ordine nostro, durch die Senatsaristokratie getätigt würden, weil sie eine bestimmte Stellung sowie finanzielle Ausstattung zur Bedingung hätten. Vgl. Dyck 1996, 355.

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1,124), ist es für die multitudo angemessen, sich führen zu lassen und mit amor/ benevolentia/caritas266 auf empfangene Leistungen zu reagieren.267 Wie sich den untersuchten Passagen entnehmen lässt, in denen die Führenden als moralisch exzellente Männer beschrieben werden, deren Handeln (als Dienst an der res publica, vgl. off. 1,57) das menschliche Miteinander in optimaler Weise organisiert, dient die Machtausübung letztlich der Gemeinschaft. Auf diese Weise sind Wohltaten mit dem Ziel des Machterwerbs zwar strategisch motiviert und bringen dem Handelnden den unmittelbaren Vorteil, auf die Gefolgschaft der Menge rechnen zu können und damit in eine starke Position zu gelangen, werden aber im Verweis darauf, dass die Machtausübung als Dienst an der res publica gilt, indirekt zugleich als gemeinnützig erwiesen.268 Cicero stellt dies nicht explizit heraus, doch der Gedanke, dass die Bereitschaft der Menge, sich führen zu lassen, dieser letztendlich durch möglichst große commoda auch wiederum von Vorteil sein soll, ist stets im Hintergrund mitzudenken.269 In der folgenden Übersicht findet sich die Herleitung der beneficentia der Führungsschicht nochmals zusammengefasst: utile als Thema von off. 2 (off. 2,1; 2,9) Das utile ist am honestum auszurichten und zielt gleichzeitig auf den größtmöglichen Nutzen. Wechselseitige Vorteile (off. 2,15)

Menschliche Kooperation (auf der Grundlage verschiedener Fähigkeiten; zweite persona) gereicht jedem Einzelnen und – implizit, durch die Ausrichtung am honestum – auch der Gemeinschaft zum Nutzen.

Führungsposition (off. 2,17)

Herausragende Männer können das Miteinander so lenken, dass es zum größtmöglichen gemeinsamen Nutzen führt. Dieses Handeln ist gemeinnützig. Guter Umgang mit den Menschen dient dem eigenen Vorteil, weil deren Gefolgschaft die eigene (Führungs-)Position stabilisiert.

266 Diese Zuneigung wird in der Natur verankert: illos, in quibus eas virtutes esse remur, a natura ipsa diligere cogimur (off. 2,32). Begegne man jemandem mit hervorragender Tugendhaftigkeit, steigere sich die Zuneigung zur Bewunderung (off. 2,36f.). 267 Gouldner 1960, 172, spricht in diesem Zusammenhang von homeomorphen (wesensgleichen) und heteromorphen (wesensverschiedenen, aber gleichwertigen) Leistungen. Die Dankbarkeit ist eine heteromorphe Leistung. 268 Atkins 1990, 261, weist ferner darauf hin, dass auch beneficia, die um der gratia willen erwiesen werden, stets im Einklang mit der iustitia stehen müssen und fügt ebd., 262, hinzu: „Again, however, the emphasis of his [sc. Cicero’s] discussion is heaviliy and repeatedly on the good of society.“ 269 Griffin 2013, 45, spricht in diesem Zusammenhang von „indirect reciprocity“.

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Macht als Bedingung des Führens (off. Für den Führungswilligen ist es nützlich, die Gefolgschaft der Menge zu erlangen. 2,19 implicite)270 Weg zur Macht (off. 2,21)

Der beste Weg zur Gefolgschaft ist die Zuneigung der Menge.

Weg zur Zuneigung (off. 2,32)

Die Zuneigung der Menge erwirbt sich der Führungswillige in erster Linie durch Wohltaten.

Vergeltung der Wohltaten (ebd. implicite)

Die Menge vergilt Wohltaten durch Gefolgschaft. 271

Aut opera aut pecunia: Wohltaten der Führungsschicht off. 2,52–2,64 Nach dieser indirekten Herleitung der Gemeinnützigkeit der beneficentia Führungswilliger folgt ab off. 2,52 eine ausführliche Handreichung an die Adresse jener, die sich durch die eigene Begabung sowie ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine politische Karriere entschieden haben.272 Diese Perspektive und Ausrichtung werden im Text immer wieder deutlich. Gemäß der Zuordnung des utile zum honestum in off. 2,9 gelten für Wohltaten der Führungsschicht prinzipiell die Maximen aus off. 1, also die dort erörterten Kriterien des suum cuique. Dazu kommen Nutzenerwägungen, insofern als die Wohltaten, wie wir eben gesehen haben, dazu beitragen sollen, die Position des Wohltäters zu festigen, wodurch jedoch, wie ebenfalls ausgeführt, letztlich dem Gemeinwohl gedient ist. Zunächst unterscheidet Cicero zwei Quellen der beneficentia: Nam aut opera benigne fit indigentibus aut pecunia. Er wägt beide geneinander ab und bevorzugt erstere, wie die folgende Aufstellung zeigt (off. 2,52f.): opera

pecunia

lautior

facilior (locupleti praesertim)

splendidior viro forti claroque dignior

270 Dies sagt Cicero nicht explizit. Indem er aber in off. 2,19 und 2,20 ankündigt, ausführen zu wollen, wie Führungswillige die Sympathien erlangen können, wird implizit deutlich, dass sie, um führen zu können, darauf angewiesen sind. 271 Von Gefolgschaft ist im Text streng genommen nicht die Rede, sondern davon, dass die benevolentia der Menge erlangt werden soll. Das Wohlwollen ist, wie Cicero in off. 2,21 ausführt, jedoch eine stabile Grundlage für die Gefolgschaft. 272 Dixon 1993, 455: „There were numerous distinctions within the ranks of the Rome-based élite which dominates our literary and inscriptional remains, but it seems reasonable to argue that wealth and status were the markers of its special position.“

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Cicero ex virtute

ex arca

quo pluribus profuerint, eo plures ad benigne faciendum adiutores habebunt,

ex re familiari: fontem ipsum benignitatis exhaurit

dein consuetudine beneficentiae paratiores erunt et tamquam exercitatiores ad bene de multis promerendum

Es fällt auf, dass Cicero diejenige beneficentia, die in tatkräftiger Unterstützung besteht, deutlich ausführlicher beschreibt; am Ende stellt er sie als die bessere Art der Hilfeleistung dar, weil sie ehrenhafter und weitreichender sei (off. 2,53). Ausschlag für sein Urteil gibt zum einen die größere Tugendhaftigkeit, die sich in solchen Wohltaten zeige, aber zum anderen auch die Überlegung, dass derartige Leistungen dauerhaft möglich seien und sich an eine große Zahl von Empfängern richten könnten.273 Diese beständige Möglichkeit des Wohltuns ist gerade für einen Führungswilligen/Führenden wichtig, für den, wie wir gesehen haben, Wohltaten zum rollengemäßen Verhalten gehören. Dennoch werden finanzielle Leistungen nicht rundheraus abgelehnt (nec hoc benignitatis genus omnino repudiandum est, off. 2,54) und im Folgenden von Cicero zuerst erörtert. Es komme oft vor, schreibt er, dass man geeigneten Menschen, die der Unterstützung bedürften (idoneis hominibus indigentibus) finanziell aushelfen müsse, dies aber jedenfalls sorgfältig und maßvoll (diligenter atque moderate; ebd.). In dieser Mahnung finden drei Kriterien des suum cuique Anwendung – zunächst das Eigentumsrecht (off. 1,42): hier wie dort wird davor gewarnt, das eigene Erbe aufzubrauchen (Multi enim patrimonia effuderunt, inconsulte largiendo; off. 2,54) bzw. sich, um schenken zu können, an fremdem Gut zu vergreifen (Cum enim dando egere coeperunt, alienis bonis manus afferre coguntur, ebd.). Letzteres rufe den Hass der Bestohlenen hervor (vgl. Verletzung des ius humanae societatis, off. 1,21). Danach wird die Maxime des pro dignitate cuique tribuere angewendet: Mit der Formulierung, man solle idoneis hominibus schenken, ist deren moralische Qualifikation gemeint274 sowie, zusätzlich (und damit wird mit dem Reziprozitätsprinzip ein drittes Kriterium des suum cuique aufgerufen), die Wahrscheinlichkeit, dass sie die empfangene Leistung in erwartbarer Weise vergelten. Im Zuge der Mahnung zur Vorsicht bei finanzieller Unterstützung unterscheidet Cicero in prodigi und liberales (off. 2,55); die Leistungen ersterer (Gelage, Fleischverteilungen, Ausstattung von Gladiatorenspielen u.a.) seien nur für den Moment gedacht

273 Cicero beschreibt eine Art Schneeballprinzip: je mehr Menschen man tatkräftig unterstützt habe, desto mehr Helfer habe man, um weiterhin Gutes zu tun; dazu kommt – gewissermaßen durch die Routine beständigen Wohltuns – eine größere Bereitschaft, sich um andere verdient zu machen. Seine Reserve gegen finanzielle beneficia deutet Atkins 2000, 511, biographisch: „Cicero firmly recommends personal service above financial gifts as a method. The reference to his own case is explicit: born in a relatively obscure family, he won his name and his friends through the talent he used on others’ behalf in the law-courts.“ 274 Dyck 1996, 438.

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(quarum memoriam aut brevem aut nullam omnino sint relicturi, off. 2,55); die Aufwendungen letzterer (Gefangenenfreikauf, Schuldenerstattung für Freunde; Unterstützung bei der Mitgift für deren Töchter etc.)275 blieben den Empfängern hingegen lange im Gedächtnis (fructus liberalitatis multo et maior videtur et certior, off. 2,56). Die Beispiele setzen insgesamt große finanzielle Ressourcen voraus; somit bestätigen sie die Ausgangsüberlegung, dass Cicero die Perspektive der Führungsschicht einnimmt und sich damit befasst, in welcher Weise Führungswillige bzw. Führende ihre Mittel in geeigneter Weise einsetzen. Auch im Ädilenamt (nochmals ein Hinweis zur Perspektive), das, wie Cicero ausführt, seit alter Zeit üblicherweise mit finanziellen Leistungen verbunden sei, deren Ziel darin bestehe, sich beim Volk beliebt zu machen (off. 2,57),276 bevorzugt er Aufwendungen, die den Empfängern lange im Gedächtnis bleiben: Anstelle der häufigen Ausstattung von Spielen bzw. Ausrichtung von Volksspeisungen heißt Cicero v.a. Maßnahmen gut, mit denen dem gemeinsamen Nutzen zweckmäßiger und nachhaltiger gedient sei, wie etwa – hier nennt er das Beispiel des Pompeius – durch die Stiftung von Theatern, Säulenhallen und Tempeln bzw. durch verschiedene Varianten, die Infrastruktur zu verbessern (beispielsweise durch den Bau von Mauern, Werften, Häfen oder Wasserleitungen; off. 2,58–2,60).277 Abschließend bringt Cicero sein grundsätzliches Unbehagen gegenüber largitiones zum Ausdruck: Tota igitur ratio talium largitionum genere vitiosa est, mit dem Zugeständnis, manchmal sei sie dennoch notwendig (off. 2,60).278 275 Amicitia umfasst, wie schon gesagt, viele verschiedene Beziehungen; hier ist – angesichts des Kontextes, der die Frage des Verpflichtetmachens ins Zentrum stellt – gut denkbar, dass es sich um niedriger Stehende handelt, die aus Höflichkeit nicht als clientes bezeichnet werden. 276 Auch hier muss das eigene Handeln wieder am suum cuique orientiert sein: Cicero mahnt eindringlich, die Aufwendungen an den eigenen Möglichkeiten auszurichten (off. 2,58). Cicero selbst rühmt sich in off. 2,59, beinahe ohne Kosten durch die Ädilität gekommen und erfolgreich gewesen zu sein. Seine Karriere ist ihm, so lässt sich die Passage verstehen, auch ohne „Volksverführung“, allein durch sein Charisma gelungen. Wem diese Ausnahmebegabung jedoch fehlt (das dürfte für die meisten gelten), der ist auf Wohltaten als Mittel der Einflussnahme angewiesen. 277 Was für den Augenblick in manum datur, sei iucundius, Einrichtungen, die dauerhaft dem Gemeinwesen zugute kämen, hingegen gratiora (off. 2,60). 278 „Das ganze Verfahren solcher Schenkungen ist im allgemeinen verwerflich…“ (Übersetzung Gunermann 1992) S.o. zur Verwendung von largitio. Nochmalige Bekräftigung findet dieses Unbehagen in off. 2,63, wo Cicero Schenkungen als eigentümlich für assentatores populi bezeichnet, die finanzielle Unterstützung Einzelner hingegen als angemessen gravium hominum atque magnorum (hierzu Dyck 1996, 452). Ein weiterer Grund dafür, bei largitiones vorsichtig zu sein, ist der folgende: Fit … deterior, qui accipit atque ad idem semper expectandum paratior (off. 2,53). Daraus ergibt sich, dass Spenden und Schenkungen an Bedürftige nur im notwendigen Ausnahmefall angezeigt sind, weil Cicero zufolge eine Regelmäßigkeit solcher Maßnahmen dazu führt, dass bei den Leistungsempfängern das Bemühen, aus eigener Kraft für sich zu sorgen, von Trägheit und Antriebslosigkeit überlagert wird und zu anerzogener Unselbständigkeit führt. Griffin 2013, 10 sieht in diesen largitiones die Praxis des Euergetismus beschrieben: „Cicero’s harsh criticism of the euergetism of his days shows how important a role it played in the political competition that finally put an end to the Republic.“

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Danach untersucht er finanzielle Leistungen an Einzelne und empfiehlt wiederum eine sorgfältige Prüfung des konkreten Falles (In illo autem altero genere largiendi, quod a liberalitate proficiscitur, non uno modo in disparibus causis adfecti esse debemus; off. 2,61).279 Zunächst sei die Bedürftigkeit (calamitas) des anderen zu berücksichtigen (s.o., off. 1,49 und off. 1,59) und somit ein Notleidender, wofern er die Not nicht verdient habe (off. 2,62), an erster Stelle zu unterstützen. Die Ausrichtung der eigenen Wohltaten an der Not des anderen war im ersten Buch eines der Kriterien des suum cuique; ein weiteres, nämlich das der dignitas, klingt bereits in der Prüfung mit an, ob der Notleidende sein Schicksal verdient hat oder nicht.280 In off. 2,63 empfiehlt Cicero explizit, eigene Leistungen einem bonus vir zukommen zu lassen und also in dieser Auswahl die moralische Qualifikation des anderen zu beurteilen. Ein drittes zu berücksichtigendes Kriterium ist das der Reziprozität: Man solle seine Wohltaten einem bono viro et grato zukommen lassen und dabei darauf achten, besonders diejenigen mit Wohltaten zu bedenken, deren Dankbarkeit bis in nachfolgende Generationen reicht. Es geht also nicht um gleichwertige Vergeltung, sondern um einen möglichst großen Ertrag des eigenen Gebens. Beim Geben mahnt Cicero wiederum, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu handeln (off. 2,64), jedoch so, ut inliberalitatis avaritiaeque absit suspicio, weil, wie weiter oben anklang, der Verdacht der Habsucht der Karriere abträglich ist (vgl. off. 2,58).281 In den Mahnungen ist stets ein gewisses Kalkül enthalten, das durch die Begriffsverwendung zum Teil noch deutlicher hervorscheint. So sind fructus (off. 2,56) und fructuosum (off. 2,64) Vokabeln, die auch kaufmännisch verwendet werden; ähnliche Formulierungen im ersten Buch De officiis zeigten an, dass Wohltaten stets sorgfältiger Prüfung bedürfen. Hier im zweiten Buch ist diese Prüfung aus der Perspektive des Führungswilligen beziehungsweise Führenden konkret darauf gerichtet, ob das Ziel der beneficentia erreicht wird, das, wie off. 2,32 anzeigte, seiner Position entsprechend darin besteht, durch den Erwerb von Zuneigung zu Macht und Einfluss zu gelangen:282 Langwährende gratia, die sogar noch an die

279 Zu off. 2,61–64 Dyck 1996, 449. 280 Dyck 1996, 450 merkt an, Cicero empfehle die bevorzugte Unterstützung von „victims of desaster“ vor allem vor dem Hintergrund, dass diese sich am dankbarsten zeigen. Der dilectus dignitatis werde kombiniert mit Überlegungen zum utile. 281 In diesem Sinne fordert Cicero zu einer wohlkalkulierten Form der Großzügigkeit auf: Es sei wichtig, in dando munificum esse, in exigendo non acerbum, denn es sei nicht nur liberale, manchmal de suo iure decedere (gemeint ist das Recht auf Vergeltung; in der Bezeichnung ius wird dessen Verbindlichkeit nochmals deutlich), sondern manchmal auch fructuosum (off. 2,64). 282 Ähnlich beispielsweise Ciceros Abwägen seiner eigenen Ausgaben als Ädil gegen den Ertrag an Ehrungen: pro amplitudine honorum … exiguus sumptus (off. 2,59). Sumptus bezeichnet auch im Bereich des Handels Kosten und Aufwand. Vgl. auch off. 2,62, wo Cicero, gestützt auf ein Enniuszitat (bene facta male locata male facta arbitror), zu wohl durchdachter Freigebigkeit mahnt.

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Kinder weitergegeben wird, ist für den Führenden eine willkommene Vergeltungsleistung, die ihm beständige Zuneigung auf Empfängerseite und also Gefolgschaft einbringt. Eine letzte Überlegung zu gut eingesetzten finanziellen Leistungen erstreckt sich auf die Gastfreundschaft:283 Unter hospitalitas versteht Cicero konkret, dass die Häuser illustrer Männer illustren Gästen offenstehen (off. 2,64); es sei gleichsam das Aushängeschild der res publica, dass Fremde in Rom diese Art der Großzügigkeit erlebten. Im Verweis auf homines inlustres als Gastgeber wird einmal mehr deutlich, dass diese Leistungen nur für die Oberschicht infrage kommen bzw. angemessen sind.284 Ein deutlicher Hinweis auf die Ausrichtung an der Führungsschicht ist ferner die Bemerkung, die Gastfreundschaft stelle eine hervorragende Investition eigener Mittel dar (nimirum est pecuniae fructus maximus, ebd.), denn für den, der auf tugendhafte Weise großen Einfluss ausüben wolle, sei es nützlich, per hospites apud externos populos valere opibus et gratia (ebd.). Gastfreundschaft kann zur Entfaltung des rollengemäßen Einflusses beitragen.285 off. 2,65–2,78 Ab off. 2,65 erörtert Cicero Wohltaten, die in tatkräftiger Unterstützung bestehen und unterteilt diese nochmals in solche, die Einzelnen, bzw. andere, die dem gesamten Gemeinwesen zugute kommen. Zuerst geht es um Wohltaten zugunsten von Einzelnen. Dabei zeigt sich wiederum durchweg, dass die Überlegungen aus der Perspektive der Oberschicht an Führungswillige gerichtet werden, denn die Vorschläge für tatkräftigen Einsatz setzen Fähigkeiten voraus, die nur bei entsprechender Bildung, Vernetzung und auctoritas überhaupt denkbar sind. Insbesondere Rechtsbeistandschaft (in iure cavere) ist für Cicero eine Möglichkeit ad opes augendas et ad gratiam (ebd.);286 als verwandt bezeichnet er die Redekunst; die bene-

283 Hierzu Atkins/Griffin 1991, xxiii. 284 Eine andere Möglichkeit der beneficentia gegen Nichtrömer, namentlich die Bundesgenossen, sieht Cicero in einer finanziellen Schonung (off. 3,88). 285 Diese Beschränkung der Gastlichkeit auf die Oberschicht wird, wie wir noch sehen werden, vom Frühchristen Laktanz scharf getadelt (s.u. S. 235f.). 286 Indem der Verteidiger konsequent die Position des Angeklagten in Schutz nehme, erwerbe er sich Prestige und Dank (off. 2,51; 2,65). Weniger gewinnbringend sind für Cicero die Rollen des Anklägers oder Richters. Er mahnt, um des eigenen Rufes willen nicht zu oft als Ankläger aufzutreten, und wenn, dann stets rei publicae causa (off. 2,50). Hier hat die ertragreichere Leistung Vorrang vor der weniger gewinnbringenden. Eloquenz muss für Cicero stets auf Rechtschaffenheit gründen (off. 2,51). Es sei dabei durchaus statthaft, unter Umständen auch einen Schuldigen (nocentem) zu verteidigen, wofern er nur nicht nefarius oder impius sei (off. 2,51). Auf diese Weise könne der Verteidiger im Sinne seines Mandanten auch Wahrscheinliches vertreten, das nicht unbedingt wahr sei (off. 2,51). Als Richter hingegen sei man stets der Wahrheit verpflichtet (off. 2,51): In off. 3,43 schildert Cicero den Fall, dass jemand

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ficia et patrocinia eines eloquenten und einsatzbereiten Mannes hätten weitreichende Wirkung (ebd.). Für diejenigen, die weder im Recht noch in der Beredsamkeit bewandert seien, bleibe die Möglichkeit, den eigenen Einfluss spielen zu lassen (auch dies ein Hinweis auf die Perspektive: solchen Einfluss konnten nicht viele geltend machen), etwa indem man Empfehlungen ausspreche oder Kontakte herstelle (off. 2,68). Wer so handle, erwerbe sich plurimum gratiae (ebd.). In allen Vorschlägen steht wieder der Ertrag der Wohltaten im Vordergrund; dazu findet sich ab off. 2,69 eine bemerkenswerte Überlegung: Dort vergleicht Cicero Wohltaten an Reiche, Mächtige mit solchen an Arme, Rechtschaffene. Die meisten gäben – entgegen ihrer Aussage, auf den Charakter des Empfängers und nicht auf den Besitz zu achten (se in beneficiis collocandis mores hominum, non fortunam sequi, off. 2,69, die Formulierung verweist einmal mehr auf die Wohltat als sorgfältig berechnete Anlage) – doch lieber ersteren in Erwartung einer bereitwilligeren und rascheren Vergeltungsleistung. Cicero tadelt nun nicht das Handlungsmotiv an sich, also das Kalkül beim eigenen Geben (das er ja, wie eben ausgeführt, selbst anwendet; vgl. auch die eben zitierte Wendung in beneficiis collocandis), sondern den Denkfehler:287 Nimirum enim inops ille, si bonus est vir, etiam si referre gratiam non potest, habere certe potest […]. At qui se locupletes, honoratos, beatos putant, ii ne obligari quidem beneficio volunt.288

Der Unwille Reicher, Mächtiger, sich durch die Annahme einer Hilfeleistung einem anderen zu verpflichten, gehe so weit, dass sie sich nach dem Empfang einer Gabe so verhielten, als hätten sie selbst eine Wohltat erwiesen.289 Den Verdacht, clientes zu sein, fürchteten sie wie den Tod.290 Das heißt, anstelle die kurzfristige Unterlegenheit gegenüber dem Wohltäter einzugestehen, auszuhalten und auszugleichen, sind sie bestrebt, ihn ihrerseits in diese Rolle zu drängen.

287 288

289 290

Richter über seinen Freund sein solle. In dieser Situation müsse er die persona amici ablegen und die persona iudicis annehmen. Es stehe ihm lediglich frei, sich die Unschuld seines Freundes zu wünschen (ohne selbst das Urteil beeinflussen zu dürfen), sowie den Zeitpunkt der Verhandlung – im Einklang mit dem Gesetz – für den Freund möglichst günstig zu legen. In dieser Überlegung bestimmt die dritte persona, die durch Umstände und soziale Rollen bestimmt wird, das Handeln und macht einen bedingungslosen Einsatz als Freund für den Freund unmöglich, weil die persona iudicis als Vertreter der politischen Gemeinschaft Vorrang hat vor der persona amici, die zunächst auf eine persönliche Beziehung beschränkt bleibt und den großen Rahmen der res publica nicht zwangsläufig berührt. Dyck 1996, 456: „Cicero/Panaetius undertakes to show that following mores, rather than fortuna, is, in fact, not only more honorable, but even more useful.“ „Denn selbstverständlich kann jener Unbemittelte, wenn er ein gutgesinnter Mann ist, auch wenn er nicht Dank abstatten kann, doch sicherlich Dankbarkeit zeigen […]. Leute aber, die sich für begütert, geehrt und glücklich halten, die wollen sich nicht einmal durch eine Wohltat verpflichten.“ (Übersetzung Gunermann 1992) Vgl. auch Cic. Planc. 73: … cum ceteri vera beneficia etiam minora dissimulent, ne obligati esse videantur… Hellegouarc'h 1972, 54–56; außerdem Dyck 1996, 458.

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Die Annahme der Hilfeleistung entspricht nicht ihrem Selbstverständnis, nach dem sie diejenigen sind, die sich andere verpflichtet machen. Stattdessen sollen sie selbst nun verpflichtet werden. Einem Reichen zu geben, erscheint vor diesem Hintergrund wenig ertragreich; anstelle Hoffnung in dessen großzügige Vergeltungsleistung zu setzen, die nach dieser Argumentation gar nicht zwingend eintreten muss, solle man lieber einen rechtschaffenen Armen (inopem, probum tamen et modestum; off. 2,70) beschenken. Da diesem eine gleichwertige Vergeltungsleistung in der Regel nicht möglich sei, zeige er sich dem wohltätigen vir bonus so erkenntlich, wie er es vermöge: indem er ihm dankbar gegenübertrete, sich lobend über dessen Hilfsbereitschaft verbreite und damit dessen Ansehen mehre (gratiam referre vs. habere). Selbst für den Fall, dass der Begüterte (opulentus fortunatusque, off. 2,70) sich dankbar zeige, erstrecke sich diese Dankbarkeit doch nur auf ihn oder höchstens noch seine Kinder. Ganz anders sei die Dankbarkeit des Mittellosen geartet: Zum einen richte sie sich nicht nur auf den Wohltäter selbst, sondern auf alle, die ihm potentiell helfen könnten (Cicero begründet: eget enim multis, off. 2,70), zum anderen fühle nicht nur er sich beschenkt, sondern, als Litotes formuliert, omnes non improbi humiles mit ihm. Das heißt, dem Wohltäter sowie anderen in einer ähnlichen Position schlägt durch eine einzelne Leistung die Dankbarkeit vieler entgegen; geringer Aufwand ergibt großen Nutzen. So folgert Cicero in off. 2,71 (in Wiederaufnahme des beneficium collocare aus off. 2,69): Quam ob rem melius apud bonos quam apud fortunatos beneficium collocari puto.291 Es sei nicht nur ehrenhafter, auf die mores des Empfängers anstelle seines Vermögens zu schauen, sondern auch ertragreicher; man solle daher (auch vor dem Hintergrund dieser Überlegung!) stets darauf sehen, wie geartet und nicht wie reich jemand sei (off. 2,71).292 Danach kündigt Cicero an, über Wohltaten zu sprechen, quae ad universos quaeque ad rem publicam pertinent (off. 2,72). Diese seien nun entweder so geartet, dass sie entweder tatsächlich allen gleichermaßen zugute kämen, oder aber so, dass Einzelne gleichsam stellvertretend unterstützt würden; letztere seien zu bevorzugen, denn: sunt etiam gratiora, off. 2,72), weil sie – wie oben ausgeführt – nicht nur den Dank der unmittelbaren Empfänger, sondern den einer ganzen Gruppe zur Folge hätten. Sodann mahnt Cicero, dass beide Arten von Leistungen wichtig seien, jene an Einzelne dabei aber so gestaltet werden müssten, ut ea res aut prosit aut certe ne obsit rei publicae (ebd.; vgl. off. 3,27: omnium utilitas muss zugleich communis utilitas sein; hier abgeschwächt: omnium utilitas darf der communis utilitas zumindest nicht widersprechen). Anschließend setzt sich Cicero ausführlich mit beneficia ad universos auseinander, wobei er erneut seine Vorbehalte gegen largitiones zum Ausdruck bringt, die nach seiner Darstellung häufig das gemeinschaftliche Gleichgewicht erschüttern. Cicero sieht es als Pflicht des 291 „Deshalb, so meine ich, wird bei gutgesinnten besser als bei vom Glück gesegneten Leuten eine Wohltat angelegt.“ (Übersetzung Gunermann 1992) 292 Der Reichtum eines potentiellen Empfängers dürfe jedoch auch keinen Hinderungsgrund dafür darstellen, ihn mit Wohltaten zu bedenken (off. 2, 71).

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Staatsmannes, darauf zu sehen, ut suum quisque teneat und keine Umverteilungen de bonis privatorum (off. 2,73) zu befürchten sind.293 Hier erscheint explizit die Formulierung des suum cuique, und zwar wie in off. 1,21 im Bezug auf das Eigentumsrecht. Überhaupt ist die Wortwahl ähnlich; auch hier ist die Rede vom Privatbesitz, der nicht angetastet werden dürfe, denn – eine weitere Parallele – jeder Versuch der Umverteilung mit dem Ziel der aequatio bonorum sei unheilbringend (qua peste quae potest esse maior, ebd.; vgl. violabit ius humanae societatis, off. 1,21). Cicero verweist darauf, dass res publicae civitatesque vor allem deswegen gegründet worden seien, ut sua tenerentur (ebd.).294 Jedem solle das ihm Gemäße zugeteilt werden. Wie wir gesehen haben, umfasst das suum cuique auch eine gewisse Minimalverantwortung für den Mitmenschen als solchen (vgl. off. 1,51). In diesem Sinne sind maßvolle Getreidespenden an Bedürftige zu befürworten, weitreichende largitiones bzw. leges agrariae jedoch abzulehnen, weil sie auf eine Umverteilung des Bestehenden, auf in Ciceros Augen Verderben bringende Gleichmacherei abzielen und damit als Verstoß gegen das Gebot des suum cuique zu verstehen sind, als Angriff auf das Fundament der res publica, auf Eintracht und Gerechtigkeit (off. 2,78).295 Eine solche Umverteilung bezeichnet Cicero als unredlich und ungerecht (off. 2,79); anhand griechischer Beispiele (Lysander, König Agis) beschreibt er, wie hoc iniuriae genus zu Tyrannei führe, und nicht nur das eigene Staatswesen schwäche (praeclarissime constituta res publica dilaberetur: off. 2,80), sondern größere Kreise mit dem eigenen Übel anstecke (evertere/contagio/latius manare: off. 2,81). Als positives Gegenbeispiel präsentiert Cicero Arat von Sikyon, der seine Heimatstadt vom Tyrannen Nicocles befreit, 600 Verbannte zurückgeholt und wieder in der Gemeinde integriert habe, ohne an bestehenden Verhältnissen etwas zu ändern. Weder habe er diejenigen enteignet, welche die Ländereien der Verbannten in Besitz genommen hatten, noch die Rückkehrer um ihre Rechte betrogen. Dies sei ihm 293 Zu den Pflichten des Staatsmannes gehört das Bemühen, nach Möglichkeit Steuern zu vermeiden (off. 2,74). Hier findet sich der seltene Fall, dass im Verweis auf die maiores fehlerhaftes Handeln beschrieben wird (Danda etiam opera est, ne, quod apud maiores nostros saepe fiebat...). 294 Mit Wood 1991, 132 sehe ich hier keinen Widerspruch zur natürlichen Fundierung der Gemeinschaft in off. 1,12: Nach Wood sind Staaten für Cicero natürlich, insofern als sie aus angeborener Geselligkeit heraus entstehen und natürliche Bedürfnisse des Menschen erfüllen. Der Wunsch, eigenen Besitz zu haben, gehöre für Cicero zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Diesen Besitz zu wahren, sei nun Aufgabe des Staates. „Cicero, consequently, is the first important social and political thinker to affirm unequivocally that the basic purpose of the state is the protection of private property. Thereby he is the first, with some qualification, to offer a nonethical conception of the chief end of the state. Unlike Plato and Aristotle, he does not conceive of the state fundamentally in moral terms, that is, as a means of shaping human souls, of creating men of virtue.“ 295 Bleicken 1973, 271 merkt an, dass die römische Nobilität grundsätzlich ungern Reformen vornahm; im Lateinischen fehle ja schon der Begriff dafür. Fürsorge sei im patronalen Rahmen erfolgt und kein Gegenstand der Politik auf einer das Gemeinwesen betreffenden Ebene gewesen.

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dank einer großzügigen Geldspende von Ptolemaios Philadelphos gelungen, die er unter den Rückkehrern aufteilen konnte.296 Ganz anders beurteilt Cicero die gracchischen Reformen, wo die Leistungen an Bedürftige zu Lasten Dritter, nämlich der Vermögenden, gegangen seien; schon im ersten Buch De officiis merkt er an, dass P. Scipio Nasica dem Gemeinwesen einen Dienst erwiesen habe, indem er Ti. Gracchus beseitigte (off. 1,76).297 Historische Situation und Handlungsmotivation des Tiberius Gracchus sollen an dieser Stelle nicht erörtert werden; es genügt, auf den Hauptgrund für Ciceros Ablehnung der Agrargesetze hinzuweisen: Im Zentrum der Reform stand eine ausgewogenere Verteilung des ager publicus, dessen Okkupation nach dem Gewohnheitsrecht an sich jedem römischen Bürger zustand.298 Die von Ti. Gracchus kritisierte Praxis zeigte hingegen, dass eine Minderheit von Senatoren sich der Mehrheit des ager publicus bemächtigte und damit der breiten Masse der Römer die Möglichkeit nahm, in derselben Weise vom Staatsland zu profitieren. Das heißt, in der Regel waren es Angehörige des Senatorenstandes, die, weil ihnen das Handelsgeschäft untersagt war, ihren ager privatus durch große Areale des ager publicus occupatorius erweiterten und im Landbau eine einträgliche Einkommensquelle sahen.299 Mit der Überlegung, diese Expansion zu beschränken, argumentiert Tiberius Gracchus letztlich mit der Maxime des suum

296 Ob Ciceros lobende Darstellung der historischen Wirklichkeit gerecht wird, ist an dieser Stelle nicht entscheidend. Hier geht es darum, dass Cicero sich das Handeln des idealen Staatsmannes genau so vorstellt, wie er es am Beispiel Arats beschreibt: Ein Staatsmann hat die Aufgabe, rechtmäßige Ansprüche durch entsprechende Leistungen zu erfüllen, ohne dabei auf unrechtmäßige Weise Außenstehenden etwas zu entziehen – der Grundsatz des suum cuique, die oberste Pflicht des Staates, bleibt gewahrt. 297 Ähnlich off. 2,43, wo Cicero folgendermaßen über die Gracchen urteilt: … nec vivi probabantur bonis et mortui numerum optinent iure caesorum. 298 In der jüngeren Forschung geht man davon aus, dass in den gracchischen Reformen in erster Linie Machtkämpfe innerhalb des Senates ausgetragen wurden. Bleicken 1988, 265–293 setzt sich ausführlich mit den leges Semproniae des Tiberius Gracchus auseinander. Er beschreibt ihn als einen ehrgeizigen jungen Vertreter der Nobilität, der in seinem Tribunatsjahr (133 v. Chr.) mit einem radikalen Eintreten für das Agrargesetz das Scheitern seiner Quästur wettmachen wollte. Das Agrarproblem habe für ihn ein Thema dargestellt, das seiner Karriere dienen sollte; die Sorge um die Not der Bauern habe als Handlungsmotiv nicht im Vordergrund gestanden (275). Die eigentliche Dynamik der Reform sei v.a. im persönlichen Bereich anzusiedeln (291). Die These von Tiberius Gracchus als idealistischem Sozialrevolutionär, dem das Wohl der armen Bauern und besitzlosen Römer am Herzen lag, ist prominent u.a. von Meier 1966, 129 vertreten worden. Welche Motive bei den Reformplänen des Tiberius Gracchus den Ausschlag gaben, ist für Ciceros Argumentation nicht von Belang. 299 „Nach römischen Gewohnheitsrecht durften alle Bürger das Staatsland zu persönlichen Zwecken besetzen (okkupieren) und nutzen, doch waren es naturgemäß die Reichen und Vornehmen, die in der Lage waren, diese Möglichkeit auch zu verwirklichen,“ schreibt Bleicken 2004, 61. Ebd. 62 heißt es:. „Unter dem wachsenden Großgrundbesitz litt die Masse der Bauern sowohl deswegen, weil sie an der Nutzung des ager publicus unverhältnismäßig schwach beteiligt war, als auch durch die Aggressivität der ökonomischen Expansion.“ Bleicken führt

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cuique, in der Überzeugung, dass jeder gleichermaßen von bestehendem Recht Gebrauch machen dürfe. Dagegen steht das Urteil Ciceros, ebenfalls gestützt auf das suum cuique, aber formuliert aus der Perspektive derer, die große Latifundien auf dem ager publicus hatten und durch eine Reform Teile ihres Besitzes hätten abgeben müssen. Obwohl, wie oben gesehen, von Natur aus kein Privateigentum existiere, ergebe sich dieses aufgrund weit zurückliegender Inbesitznahme: Quam autem habet aequitatem, ut agrum multis annis aut etiam saeculis ante possessum qui nullum habuit habeat, qui autem habuit amittat (off. 2,79; vgl. off. 1,21)?300

Cicero beruft sich damit auf das Gewohnheitsrecht. In diesem Sinne merkt Bringmann an: „Das Agrargesetz lief auf eine partielle Beseitigung von Besitzverhältnissen heraus […], die bis dahin geschützt, zumindest aber geduldet worden waren. Und wer wollte bestreiten, daß es angesichts der bestehenden Lage höchst bedenklich erscheinen mußte, einem objektiven Gewohnheitszustand mit dem formalen Eigentumsrecht des Staates beikommen zu wollen.“301

Das heißt, für Cicero ist die Frage der formalen Eigentumsverhältnisse nicht von Belang; für ihn ist das Agrargesetz insofern ein Angriff auf das suum cuique, als darin die Umverteilung gefühlten Eigentums verfügt wurde;302 eine Umverteilung so gewachsener Verhältnisse stellt für ihn einen Angriff auf die Eintracht innerhalb der Gemeinschaft dar (Cic. off. 2,78; vgl. auch Sest. 103).303 Cicero argumentiert wiederum aus dem Blickwinkel der Führungsschicht, vom Standpunkt derer, die

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weiter aus, dass die Anzahl der Abhängigen unter ihnen steil angestiegen sei und eine wachsende Zahl an Landlosen sich Hilfe von der Regierung erhofft habe. Erste Reformvorschläge gab es bereits Mitte des zweiten Jahrhunderts, als C. Laelius während seines Konsulatsjahres einen Gesetzesentwurf zur Beschränkung des ager publicus occupatorius auf 500 Joch einbrachte, mit diesem Plan auf heftigen Widerstand im Senat traf und ihn daraufhin zurückzog. Im Jahr 133 bekleidete Tiberius Gracchus das Amt des Volkstribunen und griff die Reformpläne auf, erweiterte die Beschränkung auf 500 Joch um dieselbe Größe für zwei Söhne, sodass einzelne Familien insgesamt maximal 1000 Joch in Besitz nehmen durften. Der frei werdende ager publicus sollte an Landlose verteilt werden, in Parzellen zu je 30 Joch (Bleicken ebd., 63; Molthagen 1973, 423–426). „Wie aber ist es mit der Gerechtigkeit vereinbar, daß ein viele Jahre oder sogar Generationen vorher in Besitz genommenes Grundstück einer hat, der keines hatte, wer es aber hatte, verliert?“ (Übersetzung Gunermann 1992) Bringmann 1985, 15. Der Entwurf des Tiberius Gracchus traf wiederum auf heftige Opposition im Senat und beim Volkstribunen C. Octavius; Tiberius Gracchus brachte sein Gesetz jedoch gegen alle Widerstände durch. Wie Bleicken 2004, 63, hervorhebt, nahm er „dabei niemandem […] ein Stück Eigentum weg, mochten auch viele Nobiles das von ihnen okkupierte Land schon als etwas ihnen Gehöriges angesehen haben.“ Gotter 1996a, 111, verweist auf Ciceros Erfahrungen im Konsulat, die ihn die Eintrachtsidee hätten erleben und sich selbst als „Vorkämpfer gegen das Staatsfeindliche schlechthin“ wahrnehmen lassen. Ferner Long 1995, 214, der Cicero als Verfechter der concordia ordinum beschreibt.

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etwas zu verlieren haben. Dies zeigt in off. 2,83f. die Sprecherperspektive, wo diejenigen, die fremdes Land erhalten sollen, zuerst in der dritten Person Plural genannt, dann in der zweiten Person Singular mit „Du“ angesprochen werden, der ein „Ich“ gegenübersteht, welches hohe Kosten hatte, um den Besitz, der ihm nun genommen werden soll, instand zu halten. Cicero erweist die Urheber großer Umverteilungen nur als vermeintliche Volksfreunde, die realiter das gemeinschaftliche Gleichgewicht erschüttern, das für ihn auf einer Wahrung des suum cuique basiert.304 Durch diese Verstöße gegen das Eigentumsrecht müsse auch die durch largitiones erstrebte gratia ausbleiben, denn während diejenigen, die sich um ihren Besitz betrogen sähen, ohnehin mit Unmut und Feindschaft reagierten, würde auf Seiten derer, die etwas erhalten haben, offensichtliche Freude vermieden, um einerseits die eigene Bedürftigkeit zu verschleiern und andererseits – so steht zu vermuten – dem Schmerz der Beraubten nicht noch zusätzlich Nahrung zu geben.305 Ciceros und ebenso Ti. Gracchus’ Rekurs auf das suum cuique sind unmittelbar gekoppelt an Überlegungen zur communis utilitas. Gracchische und ciceronische Gemeinwohlsemantik widersprechen einander; letztere wird bestimmt vom Gedanken, dass allein eine Wahrung bestehender Verhältnisse der gesamtgesellschaftlichen concordia dient. Abschließend sollen nun Ciceros Überlegungen zur beneficentia der Führungsschicht in einer Übersicht zusammengefasst werden, insbesondere um zu veranschaulichen, in welcher Weise die Kriterien des suum cuique Anwendung finden. Eigentum

Tatkräftige Unterstützung ist besser als finanzielle, weil sie die eigenen Ressourcen nicht aufbraucht (off. 2,52) Der Führungswillige darf beim Erweisen von Wohltaten nicht das eigene Erbe aufbrauchen und sich nicht an fremdem Eigentum vergreifen (off. 2,54). Umverteilungen von Eigentum gefährden die Eintracht (off. 2,73; 2,79).

304 Qui vero se populares volunt […] labefactant fundamenta rei publicae, concordiam primum, quae esse non potest, cum aliis adimuntur, aliis condonantur pecuniae, deinde aequitatem, quae tollitur omnis, si habere suum cuique non licet. Id enim est proprium, ut supra dixi, civitatis atque urbis, ut sit libera et non sollicita suae rei cuiusque custodia (off. 2,78). Hierzu Cic. Sest. 96f. Eigentlich seien alle, die im Sinne der Gemeinschaft arbeiteten, als optimates zu bezeichnen, der Gegensatz popular-optimatisch wird damit, wenn nicht aufgehoben, so doch verwässert. 305 Diesen in Ciceros Augen gefährlichen Verhaltensweisen wird in off. 2,85 das Vorbild der maiores entegegengestellt, deren gemeinnütziges Handeln ebenfalls zur Nachahmung anhalten soll: haec magnorum hominum sunt, haec apud maiores nostros factitata, haec genera officiorum qui persequuntur cum summa utilitate rei publicae magnam ipsi adipiscentur et gratiam et gloriam. Hierzu Lefèvre 2001, 125: „Hier sind die Vorfahren zur Meßlatte für das eigene Handeln erhoben, hier ist der Nutzen des Staats mit dem Nutzen des Staatsmanns gekoppelt, hier ist der Begriff der officia über weite Strecken hin, wenn nicht überhaupt, eindeutig politisch definiert.“

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moralische Qualifikation

Der Führungswillige soll seine Wohltaten an rechtschaffene Empfänger richten (off. 2,54; 2,62f.).

Schuld306

Der Führungswillige soll denen Wohltaten erweisen, mit deren Vergeltungsleistung er rechnen kann (Dankbarkeit: off. 2,54; 2,63)

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Der Ertrag eigener Leistungen ist wichtig (off. 2,56; 2,64; 2,68; 2,69–2,71). Bedürftigkeit

Die Not des potentiellen Empfänges ist zu berücksichtigen (off. 2,62)

personae

Der Verdacht der Habsucht schadet der Karriere (off. 2,64). Der eigene Einsatz richtet sich nach Begabungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten (off. 2,65–2,68).

Unversehrtheit

Leistungen an Einzelne sind stets so zu gestalten, dass sie der res publica nicht schaden (off. 2,72).

Die Kriterien der Nähe und Zuneigung tauchen nur am Rande auf, in Beispielen, in denen etwa von finanzieller bzw. juristischer Unterstützung von Freunden die Rede ist. Im Zusammenhang mit der in off. 2 ausgeführten politisch motivierten beneficentia spielen diese beiden Kriterien jedoch keine maßgebliche Rolle;307 als potentielle Empfänger der eigenen Wohltaten wurden zu Beginn des zweiten Buches multitudo bzw. universi (off. 2,31) herausgestellt – die cives, deren Gefolgschaft der Führungswillige erringen will. Suum cuique tribuere: Schuld als Bindemittel In den behandelten Passagen zeigt sich, dass Wohltaten für Cicero eine gemeinschaftsstiftende und -stabilisierende Funktion haben, insofern als sie dazu beitragen, dass Gemeinschaft überhaupt entstehen kann (esse, off. 1,12), gestärkt (devincire, off. 1,22), bewahrt (servare, off. 1,50) und zum Nutzen aller bestmöglich geführt wird (leider nicht in einem prägnanten Verb fassbar). An dieser Stelle sollen nun die bisher gewonnenen Erkenntnisse systematisch für eine Beschreibung der Beziehungsformen fruchtbar gemacht werden, welche bei Cicero durch Wohltaten gestiftet werden. Dies dient dem Ziel, nach der Behandlung der Frage, in welcher Weise beneficentia Cicero als gemeinnützig gilt, nun die bereits vorliegenden Hinweise über das Wesen der Gemeinschaft bündeln zu können, die nach Ciceros Darstellung damit zustandekommt bzw. gestärkt wird. Von Cicero selbst wird die Frage der Beziehungsformen im Rahmen der Auseinandersetzung mit der

306 In diesem Zusammenhang geht es bei der Schuld darum, sich andere zum Schuldner zu machen und deren erwünschte (heteromorphe – nach Gouldner) Vergeltungsleistung, nämlich Dankbarkeit (möglichst langdauernd bzw. „publikumswirksam“), zu bewirken. 307 Hierzu Atkins 1990, 261, die aufgrund derselben Beobachtung vermutet, dass diese beiden Kriterien „perhaps less relevant to the theme of acquiring new gratia“ gewesen seien.

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beneficentia nicht explizit thematisiert. Gleichwohl ist es möglich, mithilfe gabesowie kommunikationstheoretischer Ansätze seiner Erörterung eine Reihe von Aussagen hierüber zu entnehmen, wobei jedoch zu beachten ist, dass die in der Darstellung suggerierte Systematik bei Cicero nicht in derselben Weise angelegt ist. Im ersten Buch De officiis wird, wie wir gesehen haben, zunächst grundlegend erwiesen, dass Gemeinschaft dem Menschen naturgemäß, erstrebenswert und, wie die Telos-Formel in off. 1,22 anzeigt, v.a. mittels wechselseitiger Wohltaten zu festigen ist (vgl. die entsprechenden Vokabeln in der Passage, die anzeigen, dass Geben und Nehmen aufeinander zu beziehen sind). In dieser Herleitung schwingt das Verständnis von communitas als einem Mit-Leisten mit, wonach Gemeinschaft zu sehen ist als „die Gesamtheit von Personen, die […] durch eine Pflicht oder durch eine Schuld vereint sind“.308 Die Schuld verbindet die Mitglieder der communitas beständig miteinander; sie ist das Bindemittel des Zusammenlebens und einer jeden Beziehung inhärent. Die Kriterien des suum cuique geben alle in gewisser Weise Auskunft über die Schuld des Einzelnen innerhalb der communitas: Die Frage, was einem anderen aufgrund von Parametern zusteht, welche anhand eines Blickes auf den Wohltäter, den Empfänger und deren Beziehung zu bestimmen sind, bezeichnet zugleich dasjenige, was der potentielle Wohltäter dem anderen aufgrund dieser zu definierenden Parameter schuldet. Je höher einzelne Parameter sind bzw. je mehr Parameter zusammenkommen, desto mehr gebührt einem anderen bzw. wird ihm geschuldet. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb für Cicero die in off. 1,52 ausgeführte vulgaris liberalitas gegen Fremde nicht im Zentrum des Interesses steht. Das eigene Handeln gründet in einer Minimalverantwortung (oder -schuld), die man jedem anderen gegenüber trägt. Diese Minimalschuld innerhalb der omnium inter omnes societas ergibt sich lediglich dadurch, dass beide, der Gebende wie der Nehmende, Menschen sind und aufgrund der natürlich angelegten Anteilnahme am anderen (erste persona) nicht gleichgültig bleiben gegenüber fremder Bedürftigkeit.309 Die Gemeinschaft mit Fremden bleibt zumeist auf einzelne Begegnungen beschränkt, wobei in der Regel keine Vergeltungsleistung vom Gegenüber zu erwarten ist. Insofern als jeder im Rahmen der omnium inter omnes societas potentiell zum Gebenden und zum Empfänger von communia werden kann, ergibt sich zwar eine grundsätzliche Wechselseitigkeit und also Ausgeglichenheit im Sinne des dare/accipere aus off. 1,22 (A gibt B, B gibt C, C gibt D, D gibt X, X gibt A), nicht jedoch ein verbindlich beziehungsstiftender bzw. -stabilisierender Austausch

308 Esposito 2004, 15. Hénaff 2014, 119 verweist beim Gedanken der Schuld als Motor von Zusammenhalt auf Rabelais’ Parodie im dritten Buch von Gargantua und Pantagruel, wo die Sterne um ihrer Einheit willen als voneinander abhängig dargestellt sind. In off. 1,29 ist von con-ferre die Rede; ebenso wie bei com-munitas zeigt das Präfix cum- an, dass Gruppen durch die Beiträge aller funktionieren. S. o. Anm. 23. 309 Atkins 1990, 277, verweist darauf, dass „the sharing of ratio and oratio are to lead to the minimal duties“.

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zwischen Wohltäter und Empfänger (entweder: A gibt B, B zeigt sich A erkenntlich, oder: A gibt B/C/D/X, B/C/D/X zeigen sich A erkenntlich), auf den es Cicero ankommt. Dies geht, wie beschrieben, einerseits aus dem Verweis hervor, dass die eigenen Leistungen gegen Fremde für den Gebenden sine detrimento (off. 1,51) bzw. danti non molesta (off. 1,52) sein sollen, um verbindlicheren Einsatz für diejenigen möglich zu machen, für die er angezeigt ist (in nostros simus liberales, ebd.), wird andererseits aber bereits in off. 1,48 deutlich, wo das Bestreben, neue – ertragreiche – Beziehungen einzugehen, mit der Mahnung gebremst wird, dass die Pflicht, eigene Schuld abzutragen, stets an erster Stelle stehe.310 Dieser Verweis auf den Ertrag (quos speramus nobis profuturos esse, off. 1,48) verweist auf die Berechnung eigenen Vorteils in der Beziehungsstiftung, der in der geistig vorweggenommenen Vergeltungsleistung des anderen aufscheint. Diese neuen Beziehungen dürfen jedoch für Cicero erst dann gestiftet werden, wenn innerhalb von bestehenden Verbindungen keine Schuld mehr übrig ist. Dieses Freisein von Schuld hebt den Einzelnen zugleich aus einer – wenn auch momentanen – Inferiorität in eine Gleichstellung oder, insofern als die Vergeltungsleistung die selbst empfangene Wohltat häufig übertrifft, in eine Superiorität.311 Gleiches geschieht, sobald neue Beziehungen geknüpft werden, wenn durch die eigene Wohltat gleichsam in Vorleistung gegangen und also der andere zum Schuldner gemacht wird. Auch dort gelangt der Wohltäter zumindest zeitweise in eine überlegene Position. Das Bestreben nach Gleich- oder besser noch Höherstellung durch die eigenen Wohltaten ist zentral in Ciceros Auffassung der beneficentia. Es lässt sich sagen, dass Cicero daran gelegen ist, im eigenen Handeln nicht nur Schuld abzutragen und also einen Ausgleich zu schaffen, sondern den anderen mittels Wohltaten seinerseits zum Schuldner zu machen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Verbindlichkeiten, die durch Verwandtschaft vorgegeben sind, und denjenigen, die durch eigene Auswahl herbeigeführt

310 Es handelt sich dabei nicht um Gaben im mauss’schen Sinne, die dadurch charakterisiert werden, „dass sich der Geber zugleich mit seiner Sache selbst gegeben hat, die nunmehr von ihm affiziert und durchdrungen wird“, und die obligatorisch erwidert werden müssen (Därmann 2010, 21; 24), denn Leistungen gegen Fremde sind in aller Regel auf eine einzelne Situation beschränkt. Vgl. hierzu Sen. benef. 4,29 (Anm. 530). 311 Eine Gabe stiftet stets Asymmetrie; eine nicht beglichene Schuld bedeutet stets die, wenn auch momentane, Inferiorität des Schuldners (Därmann 2010, 25f.). Indem die Vergeltungsleistung das selbst Empfangene etwas übertrifft, wird kein Ausgleich hergestellt, sondern wiederum Asymmetrie. Hierzu auch Picone 2012, XXV, der in ähnlicher Weise darauf hinweist, dass „la relazione benefica si articola piuttosto nell’ambito di una struttura asimmetrica“. Der Vergeltende ist, um Watzlawick et al. 1980, 104 (dort wiederum im Verweis auf Orwell), zu zitieren, „ein bißchen gleicher“ als der vorherige Wohltäter. Dieses Bestreben des wechselseitigen Übertreffens birgt in sich die Tendenz zur symmetrischen Eskalation (ebd. 103f.; man denke hier an das Bild der fruchtbaren Felder aus off. 1,48).

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werden sollen. Im ersten Fall dienen beneficia (bzw., insofern als es sich um rollenkonforme Verpflichtungen handelt: officia)312 der Bestätigung vorgegebener Beziehungen, die traditionell durch bestimmte Erwartungen charakterisiert sind. Auf diese Weise muss das eigene Handeln sich in gewissen Bahnen bewegen, die durch die Umstände vorgegeben sind. Cicero verweist etwa auf das Angewiesensein von Familienmitgliedern (domus, quae spectat in nos solos, off. 1,58) und, damit verbunden, auf die Pflicht, necessaria praesidia vitae (ebd.) bereitzustellen. Der Wohltäter ist in der überlegenen Position, insofern als er über die Mittel verfügt, der Bedürftigkeit der anderen abzuhelfen; die von ihm Unterstützten sind von ihm abhängig. Anders beschreibt Cicero Nahbeziehungen, die als Tugendfreundschaft oder als Nutzenverbindung (Nutzenfreundschaft) auf eigener Auswahl beruhen (off. 1,55f.). Im Fall der Tugendfreundschaft ist Zuneigung (aufgrund von Wesensähnlichkeit) deren vorgängiges Konstituens; Wohltaten dienen der Bestätigung dieser gefühlten Nähe. In Nutzenverbindungen bilden Wohltaten zugleich deren Existenzgrundlage; mit Wohltaten wird keine in anderer Weise angedeutete Beziehung verhandelt, bestätigt oder gestärkt, sondern sie bilden den Daseinsgrund der Verbindung. Wiewohl die amici in De officiis mehrfach – auch überraschend – als Empfänger eigener Wohltaten angeführt werden, nehmen tatsächlich gleichberechtigte Beziehungen wie die in off. 1,55f. herausgestellten im Werk insgesamt wenig Raum ein; teilweise lässt sich auch vermuten, dass die als amici bezeichneten Adressaten eigener Wohltaten eigentlich nicht gleichgestellt sind, sondern durch die Annahme der Leistung in eine untergeordnete Position gelangen, die damit wiederum eine Superiorität des Wohltäters zur Folge hat (etwa off. 1,42; ähnlich off. 2,55).313 Unabhängig davon aber, ob es sich um gleichberechtigte oder hierarchische Verhältnisse handelt, ist in diesen selbstgewählten Verbindungen der eigene Handlungsspielraum größer; hier wird – anders als in umständehalber vorgegebenen Verhältnissen – die Beziehung zum anderen mittels Wohltaten tatsächlich verhandelt, indem sich durch die Art und Weise der Leistung/Vergeltung Aussagen über die Positionierung der Partner zueinander möglich ergeben.314 Ciceros Konzentration auf die Frage der Schuld als Anlass eigener Wohltaten (womit also das Bestreben verbunden ist, diese auszugleichen) erstreckt sich auch auf seine Erklärung, weshalb der Einzelne sich am verbindlichsten v.a. für patria et parentes einsetzen solle (off. 1,57): Wie oben gesehen, bringt er das Nähekriterium und das Reziprozitätsprinzip in Anschlag, wenn er den größtmöglichen Einsatz für diese beiden Bezugsgrößen mit der Schuld kombiniert, die der Einzelne ihnen

312 S.o. in der Einleitung, wo referiert wurde, dass dem Begriff des officium, der oftmals deckungsgleich mit beneficium für das griechische kathekon steht, mitunter eine größere Verbindlichkeit zugeschrieben wird. 313 Vgl. hierzu Picone 2012, XXV–XVII (Stichwort gratia). Ferner Atkins/Griffin 1991, xxiiif, wo die Meinung vertreten wird, dass Cicero „is concerned with his peers.“ 314 Beziehungen können, wie in der Einleitung ausgeführt, symmetrisch oder komplementär sein. In einer hierarchischen Beziehungen ist der Überlegene in der superioren Position, der sich Unterordnende in der inferioren (Watzlawick et al. 1980, 69).

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gegenüber abzutragen hat. Wie angemerkt, bestehen die Wohltaten von patria et parentes in Fürsorgeleistungen (vgl. dazu off. 2,73 und 2,78). Insofern als diese Fürsorge dem Einzelnen bereits im Kindesalter zugute kommt, wenn er sich also noch nicht erkenntlich zeigen kann, haben beide Bezugsgrößen gleichsam Vorsprung im Wohltun. Diese nicht ausgeglichene Inferiorität ist es letztlich, die auch das Handeln der Führungsschicht antreibt:315 Wie in der Persona-Theorie ausgeführt, ergeben sich aus den in Anlagen (zweite persona), Umständen (dritte persona) und Wahl (vierte persona) begründeten Unterschieden in Anlagen, Möglichkeiten und Lebenswegen zugleich verschiedene Varianten und Verpflichtungen, sich wohltätig zu zeigen. In De officiis, insbesondere im zweiten Buch, argumentiert Cicero aus der Perspektive derjenigen, die sich durch hervorragende Tugendhaftigkeit und Begabung, äußere Umstände und eigene Entscheidung für eine Führungsposition qualifiziert haben. Das Führen der Gemeinschaft wird als gemeinnützig herausgestellt, insofern als es zum Ziel hat, die studia hominum zum größtmöglichen gemeinsamen Nutzen zu bündeln und zu lenken (off. 2,17). Wie oben beschrieben, wird das Führen erst durch die Gefolgschaft der zu Führenden möglich, die u.a. auch mittels Wohltaten erreicht werden kann, insofern als diese deren Wohlwollen und Zuneigung bewirken (off. 2,32). In diesem Zusammenhang dient die angestrebte Superiorität dem Erlangen von politischer Gefolgschaft und damit der Ermöglichung bzw. Festigung der eigenen Führungsposition. Als Empfänger dieser Wohltaten wird mehrfach die Menge genannt (multitudo, universi, ebd.); dabei können (stellvertretend) Einzelne oder tatsächlich alle die Nutznießer einer Wohltat sein (off. 2,65). Durchweg werden durch Wohltaten der Führungswilligen Beziehungen gestiftet, die einen finanziellen Aufwand nötig machen bzw. bestimmte Fähigkeiten voraussetzen, die nur von wenigen erfüllt und vom Empfänger kaum in derselben Weise vergolten werden können, die also zu dessen dauerhafter Inferiorität führen. Da eine gleichartige Vergeltungsleistung dem Empfänger nicht möglich ist, reagiert er – wie vom Wohltäter erwünscht – mit amor/benevolentia/caritas (off. 2,32) und zeigt sich dankbar. Diese Dankbarkeit gilt an sich noch nicht als Begleichung der Schuld, die also bestehen bleibt (off. 2,69). Vor diesem Hintergrund warnt Cicero, wie wir gesehen haben, vor Wohltaten an Höherstehende, die dem Verständnis der jeweils angemessenen Rolle zuwiderlaufen und oft nur schlecht angenommen werden, weil sie den, der es gewohnt ist, andere in die Inferiorität zu bringen, nun umgekehrt selbst zum Schuldner machen

315 Spannend ist, dass sich beim größtmöglichen Opfer, nämlich dem des eigenen Lebens, wiederum eine Gegenleistung ergibt, nämlich Ruhm bei der Nachwelt. Die Darbietung des eigenen Lebens für die gemeinsame Sache wird dann leichter, wenn sie in der Überzeugung geschieht, dass ein solcher Schritt zu unsterblichem Nachruhm führt, der dem so Handelnden von der Mitund Nachwelt entgegengebracht wird. Wie Jehne/Mutschler 2013, 108f. betonen, ist Nachruhm eine wichtige Handlungsmotivation des Römers.

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sollen. In einer solchen Situation wird die Leistung vom Empfänger nicht als Wohltat, sondern als Machtdemonstration verstanden:316 In seinen Augen erscheint sie als Herausforderung, die Beziehung neu zu verhandeln, die bislang ihrer Ansicht nach so gelagert war, dass sie selbst sich mindestens in einer gleichgestellten, eher aber noch einer überlegenen Position befunden haben.317 Somit empfindet der Empfänger die Wohltat als Affront gegen das suum cuique; ausgehend vom eigenen Selbstbild rechnet er bestimmte Verhaltensweisen zu den ihm entsprechenden, andere (wie etwa die dankbare Annahme einer Gabe) eben nicht. Dieses Selbstbild wird durch die Wohltat verworfen,318 um jedoch daran festzuhalten, reagiert der Empfänger trotzig, hochmütig – und kränkt damit den Wohltäter.319 Während also die eigene Inferiorität gegenüber einem anderen Wohltäter schwer auszuhalten ist, kommt es demjenigen, der sich solchermaßen in der überlegenen Position sehen will, im eigenen Handeln geradezu darauf an, beständige Asymmetrie auszulösen, um sich der Gefolgschaft des anderen (oder eher: vieler anderer) zu versichern. Die Gemeinschaft, die so entsteht und die insbesondere in off. 2 ausführlich beschrieben wird, ist asymmetrisch angelegt, insofern als es eine Gruppe Begüterter gibt, denen eine – größere – Gruppe Bedürftiger gegenübersteht.320 Während Erstere durch ihre Leistungen die Bedürfnisse der Empfänger erfüllen, besteht die Vergeltung Letzterer in Zuneigung und Wohlwollen gegenüber ihren Wohltätern, deren Ziel es ist, auf diese Weise zu Macht und Einfluss zu kommen. Fürsorge und Gefolgschaft greifen ineinander, locupletes und tenuiores (off. 2,85) reagieren in erwartbarer Weise aufeinander, beider Position muss vom jeweils anderen – im Sinne des suum cuique – geachtet werden: Die Bedürftigen dürfen wegen ihrer niedrigen Stellung nicht hintergangen werden, die Begüterten nicht um ihren Besitz beneidet. Hier entsprechen die Handlungen dem jeweiligen Selbstbild,

316 Wohltaten sind, wie oben ausgeführt, analoge Mitteilungen, die in digitale Sprache zu übersetzen sind. Die Digitalisierung hängt von der Auffassung der Handlungspartner von der Beziehung ab; dabei muss die Digitalisierung des Wohltäters mit der des Empfängers nicht übereinstimmen (Watzlawick et al. 1980, 97): Hier wird die Gabe vom Empfänger im Sinne einer Provokation digitalisiert, weil sie seinem Beziehungsverständnis zuwider läuft. 317 In einer solchen Situation tritt der Inhaltsaspekt gegenüber dem Beziehungsaspekt der Kommunikation völlig in den Hintergrund (Watzlawick et al. 1980, 50f.). Zum Verhältnis digital/ analog und Inhalts-/Beziehungsaspekt ebd. 64. 318 „Verwerfung“ bezeichnet die Infragestellung der eigenen Selbstdefinition. Hier ergibt sie sich dadurch, dass der Empfänger die Wohltat als Negation der eigenen Gleichstellung/Überlegenheit digitalisiert (Watzlawick et al. 1980, 85). 319 Die Situation skizziert sehr schön das Phänomen der Diskrepanzen in der Interpunktion von Kommunikation (Watzlawick et al. 1980, 58): Während der Gebende beim anderen Bedürftigkeit, Not oder einen Wunsch wahrnimmt und daran seine Wohltat ausrichtet, sieht der Empfänger nur die Leistung, die ihn in eine für ihn selbst inakzeptable Lage bringt. 320 Mit Watzlawick et al. 1980, 69, wäre hier synonym von einer Gemeinschaft zu sprechen, die auf Komplementarität beruht.

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das durch das Verhalten des anderen Bestätigung findet.321 Diese Art des Miteinanders, das auf rollenkonformem Verhalten und wechselseitiger Anerkennung der jeweiligen Position beruht, verspricht nach Cicero gutes Gelingen.322 Die nicht ausgeglichene Schuld, die Gefolgschaft bewirkt, macht es dem Führungswilligen möglich, seiner Position gemäß die Gemeinschaft zu deren Nutzen zu leiten. Während jedoch die Möglichkeit des Führens auf seiner Superiorität anderen gegenüber basiert, gründet der Antrieb, überhaupt führen zu wollen, in seiner Inferiorität gegenüber der res publica, in deren Schuld jeder Einzelne, wie wir gesehen haben, beständig steht. Das Abtragen von Schuld ist immer an den Kriterien des suum cuique zu orientieren, und so wie die Mehrheit ihre Schuld gegenüber dem Gemeinwesen aufgrund bestimmter Fähigkeiten und Möglichkeiten (personae) mittels artes operosae (off. 2,17) zum gemeinsamen Nutzen abzutragen bemüht ist, stellt sich der entsprechend Geeignete durch politisches Engagement mit demselben Ziel des Schuldenausgleichs in den Dienst der patria. In der Forderung, für die res publica auch das eigene Leben zu geben, zeigt sich, dass sein Handeln bis aufs Äußerste auf die politische Gemeinschaft gerichtet sein soll und die entscheidende Beziehung, die der Einzelne mittels Wohltaten verhandelt, immer die zwischen ihm und der res publica ist.323 Die Superiorität, die er zu erlangen bemüht ist, soll also der eigenen Inferiorität abhelfen, kann diese jedoch nie vollständig ausgleichen, insofern als die Verpflichtung gegenüber der res publica auf deren maxima beneficia (off. 1,57) und deren „Vorsprung“ im Wohltun beruht. Abschließend sind die Ausführungen dieses Kapitels an dieser Stelle nochmals in Form einer Übersicht zusammengefasst. Auf Stellenangaben wird verzichtet, weil es sich um eine systematische Rückschau auf den Text handelt: Schuld als Motor von Beziehung

Jeder ist bestrebt, im Handeln eigene Schuld abzutragen.

Auferlegen von Schuld als Weg zur Superiorität

Mittels eigener Leistungen werden andere zum Schuldner gemacht; der Handelnde kommt in die überlegene Position.

321 Watzlawick et al. 1980, 84. 322 Zu Rolle und Position s.o. Anm. 83. 323 In diesem Sinne bezeichnet Cicero in off. 1,92 die Leistungen derer, qui res publicas regant, als maximas… res et maximi animi, mit folgender Begründung: quod earum administratio latissime pateat ad plurimosque pertineat. Die Lenkung der Gemeinschaft stellt damit zugleich eine Wohltat dar; die beschriebenen Varianten, sich durch Wohltaten Einfluss und Macht zu sichern, dienen also nur wiederum dazu, der res publica durch die eigene Führungsposition eine Wohltat zu erweisen. Neben politischem Engagement wird auch wissenschaftliche Tätigkeit als Dienst an der Gemeinschaft genannt. Insofern als jeder in derselben Weise in der Schuld der patria steht und sich auf seine Weise (in der Regel durch die skizzierten artes operosae) bemüht, der patria seinerseits Wohltaten zu erweisen, tritt auch in der Untersuchung der Beziehungsformen zutage, dass beneficentia als Einsatz für die communitas zu verstehen ist.

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Superiorität als Bedingung der Führungsposition

In asymmetrischen Beziehungen greifen Wohltaten und dankbare Gefolgschaft ineinander.

Superiorität und Inferiorität

Das Streben nach der Führungsposition dient dem Abtragen der eigenen Schuld gegenüber der patria.

ZUSAMMENFASSUNG Ciceros Erörterung der beneficentia nimmt ihren Anfang bei der Frage nach dem Wesen des Menschen, das gemäß der stoischen Oikeiosis als von Natur aus gesellig und hilfsbereit beschrieben wird. Von Beginn des Werkes an sind Wohltat und Gemeinschaft also mehr oder weniger deutlich miteinander verbunden. Die naturgemäße Geselligkeit und Hilfsbereitschaft ist zu bejahen und zur bewusst gelebten Tugend zu entwickeln. Geselligkeit und Hilfsbereitschaft bilden die Grundlage der zweiten Kardinaltugend, die für Cicero Vorrang vor allen anderen hat und deren Hauptbestandteile iustitia und beneficentia eng miteinander verklammert sind. Die iustitia wird definiert durch die Formel des suum cuique tribuere. Mit der TelosFormel des naturam ducem sequi wird die beneficentia, die in wechselseitigem Handeln besteht, mit ihrer gemeinschaftsstabilisierenden Kraft (devincire societatem) als gemeinnützig (vgl. den Rekurs auf die communes utilitates) erwiesen. Die beneficentia ist an bestimmten Kriterien des suum cuique tribuere auszurichten, welche gemeinsam das iustum ausmachen und im Werk teils explizit ausgeführt werden, teils implizit zu erschließen sind. An erster Stelle finden sich die Wahrung des Rechtes auf Unversehrtheit sowie, damit verbunden und für Cicero zentral, die Achtung des Eigentumsrechtes.324 Ein Handeln im Einklang mit ihnen wird im Rekurs auf das stoische Bild vom kosmischen Gesamtkörper als naturgemäß bzw., im dritten Buch, als naturae lex legitimiert. Weitere Bedingungen für gemeinnützige beneficentia betreffen die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, Qualifikation und Situation des anderen sowie die Beziehung zwischen Wohltäter und Empfänger, inklusive der Verpflichtung zur Wechselseitigkeit des Handelns. Dabei fällt auf, dass Cicero zwar in der argumentativen Verankerung der iustitia/beneficentia auf die stoische Ethik rekurriert, dabei aber doch zu anderen Ergebnissen gelangt: Während in der Stoa die Fundierung der beneficentia in der natura des Menschen dazu dient, als Telos menschlichen Lebens und Handelns eine unterschiedslose Hinwendung an Fremde wie Nahestehende zu erreichen („cosmic city“, s.o. zur Stoa), entwickelt Cicero – im Verweis auf denselben Fundierungsmodus – anderslautende Handlungsanweisungen. Zur natura des Menschen gehört eine gewisse Minimalverantwortung gegenüber anderen (oder, wie eben beschrieben: eine 324 Hierzu prägnant Chaumartin 1985, 69: „Les exemples choisis par Panétius et Cicéron ont fait clairement apparaître que ne pas nuire à autrui consiste avant tout à ne pas porter atteinte à son bien. Le respect de la propriété individuelle est en effet considérée comme le premier devoir de la vertu de justice et c’est par là qu’est assurée la cohésion de la société.“

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Minimalschuld); bei Cicero ergibt sich v.a. durch den Nähegrad der Beziehung zwischen Wohltäter und Empfänger eine Abstufung der Verbindlichkeit der eigenen Gebefreudigkeit. So verstandene beneficentia gilt Cicero als in höchster Weise gemeinschaftsbewahrend. Im zweiten Buch De officiis wird die Notwendigkeit zur beneficentia, aufbauend auf der Fundierung in der natura und den Überlegungen zum suum cuique, aus der Perspektive der Führungsschicht und bezogen auf den konkreten Bezugsrahmen der res publica Romana begründet. Beneficentia wird hier zum entscheidenden Instrument der Machtsicherung bzw. des Machtausbaus, insofern als sie maßgeblich dazu beiträgt, sich andere zu dauerhafter Gefolgschaft zu verpflichten. Dadurch werden hierarchische Beziehungen gestiftet und bestätigt; die Leistungen des Wohltäters werden durch Dankbarkeit auf Empfängerseite beantwortet. So verstandene beneficentia dient aber nach Ciceros Darstellung nicht der eigenen Bereicherung, sondern wird wiederum als gemeinnützig erwiesen, insofern als der Führungswillige die Gefolgschaft der von ihm Geführten zum gemeinsamen (und also auch zu deren eigenem) Nutzen erlangen will.325 Damit ist Ciceros Herleitung der beneficentia eine dreistufige: Ausgehend von der allen gemeinsamen natura begründet er zunächst die grundsätzliche Verpflichtung zur aktiven Anteilnahme am anderen als gemeinnütziges Verhalten schlechthin, präsentiert danach Kriterien, anhand derer deutlich wird, dass ihm eine Abstufung der eigenen Gebefreudigkeit als gemeinnützig gilt, und wendet in einem dritten Schritt diese Überlegungen auf die Belange der römischen Führungsschicht an, um deren beneficentia wiederum als gemeinnützig zu erweisen. Vergleicht man die Länge der Ausführungen zu jedem der drei Punkte, so wird deutlich, dass dem dritten das größte Gewicht zukommt: Die Überlegungen zur Fundierung der beneficentia in der natura finden sich insbesondere in off. 1,12, off. 1,15 und off. 1,22, außerdem in off. 3,21–3,32. Die Ausführungen zu den Kriterien des suum cuique werden dort schon angedeutet und zunächst natürlich legitimiert, in off. 1,42–59 dann systematisch entwickelt und vor allem auch mit der Folgerung verbunden, dass eine Abstufung der beneficentia je nach Beziehungsnähe der Gemeinschaft dient. Wichtig sind ferner die Passagen zu den vier personae des Menschen ab off. 1,107, die nicht konkret auf die beneficentia gemünzt werden, für deren Gestaltung aber aufschlussreich sind. Die Erörterung der beneficia der Führungsschicht schließlich nimmt beinahe das ganze zweite Buch ein. Im Hinblick auf die durch Wohltaten zu stiftende und zu bewahrende Gemeinschaft lässt sich nun Folgendes sagen: Was Cicero beschreibt, ist eine hierarchische Gemeinschaft, die auf einer Reziprozität von Leistungen des Überlegenen und dankbarer Gefolgschaft des Unterlegenen aufbaut. Reformen, durch die an gegebenen Bedingungen, insbesondere an Eigentumsverhältnissen etwas geändert

325 Strasburger 1990, 90, merkt an, dass die Ausführungen insbesondere in off. 2 „wieder die Verhaftung in die altrömische Mentalität“ anzeigten, welche „mit der schönen Idee der societas hominum wenig zu schaffen hat.“

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werden soll und durch die Beziehungen neu verhandelt bzw. übliche Abhängigkeiten infrage gestellt würden, bezeichnet Cicero, wie wir gesehen haben, als gefährliche Angriffe auf die Gemeinschaft, deren Gedeihen für ihn durch eine conservatio des Gegebenen möglich wird (s.o. off. 1,50: servabitur). In seinen Ausführungen bezieht sich Cicero auf die politische Gemeinschaft Roms. Die tatsächliche Realität seiner Zeit weiß er dabei, wie sich gezeigt hat, klar einzuschätzen. Auf der Grundlage seines pessimistischen Urteils über die gegebene Situation präsentiert er ein Gemeinschaftsmodell, das – von konservativem Geist durchweht – durch die Achtung traditioneller Positionen und Rollenerwartungen bestimmt wird. Die in der Stoa enthaltene Ausrichtung des eigenen Handelns auf die kosmische Gesamtgemeinschaft wird von Cicero als Argument herangezogen, führt aber nicht zu einer Entwicklung kosmopolitischer Ideen. Die durch Wohltaten zu stärkende Gemeinschaft ist und bleibt für Cicero stets die verlorene und wiederherzustellende res publica Romana.

SENECA, DE BENEFICIIS FORSCHUNGSSTAND Senecas De beneficiis wurde in der Forschung lange stiefmütterlich behandelt. Schon Erasmus und Justus Lipsius vertraten prominent die Meinung, dass das Werk in seiner Struktur unübersichtlich und in seinem Gehalt wenig prägnant sei.326 Seit dem 20. Jahrhunderts rückte es, vermutlich befördert durch die 1926 erschienene Budé-Ausgabe Préchacs, wieder in den Fokus der Wissenschaft und wurde fortan – sowohl in Bezug auf die Komposition als auch den Inhalt – häufig freundlicher beurteilt.327 In den letzten Jahren hat es nun eine ganze Reihe von Veröffentlichungen zu De beneficiis gegeben. Bemerkenswert ist ein Verbundprojekt mehrerer italienischer Universitäten, worin das Werk gabe- und kommunikationstheoretisch untersucht worden ist:328 Aus dem Projekt sind mehrere Arbeiten hervorgegangen. Unter der Ägide von Giusto Picone wurden ein „Commento tematico“ zu benef. 1 (2013)329 und ein Sammelband mit dem Fokus auf der durch beneficia gestifteten Asymmetrie (2009) herausgegeben. Eine der Beiträgerinnen hat die Fragestellung, die sie im Sammelband verfolgt, zu einer ebenfalls im Rahmen dieses Projektes veröffentlichten Monographie ausgebaut. Sie geht von der Prämisse aus, dass „ragionare sui benefici significa per Seneca riflettere su una forma complessa e ambigua di comunicazione interpersonale“330 und liest De beneficiis als Reaktion auf die

326 Inwood 1995, 244, spricht von einem „neglected work in the corpus of an often undervalued author“. Referat der jahrhundertelangen Kritik bei Préchac 1926, XXXVIf. Lentano 2005, 125f. merkt an, diese Vernachlässigung sei erstaunlich „se si considera che il trattato senecano, insieme ad alcune pagine del De officiis di Cicerone, rappresenta la più ampia e articolata riflessione della cultura latina in merito ad una categoria centrale in quella cultura come, appunto, la nozione di beneficium.“ 327 Zur Beurteilung des Werkes in der Forschung Griffin 2013, 111–113. 328 S. o. S. 13f. 329 Giusto Picone ist streng genommen der Herausgeber des Kommentars, doch die Beiträge der verschiedenen Wissenschaftler sind namentlich nicht einzeln gekennzeichnet, sodass im Folgenden mangels genauerer Angaben nur auf Picone 2013 verwiesen werden kann. Das methodische Instrumentarium der Arbeit sind die Grundannahmen der watzlawickschen Kommunikationstheorie; damit handelt es sich nicht um einen philologischen, erläuternden Kommentar, sondern um eine kommunikationstheoretische Deutung von benef. 1. Die Ausführungen sind teilweise unpräzise. So wird Sen. benef. häufig in Beziehung zu entsprechenden Passagen aus Cic. off. gesetzt, ohne erstens den Erkenntnisgewinn dieses Vergleiches zu bestimmen und zweitens die Frage zu diskutieren, ob Seneca Ciceros Schrift überhaupt vorlag. 330 Raccanelli 2010, 9.

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vom Autor empfundene Krise persönlicher Beziehungen, der durch ein „cambiamento terapeutico della relazione“ und, damit zugleich, eine „ristrutturazione virtuosa“ des Gemeinwesens Einhalt geboten werden könne.331 Ihre Analyse konzentriert sich dabei auf das Prooem des Werkes sowie auf conclusiones am Ende von benef. 4 und 7. In eine ähnliche Richtung, wenngleich unabhängig von diesem Verbundprojekt veröffentlicht, gehen auch die Arbeiten von Accardi und Degand (jeweils 2015). Beide lesen De beneficiis (Accardi zusätzlich auch Ciceros De officiis) vor dem Hintergrund der mauss’schen Gabetheorie. Während Degand sich in seiner Untersuchung an der Grenze zwischen Philologie, Philosophie, Soziologie und Anthropologie bewegt, verfolgt Accardi explizit eine anthropologische Fragestellung. Alle genannten Publikationen behandeln auch die Frage nach dem gemeinschaftsstiftenden Wert des beneficium, nicht jedoch systematisch. Die Arbeiten sind durchweg anregend und innovativ; zugleich wirkt die beständige gabe- und kommunikationstheoretische Perspektive teilweise etwas gewollt und scheint mir dann den Blick auf Senecas Ansatz eher zu verstellen als zu erhellen. Für das Verständnis von De beneficiis (und für mich: zur Bestimmung des Bezugsrahmens wohltätigen Handelns) ist die Beurteilung des philosophischen vs. politischen Gehaltes von De beneficiis von entscheidender Bedeutung. Hierin gehen die Forschungsmeinungen weit auseinander. Eine soziopolitische Lesart schlägt Chaumartin vor, dessen umfangreiche, in vielerlei Hinsicht wegweisende Monographie im Kern die These enthält, dass De beneficiis in erster Linie als Kritik am Patronagesystem unter Nero und am Kaiser selbst zu verstehen sei.332 Insgesamt liest Chaumartin das Werk als Reaktion auf „l’indignation de Sénèque devant les usages ayant cours à son époque dans les rapports sociaux et surtout dans les relations entre supérieurs, membres des deux ordres et parvenus divers, et inférieurs, clients, affranchis, esclaves.“333 Der Weg aus der Krise, den Seneca in De beneficiis

331 Insofern als sich die Hauptaussagen bereits in ihrem kürzeren Aufsatz im Sammelband finden und dort oftmals prägnanter gefasst sind, beziehe ich mich i.d.R. darauf (also Raccanelli 2009; hier: 304). 332 Lentano 2014, 203, würdigt die Monographie Chaumartins als „turning point in scholarship“. Daneben liegen Aufsätze zu De beneficiis von ihm vor (insbesondere zur Frage von Datierung und Quellen; ANRW und REL, jeweils 1989). 333 Chaumartin 1985, 351. Bei aller Ausführlichkeit erfüllt Chaumartins Monographie, wie Abel 1995, 43, bemerkt, doch nicht die Funktion eines Kommentars. Abel selbst hat nicht den Anspruch, in seinem Aufsatz zu „Senecas lex vitae“ einen solchen zu erstellen, wohl aber den, wie er ebd. ankündigt, eine „ganzheitliche Interpretation des Werkes“ vorzuschlagen, bei der nicht vorrangig Quellen- und Datierungsfrage zu diskutieren sind, sondern vielmehr, wie es ebd., 73, heißt, „Gehalt und Gestalt“. Er bemüht sich um den Nachweis, dass Struktur und Gehalt des Werkes ineinandergreifen, das er ebd., 59, als Ringkomposition bezeichnet und ebd., 73, thematisch als Preis von Menschenliebe, Dankbarkeit und Freundschaft auffasst – anders als für Chaumartin stehen für ihn also nicht hierarchische Verhältnisse im Vordergrund von De beneficiis, zeitgeschichtliche Bezüge lässt er beiseite.

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weise, enthalte, wie Chaumartin im Fazit formuliert, einen „humanisme singulièrement proche de la morale évangélique.“334 Griffin steht einer Beschränkung des Werkes auf eine nerokritische Auseinandersetzung mit v.a. hierarchischen Verhältnissen kritisch gegenüber. In ihrer Untersuchung aus dem Jahr 2013, die ihre jahrzehntelange Forschung an De beneficiis bündelt und den ersten vollständigen Kommentar zum Werk überhaupt darstellt, vertritt sie die Überzeugung, dass das Werk zugleich in der stoischen Philosophie verankert und im neronischen Rom zu verorten sei.335 In ähnlicher Weise sieht auch Inwood bei Seneca eine Verbindung von zeitgeschichtlicher Analyse und Philosophie. Er stellt in seiner Untersuchung zu „Politics and paradox in Seneca’s De beneficiis“ die Bedeutung der „social virtues“ für die stoische Ethik heraus; er spricht von einer „crucial importance […], being grounded in the fundamental human tendency to social bonding.“ 336 Zuletzt machte es sich Wolkenhauer aus althistorischer Perspektive zur Aufgabe, das Verhältnis von De beneficiis zur Realität der Zeit zu bestimmen. Er geht von einer nur vermeintlich überhistorisch-philosophischen Fragestellung und einer tatsächlichen Zeitgebundenheit des Werkes aus.337 Er sieht in der senecanischen Darstellung einen Beleg für das Distinktionsbedürfnis der traditionellen Oberschicht, welche sich durch wirschaftlich potente Aufsteiger in ihrer Exklusivität bedroht gesehen habe und durch eine besonders kultivierte Form inneraristokratischer Gefälligkeiten die eigene Überlegenheit zu demonstrieren bemüht gewesen sei.338 Er schlägt vor, die philosophischen Bezugnahmen im Werk als Senecas Weg der

334 Chaumartin 1985, 355. Weiter heißt es ebd.: „C’est la raison pour laquelle on a pu longtemps croire à des contacts directs entre Sénèque et les chrétiens et imaginer l’existence d’une correspondance suivie entre le philosophe et saint Paul.“ Auch Abel 1995, 42, formuliert die These, dass das Werk als Reaktion auf das Christentum zu verstehen sei, welches „ungefähr ein Menschenalter zuvor ins Dasein getreten war“. Im Text selbst finden sich jedoch keine Hinweise, die eine solche Vermutung stützen würden. 335 Der Kommentar ist dreigeteilt: Zunächst bestimmt Griffin den Untersuchungsgegenstand von De beneficiis als wichtigen Bestandteil der stoischen Ethik und zugleich als entscheidendes Element insbesondere des römischen Elitendiskurses; außerdem befasst sie sich – kürzer – mit der Anschlussfähigkeit der senecanischen beneficentia an moderne Gabetheorien. In einem zweiten Teil wird das Werk historisch verortet; sie bespricht ausführlich – aber mit vorsichtiger gefasstem Ergebnis – Quellen- und Datierungsfrage sowie Adressaten, Werkstruktur und Rezeption. In einem dritten Teil bietet Griffin Kurzzusammenfassungen aller sieben Bücher sowie fortlaufende Erläuterungen zu relevanten Passagen, die reich an Querverweisen sind. 336 Inwood 1995, 243. Deswegen, so fährt er ebd. fort, sei es selbstverständlich, dass „any Stoic with an interest in ethics or political thought should have regarded questions about the role of good deeds in human societies as important.“ Ebd., 247, meint er, derlei Fragen ließen sich rein philosophisch-ethisch behandeln oder aber als „real social-political philosophy“. Senecas Werk sei nun, so schlägt Inwood ebd., 265, vor, der Versuch, die ihn umgebenden „social themes“ mit dem „purely ethical level“ zu verbinden, mit dem Ziel „to find a non-arbitrary linkage between those two.“ 337 Wolkenhauer 2014, 15. 338 Wolkenhauer 2014, 407 und 439.

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Rechtfertigung für seine Verstrickung mit Nero zu sehen, nachdem dieser seinen Wunsch nach Rückgabe aller empfangenen beneficia abgelehnt hatte, und als Versuch, auf diese Weise die Überlegenheit der eigenen Moralität herauszustellen.339 Die verschiedenen Deutungen setzen jeweils eine bestimmte Abfassungszeit des Werkes voraus.340 Der Text selbst enthält keine expliziten Angaben zu seiner Entstehungszeit; jeder Versuch, ihn zu datieren und in Senecas Vita zu verorten, stützt sich auf Hinweise, deren Deutung alles andere als unstrittig ist. 341 In Wolkenhauers Interpretation der autobiographischen Bezüge etwa ist eine späte Abfassungszeit des Werkes vorausgesetzt; er schlägt einen Zeitpunkt zwischen 58 und 61 vor.342 Chaumartin geht von der Beobachtung aus, dass Nero – anders als seine Vorgänger – im Werk nirgends explizit erwähnt wird und vertritt die These, dass sich aus einer Analyse der Passagen, in denen er implizite Anspielungen vermutet (unter Einbeziehung von Parallelstellen im Gesamtwerk Senecas), eine Datierung ableiten lässt.343 Zunächst steckt er einen weiten Rahmen, innerhalb dessen seiner Ansicht nach De beneficiis abgefasst sein muss: Die negative Beurteilung des Claudius in benef. 1,15,5f. sei erst nach dessen Tod denkbar, also nach 54, „le caractère fort désobligeant pour Agrippine elle-même de la mention de ce premier mari qu’elle avait fait tuer pour s’approprier ses biens“ führt Chaumartin zu der Vermutung, den terminus post quem erst nach deren Tod im Jahr 59 anzusetzen. Als terminus ante quem ist – aus der Erwähnung von De beneficiis in epist. 81,3 – Mai 64 wahrscheinlich.344 Daraufhin unternimmt er es, das Werk innerhalb dieses Rahmens zu verorten: Er macht dafür die These stark, dass De beneficiis Passagen enthält, die Nero als Kritik verstehen musste, und will nachweisen, dass damit das Werk zu einer Zeit erschienen sein muss, in der Nero eine solche Kritik noch vertragen konnte. Die Kritik findet sich nach Chaumartin in den Charakterisierungen der Vorgänger Neros: So sei die weitgehend positive Charakterisierung des Augustus als versteckte Kritik an Nero zu deuten; bei dessen Nachfolgern werde insbesondere die Tendenz getadelt, den Senat zu erniedrigen, was – an die Adresse Neros – ein indirekter Hinweis auf die Bedeutung des Senates sei.345 Bezugnehmend auf Dio Cass. 61,5,1 referiert Chaumartin weiter, Nero habe zunehmend Caligula zum Vorbild genommen; auf diese Weise wäre die scharfe Kritik an Caligula zugleich eine

339 Wolkenhauer 2014, 422 und 441. 340 Für eine Zusammenfassung der Datierungsvorschläge ist aktuell auf Lentano 2014, 201, zu verweisen. 341 Dieses Problem stellt sich nicht nur für De beneficiis. Griffin 1976,1, spricht von einer „inability to date most of his [sc. Seneca’s] works with certainty or precision.“ Zum Problem der Datierung von Senecas Werken Marshall 2014, 33. 342 Wolkenhauer 2014, 79, geht von einer Abfassung zwischen 58 und 61 aus. 343 Chaumartin 1985, 159. 344 Chaumartin 1985, 160. 345 Chaumartin 1985, 162f.

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Verurteilung der Verhaltensweisen Neros.346 Caligula habe sich am Vorbild Alexanders des Großen messen wollen; indem dieser in De beneficiis das NegativExemplum schlechthin darstellt, werde indirekt auch Nero an Alexander angenähert – was von ihm als heftiger Angriff habe verstanden werden können.347 Ausgehend davon verwirft Chaumartin die Überlegungen Eickes und Préchacs, die beide von einer Abfassung und Veröffentlichung nach Senecas politischem Rückzug ausgehen. Préchac vertritt dazu noch die Überzeugung einer gesonderten Edition von benef. 7 in den letzten Lebensmonaten Senecas, in denen er alle Vorsicht aufgegeben habe.348 Eine getrennte Herausgabe der Bücher sei jedoch durch keinen einzigen Hinweis zu untermauern; diesen Vorschlag lehnt Chaumartin als rein spekulativ ab. Insgesamt wendet er sich gegen die These der späten Veröffentlichung, weil Seneca angesichts der heftigen Angriffe, denen er schon vor seinem politischen Rückzug ausgesetzt war, kaum so offen gesprochen hätte.349 Er schlägt hingegen vor, dass das Werk zu einer Zeit abgefasst worden sei, in der Nero noch „un franc-parler assez net“ habe tolerieren können. Angesichts des vorher gesteckten terminus post quem ergibt sich nach Chaumartins Darstellung eine Abfassung um 60-61.350 Griffin steckt keinen so engen Rahmen: In Übereinstimmung mit Chaumartin meint sie ebenfalls, dass aufgrund von benef. 1,15,6 von einer Abfassung nach dem Tod des Claudius anzusetzen sei; aus der Verurteilung des Verhaltens des Konsulars Caninius Rebilus in benef. 2,21,6 schließt sie ferner, dass das Werk auch nach dessen Tod erschienen sein müsse, weil er zu Lebzeiten eine solche Kritik kaum hingenommen hätte. Den Tod Agrippinas 59 setzt sie nicht voraus. Die Erwähnung von De beneficiis in epist. 81,3 ist auch für Griffin der terminus ante quem.351 Eine separate Veröffentlichung von benef. 7 hält auch sie für unwahrscheinlich, zumal angesichts der Symmetrie des letzten Buches zum ersten. Den so ermittelten Rahmen zwischen 56 und 64 engt Griffin nicht weiter ein; wie sie anhand von Beispielen darlegt, sind die Versuche nicht überzeugend, ausgehend von Anspielungen auf historisch datierbare Ereignisse, auf Umstände in Senecas eige-

346 Chaumartin 1985, 165. 347 Chaumartin 1985, 172. Schubert 1998, 226 Anm. 60 ; ferner ebd. 227 Anm. 62. 348 Préchac 1926, XX–XXVII, bes. XXVI. Die Thesen Eickes und Préchacs werden referiert in Chaumartin 1985, 176. Gegen eine gesonderte Edition des siebten Buches hat sich zuletzt Degand 2015, 391, ausgesprochen, dessen Untersuchung u.a. ergibt, dass Senecas „pensée oblative“ sich im Verlauf des Werkes allmählich weiterentwickle und erst in der Gesamtschau aller Bücher ein Ganzes ergebe. 349 Chaumartin 1985, 181. 350 Chaumartin 1985, 193f. 351 Griffin 2013, 91; zu Rebilus schreibt sie ebd.: „Seneca does not often refer to living contemporaries and never in such insulting terms.“

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nem Leben oder auf kaiserliche Verhaltensweisen (über eine Art Ausschlussprinzip, wie etwa Chaumartin es anwendet), deren Darstellung zu einer bestimmten Zeit nicht möglich gewesen sein solle, ein Abfassungsdatum ermitteln zu wollen.352 Eine weitere Frage, die in der Forschung diskutiert wird und letzlich nicht sicher beantwortet werden kann, betrifft die Quellen von Senecas De beneficiis. 353 Das Werk steht, wie eingangs gesagt, in einer langen Tradition themengleicher Abhandlungen nicht nur in der Stoa, die jedoch sämtlich verloren sind.354 Die singuläre Stellung von De beneficiis ist also der Überlieferungslage geschuldet, die sich zur Abfassungszeit noch ganz anders gestaltete, sodass Seneca auf einer Reihe von Vorlagen aufbauen konnte. Chaumartin, der auch die Quellenfrage wiederum ausführlich erörtert, vertritt die These, dass Seneca sich vor allem auf eine Schrift Hekatons mit dem Titel Peri charitos gestützt habe.355 Er verweist in seiner Argumentation auf Parallelen zwischen Ciceros De officiis und Senecas De beneficiis, die sich seiner Ansicht nach daraus ergeben, dass Cicero und Seneca auf ähnlich geartete Vorlagen zurückgegriffen hätten. Während dies bei Cicero nach dessen Selbstaussage Panaitios’ Pflichtenlehre gewesen sei, habe sich Seneca an Hekaton, einem Schüler des Panaitios, orientiert, der in dessen Tradition gestanden habe. Eine direkte Bezugnahme Senecas auf Cicero schließt Chaumartin aus; Seneca erwähnt Cicero nirgendwo in seinem Werk, verweist nicht einmal dort auf ihn, wo er ihm inhaltlich sehr nahe kommt: Chaumartin vermutet sogar, dass Seneca Ciceros De officiis nicht kannte.356 Weitere Quellen könnten, wie Chaumartin ausführt, Texte von Chrysipp und Kleanthes gewesen sein, die im Werk mehrfach erwähnt sind; dabei sei jedoch denkbar, dass

352 Griffin 2013, 93–96. Ferner Inwood 1995, 244 Anm. 28. Außerdem Marshall 2014, 41f., der nicht ausschließen möchte, dass die Abfassung der langen Schrift De beneficiis sich mit Pausen über viele Jahre erstreckt haben könnte. Chaumartins Datierung erscheint damit zwar als attraktiver Vorschlag der zeitlichen Einordnung des Werkes, bleibt aber aus zwei Gründen problematisch: Einerseits ist Chaumartins Deutung der Kaiser-Exempla und die Überlegung, dass Nero sie in genau dieser Weise auffassen musste, wie zuletzt Griffin deutlich macht, nicht zwingend; andererseits basiert die Bemühung, das Werk einzuordnen, auf der Überzeugung einer dezidiert nero-kritischen Ausrichtung des Werkes, die Chaumartin insbesondere gestützt auf die Anspielungen auf Neros Vorgänger entwickelt und ihnen damit ein Gewicht zugesteht, das sie, wie ich meine, im Gesamtwerk so nicht haben. 353 Zur Quellendiskussion Lentano 2014, 201. 354 Inwood 1995, 243. Seneca stelle sich in die Tradition der Schule, wenngleich das Thema auch in anderen Philosophenschulen zentralen Raum eingenommen habe, doch ein „accident of transmission“ habe bewirkt, dass sein Werk heute allein steht (ebd. 243f.). Ferner Griffin 2013, 15 (Referat der philosophischen Tradition der theoretischen Behandlung von euergesia und charis; 16 Xenophon, 17–19 Aristoteles; 19–20 Stoiker). 355 Chaumartin 1985, 31–55, 105. Auch Préchac 1926, XXXI, verweist auf Hekaton als Hauptquelle. 356 Chaumartin 1985, 48, 105. Griffin 2013, 107 bestätigt, dass es im Werk keine Hinweise gebe, dass Seneca De officiis gelesen habe, vermutet aber, dass er es zumindest kannte. Ebd. 7 Anm. 3 schreibt sie, dass Seneca außer in den Briefen nirgends auf Cicero verweise; diese Beobachtung „makes the argument from silence unconvincing.“

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ihre Gedanken über die Vermittlung des Hekaton Eingang in Senecas De beneficiis gefunden hätten;357 Chaumartin schließt gegen Pohlenz Panaitois als Vorlage aus;358 Poseidonius sowie der Kyniker Demetrius kommen seiner Ansicht nach an einzelnen Stellen infrage.359 Insgesamt sei der Einfluss sekundärer Quellen aber gering.360 Griffin stellt sich in der Diskussion der Quellenfrage gegen Chaumartin. Sie schließt aus, dass „Seneca was following some particular Greek work slavishly, or even exclusively“, geht aber davon aus, dass er frühe stoische Texte berücksichtigt habe.361 In ihrer Vorsicht im Hinblick auf die Bestimmung möglicher Vorlagen folgt sie Abel, der sein Referat denkbarer Quellen von De beneficiis mit folgendem Fazit beschließt: „Die Sachlage zwingt also zur Bescheidenheit. Wer der oder die Autoren waren, die Seneca das philosophische Gedankengut für De beneficiis geliefert haben, ist nicht zu eruieren. Einzig die namentlichen Zitate bieten einige Anhaltspunkte, die man sich ergiebiger wünschte.“362 Berücksichtigt man Senecas Urteile über griechische Vorgänger etwa in benef. 1,3,8-1,41 sowie 2,21,4, in denen er deren Exempla als ineptiae bezeichnet, findet sich die von Griffin vorgeschlagene relative Eigenständigkeit – wenngleich das Thema in guter Tradition der Schule stand – bestätigt.363 AUSRICHTUNG UND PERSPEKTIVE Seneca widmet De beneficiis, wie gleich im Prooem deutlich wird, seinem Freund Aebutius Liberalis, über den sich nur sagen lässt, dass er aus Lugdunum stammte.364 Zu vermuten ist außerdem, dass es sich bei Liberalis um einen begüterten Mann handelte, denn in benef. 5,1,3 bezeichnet ihn Seneca als großzügigen Wohltäter.365

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Chaumartin 1985, 107. Chaumartin 1985, 124. Chaumartin 1985, 148. Chaumartin 1985, 153: „Tout invite donc à penser, du moins dans l’état actuel des choses, compte tenu de la pauvreté des documents dont dispose la recherche, que la source principale du De ben. est un traité d’Hécaton sur les bienfaits. En dehors de lui, Sénèque semble bien n’avoir utilisé que fort peu de sources secondaires.“ Griffin 2013, 24f. Abel 1995, 58. Zum Ineinandergreifen von stoischer Schultradition und Eigenständigkeit bei Seneca kurz Wildberger 2014, 322, die von eine Synthese zwischen Römischem und Stoischem spricht. Vgl. epist. 91, wo Seneca seinem Adressaten Lucilius von einem Brand berichtet, der Lyon weitgehend zerstört habe; die Stadt wird als geliebte patria des Liberalis bezeichnet. Seneca spricht im Brief mehrfach von Liberalis (den Auftakt bildet Liberalis noster in epist. 91,1), ohne ihn seinem Adressaten erst vorstellen zu müssen; es ist also zu vermuten, dass dieser ihm bekannt war. Es ist spannend, dass Seneca für De beneficiis einen Adressaten mit einem so sprechenden Namen wählt. Hierzu Picone 2013, 17: „… il cognomen Liberalis in sé risulterebbe coerente con le qualità del suo portatore e appropriato alla materia dell’opera.“

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Wie aus dieser Passage und einigen weiteren hervorgeht, in denen Seneca Beispiele möglicher Wohltaten nennt, scheinen zur Abfassungszeit des Werkes sowohl Autor als auch Adressat reiche Mitglieder der Oberschicht gewesen sein.366 Im Rahmen dieser begüterten Oberschicht ist De beneficiis angesiedelt; aus deren Perspektive und an deren Adresse sind die Handlungsanweisungen formuliert.367 Seneca beschränkt sich zwar nicht auf die Pflichten des Wohltäters, sondern nimmt auch Annehmen und Vergelten ausführlich in den Blick, doch die vorgeschlagenen Wohltaten entsprechen zumeist den Möglichkeiten begüterter Aristokraten. Dabei scheint mir die im vorigen Abschnitt kurz angesprochene Deutung Chaumartins, De beneficiis als Reflexion v.a. hierarchischer Beziehungen zu lesen, jedoch zu eng zu sein. Für ihn ist dieser Fokus Senecas bereits in benef. 1,1,2 zu beobachten. Dort heißt es, wie später noch genauer auszuführen ist, bei der Auswahl würdiger Empfänger von Wohltaten lasse man es an der nötigen Sorgfalt vermissen, während man einen Schuldner stets genau auf seine Eignung hin prüfe. Chaumartin schreibt zu der Passage: „La première cause d’ingratitude mentionnée au début du livre I, l’incapacité d’effectuer un choix parmi ses obligés, montre que la critique de Sénèque vise les rapports de clientèle, tels qu’ils existaient à l’époque néronienne.“368

In der Passage ist nicht von „obligés“ die Rede; aus ihr geht auch nicht hervor, dass Seneca vornehmlich hierarchische Beziehungen zwischen Patron und Klient in den Blick nimmt. Griffin gesteht Chaumartin zu, dass Seneca „as a homo novus might be particularly aware of traditional customs under threat“,369 doch zugleich merkt sie zu Recht an, dass hierarchische Bindungen nirgendwo im Werk ausführlich in den Blick genommen werden und von einer, wie Chaumartin meint, „critique amère des relations entre patrons et clients, telles qu’elles existaient à l’époque néronienne“, keine Rede sein könne.370 Ferner verweist sie darauf, dass in De beneficiis, anders als in Ciceros De officiis, „a lack of concern in the matter with mos maiorum“ zu beobachten sei; „Seneca does not use traditional Roman conduct as a standard by which to condemn present immorality.“371 Sie formuliert pointiert: „ De beneficiis frustrates the social historian. It is ostensibly a work of practical ethics, yet […] it is strangely abstract, more universal even than Cicero’s De officiis.“372

366 Griffin 2013, 98 ebenso: „We can assume that both adressee and author were rich men when that work was composed.“ Préchac 1926, XLf. vermutet, dass Liberalis ein sehr reicher Angehöriger des Ritterstandes gewesen sei und schlägt weiter vor: „Peut-être était-il jurisconsulte.“ Diese Annahme basiert auf sprachlichen Beobachtungen zu benef. 6,4,5f. 367 Dass Seneca sich an Vertreter der Schicht wandte, der er selbst angehörte, nämlich an die Senatsaristokratie, sehen auch Winterling 2008, 303, und Wolkenhauer 2014, passim. 368 Chaumartin 1985, 263. 369 Griffin 2013, 59 (= 2003, 112). 370 Griffin 2013, 55. 371 Griffin 2013, 59. 372 Griffin 2013, 46.

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Tatsächlich wird in De beneficiis in weit stärkerer Weise, als dies in De officiis der Fall ist, stoische Theorie entwickelt. Anders als De officiis erscheint Senecas Werk nicht vorrangig als eine Handreichung an den (angehenden) Politiker, der die Mechanismen des Machterwerbs verstehen und in Befolgung der entsprechenden Handlungsanweisungen zum Wohle der Gemeinschaft walten soll. Seneca verortet sein Werk in der institutio Stoica,373 richtet sich dabei an Nicht-Weise, wie er mehrfach betont und am deutlichsten in benef. 2,18,4 ausführt: Totiens admoneam necesse est non loqui me de sapientibus […] sed de imperfectis hominibus honestam viam sequi volentibus.374

Sein Anspruch ist es, diese imperfecti homines zu wohltätigem Handeln anzuleiten, das er gleich im Prooem des Werkes als zentral für das Gedeihen von Gemeinschaft herausstellt (benef. 1,4,2). 375 Wie sich in den zahlreichen römischen Exempla, die im Werk zur Illustration einzelner Überlegungen herangezogen werden, sowie in dem in Prooem und Fazit gezeichneten Sittenbild zeigt,376 ist De beneficiis dabei zunächst im Imperium Romanum verhaftet, geht, wie nachzuweisen ist, über diese soziopolitische Realität aber hinaus.377

373 Dieser Terminus erscheint in benef. 2,20,2, jedoch in Bezug auf Brutus; ansonsten wird die stoische Ausrichtung des Werkes insbesondere in benef. 4 deutlich. Eine Würdigung Senecas als Stoiker findet sich zuletzt bei Sellars 2014, insbesondere 99 und 109. 374 „Es ist notwendig, so oft daran zu erinnern, dass ich nicht von Weisen spreche […], sondern von unvollkommenen Menschen, die einen tugendhaften Weg gehen wollen.“ 375 Einen Vergleich von De officiis und De beneficiis unternimmt etwa Griffin 2013 und macht ebd., 11 (ähnlich ebd., 49), Ähnlichkeiten in der Ausrichtung deutlich: Sie führt aus, dass Cicero und Seneca die Sprecherperspektive des Wohltäters einnähmen, weil sie beide reiche Männer gewesen seien, und weiter schreibt sie: „Both are concerned with the maintenance of what they see as the traditional aristocratic code; both address their work principally to senators or equites.“ Ebd., 12, stellt sie heraus, dass beide als homines novi besonders sensibel für traditionelle Verhaltensweisen gewesen seien. Außerdem Fiori 2011, 187f.: „In realtà, per quanto diverso sia l’orizzonte sociale di Cicerone e Seneca – il primo, alla fine della reppublica, ancora concentrato sulla civitas; il secondo, ormai teso a estendere i valori romani all’intera ecumene e dunque, necessariamente, meno legato alle contingenze delle singole comunità – è l’apertura ideale che caratterizza il secondo rispetto al primo nel guardare all’intera realtà umana, il discorso di entrambi è al tempo stesso etico, sociale e politico. I beneficia non sono un atto puramente ‚morale‘ (in senso moderno), ma appartengono a un codice di comportamenti su cui si regge l’intera società romana, e particolarmente quella aristocratica, secondo parametri antropologici per i quali è stata ricordato non a sproposito il ruolo centrale del dono nella conservazione delle società tradizionali.“ 376 Diese beständigen Bezüge auf römische Exempla oder Anekdoten beobachtet auch Michel 1962, 528. 377 In diesem Sinne fasst Michel 1962, 529, zusammen, dass Seneca nicht nur soziale Praxis beschreibe, sondern diese zu überwinden sucht, indem er über den Gabeinhalt hinaus denke und „une morale épurée de tout égoïsme et de tout calcul“ entwerfe.

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STRUKTUR Anders als in De officiis, wo vor der Untersuchung zu skizzieren war, an welchen Stellen im Werk die beneficentia überhaupt behandelt wird, erübrigt sich diese Frage bei Senecas De beneficiis, das in sieben Büchern eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema darstellt. Stattdessen ist zu skizzieren und zu begründen, welche Passagen für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von besonderer Bedeutung sind und wie sich die Textinterpretation strukturieren lässt. Zunächst ist festzuhalten, dass Seneca selbst explizit eine inhaltliche Gliederung vornimmt. Im Prooem kündigt er programmatisch an, im Werk Regeln richtigen Gebens, Empfangens und Vergeltens von Wohltaten zu entwickeln (benef. 1,3,4; 1,4,3). Genau in dieser Reihenfolge werden die drei Punkte in den ersten drei Büchern, insbesondere in De beneficiis 1 und 2, auch bearbeitet – mit einer Reihe von Verhaltensregeln leitet Seneca zu gelingende Wohltun an. Zu Beginn des vierten Buches formuliert er, er wolle nun untersuchen, ob das Erweisen von Wohltaten und das Abstatten von Dank an und für sich zu erstrebenswerte Handlungen seien (an beneficium dare et invicem gratiam referre per se res expetendae sint; benef. 4,1,1). Im Prooem von benef. 5 erklärt er, dass nach der Behandlung des eigentlichen Themas in benef. 1–4 nun im restlichen Werk zusätzliche Fragen besprochen würden (benef. 5,1,1f.). Dieser Verweis auf den ergänzenden Charakter der letzten drei Bücher wird in den Prooemien von benef. 6 und 7 wiederholt. In benef. 7,26,2 kündigt Seneca an, eine Zusammenfassung des Werkes formulieren zu wollen.378 Diese Angaben zur Gliederung des Werkes dienen der Orientierung, bilden dessen Struktur aber nicht vollständig ab.379

378 Innerhalb der einzelnen Bücher fügt Seneca weitere Gliederungselemente ein, indem er von einem fiktiven Gesprächspartner Fragen oder Einwände vorbringen lässt, die von einem Unterthema zum nächsten überleiten. Li Causi 2009, 214f., sieht drei Varianten des adversarius: Zuerst einen „interlocutore generico“, der den common sense vertritt (Marker im Text: inquis, inquit), zweitens einen fiktiven Epikureer und drittens den „interlocutore concreto“ Aebutius Liberalis. 379 So heißt es in benef. 5,1,1, dass in den ersten vier Büchern besprochen worden sei, wie man Wohltaten zu erweisen und anzunehmen habe. In dieser kurzen Inhaltsangabe fehlt – streng genommen – das Vergelten, das jedoch innerhalb des Werkes mitunter mit dem Annehmen zusammen behandelt wird. Außerdem fehlt ein Verweis auf das dritte Buch, das eigentlich nur am Anfang dem Thema des Vergeltens gewidmet ist (Griffin 2013, 115), in seinem weiteren Verlauf aber das in der gerafften Inhaltsangabe im Prooem von benef. 5 ebenfalls unterschlagene vierte Buch vorbereitet, welches in vielerlei Hinsicht zentral für das Werk ist. Ferner ist zu fragen, ob die Ankündigungen in den Prooemien von benef. 5–7, nur noch Übriggebliebenes zu behandeln, ernst zu nehmen sind. Griffin ebd., 120, bezeichnet sie als „nothing but disingenuous coquetry“ (ebenso Chaumartin 1985, 12: „Sénèque a mis quelque coquetterie littéraire à les déprécier avec un aussi superbe dédain.“). Ebd., 121, diskutiert Griffin, ob die letzten drei Bücher kasuistisch genannt werden können, wobei „casuistry“ streng genommen peiorativ sei. Chaumartin etwa spricht ebd., 12, u.a. immer wieder davon, dass „à partir du livre V, sont examinées des questions de casuistique.“ (ebd. 353, meint er, der kasuistische Teil beginne in benef. 4,26). Griffin ebd., 121, kommt zu dem Ergebnis, dass in benef. 5–7 die praktische

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Liest man das Werk nun selektiv vor dem Hintergrund meiner Fragestellung, ist festzustellen, dass der für mich relevante Zusammenhang zwischen Wohltat und Gemeinnützigkeit im Werk greifbar ist, insgesamt aber nur an wenigen Stellen explizit formuliert wird; häufiger sind Bemerkungen, denen sich die Verbindung indirekt entnehmen lässt. Was nun die – expliziten wie impliziten – Äußerungen zur Thematik betrifft, so lassen sie sich in ihrem Grundgehalt in einer Weise bündeln, die eine an der von Seneca angegebenen Textstruktur ausgerichtete Untersuchung erlaubt, und zwar solcherart, dass nach einer Analyse der programmatischen, wegweisenden Aussagen in benef. 1,1-1,10 (also über das reine Prooem hinaus) daraufhin benef. 1 und 2 (sowie der Beginn von benef. 3) gemeinsam besprochen werden können,380 das vierte Buch (ergänzt durch benef. 3,6-17) für sich steht, benef. 5 und 6 wiederum gemeinsam zur Behandlung kommen und zuletzt das Fazit ab. benef. 7,26 Berücksichtigung findet, in dem die Ergebnisse der Abhandlung gebündelt sind. Damit verlaufen meine Interpretationen am Text entlang, bleiben aber stets – dies ist zu betonen – fokussiert auf die Fragestellung dieser Arbeit und gestehen der Deutlichkeit halber den Passagen, in denen die gemeinschaftsstiftende Funktion von beneficia besonders hervortritt, mehr Raum zu, als sie im Werk einnehmen; andere Gedankengänge, die für mich weniger von Interesse sind, werden daneben vernachlässigt. Damit bilden meine Ausführungen nicht die tatsächliche Entwicklung der senecanischen Argumentation ab, sondern bleiben beschränkt darauf, die Überlegungen zur gemeinschaftsstiftenden Funktion von beneficia nachzuzeichnen sowie die zugrundeliegende Gemeinschaftsvorstellung freizulegen. An dieser Stelle sei um der Orientierung willen kurz vorweggenommen, welche Schwerpunkte in den einzelnen Gliederungsabschnitten auszumachen sind: benef. 1,1-1,10

Grundlegung: Notwendigkeit von Wohltaten für die Stiftung und Stärkung von Gemeinschaft; Begriffsbestimmung des beneficium

benef. 1,11-3,5

Gestaltung von Wohltaten: Regeln rechten Gebens, Empfangens und Vergeltens (implicite: wodurch gemeinschaftliches Gedeihen möglich wird)

benef. 3,6-4,40; bes. stoische Fundierung: naturgewollte, menschengemäße Notwendigkeit von benef. 4,18

Wohltaten zur Stiftung und Stärkung von Gemeinschaft

Anwendbarkeit der Verhaltensregeln aus den ersten vier Büchern geprüft werde. Sie stellt ebd. heraus, dass diese drei Bücher sich zwar durchaus von den ersten vieren unterschieden, insofern als sie dazu dienten „to give the reader practice in using the doctrines developed earlier“, dass aber darin außerdem zentrale Überlegungen der ersten Bücher wiederaufgenommen und auf der Grundlage von benef. 4 auf einem höheren Level entwickelt würden (ebd., 122). 380 Chaumartin 1985, 12: „Parmi les quatre premiers, les livres I et II forment eux-mêmes un tout.“

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Seneca

benef. 5,2-5,6; benef. Bezugsrahmen: Wesen der durch Wohltaten gestifteten/gestärkten 6,25-6,43

Gemeinschaft

benef. 7,26-7,32

Fazit Senecas

WOHLTATEN UND GEMEINSCHAFTLICHES GEDEIHEN Danda lex vitae: Thematische Grundlegung benef. 1,1,1–1,1,7 Senecas De beneficiis beginnt unvermittelt mit der Diagnose, dass zu den mannigfaltigen errores derer, die blindlings und planlos lebten (temere inconsulteque viventium) die beiden gehörten, dass man eine Wohltat weder zu erweisen noch anzunehmen wisse (benef. 1,1,1).381 Daraus folge nun, ut male conlocata male debeantur, de quibus non redditis sero querimur; ista enim perierunt, cum darentur (ebd.):382Aus dem Unvermögen, eine Wohltat richtig anzulegen, erwachse eine zu späte Unzufriedenheit (querimur) über die fehlende Vergeltung, über die Undankbarkeit des Empfängers also – zu spät deshalb, weil die Wohltat tatsächlich bereits im Augenblick des Erweisens (cum darentur) als verloren hätte gelten müssen. Ferner diagnostiziert Seneca, dass ganz zwangsläufig (nec mirum est, benef. 1,1,2) die Undankbarkeit (ingratus animus) die häufigste der Fehlhaltungen sei (sogar: inter plurima maximaque vitia; ebd.),383 dies ergibt sich seiner Einschätzung nach (video) aus mehreren Gründen: Erstens wähle man keine würdigen Empfänger der eigenen Wohltaten aus (non dignos, ebd.).384 Nicht würdig sind sie, so lässt sich 381 Den Begriff „Diagnose“ verwende ich nicht von ungefähr: Seneca empfiehlt, wie zu zeigen sein wird, im Verlauf des Werkes eine Therapie (Long 2003, 192 [s.o.]; Abel 1995, 45; Raccanelli 2009, 304). Insofern als in einer Diagnose gemäß dem Wortsinn Krankheiten erkannt und beschrieben werden, können Senecas Ausführungen allerdings nur bedingt als solche bezeichnet werden, denn sie sind nicht deskriptiv, sondern enthalten zahlreiche tadelnde Formulierungen (z.B. benef. 1,1,1: errores temere inconsulteque viventium; male; benef. 1,1,2: inter plurima maximaque vitia; benef. 1,1,3: turpius, foedissimum) und damit normative Aussagen, aus denen sich, wenngleich ex negativo, ablesen lässt, was Seneca stattdessen für erstrebenswert hält. So ist etwa aus dem in benef. 1,1,2 genannten vitium ingrati animi auf die demgegenüber wünschenswerte Haltung der Dankbarkeit zu schließen. Zu den Begriffen: Kudlien, F., „Diagnose“, in HWPh 2, 162f; Rothschuh, K.E., „Therapie“, in HWPh 10, 1163f. Zur „medical metaphor“ bei Seneca Setaioli 2014, 239f. 382 „… dass sie, schlecht angelegt, schlecht geschuldet werden und wir uns darüber, dass sie nicht vergolten werden, zu spät beklagen: Denn sie sind in dem Moment verloren gegangen, in dem sie erwiesen wurden.“ 383 Um im Bild zu bleiben, wäre die Undankbarkeit als das hauptsächliche „Krankheitssymptom“. zu bezeichnen; Langholf, V., „Symptom“, in HWPh 10, 762–764. 384 Zu dignus in diesem Zusammenhang Griffin 2013, 177f.

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implizit schließen, weil sie sich nicht dankbar zeigen; dass sie nicht dankbar sind, liegt in ihrer Verantwortung, dass man sie auswählt, in der eigenen.385 Zweitens aber verursache man oft selbst die Undankbarkeit der Empfänger: Multos experimur ingratos, plures facimus,386 indem man sich bald wie ein Schuldeneintreiber verhalte, bald klagend wie einer, der die Wohltat lieber zurück nähme (benef. 1,1,4). Anschließend folgert Seneca: Gratiam omnem corrumpimus non tantum postquam dedimus beneficia, sed dum damus (ebd.),387 und schließt mit dieser Wiederholung, dass die Wohltat bereits beim Erweisen verloren gehe bzw. verdorben werde, den Kreis zur Ausgangsdiagnose aus benef. 1,1,1. Diese Passage bildet nicht mehr als den ersten Teil des Prooems von De beneficiis,388 enthält aber bereits zentrale Hinweise zur inhaltlichen Ausrichtung des Werkes. Zunächst ist festzuhalten, dass Seneca seine Diagnose der errores in der ersten Person Plural formuliert, wodurch impliziert wird, dass die im Folgenden beschriebenen Fehlhaltungen sich auch auf ihn und seinen Adressaten Aebutius Liberalis erstrecken – dass sie beide also ebenfalls zur großen Mehrheit der temere inconsulteque viventes gehören. Gleichwohl ist Seneca aber auch in der Lage, seine und die allgemein verbreiteten Fehler zu erklären und zu beurteilen (video, benef. 1,1,2: erste Person Singular).389 Außerdem wird durch die Formulierungen die Sprecherperspektive des Wohltäters angedeutet. Denn wenngleich Seneca, anders als Cicero, auch das Annehmen von Wohltaten in den Blick nimmt (nec dare scimus nec accipere),390 legt er seiner Darstellung doch selbstverständlich die Priorität des Gebens zugrunde und beschreibt dieses in der ersten Person Plural (querimur [nachdem wir gegeben haben und die Vergeltungsleistung ausbleibt], tribuamus, proiciamus, damus etc.) – aus dem Blickwinkel und an die Adresse der Gebenden

385 S.o., die Diskussion der Deutung Chaumartins von benef. 1,1,2. 386 „Viele erleben wir undankbar, mehr machen wir dazu…“ 387 „Die Dankbarkeit verderben wir ganz und gar, nicht nur, nachdem wir gegeben haben, sondern während wir geben.“ 388 Für Abel 1995, 43, reicht das Prooem bis benef. 1,4; diese Einteilung erscheint mir überzeugend (wenngleich sie, wie Abel ebd. referiert und Raccanelli 2009, 313, in ihrer Gliederung vorführt, nicht unstrittig ist), weil Seneca erst dort sein Anliegen definiert. In benef. 1,5,1 kündigt Seneca einen ersten Gliederungspunkt an: … hoc primum nobis esse discendum, quid accepto beneficio debeamus, an dieser Stelle muss das Prooem also beendet sein – wenngleich sich erst in benef. 1,6 die explizite Begriffsbestimmung des beneficium findet, welche für das Werk so grundlegend ist. Weil insgesamt bis benef. 1,10 eine Reihe solchermaßen zentraler Aussagen getroffen werden, ist in meiner Arbeit die Einteilung in dieser Form gewählt. 389 Hierzu auch Raccanelli 2009, 316, die in derselben Weise beobachtet, dass Seneca zugleich einer der im Irrtum Lebenden und der „maestro che spiega l’errore“ sei. Zu der Frage, ob jemand, der selbst kein Weiser ist, philosophische praecepta entwickeln kann, Vogt 2008a, 83: „The Stoics can present true claims without having either knowledge or wisdom. […] For the purpose of working with the conception of a perfect person (or soul, or agent) it does not matter that one is not such a person.“ 390 „Wir wissen weder zu geben noch anzunehmen.“

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also. Insofern als es hier um falsches Verhalten geht, beleuchtet Seneca insbesondere die Fehler auf Geberseite.391 Mit der Undankbarkeit wird an dieser Stelle – wie wir noch sehen werden – der Schlüsselbegriff des Werkes eingeführt.392 Die Undankbarkeit wird bemerkenswerterweise nicht allein als vitium des Empfängers beurteilt, sondern, wie bereits aus benef. 1,1,1 hervorgeht, auch durch Fehler beim Erweisen (nec dare scimus nec accipere) erklärt. Das heißt, dass der Empfänger sich aus mehreren Gründen (benef. 1,1,2) undankbar zeigen kann, ohne zwangsläufig immer derjenige zu sein, dessen Verhalten zu tadeln ist.393 Die eigene Verantwortung beim Erweisen von Wohltaten besteht zunächst darin, würdige Empfänger auszuwählen, die – ähnlich wie bei Cicero – aufgrund ihrer moralischen Qualifikation infrage kommen und die, wie Seneca weiter unten in benef. 1,10,5 ausführt, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht undankbar reagieren werden. Durch die Auswahl entsprechend geeigneter Adressaten kann man also eine Variante ausschließen (multos experimur ingratos, benef. 1,1,4), weswegen die eigene Wohltat gleichsam verloren geht. In diesem Zusammenhang ist ebenso wie bei Cicero vom Anlegen einer Wohltat die Rede (beneficium collocare, benef. 1,1,1); damit wird auf die Verpflichtung zur Überlegtheit beim Erweisen von Wohltaten hingewiesen. Neben der Achtsamkeit bei der Empfängerauswahl steht aber – anders als bei Cicero – die eigene Verpflichtung, die Undankbarkeit des anderen nicht durch das eigene Verhalten auszulösen und also die Dankbarkeit des Empfängers durch eigenes Verschulden zu korrumpieren (plures facimus [sc. ingratos], benef. 1,1,4). Diesen Gedanken erläutert Seneca durch mögliche Beispiele eigener Fehlhaltungen, deren gemeinsamer Nenner das Bemühen ist, Leistungen zu verzögern, um sie am liebsten überhaupt nicht erweisen zu müssen (indem man sich bitten lässt, sich beschäftigt oder abweisend gibt und dem anderen böswillig gegenüber tritt). Nemo autem libenter debet, quod non accepit, sed expressit,394 fasst Seneca den Beginn des Prooems in benef. 1,1,7 zusammen und macht damit deutlich, dass in einer solchen Situation gar nicht von beneficia accipere (benef. 1,1,1) die Rede sein könne und also der Empfänger aus der Pflicht entlassen wird, sich dankbar zu zeigen; hier handelt es sich um einen Fall von nec dare scimus (ebd.), wie auch aus dem Folgenden hervorgeht:

391 Dies beobachten auch Griffin 2013, 115 („emphasis on giving“; ähnlich bereits Griffin 2003, 105), und Inwood 1995, 263. 392 In diesem Sinne bemerkt Griffin 2013, 118, ganz ähnlich: „There is much justice to the idea that the main theme of the treatise is ingratitude.“ Vorher in derselben Weise bereits Inwood 1995, 263: „From the opening lines to the conclusion of book VII Seneca is persistently concerned with ingratitude and with the discouraging effect it has on the giving of benefits.“ 393 Hierzu Picone 2013, 22: „In sostanza, fin dal primo paragrafo del trattato, la pratica comune del beneficium è rappresentata come un sistema di interazione fra soggetti che danno e soggetti che ricevono: sistema che non può se non risultare instabile e compromesso dall’imperitia di entrambi gli interagenti.“ 394 „Niemand jedoch schuldet gerne das, was er nicht empfangen, sondern abgenötigt hat.“

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Gratus adversus eum esse quisquam potest, qui beneficium aut superbe abiecit aut iratus inpegit aut fatigatus, ut molestia careret, dedit (benef. 1,1,7)?395

Die Wohltat wird nicht erwiesen, sondern stolz, zornig oder in einer Haltung des Überdrusses hingeschleudert; dafür Dankbarkeit zu erwarten, beruhe auf einer Fehleinschätzung (errat, ebd.).396 Hier deutet sich an, dass für Seneca Wohltaten stets von zwei Faktoren bestimmt werden, dem der materiellen Leistung und dem der begleitenden Signale. Diese Signale sind, wie aus den Negativbeispielen hervorgeht, verbale oder nonverbale Manifestationen der zugrundeliegenden Haltung (animus).397 Von den Begleitsignalen hängt ab, ob Dankbarkeit eintreten kann: Wenn sie eine abweisende Einstellung verraten, wird nach Seneca eine korrelierende Haltung beim Empfänger verursacht, doch die so bewirkte Undankbarkeit ist dann nicht dem anzulasten, der sie an den Tag legt, sondern dem, der sie provoziert hat! Damit lässt sich sagen, dass der Erfolg einer Wohltat für Seneca maßgeblich von der Haltung auf Geberund Empfängerseite abhängt: Für den Empfänger gilt, dass er nicht undankbar sein, für den Gebenden, dass er durch das eigene Verhalten diese Undankbarkeit aber auch nicht hervorrufen darf. Die bisherigen Ausführungen beinhalten noch keine Aussage zum Anliegen des Werkes. Seneca kündigt nicht an, den richtigen Umgang mit Wohltaten zu erörtern und den temere inconsulteque viventes an die Hand zu geben; er führt nicht explizit aus, weswegen Undankbarkeit schwerwiegend und die Fähigkeit, Wohltaten zu erweisen und anzunehmen, wichtig – geschweige denn gemeinnützig – ist, doch von dieser Diagnose der Undankbarkeit, die zum Scheitern einer Wohltat führt und die durch Fehlverhalten auf Empfänger- und Geberseite erklärt wird, nehmen alle weiteren Überlegungen ihren Anfang. benef. 1,1,8–1,4,6 Zentral für die Herleitung der Undankbarkeit ist der eben skizzierte Grundgedanke, die Wohltat als Zusammenspiel von Gabe und Begleitsignal zu verstehen. Somit heißt es in benef. 1,1,8: Eodem animo beneficium debetur, quo datur, et ideo non est neglegenter dandum.398 Seneca unterstreicht die Bedeutung des animus, der 395 „Kann jemand dem dankbar sein, der eine Wohltat entweder hochmütig hingeworfen, zornig entgegengeschleudert oder, um nicht weiter belästigt zu werden, müde erwiesen hat?“ 396 Seneca meint, angesichts einer solchen Behandlung sei man schon hinreichend dankbar, wenn man dem anderen sein beneficium verzeihe (benef. 1,1,8). 397 In diesem Sinne schreibt Inwood 1995, 257 dass „the intention of the agent“ bei Seneca zentral sei. Diese Unterteilung in „the act of giving“ und „the content of the service“ bezeichnet Lentano 2014, 202, als „fundamental theoretical move“. Die Begleitsignale sind mimisch denkbar, wie die Wendungen frontem adduxit und voltum avertit aus benef. 1,1,4 anzeigen. Hierzu Picone 2013, 35. 398 „Eine Wohltat wird in derselben Haltung geschuldet, in der sie erwiesen wurde, und deswegen darf man nicht unbedacht geben.“

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Haltung also; mit der adverbiellen Hinzusetzung non neglegenter wird betont, dass es auf die rechte Art und Weise des Gebens ankommt. Was Seneca fordert, ist (e contrario, im verneinten Gerundivum) Sorgfalt – anders jedoch als bei Cicero nicht nur im Hinblick auf die Auswahl des Empfängers, sondern vor allem im Bezug auf die Begleitsignale der eigenen Wohltat. Man solle nicht tarde oder contumeliose (benef. 1,1,9) geben, auch nicht angesichts der turba ingratorum, die man selbst durch eigenes Verschulden mit vergrößere (ebd.). Es geht also darum, beim Geben eine wohlwollende Haltung zu kommunizieren (magni aestimetur dantis voluntas, benef.1,1,8).399 Durch entsprechendes Verhalten lässt sich, wie Seneca hiermit deutlich macht, der eigene Anteil an der Undankbarkeit des Empfängers steuern. Insofern als jedoch die Undankbarkeit tatsächlich auch eine Fehlhaltung auf Empfängerseite sein kann (vgl. benef. 1,1,4: multos experimur ingratos), stellt sich außerdem die Frage, wie man sich verhalten soll, wenn man sich selbst nichts vorwerfen kann und richtig erwiesene Wohltaten auf Undankbarkeit stoßen. Seneca verweist auf das Vorbild der Götter, die durch Ungläubige und Nachlässige (sacrilegi neglegentesque eorum) nicht von ihrer beständigen Güte (ab hac tam effusa nec cessante benignitate) abgebracht würden; sie folgten damit ihrem Wesen. Hos sequamur duces, quantum humana inbecillitas patitur (benef. 1,1,9),400 ermuntert Seneca im „nos inclusivo“401 zur imitatio Dei (ebd.).402 Auch wenn Dankbarkeit ausbleibe, gehöre es sich (decet), weiter Wohltaten zu erweisen (permanere in dandis beneficiis, benef. 1,1,10); dieses fortgesetzte Geben wird als Kennzeichen einer hohen Gesinnung (magni animi) und Tugendhaftigkeit (virtus, benef. 1,1,12) bezeichnet. Seneca ermutigt zum beständigen, wiederholten Geben: Qualiscumque priorum eventus est, persevera in alios conferre; melius apud ingratos iacebunt, quos aut pudor aut occasio aut imitatio aliquando gratos poterit efficere (benef. 1,2,4).403

Hier wie im Folgenden formuliert Seneca Imperative (persevera, ne cessaveris, perage, exequere, adiuva, ebd.). In dieser Handlungsanweisung ist – auf dem eben Gesagten aufbauend – zunächst implizit die Überlegung enthalten, dass fortgesetztes Geben um seiner selbst willen geschehen sollte, weil der Wohltäter so der eigenen Verpflichtung zum tugendhaften Handeln nachkommt (benef. 1,2,3: dedi, ut darem). Außerdem aber, und damit wird ein neuer, wichtiger Gedanke ins Spiel gebracht, hat fortgesetztes Geben für Seneca erzieherischen Charakter, weil der andere langfristig dankbar gemacht (efficere) werden soll. So wie in benef. 1,1,4 das eigene Verhalten das des anderen beeinflusst, ist dies auch hier der Fall, nur 399 Beleidigungen wiegen für Seneca auch deshalb so schwer, weil sie von Natur aus tiefer in die Seele eindringen als Ehrungen (benef. 1,1,8). 400 „Ihrer Führung wollen wir folgen, soweit es die menschliche Schwäche zulässt.“ 401 Raccanelli 2009, 316. 402 Griffin 2013, 26; Raccanelli 2009, 350. 403 „Wie auch immer das Ergebnis früherer Gaben ist, fahre fort, anderen etwas darzubringen; besser wird es bei Undankbaren liegen, die entweder die Scham oder die Gelegenheit oder die Nachahmung irgendwann dankbar machen kann.“

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zum positiven Effekt hin gewendet: Beständiges Geben (und zwar ohne verzögernde und beleidigende Begleitsignale) führt dazu, dass Undankbarkeit durch fortgesetzte Wohltaten besiegt (adsituitas tamen meriti pertinacis evincit, benef. 1,2,5) und selbst dem Hartherzigsten Dankbarkeit abgerungen wird (qui instat […] etiam ex duro et inmemori pectore gratiam extundit, benef. 1,3,1). Seneca beschließt die Überlegung mit der Aufforderung, den anderen mit Wohltaten gleichsam zu umzingeln: Non audebit adversus multa oculos adtollere; quocumque se convertit memoriam suam fugiens, ibi te videat: beneficium illum tuis cinge (benef. 1,3,1).404

Fortgesetzte beneficia gegen Undankbare werden mit kriegerischen Verben beschrieben;405 es ist die Rede von evincere, instare, extundere und cingere – am Ende geht die Tugend als Sieger hervor; der Undankbare wird zur Dankbarkeit erzogen. Dieser erzieherischen Wohltätigkeit liegt implizit die Annahme zugrunde, dass allen Menschen die Veranlagung zum Tugendhaften angeboren ist.406 Diese Annahme gründet in der stoischen Ethik: Wie oben ausgeführt, kann sich der Mensch jedoch für oder gegen seine naturgemäßen Anlagen entscheiden. Indem Seneca ein Schamgefühl beschreibt (pudor, benef. 1,2,4), das den Undankbaren angesichts seines eigenen, durch die Beständigkeit richtig erwiesener Wohltaten kontrastierten Fehlverhaltens allmählich überkommt, und daraufhin ein Umdenken prognostiziert, geht er von einer prinzipiellen Bereitschaft aus, den eigenen Anlagen gemäß zu leben, die durch das vor Augen gestellte Exemplum richtigen Verhaltens verstärkt wird, angesichts der eigenen Schwäche jedoch keinen Niederschlag im Handeln fand. Bereits hier deutet sich an, dass Seneca als die solchermaßen zur Dankbarkeit zu Erziehenden diejenigen sieht, die prinzipiell bereit sind, an ihrem eigenen Verhalten zu arbeiten, mögen sie auch zunächst hartnäckig in ihrer Undankbarkeit verharren.407 Daneben scheint es aber – wie aus der Formulierung non eligimus

404 „Er wird es nicht wagen, die Augen zu den vielen Dingen zu erheben; wohin er sich auch wendet, auf der Flucht vor seiner Erinnerung, wird er dich sehen: Umzingle ihn mit Wohltaten.“ Spannend ist auch der folgende Gedanke: Wer nicht gibt, nimmt die mögliche Undankbarkeit des anderen vorweg (qui non dat, vitium ingrati antecedit, benef. 1,1,13). Das heißt, er verfehlt sich an dessen Stelle. 405 Dieses kriegerische Bild wird auch in epist. 120,12 verwendet; hier bezogen auf den vir perfectus, der sich als Bürger des Kosmos sieht und die ihm vom Gott aufgetragenen labores als seine soldatische Aufgabe begreift. 406 Hierzu Setaioli 2014, 243: „Seneca is convinced that each man has been equipped by nature with the tools to attain wisdom.“ Er verweist u.a. auf Sen. epist. 76,10, wo die ratio als proprium des Menschen bestimmt wird, und epist. 92,27, wo sie bei den Göttern als ratio consummata, bei den Menschen als ratio consummabilis bezeichnet ist. 407 Dazu kommt an dieser Stelle ein weiterer Gedanke. In benef. 1,2,5 heißt es: Officia enim ferae sentiunt, nec ullum tam inmansuetum animal est, quod non cura mitiget et in amorem sui vertat. Selbst Tiere, die das Wesen einer Wohltat gar nicht verstehen könnten (extra intellectum), ließen sich durch beständige Fürsorge zähmen; implizit bedeutet dies, dass Menschen selbst bei mangelnder Einsicht durch fortgesetzte Wohltaten gleichermaßen gezähmt werden können, dass aber an sich der Mensch als animal rationale den Tieren weit voraus sein müsse: Wenn

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dignos in benef. 1,1,2 hervorgeht, auch Menschen zu geben, die als Empfänger von Wohltaten nicht infrage kommen und also – vor dem Hintergrund der Stoa – ihren Anlagen nicht zu folgen bereit sind. Belehrbar sind also, wie zu vermuten steht, nicht alle, wohl aber die meisten. Diese Überlegung wird, wie wir sehen werden, im späteren Werkverlauf explizit entwickelt. Weshalb es lohnt, hartnäckig, gleichsam kämpferisch dafür zu sorgen, dass der Empfänger seine undankbare Haltung ablegt, wird im Folgenden deutlich. Seneca kündigt an, das Wesen der Wohltat bestimmen zu wollen (er spricht von vis und proprietas) und beginnt zunächst mit der Allegorie vom Reigen der Grazien (benef. 1,3,2).408 Wenngleich er diese leicht abfällig als typisch griechisch bezeichnet (benef. 1,3,6),409 ist sie doch zentral für De beneficiis: In der Allegorie werden drei heitere junge Mädchen (ridentes et iuvenes et virgines, benef. 1,3,2) beschrieben,410 die einander an den Händen hielten und die Handlungen vollzögen, die in den Zusammenhang einer Wohltat gehörten (ebd.): volunt unam esse, quae det beneficium, alteram, quae accipiat, tertiam, quae reddat (benef. 1,3,3).411 Geben, Annehmen und Vergelten werden im Werk (zunächst benef. 1,11-3,5) nacheinander behandelt; die Allegorie fasst also zunächst grob die Werkstruktur zusammen.412 Entscheidend ist die symbolische Bedeutung des Bildes, insofern als sich darin veranschaulicht findet, dass diese Handlungen beständig ineinandergreifen sollten:

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selbst diese sich instinktiv (sentiunt) für Fürsorge erkenntlich zeigten, dann der Mensch kraft seiner Anlagen doch aufgrund vernünftiger Reflexion. Zur tierischen „Instinktlehre“ Bees 2004, 92. Als Göttinnen stehen die Chariten sinnbildlich für Anmut, Talent und Schönheit; dieser Wortsinn findet sich in der lateinischen gratia wie auch in der verdeutschten Grazie. Zu den Chariten kurz Wagner-Hasel 2000, 131–133. Die Annahme der Dreizahl hat sich offenbar erst allmählich im Kult verfestigt. Er formuliert in benef. 1,3,6: Sit aliquis usque eo Graecis emancipatus, ut haec dicat necessaria. Eine allzu ausführliche Auseinandersetzung damit tadelt er jedoch ebd., 1,3,8. In De beneficiis ist die Tendenz zu beobachten, römische, lebenspraktisch ausgerichtete Philosophie gegenüber der griechischen, theoretischen hervorzuheben. Hierzu auch Griffin 2013, 179, die u.a. anmerkt: „According to Seneca, the Stoics were free to criticize their founders without becoming inorthodox.“ Für eine Deutung der Attribute der Grazien Picone 2013, 71: „… le Grazie hanno il volto gioioso del donatore e del donatario, sono giovani, perché il ricordo dei benefici non deve invecchiare, sono vergini perché i benefici sono integri, interi e sacri per tutti….“ Nachdem zuvor nur vom Geben und Annehmen die Rede war, wird nun mit dem Vergelten ein dritter Schritt in der Abfolge wohltätigen Handelns separat angeführt, der jedoch, wie etwa aus benef. 1,1,1 hervorgeht (de quibus non redditis sero querimur) an sich Bestandteil des Annehmens ist. Ohnehin bildet die Allegorie der drei Grazien nicht die reale Konstellation von Wohltäter und Empfänger ab, in deren Rahmen letzterem Annahme und Vergeltung der Wohltat zukommen. Der Reigen der Grazien verdeutlicht jedoch schön, dass im rechten Annehmen einer Wohltat die Vergeltung nicht zugleich enthalten ist (s.u. ab S. 142). „… sie wollen, dass es eine gibt, welche die Wohltat erweist, eine zweite, welche sie empfängt und eine dritte, welche sie vergilt.“ Hierzu Abel 1995, 66: „Organisierende Kraft ist Chrysipps Grazienallegorie (1,3,2ff.). Sie beherrscht den Vorderteil praktisch ausschließlich und gibt ihm ein hohes Maß an Kompaktheit.“

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Ordo beneficii per manus transeuntis nihilo minus ad dantem revertitur et totius speciem perdit, si usquam interruptus est, pulcherrimus, si cohaeret interim et vices servat (benef. 1,3,4).413

Es geht darum, in einem Aufeinanderfolgen des Gebens, Annehmens und Vergeltens für einen Kreislauf zu sorgen, dessen Fortsetzung als pulcherrimus bezeichnet wird, wohingegen bei einer Unterbrechung alle Schönheit verloren gehe (speciem perdit).414 Vor diesem Hintergrund lässt sich vermuten, dass beständige Wohltaten gegen hartnäckige Undankbare neben der Erprobung der eigenen Tugend dazu dienen, sie zur Teilnahme am Kreislauf ineinandergreifender Handlungen zu bewegen, der als wunderschön dargestellt wird.415 Wie sich mithilfe der vorherigen Ausführungen ergänzen lässt, gelingen diese ineinandergreifenden Handlungen, wenn jeder der Partner eine angemessene Haltung an den Tag legt und also Dankbarkeit zeigt bzw. beim anderen möglich macht. Dass der im Reigen der Grazien versinnbildlichte Kreislauf für das gemeinschaftliche Miteinander steht, zeigt sich nach der Schilderung der Allegorie in benef. 1,4,2f., wo es programmatisch heißt: De beneficiis dicendum est et ordinanda res, quae maxime humanam societatem adligat; danda lex vitae […], docendi sunt libenter dare, libenter accipere, libenter reddere.416

Seneca kündigt eine systematische (ordinare) Behandlung der Wohltat an, die er als in höchster Weise gemeinschaftsbindend bestimmt. In diesem Zusammenhang sei – auch wenn damit die am Textverlauf orientierte Untersuchung kurz unterbrochen ist – die prägnante Formulierung aus benef. 5,11,5 zitiert, wo Wohltaten als socialis res bezeichnet werden.417 Diese soziale Funktion von Wohltaten ist, wie Griffin zutreffend beschreibt, für Seneca die entscheidende: „The bond between humans created by beneficence is the whole raison d’être for the practice.“418 Mit

413 „… die Abfolge der Wohltat, die von Hand zu Hand geht, kehrt dennoch zum Gebenden zurück; sie verliert jede Schönheit, wenn sie irgendwo unterbrochen wird; wunderschön ist sie, wenn sie verbunden bleibt und die Reihenfolge einhält.“ 414 Picone 2013, 74, spricht hier von einer „visione sistematica del beneficium“. 415 Mit diesem Verweis auf die Schönheit ineinandergreifender Wohltaten ist zumindest implizit darauf angespielt, dass sie um ihrer Tugendhaftigkeit willen anzustreben ist. Hierzu Griffin 2013, 243: „With pulchrum, Seneca recalls the Greek term kalon for morally good.“ Vgl. ferner Inwood 1995, 263. 416 „Von Wohltaten soll die Rede sein; es ist die Sache der Reihe nach zu erörtern, welche die menschliche Gemeinschaft am meisten zusammenhält; dem Leben ist ein Gesetz zu geben […]; die Menschen sind zu lehren, gern zu geben, gern zu empfangen und gern zu vergelten.“ 417 Diese Bemerkung steht im Zusammenhang mit der Überlegung, ob man sich selbst beneficia erweisen könne (benef. 5,7,6), was Seneca verneint: Es handle sich um Selbstfürsorge, bei der man naturae suae paret (benef. 5,9,1), also seinen Instinkten folge: Beneficium res voluntaria est, at prodesse sibi necessarium est (benef. 5,9,2). 418 Griffin 2013, 272. Außerdem ebd. 25: „Seneca’s teaching derives, above all, from his belief that the exchange of benefits is vital to social cohesion.“ Ähnlich Abel 1995, 61. Außerdem bereits Préchac 1926, XXVIIf.: „La théorie des bienfaits passait aux yeux de Sénèque pour la maîtresse pièce de l’éthique, parce que l’échange des bienfaits lui semblait proprement fonder l’ordre social.“

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der Untersuchung der beneficia will Seneca nicht weniger als ein Gesetz des Lebens formulieren, welches – anders als griechische Philosophie, die er als allzu theoretisch verurteilt – praktisch ausgerichtet sein soll.419 Den Begriff der lex vitae verwendet Seneca auch in den Episteln. In epist. 94,39 bezeichnet er die Philosophie (näherhin Ethik) als Gesetz des Lebens; in epist. 108,6 tadelt er diejenigen, die kein echtes Interesse an philosophischen Themen haben und denen nicht daran gelegen ist, ihre vitia abzulegen oder eine lex vitae für sich anzunehmen. Die lex vitae dient als Richtschnur der Lebensführung und beinhaltet Regeln richtigen Gebens, Nehmens und Vergeltens. Deren Beachtung ermöglicht gelingendes wohltätiges Handeln, welches wiederum als in höchster Weise gemeinschaftsstiftend gilt (maxime humanam societatem adligat). 420 Damit Wohltaten eine solche Funktion übernehmen können, muss insbesondere eine bereitwillige Haltung aufseiten des Gebenden wie des Empfangenden eingeübt werden (docendi sunt).421 Das heißt nun: Wer lernt, gern zu handeln (libenter dare, libenter accipere, libenter reddere), trägt zugleich dazu bei, dass Gemeinschaft gedeiht. Die Anleitung richtigen Gebens, Empfangens und Vergeltens, die in der Richtschnur der lex vitae enthalten ist, kann nach der Anfangsdiagnose der verbreiteten Unfähigkeit, sich dahingehend richtig zu verhalten, als Therapie der Fehlhaltungen gelten.422 Insofern als in der Therapie Handlungsanweisungen für den Wohltäter und den Empfänger formuliert werden, setzt sie beim Einzelnen an; ihr Ziel besteht darin: ingenia sanare et fidem in rebus humanis retinere, memoriam officiorum incidere (benef. 1,4,6).423 Indem der Einzelne therapiert wird, kann das Miteinander gelingen; die Regeln rechten Gebens, Empfangens und Vergeltens dienen also über die Unterweisung des Einzelnen der gesamten Gemeinschaft. Das heißt, wenngleich Senecas Anweisungen also auf den Einzelnen beschränkt bleiben, lässt sich angesichts der lex vitae, die im Zusammenhang mit der Bedeutung von Wohltaten

419 Während im Reigen der Grazien Chrysipp Scharfsinn (suptile acumen et in imam penetrans veritatem, benef. 1,3,8) zugesprochen wird, bescheinigt Seneca ihm hier das Gegenteil (acumen nimis tenue, benef. 1,4,1). 420 Indem die Anleitung zu den in höchster Weise gemeinnützigen Wohltaten als Gesetz des Lebens bezeichnet wird, ist zugleich zu vermuten, dass sie dem Menschen lebensnotwendig sind und er auf gelingendes Miteinander angewiesen ist (lex vitae). Die herausgehobene Bedeutung der Wohltat unter den möglichen Themen philosophischer Ethik zeigt sich etwa auch in epist. 73,9: Hoc docet philosophia praecipue, bene debere beneficia, bene solvere. 421 Das Gesetz soll, wie Seneca noch gesondert anführt (obwohl es Teil der Trias dare, accipere, reddere ist), davor bewahren, die Vergeltungspflicht in der Erörterung des beneficium aufzuheben, was in Senecas Augen verderbenbringend wäre (benef. 1,4,6). Er spricht vom Anlegen neuer Schuldbücher (wodurch alte Schulden getilgt würden) und greift damit auf Vokabular der Handelssprache zurück. Hierzu Griffin 2013, 181: „He implies that the elimination of the obligation to return benefits would be as big a moral disaster as the elimination of the obligation to return debts would be a financial disaster.“ 422 Griffin 2003, 90. 423 „… die Menschen in ihrem Wesen zu heilen und das Vertrauen in die menschlichen Angelegenheiten zu bewahren, die Erinnerung an Pflichten zu verankern.“

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für die Gemeinschaft formuliert wird, der gesamtgemeinschaftliche Ertrag stets mitdenken. In welche Richtung die Therapie des Einzelnen geht, hat sich in den besprochenen Handlungsanweisungen aus benef. 1,1,8-1,3,1 gezeigt, in denen die Einübung einer wohlwollenden Haltung im Handeln angemahnt wird, welche es möglich macht, den Kreislauf des Gebens, Empfangens und Vergeltens fortzusetzen (vgl. auch das dreifach wiederholte libenter in benef. 1,4,3): Wer dieser Anweisung folgt, erreicht, dass eine Wohltat nicht durch sein eigenes Verschulden scheitert. Außerdem beschreibt Seneca die erzieherische Aufgabe von Wohltaten, mit deren Hilfe sich die Zahl der Undankbaren verringern lässt. Durch derart beharrliches Geben wird der andere dankbar gemacht und damit nicht eigenes, sondern fremdes Fehlverhalten ausgeräumt, welches erfolgreichem wohltätigen Handeln ebenfalls entgegensteht. Die Therapie basiert dabei auf zwei Prämissen: zum einen (wie bereits skizziert), dass eine Einübung des Richtigen aufgrund der in jedem Menschen grundsätzlich angelegten Disposition zur Tugendhaftigkeit möglich ist, und zum anderen, was bereits in benef. 1,1,8 deutlich wurde, dass Wohltaten stets von zwei Faktoren bestimmt werden, dem der gegebenen Sache und dem der Haltung des Gebenden, die sich in begleitenden Signalen manifestiert und auf die es für gelingende Wohltaten ankommt.424 benef. 1,5,2–1,7,3 In der Definition des beneficium ab benef. 1,5,2 zeigt sich, dass Seneca an sich sogar nur die Haltung des Wohltäters als Wohltat versteht und die gegebene Sache davon trennt: Non potest beneficium manu tangi: res animo geritur. Multum interest inter materiam beneficii et beneficium (benef. 1,5,2).425

Die gegebene Sache wird als materia beneficii bezeichnet; die tatsächliche Wohltat liege allein im Willen des Gebenden (ipsa tribuentis voluntas, ebd.).426 Nur imperiti hielten die sichtbare, greifbare Sache für die Wohltat, doch:

424 Wie Griffin 2013, 20, anmerkt, findet sich diese Überlegung bereits bei Chrysipp. 425 „Eine Wohltat kann man nicht mit Händen berühren: Die Sache wird durch die Haltung ausgeführt. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Gegenstand einer Wohltat und der Wohltat selbst.“ 426 Seneca bezeichnet das beneficium in diesem Sinne auch als incorporale (benef. 6,2,2 – im Zusammenhang mit der Frage, ob ein beneficium weggenommen werden könne; verlieren könne man nur das Materielle, Greifbare, das incorporale hingegen nicht); wie Abel 1995, 52, ausführt, gebrauche Seneca als erster „diesen philosophischen Kunstausdruck“.

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Seneca Omnia itaque, quae falsum beneficii nomen usurpant, ministeria sunt, per quae se voluntas amica explicat (benef. 1,5,5).427

In dieser Begriffsbestimmung des beneficium ist zugleich der Unterschied zum creditum fassbar, der im gesamten Werk immer wieder stark gemacht wird, meistens in Verbindung mit einer Kritik daran, beneficia wie credita zu behandeln. Erstmals lässt sich diese Kritik bereits in benef. 1,1,2 fassen, wo Seneca schreibt, dass die Prüfung eines künftigen Schuldners sorgfältig ausfalle, Wohltaten hingegen wahllos hingeworfen würden. Wenngleich Seneca das vertraglich geregelte Gewähren von Krediten, wo allein der Inhalt des Gegebenen eine Rolle spielt, von Wohltaten trennt, deren Wesen ihm zufolge gerade nicht im Gabeinhalt zu sehen ist, vermischt er in der Wortverwendung dennoch beides miteinander und zieht in der Beschreibung wohltätigen Handelns häufig Vokabeln der Finanz- und Handelssprache heran – entgegen der in epist. 81,9f. selbst formulierten Mahnung, sich davor zu hüten.428 Zur Veranschaulichung der Begriffsbestimmung des beneficium als voluntas, nicht als res zieht Seneca Beispiele von Insignien heran, die in derselben Weise nicht selbst honor, sondern äußere Zeichen der Ehre (benef. 1,5,6) seien. Auf der Grundlage dieser Trennung zwischen dem beneficium und dessen vestigium et nota (ebd.) ergibt sich folgende Definition:429 Quid est ergo beneficium? Benivola actio tribuens gaudium capiensque tribuendo in id, quod facit prona et sponte sua parata. Itaque non, quid fiat aut quid detur, refert, sed qua mente, quia

427 „All diese Dinge, die fälschlich den Namen ‚Wohltat‘ beanspruchen, sind Dienstleistungen, durch die sich eine freundliche Absicht äußert.“ Diese Begriffsbestimmung des beneficium steht im Zusammenhang mit der Frage, quid accepto beneficio debeamus, die Seneca als erste behandelt, bevor ab benef. 1,11,1 der im Reigen der Grazien angedeutete Untersuchungsgang befolgt wird, in dem Geben, Annehmen und Vergelten systematisch nacheinander besprochen werden. Weshalb dem zweiten Teil, dem Annehmen, hier vorgegriffen wird, erschließt sich aus dem Text nicht. Seneca weist in benef. 1,5 darauf hin, dass die empfangene Wohltat nicht in Geld, einem Amt oder einer Provinz bestehe (Nebenbemerkung: derartige Gaben zu erweisen, stand nur den Reichsten und Mächtigsten frei; die Beispiele geben wiederum Hinweise darauf, aus welcher Perspektive Seneca schreibt und welche Schicht mit dem Werk angesprochen werden sollte), sondern im Willen des Wohltäters. Aufgrund der Überlegung aus benef. 1,1,8 wäre nun zunächst zu sagen, dass die Wohltat in derselben Haltung wie der des Gebenden geschuldet werden muss. Dies ergibt sich implizit aus der Begriffsbestimmung des beneficium, eine explizite Antwort auf die Frage, was man für eine empfangene Wohltat schuldet, findet sich an der Stelle jedoch nicht. 428 Hier nur einige Beispiele aus dem ersten Kapitel des Prooems: Sequitur enim, ut male conlocata male debeantur (benef.1,1,1); graves exprobatores exactoresque sumus (benef. 1,1,4); demus, non feneremus (benef. 1,1,9); hoc et magni animi et boni proprium est, non fructum beneficiorum sequi (1,1,12). In benef. 4,12,1 räumt Seneca ein, dass manchmal der Rekurs auf Vokabeln der Finanzsprache der Veranschaulichung diene (imagine et translatione utimur); zur Unterscheidung von creditum und beneficium im Werk Griffin 2013, 39f. 429 Die Definition ist, wie zuletzt Picone 2013, 109, hervorhebt, „di radicale importanza per l’intero trattato“.

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beneficium non in eo, quod fit aut datur, consistit, sed in ipso dantis aut facientis animo (benef. 1,6,1).430

Was eine Wohltat ausmache, sei – wie bereits das dreifache libenter in benef. 1,4,3 andeutet – die Haltung des Gebenden, die von Bereitschaft, Wohlwollen und Freude gekennzeichnet sein sollte. In der Definition ist damit zugleich beschrieben, was die richtige Haltung des Wohltäters kennzeichnet.431 Die Begriffsbestimmung wurzelt in der stoischen Ethik, nach der allein das Tugendhafte als bonum angesehen wird und äußere Güter den Status von adiaphora haben.432 In diesem Sinne erklärt Seneca seinem Adressaten in benef. 1,6,2, quod beneficium utique bonum est, id autem, quod fit aut datur, nec bonum nec malum est.433 In dieser Gleichsetzung der Wohltat mit dem bonum ist sie ein katorthoma, „a virtuous act done from a fully and permanently virtuous state of mind, such as only the Sage possesses“.434 Hierzu finden sich weitere Erläuterungen im fünften Buch De beneficiis, die aufgrund ihrer thematischen Nähe an dieser Stelle angeführt werden sollen. Wie es dort heißt, seien Nicht-Weise nicht in der Lage, wahrhaft gut, das heißt tugendhaft zu handeln: Unum est aput nos bonum, honestum. Id pervenire ad malum non potest; desinet enim malus esse, si ad illum virtus intraverit; quam diu autem malus est, nemo illi dare beneficium potest (benef. 5,12,5).435

Einem Nicht-Weisen (hier als malus bezeichnet)436 kann keine Wohltat erwiesen werden, umgekehrt kann er auch selbst keine erweisen (benef. 5,12,7), doch wenngleich er aufgrund fehlender Tugendhaftigkeit nicht fähig ist, die Geisteshaltung des Weisen einzunehmen, kann er doch beneficiis similia leisten (benef. 5,13,1): Solange er die Güter der Seele nicht als alleinige bona erkennt, misst er den gegebenen Sachen (corporis/fortunae bona) einen Wert zu, den sie eigentlich nicht

430 „Was also ist eine Wohltat? Eine wohlwollende Handlung, die Freude schenkt und im Schenken selbst empfindet; geneigt und aus eigenem Antrieb bereit zu dem, was sie leistet. Daher kommt es nicht darauf an, was geschieht oder was gegeben wird, sondern in welcher Gesinnung, weil eine Wohltat nicht in dem besteht, was geschieht oder gegeben wird, sondern allein in der Haltung des Gebenden oder Handelnden.“ 431 Picone 2013, 108, spricht im Zusammenhang mit diesem Abschnitt von einer „natura eminente relazionale“ des beneficium und einem „valore di legame intersoggettivo“. Ebd. 110, geht er kurz auf die Implikationen von gaudium ein: „… la nozione di gaudium implica un piacere derivante dalla coscienza di aver agito in modo virtuoso.“ 432 Dies hält auch Picone 2013, 112, fest. 433 „… dass eine Wohltat jedenfalls ein Gut, das jedoch, was geschieht oder gegeben wird, weder ein Gut noch ein Übel ist.“ 434 Griffin 2013, 181. 435 „Ein einziges Gut gibt es bei uns, die Tugend. Dieses kann nicht zum schlechten Menschen gelangen; er hört nämlich auf, schlecht zu sein, wenn die Tugend in ihn eindringt. Solange er aber schlecht ist, kann niemand ihm eine Wohltat erweisen.“ Ähnlich benef. 7,2,2: Sciat nec malum esse ullum nisi turpe nec bonum nisi honestum. 436 Griffin 2013, 273: „The homo malus is here, according to strict Stoic usage, anyone but the Sage.“

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haben. Er ist, da er solcherlei (willkommene adiaphora) annehmen kann, zu deren Vergeltung verpflichtet (ebd.) – und muss also die oben skizzierten Handlungsanweisungen zur Vorbeugung von Undankbarkeit befolgen.437 Insgesamt solle man sich über die Unvollkommenen auch nicht ärgern, denn unvollkommen seien letztlich alle (Sed non est, quod irascaris; ignosce illis, omnes insaniunt; benef. 5,17,3).438 Somit stehen letztlich diese beneficiis similia, bei denen die gegebene Sache einen relativen Wert hat, im Zentrum von De beneficiis, denn wie bereits aus dem Beginn des Prooems hervorging, richtet Seneca seine Ausführungen an temere inconsulteque viventes (benef. 1,1,1), die mit den imperiti aus benef. 1,5,5 und den mali aus benef. 5,12,5 identisch sein dürften.439 Seneca wendet sich mit seinen Handlungsanweisungen an Nicht-Weise, die den Willen haben (volentibus; vgl. benef. 1,5,2: voluntas), die eigene Tugendhaftigkeit auszubilden, dabei aber auch immer wieder straucheln.440 Entscheidend ist der

437 Hierzu Inwood 1995, 257: „The non-sage can at least repay in kind and deal socially with his fellow citizens.in the terms, inaccurate as they may be, which are current. “ 438 In benef. 7,17,1 heißt es: Duo sunt beneficia: unum, quod dare nisi sapiens sapienti non potest; hoc est absolutum et verum beneficium; alterum vulgare, plebeium, cuius inter nos inperitos commercium est. Auch hier unterscheidet Seneca faktisch in katorthomata und kathekonta; während erstere nur dem Weisen möglich sind, können letztere prinzipiell allen gelingen. Der Unterteilung im siebten Buch liegt jedoch – anders als in 5,12ff. – ein weites Begriffsverständnis von beneficium zugrunde; auch die Leistungen unter imperiti, die dort als beneficiis similia bezeichnet wurden, sind hier beneficia, wenngleich vulgaria. Es ist zu beobachten, dass Seneca im gesamten Werk bald den engen Begriff des beneficium (nur animus, nur für den Weisen möglich), bald den weiten (auch res, für alle möglich) verwendet. Hierzu etwa Griffin 2013, 181: „Throughout the work, Seneca himself often uses beneficium in the ‚wrong‘ sense.“ Vgl. auch benef. 2,34,5, wo Seneca darauf hinweist, dass aufgrund der Begrenztheit sprachlichen Ausdrucks auch die gegebene Sache als beneficium bezeichnet werde. 439 Vgl. auch benef. 2,18,4; s.o. Anm. 442 und 449. Dies beobachtet u.a auch Griffin 2013, 130. Ähnlich bereits Préchac 1926, IV. 440 Picone 2013, 97, stellt heraus: „Il concetto di voluntas è di fondamentale importanza in tutta l’opera filosofica di Seneca; ancor più, nel trattato de beneficiis, il beneficio stesso viene a coincidere con la tribuentis voluntas.“ Hinter voluntas verbirgt sich nach Bees 2004, 285, die vernunftgemäße Bejahung der oikeia, der Wille also, die naturgemäßen Anlagen bewusst auszubilden. Hierzu Bobzien 1998, passim. Setaioli 2014, 285 (im Bezug auf Bobzien 1998, Inwood 1985 und Wildberger 2006), formuliert kurz: „What Chrysippus was apparently preoccupied with was […] reconciling determinism with moral responsibility“, indem Freiheit als Gehorsam gegen Gott gefasst würde. Ebd., 288, heißt es: „We have seen how the Stoics – and Seneca – saved moral responsibility: though we act according to our nature, we are ourselves the cause of our action: the good man is not forced to act well by an exterior force, but, to borrow Seneca’s words, ipse se cogit.“ Weiter ebd., 297. Zum Begriff voluntas bei Seneca ebd., 295; vorher auch Dihle 1985, 151f. Ferner Voelke 1973, 198: „Sénèque tend à faire de la volonté l’élément déterminant de la moralité.“, sowie ebd. 200f., wo er darauf verweist, dass nach Seneca diese voluntas, kraft derer der Mensch sittlich vorankommen kann, stets auf dem Naturgemäßen basiere. Für einen Überblick über die Forschung zu Senecas Begriffsverwendung und -verständnis Inwood 2008, 117f. Eine Auseinandersetzung mit Inwood findet sich bei Fuhrer 2010, bes. 69–72.

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Wille, sich anzustrengen und weiter zu entwickeln: Diesen Gedanken veranschaulicht Seneca im Anschluss an die lex vitae mit dem Bild einer honesta contentio, eines Wettstreites von Wohltaten, in dem es darauf ankommt, eos, quibus obligati sunt, re animoque non tantum aequare, sed vincere (benef. 1,4,3f.).441 Insbesondere die Ermunterung, durch die Hochherzigkeit der eigenen Gesinnung den Partner zu übertreffen, spielt im späteren Verlauf des Werkes noch eine wichtige Rolle. Durch die Unterteilung des beneficium in voluntas und materia, wobei für die Stoiker nur in der voluntas die Wohltat liegt, wird dem Nicht-Weisen der Weg angezeigt, worauf es beim Wohltun ankommt: auf die eigene Haltung. Nur an die Adresse des imperitus haben die Handlungsanweisungen aus benef. 1,1,8–1,3,1 Sinn: Anders als der Weise, der sittlich gefestigt alles in der rechten Haltung tut,442 muss der imperitus sich bei jeder Wohltat erneut darum bemühen, die eigene Gabe nicht durch falsche Begleitsignale zu korrumpieren; ihm muss eindringlich erklärt werden, dass das eigentliche beneficium die innere Einstellung ist liegt.443 Dies geschieht z.B. in benef. 1,7,1, im unmittelbaren Anschluss an die Begriffsbestimmung der Wohltat: Si beneficia in rebus, non in ipsa bene faciendi voluntate consisterent, eo maiora essent, quo maiora sunt, quae accipimus.444

Dies sei falsch; manchmal verpflichte uns derjenige in höherem Maße, der Kleines gern, als ein anderer, der zwar Großes, aber unwillig gegeben habe (quae danti aut extorquentur aut excidunt, benef. 1,7,2; dubitavit, distulit, superbe dedit, circumtulit, benef. 1,7,3 – vgl. benef. 1,1,5–1,1,7).445 441 „… diejenigen, denen wir verpflichtet sind, im Gegenstand und der Haltung nicht nur einzuholen, sondern zu übertreffen.“ 442 S.o. S. 24f. Folgende Haltung macht Weise aus: … animum in potestate habent et legem sibi, quam volunt, dicunt, quam dixerunt, servant (benef. 2,18,4). Ferner benef. 4,34,4. Außerdem auch Abel 1995, 54; prägnant ferner Inwood 1995, 253: „What the sage has that ordinary people lack is the knowledge of the true value of things and the ability to make reliable assessments of a wide variety of relevant particular factors.“ Brennan 2003, 274, führt weiterhin aus, dass der Weise, weil er „a stable and unshakeable knowledge“ dessen habe, was zu tun sei, stets auf der Basis einer festen, unbeirrbaren voluntas handle. Vgl. auch epist. 20,5; ebd. 20,6 wird ausgeführt, dass demgegenüber die Nicht-Weisen nicht wüssten, was sie wollen, weil ihnen hierüber die festen Grundsätze fehlten. Hierzu Fuhrer 2010, 74. Zum Begriff des Willens in der Stoa Frede 2011, 66–88, sowie Wildberger 2006, 338–341. Ebd. 339, betont sie, es komme für den Menschen darauf an richtiges Wollen zu lernen. 443 Picone 2013, 112,, nennt „interiorità“ und „intenzionalità“ als die Hauptkonstituenten des beneficium. In diesem Sinne auch Inwood 1995, 257. 444 „Wenn Wohltaten in den Gegenständen und nicht allein im Willen, gut zu handeln, bestünden, wären sie umso größer, je größer das wäre, was wir empfangen.“ 445 Die Formulierung magis nos obligat aus benef. 1,7,1 steht im Kontext der Frage aus benef. 1,5,1, was der Empfänger für eine Wohltat schulde. Picone 2013, 120, beobachtet für den Abschnitt benef. 1,7 Folgendes: „Tutta la struttura della sezione è costruita sul piano dell’inversione. Seneca opera infatti un ribaltamento di ruoli e valori che coinvolge da un lato le figure dei benefattori e dei beneficati, dall’altro l’oggetto stesso del beneficio.“ Picone macht ebd., 120f., außerdem eine „assoluta primarietà del dare“ aus: „È infatti agli atteggiamenti corretti

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benef. 1,9,3–1,10,4 Ab benef. 1,9,3 beurteilt Seneca seine Zeit, die insbesondere von einer allgemeinen sittlichen Verderbtheit gekennzeichnet sei.446 In benef. 1,10,1 fasst er zusammen: Hoc maiores nostri questi sunt, hoc nos querimur, hoc posteri nostri querentur, eversos mores, regnare nequitiam, in deterius res humanas et omne fas labi; at ista eodem stant loco stabuntque paulum dumtaxat ultra et citra mota.447

Seinen Ausführungen liegt nicht die Vorstellung fortschreitender Dekadenz (wie etwa bei Cicero) zugrunde, sondern die Überlegung, dass nur Unterschiede hinsichtlich der vorrangigen Fehlhaltungen einer Zeit bestünden,448 grundsätzlich die Sitten der Menschen zu einem bestimmten Punkt der Geschichte nicht insgesamt schlechter seien als zu einem anderen (benef. 1,10,3); er schreibt: malos esse nos, malos fuisse, invitus adiciam, et futuros esse (ebd.).449 Seneca zeichnet nicht eigentlich das Bild einer Krise des Gemeinwesens, insofern als der gegenwärtige

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del donatore che Seneca assegna il compito (e la responsabilità) di disegnare in modo appropriato confini e spazio della beneficentia. In essa, infatti, a costituire elemento discriminante non è la quantità o il valore in sé dell’oggetto e della prestazione messa in circolo, ma la capacità di attivare un’obligatio, una forma di legame reciproco.“ Zur Beurteilung dieser Zeit als Krise Hénaff 2014, 16; zur Passage Picone 2013, 140–144. Ebd. 143, heißt es zusammenfassend: „Seneca è consapevole di vivere in un’epoca di generalizzata crisi dei valori, che produce una sorta di implosione della civiltà romana.“ „Dies haben unsere Vorfahren beklagt, dies beklagen wir, und dies werden unsere Nachkommen beklagen: Dass die Sitten verdorben seien, die Nichtsnutzigkeit herrscht, die menschlichen Angelegenheiten und alles Pflichtgemäße dem Untergang nahe sind; doch sie stehen am selben Platz und werden dort stehen bleiben, lediglich etwas hin und her bewegt.“ Für seine Zeit diagnostiziert Seneca v.a. Ehebruch und Habsucht (benef. 1,9,3–5). „Wir sind schlecht, wir waren schlecht und, das füge ich ungern hinzu, wir werden schlecht sein.“ Vgl. dial. 5,22,2 f., wo Seneca dem Menschen dieselbe caligo mentis bescheinigt wie Tieren und empfiehlt, dem Versprechen „Iterum non faciam!“ keinen Glauben zu schenken; wer dies sage, werde dennoch wieder in derselben Weise falsch handeln. Hierzu auch Griffin 2013, 183. Chaumartin 1985, 57, merkt an, dass Senecas Pessimismus sich verschieden manifestiere: „Tantôt il affirme comme ici la permanence du mal en l'homme, tantôt il considère que la corruption de la race humaine s’est aggravée avec le temps.“ Für letztgenannte Vorstellung führt er epist. 90 und 95 an. Picone 2013, 153, beobachtet eine „discontinuità paradossale fra riconoscimento della perennità del male e possibilità di intervento per il risanamento morale della società attraverso una corretta pratica del beneficio.“ Außerdem Abel 1995, 44, Anm. 16, der die Überlegung, an der generellen Lasterhaftigkeit ändere sich auf Dauer nichts, für eine „offensichtliche Übersteigerung“ hält, „die, nähme man sie ernst, Senecas Buch überflüssig machen würde.“ Meiner Ansicht nach ist die Bemerkung nicht als grundsätzliche Skepsis am Erfolg jeder Unterweisung zu verstehen, sondern als Zweifel an der Möglichkeit, zum stoischen Weisen zu werden (zur Unerreichbarkeit dieses Ideals epist. 42,1: Scis quem nunc virum bonum dicam? Huius secundae notae, nam ille alter [der stoische Weise] fortasse tamquam phoenix semel anno quingentesimo nascitur.) Dass der Weg zu diesem Ideal hin eingeschlagen werden sollte, steht dennoch außer Frage; bei aller Fehlerhaftigkeit kommt es Seneca auf das Wollen an (vgl. benef. 2,18,4), das zwar aus einem schlechten Menschen (also einem imperitus) noch keinen Weisen macht, aber zumindest einen proficiens (benef. 7,2,1; vgl. auch epist. 109,15).

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Gesamtzustand der res humanae im historischen Vergleich kaum anders beurteilt wird als der anderer Epochen. Er entwirft das Szenario allgemeiner Schlechtigkeit. Malus ist hier und in benef. 5,12,5 synonym zu imperitus aus benef. 1,5,5; bezeichnet sind die temere inconsulteque viventes (benef. 1,1,1; ähnlich benef. 2,18,4: imperfecti homines), die nicht imstande sind, ihr Handeln tugendhaft (und damit naturgemäß) zu gestalten. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen müsste die Schlechtigkeit jedoch „therapierbar“ und der Zustand des Gemeinwesens zu verbessern sein, wenn sich nur mehr Menschen finden, die bereit sind, die eigene Tugendhaftigkeit zu entwickeln. Was die Wahrscheinlichkeit angeht, dass tatsächlich – im Vergleich zu früheren Zeiten – mehr Menschen diese Entschiedenheit aufbringen, zeigt sich Seneca skeptisch; zugleich dürften seine Handlungsanweisungen an die Adresse genau jener mali von der Hoffnung getragen sein, doch etwas bewegen zu können. Als schlimmste Fehlhaltung – hier schließt sich der Kreis zum Anfang (benef. 1,1,2) – bezeichnet Seneca die Undankbarkeit, von der letztlich jedes magnum facinus seinen Anfang nehme (benef. 1,10,4).450 Indem er dazu aufruft, sich davor zu hüten, dieses tamquam maximum crimen selbst zu begehen, es einem anderen jedoch als levissimum zu verzeihen, weist er einen Weg, um über die Einübung von Dankbarkeit den übrigen magna facinora die Grundlage zu nehmen, und entwirft das Bild einer Gemeinschaft, die durch wechselseitige beneficia beständige Festigung erfährt. Für das Entstehen und Gedeihen dieser Gemeinschaft sind die Haltungen der „Mitglieder“ in der rechten Weise zu gestalten, weil sie es sind, die im wohltätigen Handeln aufeinander bezogen werden und über dessen Gelingen entscheiden.451 In der folgenden Übersicht ist die bisherige Argumentation kurz zusammengefasst; dabei wird der eingangs angedeutete Vergleich mit einer Therapie strukturierend zugrunde gelegt:

450 Picone 2013, 150, fasst zusammen, dass diese Beurteilung der Undankbarkeit, „il vizio all’apparenza più insignificante, zugleich die Funktion habe, „di conferire dignità al trattato rendendo palese al lettore come l’indagine sulla prassi del beneficium sia operazione non solo non marginale, ma addirittura essenziale al fine di operare un cambiamento significativo in senso morale all’interno della società.“ 451 Bemerkenswert ist, dass Seneca hier unterscheidet zwischen der Undankbarkeit als maximum crimen, wenn man sie bei sich selbst entdeckt, und als levissimum crimen, wenn ein anderer sie an den Tag legt. In dieser Unterscheidung ist der Gedanke enthalten, dass am eigenen Verhalten (im Sinne des Wunsches, dem Weg der Tugend zu folgen) beständig zu arbeiten ist, Fehler anderer um des gelingenden Miteinanders willen aber zunächst zu tolerieren sind: Ein undankbares Gegenüber soll dennoch Beachtung finden und – wie ausgeführt – zur Dankbarkeit erzogen werden. Hierzu Abel 1995, 45.

132 Ausgangsdiagnose (benef. 1,1,1–1,1,8; 1,10,4)

Seneca Die große Mehrheit der Menschen ist nicht in der Lage, Wohltaten richtig zu erweisen und zu vergelten. Das zeigt sich am weit verbreiteten Symptom der Undankbarkeit. Undankbarkeit ist die Grundlage aller anderen Übel. Sie kann sowohl vom Wohltäter als auch vom Empfänger verursacht werden. Die Fehler des Wohltäters beim Erweisen von Wohltaten sind wie folgt zu bestimmen: Es werden ungeeignete Empfänger ausgewählt. Durch verletzende Begleitsignale wird der Empfänger undankbar gemacht. Der Fehler auf Empfängerseite liegt hierin: Er reagiert undankbar auf eine erwiesene Wohltat. Undankbarkeit lässt Wohltaten misslingen.

Prämissen der Therapie (benef. 1,2,4; 1,3,1; 1,5,1–1,6,2)

implicite: Eine natürliche Veranlagung zum Tugendhaften führt beim Undankbaren zu Schamgefühl über das eigene Fehlverhalten. Der Mensch strebt – bis auf wenige Ausnahmen – eigentlich nach der Tugend. Eine Wohltat wird von zwei Faktoren bestimmt, der Gabe (res) und der Haltung (animus/voluntas) des Gebenden. Die eigentliche Wohltat liegt in letzterer.

Therapie (benef. 1,1,8–1,4,6; 1,10,4) (benef. 1,3,3f.; 1,4,2; 1,4,6; 1,10,4f.)

Zunächst sind die Fehler zu korrigieren, die in der eigenen Verantwortung liegen: Es sollen die richtigen Empfänger ausgewählt werden. Die Begleitsignale an den Empfänger sollen Wohlwollen signalisieren und eine dankbare Annahme ermöglichen. Außerdem aber sollte der Wohltäter sich bemühen, den Fehler zu korrigieren, der aufseiten des Empfängers liegt: Durch beharrliche Wohltaten (im Sinne der imitatio Dei) soll der Empfänger dankbar gemacht werden.

Grund der Therapie

Wohltaten stärken die Gemeinschaft in höchstem Maße.

(benef. 1,4,2) Ziel der Therapie (benef. 1,4,2f.; 1,4,6)

lex vitae: Die Menschen sollen lernen, gern zu geben, anzunehmen und zu vergelten, damit Wohltaten gelingen (und also, implizit zu ergänzen: Gemeinschaft gestärkt wird). Die Therapie hat zum Ziel, den Einzelnen zu heilen (ingenia sanare). Sie ermöglicht eine honesta contentio von Wohltaten. Dies nützt, so ist zu schließen, zugleich der Gemeinschaft.

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Docendi sunt libenter dare, libenter accipere, libenter reddere: Anleitungen für Wohltäter und Empfänger benef. 1,11,1–2,17,4 Ab benef. 1,11 setzt sich Seneca systematisch mit dem Geben, Empfangen und Vergelten von beneficia auseinander; Ankündigungen, nun jeweils einen der drei Teile zu besprechen, finden sich ebenda (benef. 1,11,1) sowie in benef. 2,18,1 (Übergang zum Empfangen)452 und in benef. 2,32,1 (Vergelten; hier ist die Ankündigung nicht so klar). Die drei Handlungen gelten Seneca als notwendige Bestandteile wohltätigen Verhaltens, das er, wie wir gesehen haben, mithilfe der Allegorie vom Reigen der Grazien als fortgesetzten Kreislauf darstellt. Mit Abstand am ausführlichsten setzt er sich mit dem richtigen Erweisen von Wohltaten auseinander, was die oben angestellte Beobachtung von der Priorität des Gebens stützt. Im Rahmen der Erörterung richtigen Gebens behandelt er nach eigener Aussage die zwei Fragen, quae beneficia danda sint et quemadmodum (benef. 1,11,1). Die Varianten von Wohltaten werden von benef. 1,11,1 bis zum Ende des ersten Buches thematisiert,453 die Art und Weise richtigen Gebens ab benef. 2,1,1.454 Seneca nimmt eine Dreiteilung der beneficia vor, die sich nach dem Grad der Notwendigkeit richtet: Prima demus necessaria, deinde utilia, deinde iocunda, utique mansura (benef. 1,11,1).455 Die necessaria werden in benef. 1,11,2–4 nochmals unterteilt in drei Kategorien: sine quibus non possumus vivere, also Lebensrettendes 452 Ebenso unterteilt Chaumartin 1985, 12. 453 Während die rechte Art und Weise des Gebens bereits im Prooem angedeutet wird, ist die mögliche praktische Gestaltung von Wohltaten, noch nicht angesprochen worden. Bei der Frage, quae beneficia danda sint, handelt es sich, legt man Senecas Begriffsbestimmung zugrunde, streng genommen um eine Strukturierung der möglichen materiae beneficii, doch wie bereits angemerkt worden ist, verwendet Seneca den Begriff des beneficium, unter dem er eigentlich voluntas/animus des Gebenden verstanden wissen will, im gesamten Werk entgegen seiner eigenen Definition auch für die gegebene Sache. 454 Eine dritte, vor dem eigentlichen Beginn der systematischen Auseinandersetzung mit dem Geben kursorisch behandelte Frage ist die, wem man geben sollte. Seneca empfiehlt, wie bereits angesprochen, möglichst diejenigen auszuwählen, die sich dankbar zeigen werden (qui grate responsuri erunt; benef. 1,10,5), daneben aber auch diejenigen nicht zu vernachlässigen, von denen man nicht nur vermutet, dass sie sich undankbar zeigen werden, sondern von denen man weiß, dass sie bereits undankbar gewesen sind. Dabei verweist er an dieser Stelle jedoch nicht, was zu erwarten wäre, auf die im Prooem skizzierte Möglichkeit, sie durch eigene Wohltaten zur Dankbarkeit zu erziehen, sondern lässt es zunächst bei der Empfehlung bewenden, dass, wenn kein großer eigener Einsatz nötig werde, dem nichts entgegenstehe, auch einen Unwürdigen (indignum, ebd.) zu unterstützen. Die erzieherische Wohltätigkeit wird v.a. in benef. 4 und 7 behandelt. Was die Adressatenwahl angeht, findet sich eine Ergänzung in benef. 5,18f.: Es komme vor, dass dieselbe Wohltat zugleich mehreren Empfängern nütze – dass etwa die Rettung eines Sohnes auch den Vater froh macht. Eine Wohltat erweise man immer dem, dem man sie erweisen wolle, der Nutzen könne dabei weiter reichen. 455 „Zunächst wollen wir Notwendiges geben, dann Nützliches, schließlich Angenehmes, freilich Dauerhaftes.“

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(etwa Befreiung aus Feindeshand, Rettung vor Tyrannenzorn), sine quibus non debemus (Freiheit, pudicitia, mens bona), sine quibus nolumus (Kinder, Frau, Penaten). Je bedeutender der eigene Einsatz für einen anderen sei, desto größere Dankbarkeit erwerbe man sich (hoc maiorem inibimus gratiam; benef. 1,11,3); diese Überlegung dürfe jedoch nicht dazu verleiten, die eigene Hilfe bewusst hinauszuzögern und den anderen erst im allerletzten Moment zu retten, um damit größtmögliche Dankbarkeit zu erzielen (ebd.). Für beneficia utilia werden in benef. 1,11,5 folgende Beispiele genannt: Geld (in vernünftiger Menge) und Ansehen (honor et processus ad altiora tendentium). Ab benef. 1,11,5 beschreibt Seneca zuletzt angenehme, verwöhnende Wohltaten (iocunda, delicatos factura; ebd.), die zwar von Natur aus nicht wertvoll sein müssen, dies aber – werden sie zur rechten Zeit am rechten Ort erwiesen – dies durchaus werden können (ebd.). Bei den iocunda sei darauf zu achten, nichts Überflüssiges zu schenken und nichts, was den Empfänger verhöhnt, indem es ihm eigene Schwächen vor Augen stellt (benef. 1,11,6).456 Mansura sollen geschenkt werden, um durch dauerhafte Sichtbarkeit der Dankbarkeit des Empfängers auf die Sprünge zu helfen (benef. 1,12,1).457 Dankbarkeit lässt sich auch durch Rares und Ausgesuchtes bewirken: Illa quoque non erunt sine honore, quae aut nemo illis alius dedit aut nos nulli alii (benef. 1,12,4);458 man soll ferner nicht nur Seltenes, sondern überhaupt selten schenken (Quod voles gratum esse, rarum effice; benef. 1,14,1) Der Empfänger solle sich explizit gemeint fühlen, denn: Beneficium, qui quibuslibet dat, nulli gratum est (ib).459 Was sich in dieser Auflistung zeigt, ist, dass es Seneca darum geht, durch die Auswahl passender beneficia möglichst die Dankbarkeit des Empfängers zu bewirken, was in der häufigen Verwendung von gratus/gratia (inibimus gratiam, benef. 1,11,3; opportunitate grata, benef. 1,11,5; grati, ingratos, benef. 1,12,1; gratia,

456 Wohltaten können ganz verschiedenen Charakter haben. Sie können finanziellen und tatkräftigen Einsatz für andere sowie Ratschläge, Freundschaft und Zuspruch umfassen (benef. 1,2,4; benef. 3,9), verschieden groß ausfallen (benef. 3,8) und dem Handelnden selbst verschieden hohe Opfer abverlangen (hoher Aufwand besonders beim Einsatz des eigenen Lebens, hierzu benef. 4,12). Beispiele für mögliche Ausprägungen von Wohltaten finden sich immer wieder im Werk, nicht jedoch systematisch angeordnet. Dass diese Frage nicht ausführlich und strukturiert behandelt wird, dürfte durch Senecas Grundannahme erklärbar sein, dass beim beneficium stets die Haltung den Vorrang vor der res data hat, die nur von nachrangigem (oder streng genommen: ganz ohne) Wert ist. 457 Das Geschenk soll sich nach Möglichkeit nicht verbrauchen: Ego, si fieri potest, consumi munus meum nolo; extet, haereat amico meo, convivat (benef. 1,12,2) und ist insgesamt am gesunden Menschenverstand zu bemessen (benef. 1,12,3). 458 „Auch jene Wohltaten werden nicht ohne Anerkennung bleiben, die entweder niemand anders ihnen schenkt oder wir niemandem sonst.“ 459 „Wenn man eine Wohltat jedem beliebigen Menschen erweist, ist sie niemandem willkommen.“ Seneca empfiehlt dem, qui beneficia sua amabilia esse vult, zu prüfen, quomodo et multi obligentur et tamen singuli habeant aliquid, quo se ceteris praeferant (benef. 1,14,4). Insgesamt verhalte es sich so, dass beneficia, quo plura maioraque fuerint, plus adferent laudis (benef. 1,15,1). Aus der Sicht des Empfängers heißt es in benef. 6,18,2 ganz ähnlich, dass es beim Empfang einer Wohltat wichtig sei, sich selbst gemeint zu fühlen – nicht zuletzt, um auch verpflichtet zu werden: Propter me debet factum esse, quod me obliget (benef. 6,19,5).

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benef. 1,12,2; grata et ingrata, benef. 1,12,3; gratum [zweimal], benef. 1,14,1) sowie anderer, bedeutungsverwandter Wendungen deutlich wird (non erunt sine honore, benef. 1,12,4; plus adferent laudis, benef. 1,15,1). Dies gelingt seiner Darstellung nach durch sorgfältiges Urteilen (iudicium, benef. 1,15,1) vor dem Erweisen einer jeden Wohltat. Dieses iudicium umfasst erstens die Auswahl angemessener Gabeinhalte und zweitens, wie in benef. 1,1,8 angedeutet (non neglegenter dandum), Sorgfalt beim Erweisen selbst: Es sind geeignete Empfänger auszuwählen (s.o. benef. 1,10,5; ähnlich benef. 1,15,3: ubi illud ratio ad dignos perducit) und es muss auf eine angemessene eigene Haltung geachtet werden (s.o. benef. 1,1,4–8). Wohltaten, die aufgrund eines solchen iudicium (bezüglich: Gabegehalt, Begleitsignalen, Disposition des Empfängers) erwiesen werden, haben mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Erfolg, das heißt, sie stoßen auf gratia – gemäß dem Bild vom Reigen der Grazien greifen die Handlungen ineinander, die Schönheit des Ablaufs ist gesichert. Der starke Fokus auf dem Bemühen, durch die Gestaltung der eigenen Wohltaten Dankbarkeit zu erzeugen, hängt genau mit diesem Anliegen zusammen: Wenngleich der Empfänger an sich bereits durch die Annahme der Wohltat verpflichtet ist, sich dankbar zu zeigen, um den Ablauf fortzusetzen, wird ihm dies vom Wohltäter noch leichter gemacht, indem dieser besonders passende, willkommene Wohltaten aussucht, für die er sich gut erkenntlich zeigen kann, Gaben also, über die er sich freut und die ihm im Gedächtnis bleiben. Sorgfalt lässt das Ineinandergreifen von Gabe und Vergeltung gelingen, und nicht nur das: In benef. 1,15,2 weist die Mahnung zum iudicium über die Beziehung zwischen Wohltäter und Empfänger hinaus (quibusve tam convenit haec adhortatio quam nobis societatem generis humani sancientibus?);460 Wohltaten, die aufgrund gründlichen Urteilens Beziehungen gelingen lassen, sind zugleich Bindemittel (nobis sancientibus) von Gemeinschaft. 461 Die Verpflichtung des Wohltäters, die gratia auf Empfängerseite zu befördern, wird im weiteren Textverlauf nun noch breiter ausgeführt. Ab benef. 2,1,1 widmet sich Seneca nach eigener Aussage der Frage, quemadmodum dandum sit beneficium. Bei deren Beantwortung wiederholt Seneca Überlegungen aus dem Prooem. So rät er, sic demus, quomodo vellemus accipere (benef. 2,1,1; vgl. benef. 1,1,8: eodem animo beneficium debetur, quo datur; ähnlich auch benef. 2,6,1: idem est, quod datur, sed interest, quomodo detur).462 Er präsentiert Beispiele widerwilligen Gebens, das nicht auf Dankbarkeit stoßen könne (benef. 2,1,2); umgekehrt seien diejenigen Wohltaten gratissima, die bereitwillig und ohne Aufschub erwiesen würden (benef. 2,1,3).463

460 „Für wen passt diese Ermunterung besser als für uns, die wir die Menschengemeinschaft für unverbrüchlich erklären?“ 461 Griffin 2013, 185, sieht in dieser „insistence on judgment“ die Klimax von benef. 1. 462 „So wollen wir geben, wie wir empfangen möchten.“ Vgl. Griffin 2013, 190. 463 Ein wichtiges Kriterium richtigen Gebens besteht, wie Seneca hier andeutet und ab benef. 6,7,1 ausführlich erörtert, darin, dem Empfänger eine Wohltat erweisen zu wollen. Was unabsichtlich zu jemandes Nutzen beiträgt, sei noch keine Wohltat.

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Am besten sei es, dem desiderium des Empfängers zuvorzukommen und ihm die beschwerliche Aufgabe des Bittens zu ersparen (Molestum verbum est, onerosum, demisso vultu dicendum: „rogo“; benef. 2,2,1), bzw., wenn es nicht gelinge, die Wünsche anderer zu erahnen, sie dann zumindest prompt auf die Bitte hin zu erfüllen. Eine solche Bereitwilligkeit übertreffe, im Hinblick auf die Dankbarkeit, die sich durch die Wohltat einstellen kann, eine zwar wertvolle, aber zögerlich erwiesene Leistung bei weitem (benef. 2,2,2), denn mitunter würden an sich außerordentliche Wohltaten durch ablehnende Begleitsignale verdorben (s.o. benef. 1,7,1). Was Seneca stattdessen empfiehlt, ist eine Kongruenz von Wort und Tat (benef. 2,3,1); eine hohe Gesinnung, die sich in entsprechenden Begleitsignalen manifestiere, führe zu höchster Dankbarkeit beim Empfänger (benef. 2,3,3); dieser würde sich nach der Annahme einer in solchem Geiste erwiesenen Wohltat sagen, dass er einem Menschen, der sich durch eine derartige Haltung auszeichne, niemals hinreichend Dank abstatten könne (ebd.). Der Dankbarkeit abträglich sei es hingegen, wiederholt Seneca in benef. 2,4,1, der Wohltat schroffe (asperitas verborum) bzw. herablassende (supercilium, superbia) Worte oder Signale des Zögerns (morae) hinzuzufügen; denn dadurch beginne der Empfänger, das Geschenk zu hassen (ähnlich: benef. 2,5,2); wiederum ist eine gehäufte Verwendung von gratus/gratia zu beobachten (gratiae, benef. 2,4,2; grate/gratiam, benef. 2,4,3; gratiae/gratus, benef. 2,5,2; gratia, benef. 2,5,3; gratias, benef. 2,6,2).464 Wie schon in der Auswahl der zu schenkenden Sache sei es auch in der Art und Weise des Erweisens einer Wohltat wichtig, Taktgefühl an den Tag zu legen – wiederum mit dem Ziel, die Dankbarkeit des Empfängers nicht zu verderben. Neben der vielfach wiederholten Mahnung, die Gabe nicht zur Beleidigung werden zu lassen, und der Empfehlung, den Wünschen der Empfänger möglichst zuvorzukommen, rät Seneca ferner, manche Wohltaten öffentlich zu erweisen, manche hingegen im Geheimen (benef. 2,9,1) – öffentlich diejenigen Gaben, die den Empfänger belohnten oder auszeichnen, heimlich solche, die seiner Schwäche, Bedürftigkeit oder Schande abhelfen (benef. 2,9,2).465

464 Schroffheit, Herablassung und Unwilligkeit sind die drei hauptsächlich angeführten negativen Haltungen des Wohltäters; insbesondere Unwilligkeit und Herablassung werden von Seneca ausführlich dargestellt. Erstere äußere sich in silentium aut loquendi tarditas, in voltu negantium (benef. 2,3,1) oder im Bemühen, das beneficium aufzuschieben (benef. 2,4,1); letztere im Bestreben, sich über den Empfänger zu erheben (benef. 2,13,2). In diesem Zusammenhang empfiehlt Seneca Höhergestellten, sich beim Erweisen von Wohltaten auf die Stufe der Empfänger zu stellen, nicht über sie zu triumphieren, sondern benignissimus zu sein, um den Dank nicht zu verderben, denn: vanam esse superbiae magnitudinem et quae in odium etiam amanda perducat (benef. 2,13,3). 465 Manchmal müsse man den Empfänger tatsächlich täuschen, wenn er sonst nicht zur Annahme einer notwendigen Wohltat gebracht werden könne (ad necessarios usus, benef. 2,10,1). Seine Dankbarkeit erlange der Wohltäter dennoch, indem er durch weitere Wohltaten sich selbst auch nachträglich als Urheber der heimlich erwiesenen zu erkennen gebe (benef. 2,10,2). Außerdem komme es letztlich darauf an, gegeben zu haben, was, wie auch im Prooem angedeutet, um der

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In der folgenden Überlegung wird nun wiederum deutlich, dass sich die gratia zwar durch das Verhalten des Gebenden beeinflussen lässt, aber ebenso in der Verantwortung des Empfängers liegt (und also gelingende Wohltaten auch von dessen Verhalten abhängen: Der eine solle die Wohltat sofort vergessen, der andere niemals (alter statim oblivisci debet dati, alter accepti numquam; benef. 2,10,4).466 Seneca bezeichnet diese Regel als beneficii inter duos lex. Sie enthält in knapper Form (und hyperbolisch stilisiert, wie Seneca in deren Wiederaufnahme ab benef. 7,22 selbst anmerkt, s.u.) die entscheidende Handlungsanweisung für Wohltäter und Empfänger. Sie ist eine Regelung inter duos, enthält aufeinander bezogene Maximen und verbindet also Gebenden und Empfangenden miteinander: Ersterer solle sich damit begnügen, die Wohltat erwiesen zu haben; die Empfehlung, sie sofort zu vergessen, meint, dass er die Reaktion des anderen nicht durch eigenes Fehlverhalten verderben solle, die Mahnung an letzteren, das Empfangene niemals aus dem Gedächtnis zu verlieren, bildet die Grundbedingung einer dankbaren Ver-

eigenen Tugendhaftigkeit willen geschehen sollte; stehe diese Ausrichtung nicht im Vordergrund, handle es sich um ein creditum, nicht um ein beneficium, und man suche keinen Empfänger einer Wohltat, sondern einen Schuldner (debitor, benef. 2,10,2). Mitunter sei es utilius, honestius, gratius, sich dem Empfänger (zunächst) nicht zu erkennen zu geben (benef. 2,10,3); quotiens patitur res solle sich der Wohltäter durchaus zeigen, sin adiuvari illum et oportet et pudet, si quod praestamus, offendit, nisi absconditur, beneficium in acta non mitto (benef. 2,10,4). Griffin 2013, 192, schlägt hierzu vor, Seneca meine die acta diuturna, „a daily report“. 466 Erinnerungen an erwiesene Wohltaten (mit dem Ziel, so dem Empfänger eine dankbare Reaktion abzuringen) seien zu vermeiden. Allenfalls könne der Weg gewählt werden, eine vergangene, noch nicht vergoltene Wohltat durch eine weitere wieder ins Gedächtnis zurückzurufen (benef. 2,11,2); denn admonitio taedium facit, exprobratio odium (benef. 2,11,6). Indem der Wohltäter immer wieder über seine Leistung spreche, verbaue er sich die Möglichkeit einer dankbaren Reaktion des Empfängers, obwohl er genau diese durch die beständige Erinnerung bewirken wolle (ähnlich auch benef. 2,15,2: gratiam destruit). Eine an dieser Stelle thematisch passende Ergänzung findet sich in benef. 5,25,1: Man werde dann auf Dank und Vergeltung bestehen, wenn dies ex magna necessitate oder aber illius causa, ex quo repetam, geschehe, aus eigener Notwendigkeit also oder aus erzieherischen Gründen, zum Wohl des Erinnerten (Vergleich mit dem schwankenden Gedächtnis von Schülern und der Geduld des Lehrers, benef. 5,25,6), dabei aber mit gemäßigten Worten (verborum moderatio, benef. 5,25,3). Ein weiterer Trugschluss (neben dem, dass wiederholte Ermahnung zu Dankbarkeit führe) besteht für Seneca darin, dass es Dankbarkeit hervorrufe, dem Empfänger jeden Wunsch zu erfüllen: Manchmal begehre er noxia, perniciosa; aestimabimus itaque utilitatem potius quam voluntatem; dies erkenne er, wenn sich die Begierde gelegt habe, und dann hasse er perniciosos malorum munerum auctores (benef. 2,14,1; ähnlich benef. 2,14,3: eum oderit, a quo in damnum ac periculum suum adiutus est). Aus diesem Grund sei nicht nur auf die initia beneficiorum zu achten, sondern auch auf deren exitus; man solle also solche Geschenke machen, quae non tantum accipere, sed etiam accepisse delectet (benef. 2,14,2). Nur wenn der Empfänger über die Wohltat Freude empfindet (delectet), könne er auch dankbar reagieren. Dieser Überlegung liegt die Prämisse zugrunde, dass der Mensch fähig und willig ist, einzusehen, was wirklich gut für ihn ist; hier wird wiederum deutlich, dass Seneca seine Handlungsanweisungen zwar an mali, imperiti richtet, aber doch an solche, die als proficientes den Weg zur Tugend einschlagen und bereit sind, ihr Handeln zu reflektieren und zu verbessern.

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geltung – welche aber, insofern als der Gebende seine Leistung (gleichsam) vergessen hat, von diesem nicht eingefordert oder kalkuliert wird.467 Die beneficii inter duos lex ruft also dazu auf, Dankbarkeit zu ermöglichen bzw. selbst an den Tag zu legen. In ihr wird einmal mehr deutlich, dass in Senecas Konzeption der beneficentia Haltungen aufeinander bezogen werden und es also auf deren Gestaltung ankommt. Beim Geben sind weiterhin die Möglichkeiten und Rahmenbedingungen des Wohltäters wie des Empfängers zu berücksichtigen. Wie auch Cicero verwendet Seneca hier den Begriff der persona, ohne ihn jedoch ähnlich systematisch zu bestimmen (benef. 2,15,3). Legt man die bei Cicero ausgeführte Persona-Theorie zugrunde, so lässt sich anhand der folgenden Ausführungen sagen, dass Seneca insbesondere die dritte persona im Blick hat, welche die soziale Position und die Möglichkeiten eines Menschen in den Blick nimmt, sowie die vierte, die sich aufgrund des gewählten Lebensweges ergibt. Zunächst heißt es, jeder solle auf seine Mittel und Kräfte schauen, um nicht mehr oder weniger zu geben, als er tatsächlich könne. Außerdem sei die Größe des Geschenks der Position von Wohltäter und Empfänger anzupassen; manches sei zu klein, um von einem bedeutenden Mann zu kommen, manches zu groß, um vom Empfänger angenommen zu werden (benef. 2,15,3).468 Implizit bedeutet dies: Weder zu große noch zu kleine Wohltaten führen zur erwünschten Reaktion, entweder sie überfordern oder sie wirken lächerlich.469

467 Gleichwohl sei es nicht verboten, auch den eigenen Nutzen im Blick zu haben; Seneca meint in benef. 6, woraus hier der Anschlussfähigkeit halber zitiert ist, er sei nicht so ungerecht zu sagen, er schulde dem nichts, qui cum mihi utilis esset, fuit et sibi; non enim exigo, ut mihi sine respectu sui consulat (benef. 6,13,1); es komme jedoch, wie er mit Beispielen illustriert, unbedingt darauf an, utrum aliquis beneficium nobis det sua causa an et sua (benef. 6,12,2). 468 Insofern als die Persona-Theorie in ihrer Grundlegung stoisch ist, kann man davon ausgehen, dass Seneca sie kannte, ohne sich dafür auf De officiis zu beziehen. Zu benef. 2,15,3 Griffin 2013, 194. Die facultates bezeichnen hier nicht so sehr die Anlagen wie die (finanziellen Mittel) und gehören damit, insofern als diese auch von der sozialen Position abhängen, eher zur dritten persona. 469 Diese Überlegung, stets den wahren Nutzen des Empfängers sowie dessen und die eigenen Möglichkeiten zu beachten, gehört zugleich auch zur oben diskutierten Frage der Gabeinhalte. Zur Passage Bellincioni 1986, 71f.: „Solo dal confronto fra la persona di chi dà e quella di chi riceve è possibile desumere un’esatta valutazione del dono, ed evitare di offendere chi si vorrebbe beneficiare.“ Danach folgen zwei Beispiele, in denen – e contrario – die Maxime, die personae zu beachten, erläutert wird: In benef. 2,16,1 referiert Seneca eine Begebenheit, nach der Alexander der Große einem Menschen eine Stadt geschenkt habe. Der Beschenkte habe angemerkt, dass ein solches Geschenk nicht zu ihm passe, worauf Alexander entgegnet habe, er frage nicht danach, quid te accipere deceat, sed quid me dare (ebd.), was eine vermessene Einschätzung sei, denn: Nihil enim per se quemquam decet; refert, qui det, cui, quando, quare, ubi, et cetera, sine quibus facti ratio non constabit (ebd.). Diese Fragen sind Bestandteil des iudicium, das jeder Wohltat vorausgehen muss. Alexander, der in De beneficiis grundsätzlich als Negativ-Exemplum herangezogen wird (Griffin 2013, 185; außerdem Chaumartin 1985, 171–173), legt der Bemessung der Wohltat nur seine Position und seine Möglichkeiten zugrunde; die des Empfängers lässt er völlig außer acht und erreicht damit keine dankbare Haltung des anderen, sondern bewirkt stattdessen, dass dieser tanti muneris invidiam refugisset

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Zur Illustration zieht Seneca nach dem Reigen der Grazien im ersten Buch nun eine weitere Allegorie Chrysipps heran, nämlich die des Ballspiels, bei dem im besten Fall abwechselnd geworfen und gefangen wird: Der Ball könne jedoch aufgrund von Fehlern beim Werfen oder Fangen zu Boden fallen. Ein guter Spieler wisse seine Würfe den Fähigkeiten oder der Körpergröße des Partners anzupassen. Wie im Reigen der Grazien geht es um die Fortsetzung der ineinandergreifenden Handlungen, hier nun des Spiels. Dieses Spiel steht zunächst für das Miteinander Einzelner. Seneca bezieht das Bild, anders als er dies beim Reigen der Grazien durch die unmittelbar darauf in benef. 1,4,2 folgende Aussage zur gemeinschaftsstiftenden Kraft von Wohltaten tut, an dieser Stelle nicht auf gemeinschaftliches Miteinander im Allgemeinen. Denkbar wäre eine solche Übertragung schon, scheint aber von Seneca selbst hier nicht angedacht zu sein; er konzentriert sich, im Bild des Spiels bleibend, auf individuelle Beziehungen: Wenn einem Spieler böswillig daran gelegen sei, den Mitspieler zu blamieren, schade das letztlich dem ganzen Spiel, das stets der Abstimmung der Partner bedarf (benef. 2,17,5). Übertragen auf wohltätiges Handeln bedeutet dies: Nur wenn die personae sowohl des Gebers als auch des Empfängers berücksichtigt werden, kann auf die Wohltat eine dankbare Gegenleistung folgen; bei fehlender Anpassung der Gabe an den Empfänger bleibt dessen Dankbarkeit aus (gratia illis referri non potuit, ebd.). Die Dankbarkeit des Empfängers, die als Bedingung fortgesetzter Wohltaten gelten kann, verderbe man damit oft selbst, formuliert Seneca in benef. 2,17,5 (facimus autem plerumque ingratos, et ut sint, favemus; vgl. benef. 1,4,1: multos experimur ingratos, plures facimus); damit gerät der Kreislauf durch eigenes Verschulden in Gefahr. Dieses eigene Verschulden kann, wie gesehen, in der Auswahl ungeeigneter Gaben und, mehr noch, einer unangemessenen Haltung bestehen. In dieser Mahnung, stets das „Was?“ und das „Wie?“ des Gebens zu beachten (dazu auch: „Wem?“, was aber nicht so ausführlich besprochen wird; mehr dazu im nächsten Kapitel), zeigt sich, dass die praecepta des beneficium dare unmittelbar an dessen Begriffsbestimmung ab benef. 1,5,2 ausgerichtet sind: Kraft des eigenen iudicium sind stets dessen zwei Komponenten (von denen streng genommen nur die zweite das wirkliche beneficium ausmacht, was den imperiti aber, wie ausgeführt, nicht bewusst ist) zu beachten: Die materia beneficii ist nach den Bedürfnissen des Empfängers auszuwählen, ferner so, dass es dem Empfänger leicht fällt, im Sinne der (ebd.). Ein zweites Beispiel wird in benef. 2,17,1 vorgetragen: Darin bittet ein kynischer Philosoph den Nachfolger Alexanders, Antigonos, um ein talentum. Dies sei mehr, als ein Kyniker fordern dürfe, lehnt Antigonos ab. Als dieser daraufhin einen Denar erbittet, lehnt Antigonos wiederum ab, diesmal mit der Begründung, das sei zu wenig, als dass es regem deceret dare. Seneca tadelt zunächst die Spitzfindigkeit, erst die persona des Kynikers in Anschlag zu bringen, dann die des Königs, um in beiden Fällen die Leistung abzulehnen. Außerdem aber verurteilt er die Bitte des Kynikers; es sei eine intolerabilis res, Geld zugleich zu verdammen und zu erbitten. Der Begriff persona bezeichnet in diesem Beispiel wiederum die soziale Position (König vs. Armer, Bedürftiger), wobei diese sich beim Kyniker auch aus dessen freiwillige Entscheidung für ein bestimmtes Wertesystem und Lebensmodell ergibt. Zur Persona-Theorie, wie sie bei Cicero entwickelt wird s.o. ab S. 71.

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Fortsetzung des Kreislaufs seine Dankbarkeit zu manifestieren, und animus/voluntas sollten von Wohlwollen und Nachsicht geprägt sein (zur Nachsicht, zugleich Vorverweis auf erzieherische Wohltaten: quosdam doceamus et satis iudicemus, si conantur, si audent, benef. 2,17,4). benef. 2,18,1–2,31,5 In benef. 2,18,1 leitet Seneca zur Behandlung der Frage über, quomodo se gerere homines in accipiendis beneficiis debeant. Dabei geht es erstens darum, von wem man eine Wohltat annehmen solle, und zweitens, in welcher Gesinnung.470 Zum zweiten Punkt gibt das Prooem bereits Auskunft, zum ersten hingegen nicht. Seneca empfiehlt nun, eine Wohltat nicht von jedem anzunehmen (benef. 2,18,2), sondern nur von denjenigen, denen wir unsererseits gegeben hätten (benef. 2,18,3),471 denn es sei eine Qual, jemandem etwas zu schulden, dem man sich nicht verpflichtet fühlen wolle (ebd.).472 In benef. 2,18,5 unterscheidet Seneca zwischen einem Gläubiger und einem Wohltäter und fordert dazu auf, letzteren viel sorgfältiger auszuwählen als ersteren. Denn während ein Kredit auf Zahlung und Rückerstattung der vereinbarten Summe beschränkt bleibe, werde durch eine Wohltat (abgesehen davon, dass die Vergeltungsgabe die Wohltat übertreffen muss) eine Beziehung gestiftet, die über das Aufeinanderfolgen von Gabe und Gegengabe hinweg besteht, weil auf jede Annahme wiederum eine Antwort folgen muss.473 Wenn Entscheidungsfreiheit gegeben sei, ob man die Wohltat annehmen möchte oder nicht, solle

470 Zu dieser Feinstruktur Abel 1995, 67. 471 Geben solle man, wie aus benef. 1,10,5 hervorgeht, am besten denen, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach dankbar zeigen werden – also würde man, so lässt sich implizit schließen, auch von denen am liebsten beneficia empfangen, denen man sich gern selbst dankbar zeigen will. Diese Folgerung stellt Seneca jedoch nicht deutlich heraus. 472 Während Cicero in off. 1,48 das Erweisen einer Eröffnungsgabe freistellt, liegt bei Seneca die explizit geäußerte Entscheidungsfreiheit in der Frage, ob eine Wohltat angenommen werden sollte oder nicht. Für die Frage des Erweisens von beneficia formuliert Seneca den Hinweis auf die grundsätzliche Entscheidungsfreiheit nicht explizit; dass aber an sich diese Wahlfreiheit besteht, geht aus der kurzen Skizze in benef. 1,10,5 hervor, wem man beneficia erweisen solle, hier in benef. 2,18,3, wo er meint, dass größere Sorgfalt darauf zu verwenden sei, wem man ein beneficium schulden wolle als darauf, wem man eines gewähren solle. Das Verbindende der Gedanken beider ist, dass mit der Annahme der Eröffnungsgabe eine Beziehung eingegangen wird. Aus gabetheoretischer Sicht steht auch die Entscheidung über deren Annahme nicht frei (Mauss 1990, 36). 473 Im Text heißt es: Itaque eligendum est, a quo beneficium accipiam; et quidem diligentius quaerendus beneficii quam pecuniae creditor. Huic enim reddendum est, quantum accepi, et, si reddidi, solutus sum ac liber; at illi et plus solvendum est, et nihilo minus etiam relata gratia cohaeremus; debeo enim, cum reddidi, rursus incipere, manetque amicitia. Die Beziehung, die für Seneca durch Wohltaten entsteht und fortdauert, wird hier wie in benef. 2,21,2 als amicitia bezeichnet. Hier zeigt sich, dass es Seneca nicht um Gaben geht, die innerhalb der Verwandtschaft angesiedelt sind, wo der Einzelne auch durch Blutsbande verpflichtet ist, sich dem

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man davon unbedingt Gebrauch machen; hingegen: Wenn Zwang die freie Entscheidung unmöglich macht, solle man sich bewusst sein, dass man in diesem Fall nicht annehme, sondern lediglich gehorche (si necessitas tollet arbitrium, scies te non accipere, sed parere; benef. 2,19,7). Das heißt, wenn etwa die Rettung aus höchster Not nur mithilfe eines Menschen geschehen kann, mit dem man keine Beziehung eingehen möchte (benef. 2,21,1), solle man die Hilfe als creditum ansehen und dem anderen entsprechend vergelten.474 Daraufhin wird die rechte Art und Weise des Annehmens beschrieben. Seneca fordert im „nos inclusivo“ auf, heiter anzunehmen und seiner Freude offen Ausdruck zu verleihen (… hilares accipiamus, profitentes gaudium; benef. 2,22,1; vgl. benef. 1,4,3: libenter accipere), weil die sichtbare Dankbarkeit (grate zweimal, ebd.) als erster Teil der Gegengabe gelten könne, denn sie bewirke, dass man den Wohltäter froh mache (ebd.). Undankbar sei hingegen jener, der im Geheimen Dank abstatte; Grund hierfür sei oft die Furcht davor, mit der Annahme einer Wohltat Überlegenheit und Unabhängigkeit gefährdet zu sehen. Hier gibt Seneca zu bedenken, dass mancher aus Scham davor, für einen cliens gehalten zu werden, den viel schwerwiegenderen Ruf auf sich ziehe, undankbar zu sein (benef. 2,23,3).475 Man solle nicht wählerisch auftreten als Empfänger, nicht unterwürfig, nicht demütig, nicht mäkelnd (delicate, summisse, humiliter, fastidiose; benef. 2,23,3), nicht hoch erhobenen Hauptes (supine; benef. 2,24,3); durch Begleitworte, die solche Haltungen zum Ausdruck bringen, sei man undankbarer, als wenn man geschwiegen hätte (ebd.). Es geht also darum, durch die eigene Haltung zu bestätigen, dass man mit der Annahme der Wohltat den Beginn bzw. die Fortsetzung einer Beziehung bejaht hat.476 Die Aufgabe des Empfängers ist es also nach Seneca, über

anderen helfend zuzuwenden, sondern um Bindungen, die auf eigener Wahl beruhen. Deren emotionale Tiefe mag angesichts der Weite des amicitia-Begriffs verschieden geartet sein. 474 Es gibt drei Fälle, in denen Wohltaten gezwungenermaßen angenommen werden müssen, wie Griffin 2013, 197, prägnant zusammenfasst: „... either because we are under duress, or because the intent to benefit was missing, or the power to help is injustly acquired.“ 475 Vgl. ganz ähnlich Ciceros Überlegung in off. 2,69, wo der Angst, für clientes gehalten zu werden, ähnlich hochmütiges Verhalten entspringt. 476 Ab benef. 2,26,1 skizziert Seneca Fehlhaltungen, die zur Undankbarkeit des Empfängers führen (quid maxime facit ingratos). Damit wird die Überlegung des Prooems breiter entwickelt, dass die Verantwortung auch auf Empfängerseite liegen kann. Zunächst tadelt Seneca die Gewohnheit, sich selbst ein allzu nachsichtiger Richter zu sein und sich durch die Wohltaten anderer nicht hinreichend gewürdigt zu wissen (ebd.); davon ausgehend benennt und beschreibt er mit aviditas, ambitio und invidia drei Fehlhaltungen, die dazu führten, sich selbst zu wichtig zu nehmen: Non patitur aviditas quemquam esse gratum (benef. 2,27,3), denn der Gierige sei unersättlich, Gleiches gelte für ambitio, denn der Ehrgeizige sei nie zufrieden, sondern müsse sich immerzu vergleichen (benef. 2,27,4). Schlimmer noch (vehementius et inportunius malum, benef. 2,28,1) sei invidia, quae nos inquietat, dum conparat (ebd.); viel besser sei es hingegen, Wohltaten nicht auf diese Weise zu schmälern, sondern zu erhöhen (ebd.), indem man u.a. auch, wie Seneca dies bereits für das Geben verlangte, die persona des anderen berücksichtige: Plus accipere debui, sed illi facile non fuit plus dare (benef. 2,28,2). Griffin 2013, 202, sieht in dieser Erörterung der Fehlhaltungen, die eine dankbare Beurteilung angenommener Wohltaten

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die Annahme einer Wohltat sorgfältig zu entscheiden, nach der Entscheidung aber einerseits offen anzuerkennen, dass man sich durch die Annahme einem anderen verpflichtet hat (statim gratus est, qui se onerat, benef. 2,24,4), und andererseits dem Wohltäter verbal (his atque eiusmodi vocibus id agamus, ut voluntas nostra non lateat, benef. 2,25,2) oder nonverbal (verba cessent licet, ebd.) die eigene Dankbarkeit deutlich zum Ausdruck zu bringen. Missgünstige Vergleiche, die auf Gier, Ehrgeiz oder Neid beruhen, sollten vermieden und durch eine wohlwollende, dankbare Beurteilung der angenommenen Wohltaten ersetzt werden. benef. 2,32,1–3,4,2 Der dritte, noch fehlende Teil des Kreislaufs der Wohltaten, das reddere, wird ab benef. 2,32,1 in Wiederaufnahme der Ballspielmetapher behandelt: Auch wer eine Wohltat animo benignissimo annehme, habe seine Pflicht noch nicht erfüllt: Es bleibe noch das Zurückgeben (restat enim pars reddendi; ebd.); wie es im Spiel zwar darauf ankomme, den Ball gekonnt aufzufangen, dennoch aber erst der ein guter Spieler sei, der angemessen und zielsicher zurückwerfe (ebd.). Der Unterschied zwischen Ballspiel und wohltätigem Handeln (und damit die Grenze der Anwendbarkeit des Bildes) liege allerdings darin, dass ersteres eine Abfolge körperlicher Bewegungen beschreibe, letzteres an sich in animo bestehe und im Bezug auf das wohltätige Handeln auch der ein guter „Spieler“ sein könne, der – übertragen – zwar gut gefangen habe, aber (noch) nicht vergelte. Doch für eine sichtbare Fortsetzung des Spieles braucht es die res data (entspricht der o.g. materia

unmöglich machen, Parallelen zu benef. 2,14–17, wo im Rahmen der Darstellung, wie Wohltaten erwiesen werden sollten, die Pflicht der Berücksichtigung von facultates/personae formuliert wurde. Seneca wünscht sich den Empfänger als bonus interpres (benef. 2,28,4), der darauf hinwirke, den Wohltäter durch dankbares Annehmen in seinem Tun zu bestärken (benef. 2,28,2); in einer Haltung der malignitas hingegen fände er noch an der größten Wohltat etwas zu beklagen. Zur Illustration einer solchen missgünstigen Einstellung verweist Seneca auf iniqui divinorum munerum aestimatores (benef. 2,29,1), die, anstelle Dankbarkeit darüber zu bezeugen, dass der Mensch nach den Göttern die zweite Stelle in hoc pulcherrimo domicilio erhalten habe (benef. 2,29,3), sich in ihrer Klage über dem Menschen fehlende Eigenschaften so weit verstiegen, dass sie bemängelten, noch unter den Göttern zu stehen (benef. 2,29,2). Diejenigen, welche die Geschenke der Götter so missgünstig einschätzen, werden als professi sapientiam bezeichnet; Griffin 2013, 203, vermutet, dass es sich hier um einen Seitenhieb gegen die Epikureer handle, nach deren Auffassung die Götter sich nicht um die Menschen kümmerten. Wer nicht einmal in der Lage sei anzuerkennen, dass die Götter carissimos nos habuerunt habentque (benef. 2,29,6), könne auch keine Wohltaten, die von anderen Menschen kämen, dankbar annehmen: Cui enim respondebit grate […], qui summa beneficia spernit (benef. 2,30,1)? Gratus erscheint in benef. 2,31 insgesamt viermal; zum Schluss unterstreicht Seneca nochmals die Möglichkeit, mit leeren Händen dankbar zu sein (benef. 2,31,4). Dankbarkeit sei an sich sogar dem Geizigen möglich, merkt er abschließend an (benef. 2,30,2), insofern als sie in einer Geisteshaltung und nicht in finanziellem Aufwand bestehe (gratus quoque homo esse potest voluntate, benef. 2,31,1).

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beneficii);477 auf dieser rein materiellen Ebene sei die Handlung des reddere für die Fortsetzung des „Spiels“ tatsächlich wichtig (ebd.).478 In diesem Sinne fasst Seneca zusammen: illi beneficio, quod actio perficit, relata gratia est, si illud benivole excipimus; illud alterum, quod re continetur, nondum reddidimus, sed volemus reddere. Voluntati voluntate satis fecimus, rei rem debemus (benef. 2,35,1).479

Daher sei dankbares Annehmen die erste Pflicht, mit der auf die Gesinnung des Wohltäters geantwortet werde; zweitens müsse man sich aber um eine gleichwertige Vergeltungsgabe bemühen (simile aliquid ei, quod accepit reddere, ebd.);480 die dankbare Annahme sei noch keine Vergeltung der materiellen Schuld, erlaube aber ein ruhiges Schulden (benef. 2,35,5).481 Zu Beginn des dritten Buches wird die Überlegung fortgesetzt, dass die Vergeltungsgabe obligatorischer Bestandteil wohltätigen Handelns ist. Dabei geht es Seneca jedoch vor allem darum, diejenigen als undankbar zu erweisen, die aus verschiedenen Gründen das Vergelten versäumen. Nicht zu vergelten sei schändlich (benef. 3,1,1); undankbar derjenige, der leugne oder verheimliche, eine Wohltat erhalten zu haben, undankbar auch derjenige, der es nicht vergelte, ingratissimus jedoch (benef. 3,1,3; ähnlich benef. 3,5,2: pessimus quisque atque ingratissimus), wer nicht mehr wisse, dass er eine Wohltat erhalten hat, denn anders als die erstgenannten, die zwar die Vergeltung verweigerten, wohl aber in der Schuld stünden (benef. 3,1,4), und die aufgrund schlechten Gewissens prinzipiell zur Dankbarkeit

477 Die materia beneficii wird hier mit Vokabeln der Handelssprache beschrieben als Schuld, die nicht eigentlich Teil des beneficium ist; die Vergeltung wird als merces bezeichnet, und Seneca spricht von debere und persolvere (benef. 2,33,3). 478 Die Vergeltung der res data sei auch insofern wichtig, als sie einen der fructus beneficii für den Gebenden darstelle, wie Seneca formuliert: der erste Ertrag bestehe in einem guten Gewissen, die Gabe dorthin gebracht zu haben, wohin sie gelangen sollte, der zweite in fama, der dritte in den Diensten, quae praestari in vicem possunt (benef. 2,33,3).Wenngleich die materia beneficii gemäß der Stoa keinen Wert hat, beinhaltet sie doch angenehme adiaphora, die das Leben verschönern (s.o.: necessaria, utilia, iocunda, benef. 1,11,1). Hier wird wiederum die Ausrichtung des Werkes an den Nicht-Weisen greifbar. 479 „Für jene Wohltat, welche die Handlung bewirkt, ist Dank abgestattet worden, wenn wir sie freundlich entgegennehmen; jene andere, die in der Sache besteht, haben wir noch nicht vergolten, doch wir werden sie vergelten wollen.“ 480 In benef. 2,18,5 heißt es, auf eine Wohltat hin sei stets plus solvendum; der Gedanke des wechselseitigen Übertreffens wird ab benef. 5,2 entwickelt; dabei geht es zugleich darum, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu handeln (also, wie beim Geben beschrieben, die personae zu beachten); entscheidend ist letztlich voluntas, nicht fortuna; s.u. im Kapitel zur Beziehungsstiftung. 481 Hiermit wird die Überlegung aus benef. 2,21,2 nochmals erläutert, dass bei fehlender Entscheidungsfreiheit über die Annahme einer Leistung eine solche als creditum, nicht als beneficium zu behandeln sei; in einem solchen Fall müsse nur der Sache genüge getan werden.

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hin erzogen werden könnten (ebd.),482 nimmt das Vergessen grundsätzlich die Möglichkeit, doch noch angemessen zu reagieren (numquam fieri gratus potest, benef. 3,1,4). Dieser Überlegung liegt die beneficii inter duos lex zugrunde, nach welcher der Empfänger, wie ausgeführt, die Wohltat nie vergessen solle: Wer sie, wie hier ausgeführt, doch aus dem Gedächtnis verliert, hat keine Möglichkeit mehr, Dankbarkeit zu zeigen, weil er schlicht nicht mehr weiß, wofür, und damit gegen die lex verstößt, die Wohltäter und Empfänger miteinander verbindet. Wichtigste Aufgabe des Empfängers ist es daher für Seneca, eine angenommene Wohltat in Erinnerung zu behalten; während für die Vergeltung Tugendhaftigkeit, eine günstige Gelegenheit und auch die Mittel zur Vergeltungsleistung nötig sind, basiere die Erinnerung an eine Wohltat, die den ersten Teil der Vergeltung darstelle (qui meminit sat sine inpendio gratus est, benef. 3,2,2) allein auf dem Willen des Empfängers (voluit, ebd.).483 Wie die materielle Vergeltung aussehen sollte, wird in der systematischen Behandlung des beneficium reddere im zweiten und dritten Buch De beneficiis nicht besprochen;484 diese Frage untersucht Seneca 482 Seneca spricht auch von pudor und subita honestae rei cupiditas – ähnlich wie im Prooem (benef. 1,2,4). Auch hier geht er also von einer grundsätzlichen Orientierung des Menschen auf das Gute hin und dem Willen, dem Guten zu folgen, aus. 483 Im Folgenden führt Seneca Gier und Neid als Gründe dafür an, sogar große Leistungen zu vergessen, und nimmt damit einen Gedanken wieder auf, den er bereits im Zusammenhang mit dem Annehmen von Wohltaten entwickelt hat: Gier und Neid verbauten die Möglichkeit zur Dankbarkeit (Non potest autem quisquam et invidere et gratias agere, benef. 3,3,3); der vergleichende Blick auf andere führe – wie in benef. 2,27f. dargestellt – zu einer missgünstigen Beurteilung jeder Wohltat, die Gier nach Neuem bewirkt – wie hier beschrieben – ein Vergessen von bereits Erhaltenem. Sich zu erinnern ist für Seneca also eine Pflicht; Erinnerung stellt die Grundlage von dankbarer Vergeltung dar. Um diese Pflicht zu legitimieren, zieht Seneca – bemerkenswerterweise – Epikur als Gewährsmann heran, der sich darüber beklagt habe, quod adversus praeterita simus ingrati (benef. 3,4,1), obwohl das Vergangene doch dasjenige sei, das anders als das unsichere Gegenwärtige und Zukünftige eripi non potest (ebd.). Gleich zu Beginn von benef. 6 formuliert Seneca eine Überlegung, die inhaltlich gut an diese Überzeugung Epikurs anschließt: Höchstens den materiellen Teil der Gabe verliere man mitunter, der hier jedoch nicht zur Wohltat gehört. Was jedoch mitunter verdorben würde, seien Dank und Schuld des Empfängers – und zwar dann, wenn der Gebende seine gute Tat durch eine darauffolgende schlechte gleichsam aufhebe (benef. 6,4,6; 6,5,1). Diese Überlegung basiert auf der engen Begriffsbestimmung des beneficium. Eine entsprechend wohlwollende Haltung sei dem Empfänger in der Vergangenheit begegnet; die Erinnerung daran könne ihm also tatsächlich nicht mehr genommen werden; trotz einer böswilligen Folgehandlung desselben Urhebers werde die Erinnerung an das in der guten Handlung erfahrene Wohlwollen nicht genommen, doch die eigene Verpflichtung zur Dankbarkeit für diese werde durch die berechtigte Verletzung durch die schlechte Tat getilgt. In benef. 3,4,2 heißt es abschließend: Memoria gratum facit; memoriae minimum tribuit, quisquis spei plurimum. Die Erinnerung stellt für Seneca die Grundlage des Vergeltenkönnens dar. 484 Während der Beginn von benef. 3 noch vermuten lässt, dass darin – ausgehend von der Undankbarkeit, die der Empfänger vermeiden sollte – das richtige Vergelten behandelt wird, zeigt sich ab benef. 3,6,1, dass Seneca diesen Schwerpunkt zugunsten einer umfassenden Behandlung des Phänomens der Undankbarkeit aufgibt. Hierzu auch Griffin 2013, 116–118 („The problem of book 3“).

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erst im sechsten Buch, in dessen Rahmen er das angemessene Schulden behandelt und insbesondere herausstellt, dass stets der rechte Zeitpunkt für die Vergeltung abzuwarten und etwas für den Partner Hilfreiches auszuwählen sei (s.u.).485 Festzuhalten ist nun Folgendes: Wie die häufige Verwendung von gratus/ingratus in den zitierten und weiteren Stellen anzeigt, ist nicht nur der Wohltäter aufgefordert, die gratia des Empfängers zu erwirken, sondern wird auch der Empfänger nochmals gesondert ermahnt, sich durch entsprechend angemessenes Verhalten dankbar zu erweisen und nicht durch eigene Fehler die Fortsetzung des Miteinanders unmöglich zu machen. In den Ausführungen zu den Handlungen des Empfangens und Vergeltens, die beide in rechter Weise vom Empfänger zu leisten sind, ist deutlich geworden, dass in derselben Weise wie beim Geben ein sorgfältiges Urteilen vonnöten ist: Dazu gehört, analog zur Frage, wem man eine Wohltat erweisen wolle, zunächst die Überlegung, von wem man eine annehmen solle, ferner aber – wesentlich breiter ausgeführt – insbesondere die Prüfung der eigenen Haltung bei Annahme und Vergeltung, mit der auf animus/voluntas des Gebenden reagiert wird, 486 sowie, was erst im sechsten Buch ausgeführt wird, die Beurteilung, welche Vergeltungsleistung zu welchem Zeitpunkt für den anderen angemessen ist, wodurch die selbst empfangene materia beneficii beantwortet wird. Im Folgenden sollen Senecas Überlegungen zum Geben, Empfangen und Vergelten zusammengefasst werden. Geben Wem? (benef. 1,10,5)

Man sollte v.a. denen geben, die sich wahrscheinlich dankbar zeigen werden.

Was? (benef. 1,11–1,15)

Wohltaten können in notwendige, nützliche und angenehme unterteilt werden. Man sollte Bleibendes schenken, weil für dauerhaft Sichtbares am ehesten auch dauerhafte Dankbarkeit bleibt. Die rechte Auswahl der geschenkten Sache wirkt sich also auf die Haltung des Empfängers aus. Man soll die eigene Wohltat am tatsächlichen Nutzen des Empfängers orientieren.

Wie? (benef. 2,1–2,17)

Die Gesinnung ist entscheidend, um die Dankbarkeit des Empfängers nicht unmöglich zu machen: man sollte wohlwollend,

485 Folgende Teilaspekte kommen zur Behandlung (Kapiteleinteilung nach Griffin 2013, 285– 287): Zunächst geht es darum, dass man nichts schulde, wenn auf die Wohltat eine schlechte Tat folge (benef. 6,4–5); dann darum, ob man jemandem etwas schulde, der einem anderen unabsichtlich (benef. 6,7–11) oder um eigener Vorteile willen hilft (benef. 6,12–24) und schließlich, in der zweiten Hälfte des Buches, darum, welche Haltungen beim Schulden einer Wohltat zu erstreben bzw. zu vermeiden sind (benef. 6,25–43). 486 Die eigene Wohltat soll beim Empfänger Dankbarkeit hervorrufen (das gelingt, wenn man gern gibt); für den Empfänger ist die angenommene Gabe Grund, dankbar zu sein (gern anzunehmen); durch seine Gegengabe will er zugleich seiner eigenen Dankbarkeit Ausdruck verleihen und wiederum die des anderen bewirken (dass dieser also wiederum gern gibt). Damit wird das Ineinandergreifen der Handlungen immer wieder ermöglicht.

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Seneca taktvoll und nachsichtig sein, ohne Ermahnung zur Vergeltungspflicht.

Durch die Auswahl der eigenen Gaben und die Haltung beim Geben soll Dankbarkeit beim Empfänger bewirkt werden. Annehmen Von wem? (benef. 2,18– 2,21)

Durch angenommene Wohltaten werden Beziehungen gestiftet, daher ist sorgfältig über die Annahme zu entscheiden.

Wie? (benef. 2,22–2,31)

Wiederum ist die Gesinnung entscheidend. Um die Fortsetzung der Beziehung nicht zu gefährden, sollte wohlwollend und öffentlich Dankbarkeit bezeugt werden; heimliche Dankbarkeit ist keine.

In der Annahme soll Dankbarkeit manifestiert werden. Vergelten Wie? (benef. 2,32–3,5)

Es gelten dieselben Regeln wie beim Geben: Der Partner soll durch das eigene Verhalten die Möglichkeit bekommen, wiederum dankbar zu reagieren.

Was? Wann? (benef. 2,35,1; später ausführlicher: 6,25–6,43)

Die Vergeltungsgabe soll gleichwertig sein. Dabei ist der rechte Zeitpunkt für die Vergeltung abzuwarten. Damit ermöglicht man die Dankbarkeit des anderen.

Die Vergeltung soll zugleich Manifestation der eigenen Dankbarkeit sein (gratiam reddere) und beim anderen wiederum Dankbarkeit bewirken.

Res per se expetendae: Stoische Verankerung von beneficium und gratia benef. 3,6,1–3,17,4 Wie bereits oben angedeutet, nimmt Seneca im dritten und vierten Buch De beneficiis wichtige Ergebnisse der ersten beiden Bücher wieder auf und verknüpft sie insbesondere im vierten Buch mit Grundüberlegungen stoischer Philosophie.487 Die Ausführungen ab benef. 3,6 bis zum Ende des dritten Buches bereiten diese Bezugnahme auf die Stoa vor, indem deutlich gemacht wird, dass Güte und Dankbarkeit sich nicht erzwingen lassen, sondern der Tugendhaftigkeit des jeweils Handelnden entspringen. Diese Rückbindung des Handelns an die virtus, die bereits in den ersten beiden Büchern immer wieder anklingt, bildet den Gegenstand von benef. 3,6ff. und dem vierten Buch: Die eingenommene Haltung, auf die es, wie gesehen, beim Wohltun ankommt, ist Ausdruck der eigenen Tugend, deren Erprobung die Motivation allen Handelns darstellen sollte. Es wird nun zu zeigen

487 Griffin 2013, 119: „Here the discussion reaches a new level, treating the subject of benefits in the context of the fundamental tenets of Stoic ethics.“; bzw. ebd., 231: „Book 4 serves to relate the three topics already treated in Books 1–3 to the fundamental doctrines of Stoicism.“

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sein, welche Ergänzungen für die Herleitung der Gemeinnützigkeit von Wohltaten sich aus dieser explizit stoischen Argumentation ergeben. Zunächst wird ab benef. 3,6,1 die folgende Überlegung angestellt: Wenn Dankbarkeit die Bedingung gelingenden Wohltuns bildet, könnte diese doch auch gesetzlich verordnet und also das tam invisum vitium der Undankbarkeit kraft einer lex unter Strafe gestellt werden. Auf diese Weise könnte eine Fehlhaltung ausgeräumt werden, die – wie aus den Überlegungen zur Bedeutung der Dankbarkeit hervorging (Motor für das beständige Ineinandergreifen von Wohltaten, welches als gemeinnützig herausgestellt wurde) – als in höchstem Maße gemeinschaftsgefährdend gelten muss. Diese Überlegung diskutiert und verwirft Seneca:488 Zunächst sei diese Praxis weder historisch noch gegenwärtig in Rom bzw. bei anderen Völkern üblich gewesen; die Strafe für Undankbarkeit habe seit alter Zeit einerseits darin bestanden, dass sie Hass hervorrufe, und sei andererseits den Göttern überlassen worden (hoc frequentissimum crimen… ad iudices deos mittimus; benef. 3,6,2). Im übrigen fielen Seneca zahlreiche Gründe ein, die dagegen sprächen, die Undankbarkeit kraft positivem Recht unter Strafe zu stellen (benef. 3,7,1). In erster Linie ginge nämlich der beste Teil des beneficium verloren, wenn es wie ein creditum behandelt (also vertraglich geregelt) würde (ebd.); Dankbarkeit erwiese sich als wertlos, wenn sie gesetzlich vorgeschrieben wäre (benef. 3,7,2). Für das vertraglich nicht geregelte Geben, bei dem immer das Restrisiko ausbleibender Vergeltung bestehe (dazu bereits benef. 1,1,12), verwendet Seneca in der Passage eine Reihe von superlativischen Bezeichnungen; er spricht vom besten Teil der Wohltat (pars optima beneficii; benef. 3,7,1), er schreibt, dass solches Geben herrlich sei, großartig (speciosissimum, magnificum; benef. 3,7,1) und es im Leben nichts Schöneres gebe (in vita humana nihil pulchrius; benef. 3,7,3). Damit motiviert Seneca zum Geben um seiner selbst willen: Sogar wenn die Vergeltung ausbleibe, sei die Wohltat nie umsonst, sie werde zur gloriosa res (ebd.; ähnlich auch benef. 3,13,2: gloria eius officii);489 der Ruhm bestehe hier darin, dass sich im Geben immerhin die eigene virtus manifestieren könne.490

488 Chaumartin 1985, 313. 489 Gloria ist hier anders zu verstehen als bei Cicero: Während es ihm darum geht, sich über Wohltaten einen guten Ruf zu erarbeiten, bleibt gloria bei Seneca an dieser Stelle ohne diese Außenorientierung und bezeichnet den Gewinn des guten Gewissens (benef. 4,12,4), den der Einzelne für sich selbst durch sein tugendhaftes Handeln hat. In Ciceros Sinne verwendet Seneca gloria in benef. 4,11,1; dort ist der Begriff negativ besetzt (non lucrum ex beneficio capto, non voluptatem, non gloriam). 490 Ab benef. 3,7,6 formuliert Seneca eher praktische Einwände gegen eine gesetzliche Ahndung der Undankbarkeit, die auf der Schwierigkeit aufbauen, deren Vorliegen und ggf. Schweregrad genau zu bestimmen, weil an sich nicht Sichtbares, Greifbares beurteilt werden müsste, sondern – gemäß der Definition des beneficium – zugrundeliegende Haltungen. In diesem Sinne formuliert er: Difficilis est sententia, quae non rem, sed vim rei quaerit (benef. 3,8,3). Ferner müsste – für eine gesetzliche Regelung – geklärt werden, ab welcher zeitlichen Dauer des Schuldens jemand als undankbar anzuklagen sei (benef. 3,10,1) und wie groß die Strafe dafür

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Zweitens weist Seneca nach, dass eine lex zur Undankbarkeit genau das Gegenteil dessen bewirkte, was damit eigentlich beabsichtigt wäre: In den zugehörigen Prozessen würde deutlich, wie weit verbreitet diese Fehlhaltung ist; was aber allgemein üblich sei, dessen würde man sich viel weniger schämen (benef. 3,16,3). So meint Seneca, ein Gesetz gegen die Undankbaren würde deren Zahl letztlich erhöhen (benef. 3,16,4). Eine Nicht-Sanktionierung der Undankbarkeit durch positives Recht befördere hingegen die Scham der Undankbaren über ihr eigenes Handeln – wie im Prooem anklang, ist genau diese Scham ein Anlass, der zum Umdenken führen und den Undankbaren letztlich dankbar machen kann (benef. 1,2,4). In benef. 3,17 schließt Seneca die Argumentation gegen eine gesetzliche Sanktionierung von Undankbarkeit ab,491 indem er die Ausgangsüberlegung aus benef. 3,6 aufnimmt. Er weist nach, dass auch ohne Gesetz nicht die Rede davon sein könne, dass Undankbarkeit straflos bleibt, denn wer undankbar sei, mache sich unbeliebt – und es gebe letztlich nichts Schlimmeres, als allgemein gehasst zu sein (benef. 3,17,1). Wer so verhasst sei, wage nicht länger, selbst zu geben oder zu empfangen, er verliere damit die Möglichkeit, seine eigene Tugendhaftigkeit unter Beweis zu stellen (benef. 3,17,2), er müsse die Götter fürchten (benef. 3,17,3) und gehe traurig und bekümmert durch das Leben (benef. 3,17,4). Das heißt, wer durch die eigene Undankbarkeit verhasst geworden ist, hat die Möglichkeit verwirkt, sich selbst als Gebender oder Empfänger am Kreislauf der Wohltaten zu beteiligen, um im Handeln die eigene virtus auszudrücken und auszubilden – ganz anders als ein Dankbarer, der froh und heiter auf jede Gelegenheit warte, Dank abstatten zu können (ebd.). Eine lex gegen Undankbarkeit erübrigt sich also auch deshalb, weil die Fehlhaltung für Seneca selbst ohne gesetzliche Sanktionierung nicht straffrei bleibt. In erster Linie jedoch lehnt er ein entsprechendes Gesetz deswegen ab, weil Wohltaten seiner Ansicht nach ihren Wert verlieren, wenn sie nicht mehr auf einer freiwilligen Entscheidung für das Tugendhafte beruhen, sondern zu einer klar geregelten Pflicht werden. Für Seneca sind Wohltaten gemäß seiner Begriffsbestimmung

sein solle (benef. 3,10,2). Schließlich sei noch zu bedenken, welche Gestalt die Vergeltungsleistung etwa für die Rettung aus Lebensgefahr oder Krankheit haben müsse, die ja nicht in derselben Höhe ausfallen könne (Reddi maxima quaeque non possunt, benef. 3,14,3). All dies macht ein klar regelbares Urteilen über Undankbarkeit unmöglich. Dem zuletzt noch geäußerten rhetorischen Einwand, ohne ein entsprechendes Gesetz würde die Zahl der Undankbaren immer größer (benef. 3,16,1), begegnet Seneca mit dem Gegenargument, dass die Zahl vielmehr kleiner würde, weil man sich die Empfänger sorgfältiger auswähle (ebd.). Die Formulierung erinnert an die Mahnung aus dem Prooem, non est neglegenter dandum (benef. 1,1,8), in der, wie ausgeführt, die sorgfältige Bemühung um die Richtigkeit des eigenen Verhaltens zum Ausdruck kam, aber auch die Auswahl würdiger (benef. 1,1,2) und wahrscheinlich dankbarer Empfänger (benef. 1,10,5) eine Rolle spielt. 491 In benef. 6,21,3 findet sich ein weiteres Argument gegen ein Gesetz zur Sanktionierung von Undankbarkeit: Wenn es verpflichtend sei, etwas zu tun, schulde der andere nicht dem Handelnden etwas, sondern dem, der zu diesem Handeln zwinge. Bezogen auf die lex bedeutete dies, dass der Empfänger nicht dem Wohltäter, sondern dem Gesetzgeber Dank abstatten müsste.

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stets Ausdruck eines Willens; die Wohltat hat, wie er schon im Prooem ausführt, intrinsischen Wert (dedi, ut darem, benef. 1,2,3). benef. 4,1,1–4,17,4 In benef. 4,1,1492 kündigt Seneca programmatisch an darzustellen, an beneficium dare et invicem gratiam referre per se res expetendae sint.493 Seneca will die Haltungen, die für den Erfolg wohltätigen Handelns unabdingbar sind, als Ausdruck der eigenen virtus erweisen.494 Die einzelnen Teilaspekte des Themas werden jeweils über rhetorische Einwände eines imaginierten Gesprächspartners eingeführt und Senecas Überzeugungen vor dem Hintergrund des Einwandes in dessen Widerlegung herausgestellt. Für die Einwände zieht er immer wieder – oftmals polemisch – epikureische Überzeugungen heran (nobis pugna est cum Epicureis, benef. 4,2,1), um in Abgrenzung davon stoische Theorie vorzustellen. Zunächst stellt Seneca heraus, dass nach stoischer Überzeugung das Tugendhafte um seiner selbst willen zu erstreben sei; virtus und beneficium dare/gratiam referre stehen hier und im gesamten Buch stets synonym.495 Anders als bei den Epikureern, bei denen die Tugend im Dienst der voluptas stehe (ebd.),496 sei nach stoischem Verständnis jeder Vorteil, der sich aus einer Wohltat ergebe, als zufällige Zugabe zu betrachten (benef. 4,1,3). Geben ist für Seneca ein Akt der virtus, dessen Wert in der Handlung selbst liegt und kein Mittel zum Zweck (dare virtutis est et turpissimum id causa ullius alterius rei dare, quam ut datum sit; benef. 4,3,1). Andernfalls nämlich gäbe man dem Reichsten (implizit: von dem die größte Vergeltung zu erwarten ist) und nicht dignissimo (ebd.; vgl. benef. 1,1,2); außerdem hätten gerade die Begütertsten selbst keinen Grund, Wohltaten zu erweisen, weil sie selbst keiner fremden Hilfe bedürften (benef. 4,3,2). Wenn der eigene Nutzen im Vordergrund stünde, dann hätten 492 Ab benef. 3,18 wendet sich Seneca der Frage zu, ob ein Sklave seinem Herrn (und, ab benef. 3,29, ob ein Sohn seinem Vater) Wohltaten erweisen könne. Die Überlegungen ab benef. 3,18 bis zum Buchende bilden in gewisser Weise einen inhaltlichen Exkurs; der hier skizzierte Verlauf der Argumentation bis benef. 3,17 bereitet die Darstellung ab benef. 4,1 vor. Aus diesem Grund springe ich nun von benef. 3,17 direkt zum Beginn des vierten Buches; Wohltaten insbesondere zwischen servus und dominus soll hingegen im nächsten Kapitel Berücksichtigung finden, wo es darum gehen wird, welche Vorstellungen gemeinschaftlichen Miteinanders sich dem Werk entnehmen lassen. 493 „… ob das Erweisen einer Wohltat und – im Gegenzug – das Abstatten von Dank an und für sich erstrebenswerte Handlungen sind.“ Abel 1995, 46, bezeichnet benef. 4 als Herzstück des Werkes. 494 Empfangen und Vergelten, die bislang getrennt behandelt wurden, sind hier zusammengezogen zu gratiam referre; wie bereits deutlich wurde, ist die Bezeugung von Dankbarkeit die wichtigste Haltung und Handlung aufseiten des Empfängers. 495 Griffin 2013, 233. 496 Griffin 2013, 234, bezeichnet die Darstellung als „hostile representation of the Epicuream view“. Seneca versteht voluptas hedonistisch und verurteilt die Verbindung von voluptas und virtus scharf (benef. 4,2,4).

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auch die Götter keinen Grund, beständig so Großes zu leisten, denn daraus erwachse ihnen kein Nutzen (benef. 4,3,2f.). Als nächstes wird – ausgehend von diesem Verweis auf die Götter – die stoische Theologie in Abgrenzung von der epikureischen entwickelt:497 Seneca verwirft das epikureische Verständnis, nach dem der Schöpfergott seinem Werk gleichgültig gegenüberstehe und nicht in das Weltgeschehen eingreife (benef. 4,4,1); er hält dagegen, dass sich, wenn dies zuträfe, die Gebete der Menschen nicht erklären ließen: Solches Hoffen wäre sinnlos, wenn nicht die Gewissheit bestünde, dass göttliche Wohltaten bald von selbst, bald auf Gebete hin erwiesen würden (benef. 4,4,2).498 Er bringt außerdem die göttliche Vorsehung ins Spiel: Für ihn lässt sich die Vielzahl der Dinge, welche Augen, Ohren und Seele bezaubern, nicht ohne göttliches Zutun erklären (benef. 4,5,1).499 Es passt für Seneca nicht zusammen und sei Zeichen größter Undankbarkeit, zwar empfangene Reichtümer oder Güter als Wohltaten anzusehen, für den Überfluss an allem, was die Natur bereitstellt, jedoch niemandem etwas schulden zu wollen (benef. 4,5,3). All dies sei kein eigenes Verdienst, ebensowenig wie die besondere Fürsorge, welche der Gott dem Menschen angedeihen lasse (benef. 4,6,6).500 Dieser Nachweis, dass die göttliche Macht beständig für das menschliche Wohl waltet und nicht abseits der Welt deren Belange vernachlässigt, dient dazu, zur Nachahmung eines so vorgestellten Gottes aufzufordern, wie Seneca dies bereits im Prooem empfahl (Hos sequamur duces, quantum humana inbecillitas patitur; benef. 1,1,9). Hier formuliert er zunächst nicht explizit, dass menschliche Wohltaten eine imitatio Dei sein sollten, doch aus der Beobachtung, dass der Gott uneigennützig Wohltaten erweist (benef. 4,9,1), schließt er: ergo beneficium per se

497 In benef. 4 finden sich immer wieder Ausführungen zur stoischen Theologie. Auch in benef. 4,17–19 greift Seneca die Thematik auf, ferner in benef. 4,23–25, benef. 4,28 und benef. 4,31– 32. In der Einteilung etwas anders Griffin 2013, 234. 498 Zur stoischen Vorstellung von der Wirkung von Gebeten Algra 2003, 174. 499 Algra 2003, 161, spricht hier vom „argument from design“ bzw.: „ex operibus dei“: Ausgehend von der dem Menschen zuträglichen, geordneten Einrichtung des Kosmos folgere man auf die Existenz und das wohlwollende Walten der Götter. Weniger prägnant, an sich aber inhaltlich ähnlich Chaumartin 1985, 14. Dazu dial. 1,1. 500 Griffin 2013, 235, bemerkt, dass „Seneca proceeds to list the divine benefits in a rhetorical crescendo, culminating in the idea that even what humans invent they owe to the gods.“ Den rhetorischen Einwand, nach dem alles Genannte Gaben der Natur bezeichnet, verwirft Seneca; natura, deus und divina ratio seien bedeutungsgleich (benef. 4,7,1), auch die nach traditionellem Brauch üblichen Götternamen (Iuppiter Optimus ac Maximus, Tonans, Stator, ebd.; Liber pater, Hercules, Mercurius, benef. 4,8,1) bezeichneten doch dieselbe göttliche Kraft, deren verschiedene Facetten betont werden. Um dies zu verdeutlichen, zieht Seneca einen Vergleich mit einzelnen menschlichen virtutes heran (iustitia, probitas, prudentia, fortitudo, frugalitas, benef. 4,8,3), die als animi bona doch bewirkten, dass der gesamte animus gefällt. Hierzu Diog. Laert. 7,147f. Wer also der Meinung sei, allenfalls der natura, nicht aber dem Gott etwas schuldig zu sein, wird von Seneca als ingratissime mortalium angesprochen, der nicht einsehe, dass nec natura sine deo est nec deus sine natura (benef. 4,8,2).

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expetenda res est (ebd.);501 stets sei nur der Nutzen des Empfängers zu berücksichtigen, nie eigener Vorteil (ebd.). Indem aus der Beschreibung, wie göttliche Wohltaten aussehen, Handlungsanweisungen für die menschliche gefolgert werden, dienen jene als Vorlage für diese. Danach geht Seneca, wiederum über einen rhetorischen Einwand, zur Klärung der Frage über, wie sich die alleinige Berücksichtigung des Empfängerwohls mit der sorgfältigen Empfängerauswahl verbinden lasse, bei der es darum geht, dignissimo zu geben (benef. 4,3,1):502 Wie beim Bauern, der um des Ertrags willen Samen in die Erde lege, zeuge, so lautet der rhetorische Einwand, die Überlegtheit in der Empfängerauswahl davon, dass sie nicht um ihrer selbst erwiesen würden (benef. 4,9,2).503 In seiner Replik beginnt Seneca nun wie folgt: Das honestum, das Tugendhafte, werde nur um seiner selbst willen erstrebt, doch es könne nur als solches gelten, wenn geprüft werde, quid faciamus et quando et quemadmodum.504 Um die eigene Wohltat zum Akt der Tugend zu machen, müssten diese Fragen unbedingt Berücksichtigung finden, denn si turpi datur, nec honestum esse potest nec beneficium.505 Die richtigen Empfänger sind nicht zwangsläufig diejenigen, von denen eine Vergeltungsleistung zu erwarten ist, sondern vielmehr jene, die sich dankbar zeigen werden: Eligo virum integrum, simplicem, memorem, gratum, alieni abstinentem, sui non avare tenacem, benivolum (benef. 4,11,1).506 In dieser Überlegung nimmt Seneca einen Gedanken auf, den er bereits im Prooem formuliert hat: In

501 „Also ist eine Wohltat eine an und für sich erstrebenswerte Handlung.“ 502 An dieser Stelle und in der folgenden Gedankenführung wird das iudicium aus benef. 1,15,2 noch klarer in der Stoa fundiert. Hier argumentiert Seneca nicht in Absetzung von der epikureischen Philosophie, sondern „counters objections based on turning his own views against him.“ (Griffin 2013, 238) 503 Das Bild des Sämanns verwendet Seneca bereits im Prooem: … semina in solum effetum et sterile non spargimus (benef. 1,1,2), um die Auswirkung der Auswahl unwürdiger Empfänger zu illustrieren. Vgl. auch Cic. off. 1,48, der dieselbe Metapher heranzieht, allerdings mit Blick auf das reddere, das am Vorbild fruchtbarer Felder orientiert sein sollte: Der Gebende ist stets aufgefordert, mehr zurückzugeben, als er selbst empfangen hat. Zur Verwendung der Metapher bei Seneca und Cicero Griffin 2013, 238. 504 Das quando wird in der systematischen Erörterung des Gebens in den ersten beiden Büchern De beneficiis nur im Zusammenhang mit den personae gestreift, nicht aber ausführlich besprochen. Was in der Fragenreihung hier fehlt, ist das quid, das dort eine Rolle spielt. 505 Wie es zwar an sich erstrebenswert sei, eine hinterlegte Summe zu erstatten, dies nicht zu tun manchmal aber für den anderen aufgrund der Umstände besser (benef. 4,10,1), sei auch bei einer Wohltat stets sorgfältig zu bedenken, quando dem, cui dem, quemadmodum, quare (benef. 4,10,2). Da die ratio stets comes honesti sei, dürfe nichts sine ratione getan werden; ein beneficium ohne ratio sei keines (ebd.). In dieser vernünftigen Abwägung (s.o., iudicium) sieht Seneca die Verantwortung des Gebenden; es sei an sich viel schlimmer (multoque gravius), falsch gegeben zu haben als keine Vergeltung zu bekommen, denn während die fehlende Vergeltung Schuld des anderen ist, bleibt das Versäumnis, die richtigen Empfänger ausgewählt zu haben, die eigene (ebd.). 506 „Ich wähle einen Menschen, der redlich ist, schlicht, mit einem guten Gedächtnis begabt, dankbar, der sich von fremdem Gut fern und an seinem eigenen nicht geizig festhält und der wohlwollend ist.“

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benef. 1,1,2 verwies er zunächst auf den Fehler, non dignos als Empfänger auszuwählen (vgl. benef. 4,3,1); in benef. 1,10,5 schließlich riet er, vor allem denjenigen zu geben, die sich dankbar zeigen werden. Dazu empfahl er im Prooem auch, Undankbare durch beständige Wohltaten dankbar zu machen. Dieser Vorschlag wird hier nicht formuliert; hier zeigt sich zunächst, dass die durch Wohltaten entstehende und gefestigte Gemeinschaft turpes ausschließt. Dass die turpes, die mit den non digni aus dem Prooem identisch sind, nicht die mali, imperiti, proficientes bezeichnen, die sich als erziehbar erweisen und an die Seneca seine Ausführungen richtet, ist hier nach wie vor nur zu vermuten, wird aber weiter unten noch deutlich herausgestellt. Es lässt sich jedoch bereits sagen, dass es bestimmte Menschen gibt, die als Empfänger von Wohltaten nicht infrage kommen und die damit prinzipiell von einer Teilnahme an der auf diese Weise beförderten Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Ihnen zu geben, wird abgelehnt, mit Verweis darauf, dass es nicht tugendhaft wäre.507 In benef. 4,16,1 kündigt Seneca an, nun nach dem Nachweis, dass das Erweisen von Wohltaten um seiner selbst willen erstrebenswert sei, dasselbe auch für die Dankbarkeit herausstellen zu wollen.508 Seneca geht zunächst ganz selbstverständlich von dem ihr selbst innewohnenden Wert aus,509 bevor er ab benef. 4,17,2 ausführlich und mäandernd Kerngedanken der stoischen Ethik heranzieht, um die Bedeutung der Dankbarkeit herauszustellen.510 Es gebe kein Gesetz, das dazu anhalte, sich selbst, die Eltern oder die Kinder zu lieben; ein Gesetz hierfür erübrige sich, weil diese Liebe für Seneca im Menschen von Geburt an (dum nascitur) instinktiv angelegt sei; dafür trage die natura allein Sorge. Hier fasst Seneca in einem Satz die Oikeiosislehre zusammen. Die menschliche Disposition sich selbst und anderen gegenüber wird zur Veranschaulichung dafür herangezogen, dass in derselben Weise dem Menschen auch die Veranlagung zur Tugend angeboren sei, was sich daran zeige, dass sogar die Schlechten instinktiv das Bessere gut hießen (ut insitum sit etiam malis probare 507 Der Wert des beneficium liegt für Seneca im Handeln selbst, was es verschafft, ist ein gutes Gewissen (benef. 4,12,4); wertlos wird es, wenn unwürdige Empfänger ausgewählt werden oder, wie er im Folgenden ausführt, der eigene Nutzen durch zu erwartende Vergeltungsleistungen ins Spiel kommt (benef. 4,11,2–4,15,4). Im Verweis darauf, dass der Lauf der Sonne und der Gestirne überhaupt göttliche Wohltaten zum Nutzen der Menschen seien, ohne dass dem Gott daraus ein Vorteil erwächst, schlägt Seneca den Bogen zu der in benef. 4,3,2 eingeleiteten Überlegung der imitatio Dei. 508 Chaumartin 1985, 13, spricht von einer „distinction très nette“ innerhalb der in benef. 4,1,1 angekündigten Untersuchung. Die Besprechung der gratia füllt den Rest des Buches und wird ab benef. 4,18 e contrario über die Auseinandersetzung mit Undankbarkeit/dem Umgang mit Undankbaren geführt. 509 Den Ausgangspunkt bildet für Seneca in derselben Weise der Gedanke, dass das honestum um seiner selbst willen zu erstreben sei. Und wer wollte darüber streiten, an gratum esse honestum sit (benef. 4,16,2)? Schließlich verwünsche man einen Undankbaren und halte ihn für nichtsnutzig; diese Einschätzung träfe man nicht, nisi gratum esse per se expetendum honestumque esset (ebd.). Dankbarkeit gilt Seneca als gleichermaßen in den Seelen aller verankert (benef. 4,16,3). 510 Dies formuliert ebenso Griffin 2013, 243.

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meliora; ebd.). Mit dieser prinzipiellen Anlage zur Tugend ist für Seneca das mehrfach in ähnlichen Vokabeln beschriebene Vortäuschen von Rechtschaffenheit, insbesondere von wohltätiger Gesinnung zu erklären (opinionem bonitatis adfectare, speciem induere recti, benef. 4,17,2; bonos se ac liberales fingere, nequitiam abdere, benef. 4,17,3). Daraus folgert Seneca: nec quisquam tantum a naturae lege descivit et hominem exuit, ut animi causa malus sit (ebd.). Wesen und Gehalt der naturae lex werden explizit nicht weiter ausgeführt, dennoch lassen sich dieser kurzen Erwähnung folgende Schlüsse entnehmen: Das Bild des hominem exuere beschreibt die Vorstellung, das Menschengemäße abzulegen und absichtlich schlecht (malus) zu sein. Ein solches widernatürliches Verhalten bezeichnet Seneca als Verstoß gegen die naturae lex. Die naturae lex umfasst also, so lässt sich e contrario festhalten, das für den Menschen Natürliche, das Menschengemäße, woran der Mensch sein Handeln ausrichten solle (vgl. benef. 4,17,2: satis natura cavisset). Selbst wer nicht fähig sei, das Gute im eigenen Handeln umzusetzen, trage doch das Wissen darum von Geburt an in sich (insitum; außerdem, wenngleich implicite, benef. 1,2,4) und sei doch zumindest imstande, es als das an sich Erstrebenswerte zu erkennen (probare meliora); Seneca stellt daraufhin die Frage, wen es denn gebe, der nicht wohltätig erscheinen wolle (Quis est, qui non beneficus videri velit; benef. 4,17,2) und führt aus, dass jeder die Tugendhaftigkeit von Wohltaten erkenne (ebd.);511 diejenigen, die nicht fähig seien, sie tatsächlich zu leben, verlegten sich immerhin darauf, so zu tun, als ob (benef. 4,17,3). Anders ausgedrückt, geht Seneca davon aus, dass jeder Mensch um die Tugend weiß und damit aufgrund seiner Anlagen dazu imstande ist, in diesem Sinne zu handeln. Die Richtschnur, die zur Tugend führen kann, ist die naturae lex, welche das in der Oikeiosislehre zusammengefasste Menschengemäße umfasst. Besonders die Tugendhaftigkeit von Wohltaten wird herausgestellt. benef. 4,18 In benef. 4,18 wird die gesamtgemeinschaftliche Relevanz von Wohltaten, die seit dem Prooem – wenn auch im Hintergrund – stets in den Handlungsanweisungen mitzudenken war, im stoischen Kontext verortet.512 Diese Passage ist sowohl für

511 Die virtus wird nicht nur als schön, liebenswert, anziehend, sondern in benef. 4,17,4 auch – mithilfe der Lichtmetapher – als strahlend dargestellt. In benef. 4,17 verwendet Seneca zweimal das Adjektiv malus, spricht einmal von nequitia und zweifach von der Vorspiegelung, bonus zu sein. Die mali sind nicht ganz und gar deckungsgleich mit den proficientes; sie stehen für Menschen, die tatsächlich eher zu Laster und Unredlichkeit neigen. Sie entsprechen aber auch nicht den mali/turpes, die – unbelehrbar – nicht als Empfänger von beneficia ausgewählt werden sollen, sondern gelten immerhin als empfänglich für das Richtige. Seneca zeichnet hier – recht hoffnungsfroh – das Bild grundsätzlich gegebener Einsichtsfähigkeit bei allen Menschen. 512 Griffin 2013, 120: „Seneca here indicates that the social phenomenon he describes in De beneficiis is actually the mechanism by which oikeiosis extends beyond the family.“

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das Werk an sich als auch für die Fragestellung meiner Arbeit zentral513 und soll daher besonders ausführlich zur Besprechung kommen. Zunächst formuliert Seneca den Gedanken der Schutzfunktion wechselseitiger Hilfestellungen (mutua officia), die allein der menschlichen Schwäche abhelfen könnten (quo alio tuti sumus; hoc uno instructior vita, ebd.). Auf sich gestellt, sei der Mensch – anders als alle übrigen Lebewesen – nicht in der Lage, sich zu verteidigen. Also diene ihm die Gemeinschaft zum Schutz (nudum et infirmum societas munit, benef. 4,18,2).514 Bei dieser Überlegung, dass Gemeinschaft dem Menschen eine Notwendigkeit sei, lässt es Seneca nicht bewenden. Er führt weiter aus: Duas res deus illi dedit, quae illum ex obnoxio validissimum facerent, rationem et societatem (ebd.).515 Vernunft und – wie societas hier zu verstehen sein dürfte – Geselligkeit, also die Veranlagung zur Gemeinschaftsbildung sind dem Menschen angeboren, von Gott (oder der natura, vgl. benef. 4,7,1 zur Austauschbarkeit der Begriffe) verliehen, um der menschlichen Schwäche abzuhelfen (finaler Nebensinn des Relativsatzes). Hier kommt einerseits die Vorstellung göttlicher Vorsehung ins Spiel (vgl. schon benef. 4,5,1),516 andererseits aber die der grundsätzlichen, anlagebedingten Ausrichtung des Menschen auf andere (neben der Selbstliebe und der zwischen Eltern und Kindern): Die Bereitschaft zum Erweisen von Wohltaten liegt in seiner Natur. Das heißt, anders als Cicero, der sich explizit gegen die Schwächetheorie wendet, sie dann aber doch auch heranzieht, ohne sie wirklich zu integrieren, verbindet Seneca beide Ansätze – die der Schwäche und der angeborenen Geselligkeit – miteinander,517 indem er ersterem den Gedanken des wechselseitigen Angewiesenseins

513 Abel 1995, 47, spricht vom Kernstück. 514 Für diese Stelle nimmt Bees 2004, 102 Anm. 78, sicher zu recht eine Abhängigkeit vom Mythos des Protagoras an. In benef. 4,18,1 spricht Seneca kurz hintereinander in inhaltlich ganz ähnlichen Aussagen von mutua officia und einem beneficiorum commercium. Daraus lässt sich schließen, dass officium und beneficium hier bedeutungsgleich verwendet werden. Officia und beneficia bezeichnen – gemäß dem weiteren Begriffsverständnis – auch die gegebenen Sachen, die der Unterstützung dienen (iuvamur, benef. 4,18,1) und dazu beitragen, das Leben gegen incursiones subitas zu rüsten (ebd.) Zur Unterscheidung von beneficium/officium s.o. S. 18f. 515 „Zwei Dinge gab ihm der Gott, welche ihn vom schwächsten zum stärksten Lebewesen machten: die Vernunft und die Geselligkeit.“ 516 Griffin 2013, 120. Außerdem schon Préchac 1926, II, der in seiner Einleitung zum Werk von einer “glorification perpétuelle de la bonté divine et de la Providence“ spricht, die an Senecas De providentia erinnere. 517 Hierzu Griffin 2013, 26: „As regards the foundations of human society, Cicero and Seneca are on the same side in the debate as to whether it was natural sociability or practical necessity that directed man to live in communities“; dabei sei Seneca aber subtiler, weil er beide Theorien miteinander vereine, indem er das Motiv der Schwäche göttlicher Vorsehung zuordne und die Abhilfe aus der Schwäche auch den Göttern zuschreibt (ebd., 27). Habinek 2014, 5, weist auf Folgendes hin: Insofern als der Mensch durch ratio und societas bestimmt werde, sei der Einzelne stets nur in Interaktion mit anderen zu definieren: „The very characteristics that make us human (language, thought, ritual, etc.) are all social constructs“, ebd., 4, heißt es, ratio „as a Latin term, implies the ability to count, analyze, describe, summarize, and otherwise render comprehensible and communicable to others the particulars of any aspect of experience.“

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entnimmt, daraus aber keine Zusammenschlüsse aus Berechnung der Notwendigkeit ableitet, sondern die Geselligkeit als gottgewollte (bzw., synonym, naturgewollte; vgl. benef. 4,7,1) Kompensation der Schwäche einführt (deus … dedit… societatem) und zeigt, dass letztlich die menschliche Ausstattung durch Gott den Ausschlag für die hilfsbereite Hinwendung an andere darstellt und nicht das Bewusstsein, dass allein kein Überleben möglich wäre ([sc. ratio et societas] … illum … validissimum facerent).518 Nun lässt sich festhalten: Wohltaten sind, wie bereits im Prooem deutlich wird, für das Gelingen gemeinschaftlichen Miteinanders von grundsätzlicher Bedeutung. Um dies herauszustellen, verwendet Seneca in benef. 4,18,2–4 mit einer gewissen Eindringlichkeit fünfmal den Begriff societas: Der Mensch verdankt der Gemeinschaft Schutz, darüber hinaus aber sogar die Herrschaft über Lebewesen, Elemente und die Widrigkeiten der fortuna (benef. 4,18,3). Schutz und Herrschaft ergeben sich dabei jedoch aus der natürlich angelegten Geselligkeit und sind nicht der Anlass zum Zusammenschluss, wie aus benef. 4,18,2 hervorgeht. Vor dem Hintergrund der stoischen Philosophie begründet Seneca hier, weshalb Gemeinschaft überhaupt anzustreben ist. Der in benef. 1,4,2 herausgestellten Notwendigkeit von Wohltaten für die Gemeinschaftsstiftung und -stärkung (res, quae maxime humanam societatem adligat) wird nun der Gedanke hinzugefügt, dass diese Notwendigkeit dem Menschen wesensgemäß ist: Der Einzelne strebt aufgrund der ihm innewohnenden Geselligkeit (insitum benef. 4,17,2; deus dedit, benef. 4,18,2) anderen zu und erkennt darüber hinaus die beneficentia als an und für sich erstrebenswerte Tugend. Gemäß der stoischen Theorie ist die Tugend das einzige Gut und stellt das Telos menschlichen Handelns dar; insofern als hier die beneficentia mit virtus in eins fällt, erscheint das Wohltun – ohne dass dies jedoch explizit gesagt würde – als Telos menschlichen Lebens.519 Die Argumentation steht im Zeichen des Nachweises, dass die Dankbarkeit als an und für sich erstrebenswert anzusehen ist (ut scias per se expetendum esse grati animi adfectionem; benef. 4,18,1).520 Von hier bis zum Buchende wird dieser e

518 Hierzu auch Griffin 2013, 244, die den Ansatz der angeborenen Geselligkeit als den für die Stoa üblichen herausstellt. Auch vor diesem Hintergrund ist Senecas Kombination beider als innovativ zu bezeichnen. 519 Wie in der Einleitung ausgeführt (s.o. S. 23f.), liegt erst in der bewussten Entscheidung, sich anderen zuzuwenden, die Tugend. Dies ist besonders prägnant in epist. 95,57 zu fassen: Actio recta non erit nisi recta fuerit voluntas; ab hac enim est actio. Rursus voluntas non erit recta nisi habitus animi rectus fuerit; ab hoc enim est voluntas. Eine wichtige, durch göttliche providentia so vorgesehene Handlungsfolge wohltätigen Handelns ist die, dass der Mensch durch die Fähigkeit, sich anderen wohltätig zuzuwenden, aus seiner körperlichen Schwäche herausfindet (finaler Relativsatz in benef. 4,18,2: quae illum obnoxium validissimum facerent; fecisset in benef. 4,22,3). 520 In diesem Sinne formuliert Seneca in benef. 4,22 einen Preis der Dankbarkeit. Er verweist zunächst darauf, dass der Lohn des Dankbarseins (magna in ipso opere merces rei, benef. 4,22,2) im Handeln selbst bestehe, dass die Kraft des honestum (hier konkret: der Dankbarkeit) andere anziehe, seine Schönheit sie mitreiße (ebd.) und sich aus der Dankbarkeit multa

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contrario erbracht, indem die Undankbarkeit als an und für sich zu vermeidende Haltung erscheint (ebd.). Sie wiegt für Seneca deshalb so schwer, quoniam nihil aeque concordiam humani generis dissociat ac distrahit quam hoc vitium (ebd.).521 Bereits im Prooem wurde die Undankbarkeit als häufigste Fehlhaltung inter plurima maximaque vitia (benef. 1,1,2) bezeichnet; der Tadel an diesem vitium durchzieht die bisher behandelten Passagen. In diesem Sinne stellt Seneca in benef. 4,18,4 abschließend nochmals heraus, dass die Gemeinschaft für den Menschen lebenswichtig ist: Hanc societatem tolle, et unitatem generis humani, qua vita sustinetur, scindes.522

commoda ergäben (benef. 4,22,3): et tutior est vita melioribus amorque et secundum bonorum iudicium, aetasque securior, quam innocentia, quam grata mens prosequitur (ebd.). Die Verwendung des Handelsvokabulars (merces, commoda; in benef. 4,22,4 ferner emolumentum) ist im Kontext der unmittelbar vorangehenden Ausführungen zu verstehen: In benef. 4,20,1f. reagiert Seneca auf den rhetorischen Einwand eines vorgestellten Epikureers, dass der Dankbarkeit ein Nutzen innewohne (utilitas, commoda). Das leugnet er nicht rundheraus, betont jedoch, dass dieser stets sekundär bleiben müsse und Dankbarkeit selbst dann erstrebenswert sei, wenn sie anstelle eines Nutzens dem Dankbaren Schaden bringe (benef. 4,20,1–2; benef. 4,21,5f.). Nutzenkalkül wird abgelehnt; in benef. 4,22 führt Seneca aus, welcher stets nachrangige Nutzen sich seiner Ansicht nach tatsächlich oft aus einer Wohltat ergibt. Dieser mache sie allerdings nicht zu einer Sache, die nicht um ihrer selbst willen zu erstreben sei (benef. 4,22,4). Griffin 2013, 246 bemerkt hierzu, dass Seneca die epikureische Überzeugung, virtutes seien um ihrer Vorteile willen zu erstreben, hier aufnehme, indem er auf die sekundären Vorteile („side benefits“) der Dankbarkeit verweist. Die Vorteile erklärt Seneca im Sinne von benef. 4,18 mit der natürlichen/göttlichen Vorsehung: Fuisset enim iniquissima rerum natura, si hoc tantum bonum miserum et anceps et sterile fecisset. Der Formulierung fecisset liegt – ebenso wie bei facerent in benef. 4,18,2 – der Gedanke der schöpferischen Kraft der natura zugrunde (providentia), die absichtsvoll bestimmte Wesenszüge verleiht. Dass diese Vorteile vorgesehen sind, wird im Anschluss an benef. 4,22 im Vergleich mit der Anordnung des Weltalls nochmals unterstrichen: Der Lauf der Gestirne nütze den Menschen, schreibt Seneca und nimmt damit die stoische Überzeugung von der durch Vorsehung segensreichen Anordnung des Weltalls auf (benef. 4,23,1; hierzu Griffin 2013, 246). Er setzt dann fort: Die Gestirne wären aber auch an und für sich schon aufgrund der ihnen innewohnenden Schönheit ein bewunderungswürdiges spectaculum (dignus adorari; digna suspectu, benef. 4,23,2; ähnlich benef. 4,24,1). Dies entspricht der Darstellung in benef. 4,18, nach der die Schutzfunktion wechselseitiger Wohltaten zwar durch providentia vorgesehen ist, sich aber aus der an und für sich erstrebenswerten, weil naturgemäßen Tugendhaftigkeit ergibt. 521 „… weil nichts die Eintracht des Menschengeschlechts in derselben Weise spaltet und zerreißt wie diese Fehlhaltung.“ 522 Weiter heißt es, die Gemeinschaft werde aufgehoben, wenn Undankbarkeit nicht an und für sich zu vermeiden sei, sondern nur deshalb, weil der Undankbare Sanktionen befürchten müsse (ebd.). Damit wird die Überlegung aus benef. 3,6ff. aufgegriffen, dass ein Gesetz gegen Undankbarkeit weder richtig noch nützlich wäre. Im Hinblick auf die Frage, ob Undankbarkeit gesetzlich geregelt werden sollte, lässt sich vor dem Hintergrund von benef. 4,17f. Folgendes ergänzen: Insofern als Wohltaten auf einer willentlichen Bejahung einer natürlichen Veranlagung beruhen, können sie nicht erzwungen werden; der Wille zur virtus würde durch den Zwang ersetzt; damit würde die Aufgabe der beneficentia auf die bloße Notwendigkeit, nämlich die Kompensation der Schwäche des Einzelnen reduziert; der dem Menschen innewohnende

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benef. 4,26–35 Angesichts der großen Zahl Undankbarer empfiehlt Seneca im Prooem, wie oben ausgeführt, dass deren Verhalten das eigene Geben nicht verlangsamen solle. Er rät dazu, durch beständiges Geben selbst dem hartnäckigsten Undankbaren Dankbarkeit abzuringen und durch erzieherische Wohltaten doch noch ineinandergreifende Handlungen zu ermöglichen. Zugleich formuliert er den Ratschlag, vor allem denen zu geben, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach dankbar zeigen werden. Undankbare seien nicht auszuschließen, aber die Opfer, die man für sie zu erbringen bereit sei, müssten sich im Rahmen halten. Ab benef. 4,26 wird die Frage nach dem Umgang mit Undankbarkeit wieder aufgenommen und breiter erörtert.523 Vorbereitet wird die Argumentation durch benef. 4,25, an dessen Anfang – erstmals explizit im Werk – die Telosformel formuliert ist: Propositum est nobis secundum rerum naturam vivere et deorum exemplum sequi (benef. 4,25,1).524 Der Verweis auf das Vorbild der Götter dient in benef. 4,25,2 in derselben Weise wie auch schon im Prooem dazu, zum wohltätigen Handeln um seiner selbst willen zu ermahnen.525 In benef. 4,26,1 formuliert Seneca nun einen rhetorischen Einwand, durch den der Argumentationsschwerpunkt hin zum Umgang mit Undankbarkeit verschoben wird: In Nachahmung der Götter müsse man auch Undankbaren geben, denn auch Verbrechern gehe die Sonne auf, und auch Piraten stünden die Meere offen. Soll ein vir bonus also auch dann eine Wohltat erweisen, wenn er sicher wisse, dass der andere undankbar reagieren wird (ebd.)?

Drang, sich anderen zuzuwenden und in der so entstehenden Gemeinschaft sein Wesen zu entfalten, käme nicht zur Geltung. Hierzu Griffin 2003: „Ingratitude thus violates the nature of man in which the social instinct is innate, and defies the intention of divine providence which gave us that instinct.“ 523 Ausgeklammert bleiben in dieser Textbesprechung die Abschnitte benef. 4,19–4,24. Seneca befindet sich weiter im Dialog mit epikureischer Theorie, hier: mit Epikur selbst, der das Göttliche zwar als weltabgewandt beschreibe, aber dennoch von Dankbarkeit gegenüber göttlicher Macht spreche (benef. 4,19). Nach stoischem Verständnis wird das Göttliche als waltend und lenkend beschrieben, als Spender größter Wohltaten (benef. 4,23f.). Weiterhin geht es um Formen der Dankbarkeit, die materielle Vergeltung ein- oder ausschließen können; zentral ist – wenig überraschend – die innere Haltung (benef. 4,21). Ferner wird das Verhältnis von Dankbarkeit und Nutzen diskutiert. Für Seneca wohnt jeder virtus ein Nutzen inne; ein konkret greifbarer dürfe sich auch ohne weiteres ergeben, ohne jedoch – darauf kommt es an – die Handlungsmotivation darzustellen (benef. 4,20 und 4,22). 524 Benef. 4,25 stellt für Griffin 2013, 246 die Klimax nicht nur des vierten Buches, sondern des gesamten Werkes dar. Anders als in den besprochenen Passagen aus Cic. off. enthält die Formel hier zwei Teile, einerseits das Gebot, naturgemäß zu leben, und andererseits jenes, die Götter nachzuahmen. Angesichts der Austauschbarkeit der Begriffe Gott und Natur (benef. 4,7,1) sind beide Teile der senecanischen Telosformel bedeutungsgleich (Griffin 2013, 248). 525 Die Beschreibung der Uneigennützigkeit göttlichen Waltens setzt die Ausführungen aus benef. 4,23f. fort.

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Um diese Frage zu beantworten, seien nach der stoischen Lehre (ex constitutione Stoica, ebd.) zwei Arten der Undankbaren zu unterscheiden. Zunächst nennt Seneca diejenigen, die aus Unwissenheit undankbar sind: Alter est ingratus, quia stultus est; stultus enim malus est; qui malus est, nullo vitio caret: ergo et ingratus est (benef. 4,26,2).526

Die mali vereinten alle Übel in sich, wobei sich nicht alle gleichermaßen zeigten, aber doch angelegt seien (ebd.). Der zweite Typ der Undankbaren neige nach Seneca wesensgemäß zur Undankbarkeit hin (in hoc vitium natura propensus; benef. 4,26,2).527 Nach dieser Unterteilung rät Seneca, nur dem erstgenannten ingratus Wohltaten zu erweisen, denn wenn er diesen aus dem Empfängerkreis eigener Wohltaten ausnähme, bliebe niemand mehr übrig (benef. 4,26,3). Diese Bemerkung zeigt an, dass es sich bei diesen ingrati um die imperiti handelt, die Nicht-Weisen, also (insofern als der Weise ein kaum erreichbares Ideal bleibt) alle Menschen. Wie auch in der bereits zitierten Passage benef. 5,12,5 spricht er von mali und bezeichnet damit die grundsätzliche Fehlerhaftigkeit der Nicht-Weisen, die sich bei allen auf unterschiedliche Weise Bahn bricht.528 Nach der Aussage in benef. 2,18,4 ist das Werk an diesen ersten Typ der ingrati gerichtet; diese sind zwar imperfecti homines, aber als proficientes (benef. 7,2,1) lernwillig und belehrbar. Dem anderen Undankbaren hingegen, der speziell zu dieser Fehlhaltung hinneige, solle man keine Wohltaten erweisen – was ihn von den erstgenannten mali, imperfecti homines unterscheidet, ist – so führt Seneca im Folgenden aus – seine deutliche Tendenz, sich undankbar zu verhalten: Der malus sei von keinem vitium frei, er trage die Anlage zu allen Übeln in sich (benef. 4,27,4); insgesamt sei jedoch zu beobachten, dass bei jedem nur ganz bestimmte Fehlhaltungen hervorscheinen (benef. 4,27,2; ähnlich benef. 4,27,3). Wer nun besonders zur Undankbarkeit hinneige (qui ad hoc vitium vergit, benef. 4,27,4) sei im engeren Sinne ingratus zu nennen; Wohltaten an die Adresse eines solchen Menschen müssten von vornherein

526 „Der eine ist undankbar, weil er dumm ist. Der Dumme ist nämlich schlecht. Wer schlecht ist, hat alle Fehlhaltungen: Also ist er auch undankbar.“ 527 Raccanelli 2009, 344f. 528 Hierzu Griffin 2013, 249: „The Stoic doctrine is that the vices are inseparable: a non-Sage = a fool = a bad man.“ Diese Überlegung wird in benef. 5, 15–17 wieder aufgenommen: Nam, ut dicimus, omnes stulti mali sunt; qui unum autem habet vitium, omnia habet; omnes autem stulti et mali sunt: omnes ergo ingrati sunt (benef. 5,15,1). Dennoch solle man sich nicht beklagen und nicht zürnen, denn alle seien undankbar; Seneca rät: ignosce illis, omnes insaniunt (benef. 5,17,3). Die Empfehlung, mit diesen stulti/mali/ingrati nachsichtig umzugehen, steht vor dem Hintergrund der Ausrichtung des Werkes an ebendiese mali, die zwar, wie aus der bereits zitierten Passage benef. 5,12,5–5,13,4 hervorgeht, keine beneficia im engeren Sinne erweisen oder empfangen können (katorthomata, die den Weisen vorbehalten sind), wohl aber beneficiis similia (kathekonta, worin die materia beneficii eine Rolle spielt).

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als verloren gelten (peritura, benef. 4,27,5).529 Diese zweite Kategorie der Undankbaren ist mit den turpes aus benef. 4,9,3 identisch bzw. mit den indigni etwa aus benef. 4,10,5 (dignus/indignus wird mehrfach verwendet, vgl. schon benef. 1,1,2).530

529 Dem wiederholten Einwand des imaginierten Gesprächspartners, dass die Götter ihre Gaben auch Undankbaren (also auch den im engeren Sinne ingrati) zur Verfügung stellten, begegnet Seneca, indem er anmerkt, die göttlichen Wohltaten fielen den ingrati eher zu, als dass sie an sie gerichtet wären: Es sei nicht möglich, die Undankbaren auszuschließen, und so sei es immer noch besser, auch den Schlechten um der Guten willen zu nützen, als umgekehrt den Guten aufgrund der Schlechten zu schaden (benef. 4,28,1). Hier stellt Seneca boni und mali einander gegenüber. In gewissem Widerspruch zur Begriffsverwendung im vorherigen Abschnitt sind die mali hier die Undankbaren im engeren Sinne, die boni diejenigen, die (vorher wegen ihrer Unvollkommenheit als mali bezeichnet) es verdienen, Wohltaten zu empfangen 530 Es sei ein großer Unterschied, ob man jemanden aus einer Wohltat nicht ausschließe oder ihn bewusst als Empfänger wähle (benef. 4,28,5). Einen notorisch Undankbaren sollte man nicht als Empfänger von Wohltaten auswählen (benef. 4,28,6). Geringfügige Leistungen seien jedoch auch diesem zu gewähren, wobei Seneca darauf verweist, dass tam exigua nicht als beneficia zu bezeichnen seien (benef. 4,29,2; hierzu Hands 1968, 46). Darunter fallen – zunächst ähnlich wie in Cic. off. 1,52 – der Zugang zu Feuer und Wasser und das Erteilen von Ratschlägen. Außerdem nennt Seneca noch Almosen wie Brotkanten oder hingeworfene Münzen. Während für Cicero derartige Leistungen die vulgaris liberalitas im Rahmen der größtmöglichen Gemeinschaft aller mit allen darstellen, sind sie bei Seneca unabhängig vom Nähegrad der Beziehung, umfassen aber ebenso wie bei Cicero das, was der Einzelne jedem Menschen schuldet (s.u. humanitati damus, benef. 4,29,3). Gemeinsam ist beiden, dass die Gaben nicht vergolten werden – bei Cicero, weil es sich in der Regel um einmalige Begegnungen handelt, bei Seneca, weil der Undankbare auf die Leistung nicht reagiert – und also keine Beziehung entsteht. Zur unerwiderten Unterstützung Fremder vgl. auch benef. 4,11. Der Begriffsbestimmung des beneficium wird hier mit dem Kriterium der Größe eine zusätzliche Komponente hinzugefügt. Die Größe der Gabe und die bereits mehrfach beschriebene Motivation, ut eius causa faciam, ad quem volam pervenire beneficium, dignumque eum iudicem et libens id tribuam percipiensque ex munere meo gaudium, machen gemeinsam die Wohltat aus (benef. 4,29,3). Dabei ist der weitere Begriff des beneficium zugrunde zu legen, denn nach dem engeren Verständnis, wie es im Prooem ausgeführt wurde (ab benef. 1,5,2) spielt die materia beneficii bei dessen Definition gar keine Rolle. Dies beobachtet auch Griffin 2013, 250. Im Bezug auf zulässige Hilfeleistungen an Undankbare werden beide Kriterien nicht erfüllt: Es handelt sich um geringfügige Dinge; außerdem ist der andere nicht explizit gemeint; sie werden neglegenter tamquam parva erwiesen, et non homini damus, sed humanitati (ebd.). Hierzu auch benef. 5,20,5. Mitunter seien auch Wohltaten an Undankbare (im engeren Sinne) angezeigt, so führt Seneca in benef. 4,30–32 aus, nicht jedoch um ihretwillen, sondern etwa zur Auszeichnung bedeutender Vorfahren (benef. 4,30,1–4). Seneca zieht wiederum den Vergleich mit den Göttern heran und erklärt deren Wirken zugunsten Unwürdiger in derselben Weise damit, dass in solchen Fällen gar nicht diese, sondern verdienstvolle Ahnen gemeint seien (benef. 4,31,1– 2) bzw. spätere, bedeutende Nachkommen, von denen die Götter kraft der Vorsehung bereits wissen (benef. 4,32,1).

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Diese Unterteilung der Undankbaren in benef. 4,26,2 verhilft dazu, den scheinbaren Widerspruch aufzulösen zwischen dem Gebot der imitatio Dei und der Anweisung, die ingrati als Empfänger eigener Wohltaten nicht zuzulassen.531 Prinzipiell darf für Seneca, wie aus seinen Mahnungen hervorgeht, eigenes Geben nie von der Berechnung eigenen Nutzens motiviert sein. In der Ermahnung, zu geben um des Gebens willen (erstmals benef. 1,2,3), entspricht das Erweisen von Wohltaten dem Vorbild der Götter. Geben dient immer der Ausbildung der eigenen Tugend; der Lohn des Handelns ist zunächst immer ein gutes Gewissen, wie aus benef. 4,12,4 hervorgeht. Dennoch ist, wie besonders benef. 4,18 anzeigt, mittels Wohltaten ein gelingendes Miteinander (societas) zu erstreben, insofern als die Wechselseitigkeit zum Wesen dieser Tugend gehört. Hier lässt sich aus Senecas Ausführungen folgern: Angesichts der Tatsache, dass alle Menschen (aufgrund der allen gemeinsamen Veranlagung) nach dem Vorbild der Götter handeln und gleichermaßen bereit sein müssten, Wohltaten zu erweisen, sollte sich eine Antwort auf die eigene Wohltat von selbst ergeben. Aufgrund der zuletzt in benef. 4,26,2 beschriebenen allgemeinen Fehlerhaftigkeit sind ausbleibende Antworten (undankbare Reaktionen) möglich, bei den imperiti, proficientes jedoch zu korrigieren, sodass mit allen, die bereit sind, eine dankbare Haltung einzuüben, die beneficentia ihr Wesen entfalten und im wechselseitigen Bemühen um Tugendhaftigkeit das Miteinander gelingen kann.532

531 Hierzu Griffin 2013, 248: „Seneca resolves the dilemma by subtle redefinition of ‚ungrateful‘ and of ‚benefit‘.“ In ihrer Unterteilung (ebd.) beginnt ab benef. 4,26 die Diskussion eher praktischer Fragen zur Vorbereitung der „series of questions, paradoxes, and syllogisms“ der letzten drei Bücher. Dagegen möchte ich benef. 4,26 und 4,27 noch zum theoretischen Teil rechnen, weil hier nach wie vor explizit stoische Philosophie referiert und in dieser Bezugnahme die grundsätzliche Frage des Umgangs mit Undankbaren erörtert wird. 532 Ob freilich jemand auf ein beneficium langfristig dankbar oder undankbar reagieren werde, lasse sich, so antwortet Seneca auf einen neuerlichen Einwand (benef. 4,33,1), nicht mit Gewissheit sagen. Hierfür könnten nur Wahrscheinlichkeiten in die Waagschale geworfen werden, keine Sicherheiten. Daraus ist zu folgern: ei beneficium dabo, quem veri simile erit gratum esse (benef. 4,33,3). In benef. 4,34 widerspricht er einem weiteren rhetorischen Einwand, der besagt, dass mitunter auch ein malus pro bono subrepat et bonus pro malo displiceat (benef. 4,34,1; dieselbe Verwendung von mali und boni wie in benef. 4,28,1): Seneca wiederholt, dass einem im engeren Sinne Undankbaren keine Wohltaten erwiesen werden sollten; wenn der Gebende jedoch durch das Vorspiegeln falscher Tatsachen überlistet werde, liege der Fehler nicht bei ihm. Ab benef. 4,34,3 behandelt Seneca, wiederum in Auseinandersetzung mit dem imaginierten Gesprächspartner, die Frage, wie zu verfahren sei, wenn man versprochen habe, eine Wohltat zu erweisen, der Empfänger sich aber zwischenzeitlich als notorisch undankbar herausgestellt habe. Hierbei spielt das Ausmaß der versprochenen Sache eine Rolle (benef. 4,36,1); es müsse von Fall zu Fall abgewogen werden, ob ein gebrochenes Versprechen oder der Verstoß gegen das Gebot, Undankbaren Wohltaten zu erweisen, schwerer wiege (Beispiele in benef. 4,39). Insgesamt sei es bei einem Versprechen wichtig, einschränkend hinzuzufügen, es habe Geltung, sofern nichts dazwischen komme (subest, inquam, tacita exceptio: si potero, si debebo, si haec ita erunt, benef. 4,39,4).

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Anderes gilt für ingrati im engeren Sinne, denen eine Belehrbarkeit abgesprochen wird und die, weil die durch Wohltaten angestrebte societas nicht zustande kommt, aus der Gruppe der Empfänger ausgeschlossen werden sollten (vgl. auch benef. 3,17,1–4).533 Wiewohl das eigene Geben dem Fortschritt in der sittlichen Bildung dient, kann die virtus der beneficentia ihnen gegenüber ihr Wesen auf Dauer nicht entfalten; das Telos des secundum naturam vivere, das für den Menschen in der Entwicklung gemeinschaftlichen Miteinanders besteht, wird verfehlt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist erklärbar, weswegen eine Wohltat an einen turpis und indignus aus benef. 4,9,3 bzw. 4,10,5 dezidiert als non honestum [...] nec beneficium (benef. 4,9,3) bezeichnet wird: Wohltaten brauchen das Miteinander, um vollkommen zu sein.534 Es zeigt sich, dass die Ausführungen besonders des vierten Buches Maßgebliches zum Nachweis der Gemeinnützigkeit wohltätigen Handelns beitragen, die bereits seit dem Prooem im Raum stand, nun aber durch die philosophische Verankerung eine klare Fundierung erfährt. Es wird deutlich, warum efrolgreiche, also beständig ineinandergreifende Wohltaten so wichtig sind (und also Undankbarkeit unbedingt bekämpft werden muss, ohne sie jedoch unter Strafe zu stellen): Aufgrund der körperlichen Schwäche des Einzelnen sind die Menschen auf wechselseitige Hilfeleistungen (mutua officia/beneficia) angewiesen, um überleben zu können. Die Gemeinschaft, die sich aus diesen ineinandergreifenden Handlungen ergibt, schützt und stärkt den Einzelnen. Das Bedürfnis, durch Wohltaten Gemeinschaft einzugehen, beruht jedoch nicht auf Nutzenerwägungen, sondern auf einer natur- bzw. gottgewollten Veranlagung des Menschen. Indem er diese auszubilden bemüht ist, handelt er im Sinne seiner wesensgemäßen Bestimmung (naturae lex).535 Die Bestimmung des Menschen, die gemäß benef. 4,18 vor allem

533 Dieser Ausschluss steht in gewissem Widerspruch zu benef. 4,17,3, wo eine prinzipielle Einsicht in das Richtige, Tugendhafte bei allen angenommen wird, und zur Bemerkung im Prooem, dass selbst hartnäckig Undankbare durch beharrliche Wohltaten dankbar gemacht werden können (benef. 1,2,5). Zu den Grenzen der Belehrbarkeit Setaioli 2014, 244, der ausführt: „Seneca does in fact maintain that it is the duty of the therapist to attempt treatment of even seemingly desperate cases before getting up.“ Ebd., Anm. 40, fügt er jedoch hinzu: „Seneca does admit, however, that in some cases no therapy has an effect.“ 534 Eine Wohltat ist eine socialis res (benef. 5,11,5; s.o., S. 123). Die turpes/indigni sind diejenigen, die keine Bereitschaft zeigen, ihre wesensgemäßen Anlagen auszubilden. In dieser Verleugnung ihrer menschlichen Disposition sind sie den bei Cicero beschriebenen NichtMenschen ähnlich, die ebenfalls (durch Passivität bw. sogar aktiv gemeinschaftsschädigendes Handeln) ihre Teilhabe an der Gemeinschaft verwirkt haben (off. 3,32; s.o. Anm. 224). 535 In der Empfehlung, in einer imitatio Dei Wohltaten an imperiti zu richten, die zwar nicht frei sind von der Fehlhaltung der Undankbarkeit, aber als proficientes dem Richtigen nachstreben, werden die im Prooem skizzierten erzieherisch ausgerichteten Wohltaten wieder aufgenommen. Im Gebot, unbelehrbare Undankbare jedoch auszuschließen, wird der ebenfalls im Prooem angedeutete Gedanke fortgeführt, dass mitunter Unwürdige ausgewählt würden, es aber in der eigenen Verantwortung liege, Wohltaten an diejenigen zu richten, welche die Bereitschaft mitbringen, sich langfristig wohltätig und dankbar zu verhalten. Dies beobachtet in ähnlicher Weise auch Griffin 2013, 130.

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das Leben in Gemeinschaft umfasst, ist – entsprechend der Definition des beneficium – auf zwei Ebenen zu sehen: Einerseits wirken die materiae beneficii (vor dem Hintergrund der Notwendigkeit) als mutua officia. Auf einer zweiten Ebene dienen beneficia als Ausdruck von animus/voluntas, also von virtus, der menschengemäßen Gemeinschaft, dem menschengemäßen Miteinander an sich, das über die tatsächlich greifbaren wechselseitigen Vorteile hinaus in einem Aufeinanderbezogensein von Haltungen besteht.536 Das Erweisen, Annehmen und Vergelten von Wohltaten ist Ausdruck von Tugend und setzt den Menschen an den ihm entsprechenden Platz im Kosmos. Auf diese Weise sind die Handlungsanweisungen für erfolgreich ineinandergreifende Wohltaten, die – mit dem Fokus auf Beziehungen zwischen Einzelnen – insbesondere in den ersten beiden Büchern De beneficiis entwickelt und hier ab 4,26 um den Umgang mit Undankbaren erweitert wurden, in letzter Konsequenz immer in diesem Gesamtzusammenhang zu sehen. Im Folgenden soll die Argumentation ab benef. 3,6,1 in einer Übersicht zusammengefasst werden: Wohltat und positives Recht benef. 3,6–3,17

Dankbares und damit gelingendes Miteinander zu erzwingen, indem die allgemein verhasste Fehlhaltung der Undankbarkeit gesetzlich verboten wird, wäre aus folgenden Gründen nicht richtig und nicht nützlich:

– – –

Öffentliche Prozesse gegen Undankbare würden deren Zahl erhöhen, weil angesichts der großen Verbreitung der Fehlhaltung die Scham darüber, die ein Umdenken möglich machen kann, verschwinden würde. Undankbarkeit ist auch ohne Sanktionierung nicht straffrei; der Undankbare ist den anderen so verhasst, dass er nicht mehr am gemeinschaftlichen Miteinander teilnehmen kann. Dankbarkeit wäre nicht mehr tugendhaft, wenn sie gesetzlich erzwungen würde. Wohlwollendes Geben und dankbares Empfangen sind Ausdruck von Tugend und beruhen auf animus/voluntas des Handelnden.

benef. 4: stoische Grundlegung der beneficentia als Tugend: Das wohlwollende Erweisen von Wohltaten (beneficium dare) und deren dankbare Entgegennahme (gratiam referre) sind um ihrer selbst willen erstrebenswerte Handlungen. beneficium dare imitatio Dei benef. 4,3,2–4,8,3

ratio/iudicium benef. 4,9–4,15

Nach stoischer Vorstellung walten die Götter unablässig zum Wohl des Menschen, ohne daraus selbst einen Vorteil zu ziehen. Dieses uneigennützige Handeln der Götter sollte stets die Richtschnur menschlichen Handelns sein: Geben sollte um des Gebens willen stattfinden, ohne Berechnung eigenen Nutzens. Es dient der Erprobung der eigenen Tugend. Nur die sorgfältige Prüfung, quando, cui, quemadmodum, quare eine Wohltat erwiesen wird, macht sie zu einer solchen. Fehlt die Überlegtheit, hört sie auf, tugendhaft zu sein.

536 Diese Gemeinschaft ist die „cosmic city“, s.o. S. 26.

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gratiam referre naturae lex

Die menschengemäßen Anlagen sind in der naturae lex zusammengefasst: Der Mensch ist sich selbst und seinen Mitmenschen zugeneigt.

benef. 4,17

Der Mensch weiß um die Tugend, näherhin die beneficentia, die auf einer Ausrichtung des eigenen Handelns an der naturae lex fußt. Undankbarkeit

Undankbarkeit gefährdet die Eintracht der Menschengemeinschaft.

benef. 4,18

Der Mensch ist aufgrund seiner körperlichen Disposition auf die Gemeinschaft angewiesen, die sich durch wechselseitige Wohltaten ergibt. Aufgrund göttlicher Vorsehung ist dem Menschen die Geselligkeit angeboren. Es ist vorgesehen, dass durch Wohltaten Gemeinschaft entsteht, welche die körperliche Schwäche des Einzelnen ausgleicht. Gemeinschaft ist dem Menschen zugleich wesensgemäß und notwendig.

Telosformel benef. 4,25

Propositum est nobis secundum rerum naturam vivere et deorum exemplum sequi.

Umgang mit Undankbarkeit

Götter lassen allen Menschen ihre beständigen Wohltaten zuteil werden. Menschliche Wohltaten sollten sich daran orientieren.

benef. 4,26– v.a. 4,34

Sollen Wohltaten auch Undankbaren zuteil werden? Die Reaktion des Empfängers ist beim Erweisen von Wohltaten nicht einzuberechnen. In diesem Sinne bleibt jede Wohltat stets imitatio Dei. implicite: Insofern als alle Menschen gleichermaßen die Anlage haben, anderen wohltätig zu begegnen, müsste sich dieses Miteinander von selbst ergeben. Die Unvollkommenheit der Nicht-Weisen (also aller) führt jedoch immer wieder dazu, dass Wohltaten durch Undankbarkeit verdorben werden. Undankbarkeit ist zu verzeihen, wenn sie bei denen erscheint, die prinzipiell bereit sind, ihr eigenes Verhalten zu verbessern. Sie werden nicht dauerhaft undankbar bleiben; insofern als diese Fehler jedem unterlaufen, können sie als Empfänger von Wohltaten ausgewählt werden. Wer sich dazu nicht bereit zeigt, ist indignus und sollte nicht als Empfänger von Wohltaten ausgewählt werden, weil mit ihm auch langfristig kein Miteinander möglich wird.

Pares animo, inpares fortuna: Beneficium und societas Zu Beginn von benef. 5 findet sich, wie oben bereits angemerkt, ein Verweis darauf, wie Seneca die Werkstruktur von De beneficiis verstanden wissen will: Er gibt an, in den ersten vier Büchern erörtert zu haben, quemadmodum dandum esset beneficium, quemadmodum accipiendum (benef. 5,1,1). Geben, Empfangen und Vergelten sind hier – wie schon im vierten Buch De beneficiis – auf dare und accipere verkürzt; wie oben gesagt, fehlt in dieser Inhaltsangabe der Gehalt des dritten und vierten Buches. Die verbleibenden Bücher enthielten nun – nachdem die thematisch relevanten Punkte besprochen worden seien (quae rem continebant; benef. 5,1,2) –

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noch einige Zusätze (conexa …, non cohaerentia, ebd.). In ähnlicher Weise finden sich in den Prooemien des sechsten und siebten Buches Vermerke, dass dort weitere Fragen behandelt würden, die vornehmlich der Schärfung des Verstandes dienten (benef. 6,1,1) bzw. dass der übrig gebliebene Rest noch angefügt werde (benef. 7,1,1). Wenngleich Seneca mit diesen entschuldigenden Einführungen die Bedeutung der letzten drei Bücher kokett untertreibt,537 möchte ich – ausgehend von seiner Selbsteinschätzung – festhalten, dass sie insofern als Ergänzung des Untersuchungsgegenstandes gelten können, als in ihnen Überlegungen der ersten vier Bücher vertieft bzw. noch deutlicher anwendungsbezogen ausgeführt werden. Das heißt etwa, dass in den letzten drei Büchern detaillierter dargestellt wird, wie das Miteinander, das durch Wohltaten gestiftet und gestärkt wird, aussehen soll und welche Form eine solcherart entstehende Gemeinschaft hat. Im Zentrum dieses Kapitels steht die Frage nach Gestalt und Bezugsrahmen der senecanischen Argumentation. Methodisch unterscheidet es sich insofern von den vorangegangenen, als einerseits die bisher untersuchten Abschnitte auf Hinweise zur zugrundeliegenden Gemeinschaftsvorstellung hin ausgewertet und andererseits die Ergänzungen und Weiterführungen aus den letzten drei Büchern einbezogen werden sollen. Dafür ist es nötig, eine eher systematische Betrachtungsweise zu wählen. Basierend auf der Einschätzung, die letzten drei Bücher als Ergänzung zu den ersten vier zu lesen, sollen einzelne Passagen im jeweiligen Zusammenhang betrachtet, nicht jedoch die Bücher in ihrem Gesamtzuschnitt untersucht werden. Wie wir gesehen haben, steht bei Seneca die Frage im Vordergrund, auf welche Weise durch Wohltaten Beziehungen zwischen Einzelnen gestiftet und gestärkt werden können. Was Seneca fordert, ist, Kongruenz zwischen res und voluntas herzustellen, um die gegebene Sache zum Ausdruck von Wohlwollen oder Dankbarkeit zu machen, denn der Empfänger reagiert seiner Überzeugung nach nicht vorrangig auf die gegebene Sache, sondern auf die Begleitsignale (benef. 1,1,8), durch die man ihn unter Umständen undankbar machen kann (benef. 1,1,4).538 Die 537 Hierzu merkt Griffin 2013, 120, an: „their arrangement is not as casual as Seneca’s introduction to the last three books might suggest.“ Die Methode der letzten drei Bücher, ausgehend von Fragen einzelne Punkte zu diskutieren, wird, wie Griffin ebd. herausstellt, bereits im dritten und vor allem vierten Buch eingeführt. Während im vierten Buch jedoch hauptsächlich Einwände eines imaginierten epikureischen Gesprächspartners diskutiert und widerlegt werden, wird hier ein wohlwollend Fragender in der zweiten Person Singular in die Erörterung einbezogen; aus benef. 5,1f. geht hervor, dass es sich dabei um den Adressaten Aebutius Liberalis handelt. 538 Die senecanische Unterteilung jedes beneficium in res und animus/voluntas ähnelt bis zu einem gewissen Grad der bei Watzlawick et. al. 1980, 53, beschriebenen Mehrdimensionalität von Kommunikation, nach der, wie oben ausgeführt, jede Mitteilung einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt enthält: Ersterer liefert die Information, letzterer gibt an, wie diese zu verstehen ist. Damit ist der Beziehungsaspekt dem des Inhalts logisch übergeordnet. In ähnlicher Weise wird bei Seneca durch animus/voluntas angezeigt, wie die res data zu beurteilen ist (vgl. benef. 1,5,5: die gegebenen Sachen sind ministeria, per quae se voluntas amica explicat). Anders als bei Watzlawick sind animus/voluntas jedoch der res nicht logisch, sondern moralisch überlegen, was damit zu tun hat, dass Seneca nicht wie Watzlawick Kommunikationsabläufe

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Beschreibung des Wesens von Beziehungen, welche durch Wohltaten nach senecanischem Verständnis entstehen, erlaubt, wie in benef. 1,4,2 angedeutet, Rückschlüsse auf das Wesen der Gemeinschaft, die durch solche Beziehungen charakterisiert ist. Wie sich in benef. 4,18 zeigt, ist der Mensch zur Gemeinschaft veranlagt; beneficium dare et invicem gratiam referre entsprechen seiner Disposition. Ein Zuwiderhandeln, namentlich: die Undankbarkeit, wird damit zur größten Gefährdung von Gemeinschaft. Senecas Anliegen ist es, zu einer Bejahung der eigenen Disposition aufzurufen und durch eine Gestaltung der eigenen Haltung zum Gelingen von Beziehung (und: Gemeinschaft) beizutragen. In den ersten vier Büchern De beneficiis zeigt sich, mit welcher Vehemenz der Einzelne bemüht sein sollte, Beziehungen möglich zu machen, indem er nicht nur den eigenen Anteil am Gelingen des Miteinanders berücksichtigt,539 sondern auch den des anderen nach

beschreibt, sondern verbessern will. Dies beobachten auch Raccanelli 2009, 335, Picone 2013, 114f., Brennan 2003, 257, und, besonders prägnant, Griffin 2003, 103: „But whereas the sociologist claims to describe social processes and to explain them in terms of their functions, Seneca aims to reform the social process of exchange. To ancient philosophers, of course, this distinction between description and moral exhortation does not appear so clear as it does to us, because they regard themselves as urging men to behave in accordance with what is in fact their nature as devised by divine providence.“ Die Hervorhebungen stammen von Griffin selbst. Im Zusammenhang damit geht Seneca, wie wir gesehen haben, davon aus, dass die in animus/ voluntas ausgedrückte Botschaft, wie die Wohltat zu verstehen ist, sich im Zeichen der Ausbildung der eigenen Tugend durch eigene Anstrengung steuern lässt (was die Umschreibung mit voluntas bereits impliziert), während bei Watzlawick et al. (ebd. 55) der Beziehungsaspekt meist unbewusst mitschwingt. Legt man Watzlawicks Überlegungen zugrunde, stellen die bei Seneca skizzierten Begleitsignale, die verbal oder nonverbal ausfallen können, an sich zusätzlich zur gegebenen Sache nochmals explizit eine Nachricht an den Empfänger dar und sind wiederum in ihren Inhalts- und Beziehungsaspekt zu unterteilen: Das Bemühen um freundliche Worte kann durch unbewusst transportierten Widerwillen korrumpiert werden, ebenso lassen sich bemüht wohlwollende Gesten durch eine an und für sich entgegengesetzte Einstellung aufheben. Die Möglichkeit der Inkongruenz auf dieser Ebene wird von Seneca nicht berücksichtigt – und vermutlich auch nicht in Erwägung gezogen, denn in der immer wieder empfohlenen Einübung einer angemessenen Haltung beim Wohltun geht er, wie ich meine, zugleich davon aus, dass das damit verbundene Wohlwollen dem Partner gegenüber keine bloße Formalie bleibt, sondern tiefer Einsicht entspringt und damit nicht aufgesetzt, sondern authentisch ist und sich die entsprechende Kongruenz von selbst ergibt. 539 Wie die Allegorie vom Reigen der Grazien (benef. 1,3) und die Ballspielmetapher (benef. 2,17) anzeigen, geht Seneca von einem fortgesetzten Ineinandergreifen der Handlungen aus. Das bedeutet, dass nicht klar von Ursache und Wirkung gesprochen werden kann, sondern bei zwei Handlungspartnern A und B das Verhalten von B immer auf das von A reagiert, dieses aber wiederum eine Reaktion auf eine vorgängige Handlung von B ist usw. Die Undankbarkeit von B kann also eine Reaktion auf die vorgängige Undankbarkeit von A sein; dem mag wiederum anderes vorangegangen sein. In der Beurteilung der Handlungsabläufe durch die Beteiligten werden jedoch Ursache und Wirkung aufgrund des jeweiligen Standpunktes bestimmt; die Handlungen werden von ihnen je nach ihrer eigenen Auffassung angeordnet bzw., mit Watzlawick gesprochen, interpungiert (Watzlawick 1980, 57). Aufgabe des Handelnden ist es für Seneca, die eigene Interpunktion der Abläufe selbstkritisch zu hinterfragen.

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Kräften zu lenken versucht.540 Die Anstrengung, die ihm abverlangt wird, ist groß: Er muss seine eigene Haltung reflektieren, eigene Undankbarkeit vermeiden, wohlwollend und freundlich sein, Zurückweisungen vonseiten des Empfängers geduldig aushalten, in der Hoffnung (und immer verbunden mit der Möglichkeit des Scheiterns: zum Restrisiko bereits benef. 1,1,12), letztlich eine gelingende Beziehung ins Werk zu setzen und damit, was implizit mitschwingt, der Gemeinschaft zu nützen. Dem Empfänger wird Ähnliches abverlangt, auch er muss seine eigenen Anteile am Gelingen der Handlungsabläufe prüfen. Für die Vergeltungsleistung gelten dieselben Regeln wie für die Eröffnungsgabe 540 Raccanelli 2009, 322, spricht hier von einem „meccanismo correttivo“; durch den der andere dankbar gemacht werden kann. Ebd. 325 fasst sie diesen Mechanismus zusammen: „Si mette da parte la ritorsione e si ristruttura la relazione stessa.“ Eine erzieherische Wohltat setzt bei der eigenen Tugend an, die also grundlegend sein muss. Dem Ansatz liegt, wie gesehen, die Prämisse zugrunde, dass auch der Undankbare prinzipiell seiner menschengemäßen Disposition folgen und also zur societas gehören möchte. Die Haltung des hartnäckig Gebenden ist ein wiederholter Appell an den anderen, sich menschengemäß zu verhalten. Ganz ähnlich gehen Watzlawick et al. 1980, 83–86, davon aus, dass im Beziehungsaspekt einer Mitteilung dem Partner jeweils das eigene Selbstbild und das Bild, das man von ihm hat, mitgeteilt werden, welche dieser entweder bestätigen, verwerfen oder entwerten kann. Bezogen auf erzieherisches Wohltun bedeutet dies: Der (tugendhafte) Gebende verhält sich wohlwollend und wohltätig. Er transportiert mit seiner Gabe die Botschaft, dass dies seine Auffassung des Menschengemäßen ist und dass er den anderen in derselben Weise als Menschen, das heißt, als Mitglied der menschengemäßen Gemeinschaft und also als geeigneten Empfänger von Wohltaten sieht. Der Empfänger der Wohltat lässt diese Botschaft zunächst ins Leere laufen. Zugleich gibt er zu verstehen, dass er selbst keine Notwendigkeit zur Dankbarkeit sieht. Wenn nun der Wohltäter daraufhin seine Wohltaten einstellt, passiert Folgendes: Nemo id esse, quod iam videtur, timet, deprenso pudor demitur (benef. 7,28,3). Die Scham, welche das beständiges Vorhalten des Richtigen bewirken soll (s.o., benef. 1,2,4), wird im Gegenteil weggenommen, der andere wird in seinem Selbstbild („Ich bin eben undankbar.“) bestätigt und richtet sich gleichsam darin ein (Hier beschreibt Seneca das Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiung, das bei Watzlawick 1980, 95, ausgeführt wird.). Wenn aber der Wohltäter – für den Partner überraschend – nicht in der erwarteten Weise mit einem Ende der Zuwendungen reagiert, sondern mit einer Fortsetzung, verwirft er dieses Selbstbild, und zwar so lange, bis der andere davon ablässt („Ich sehe dich aber als Menschen, und dazu gehört ganz entscheidend die Geselligkeit, und dazu wiederum die Dankbarkeit.“). Durch die hartnäckige Verwerfung des Selbstbildes des anderen lässt sich dieses Bild – hin zu einem menschengemäßen – korrigieren. Die begrenzte Vergleichbarkeit der bei Seneca und Watzlawick angenommenen Mehrdimensionalität wohltätigen Handelns bzw. von Kommunikation an sich erstreckt sich auch auf die Verhandlung von Selbst- und Fremdwahrnehmung im Beziehungsaspekt einer Mitteilung: Anders als bei Watzlawick lässt sich bei Seneca eindeutig eine moralische Überlegenheit eines Partners beobachten. Seine Selbst- und Fremdwahrnehmung ist richtig, die des anderen hingegen nicht. Aus dieser Erziehung zur Dankbarkeit bleiben einzig die Unbelehrbaren ausgeschlossen, weil sie auch durch eine hartnäckige Verwerfung ihres Selbstbildes nicht davon abweichen, sich selbst gewissermaßen als Nicht-Menschen zu verhalten. Senecas Optimismus im Hinblick auf die Belehrbarkeit selbst hartnäckig Undankbarer ist dabei im Werk verschieden stark ausgeprägt: Während gemäß benef. 4,26f. die notorisch Undankbaren keine Wohltaten empfangen sollten, ist sowohl im Prooem wie auch im Fazit von einer prinzipiellen Belehrbarkeit aller Menschen die Rede (benef. 1,2,5; benef. 7,31,1).

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(abgesehen von der Möglichkeit der Wahl des Handlungspartners, die dann wegfällt). Auch der Empfänger ist aufgefordert, bei und nach der Annahme der Wohltat durch die entsprechende Haltung den anderen nicht zu verstimmen, um eine Fortsetzung der Beziehung möglich zu machen; auch für ihn kommt es letztlich auf die Gestaltung der eigenen voluntas an, der die materielle Schuld untergeordnet ist (vgl. benef. 2,25,1) – auch in den Ausführungen zum Annehmen/Vergelten zeigt sich wieder, dass für Seneca nicht der reziproke Austausch von Gütern die Beziehung ausmacht, sondern diese von ineinandergreifenden Haltungen bestimmt wird. Die Überlegenheit der voluntas über die res data wird von Seneca konsequent weitergedacht. So zeigt sich in der oben ausgeklammerten Passage ab benef. 3,18, dass das Ineinandergreifen tugendhafter Gesinnungen zu einer moralischen Gleichgestelltheit in an und für sich ungleichen Beziehungen führt, also auch die Relevanz äußerer Hierarchien infrage stellt: Seneca setzt sich mit der Frage auseinander, ob ein Sklave seinem Herrn eine Wohltat erweisen kann (benef. 3,18,1). Der grundsätzliche (stoische) Ansatz, in adiaphora und Wertvolles (Tugendhaftes) zu unterscheiden, den Seneca auf die Wohltat anwendet, wird hier auf die Ebene soziopolitischer Realitäten übertragen, indem Seneca status und animus einander gegenüberstellt: Allein auf den animus komme es an (benef. 3,18,2; ähnlich benef. 3,22,3: Quid ergo? beneficium dominus a servo accipit? immo homo ab homine.).541 Ein Sklave sei zwar zunächst zu gehorsamem Dienst verpflichtet,542 könne darüber hinaus aber manches leisten, was er nicht tun müsse:543 Anders als ein verpflichtendes ministerium sei ein beneficium das, was man freiwillig gibt (quod quis dedit, cum illi liceret et non dare; benef. 3,19,1).544 In ähnlicher Weise beantwortet

541 Hierzu Griffin 1976, 257: „The principal philosophical dogma in Seneca’s thought on slavery is that there are no natural slaves: all men share in the divine reason and thus may claim the gods as ancestors; servitude, like all social ranks, ‚nomina ex ambitione aut iniuria nata‘, is the work of fortune which ‚aequo iure genitos alium alii donavit‘. […] That slavery was not natural was the only view consistent with Stoic physics, and it is indirectly attested for the Old Stoa and was probably retained by the Middle Stoa.“ 542 Griffin 1976, 258, verweist darauf, dass aus dieser stoischen Überlegung, dass es nicht von Natur aus Sklaven gebe, nur minimale Gebote der Menschlichkeit hervorgegangen seien; bei Cicero etwa, der in off. Panaitios’ Sicht vertrete, heißt es, man solle Sklaven als mercennarii ansehen, operam exigendam, iusta praebenda (off. 1,41). Die Institution der Sklaverei wird nicht kritisch hinterfragt. Zur „philosophical justification of slavery“ de Ste Croix 1975, 17– 19; ferner Habinek 2014, 22. 543 Saller 1982, 24: Wohltaten von Seiten des Sklaven seien möglich gewesen, „and not only in the view of the moralizing Seneca. In several cases in the Digest the jurists wrote on the assumption that a slave or freedman could perform some service (beneficium or meritum) deserving reward.“ 544 Auf diese Überlegungen folgen ab benef. 3,23,1 zahlreiche Beispiele für Wohltaten von Sklaven an ihre Herren. Danach resümiert Seneca, nun dürfe wohl kein Zweifel mehr bestehen, dass es solche Wohltaten geben könne. Er fragt ebd.: Quare potius persona rem minuat, quam personam res ipsa cohonestet? Mit persona ist hier – gemäß der Untergliederung bei Cicero –

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Seneca ab benef. 3,29,1 die Frage, ob Söhne ihren Vätern Wohltaten erweisen können; auch hier kommt es seiner Darstellung nach auf die innere Einstellung an, anders als im Fall des Sklaven ergänzt durch das Bemühen, die Eltern zu übertreffen, deren Wohltaten in jahrelanger Fürsorge bestehen (benef. 3,28,2).545 Ein weiteres Beispiel, in dem verschiedene Positionen aufeinander treffen, findet sich bereits zu Beginn des Werkes, wo Seneca schildert, wie Aeschines, ein mittelloser Hörer des Sokrates, mangels materiellen Besitzes sich selbst dem Meister zum Geschenk gemacht habe (benef. 1,8; Folgerung in benef. 1,9,1: Vides, quomodo animus inveniat liberalitatis materiam etiam inter angustias?).546 Insgesamt zeigt sich in allen Beispielen, dass im Bezug auf die voluntas stets Gleichheit der Partner möglich ist, insofern als deren Gestaltung in der Macht des Handelnden liegt. Dies bedeutet nun aber, dass mittels der voluntas traditionelle Hierarchien aus eigener Kraft zu überwinden sind. Hier lässt sich nun fragen, wie diese Möglichkeit der Gleichheit im Verhältnis zur hierarchisch gegliederten soziopolitischen Realität der römischen Kaiserzeit zu sehen ist, vor deren Hintergrund De beneficiis abgefasst ist.547 Betrachtet man zunächst die eben zitierten Passagen, ist festzustellen, dass Seneca dort nirgends festgelegte Strukturen infrage stellt und er nicht als der Sozialrevolutionär gelten kann, als den etwa Chaumartin ihn gern sähe.548 Wenn Seneca

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die soziale Stellung gemeint, die jedoch, wie Seneca nun betont, nicht den Wert eines Menschen ausmache: Eadem omnibus principia, eademque origo; nemo altero nobilior, nisi cui rectius ingenium et artibus bonis aptius. Auszeichnung ergibt sich also nur durch das ingenium, die Anlage also, die durch artes ausgebildet ist. Hierzu Veyne 2003, 136f. und 139–143. Den Gedanken grundsätzlich gleicher Disposition bekräftigt Seneca in benef. 3,28,2: Unus omnium parens mundus est. Er tadelt zuletzt noch die Bigotterie derjenigen, die ihre Sklaven verachteten, zugleich aber lasterhaft mit Sklaven verstrickt seien. Für eine ausführliche Besprechung der Passage über Wohltaten von Sklaven an ihre Herren verweise ich auf Lentano 2005, passim, wo sich auch ein Überblick über die Forschungsmeinungen findet. In der Erörterung, ob ein Sohn seinem Vater Wohltaten erweisen kann, führt Seneca in benef. 3,29,2 die folgende Überlegung ein: Illud concedetur multos filios maiores potentioresque extitisse quam parentes suos; aeque et illud meliores fuisse. Die These nun, dass ein Sohn seinen Vater überragen könne, wird in den folgenden Abschnitten immer wieder durch den Einwand bestritten, dies sei unmöglich, weil die elterliche Wohltat, die überhaupt erst die Existenz des Sohnes bewirkt habe, stets vorgängig und niemals zu übertreffen sei. In benef. 3,31,3 formuliert Seneca dann aber, dass die Zeugung allein nur ein minimum beneficium sei, wenn nicht (etwa mit guter Fürsorge und Erziehung) noch anderes dazukäme. Ein Sohn könne sich sehr wohl vor seinem Vater auszeichnen: Tu enim me mihi rudem, imperitum dedisti, ego tibi filium, qualem genuisse gauderes (benef. 3,31,5). Ab benef. 3,32,3 führt Seneca Beispiele von Söhnen an, die ihre Väter seiner Einschätzung nach in beneficiis übertroffen haben, ohne dass dies jedoch, wie er in benef. 3,36,1 betont, parentium venerationem angreife. „Siehst du, wie der Wille auch in Notlagen die Möglichkeit zur Freigebigkeit findet?“ Hierzu Picone 2013, 130, der beschreibt, dass Aeschines nicht nur die klare voluntas manifestiere, sich Sokrates in würdiger Weise erkenntlich zu zeigen, sondern „nello stesso tempo riesce, grazie al suo ingegno, a sganciarsi dalla situazione economica che lo afflige.“ Zur hierarchischen Gliederung Roms etwa Inwood 1995, 241. Chaumartin 1985, 347.

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nachweist, dass Sklaven die Möglichkeit haben, ihrem Herrn Wohltaten zu erweisen, Söhne ihren Vätern, Mittellose Reichen, dann führt er jedesmal Varianten aus, die innerhalb des von äußeren Parametern abgesteckten Spielraumes denkbar sind. Soziale Hierarchien werden in der gegebenen Weise an- und hingenommen. Dies zeigt sich, indem Seneca dem Sklaven selbstverständlich die Pflicht zuweist, ihren Herren zu dienen; dies zeigt sich, wo der Mittellose, der sich nicht materiell erkenntlich zeigen kann, sich selbst dem Überlegenen verpflichtet (und damit unterordnet; benef. 1,9,1); dies lässt sich außerdem greifen in benef. 2,15–17, wo Seneca dazu mahnt, die Gestaltung von Wohltaten stets an den personae beider Partner auszurichten, wozu – wie die oben angeführten Exempla des Alexander und des Antigonos (benef. 2,16–2,17) anzeigen – die Berücksichtigung materieller Möglichkeiten, sozialer Positionen sowie selbst gewählter Lebenswege gehört. Bestehende Verhältnisse werden also nicht angetastet; Seneca präsentiert keinen revolutionären, Bestehendes aufhebenden Gegenentwurf zu den soziopolitischen Strukturen der Kaiserzeit.549 Asymmetrie auf materieller Ebene und Symmetrie auf der übergeordneten der Gesinnung können für Seneca widerspruchsfrei nebeneinander stehen. Zu Beginn des fünften Buches führt er ein Bonmot an, das seinem Adressaten Aebutius Liberalis gut gefalle: Illud utique unice tibi placet velut magnifice dictum turpe esse beneficiis vinci (benef. 5,2,1). Dieser Spruch sei nun aber ganz anders zu verstehen, als Liberalis ihn deute, der – nach einem Hinweis im Prooem des fünften Buches zu urteilen – (in Korrespondenz zu seinem Namen) offenbar ein großzügiger Wohltäter gewesen sein muss (benef. 5,1,3). Seneca meint, in rerum honestarum certamine sei es niemals schändlich, übertroffen zu werden, solange man nur die Waffen nicht hinwerfe und solange man, selbst übertroffen, seinerseits wiederum versuche, den anderen zu übertreffen (benef. 5,2,1). Hier nimmt Seneca den Gedanken der honesta contentio wieder auf, den er bereits im Prooem im Zusammenhang mit der lex vitae formuliert hat (vgl. auch honesta contentio, benef. 3,36,2). In benef. 1,4,3 kündigte er, wie gesehen, an: Docendi sunt libenter dare, libenter accipere, libenter reddere et magnum ipsis certamen proponere eos, quibus obligati sunt, re animoque non tantum aequare sed vincere.550

Er spricht von einem Wettstreit, bei dem es darum geht, als Empfänger einer Wohltat den Wohltäter in res und animus zu übertreffen. In benef. 5 fällt die Bestimmung des Wettstreits etwas anders aus, weil hier – ausgehend vom engeren Begriffsverständnis der Wohltat als Manifestation einer tugendhaften Haltung – allein die voluntas als wertvoll angesehen wird.551 Es zeigt

549 Dazu prägnant Inwood 1995, 264; zitiert in Anm. 559. 550 „Sie sind zu lehren gern zu geben, gern anzunehmen, gern zu vergelten und sich selbst einen bedeutenden Wettkampf aufzuerlegen: nämlich diejenigen, denen sie verpflichtet sind, in der Sache und der Haltung nicht nur zu erreichen, sondern zu übertreffen.“ 551 Picone 2013, 84–90, spricht von einer „dimensione agonale“ des beneficium. Die Bedeutung, die der res data beigemessen wird, hängt, wie im Werkverlauf immer wieder deutlich wird,

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sich, dass der materiell Unterlegene durch die Gestaltung seiner Haltung, die prinzipiell in seiner Macht steht, zum Sieger werden kann. Nicht alle brächten dieselben vires, facultates oder dieselbe fortuna mit – stets aber zähle der Wille: voluntas ipsa rectum petens laudanda est (benef. 5,2,2). Auch wer, weil seine Lebensumstände sich nicht so günstig darstellten, weniger oder gar nicht vergelte, könne und solle voluntate par sein (benef. 5,2,3); ein vir bonus sei damit unbesiegbar (id accidere viro bono non potest, ut vincatur; benef. 5,2,4). In einer Reihung kriegerischer Vokabeln (und in benef. 5,3,1–2 sogar Exempla standhafter Tugend im Krieg; kriegerische Vokabeln fanden sich, wie gesehen, auch schon im Prooem: benef. 1,2,5–1,3,1) sowie im Vergleich mit dem sportlichen Wettkampf, wo dem Sieger die palma winkt (benef. 5,3,3), stellt Seneca heraus, dass der Sieg durch eigene Anstrengung erreicht werden kann.552 So komme es vor, dass eine Gabe die andere an Größe überrage, die Haltungen der Partner aber einander ebenbürtig seien: Beneficia fortasse beneficiis victa sunt, si inter se data et accepta conputes, si dantem et accipientem conparaveris, quorum animi vel per se aestimandi sunt, penes neutrum erit palma (ebd.).553

Die mögliche Unterlegenheit auf der materiellen Ebene ist damit nicht entscheidend; gerade dadurch, dass man zu schulden wisse und den Willen zur Vergeltung habe, sei man dem anderen im Hinblick auf den animus ebenbürtig (benef. 5,4,1): Indem man sich also dem anderen dankbar verpflichtet, macht man sich ihm moralisch gleich! Wenn es tatsächlich schändlich wäre, in Wohltaten übertroffen zu werden, dürfte man von reges und principes keine Wohltaten entgegennehmen, denen man keine gleichwertigen Gegengaben darbringen könne (benef. 5,4,2). Ihnen gegenüber beruhe die Vergeltungsleistung in consensus und ministerium, insofern als dadurch ihre Macht (excellens potentia, benef. 5,4,3) gestärkt würde. Dies klingt zunächst ähnlich wie bei Cicero, doch stiftet das Ineinandergreifen von Gabe und Gehorsam bei Seneca Asymmetrie nur auf der materiellen Ebene; in der Gesinnung, welche dieser stets übergeordnet ist, können und sollen Wohltäter und Empfänger davon ab, ob die Wohltat im weiten Sinne sowohl res als auch voluntas umfasst oder, strenger gefasst, auf letztere beschränkt bleibt. Die engere Auffassung der Wohltat impliziert jedoch nicht, dass die Verpflichtung zur materiellen Vergeltung aufgehoben wäre, doch die Größe der Gegengabe bringt eben, salopp gesagt, keine Punkte für die Beurteilung, wer wen in der Größe der Wohltat übertrifft. Picone 2013, 102, beschreibt für das senecanische beneficium mehr einen „valore di legame“ als einen „valore di scambio.“ 552 Dennoch unterscheidet sich die honesta contentio vom sportlichen Wettkampf, weil nämlich auch die Leistung des Partners im eigenen Handeln möglichst gesteigert werden soll: Wie gesehen, soll durch das eigene Handeln beim anderen möglichst Dankbarkeit bewirkt werden – im eigenen Handeln bereitet man also den Weg für die Ebenbürtigkeit des Partners. 553 „Vielleicht sind die Wohltaten durch Wohltaten besiegt worden, wenn du das wechselseitig Gegebene und Empfangene miteinander vergleichst. Wenn du aber den Gebenden und den Nehmenden vergleichst, deren Haltungen auch selbst zu beurteilen sind, wird die Siegespalme keinem gehören.“

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einander gleichgestellt begegnen.554 Zusammenfassend heißt es in benef. 5,5,3, dass mitunter Gleichheit und Ungleichheit nebeneinander stünden: Quibusdam enim et pares et inpares sumus, pares animo, quem solum illi exigunt, quem nos solum promittimus, inpares fortuna, quae si cui obstitit, quominus referret gratiam, non ideo illi tamquam victo erubescendum est; non est turpe non consequi, dummodo sequaris.555

Der Einzelne kann auf der – an sich indifferenten – Ebene der res einem anderen also unterlegen sein, ohne dass diese Unterlegenheit sich auf die – übergeordnete – Ebene von animus/voluntas erstreckt.556 Nun erfolgt ein Sprung in das sechste Buch De beneficiis, wo Seneca vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erörtert, wie man mit der Verpflichtung umgehen sollte, die sich aus einer angenommenen Wohltat ergibt.557 Er tadelt diejenigen als nimis grati, die, übereifrig in ihrem Bemühen, eigene Schuld abzutragen, dem anderen, dem sie verpflichtet seien, ein Unheil an den Hals wünschten, um ihn davon zu befreien (benef. 6,25,1). In Wahrheit sei diese Haltung Zeichen von Undankbarkeit (benef. 6,27,1), denn wer dem anderen Unglück wünsche, habe es eilig, eine Schuld zu begleichen. Dieses Verhalten sei nichts anderes als der Versuch, sich selbst aus der materiellen Unterlegenheit in die überlegene Position zu bringen: Superiorem te facis et, quod nefas est, bene meritum ad pedes tuos mittis (benef. 6,27,2;558 ähnlich der in benef. 6,34,1 wiedergegebene Wunsch des vorschnell Vergeltenden: In potestatem meam reccidat, gratiam meam desideret, sine me salvus, honestus, tutus esse non possit, tam miser sit, ut illi beneficii loco sit, quidquid redditur.).559 Hier beschreibt Seneca, was bereits bei Cicero eine Rolle spielt, die Unfähigkeit, die temporäre Inferiorität aushalten zu können, die durch die Annahme der Wohltat 554 Einzig von moralisch herausragenden Männern, für die Seneca exemplarisch Sokrates anführt, sei es statthaft, an Wohltaten übertroffen zu werden; weiterhin im Bild der kriegerisch sich bewährenden voluntas bleibend, bezeichnet Seneca solche Partner als invulnerabiles hostes (benef. 5,5,1). 555 „Manchen Menschen sind wir gleich und ungleich, gleich in der Haltung, die allein sie fordern, die allein wir versprechen, und ungleich im Los: Wenn dieses jemandem entgegensteht, Dank abstatten zu können, muss er deswegen nicht erröten, als ob er besiegt worden sei; es ist nicht schändlich, keinen Erfolg zu haben, solange man nur folgt.“ 556 An dieser Stelle sei der weitere Inhalt von benef. 5 kurz zusammengefasst: Ab benef. 5,7 stellt Seneca heraus, dass es unmöglich sei, sich selbst Wohltaten zu erweisen (benef. 5,7–11; benef. 5,11,5 beneficium als socialis res). Im Anschluss folgt die bereits zitierte Passage, in der eine Wohltat im engen Sinne als katorthoma nur dem Weisen möglich ist, beneficiis similia, also kathekonta, jedoch allen (benef. 5,12–17). In benef. 5,18–20 erläutert Seneca, dass es beim Erweisen einer Wohltat nicht darauf ankomme, wem sie letztlich nütze, sondern an wen sie ursprünglich gerichtet sei. Ab benef. 5,20,6 bis zum Buchende erörtert er, ob und wann es richtig sei, zur Vergeltung zu ermahnen. 557 Zum Inhalt von des sechsten Buches s.o. Anm. 485. 558 „Du stellst dich über ihn und – dies ist ein Frevel – du stößt ihn, der sich um dich verdient gemacht hat, vor deine Füße.“ 559 „Er soll in meine Macht zurückfallen, meine Hilfe verlangen, ohne mich nicht wohlbehalten, geachtet, geschützt sein können; er soll so elend sein, dass ihm als Wohltat gilt, was auch immer ihm zurückgegeben wird.“

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bewirkt wird.560 Doch durch die Unterteilung des beneficium in res und voluntas lässt sich, wie immer wieder deutlich wird, aus eigener Anstrengung stets Symmetrie im Hinblick auf letztere herstellen; zugleich verhilft diese Unterteilung dazu, die materielle Unterlegenheit nicht mehr als belastend und unerträglich zu empfinden.561 Das Eingehen und Aushalten der materiellen Schuld ist für Seneca letztlich sekundär; ihm kommt es darauf an, kraft einer summa fiducia sui (benef. 6,42,1) einschätzen zu können, dass man dadurch dem Wohltäter zwar verpflichtet, nicht aber moralisch unterlegen ist: Die Position ihm gegenüber wird durch die eigene Fähigkeit zur dankbaren Annahme bzw. Vergeltung bestimmt, die eigene Haltung also, deren Gestaltung stets im eigenen Ermessen liegt (vgl. benef. 2,24,4).562 Auf

560 In diesem Sinne verweist Seneca bereits in benef. 5,11,3 darauf, dass zwischen Gabe und Gegengabe eine bestimmte Zeitspanne liegen müsse: Alio tempore beneficium accipitur, alio redditur. Aus gabetheoretischer Sicht machen diese Zeitspanne zwischen Leistung und Vergeltung und das Risiko ausbleibender Vergeltung die beziehungsstiftende Kraft von Gaben aus (Därmann 2010,25). 561 Hierzu Griffin 2013, 265: „In this way he counters the feeling that underlies the common attitude, i.e. the fear of being clientized, by putting oneself at a long-term social disadvantage when one cannot even the score.“ 562 Im Hinblick auf die Frage, wie Vergeltungsgaben gegen Höherstehende, Reichere aussehen können, stellt Seneca folgende Überlegungen an: Die in benef. 2,35,1 geforderte Gleichwertigkeit der Gegengabe (aliquid simile) wird in solchen Fällen nicht durch deren Gleichartigkeit erreicht. Dennoch sei es ohne weiteres möglich, auch jemandem in glücklicher Lage Dank abzustatten (referre gratiam, ebd.): Als Beispiele nennt Seneca fidele consilium, adsidua conversatio, sermo comis et sine adulatione iucundus, aures, si deliberari velit, diligentes, tutae, si credere, convictus familiaritas, denn in günstigen Lebensumständen fehle oft ein wahrer Freund (ebd.). Ehrlichen Rat zu erteilen, gilt Seneca als Kennzeichen echter Freundschaft (Zur Freundschaft innerhalb der menschengemäßen societas Sen. epist. 48,3f.; vgl. Bees 2004, 193). Deren Wert wird in benef. 6,33–35 herausgestellt: Seneca unterstreicht, dass man einem anderen viel gebe, wenn man sich ihm zum Freund mache (multum te ei daturum, cui dederis amicum, benef. 6,33,3) und mit der Freundschaft als Vergeltungsgabe also Dank abstatte (gratus es, benef. 6,34,5). Freundschaft wird zur Wohltat, weil sie, ohne dem anderen Widriges zu wünschen, stets materiam exercendae fidei habe (benef. 6,35,1). Seneca stellt aber heraus, dass etwa die genannten Varianten aufrichtiger Anteilnahme mindestens soviel wert seien wie materielle Vergeltungsgaben, weil solcherlei äußere Güter als Zufallsgeschenke betrachtet werden müssten, die ebenso schnell wieder verloren gehen könnten. Für den Begüterten sei es wichtig, ehrliche Ratgeber an der Seite zu haben, die ihm ebendiese Vergänglichkeit der fortuna vor Augen riefen (benef. 6,33,1f.). Dem Vorschlag, durch ehrliche, nicht schmeichlerische Anteilnahme Dank abzustatten, liegt die Annahme zugrunde, dass die so Angesprochenen in der Lage sind, mit dieser Ehrlichkeit umzugehen. Sie werden also wiederum gedacht als proficientes (benef. 7,2,1) mit dem Willen, sich selbst zur Tugend hin zu entwickeln. Ab benef. 6,31 schildert Seneca zwei Beispiele – des Xerxes und des Augustus – wie vom Schicksal Begünstigte mit ehrlichem Rat umzugehen in der Lage sind: Er referiert die Klage des Augustus, Agrippa und Maecenas als Ratgeber verloren zu haben, und merkt an, dass diese beiden zu Lebzeiten eher zu denen gehört hätten, die, anstatt die Wahrheit zu sagen, sich lieber nichts anmerken ließen. Es sei typisch für Herrscher, sich von denen die Wahrheit zu wünschen, die nicht mehr in der Lage seien, sie auszusprechen (benef. 6,32,4). Dies bedeutet: Hätten sie zu

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der Grundlage dieses Selbstbewusstseins wird es leicht, die materielle Unterlegenheit anzuerkennen und ruhig zu schulden (benef. 6,35,5), wodurch bereits die erste Rate (benef. 2,22,1) bzw. sogar das Wichtigste der Vergeltung geleistet sei (benef. 2,30,2).563 Damit ist jeder Eifer im Vergelten unnötig: Multum interest, utrum properes referre gratiam, ut reddas beneficium, an ne debeas (ebd.).564 Seneca warnt vor allzu großer Eile (festinatio nimia ingrati; benef. 6,35,4), die ein Versuch sei, die eigene Schuld los zu sein, aber weit a grato sei (ebd.), weil sie anzeige, dass man die empfangene Wohltat nur als Last sehe (onus iudicat esse, benef. 6,41,1) und, ohne den geeigneten Moment abzuwarten (suum cuiusque rei tempus; benef. 6,39,1), es eilig habe, sich von dieser zu befreien. Seneca rät zum Abwarten (benef. 6,39,2), zum öffentlichen, freudigen Schulden (benef. 6,42,2; s.o. benef. 1,4,3), weil gerade dieses die eigene – moralische – Ebenbürtigkeit dem

Lebzeiten stets die Wahrheit gesagt, wie Augustus dies vorgeblich wünschte, wäre dies vermutlich dann doch nicht als Wohltat (im Sinne einer Gegengabe, durch die Dank abzustatten ist), sondern als Affront wahrgenommen worden; der Wert ehrlicher Anteilnahme wird von Augustus zwar durchaus gesehen, die Fähigkeit, diese tatsächlich für sich als Wohltat anzunehmen, wird ihm von Seneca dennoch nicht zuerkannt. Zu den Beispielen Griffin 2013, 307f. Zur ansonsten positiven Beurteilung des Augustus in benef. Chaumartin 1985, 173–175. 563 Es sei viel sittlicher (honestius votum, benef. 6,29,1; ähnlich: honesta voluntate, benef. 6,27,2), formuliert Seneca, dem anderen zu wünschen, dass er weiterhin in der Lage sei, Wohltaten zu erweisen. Wer solches wünsche, sei gratus statim (benef. 2,29,2). Dass bei mangelnder fiducia sui das Gefühl der Unterlegenheit der eigenen Dankbarkeit entgegenstehen kann, zeigt sich, wo Seneca die Scham beschreibt, die sich mitunter einstellt, wenn durch die Annahme einer Wohltat die eigene Bedürftigkeit offenbar wird (benef. 7,26,3), oder wo er ausführt, wie schwierig sich die Situation gestaltet, wenn Überlegene sich von Unterlegenen zurückgewiesen fühlen (benef. 5,6,7). Raccanelli 2009, 341, spricht davon, dass es stets im Ermessen des Empfängers stehe, durch Dankbarkeit seine dignitas zu wahren und die „schiavitù dell’obbligo in una scelta spontanea“ verwandeln. Während Seneca in benef. 6,11,3f. darauf verweist, dass eine Schuld nicht gegeben sei, wenn jemand zwar den Willen habe, eine Wohltat zu erweisen, dies aber nicht könne (In einem solchen Falle sei derjenige, der das beneficium hätte erhalten sollen, dem anderen zwar amicus, aber non obligatus; hierzu Raccanelli 2009, 338f.), schreibt er in benef. 7,14f. etwas anders, es gebe jedoch auch Situationen, wo das Wollen genüge: Quaedam eius condicionis sunt, ut effectum praestare debeant, quibusdam pro effectu est omnia temptasse, ut efficerent (benef. 7,14,3). Seneca führt die Bemühungen von Ärzten an, von Rednern, die mit ihrer Kunst Angeklagte verteidigten. Wenn sie alles täten, was in ihren Kräften stehe, doch aber das Ergebnis nicht das erwünschte sei, erwiesen sie dennoch Wohltaten. Gleiches gelte für diejenigen, die, im Begriff, eine Wohltat zu vergelten, durch einen Schicksalsschlag die Möglichkeit dazu verlören (benef. 7,15,1). Der Unterschied zu benef. 6,11,4 ist gerade bei der letztgenannten Vorstellung nicht groß, er ist, wie auch in benef. 7,15,3–4 deutlich wird, nur in der Stärke der eigenen Bemühung um Vergeltung greifbar: Während für gewöhnlich res und voluntas gemeinsam die dankbare Vergeltung ausmachten, habe letztere mitunter Kraft für zwei. 564 „Es macht einen großen Unterschied, ob du dich beeilst, Dank abzustatten, um eine Wohltat zu vergelten, oder um sie nicht zu schulden.“ Bezogen auf Wohltaten unter Freunden, merkt Seneca an, dass derjenige, der dem anderen aliquam necessitatem wünsche, von der Haltung des Undankbaren zeuge, der, gerade weil er sich durch die Not des anderen als gratus bewähren wolle, doch ingratus sei (benef. 6,35,2). Damit nimmt Seneca den Ausgangstadel an den nimis grati aus benef. 6,25 wieder auf.

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Wohltäter gegenüber ermögliche.565 In diesem Sinne beschreibt er die Fähigkeit, eine Wohltat zu schulden, als non minoris animi als die, eines zu erweisen (benef. 6,43,1).566 Im wohltätigen Handeln kann sich also – ausgehend von deren in der Begriffsbestimmung angenommener Mehrdimensionalität – eine Gleichzeitigkeit aus Asymmetrie und Symmetrie ergeben. Die Asymmetrie, welche durch die eigene soziale Position sowie die Möglichkeiten und den zeitweiligen Mangel an Gelegenheit entsteht, ist streng genommen ein adiaphoron ohne eigenen Wert (vgl. benef. 5,12,5) – bzw., insofern als De beneficiis an imperiti gerichtet wird, die den corporis et fortunae bona Bedeutung beimessen (benef. 5,13,1) von relativem Wert, stets aber der moralischen Symmetrie untergeordnet. Mit diesem Befund lässt sich nun die Frage nochmals aufgreifen, wie die senecanische Konzeption der Wohltat zur soziopolitischen Realität der Kaiserzeit in Verbindung zu setzen ist. Die äußere Asymmetrie, die insbesondere bei ungleichen materiellen Möglichkeiten auftreten kann, wie sie sich etwa in hierarchischen Verhältnissen darstellen, ist – nach Senecas Ausführungen – für die Bewertung einer Wohltat nicht von Belang. Das Bemühen um materiellen Ausgleich gehört zum wohltätigen Handeln dazu, doch deren Wesen liegt, wie seit dem Prooem immer wieder hervortritt, in der Haltung der Beteiligten, worin sich die Tugend zeigt. Die Menschen sind darauf angewiesen, einander unterstützend zur Seite zu stehen; hierfür ist der greifbare Gehalt von Wohltaten wichtig. Darin

565 Zusätzlich zu diesen Überlegungen wechselt Seneca die Perspektive und weist nach, dass es nicht nur zur Herstellung der Symmetrie in der Beziehung wichtig ist, dankbar und ruhig schulden zu können, sondern dass durch eine solche Haltung aufseiten des Empfängers auch das weitere Miteinander zwischen Wohltäter und Empfänger bestimmt wird: Aus der Sicht des Wohltäters nämlich kann diese allzu rasche Vergeltung die kränkende Unterstellung darstellen, er selbst denke, einem Schuldeneintreiber gleich, die ganze Zeit nur an diese Ausgleichsgabe und sei nicht fähig, geduldig abzuwarten (benef. 6,43,3). In diesem Sinne wird derjenige, der die Vergeltung einer Wohltat einfordert, in benef. 3,15,4 als fenerator bezeichnet. Andererseits ist es aber auch denkbar, dass die allzu rasche Vergeltung vom Wohltäter als Absage an die Beziehung gewertet wird (benef. 6,43,2): Derjenige, der eine Wohltat vorschnell vergelten will, wird als acerbus fenerator bezeichnet (bzw., in benef. 4,40,5 als debitor), der sich beeilt, signare rationem parem (benef. 6,39,2). Dies impliziert, dass er das beneficium als creditum behandelt, bei dem es auf den Ausgleich der materiellen Schuld und nicht auf Beziehungsstiftung ankommt, wo, wie gesehen, über den Tauschvorgang hinaus die Verbindung bestehen bleibt (manetque amicitia, benef. 2,18,5).Wie Seneca in benef. 6,41,2 betont, sei jedes beneficium als commune vinculum zu bezeichnen, das inter se duos alligat; ein zu schnelles Vergelten müsse als Versuch wahrgenommen werden, den anderen gleichsam „los zu sein“ (benef. 6,35,1): Angesichts der Tatsache, dass der Empfänger nur die materielle Seite des Erhaltenen berücksichtigt und kein Interesse daran bekundet, in Beziehung zum Wohltäter zu treten, wird der Gebende in seinem Selbstverständnis als Wohltäter entwertet und in seinem Beziehungsangebot zurückgewiesen. 566 Hierzu Griffin 2013, 314: Seneca spreche deswegen von debere „because it is the grateful attitude towards a benefactor, not the return of the benefit, that he is praising as the virtuous act, parallel to giving with the right attitude.“ Außerdem Inwood 1995, 263: „The encouragement to accept social indebtedness with an easy mind is the natural complement of the major message of the whole treatise.“

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ist das spezifisch Menschliche jedoch noch nicht enthalten; dieses entfaltet sich erst, wenn jeder Einzelne menschengemäß, d.h. tugendhaft, lebt. Gemäß der stoischen Philosophie wirkt sich das Ineinandergreifen von Tugend auf das Gelingen von Gemeinschaft an und für sich aus, egal welcher politischen Ordnung der Einzelne angehört. Insofern als gegebene Gemeinwesen auf wechselseitigen Leistungen, bestimmten Beziehungskonstellationen und Abhängigkeiten beruhen, wird äußeren Kriterien wie dem der gegebenen Sache oder dem des status von Gebendem und Empfangendem viel Wert beigemessen. Daneben ist der Mensch nach der stoischen Lehre jedoch Teil des Kosmos und damit Mitglied einer allumfassenden Gemeinschaft. Der Gedanke der Kosmopolis wird in De beneficiis nicht ausführlich entwickelt; in benef. 7 findet er sich zumindest aber angedeutet: Ab benef. 7,2 führt Seneca aus, dass der Weise kraft seiner Einsicht, nur die Tugend als bonum anzuerkennen, sein Herz nicht an vergängliche Genüsse hängt und mit dieser Fähigkeit, sich an seiner eigenen Freiheit von Begierden zu freuen, fest und sicher stehe, während andere, nimmersatt, immer noch mehr erstrebten. Dies sei die Fehlhaltung aller, quos fortuna inritavit inplendo (benef. 7,3,1). Reichtum und Auszeichnungen aller Art werden also als vergänglich und ohne Wert erwiesen. In benef. 7,9f. legt Seneca dem Kyniker Demetrios eine Rede gegen Ehrgeiz und Habsucht in den Mund, die mit den Worten schließt: …ego regnum sapientiae novi, magnum, securum (benef. 7,10,6).567 Dieses regnum ist ein Reich, in dem äußere Insignien nicht von Belang sind und allein die innere Disposition zählt.568 Die Bestimmung des regnum sapientiae korrespondiert mit der Definition des beneficium im engen Sinne, wonach die wirkliche Wohltat allein in der Haltung des Handelnden liegt. Eine solche Wohltat wird zum katorthoma, zum Ausdruck von Tugend. In dieser reinen Form ist sie nur vom Weisen zu erbringen, denn der proficiens geht, wie wir gesehen haben, in aller Regel von einem zumindest relativen Wert der Gabeinhalte aus. Doch in der Zweiteilung des beneficium in res und animus wird deutlich, dass zumindest ein Teil der Handlung, und zwar der entscheidende, der Entwicklung der eigenen Tugendhaftigkeit vorbehalten sein sollte (worin das Telos menschlichen Lebens besteht) und damit ein Ausdruck der inneren Disposition des Handelnden ist. Mit dem Bemühen um die Ausbildung des ihm Naturgemäßen steht der Mensch im kosmischen Gesamtzusammenhang und ist ein Mitglied der Kosmopolis, die in der Konzentration auf den wahren Wesenskern erlebbar wird. Zugleich ist der Mensch eingebunden in eine konkrete politische Gemeinschaft mit ihren Strukturen und Grenzen. In De otio findet sich der Gedanke der doppelten gemeinschaftlichen Zugehörigkeit explizit formuliert:

567 „Ich kenne das Reich der Weisheit, das große, sorgenfreie.“ 568 Der Abschluss der Rede des Demetrios kann auch als indirektes Rücktrittsgesuch Senecas an die Adresse Neros gelesen werden, denn der zitierten Passage geht die folgende Bitte unmittelbar voran: Dimitte me et illis divitiis meis redde.

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Seneca Duas res publicas animo complectamur: alteram magnam et vere publicam, qua dii atque homines continentur […]; alteram, cui nos ascripsit condicio nascendi, quae non ad omnes pertineat homines, sed ad certos (dial. 8,4,1).569

Die Überlegung geht bereits auf Zenon zurück, doch während es für diesen auf die „Himmelsstadt, welche Menschen und Götter beherbergt“, ankommt, neben der die politischen Gemeinschaften „keiner Achtung wert“ sind,570 urteilen spätere Stoiker wie Panaitios weniger rigoros, indem sie (im Zusammenhang mit ihrer Hinwendung an imperiti) zwar „die überlegene Bedeutung der großen kosmischen Stadt keineswegs“ verneinen, daneben aber den politischen Gemeinschaften ihre Rechte zuerkennen.571 Damit ist die soziopolitische Realität der Kaiserzeit in ihrer Struktur und mit dem jeweils von äußeren Parametern bestimmten Bewegungsspielraum jedes Einzelnen zu akzeptieren, schon deshalb, weil der Mensch auf solcherlei konkret organisiertes Miteinander angewiesen ist (vgl. benef. 4,18,2: societas munit).572 Wie Seneca im Prooem skizziert, ist die ihn umgebende Gemeinschaft von allgemeiner Lasterhaftigkeit durchzogen – und, insofern als die gemeinschaftsgefährdende Undankbarkeit die Grundlage aller weiteren Übel darstellt (benef. 1,1,2; benef. 1,10,4) – in ihrem Bestand bedroht (benef. 1,10,1–3). Der Ausweg, den Seneca weist, ist der einer Heilung der Seelen (ingenia sanare), indem er zu erfolgreich ineinandergreifenden Wohltaten (als Ausdruck von virtus) anleitet.573 Auch in De otio wird der Gedanke der Heilung angesprochen. Seneca führt dort aus, unter welcher Bedingung sich der sapiens für die politische Gemeinschaft engagieren solle: dann nämlich, wenn diese nicht corruptior est quam ut adiuvari possit (dial. 8,3,3).574 Wie die Formulierung anzeigt, geht es darum, der Gemeinschaft ein Helfer zu sein (adiuvari), und zwar vor dem Hintergrund der menschengemäßen Verpflichtung, dem Mitmenschen zu nützen (prodesse):

569 „Zwei Gemeinwesen wollen wir erfassen: das eine groß und wahrhaft allen gemein, zu dem Götter und Menschen gehören […], das andere, dem uns die Bedingung unserer Geburt zugeordnet hat und das sich nicht auf alle Menschen erstreckt, sondern auf bestimmte.“ 570 Elorduy 1936, 219. Zur Vorstellung der kosmischen Gemeinschaft in der frühen StoaVogt 2008a, bes. 65–110. Vgl. S. 24 in dieser Arbeit. 571 Bereits Elorduy 1936, 219. Außerdem Schofield 1991, 93: „For Seneca the true city is the cosmic city.“ sowie Vogt 2008a, 71. 572 Hierzu Wildberger 2006, 247. Ebd. 248, fasst sie zusammen: „Der Umstand, daß er zwei Gemeinwesen angehört, eröffnet dem Menschen mehr Möglichkeiten, sich in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, als er sie hätte, wenn er nur als Bürger einer res publica tätig sein könnte. Wem politische Tätigkeit verwehrt ist, der kann immer noch die Pflichten und Ämter eines Menschen übernehmen.“ 573 Schofield 2000, 446, fasst diesen Weg, Missverhältnissen entgegenzutreten, wiederum im Bild der Heilung aus Krankheit wie folgt zusammen: „... the remedy for human ills is in your hands – practise virtue.“ Vgl. auch Elorduy 1936, 147. 574 „ … zu verkommen, als dass man ihm helfen könnte.“ In dial. 8,8,2 heißt es pessimistisch, es gebe keine res publica, die der Weise bzw. die den Weisen ertragen könne. Bemerkenswerterweise führt Seneca nur Athen und Karthago als Beispiele an; Rom blendet er aus. Hierzu Veyne 2003, 130f.

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… si fieri potest, multis; si minus, paucis; si minus proximis; si minus, sibi. Nam, cum se utilem ceteris efficit, commune agit negotium: […] quisquis bene de se meretur hoc ipso aliis prodest, quod illis profuturum parat (dial. 8,3,4).575

Seneca zieht immer engere Kreise um den Einzelnen, in deren Rahmen er sich um andere verdient machen kann. In jedem Fall geht die Pflicht, dem anderen zu nützen (prodesse; se utilem ceteris efficere), vom eigenen – moralischen – Vorankommen (bene de se mereri) aus.576 Diese Verpflichtung, sich umeinander zu bemühen, wird auch in De beneficiis greifbar, indem Seneca nämlich den Gedanken der durch göttliche providentia vorgesehenen Geselligkeit entwickelt und ausführt, dass der Einzelne, bei sich beginnend und den anderen erziehend, seine und des Partners virtus voranbringe. Inwood formuliert, dass Seneca, „a man who knew a thing or two about freedom and its absence in the political sphere“,577 die innere Freiheit, die innere Haltung stark gemacht und mit „cosmological insights based on Stoic natural philosophy“ verbunden habe.578 Seneca geht in seinem Befund (bzw.: seiner Diagnose) von seinem Eindruck der römischen Kaiserzeit aus, bezieht sich in seinen Therapievorschlägen aber auf stoische Überlegungen. Die doppelte Zugehörigkeit des Menschen zu dem ihn jeweils umgebenden Gemeinwesen und der auf den Wesenskern gerichteten Kosmopolis erlaubt es, die spürbaren Missstände wahrzunehmen, einzuschätzen und ihnen zu begegnen, indem ihr tatsächlicher Wert negiert und daneben mit dem Fokus auf der virtus das wirklich Menschengemäße, Erstrebenswerte herausgestellt wird. Zugleich dient die Ausbildung der eigenen Tugend, zumal mit dem erzieherischen Anspruch, auch andere auf diesen Weg zu bringen, dem politischen Gemeinwesen, in dessen Rahmen alles Handeln abläuft.579

575 „… wenn möglich, vielen, wenn nicht, wenigen, wenn nicht, den Nahestehenden, wenn nicht, sich selbst. Denn wenn er sich den anderen nützlich zeigt, betreibt er eine gemeinsame Aufgabe: […] wer sich um sich selbst verdient macht, nützt den anderen eben dadurch, dass er ihnen das verschafft, was ihnen nützen soll.“ 576 Dazu Chaumartin 1985, 241: „Tant qu’il l’estime possible, il [der Weise] doit contribuer par son action à l’instauration de l’ordre naturel; mais si les circonstances viennent à rendre ses efforts inutiles, il trouvera refuge dans la culture intérieure ou, s’il n’y a pas d’autre issue, dans la mort.“ 577 Inwood 2005, 490. 578 Inwood 2005, 492. Zugleich zeigt die Möglichkeit, die eigene Haltung tugendhaft zu gestalten, dass nach der Stoa die Welt zwar von göttlicher Vorsehung gelenkt ist, der Mensch aber die Freiheit hat, seine Anlagen zu bejahen oder zu verneinen – entweder seiner natura zu folgen oder nicht. In diesem Sinne Frede 2003, 197; außerdem Algra 2003, 171 sowie Brennan 2003, 294. Zur Freiheit insgesamt Bobzien 1998, 341: „Stoic freedom is thus internal or psychological freedom, i.e. it depends entirely on the state of the mind of the person.“ Ebd. ergänzt sie: „Only the wise are free, but wise and non-wise people alike are responsible for their actions; their actions depend on them in exactly the same way.“ 579 Inwood 1995, 264: „The crucial point which Seneca sees and elaborates in such a variety of ways throughout the treatise is that social structure, itself an image of the order of the divinely ordained rational cosmos, is founded on the reciprocal bonds between rational animals, who are capable of appreciating and articulating the conventions which bind them to one another.“

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Abschließend sei nun nochmals kurz zusammengefasst, welche Überzeugungen zur Gestaltung von Beziehung/Gemeinschaft sich De beneficiis entnehmen lassen. Insofern als in der Übersicht der systematische Charakter des Kapitels beibehalten wird, verzichte ich hierbei auf Stellenangaben. Stoische Güterlehre

Nur die Tugend ist von Wert. Sie drückt sich aus in animus/voluntas. Bezogen auf die Wohltat heißt dies: Die gegebene Sache gilt als adiaphoron. Auf der Ebene gesellschaftlicher Positionen ergibt sich ferner: Der soziopolitische Status des Einzelnen ist ebenfalls ein adiaphoron.

Symmetrie und Asymmetrie

Der status kann dazu führen, dass die res nicht gleichwertig vergolten werden kann. Auf materieller Ebene ergibt sich dadurch Asymmetrie. Die Gestaltung von animus/voluntas hingegen liegt im Ermessen jedes Einzelnen. Durch eigene Anstrengung ist hier Symmetrie herzustellen.

doppelter Bezugsrahmen

Der Mensch gehört zugleich einem konkreten Gemeinwesen und der allumfassenden, stoischen Kosmopolis an. Innerhalb des politischen Gemeinwesens ergeben sich Hierarchien. Davon wird die durch Tugendhaftigkeit herstellbare Gleichheit in der allumfassenden Gemeinschaft nicht berührt.

Hanc materiam consummari decet: Senecas Fazit am Werkende Bevor die Ergebnisse der Besprechung von De beneficiis zusammenzufassen sind, soll Senecas eigenes Fazit des Werkes ab benef. 7,26,1 untersucht werden,580 worin im Wesentlichen die Überlegungen des Prooems wieder aufgenommen sind, die ja, wie oben angemerkt, den zentralen Gehalt von De beneficiis bereits andeuteten.581 Das Werk begann mit einer Klage über die weitverbreitete Fehlhaltung der

580 Die letzten Kapitel des Werkes bezeichnet Chaumartin ebd., 355 als „conclusion générale du traité.“ Vorbereitet wird diese conclusio ab benef. 7,22, wo Seneca die beneficii inter duos lex nochmals erläutert: Dass der Wohltäter die erwiesene Wohltat sofort vergessen solle, der Empfänger hingegen nie (vgl. benef. 2,10,4), habe er absichtlich übertrieben ausgedrückt. In Wahrheit habe er sagen wollen, dass der Wohltäter ähnlich einem Vergessenden werden solle, memoria eius non appareat nec incurrat (benef. 7,23,2), freundliche Erinnerung sei hingegen statthaft (benef. 7,25,2). 581 In diesem Sinne merkt Griffin 2013, 338, an: „Thus he returns to the opening concerns of the treatise […] But account is taken of the lessons learnt in between.“

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Undankbarkeit. Die Auseinandersetzung mit der Undankbarkeit (als eigene Fehlhaltung bzw. als diejenige des Partners) durchzieht das gesamte Werk leitmotivisch und wird auch nun, ganz am Ende, im vorgestellten Dialog mit Aebutius Liberalis, nochmals gestellt: Iam quaeris rem maxime necessariam et in qua hanc materiam consummari decet, quemadmodum ingrati ferendi sint (benef. 7,26,1).582

Die Bedeutung der Frage, wie mit Undankbaren umzugehen ist, ergibt sich aus deren gesamtgesellschaftlicher Relevanz: Est istuc grave vitium, est intolerabile et quod dissociet homines, quod concordiam, qua inbecillitas nostra fulcitur, scindat ac dissupet, sed usque eo vulgare est, ut illud ne qui queritur quidem effugerit (benef. 7,27,3).583

Undankbarkeit, die schon in benef. 1,1,2 als häufigstes inter plurima maximaque vitia genannt wurde, erscheint hier deswegen als so schwerwiegend und inakzeptabel, weil sie die Menschengemeinschaft gefährdet (dissociet homines).584 Wenngleich Seneca an dieser Stelle im Verweis auf die Notwendigkeit der Gemeinschaft für den an sich schwachen Menschen nur die Hälfte seiner Vergemeinschaftungstheorie aus benef. 4,18 wiedergibt, ist doch hier am Ende des Werkes nochmals die Verbindung hergestellt zwischen beneficium/gratia und gemeinschaftlichem Gedeihen. Damit wird die Anleitung zum rechten Erweisen, Annehmen und Vergelten von Wohltaten, die zunächst das Miteinander zwischen Einzelnen betraf, nochmals explizit in den Gesamtzusammenhang menschlicher Gemeinschaft gestellt. Wiederum im Rekurs auf den Beginn des Prooems greift Seneca außerdem die Beobachtung auf, dass über Undankbarkeit geklagt werde (hier: queritur; vgl. querimur in benef. 1,1,1); ähnlich wie im Prooem ermahnt er einerseits dazu, anstelle dieser Klage die eigene Haltung zu reflektieren, also eigene Anteile an der

582 „Du fragst nach etwas unbedingt Notwendigem, das gut passt, um dieses Thema abzuschließen, nämlich, wie man die Undankbaren ertragen soll.“ 583 „Es ist dies eine schwerwiegende Fehlhaltung, eine unerträgliche, eine, welche die Menschen entzweit, welche die Eintracht zerreißt und zersprengt, auf die unsere Schwäche sich stützt, doch sie ist so weit verbreitet, dass nicht einmal derjenige, der sich über sie beklagt, ihr entkommt.“ 584 Im Prooem wird – inhaltlich ähnlich – darauf verwiesen, dass Wohltaten Gemeinschaft stiften bzw. stärken und nur Erfolg haben können, wenn die allgemein grassierende Undankbarkeit therapiert wird. Im Sinne dieser Therapie wird im Fazit ebenso wie im Prooem die eigene Verantwortung beim Geben unterstrichen. Seneca verweist darauf, dass beim Erweisen einer Wohltat stets die eigene Haltung zu prüfen sei, doch während im Prooem wie auch in benef. 1 und 2 angeleitet wurde, wie die Haltung beim Geben gestaltet sein sollte, geht es hier etwas weiter gefasst darum, diese auch nach dem Geben so zu gestalten, dass die Dankbarkeit des anderen nicht korrumpiert wird: Seneca warnt davor, durch Tadel oder Klage das Bemühen um Dankbarkeit des anderen misslingen zu lassen; fühle er sich nämlich gedrängt oder ermahnt, sei anstelle von Dankbarkeit eher Gekränktheit zu erwarten. Außerdem wird hier wie im Prooem die Beschwerde darüber, eine Wohltat verloren zu haben, damit beantwortet, dass dies bereits beim Erweisen geschehe und also sich selbst anzurechnen sei.

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Undankbarkeit des anderen in Erwägung zu ziehen, und andererseits, einer tatsächlichen Fehlhaltung auf Empfängerseite nachsichtig und erzieherisch zu begegnen.585 Das erzieherische Erweisen von Wohltaten wird hier stark hervorgehoben: Anstelle darüber zu klagen, eine Wohltat verloren zu haben,586 rät Seneca zu Feinfühligkeit und Hartnäckigkeit (ebd.). Während durch Klagen und Beschwerden der andere von einem unbeständigen Freund zum beständigen Feind werde (benef. 7,30,2), könne pertinax bonitas die Fehlerhaftigkeit besiegen (vincit malos, benef. 7,31,1) und, wenn der andere bereit sei, sich selbst richtig zu verhalten (reverti ad sanitatem; ebd.), die freundschaftliche Beziehung retten.587 Um die Geduld, die beim erzieherischen Wohltun nötig ist, aufzubringen, rät Seneca, ähnlich wie insbesondere im vierten Buch, auch hier nochmals zur imitatio Dei: Im Vergleich der Götter mit guten Eltern, die es nicht persönlich nehmen, wenn ihre Kinder ihnen gegenüber ausfällig werden (benef. 7,31,4), empfiehlt er: Imitemur illos; demus, etiam si multa in inritum data sunt; demus nihilo minus aliis, demus ipsis, apud quos facta iactura est (benef. 7,31,5).588

Nachdem Seneca sich in der Zusammenfassung bislang in der zweiten Person Singular an seinen Adressaten gewandt hat, fällt hier auf, dass er die adhortatio zur imitatio Dei in der ersten Person Plural formuliert – genau in derselben Weise wie zu Beginn des Werkes also, im „nos inclusivo“, um mit Raccanelli zu sprechen.589 Die Ermunterung zum beharrlichen Geben wird ganz zum Abschluss des Werkes nochmals wiederholt. Seneca vergleicht solches Geben mit der beständigen Mühe des guten Bauern, der cura cultuque die Unfruchtbarkeit des Bodens überwinde 585 Man solle sich fragen, ob man selbst immer dankbar gewesen sei oder vielleicht die Fehlhaltung, über die man sich beschwere, in der eigenen Brust finde (7,28,3). Außerdem solle man anderen placido animo, mansueto, magno begegnen (benef. 7,26,1); indem man ihnen verzeihe, werde man selbst in der eigenen Fehlerhaftigkeit freigesprochen und habe zugleich die Möglichkeit, sie zu erziehen und also besser zu machen (benef. 7,28,3). Im Fazit wendet sich Seneca ebenso wie im Prooem an imperiti, die selbst von dem Laster befallen sind, über das sie sich beklagen. Er rät zu Geduld, denn angesichts der Tatsache, dass kaum einer tam firmae mentis ac solidae sei, bestehe beim Geben immer das Risiko, dass es zunächst ins Leere laufe (benef. 7,26,3). Die Reaktion des anderen sei außerdem zunächst immer wohlwollend zu prüfen und von einer prinzipiellen Bereitschaft zur Dankbarkeit stets auszugehen; manches Urteil, einer sei undankbar, werde vorschnell gefällt (benef. 7,29,2). Sowohl im Fazit als auch im Prooem liegt der Fokus auf dem Erweisen von Wohltaten; auch in der ausführlichen Darstellung der Regeln recht verstandener beneficentia liegt rein quantitativ der Schwerpunkt beim Gebenden, sodass sich die Ausgangsbeobachtung, dass Seneca vorrangig dessen Perspektive einnimmt, bestätigt. 586 Die Klage kommt ohnehin zu spät, weil eine Wohltat im Moment des Erweisens [durch eigenes Verschulden aufgrund falscher Empfängerwahl] verloren sei. So heißt es in benef. 7,29,1: … ingratus non sine nostro pudore protrahitur, quoniam querella amissi beneficii non bene dati signum est. 587 Raccanelli 2009, 349, spricht von einer „terapia blanda“. 588 „Wir wollen sie nachahmen; wir wollen geben, auch wenn wir vieles umsonst gegeben haben; wir geben dennoch anderen, und wir geben genau denen, bei denen wir Verluste hatten.“ 589 S.o. S. 122 (Raccanelli 2009, 350).

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(benef. 7,32,1; er verwendet – kriegerisch – vincere). Nochmals greift er den Gedanken vom Verlust einer Wohltat auf, der doch – gemessen an der Alternative, dem Undankbaren keine Wohltaten mehr zu erweisen und ihn damit dauerhaft zu verlieren – gering sei: Perit mihi beneficium, iste omnibus (ebd.).590 Damit ist wiederum der Bezug zwischen Wohltat und Gemeinschaftsstiftung hergestellt: Der Formulierung, jener gehe allen verloren, liegt die Vorstellung der menschengemäßen Gemeinschaft (benef. 4,18) zugrunde, welche durch die Wechselseitigkeit von Wohltaten bestimmt ist. Wenn die Bemühungen eingestellt werden, einen dauerhaft Undankbaren dankbar zu machen, verliert er seinen Platz darin.591 Insofern als Wohltaten sich nur im Miteinander entfalten können, gewinnt das Bemühen, auch andere zu diesem Miteinander bereit zu machen, im Fazit größeres Gewicht. Wie im vorigen Kapitel gesehen, wird mit erzieherischen Wohltaten dem zunächst undankbaren Partner hartnäckig zu verstehen gegeben, dass er vom (menschengemäß) Handelnden als Mitmensch gesehen wird – mit der Disposition also, sich in derselben, wohltätig handelnden Weise an der Gemeinschaft zu beteiligen. Hört man auf, einem undankbaren Partner Wohltaten zu erweisen, signalisiert man ihm, dass man ihn umgekehrt nicht mehr für fähig hält, sich selbst wohltätig zu verhalten. Als potentielles Mitglied der durch menschengemäßes Handeln gestifteten und gestärkten Gemeinschaft geht er dauerhaft verloren. Die Beständigkeit, mit der ihm menschengemäßes Verhalten vor Augen geführt wird, kann hingegen auf lange Sicht ein Umdenken bewirken und ihn, sobald er beginnt, sich selbst menschengemäß zu verhalten, zum Teil der Gemeinschaft machen. Damit wird am Schluss des Werkes nochmals herausgestellt, dass Wohltaten in höchstem Maße der Gemeinschaft dienen, insofern als sie die Kraft haben, neue Mitglieder für sie zu gewinnen. ZUSAMMENFASSUNG Nun soll abschließend zusammengefasst werden, auf welche Weise Seneca Wohltaten als gemeinschaftsstiftend herausstellt und welche Vorstellung von Gemeinschaft sich aus seinen Ausführungen ergibt. Wie sich gezeigt hat, geht Seneca in

590 „Mir geht eine Wohltat verloren, jener allen.“ Der Verlust der Wohltat ist damit nur relativ, insofern als (wie implizit zu folgern ist) das Bewusstsein, gegeben zu haben, immer bestehen bleibt. Anstelle – wie bereits im Prooem angemerkt und noch in benef. 7,30,1 wiederholt – nachzuweisen, dass der Verlust einer Wohltat bereits beim Erweisen und damit durch eigene Schuld geschieht, weil ein falscher Empfänger ausgewählt wurde, empfiehlt Seneca hier, gerade diesen „falschen“ Empfängern zu geben, und zeigt sich damit, was die Belehrbarkeit Undankbarer angeht, am Ende des Werkes nachsichtiger und optimistischer, als er es in benef. 4,26f. tut. 591 Dies beobachtet in derselben Weise Griffin 2013, 340: „Seneca gives his reason for persevering in trying to convert the ingrateful by repeated generosity […]: he himself, at worst, is losing his benefit; but the ungrateful recipient is losing his place in human society, by not participating in the exchange process that cements it.“

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seiner Untersuchung des beneficium von dessen Mehrdimensionalität aus. Er vertritt die Überzeugung, dass bei jeder Wohltat die Gesinnung des Handelnden, welche Ausdruck seiner Tugend ist, darüber bestimmt, wie der Partner die gegebene Sache versteht. Streng genommen, liegt der Wert der Wohltat nur in der Gesinnung. Insofern als das Werk jedoch an Nicht-Weise gerichtet ist, die auch eigentlichen adiaphora Bedeutung beimessen, ist die gegebene Sache (res) zumindest von relativem Wert, der eigenen Haltung (animus/ voluntas) jedoch stets nachgeordnet. Basierend auf diesen Grundannahmen greifen für Seneca bei aufeinander folgenden Wohltaten letztlich Haltungen ineinander, die von den Partnern angemessen zu gestalten sind. Wie in der Ausgangsdiagnose im Prooem deutlich wird, sieht Seneca in der ihn umgebenden Wirklichkeit sowohl beim Wohltäter als auch beim Empfänger Defizite im Bezug auf die Fähigkeit, die rechte Haltung einzunehmen, die es beim Erweisen, Annehmen und Vergelten von beneficia braucht. Häufig zeige sich der Empfänger undankbar; ebenso häufig werde diese Undankbarkeit aber tatsächlich bereits durch das Verhalten des Wohltäters ausgelöst. Seneca formuliert nun Anweisungen, die beide, also den Wohltäter und den Empfänger, zu einer angemessenen Haltung befähigen sollen. Rein quantitativ wird – wenig überraschend angesichts Senecas eigener Position im Gemeinwesen – vorrangig die Perspektive des Gebenden eingenommen. In dessen Verantwortung liegt sowohl die Ausbildung einer angemessenen eigenen Haltung als auch ein erzieherisches Hinwirken auf die Ausbildung der rechten Haltung auf Empfängerseite. Entscheidend hierfür ist gratia – es geht darum, gratia zu manifestieren oder beim Partner zu ermöglichen; gratia wird zum Motor wohltätigen Handelns. Die praecepta beziehen sich auf Beziehungen Einzelner, zwischen Wohltäter und Empfänger also; der Bezug zur Gesamtgemeinschaft wird, wie gesagt, selten hergestellt, schwingt jedoch seit dem Prooem mit, wo die besondere gemeinschaftsstiftende und -stärkende Kraft von Wohltaten betont wird (benef. 1,4,2). Von besonderer Bedeutung für die gesamtgemeinschaftliche Relevanz von Wohltaten ist der Abschnitt benef. 4,18, wo die durch wechselseitige Dienste gestiftete und gestärkte Gemeinschaft zwar als Notwendigkeit erwiesen, das wechselseitige Angewiesensein aber nicht als Ursache der Vergemeinschaftung bestimmt wird. Die Ursache ist für Seneca vielmehr in der gottgegebenen Menschennatur zu suchen, die er – im Einklang mit der stoischen Ethik – als gesellig und vernünftig beschreibt. Nach der Stoa besteht Eudämonie darin, dem eigenen Wesen gemäß im kosmischen Einklang zu leben. Für den Menschen wird dieses Wesen als gesellig und vernünftig beschrieben; der Mensch nimmt aufgrund seiner Natur Anteil am Mitmenschen und empfindet das Bedürfnis, sich ihm helfend zuzuwenden; kraft der ratio hat er die Möglichkeit, diese Anlagen in bewusst gelebter Tugend, angesichts der Ausrichtung auf den Mitmenschen vor allem in beneficentia, weiter auszubilden. Sein Handeln ist Ausdruck von Tugend und bezieht sich auf die Tugend des Partners. Die Anweisungen zum Geben, Empfangen und Vergelten, bei denen stets die Haltungen im Vordergrund stehen, zeigen an, dass Selbstreflexion und erzieherisches Bemühen immer der eigenen und wechselseitigen Ausbildung von Tugend dienen, welche wiederum im Dienste der Gemeinschaft stehen muss, die als wahrhaft menschengemäß erkannt wird.

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Wohltaten erweisen sich somit (ausgehend von ihrer Mehrdimensionalität) als in zweifacher Weise grundlegend für gedeihliches Miteinander: Als wechselseitige Hilfsleistungen dienen die res datae dem wechselseitigen Schutz. Die aufeinander bezogenen voluntates, die von einer inneren Bereitschaft zeugen, sich menschengemäß, d.h., nach stoischem Verständnis: tugendhaft zu entwickeln, dienen der Gemeinschaft als an sich menschengemäßer Bestimmung. Im Umkehrschluss stellt Undankbarkeit zweifach eine Gefährdung von Gemeinschaft dar: Wenn Wohltaten dauerhaft materiell unbeantwortet bleiben, gerät der wechselseitige Schutz der Menschen aus dem Gleichgewicht, auf den jeder Einzelne doch angewiesen ist. Wenn zudem eine Reaktion auf die eigene Haltung fehlt, kann die Tugend der beneficentia ihr Wesen nicht voll entfalten. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die beschriebene Hartnäckigkeit, Undankbare zu dankbaren Empfängern von Wohltaten zu machen: nur so können Wohltaten sich als res socialis präsentieren und im Sinne der menschengemäßen Gemeinschaft wirken. Wie gesehen, stellt sich die Frage, wie die Maxime des vielfach wiederholten alleinigen oder zumindest vorrangigen Wertes von animus/voluntas beim Erweisen, Annehmen und Vergelten von beneficia mit der Gesellschaftsstruktur der römischen Kaiserzeit in Einklang zu bringen ist, wo res und status eine maßgebliche Rolle spielen. Hierfür ist festzuhalten, dass Seneca festgelegte Strukturen nicht angreift. Hierarchien, die durch materielle Möglichkeiten oder soziale Positionen festgelegt sind, verlieren ihre faktische Bedeutung nicht, doch sie werden als adiaphora erwiesen, die über den Wert des Einzelnen nichts aussagen. Ohne dass Seneca dies explizit formulierte, wird hier doch die Vorstellung der zwei Gemeinschaften greifbar, welcher der Mensch simultan angehört: Einerseits ist er Teil eines konkreten, politischen Gemeinwesens und andererseits, in der Konzentration auf seinen Wesenskern, Mitglied der Kosmopolis. Aufgabe des Menschen in der Kosmopolis ist die Ausbildung der Tugend, die sich – bezogen auf die beneficentia – in einer entsprechenden Gestaltung von animus/voluntas niederschlägt. Diese Bemühung dient zugleich (wenngleich dies nicht unbedingt Anerkennung finden muss) der konkreten politischen Gemeinschaft, in deren Kontext das eigene Handeln ja angesiedelt ist. Damit lässt sich sagen, dass De beneficiis in der zeitgenössischen Realität der römischen Kaiserzeit verortet ist, darüber hinaus aber die darin enthaltenen Handlungsanweisungen in den Kontext einer größeren Gemeinschaft gestellt werden, in der die äußeren Parameter Roms ohne wirklichen Wert sind.592 Seneca empfiehlt keine Ablehnung sozialer Positionen und Gegebenheiten, doch er bietet einen Weg, in deren Akzeptanz gleichzeitig unabhängig zu bleiben. Indem die eigene virtus und letztlich: die eigene Eudämonie in den Fokus genommen werden, hebt Seneca das

592 Hierzu Chaumartin 1985, 355f.: „Le devoir des meilleurs, qui sont eux-mêmes fort éloignés de la sagesse parfaite et trouvent, dans la conscience de cette imperfection, de nouvelles raisons d’aider les autres hommes, est de travailler, autant qu’il est possible et en préchant d’exemple, à l’avènement d’une communauté humaine où chacun aurait constamment en vue le bien de tous.“

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durch die virtus zu lebende Miteinander auf eine andere, in gewisser Weise innere Ebene (insofern als die innere Ausrichtung des Einzelnen entscheidend ist), ohne diese scharf von der ihn umgebenden Realität zu trennen.593 In dieser doppelten Bezogenheit – auf Rom und darüber hinaus – ist Senecas Gemeinschaftsentwurf in De beneficiis zugleich ein geschickt verpacktes politisches Statement: Real existierende Missstände werden nicht negiert; anstelle sie aber breit zu beklagen, verhilft die Orientierung am alleinigen Wert der inneren Haltung dazu, ihnen das das eigene Handeln entgegenzusetzen und vorbildhaft die eigenen Überzeugungen erzieherisch wirken zu lassen.

593 Vogt 2008a, 71.

LAKTANZ, DIVINAE INSTITUTIONES FORSCHUNGSSTAND Die Divinae institutiones des Laktanz wurden lange Zeit von der Forschung vernachlässigt. Allerdings erstreckte sich das geringe Interesse nicht nur auf das Werk, sondern den Autor überhaupt, der immer wieder als zwar glänzender Stilist, aber nur mittelmäßiger Geist beurteilt worden ist.594 Ein fortlaufender Kommentar der gesamten Divinae institutiones liegt bislang nicht vor. Zu einzelnen Büchern gibt es jedoch inzwischen ausführliche und hilfreiche Arbeitshilfen, allen voran Freunds übersetzte und kommentierte Ausgabe des siebten Buches aus dem Jahr 2009, welche dessen Relevanz herausstellt und überaus hilfreiche, dem Textverlauf folgende Erläuterungen bietet. Zu den Büchern fünf und sechs (sowie Teilen von drei und vier) enthält die umfangreiche Dissertation Wingers ausführliche Anmerkungen.595 Insgesamt erfuhr Laktanz ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts in der französischen Forschung vergleichsweise große Aufmerksamkeit: So bietet Pichon, wenngleich er das Verdikt der geistigen mediocritas des Laktanz teilt, eine umfassende Einführung in dessen Leben und Werk. Grundlegend für die Laktanzforschung sind außerdem Monats mit kurzen Kommentaren versehene Ausgaben einzelner Bücher. Beständig erschienen außerdem Aufsätze zu Laktanz, die eine Vielzahl thematischer Schwerpunkte abdecken. Als Vorreiter der deutschsprachigen Laktanzforschung sind in erster Linie Heck und Wlosok zu nennen. Gemeinsam haben sie zuletzt eine kritische Gesamtausgabe der Divinae institutiones sowie der Epitome divinarum institutionum vorgelegt, die auch meiner Textinterpretation zugrunde liegt. Heck ist ansonsten ein-

594 Bereits in der Spätantike haftete Laktanz dieses Verdikt an: Wirkmächtig dazu Hier. epist. 70,5,2; anders hingegen Aug. doctr. chr. 2,146. Edwards 1999, 197, führt aus, dass Laktanz und sein Lehrer Arnobius die am meisten vernachlässigten frühchristlichen Autoren aus der Zeit bis Constantin seien; er erklärt das ebd. damit, dass sie, anders als ihre Vorgänger, für Historiker weniger ergiebig schienen und bei Theologen neben Cyprian und Tertullian eine untergeordnete Rolle spielten. Vgl. hierzu ferner Loi 1970, XV. Im Humanismus wurde Laktanz – gerade wegen seiner geschliffenenen Sprache – hoch geschätzt (Bryce 2005, 156). Zu Sprache und Stil des Laktanz Freund 2009, 71–76. 595 Wingers zweibändige Dissertation enthält eine zweisprachige, mit reichhaltigen Fußnoten versehene Ausgabe von inst. 5 und 6 sowie von Teilen des 3. und 4. Buches, ferner eine ausführliche Textinterpretation vor dem Hintergrund der These, dass durch Laktanz das pagane Naturrechtsparadigma Eingang in die christliche Apologetik gefunden habe (vgl. rec. Freund 2003, 50–55).

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schlägig vor allem für die Datierung der Divinae institutiones. Er vertritt die Überzeugung, dass eine erste Fassung der Institutiones vor dem Toleranzedikt verfasst, später in der Epitome kondensiert und zuletzt – ganz am Lebensende des Laktanz – um die Kaiseranreden und dualistischen Zusätze ergänzt worden sei. Diese letzte Überarbeitung habe Laktanz jedoch nicht fertig stellen können, was die inhaltlichen Brüche im Werk erkläre.596 Wlosoks Untersuchungen konzentrieren sich auf den gedanklichen Horizont des Laktanz. Diese Frage ist für meine Arbeit zentral, denn wie eingangs gesagt, entwickelt Laktanz seine Konzeption der beneficentia in expliziter Auseinandersetzung mit Ciceros De officiis und der stoischen Ethik – teilweise, indem er deren Überzeugungen für die eigene Argumentation übernimmt, teilweise aber auch in deutlicher Abgrenzung davon. Wlosok untersucht gnostische Einflüsse auf das Werk des Laktanz und beschreibt insgesamt eine intensive Inanspruchnahme nichtchristlicher Testimonien sowie eine aneignende Umdeutung paganer Konzepte für christliche Inhalte.597 Auch in den letzten Jahren, in denen Laktanz stärker in den Fokus der Forschung rückte, 598 ist diese Thematik, wie er sich „einerseits zum klassischen Bildungsgut, das heißt vor allem zu Philosophen und Dichtern, und andererseits zu den christlichen Schriftstellern“ 599 positioniert, Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen gewesen.

596 Heck 1972, zusammengefasst in Heck 1975. Für ihn ist der genaue Entstehungszeitraum nicht bestimmbar; er begnügt sich damit, aufgrund der im Werk enthaltenen Angriffe auf die Christenverfolger eine Erstfassung für einen nicht klar auszumachenden Zeitpunkt vor dem Toleranzedikt von 311 anzunehmen (Heck 1975, 188 sowie 1978, 177, Anm. 20; ebenso Walter 2006, 20). Für Heck steht außer Frage, dass Laktanz diese erste Fassung danach nochmals überarbeitet hat, ohne diese neue Ausgabe selbst zu vollenden; diese zweite Fassung könnte ca. 324/25 entstanden sein. Heck 1975, 186–188, beschreibt eine inhaltliche Entwicklung von der Erstfassung über die Epitome divinarum institutionum hin zur zweiten Langfassung, in der neben den Kaiseranreden auch dualistische Zusätze hinzugekommen seien, aus denen hervorgehe, dass Laktanz ein zweites, böses Prinzip neben Gott annehme, welches Gott selbst zur Bewährung der Tugend erschaffen habe (vgl. hierzu ferner Heck 1972 passim: Untersuchung zu diesen Zusätzen und den Kaiseranreden). Walter 2006, 20 Anm. 41, konstatiert, Hecks Meinung habe sich weitgehend durchgesetzt. Auch alle übrigen hier zu Laktanz zitierten Autoren legen – ohne dies explizit zu thematisieren – ihren Analysen die Annahme der zwei Werkfassungen zugrunde. 597 Wlosok 1960, 229; außerdem ebd. 232–246. 598 Forschung meint in erster Linie philologische Forschung. Für Theologen und Religionswissenschaftler ist Laktanz offenbar nach wie vor kein zentraler Autor. Möglicherweise wird der Zugang zu ihm dadurch erschwert, dass noch keine deutschsprachige Gesamtausgabe vorliegt. Aktuell bereiten Freund und Winger gemeinsam einen zweisprachigen, mit Anmerkungen versehenen Lesetext der Divinae institutiones vor, dem die Übersetzungen Wingers in überarbeiteter Fassung zugrunde liegen werden. Für eine übersetzte Fassung der Divinae institutiones ist aktuell auf den englischen Lesetext von Bowen/Garnsey 2003 zurückzugreifen, dem eine konzise Einführung in Leben und Werk des Laktanz sowie Zusammenfassungen der Inhalte aller Bücher vorangestellt sind. 599 Walter 2006, 24. Ebd. 22–28 findet sich eine Forschungsdiskussion, die zwar auf Walters eigene Fragestellung gemünzt ist, aber doch einen guten Überblick über zentrale Ansätze bietet.

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In der Einleitung seiner Untersuchung „Pagane Texte und Wertvorstellungen bei Lactanz“ bestimmt Walter bezüglich dieser Frage grundsätzlich zwei Tendenzen: einerseits gebe es die Vertreter des – wie er es bezeichnet – Syntheseparadigmas, die eine Anschlussfähigkeit der laktanzischen Ausführungen an pagane Denkmuster beobachten.600 Bei der gegenläufigen Tendenz, das Werk des Laktanz als dezidierte Abgrenzung von der paganen Philosophie zu lesen, spricht Walter von einem Christianisierungsparadigma.601 Er selbst bleibt skeptisch gegenüber beiden Paradigmen und beschreibt eine Reihe rhetorischer und hermeneutischer Techniken, die Laktanz geschickt einsetze, um die von ihm herangezogenen Testimonien bewusst für seine eigenen – christlichen – Überzeugungen zu instrumentalisieren.602 Gegen die Annahme einer solchen gesteuerten Instrumentalisierung wendet sich Freund, welcher bezweifelt, dass Laktanz, der in der paganen Bildungstradition aufgewachsen war, in einer Weise davon zu abstrahieren vermochte, die es ihm erlaubt hätte, deren Inhalte bewusst für seine Argumentation einzusetzen.603 Die Frage des Umgangs mit paganen Testimonien wird in einer Reihe von Veröffentlichungen auch im Bezug auf die laktanzische Konzeption der iustitia erörtert, weil diese im Werk breiten Raum einnimmt. Unstrittig ist dabei (unabhängig davon, ob der Verfasser eher das Synthese- oder das Christianisierungsparadigma vertritt) die Beobachtung, dass Laktanz den bekannten Wertbegriffen eine veränderte Bedeutung verleiht. Einen Teil der iustitia bildet nach laktanzischer (wie nach ciceronischer) Auffassung die beneficentia. Ein kurzer, prägnanter Beitrag, der die beneficentia bei Laktanz thematisiert, findet sich bei Lausberg, wo gezeigt ist, dass die laktanzische Vorstellung sich insofern von paganen wie etwa der Senecas unterscheidet, als eine Vergeltung für die eigene Leistung erwartet wird, nicht jedoch vom Empfänger, sondern von Gott. Gott wird, wie sie festhält, „als der eigentliche und letzte Grund christlicher Nächstenliebe genannt.“604 Diese Beobachtung ist,

600 Inglebert 1996, 121, spricht von einer „synthèse entre apport classique et christianisme.“; Winger 1999 verwendet, wie Walter 2006, 26, beobachtet, passim Begriffe wie „Synthese, Verschmelzung, Kongruenz, Koinzidenz, Konvergenz und Integration.“ Weiter wäre auch Gigon zu nennen, insofern als dieser Laktanz als Literaten sieht, der „dem kultivierten Leser seiner Zeit genau das bot, was er erwarten mochte“, eine Synthese nämlich – wobei diese, wie er weiter formuliert, weder der Philosophie noch dem Christentum gerecht werde (Gigon 1979, 213). Ähnlich im Wesentlichen schon Pichon 1901, 454f. und 218. Eine Würdigung dieses Verdienstes, das Christentum für die gebildete Oberschicht attraktiv zu machen, findet sich in der Forschung vielfach. 601 Walter 2006, 24. Dieses vertritt in mehreren Veröffentlichungen v.a. Buchheit, der das biblische Fundament der laktanzischen Argumentation herausstellt, die in „stets betonter Antithese zu antiken Auffassungen entwickelt“ werde. 602 Walter 2006, 32. Mit diesem Ansatz steht er nicht allein. Auch Wlosok (etwa 1989, 385, aber auch anderswo) beschreibt, wie Laktanz gerade dadurch, dass er traditionelle Begrifflichkeiten (s.o., etwa religio und pater familias) verwende, bekannte Kategorien für seine eigene, christliche Argumentation instrumentalisiere. Auch sie geht also von einer bewussten Inanspruchnahme aus. 603 Freund 2009, 608f. 604 Lausberg 1975, 33f.

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wie sich zeigen wird, zentral für das laktanzische Gabeverständnis. Ansonsten finden sich bislang keine Veröffentlichungen, in denen die laktanzische beneficentia explizit in den Blick genommen wird. Für meine Leitfrage nach der Gemeinnützigkeit von Wohltaten ist ferner ein weiterer Forschungsschwerpunkt von Belang – nämlich der, für welchen Bezugsrahmen die Institutiones gedacht sind bzw., konkreter gefasst, welche Relevanz die bestehende Ordnung des römischen Kaiserreiches für Laktanz hat. Diese Problematik ist wiederum unmittelbar verknüpft mit der jeweils angenommenen Abfassungszeit der zu interpretierenden Aussagen. Wie Loi anhand sorgfältiger Interpretationen nachweist, wird in den Schriften, die während der Christenverfolgung entstanden sind, eine romfeindliche Ausrichtung greifbar, während spätere Aussagen von einer grundsätzlichen Bejahung des politischen Gemeinwesens zeugen.605 Heck beobachtet insgesamt einen sehr geringen Anteil dezidiert romkritischer Äußerungen.606 Die Kaiseranreden an Constantin, die eine positive Einstellung zu dessen politischer Herrschschaft zum Ausdruck bringen, werden in der Forschung unterschiedlich gewichtet. Sie lassen sich verstehen als weitgehend formelhafte Panegyrik, die dem Werk keine entscheidende Wendung gibt, oder aber – in ihrem Inhalt wörtlich genommen – als Hinweis darauf, dass Laktanz unter Constantin ein christliches Rom für möglich hielt. Bei dieser Lesart, die vor allem von Hughson und De Palma Digeser vertreten wird, erscheinen die Divinae institutiones als politische Protreptik, als Handreichung an Kaiser Constantin.607 AUSRICHTUNG UND PERSPEKTIVE Die Divinae institutiones sind das Hauptwerk des Laktanz.608 In dessen Verlauf beschreibt er immer wieder, welchen Anfechtungen Christen sich ausgesetzt sahen;609

605 Loi 1965, 133. Monat 1973, 18 bezeichnet die Aufsätze von Loi (1965 und 1966) als „deux études fondamentales“ zum Werk des Laktanz. 606 Heck 1978, 182 Anm. 35; ähnlich Inglebert 1996, 140. 607 Hughson 2011, 194. De Palma Digeser 2000, bes. 56–63. Bereits in ihrem Vorwort formuliert sie ebd., ix, ihre Überzeugung, dass die Divinae institutiones „propositions for al tolerant, monotheistic state“ enthielten. Zu den möglichen politischen Implikationen des Werkes ferner Ocker 1986, Nicholson 1999 sowie Fisher 1982 passim. 608 Der Titel institutiones ist wahrscheinlich der juristischen Literatur entlehnt. Heck 1978, 179 Anm. 24 verweist darauf, dass Laktanz als Rhetorikprofessor Lehrbücher bürgerlichen Rechts selbstverständlich gekannt und sein Werk aus dieser Vertrautheit heraus so genannt habe. Ingremeau 2003, 43 und ebd. Anm. 2, bezeichnet die laktanzischen institutiones als eine Unterweisung in den Grundsätzen christlichen Glaubens. Vgl. zum Titel institutiones auch die Selbstaussage des Laktanz in inst. 1,1,12. 609 Solche Passagen durchziehen das Werk. In der Schrift De mortibus persecutorum, die kurz nach dem Toleranzedikt entstanden sein dürfte (Walter 2006, 21, vermutet den Zeitraum zwischen 313 und 316), rechnet Laktanz mit den Christenverfolgern ab, indem er – frohlockend

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wie sehr er selbst tatsächlich betroffen war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.610 Im Prooem des fünften Buches formuliert Laktanz das Ziel, mit seinem Werk Christengegner zu widerlegen und – darüber hinaus – auch zu bekehren (hos ad veritatem ab inepta persuasione traducere; inst. 5,1,8).611 Damit sind die Divinae institutiones apologetisch und konstruktiv zugleich, wie sich im nächsten Kapitel zur Werkstruktur noch genauer zeigen wird. Sollte sich der Bekehrungserfolg nicht einstellen, weil die Angesprochenen sich als starrköpfig erwiesen, könne die Schrift immerhin dazu dienen, wankelmütige Christen im Glauben zu stärken (inst. 5,1,9), bzw., sollte es auch diesen nicht nützen, doch zumindest dem Autor selbst Freude bereiten (inst. 5,1,12). Die Adressatenfrage ist als Antiklimax gestaltet; dass Laktanz aber davon ausgeht, mit seinem Werk nicht nur sich selbst zu nützen, zeigt sich ab inst. 5,1,22, wo er die Werke früherer Apologeten zwar durchaus würdigend darstellt, aber als allzu wenig wirkmächtig einschätzt. Er stellt sich nicht in deren Nachfolge, sondern grenzt sich selbstbewusst ab.612 Laktanz ist daran gelegen, mit dem eigenen Text pagane Leser zu erreichen. Damit dies gelingt, sind für ihn zwei Bedingungen zu erfüllen: Erstens müsse der Inhalt rhetorisch geschickt präsentiert werden, und zweitens müsse der Autor die Leser zunächst in einer Weise ansprechen, die ihnen vertraut ist. Als Rhetoriklehrer weiß Laktanz um die Wirkung der eloquentia, deren Einsatz jedoch nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie im Dienste der Wahrheit steht, die zu vertreten Laktanz für sich beansprucht (inst. 1,1,10).613 Wie er im Prooem des fünften Buches

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– das schlimme Ende darstellt, das sie (zur Strafe für ihr ruchloses Handeln) erwartet. Zu mort. pers. Ocker 1986, 349. Gigon 1979, 197, führt aus, Laktanz habe unter der Verfolgung „kein Ungemach erlitten“, ohne aber einen Beleg für diese Aussage anzuführen (ebenso Inglebert 1996, 117; ähnlich auch Nicholson 1999, 7). Nach Walter 2006, 19, hatte sich Laktanz dem Christentum schon zugewandt, als die Christenverfolgung in Nikomedia im Februar 303 begann. Zu den Lebensverhältnissen des Laktanz in der Zeit der Christenverfolgung Freund 2009, 10f. Dem laktanzischen Werk selbst ist wenig Persönliches zu entnehmen. Bei Wlosok 1989, 376, findet sich eine Aufstellung antiker Texte, die über Laktanz Auskunft geben. Lateinischer Text nach Heck/Wlosok 2009. Laktanz erwähnt Minucius Felix, Tertullian und Cyprian. Die griechischsprachige apologetische Tradition von Aristides bis Origenes wird ausgelassen. Bei den lateinischen Autoren fehlt – bemerkenswerterweise – Arnobius, sein Lehrer (Hier. vir. ill 80, epist. 70,5,2). Dies ist möglicherweise damit zu erklären, dass dessen Werk Ad nationes später entstanden ist als die Divinae institutiones; die Abfassungszeit von Ad nationes wird kontrovers diskutiert (vgl. Edwards 1999, 199). Für den Fall, dass Laktanz das Werk doch kannte, schlägt Inglebert 1996, 117 Anm. 166, vor, dass er aus Respekt vor seinem Lehrer keine Kritik an dessen Text formulieren wollte und ihn deswegen nicht erwähnt. Dies ist im Zusammenhang mit dem Offenbarungsgedanken zu sehen; als Christ, der die Offenbarung Gottes angenommen hat, ist Laktanz befähigt, die Wahrheit zu erkennen, die allein von Gott kommt. Dazu s.u. S. 192f.. Was seine Ausdrucksfähigkeit betrifft, vergleicht Laktanz sich mit Cicero, gibt sich diesem zunächst scheinbar unterlegen – überragt ihn nach eigener Einschätzung aber letztlich dann doch, weil er sein rhetorisches Talent in den Dienst der Wahrheit gestellt habe. Letztendlich sieht er die Verteidigung der Wahrheit als eine von Gott

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formuliert, spielt der ornatus der Darlegung eine entscheidende Rolle, um den Ansprüchen der Adressaten gerecht zu werden (inst. 5,1,17); die fehlende Ausschmückung und einfache Rede der Propheten sei der Grund dafür, dass die Heilige Schrift bei den Gebildeten wenig Anklang finde (inst. 5,1,15; 6,21,5). Eloquenz allein mache jedoch einen Text noch nicht wirkmächtig bei heidnischen Lesern, wie Laktanz am Beispiel Cyprians zeigt: Dieser habe zwar anmutig formuliert, sei aber doch nicht gut angekommen, quoniam mystica sunt, quae locutus est (inst. 5,1,26): Wie Laktanz im Prooem von inst. 5 in drei Gleichnissen ausführt, müsse der Autor dem paganen Leser zunächst auf einer Ebene begegnen, die ihm vertraut sei, um ihn dann erst allmählich mit der christlichen Lehre vertraut zu machen.614 Die paganen Adressaten sind, wie deutlich geworden ist, gebildete Mitglieder der Oberschicht (homines litterati; sapientes et doctos et principes huius saeculi); die vertraute Ebene, auf der Laktanz sie anspricht, umfasst ihnen geläufige Texte bekannter Autoren wie etwa Cicero, Seneca, Vergil oder Lukrez, die er regelmäßig zitiert.615 Die Anzahl biblischer Testimonien nimmt sich dagegen verschwindend gering aus.616 Laktanz will mit seinem Werk die gelehrte Oberschicht erreichen. Er hat denselben Bildungshintergrund wie sie und befindet sich auch selbst in einer exponierten Position. Daraus ergibt sich – ähnlich wie schon bei Cicero und Seneca – eine

auferlegte Aufgabe, der er sich nach Kräften widmet (dominus noster imposuit; inst. 6,1,1). Vgl. hierzu auch das Prooem des dritten Buches sowie inst. 3,13,13. 614 Buchheit 1978, 163: Die Hinführung zu christlichen Inhalten gestalte Laktanz vorsichtig, „um das Ohr des doctus nicht zu verletzen“ (ebd. 164). Ähnlich Walter 2006, 65. Walter bezeichnet ebd. die Gleichnisse als „methodologische Reflexion und Durchdringung dieser Strategie“. Die Gleichnisse finden sich in inst. 5,1,14 (Honigbechergleichnis) und 5,4,5f. (Lichtgleichnis und Säuglingsnahrungsgleichnis; ersteres lässt denken an Plat. rep. 514a–517c sowie 2. Kor 4,3–6, letzteres hat eine Entsprechung in Hebr 5,12f.). 615 Nach van der Nat 1976, 221, dient die Inanspruchnahme der Dichtung bei Laktanz auch dem Zweck, deren Schönheit für christliche Texte annehmbar zu machen; wie er ebd., 192, ausführt, galt Eloquenz besonders den frühen Apologeten als verwerflich; die Schriften hatten das praktische Ziel der Widerlegung und Belehrung und sollten keine Belletristik sein. Neben den Werken paganer Klassiker verwendet Laktanz auch sybillinische Prophezeiungen und Hermetica. Von den Hermetica glaubte Laktanz nach Festugière 1967, 28f. noch, dass sie „représentent une antique sagesse égyptienne“ und dass der Halbgott Hermes Trismegistus, dem die Autorschaft zugeschrieben wurde, Zeitgenosse von Moses gewesen sei. Dies wurde erst 1614 von Isaac Casaubonus widerlegt, der das Corpus Hermeticum ins erste nachchristliche Jahrhundert datiert (Fowden 1993, xxii). Tatsächlich sind unter dem Sammelbegriff der Hermetica zwei sehr verschiedene Arten von Schriften zusammengefasst: einmal Texte, die bis ins 3. Jh. v. Chr. zu datieren sind und Alchimie, Astrologie sowie Okkultismus zum Thema haben, sowie solche, die im 2./3. nachchristlichen Jahrhundert entstanden sind und philosophischen bzw. theologischen Gehalt haben (Festugière 1967, 30). Das Corpus Hermeticum, das etwa Laktanz heranzieht, beinhaltet letztere (ebd., 32; Übersicht über die einzelnen Texte 33–38). 616 Althoff 1999, 41, vermutet, Laktanz habe besonders das Interesse für heidnische antike Bildung und Philosophie von seinem Lehrer übernommen. Vorreiter im Bezug auf die Inanspruchnahme paganer Autoritäten war Minucius Felix. Dessen Herangehensweise würdigt Laktanz in inst. 5,1,22.

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Ausrichtung auf die Belange der Begüterten und Mächtigen. Im Bezug auf die beneficentia heißt dies, dass die Handlungsanweisungen, die Laktanz formuliert, aus der Sicht – und an die Adresse – derer gedacht sind, die tendenziell die Rolle der Gebenden übernehmen. Die zweite Fassung der Divinae institutiones ist Constantin gewidmet, an dessen Hof Laktanz zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt als Prinzenerzieher berufen wurde.617 In der ersten Kaiseranrede im Prooem des ersten Buches würdigt Laktanz ihn als den ersten Herrscher, der den falschen Glauben zurückweise und den wahren Gott für sich annehme (inst. 1,1,13). Diese Zueignung verleiht dem Text panegyrischen Charakter; ganz ähnlich ist die letzte Kaiseranrede am Ende des siebten Buches gehalten. Dazwischen richtet sich Laktanz auch in den Prooemien aller übrigen Bücher an Constantin. Apologie und Mission sind – an seine Adresse (und auch angesichts der Abfassungszeit der zweiten Fassung des Werkes) – nicht mehr nötig; Laktanz tritt ihm voll des Lobes entgegen. Diesem Lobpreis wohnt zugleich die adhortatio inne, die geweckten Hoffnungen nicht zu enttäuschen und den – hohen – Erwartungen auch gerecht zu werden. In den Kaiseranreden ist die laktanzische Argumentation deutlicher als im übrigen Text im unmittelbaren historischen Kontext zu verorten. Die Hinwendungen an Constantin bleiben jedoch auf diese einzelnen Stellen beschränkt; die Hoffnung auf dessen segenbringende Herrschaft leuchtet – bezogen auf den Umfang des gesamten Textes – nur punktuell auf (eigentlich nur in den Kaiseranreden des ersten und letzten Buches – und auch nur dann, wenn man sie nicht als rein formelhafte Panegyrik liest; dazu s.u. ab S. 251 im Kapitel zur Beziehungsstiftung) und stellt also kein Leitmotiv dar.618 Die Kaiseranreden fügen sich jedoch ein in den grundsätzlichen Anspruch des Laktanz, die höchsten Schichten Roms mit seinem Werk zu erreichen.619 Laktanz will der paganen Leserschaft nicht weniger als die Überlegenheit des Christentums über die großen Philosophenschulen beweisen. Die Größe der Aufgabe weiß er selbst einzuschätzen (inst. 2,18,19).620 Der Widerlegung der Philosophie widmet Laktanz explizit das dritte Buch der Divinae institutiones, doch darüber hinaus befindet er sich das gesamte Werk hindurch in Auseinandersetzung mit philosophischer Theorie. Sein methodischer Ansatz ist (gemäß dem Bemühen, den Adressaten auf einer ihnen vertrauten Ebene zu begegnen) der, die Philosophen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen (inst. 3,1,2). Laktanz setzt sich insbesondere mit der paganen Ethik auseinander (philosophia moralis; inst. 3,7,1), weil er darin den Kern der Philosophie erkennt (totius philosophiae ratio continetur; ebd.). Was das

617 Nach Freund 2009, 12, geschah dies zwischen 313 und 315. 618 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass durch den Constantinspreis zu Beginn und zum Ende des Werkes die Institutiones gleichsam panegyrisch eingerahmt sind. 619 Vgl. hierzu Althoff 1999, 42. Wie Nicholson 1999, 14 anmerkt, hat Laktanz Rom selbst wohl nie gesehen. 620 Gerade indem er herausstellt, ein wie schwieriges Unterfangen dieser Nachweis ist, gestaltet sich sein Triumph – nach dessen Bewältigung – noch größer.

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höchste Gut und Ziel menschlichen Lebens sei, hätten die Philosophenschulen in sehr verschiedener Weise bestimmt (inst. 3,7,7f.) – dass sie alle unrecht haben, will Laktanz ab inst. 3,8 zeigen. Sein Nachweis basiert auf der Grundannahme, dass alles Wissen von Gott komme und aus menschlicher Kraft allein nicht gefunden werden könne (inst. 3,3); den Philosophen, die sich als Weisheitsstrebende bezeichnet hätten, 621 gesteht er nur ein zielloses Herumirren zu, weil sie – da sie ohne Gott gewesen seien – keinen Zugang zur Weisheit gehabt und nicht einmal gewusst hätten, wonach sie eigentlich suchten (inst. 3,2,9f.). Demzufolge müsse alle Ethik bei der Gottverehrung ansetzen (sola religione; inst. 3,10,1): Der Mensch sei auf Gott angewiesen, um rationem rerum caelestium (inst. 3,10,13) zu erkennen. Aus eigener Kraft kann der Mensch Gott jedoch nicht finden; dazu braucht es – als Geschenk Gottes – die Offenbarung (inst. 1,1,6). Die Fähigkeit, die Offenbarung anzunehmen, stellt Laktanz als spezifisch menschlich heraus. Es handelt sich dabei zugleich um eine Menschenpflicht. Wer ihr nicht nachkommt, entsagt für Laktanz seinem Menschsein und stelle sich auf eine Ebene mit den Tieren (inst. 3,10,14.).622 Zugleich wohne das Streben nach dem Göttlichen dem Menschen gemäß dem göttlichen Schöpfungsplan (providentia: deus voluit) als Bedürfnis inne (Naturam hominis deus hanc esse voluit, ut duarum rerum cupidus et appetens esset, religionis et sapientiae; inst. 3,11,2). Religio und sapientia gehören zusammen; erstere bildet für Laktanz die „Zugangsvoraussetzung“ für letztere.623

621 Den Begriff der philosophia bestimmt Laktanz im Verweis auf die Überlieferung, dass Pythagoras der Erste gewesen sei, der sich als philosophus bezeichnet habe (inst. 3,2,3; vgl. Cic. Tusc. 1,1,5,9). Nach Pythagoras bezeichne Philosophie das Streben nach Weisheit – ein Streben freilich, kein Finden. Seine Beurteilung der philosophia bewegt sich beständig zwischen Vereinnahmung und Ausgrenzung. Ein Beispiel für erstere findet sich etwa am Ende des dritten Buches. In inst. 3,27,1 merkt Laktanz konziliant an, die Philosophen seien der Wahrheit manchmal sehr nahe gekommen, aber (hier grenzt er sie aus:); nichts von dem, was sie sagten, basiere auf Wissen, alles sei Vermutung (inst. 3,27,10: sie hätten nur Schatten der Tugend gesehen – Bezugnahme auf Cic. off. 3,69; s.u. Anm. 736). 622 Um das Offenbarungserlebnis annehmen zu können, muss der Mensch sich dafür bereit machen – er solle Gott suchen, dann lasse sich er auch finden (inst. 2,18,1). In inst. 5,8,1 sowie später in inst. 5,19,11–13 und 5,19,23 wird deutlich, dass beim Glauben die voluntas entscheidend ist. Laktanz zieht Begriffe wie voluntas, devotio, fides, animus und mens heran, um einerseits die willentliche Hinwendung zu Gott darzustellen und andererseits überhaupt die Innerlichkeit der christlichen religio (im Gegensatz zu paganen Kulten) zu betonen. Die Offenbarung wird von Laktanz bezeichnet als caeleste beneficium (inst. 5,7,2; zu dieser Vorstellung s.u.) oder als traditio caelestis (inst. 7,1,11; weiter heißt es dort, über die Wahrheit werde nicht spekuliert, sondern die Christen erhielten sie direkt von Gott). 623 Bereits in inst. 1,1,25 verweist Laktanz darauf, dass sapientia und religio untrennbar zusammengehören. Diese grundlegende Überzeugung wird im Verlauf des Werkes immer wieder betont. Vgl. außerdem das vierte Buch; die programmatische Ankündigung von dessen Inhalt findet sich am Ende des dritten Buches: Laktanz wolle nun erklären, quae religio et quae sapientia vera sit (inst. 3,30,10). Zur Etymologie von religio nach Laktanz inst. 4,28.

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Die Frage nach dem höchsten Gut wird nun in Rückbindung an die Menschenpflicht, Gottes Offenbarung anzunehmen, wie folgt beantwortet: Die Tugend, welche von manchen Philosophen als summum bonum angenommen werde, sei zwar ein hohes Gut, doch nicht das höchste, denn wenn ihr Wesen sich im Ertragen der Übel erschöpfe, könne sie nicht das Allererstrebenswerteste sein (inst. 3,11,9– 11). Laktanz geht selbstverständlich davon aus, dass die Entbehrungen tugendhaften Lebens, welches er – im Einklang mit mehreren Philosophenschulen – als menschengemäß und erstrebenswert bezeichnet, nicht ohne Belohnung bleiben. Das summum bonum müsse zu Glückseligkeit führen (beatitudo; inst. 3,12,15); diese könne man nicht im irdischen Leben finden, das – weil der Mensch in der körperlichen Hülle gefangen bleibe – Übeln ausgeliefert sei (inst. 3,12,14); die Glückseligkeit hingegen müsse vollkommen sein, unzerstörbar. Diese Bedingung erfüllt nach Laktanz allein die Unsterblichkeit (Sola ergo immortalitas beata est, quia corrumpi ac dissolvi non potest; inst. 3,12,16).624 Die Verheißung der Unsterblichkeit (in inst. 3,12,8–12 ist dreimal von praemium die Rede) ist geknüpft an die Verehrung Gottes, wie Laktanz zusammenfasst (inst. 3,12,18). Unsterblichkeit kann nur der erlangen, der die Offenbarung annimmt und gottgefällig zu leben begehrt. Mit der Bedingung der Offenbarung unterstreicht Laktanz immer wieder die Überlegenheit des Christentums über pagane Kulte oder Philosophenschulen: Allein wer Gott kenne, sei befähigt, in der rechten Weise zu leben und zu handeln.625 Die virtus ist für Laktanz zu verorten in der gottgegebenen Bestimmung des Menschen: Als Bestandteil des gottgegebenen menschlichen Wesens gehört sie zu den diesseitigen Menschenpflichten, als Variante gottgefälligen Handelns trägt sie zugleich zur Unsterblichkeit bei. Tugendhaftes Handeln weist für Laktanz über die diesseitige Existenz des Menschen hinaus. STRUKTUR Die Divinae institutiones sind ein umfangreiches Werk in sieben Büchern. Laktanz selbst gibt eine Binnengliederung vor, indem er jedes Buch mit einem Untertitel versieht, der auf den jeweiligen Inhalt vorverweisen soll. Die ersten drei Bücher lassen sich zusammenfassen als der apologetische Teil des Werkes, dessen Anliegen vornehmlich darin besteht, falsche Meinungen zu widerlegen (inst. 1: De falsa religione; inst. 2: De origine erroris; inst. 3: De falsa sapientia). Ab dem

624 Die Existenz der Unsterblichkeit ist für Laktanz eine Notwendigkeit. 625 Inglebert 1996, 141 und 143, vertritt die These, dass Laktanz eine philosophische und elitäre Konzeption des Christentums entwickelt habe, die davon ausgehe, dass wahre Offenbarung nur wenigen zuteil werde und der Volksglaube davon weit entfernt sei. Tatsächlich wendet sich Laktanz weitgehend an die gebildete Oberschicht, betont zugleich aber, dass der Zugang zu Gott prinzipiell jedem offenstehe.

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vierten Buch626 beginnt, wie die Buchtitel anzeigen, die Unterweisung627 im wahren Glauben (inst. 4: De vera sapientia et religione; inst. 5: De iustitia; inst. 6: De vero cultu; inst. 7: De vita beata).628 Die ersten sechs Bücher hängen jeweils paarweise eng zusammen: In den ersten beiden Büchern greift Laktanz pagane Götter und Kulte an; das dritte und vierte Buch sind der Widerlegung paganer Philosophie gewidmet. Im fünften und sechsten Buch entwickelt Laktanz eine christliche Ethik, in deren Zentrum die für inst. 5 titelgebende iustitia steht.629 In inst. 6 wird die Gerechtigkeit als wahrer Gottesdienst erwiesen. Im siebten Buch steht der eschatologische Bezug menschlichen Handelns im Vordergrund. Dieses letzte Buch der Divinae institutiones bildet – alleinstehend – in Laktanzens eigenen Worten das Dach seines Lehrgebäudes (inst. 7,1,2), den Bezugspunkt, ohne den alle Instruktion sinnlos wäre (inst. 7,1,3f.).630 Die beneficentia631 gehört in den Kontext der iustitia: Nach Laktanz setzt sich die Gerechtigkeit zusammen aus dem Dienst an Gott und dem Dienst am Mitmenschen.632 Letzterer ist bei Laktanz synonym mit freigebigem, wohltätigem Handeln. Gleich nach dem Prooem des fünften Buches633 wird solches Handeln erstmalig thematisiert (inst. 5,5–8); der Fokus liegt dabei auf der gemeinschaftsstiftenden Wirkung. Später im fünften Buch kommt der Jenseitsbezug wohltätigen

626 Angekündigt wird der konstruktive Teil bereits in inst. 3,30,9. 627 Vgl. inst. 5,4,3: Aliud est accusantibus respondere […], aliud instituere. 628 Diese Einteilung trifft u.a. Monat 1973, 11: Für ihn entsprechen die vier letzten Bücher des Werkes viel besser dem Titel institutiones. Sie seien Unterweisungen über Wesen und Botschaft Jesu (inst. 4), die Moral (inst. 5), den wahren Gottesdienst (inst. 6) und die letzten Ziele. Dennoch seien sie, wie Monat ebd. 54–57 an inst. 5 nachweist, auch apologetisch; inst. 5 bezeichnet er als „livre de combat“ Hierzu ferner Young 2005, 654. 629 Zur engen Verklammerung des fünften und sechsten Buches Ingremeau 2003, 51f. 630 Darin beschreibt Laktanz ausführlich den Lohn, welcher denjenigen erwartet, der gemäß den im fünften und sechsten Buch formulierten Handlungsanweisungen lebt. 631 Synonym spricht Laktanz von aequitas, misericordia, humanitas und beneficentia. Weiteres hierzu in den Textinterpretationen. 632 Die laktanzische Definition der Gerechtigkeit findet sich nicht an einer Stelle gebündelt, sondern sie wird im fünften und sechsten Buch der Divinae institutiones mehrfach aufgegriffen und weiterentwickelt. Die grundsätzliche Zweiteilung in das Verhältnis des Einzelnen zu Gott und zu den Mitmenschen steht dabei aber immer im Zentrum. Vgl. hierzu Loi 1965, 115: Die laktanzische Gerechtigkeitskonzeption reiche wesentlich weiter als die ebenfalls zweiteilige ciceronische, von der Laktanz aber ausgehe (Loi 1966, 589 und 605). Loi 1966, passim, bestimmt die verschiedenen Bedeutungen, die iustitia bei Laktanz annehmen kann (Übersicht ebd. 584). Vgl. außerdem Ingremeau 2002, 154. 633 Dem fünften Buch kommt nach Monat 1973, 12 eine Sonderstellung zu: „Le livre s’ouvre sur un long et solennel préambule méthodologique“, die als Einleitung des gesamten Werkes gelten könnte, und enthält keinen Verweis auf den Gehalt von inst. 6.“ Auch Fisher 1982, 366 betont die Sonderstellung von inst. 5; er weist nach, dass es neben der eigenen Einleitung eine „separate structure and integrity“ habe; er referiert ebd. die Forschungsthese, dass das Buch ursprünglich als gesonderter Traktat geschrieben und dann dem Gesamtwerk beigefügt worden sei.

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Handelns hinzu (inst. 5,14ff.); im sechsten Buch, wo die beneficentia (mit ihren Parallelbezeichnungen) nochmals explizit als zweite Säule der iustitia besprochen wird, tritt die Jenseitserwartung als Handlungsmotivation noch stärker heraus (insbesondere in inst. 6,10–13). Diese Passagen sollen nun nacheinander besprochen werden. WOHLTATEN UND GEMEINSCHAFTLICHES GEDEIHEN Tam liberales fuisse homines: Bedingung und Kennzeichen harmonischer Gemeinschaft inst. 5,5–5,6 Wie oben ausgeführt, entwickelt Laktanz seine Überlegungen zu wohltätigem Verhalten – wie Cicero – im Rahmen der Darstellung seiner Gerechtigkeitskonzeption, wobei allerdings die laktanzische Auffassung der iustitia von der ciceronischen maßgeblich abweicht. Mit dem Titel De iustitia ist das fünfte Buch der Divinae institutiones überschrieben; deren Behandlung setzt nach dem Prooem des Buches ab inst. 5,5,1 ein (Nunc reddenda est de iustitia proposita disputatio, ebd.). Laktanz unterstreicht zuerst den prinzipiellen Stellenwert der Gerechtigkeit, die entweder als summa virtus oder als fons virtutis anzusehen sei, und verweist darauf, dass nicht nur die Philosophen, sondern zuvor schon die Dichter (die seinerzeit auch als Philosophen gegolten hätten) sie gesucht (ebd.) und verstanden hätten, dass die Gerechtigkeit gegenwärtig auf der Erde nicht zu finden sei (inst. 5,5,2).634 Mit der Erwähnung der Dichter und dem Verweis auf das Altersargument, das ihnen gegenüber den Philosophen größere Autorität zugesteht, leitet Laktanz über zu den paganen Dichtungen der goldenen Zeit, die er für seine Begriffsbestimmung der Gerechtigkeit in Anspruch nimmt.635 Dabei stellt er zunächst heraus, dass die Rede vom goldenen Zeitalter nicht als erdichtet, sondern als wahr anzusehen sei (inst. 5,5,3): Eine solche gerechte Zeit habe es also tatsächlich gegeben, und zwar unter der Herrschaft des Saturn.636 Ihr

634 Zur iustitia als summa virtus: Buchheit 1979, 358; ferner Loi 1966, 583. 635 In seiner Schilderung des goldenen Zeitalters (sowie von dessen Verfall) zitiert Laktanz mehrfach Verse insbesondere aus Ovid und Vergil; er beruft sich in seiner Darstellung der aurea aetas also auf pagane Vorlagen, weicht in einzelnen Punkten aber von diesen ab. Hierzu Buchheit 1978, 174: „Laktanz hat durch mehrere Zitate zu erkennen gegeben, daß er mit den geläufigen lateinischen Dichtertexten zur Weltalterlehre […] vertraut war.“ Buchheit merkt ebd., 162f., an, dass Laktanz der erste patristische Autor sei, bei dem „soweit die Überlieferung erkennen läßt, biblisch-christliche Paradiesauffassung und pagane Weltalterlehre zusammenfließen.“ 636 Eine sehr gute Zusammenfassung und Analyse der Passage findet sich bei Buchheit 1978, passim. Er zeigt insbesondere, wie sich Laktanz auch in der Darstellung der goldenen Zeit pagane Vorstellungen zu eigen macht und wie er sie christlich umdeutet. Zum Stellenwert der Dichter

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erstes und wichtigstes Kennzeichen ist nach Laktanzens Zusammenfassung die Verehrung des wahren Gottes anstelle einer gens vermeintlicher Götter (ebd.).637 Was Laktanz hier beschreibt, lässt sich als selbstverständlicher „Urmonotheismus“ bezeichnen. Auf dessen Grundlage (et ideo, inst. 5,5,4), so schließt Laktanz unmittelbar an, sei das Miteinander der Menschen friedlich gewesen; es habe weder Zwietracht noch Feindschaft noch Krieg gegeben (inst. 5,5,4). Wie Monotheismus und Harmonie sich zueinander verhalten, wird an der Stelle nicht erklärt. Laktanz schildert im nächsten Abschnitt stattdessen, wie das friedliche Miteinander zu denken ist; unter Verwendung paganer Zitate (u.a. Verg. georg. 1,126f.) führt er vor allem auch die selbstverständliche Bereitschaft der Menschen an, den Ertrag der eigenen Arbeit zu teilen. Was Laktanz darstellt, ohne es explizit so zu benennen, ist freigebiges Verhalten; bereits hier ist zu erkennen, dass ein solches für Laktanz zu den ersten Tugenden innerhalb der friedlichen Menschengemeinschaft des goldenen Zeitalters gehört.638 Unmittelbar darauf formuliert Laktanz: …quippe cum deus communem omnibus terram dedisset, ut communem degerent vitam, non ut rabida et furens avaritia sibi omnia vindicaret, quod omnibus nasceretur (ebd.).639

Aus der einleitenden Konjunktion quippe cum geht hervor, dass die Freigebigkeit auf einer bestimmten Erkenntnis basiert, nämlich der, dass sowohl die menschliche Disposition zur Gemeinschaft wie auch die reichliche Ausstattung der Erde mit allem Lebensnotwendigen als Werk eines vorsehenden, wohlwollenden Gottes gilt (finales ut). Dieses Wissen um Gottes Werk und Plan wird, wie sich hier andeutet, den Menschen des goldenen Zeitalters aufgrund ihrer Verbindung zu Gott zuteil,

ebd. 164 sowie die Selbstaussage des Laktanz in inst. 1,11,23f.: Non ergo res ipsas gestas finxerunt poetae […], sed rebus gestis addiderunt quendam colorem. Ferner Wlosok 1989, 381 (dort u.a. Verweis auf inst 6,21,4ff., wo Laktanz „erstmals die Möglichkeit einer christlichen Poesie“ andeute und damit den Dichtern die Aufgabe zuweise, Gott zu loben.). Zur Stelle weiterhin Swift 1968, passim, wobei seine Besprechung eher summarisch bleibt. 637 Der Gott, der verehrt wurde, war aber nicht Saturn, sondern der wahre Gott (zu Saturn als Herrscher Edwards 1999, 216). Wie aus inst. 1, passim, hervorgeht, sind die paganen Götter für Laktanz nur Menschen, die fälschlich zu Göttern gemacht wurden (zu Saturns irdischer Herrschaft inst. 1,12f.). Buchheit 1978, 167, weist darauf hin, dass „sich Laktanz für den hier gezogenen Schluß, bis zur Zeit des Saturn habe der Monotheismus geherrscht“, nicht auf die Dichter habe berufen können; diese für ihn zentrale These findet sich bei ihnen nicht. Vgl. auch Buchheit 1979a, 245: „Die Glückszeit des Urzustandes basierte auf dem Monotheismus als der vera religio.“ 638 Nach Monat 1973, 88, ist inst. 5 im Stile einer disputatio aufgebaut. Nach der Einleitung folge in inst. 5,5–5,7,3 mit der Skizze der aurea aetas die narratio, die von entscheidender Bedeutung für den weiteren Argumentationsverlauf sei: „Pour Lactance, ce sont des faits, reconnus par les païens eux-mêmes, qui établissent avant tout raisonnement le lien étroit existant entre la justice et la croyance en Dieu.“ 639 „… da Gott ja die Erde allen Menschen gemeinsam gegeben hat, damit sie das Leben gemeinsam verbringen und nicht, damit wahnsinnige, rasende Gier alles für sich beansprucht, was allen gemeinsam entstanden ist.“

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sodass ihr Handeln stets auf dem festen Grund dieser Erkenntnis aufbaut. Geht man davon aus, dass die Menschen diese Erkenntnis haben, wird nun verständlich, weswegen, wie inst. 5,5,4 zu entnehmen war, die Moral aus dem Glauben an Gott folgt: Die Verehrung Gottes verhilft dazu, „man’s place in God’s universe“640 zu erfassen und dadurch befähigt zu sein, im eigenen Handeln Gottes Plan zu befolgen. Die göttliche „Bereitstellung“ aller Güter bedeute jedoch nicht, so deutet Laktanz die Darstellungen der Dichter in inst. 5,5,7, dass es kein Eigentum gegeben hätte (ebd.), alle privata aber (implicite: auf der Basis der in inst. 5,5,6 zusammengefassten Erkenntnis) in der gottgewollten communitas als beneficia divina angesehen und bereitwillig geteilt worden seien (inst. 5,5,8).641 Wie Inglebert formuliert, hätten sich die Begüterten als „les gérants et non les propriétaires des biens qui leur sont confiés par Dieu“642 verstanden; die Vermögenden werden als so großzügig beschrieben, dass letztlich alle gleichermaßen im Überfluss lebten (inst. 5,5,8).643 Das heißt nun: Nach der Darstellung tragen die Besitzenden die Verantwortung für das Wohlergehen der Mittellosen und werden dieser Verantwortung im vollen Umfang gerecht. Mit der Vertreibung Saturns durch Jupiter endet für Laktanz das goldene Zeitalter. Aus Gründen, die er nicht genau bestimmen kann (er vermutet novi regis metu vel sua sponte depravatus, inst. 5,5,9), habe ab diesem Moment das Volk aufgehört, Gott zu verehren (ebd.) und stattdessen Jupiter zum Gott erhoben. Damit habe die Gerechtigkeit die Erde verlassen.644 Laktanz formuliert weiter, dass das Ende der Gottesverehrung zugleich das (zuvor gottgegebene) Wissen um Gut und Böse vernichtet und das Band menschlicher Gemeinschaft zerrissen hätte:

640 Fisher 1982, 359. 641 Hierzu Fisher 1982, 367: „Not uniform communism, Lactantius was quick to point out, but a voluntary material life in common.“ Loi 1965, 97, spricht von einer „condanna assoluta del comunismo“ bei Laktanz. 642 Inglebert 1996, 124 Anm. 229. In Spr. 22,2 heißt es ebenso, Reichtum und Armut seien das Werk des Herrn. Vgl. dagegen Cic. off. 1,20: privata nulla natura; s.o. ab S. 49. Anders auch Ov. met. 1,135f., wo erst im eisernen Zeitalter Gemeineigentum – vor allem der gemeinsame Boden – aufgeteilt worden und damit Privatbesitz entstanden sei. Strasburger 1976, 99, bezeichnet die paganen Erzählungen vom goldenen Zeitalter als „idealkommunistische Vision.“ De Ste Croix 1975, 25, weist darauf hin, dass die frühchristlichen Schriftsteller gegen Privatbesitz in der Regel nichts einzuwenden hatten, wenn die Begüterten nur bereit waren, mit den Armen zu teilen. 643 Hierzu Fisher 1982, 359 und 367f. 644 Ähnlich auch im Prooem des vierten Buches, wo es heißt, dass mit dem Ende der Verehrung des wahren Gottes saeculorum veterum mutata felicitas est (inst. 4,1,1). Wie Swift 1968, 148, zu Recht betont, ist für den Apologeten Polytheismus die Quelle allen Übels. Ebd. 151 schlägt er vor, den Abfall der Menschen vom Urmonotheismus als Umschreibung für „the fall of Adam“ zu sehen, die dem Christen hinter dem für pagane Leser verständlichen Bild vom Verfall des goldenen Zeitalters verberge.

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Laktanz Sublata enim dei religione boni quoque ac mali scientiam perdiderunt. Sic hominibus intercidit communitas vitae et diremptum est foedus societatis humanae (inst. 5,5,13).645

Damit fehlt die Grundlage für friedliches, hilfsbereites Zusammenleben – ohne diese Grundlage bricht nach der Darstellung des Laktanz die Menschengemeinschaft auseinander. In der entarteten Zeit regiere, wie er weiter schreibt, die Begierde, die aufgrund der Verachtung des wahren Herrschers hervorbreche und die dazu führe, dass die Bereitschaft, mit anderen zu teilen, durch Habgier, Zwietracht, Furcht und Schmeichelei ersetzt werde (inst. 5,6,1).646 Hieraus lässt sich für die Herleitung der Gemeinnützigkeit wohltätigen Verhaltens Folgendes entnehmen: Während in der aurea aetas Gottes Plan den Menschen offenbart und ihnen die Einsicht selbstverständlich ist, im eigenen Besitz beneficia divina zu verwalten, deren Nutzen allen zugute kommen sollte, geht diese Einsicht mit dem Verlust des Glaubens an den wahren Gott verloren.647 Wenn Laktanz beschreibt, dass den Menschen durch die Abkehr vom Urmonotheismus zugleich die Fähigkeit zu moralischem Handeln abhanden kommt, wozu gemäß inst. 5,5,5–7 maßgeblich die Freigebigkeit gehört, und diese Unfähigkeit, recht zu handeln, der Menschengemeinschaft schweren Schaden zufügt (intercidit, diremptum est), ist im Umkehrschluss zu sagen, dass freigebiges Handeln (als wichtiger Bestandteil rechten Handelns insgesamt) der Menschengemeinschaft nützt. Zumindest e contrario ist (pragmatisch, nicht aber logisch belastbar) erwiesen, dass für Laktanz freigebiges Handeln dem Gemeinwohl dient. Während in der goldenen Zeit das Fernsein von Geiz und Gier ein freigebiges Miteinander gelingen ließ (inst. 5,5,6; 5,5,8), bewirkt deren Vorherrschaft nun, dass die Vermögenden ihrer Verantwortung für das Wohlergehen aller nicht mehr gerecht werden (inst. 5,6,1f.).648 In beständiger Gegenüberstellung von Teilhabe und Gemeinschaft auf der einen Seite sowie Raffgier und Eigennutz auf der anderen Seite zeigt Laktanz, dass die entartete Zeit das schiere Gegenteil der aurea aetas darstellt: Während dort Einzelne ihren Besitz aufopferungsvoll zum gemeinsamen Wohl erarbeiteten und sich selbst letztlich als bloße Verwalter von beneficia divina verstanden, heißt es nun, dass beneficia caelestia umgekehrt als Privateigentum behandelt wurden – größer kann der Gegensatz kaum sein. 645 „Mit der Aufhebung der Gottesverehrung haben sie nämlich zugleich das Wissen um Gut und Böse verloren. So ging den Menschen die Lebensgemeinschaft zugrunde, und das Band menschlichen Miteinanders wurde zerrissen.“ 646 Hierzu Inglebert 1996, 125. 647 Fisher 1982, 368: „Now the memory of man’s true place had been lost; and so the rich stopped sharing with the poor. The powerful seized the property, and what had been shared was now reserved to the few.“ 648 Im Text heißt es: Non tantum enim non participabant alios, quibus aliquid afluebat, sed aliena quoque rapiebant in privatum lucrum trahentes omnia, et quae antea in usus hominum etiam singuli laborabant, in paucorum domos conferebantur. Ut enim servitio ceteros subiugarent, in primis necessaria vitae subducere et colligere coeperunt eaque firmiter conclusa servare, ut beneficia caelestia facerent sua, non propter humanitatem, quae nulla in his erat, sed ut omnia cupiditatis et avaritiae instrumenta corraderent.

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Mit dem Abfall vom Urmonotheismus beginnen die Begüterten, sich an Ungleichheit zu freuen und ihre eigene Überlegenheit ausstellen zu wollen: Et quoniam nullum in his vestigium iustitiae fuit, cuius officia sunt humanitas, aequitas, misericordia, iam superba et tumida inaequalitate gaudebant altioresque se ceteris hominibus satellitum comitatu et ferro et insigni veste faciebant. Hinc honores sibi et purpureas et fasces invenerunt, ut securium gladiorumque terrore subnixi quasi iure dominorum perculsis ac paventibus imperarent (inst. 5,6,4f.).649

In der Wahl der Beispiele für die Insignien von Macht und Rang zeigt sich, dass Laktanz an dieser Stelle Rom beschreibt – hieraus lässt sich folgern, dass er nicht eine beliebige entartete Gemeinschaft, sondern konkret den geschilderten Zustand Roms als gottlos, die römische Gesellschaft als zerrissen beurteilt.650 Zum Zustand dieser Gemeinschaft äußert sich Laktanz sehr kritisch: Wie er in inst. 5,6,6 explizit formuliert, sei die Königsherrschaft Saturns (in deren Rahmen alle Menschen den wahren Gott verehrten) mit dessen Vertreibung zu einer (hier folgt nun ein hartes Wort:) impia tyrannis entartet, in der die Menge gezwungen wurde, anstelle Gottes nun Jupiter anzubeten (inst. 5,6,6). Für die Thematik dieser Arbeit ist festzuhalten, dass in Rom, wie Laktanz es in seinem entarteten, polytheistischen Zustand beschreibt, die für die aurea aetas selbstverständliche, für das Wohlergehen aller und also das Gedeihen der Gesamtgemeinschaft entscheidend wichtige liberalitas der Vermögenden keinen Platz hat. Die desertio divinae religionis ist, wie Laktanz in inst. 5,6,12 wiederholt (nun zumindest nicht mehr sichtbar auf Rom bezogen), der Grund der Entartung. Nur der Glaube an Gott ermöglicht eine fürsorgende Hinwendung an den Mitmenschen:

649 „Und da ja in diesen Menschen keine Spur von Gerechtigkeit war, deren Pflichten die Menschlichkeit, die Billigkeit und die Barmherzigkeit sind, freuten sie sich an der stolzen und aufgeblasenen Ungleichheit und zeigten sich – durch ein großes Gefolge, durch das Schwert und durch deutlich gekennzeichnete Kleidung – den anderen Menschen überlegen. Sie erdachten Ehrenbezeugungen für sich, Purpurstreifen und Rutenbündel, um – gestützt auf den Schrecken, den ihre Beile und Schwerter auslösten – gleichsam nach Herrenrecht über Niedergeschlagene und Verängstigte zu befehlen.“ 650 Daraus leitet Buchheit 1978, 172–174, die plausible Folgerung ab (174), Laktanz wolle mit seiner Kritik „das Ioviertum der gegenwärtigen Herrscher und ihre Christenverfolgungen treffen.“ Ähnlich Inglebert 1996, 123 und 125 und De Palma Digeser 2000, 36: „Lactantius’s critique of polytheism is also an allusive invective against the particular form of imperial rule under which Rome was currently living – the tetrarchy. It is no coincidence that in his view the figure primarily responsible for the world’s lapse into polytheism was Jupiter and that Hercules was to blame for many of its ills. That these were the gods whose family names Diocletian and Maximian had taken up as part of the new political theology made it possible to attack each emperor through references to his divine parent.“ Hinter Saturn verberge sich, wie sie ebd. 40f., nachweist, Augustus. Zu Laktanzens Beschreibung des Verfalls auch Nicholson 1999, 19: Er weist darauf hin, dass für Laktanz, welcher der Weltmacht Rom grundsätzlich Respekt gezollt habe, deren Verfall erst spät eingesetzt habe; ebd. merkt er an: „Rome escaped infection until after the death of Romulus“; für ihn ist Rom „the last place to be corrupted.“ Ebenso Inglebert 1996, 126. Zur Beurteilung Roms s.u. ab S. 250.

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Laktanz quae sola [sc. divina religio] efficit, ut homo hominem carum habeat eumque sibi fraternitatis vinculo sciat constrictum, siquidem pater idem omnibus deus est, ut dei patrisque communis beneficia cum his, qui non habent, partiatur, nulli noceat, nullum premat, non forem claudat hospiti, non aurem precanti, sed sit largus, beneficus, liberalis (ebd.).651

Hier ist, anders als in inst. 5,5,6 nicht nur von der Erkenntnis die Rede, für die Gemeinschaft geboren zu sein (s.o.: ut communem degerent vitam), sondern diese Gemeinschaft wird durch die Begriffe „Bruder“ und „Vater“ (zur Bezeichnung der Beziehung zu den Mitmenschen sowie zu Gott) in Analogie zur römischen familia gestellt und damit als besonders eng und verbindlich erwiesen;652 das verwendete Verb, constringere, das im Wortsinn „festbinden“ meint, tut ein Übriges, um diesen Eindruck zu verstärken. Das Miteinander innerhalb dieser Gemeinschaft ist von Zuneigung geprägt (ut homo hominem carum habeat). Zum dritten Mal ist von den göttlichen Wohltaten (dei patris communis beneficia) die Rede, die mit den Bedürftigen geteilt würden; ferner stellt Laktanz (neben der innocentia) die Gastfreundschaft sowie die Bereitschaft, Rat zu erteilen (im Vorgriff auf inst. 6,12, wo dies nochmals ausführlicher thematisiert wird) lobend heraus; zusammenfassend bezeichnet er den gottesgläubigen Menschen – in Verwendung eines Cicerozitates – als wohltätig und verwendet damit erstmals (zumindest adjektivisch) den Begriff der beneficentia.653 Die Verehrung Gottes und die Fürsorge für den Menschen machen gemeinsam, wie Laktanz in inst. 5,6,13 wiederholt, die iustitia aus, die ein goldenes Zeitalter ermöglicht habe, welches – und hier präzisiert er die bisherige Darstellung – durch Jupiter verdorben (corruptum) und durch dessen Vergöttlichung ganz und gar aufgehoben worden sei (omne sublatum). Deutlicher als in inst. 5,5,9 zeigt sich hier, dass auch nach der Darstellung des Laktanz, ebenso wie in seinen paganen Vorlagen, der Verfall des goldenen Zeitalters allmählich vonstatten ging;654 hier wie dort ist Jupiters gewaltsame Machtübernahme Auslöser der Entartung; in inst. 5,6,13 wird jedoch deutlich, dass nicht die Vertreibung Saturns allein die Flucht der 651 „Diese allein [die Verehrung Gottes] bewirkt, dass der Mensch den Menschen lieb hat und ihn durch das Band der Brüderlichkeit sich selbst verbunden weiß, da ja Gott allen Menschen gleichermaßen Vater ist, und sie bewirkt, dass er die Wohltaten Gottes, des gemeinsamen Vaters, mit denen teilt, die nichts haben, dass er niemandem schadet, niemanden niederdrückt, seine Tür dem Gast nicht verschließt, sein Ohr nicht dem Bittenden, sondern dass er großzügig ist, wohltätig und freigebig.“ 652 Hierzu Wlosok 1960, 222–246. Ferner von Albrecht 1997, 1270, der „Laktanzens Verbindung der christlichen Gottesvorstellung mit der römischen Idee des pater familias“ als „theologische Leistung“ bezeichnet und ebd. 1271 darauf verweist, dass pater, dominus, filius und servus Rechtspersonen seien. Zum Rechtsverhältnis zwischen Mensch und Gott (ebd. 1270) Anm. 708 in dieser Arbeit. 653 Ferner verwendet er, ebenfalls adjektivisch, neben liberalis (zum zweiten Mal nach inst. 5,5,6) auch largus, das bei ihm (ebenso wie das zugehörige Abstraktum largitio) positiv verstanden wird. 654 Anders Fisher 1982, 368; er merkt an, dass bei Laktanz auf das goldene Zeitalter sogleich das eiserne folge; der Übergang vom einen zum anderen sei „a sharp break from the simple egalitarian society of primitive monotheism.“

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iustitia bewirkte, sondern diese dadurch veranlasst wurde, dass die Verehrung Jupiters und anderer vermeintlicher Götter den Glauben an den wahren Gott ersetzte.655 Immer wieder bewegt sich Laktanzens Argumentation auf diesen Punkt zu: Der Polytheismus lässt die Sitten der Menschen entarten.656 Auch für Ovid beginnt der Verfall der aurea aetas mit der Vertreibung des Saturn; anders als Laktanz benennt er jedoch konkret einzelne Zeitalter von sinkender Qualität und führt Schritt für Schritt aus, wie das Fortschreiten der Zivilisation und zunehmendes Streben nach Besitz und Annehmlichkeiten ineinander greifen. Auch in Ovids Darstellung der aetates verlässt die Gerechtigkeit im eisernen Zeitalter die Erde, als Gier und Zwietracht überhand nehmen (Ov. met. 1,150). Konkrete Gründe für die zunehmende Wildheit der Menschen (Ov. met. 1,126) gibt er jedoch nicht an – deren Erklärung durch den Abfall vom Urmonotheismus ist also, vor dem Hintergrund der christlichen Lehre, ein origineller Zusatz des Laktanz.657 Originell ist ferner die Tatsache, dass Laktanz für die aurea aetas bereits Armut als gegeben annimmt, welche die Vermögenden jedoch, kraft der Einsicht, im eigenen Besitz beneficia divina zu verwalten, selbstverständlich und großzügig auszugleichen bemüht sind. Für den Argumentationskontext muss Armut existieren, weil deren Vorhandensein Laktanz die Möglichkeit gibt, die Freigebigkeit der Begüterten als zentrales Kennzeichen der aurea aetas hervorzuheben. Aus den Schwerpunkten der laktanzischen Darstellung der aurea aetas ergibt sich also, dass neben der Verehrung Gottes vor allem die Bereitschaft, anderen zu geben, ohne (da es sich ja um Arme handelt) mit deren Gegenleistung zu rechnen, als Tugend gilt. Im Kontext dieser Überlegung ist festzuhalten, dass Laktanz stets aus der Perspektive der Gebenden formuliert: Scheinbar spricht er stets von den Menschen im allgemeinen; was er beschreibt, sind jedoch nicht die Verhaltensweisen der Begüterten und der Mittellosen gleichermaßen, sondern er beschränkt sich stets auf erstere: In der goldenen Zeit seien die Menschen überaus großzügig gewesen, schreibt Laktanz, doch die skizzierte Großzügigkeit konnte nur denen möglich sein, die überhaupt die Mittel hatten, so reichlich abzugeben. Die Tugend der Freigebig-

655 Indem die Dichtungen zur aurea aetas als Wiedergabe einer historischen Tatsache behandelt werden und innerhalb dieser Skizze erwiesen wird, dass dort der Urmonotheismus die Grundlage für friedliches, gedeihendes Miteinander darstellt, das erst durch den – später entstandenen – Polytheismus ein Ende fand, gilt das Altersargument auch für das Christentum: Der Urmonotheismus, der als dessen Grundlage gelten kann (denn diese Grundvoraussetzung für gelingende Gemeinschaft wird im Christentum wieder aufgenommen) ist viel älter als die Götterkulte und kann damit größere Autorität für sich beanspruchen. Dies merkt auch De Palma Digeser 2000, 90, an. 656 Der Zusammenhang zwischen Polytheismus und moralischem Verfall ist auch mit dem Schlagwort der imitatio zu erklären: Laktanz verweist mehrfach darauf, dass Haltung und Handlungen dessen, der als Gott gilt, Vorbildwirkung haben (etwa inst. 5,6,10; inst. 5,8,6; außerdem inst. 5,10 passim) – zum rechten wie zum falschen Leben hin. In diesen Zusammenhang gehört auch die Verbindung von religio und sapientia. 657 Vgl. Buchheit 1979a, 246.

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keit, die er vor allen anderen herausstellt, ist eine Tugend der Vermögenden. Laktanz schreibt aus deren Perspektive und nimmt sie durch seine Ausführungen zugleich in die Pflicht. Dieselbe Beobachtung lässt sich für die Schilderung der entarteten Zeit notieren, in der die Menschen, anstelle andere an ihrem Besitz teilhaben zu lassen, geraubt und gerafft, Mittellose in die Sklaverei getrieben und sich selbst durch äußere Insignien auszuzeichnen bemüht hätten. Die Handelnden sind stets die Reichen, nach Herrschaft Strebenden. In der Beschreibung aurea aetas wird ausgeführt, wie gut sie durch Freigebigkeit ihrer Verantwortung für die Bedürftigen gerecht werden, für die entartete Zeit wird erwiesen, dass sie umgekehrt dazu nicht mehr bereit sind. Die bisherigen Überlegungen seien an dieser Stelle kurz zusammengefasst: Die Kapitel inst. 5,5 und 5,6 bilden den Beginn der de iustitia proposita disputatio (inst. 5,5,1). In diesen beiden Kapiteln wird die laktanzische Gerechtigkeitskonzeption in ihren wesentlichen Charakteristika bereits greifbar:658 Am Beispiel der Vorstellung vom goldenen, gerechten Zeitalter, die dem paganen Leser vertraut war, illustriert Laktanz, unter welchen Bedingungen ein Zeitalter gerecht sein kann. Die aurea aetas wird als historische Tatsache behandelt. Für Laktanz basiert Gerechtigkeit, wie er vielfach betont, immer auf der Verehrung des wahren Gottes,659 der als allen Menschen gemeinsamer Vater wahrgenommen wird, welcher für alle gleichermaßen sorgt. Alle Güter gelten als Gaben Gottes, eine gerechte Teilhabe der Bedürftigen ist selbstverständlich. Es wird deutlich, dass der Mensch einerseits Gott verpflichtet ist, andererseits (und darauf aufbauend), auch seinem Mitmenschen. Im Hinblick auf die Frage nach dem gemeinschaftsstiftenden Wert freigebigen Handelns ist insbesondere Folgendes festzuhalten: In der Darstellung wird in erster Linie das barmherzige Geben an Mittellose gelobt, welches, wie eben vermerkt, eine Tugend der Begüterten bleibt, insofern als es eine bestimmte materielle Ausstattung zur Voraussetzung hat. Diese Bereitschaft, Bedürftigen Eigenes abzugeben und damit für deren Versorgung aufzukommen, stärkt die gottgewollte Gemeinschaft der Menschen, was im Umkehrschluss auch dort deutlich wird, wo Laktanz schildert, wie in der entarteten Zeit das Fehlen der für die aurea aetas zentralen Tugenden die Menschengemeinschaft zerreißt.

658 Vgl. Buchheit 1978, 169f. 659 Buchheit 1979a, 248, merkt an, dass diese Überlegung leitmotivisch das ganze Kapitel hindurch wiederholt werde.

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inst. 5,7–5,8 Ab inst. 5,7 weist Laktanz einen Weg aus dieser entarteten Zeit: Sed deus ut parens indulgentissimus […] nuntium misit, qui vetus illud saeculum fugatamque iustitiam reduceret, ne humanum genus maximis et perpetuis agitaretur erroribus (inst. 5,7,1).660

Laktanz beschreibt Gott als gütigen und nachsichtigen Vater, welcher Jesus (der nicht namentlich genannt wird, sich aber hinter dem Boten verbirgt) die Aufgabe übertragen habe, die goldene Zeit und damit gleichzeitig auch die Gerechtigkeit zurückzubringen, um den Unruhe stiftenden errores der Menschen ein Ende zu setzen.661 Mit den errores dürften die Götterkulte gemeint sein, die den bisherigen Ausführungen zufolge den Menschen die Grundlage für Eintracht und Gemeinschaft entzogen haben. Jesu Aufgabe bestand nach Laktanzens Darstellung darin, dem Menschengeschlecht vetus illud saeculum, die goldene Zeit also, zurückzugeben. Jesus soll, so lässt sich hier folgern, den Menschen den Weg weisen, wie ihnen gemeinschaftliches Miteinander wieder neu gelingen kann.662 Weiter heißt es: Rediit ergo species illius aurei temporis et reddita quidem terrae (inst. 5,7,2).663 Das Perfekt rediit zeigt an, dass diese neue, gerechte Zeit nichts Zukünftiges, zu Erwartendes ist, sondern eine bereits gegebene Tatsache, und zwar reddita terrae – auf der Erde anwesend. Auf Erden ist damit Gemeinschaft nach Art der aurea aetas wieder möglich. Nun spricht Laktanz jedoch nicht von einer goldenen Zeit, sondern von deren Abbild, denn im Unterschied zur aurea aetas, wie sie in inst. 5,5f. dargestellt wurde, ist die Grundbedingung, daran teilhaben zu können, nicht allgemein erfüllt;664 ganz im Gegenteil sei die wiedergekehrte Gerechtigkeit nur wenigen zugänglich, das heißt, eine gerechte Gemeinschaft nur von wenigen zu verwirklichen, nämlich von den Christen (inst. 5,7,2), weil sie allein den wahren Gott verehrten.

660 „Gott schickte als überaus nachsichtiger Vater […] einen Boten, der jene alte Zeit und die vertriebene Gerechtigkeit zurückbringen sollte, damit das Menschengeschlecht nicht durch so riesige und immerwährende Irrtümer hin und her geworfen würde.“ 661 Bezüglich des Zeitpunktes von Jesu Mission auf Erden: appropinquante ultimo tempore (inst. 5,7,1); dies steht im Zusammenhang mit Laktanzens Eschatologie; s.u. ab S. 247. 662 De Palma Digeser 2000, 74, verweist richtig auf Lactantius’s „unique emphasis on teaching – not the Passion – as the means by which Christ saved humanity“. 663 „Es kehrte also ein Abbild jener goldenen Zeit zurück und wurde ja der Erde zurückgegeben.“ 664 Hierzu Buchheit 1978, 185: „Gott habe „in einem Akt der Gnade durch die Sendung seines Sohnes diese Wiederkehr des saeculum aureum bereits gewirkt […], auch wenn dieses bislang nur teilweise verwirklicht ist.“ Ähnlich Inglebert 1996, 141. Nach Fisher 1982, 366, habe Laktanz die Weltgeschichte in drei Zeitalter eingeteilt: „… first, a golden age of monotheism in which men might be said to have been innocently, inconsciously Christians; then paganism, an iron age of strife and darkness; and finally a new golden age“, das bereits existiere, und zwar „among the Christian community“. Ebd. 376, bezeichnet Fisher die species aurei temporis als „a vision of a new intermediate era, less remote, less fantastic, and in some ways only a consoling utopian extension of what he [sc. Lactantius] could see or imagined that he saw in the Christian community around him.“

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Sie sind die pauci, denen die Gerechtigkeit zugeschrieben ist, insofern als diese nichts anderes umfasse als die fromme Verehrung des wahren Gottes (ebd.). Laktanz verweist weiterhin ganz am Rande auf die Kontroverse, warum Gott nicht allen Menschen gleichermaßen den Zugang zur Gerechtigkeit geschenkt habe (inst. 5,7,3). Die Frage wird an der Stelle nur kurz diskutiert; Laktanz verweist auf den Dualismus von Tugend und Laster; erstere könne sich nur in der Auseinandersetzung mit letzterem bewähren.665 Im Zusammenhang dieser Arbeit ist die kurze Be merkung vor allem deswegen von Interesse, weil sich hier nochmals zeigt, dass die Gerechtigkeit nicht als zukünftig, sondern als gegenwärtig anwesend verstanden wird – wenngleich sie auf die Christen beschränkt bleibt. Festzuhalten ist demnach: Den Christen, und zwar ihnen allein, gelingt nach der Darstellung des Laktanz eine Gemeinschaft wie die der goldenen Zeit, weil sie mit der Verehrung des wahren Gottes die entscheidende Grundbedingung erfüllen, die ihnen die Gerechtigkeit zurückgibt.666 In inst. 5,8 wendet sich Laktanz an pagane Dichter und Philosophen, die in ihren Schriften beständig die Abwesenheit der Gerechtigkeit beklagten und auch überzeugt seien, dass die Gerechtigkeit an sich nur eine Wunschvorstellung bleiben müsse (inst. 5,8,1–2; vgl. inst. 5,5,2). 667 Auch Nichtchristen wünschen sich Laktanz zufolge Gerechtigkeit auf Erden; auch sie sehnen sich also nach einer gerechten Gemeinschaft. Dem grundsätzlichen Pessimismus der angeführten Dichter und Philosophen widerspricht Laktanz jedoch – eine gerechte Gemeinschaft lasse sich, wie er erklärt, im Gegenteil leicht einrichten: Es sei überaus leicht, gut zu leben, wenn man nur wolle.668 In diesem Sinne rät er den Angesprochenen:

665 Weitere Passagen, in denen Laktanz diese Überlegung entwickelt, nennt Winger 1999, 140 Anm. 906; die Metaphern, mit denen der Dualismus zwischen Gut und Böse illustriert ist, finden sich gebündelt in inst. 7,27,2. 666 In inst. 5,7,10 wird dieser Gedanke ein weiteres Mal wiederholt. Laktanz merkt an, quamvis sit hominibus missa iustitia, tamen aureum saeculum non esse dicatur, quia malum non sustulit, ut retineret diversitatem, quae sacramentum divinae religionis continet sola. Wiederum wird ausgedrückt, dass die Gerechtigkeit den Menschen bereits gegeben worden sei (Perfekt). Sie ist also unter den Menschen anwesend, jedoch, auch dieser Gedanke wird wiederholt, nicht allen gleichermaßen zugänglich wie in der aurea aetas, sondern an die Bedingung des sacramentum divinae religionis geknüpft und also den Christen vorbehalten. 667 In inst. 5,8,1 spricht er zunächst in der dritten Person Plural diejenigen an, die glaubten, niemand sei gerecht; in inst. 5,8,2 geht er dann zur zweiten Person Plural über. Dass es sich bei den Angesprochenen um Dichter und Philosophen handelt, lässt sich vermuten, weil er von carmina bzw. sermones spricht, in denen die Genannten die Abwesenheit der Gerechtigkeit beklagten. 668 Wenngleich er überzeugt ist, dass Nichtchristen nicht gerecht sind, beschreibt er dennoch die Möglichkeit, gerecht zu werden.

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Estote aequi ac boni, et sequetur vos sua sponte iustitia, quam quaeritis. Deponite omnem malam cogitationem de cordibus vestris, et statim vobis tempus illud aureum revertetur: quod aliter consequi non potestis, quam si deum verum colere coeperitis (inst. 5,8,3).669

Diesem Rat ist Folgendes zu entnehmen: Um gerecht zu sein, ist zunächst rechtes Handeln nötig; Laktanz formuliert imperativisch; die Angesprochenen sollen ihr Verhalten also aus eigenem Antrieb in einer bestimmten Weise gestalten. Er fordert: Estote aequi ac boni. Bereits in inst. 5,6,4 erschien das Abstraktum aequitas zur Bezeichnung der Freigebigkeit, deren Anliegen nach inst. 5,6,12 es ist, die göttlichen Gaben allen gleichermaßen zukommen zu lassen. Laktanz ruft also zu Freigebigkeit und Güte auf; diese Verhaltensweisen werden, wie er meint, die Gerechtigkeit nach sich ziehen. Ferner verlangt er von den Angesprochenen einigermaßen vage, alle schlechten Gedanken abzulegen, um das goldene Zeitalter zurückzubekommen, und zwar statim, augenblicklich. Was er erst zuletzt betont, was aber die entscheidende Bedingung für das Gelingen der geforderten Verhaltensweisen darstellt, ist, dass allem rechten Handeln die Verehrung Gottes vorangehen muss (coeperitis, Futur 2).670 Wird Gott verehrt (so wiederholt Laktanz hier, was er bereits in inst. 5,5,6 und 5,6,12 herausstellt), erlangt der Mensch die Fähigkeit einzusehen, welches Handeln als gottgefällig gilt, und gemäß dieser Einsicht zu handeln – damit ist sofort eine gerechte Gemeinschaft „zu haben“. Genau diese Grundbedingung erfüllen die Angesprochenen jedoch nicht, und deswegen bleibt ihnen das Wissen um rechtes Handeln versperrt: Vos autem manente cultu deorum iustitiam desideratis in terra, quod fieri nullo pacto potest (inst. 5,8,4).671 Sie sind nicht fähig, gerecht zu leben, obwohl sie sich eine Gemeinschaft, die auf Gerechtigkeit basiert (iustitiam in terra) doch so sehr wünschen (desideratis).672

669 „Seid gerecht und gut, und die Gerechtigkeit, die ihr sucht, wird euch von selbst folgen. Entfernt alle schlechten Gedanken aus euren Herzen, und sofort wird das goldene Zeitalter zu euch zurückkehren. Ihr könnt es nur erreichen, wenn ihr den wahren Gott zu verehren beginnt.“ 670 Wie zentral die voluntas für den eigenen Weg mit Gott ist, wird ab inst. 5,19,11 ausgeführt: Ohne die Bereitschaft dazu, Gottes Offenbarung anzunehmen, ist kein Glaube möglich; die Umsetzung der menschengemäßen Bestimmung im eigenen Handeln ist auch von der eigenen bewussten Willensentscheidung dafür abhängig. 671 „Ihr aber sucht die Gerechtigkeit unter Aufrechterhaltung der Götterkulte auf der Erde; das kann keinesfalls so sein.“ 672 In der Argumentation stellt Laktanz die Äußerlichkeit der Götterkulte der Innerlichkeit der wahren religio gegenüber: Er schreibt den Anhängern paganer Kulte die Verehrung von simulacra zu (inst. 5,8,2), von Tempeln aus lapides aut lutum, von vergänglichen auri et gemmarum dona (inst. 5,8,4). Demgegenüber wurzelt die christliche religio in der Bereitschaft, mit Gott zu leben (velint; inst. 5,8,1); als Tempel bezeichnet Laktanz den Menschen selbst, der das Antlitz Gottes trage. Dieser Tempel sei aeternis virtutum muneribus zu schmücken (inst. 5,8,4). In dieser Vorstellung vom Menschen als templum, der mit Tugenden geschmückt wird, ist der Zusammenhang von Gottesverehrung und rechtem Handeln wieder greifbar. Für die Enge der Verbindung zwischen Mensch und Gott ist ferner der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit des Menschen wichtig; er wird in inst. 6,10 nochmals aufgegriffen.

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In den eben zitierten Passagen wird deutlich, dass Laktanz auch den Nichtchristen die Sehnsucht nach einer gerechten Zeit zuschreibt, und zwar gegenwärtig (temporibus) und irdisch (in terra). Auch die Nichtchristen erleben nach Laktanzens Darstellung die gegenwärtige Situation als entartet, auch sie wünschen sich eine andere, gedeihende Form von Gemeinschaft. Und doch tragen sie, seinen Ausführungen zufolge, Schuld an der Situation, weil ihnen die folgende Einsicht fehlt: … homines ideo malos et iniustos esse, quia dii coluntur, et ideo mala omnia rebus humanis cotidie ingravescere, quia deus […] derelictus est […], postremo quia ne coli quidem vel a paucis deum sinitis (inst. 5,8,5).673

Laktanz zeichnet das Bild sich beständig verschlechternder gegenwärtiger Zustände (mala omnia rebus humanis cotidie ingravescere), für welche diejenigen die Verantwortung tragen, die selbst falsche Götter anbeten und von der Verehrung des wahren Gottes abgekommen sind bzw. – als Christenverfolger – nicht einmal zulassen, dass andere (die noch dazu in der Minderheit sind: pauci) gottgefällig leben wollen.674 Dabei wäre die wiedergekehrte, gerechte Zeit, nach der sich Laktanz zufolge Christen wie Nichtchristen sehnen, so leicht umzusetzen – wenn nur Gott verehrt würde. Laktanz formuliert im Irrealis; die aurea aetas ist also nicht verwirklicht – weil die „Zugangsbedingung“ nicht erfüllt wird. Wenn sie freilich Erfüllung fände, sähe das menschliche Miteinander harmonisch aus: Quodsi solus deus coleretur, non essent dissensiones et bella, cum scirent homines unius se dei filios esse ideoque divinae necessitudinis sacro et inviolabili vinculo copulatos (inst. 5,8,6).675

Vor diesem Hintergrund, dass die Gegenwart der aurea aetas so greifbar ist, erscheint das Verhalten derer, die der Verwirklichung entgegenstehen, besonders gemeinschaftsschädlich. Die Menschengemeinschaft des wiedergekehrten goldenen Zeitalters wäre der in inst. 5,5 beschriebenen ganz ähnlich; Laktanz verwendet hier teilweise dieselben Wendungen. Ebenso wie in inst. 5,6,12 sind die Schritte, die sie ermöglichen, dieselben: Laktanz verweist darauf, dass die Verehrung Gottes die Erkenntnis mit sich ziehe, gemeinsam von Gott abzustammen; diese Verbindung zu Gott und

673 „… dass die Menschen deswegen schlecht und ungerecht sind, weil die Götter verehrt werden, und dass deswegen alle Übel von Tag zu Tag schlimmer werden, weil Gott vernachlässigt wurde und schließlich, weil ihr nicht zulasst, dass er verehrt wird, nicht einmal von wenigen.“ 674 In inst. 5,11 spricht Laktanz den Christenverfolgern ihr Menschsein ab; sie tragen für ihn nur liniamenta et summam figuram des Menschen (inst. 5,11,3). Sie sind für ihn noch grausamer als wilde Tiere, weil sie in ihrem Wüten niemals gesättigt seien (inst. 5,11,4). Sie widersprechen allem, so lässt sich folgern, was nach Gottes Willen im Wesen des Menschen liegt. S.o. Anm. 171. 675 „Wenn Gott allein verehrt würde, gäbe es keine Zwistigkeiten und Kriege, weil die Menschen wüssten, dass sie die Kinder des einzigen Gottes und deswegen durch das heilige und unverletzliche Band göttlicher Verwandtschaft verbunden sind.“

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untereinander wird redundant als unauflösbar, unverletzlich, göttlich und heilig bezeichnet. Aus dem Glauben an Gott ergibt sich die Einsicht in das Richtige, Tugendhafte; würde Gott verehrt, so schließt Laktanz seine Aufzählung, käme die gottesfürchtige Freigebigkeit der Besitzenden gegenüber den Notleidenden wieder zum Tragen (inst. 5,8,7).676 Zusammenfassend formuliert Laktanz: non essent igitur, ut dixi, haec omnia in terris mala, si ab omnibus in legem dei coniuraretur, si ab universis fierent, quae unus noster populus operatur. Quam beatus esset quamque aureus humanarum rerum status, si per totum orbem mansuetudo et pietas et pax et innocentia et aequitas et temperantia et fides moraretur (inst. 5,8,8)!677

Hier zeigt sich wiederum, dass es ihm um die Verbesserung der gegebenen Zustände geht; sein Anliegen ist, dass haec omnia mala verschwinden und stattdessen das goldene Zeitalter verwirklicht wird – in einer gegenwärtigen und irdischen Gemeinschaft, wie sich der Wendung des humanarum rerum status entnehmen lässt. Die Grundbedingung dafür, dass dieses goldene Zeitalter anbrechen kann, ist, wie schon vielfach gesagt, die Verehrung Gottes, deren entscheidende Bedeutung hier durch die Bezeichnung als lex dei besonders betont wird. In inst. 5,8,8f. erscheint das Christentum als alternative gemeinschaftliche Organisationsform, die in Konkurrenz zu bestehenden politischen Rechtsformen steht (ebd. und inst. 5,8,9). Diese Beobachtung wird später noch eine Rolle spielen. Hinsichtlich der Gemeinnützigkeit wohltätigen Verhaltens ist der Argumentation in inst. 5,8,6–9 Folgendes zu entnehmen: Auf der beständig hervorgehobenen Grundlage der Verehrung Gottes bewirkt eine Reihe von Tugenden (inst. 5,8,8: mansuetudo, pietas, pax, innocentia, aequitas, temperantia, fides), dass alle mala fern sind und die Menschengemeinschaft, der humanarum rerum status, als golden wahrgenommen wird. Anders gesagt (ohne dass Laktanz dies selbst explizit machen würde): In der Ausübung der Tugenden dient und nützt der Handelnde der Gemeinschaft. In der Reihe dieser gemeinnützigen Verhaltensweisen findet sich auch das großzügige Geben der Besitzenden an die Besitzlosen (aequitas; vgl. inst. 5,5,8; inst. 5,6,4; inst. 5,8,3). Diese gerechte Gemeinschaft für alle (universi; inst. 5,8,8) bleibt bislang unverwirklicht (Irrealis inst. 5,8,6–9); im Kontrast dazu steht die Bestandsaufnahme der gegebenen Zeit: Die Menschen seien schlecht, weil sie das Gute nicht kennten (inst. 5,8,10). Laktanz beschreibt die gegenwärtige Situation als von Übeln durchsetzt, durch die das Menschengeschlecht in seinem Bestand gefährdet sei (inst. 5,8,11). Mit dem Verweis auf diese existenzielle Bedrohung, für die nach Laktanz letztlich impius deorum cultus verantwortlich ist, wiederholt er einen

676 Vorher führt er aus, dass das Zeitalter friedlich und sittlich wäre (inst. 5,8,6f.). 677 „Es gäbe also, wie ich sagte, alle diese Übel auf Erden nicht, wenn von allen der Eid auf Gottes Gesetz geschworen würde, wenn von allen getan würde, was allein unser Volk betreibt. Wie glücklich und wie golden wäre die Lage der menschlichen Angelegenheiten, wenn über die ganze Welt hinweg Sanftmut, Frömmigkeit, Frieden, Rechtschaffenheit, Rechtsgleichheit, Mäßigung und Glaube weilten!“

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Gedanken aus inst. 5,5,13 und beendet seine Ausführungen zur prinzipiell möglichen, neuen gerechten Gemeinschaft. Was durch diesen letzten Abschnitt besonders herausgestellt wird, ist der Verweis darauf, dass die Nicht-Verwirklichung der neuen aurea aetas in der Verantwortung der Nichtchristen liegt, die mit ihrer Verleugnung des wahren Gottes sogar den Bestand des Menschengeschlechts aufs Spiel setzen. Ihr Handeln ist dem gemeinnützigen der Christen diametral entgegengesetzt; sie schaden der Menschengemeinschaft auf das Heftigste. Die Argumentation in inst. 5,5–5,8 steckt voller Wiederholungen, die sich bereits dadurch ergeben, dass sowohl die aurea aetas als auch die wiedergekehrte goldene Zeit nacheinander in ihren übereinstimmenden Existenzbedingungen und Wesenszügen skizziert werden. Außerdem aber wird an jeder nur denkbaren Stelle die Verantwortung der Nichtchristen für die gegenwärtig entartete Zeit hervorgehoben und also der Polytheismus als Quell allen Übels entlarvt. Sowohl die goldene Zeit als auch deren Wiederkehr stehen für Gemeinschaften, in denen das Miteinander der Menschen sich harmonisch und gerecht gestaltet; für beide beschreibt Laktanz die Abwesenheit von dissensiones bzw. bella. Beide Gemeinschaften gedeihen, weil die Menschen tugendhaft handeln. Sowohl für die aurea aetas wie auch für deren Wiederkehr ist eine dieser Tugenden die Freigebigkeit, die jedoch eine Tugend der Begüterten ist, insofern als sie diejenigen sind, die in der dargestellten Weise großzügig handeln können – und müssen. Denn die Gaben der Begüterten sorgen für das Wohlergehen der Mittellosen und also dafür, dass es allen Mitgliedern der Gemeinschaft gleichermaßen gut geht. Die Ausführungen zur Freigebigkeit und den anderen Verhaltensweisen, die menschliches Miteinander gelingen lassen und damit als gemeinnützig erwiesen werden, sind eingebettet in Grundannahmen des christlichen Glaubens, von diesem nicht zu trennen und ergeben zusammengenommen die iustitia: Gelingendes Miteinander basiert für Laktanz stets auf der Verehrung Gottes; Gerechtigkeit ist damit also rechtes Handeln, das im Glauben an Gott wurzelt:678 Wenngleich nach Laktanz sowohl Christen als auch Nichtchristen sich nach einer gerechten, gedeihenden Gemeinschaft nach Art der aurea aetas sehnen, kann deren Verwirklichung allein den Christen gelingen, denn Freigebigkeit und die übrigen Tugenden sind nur demjenigen möglich, der an Gott glaubt und kraft dieses Glaubens zur Einsicht gelangt, dass die angeführten Verhaltensweisen der von Gott bestimmten condicio humana gerecht werden. Diese gründet für Laktanz in der gemeinsamen Abstammung des Menschen von Gott, wodurch die Menschen einander anverwandt und aneinander gebunden sind. Diese Verbindung ist nach Laktanz von Gott so vorgesehen: Der Mensch ist für ein Leben in Gemeinschaft geschaffen. Durch tugendhaftes Handeln dieser Gemeinschaft zu dienen, trägt zu deren Gedeihen bei und steht zugleich im Einklang mit Gottes Plan. In der folgenden Übersicht soll veranschaulicht werden, wie sehr sich die Ausführungen zur goldenen Zeit und zu deren Rückkehr gedanklich und sprachlich ähneln.

678 Dies betonen auch Buchheit 1978, 168 und Ocker 1986, 354.

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Goldene Zeit

Rückkehr der goldenen Zeit

Hauptgedanken

aurea aetas (inst. 5,5,2)

species illius aurei temporis reddita terrae, paucis assignata (inst. 5,7,2)

gerechte Gemeinschaft

tempus illud aureum revertetur (inst. 5,8,3) quam beatus quamque aureus humanarum rerum status (inst. 5,8,8) deus colebatur (inst. 5,5,3) deum colere (inst. 5,5,9)

dei unici pia et religiosa cultura (inst. 5,7,2)

dei religio (inst. 5,5,13)

deum verum colere (inst. 5,8,3)

deus communem omnibus terram dedisset, ut communem degerent vitam (inst. 5,5,6)

Quodsi deus coleretur […] scirent homines unius se dei filios esse ideoque divinae necessitudinis sacro et inviolabili vinculo copulatos (inst. 5,8,6)

quae sola [sc. divina religio] efficit, ut homo hominem carum habeat eumque sibi fraternitatis vinculo sciat esse constrictum, siquidem pater idem omnibus deus est (inst. 5,6,12)

(1) Grundlage

(2) Befähigung zur Einsicht in gottgewolltes Miteinander der Menschen und Gottes Vorsorge für das Wohlergehen aller kraft (1)

communis omnium pater deus (inst. 5,8,11)

Wahrnehmung aller Güter als beneficia divina (inst. 5,5,8) bzw., analog, als beneficia caelestia (inst. 5,6,2) sowie dei patrisque communis beneficia (inst. 5,6,12) homo […] cum his, qui non habent, partiatur (inst. 5,6,12)

habentium pia et religiosa collatio non habentibus subveniret (inst. 5,8,7)

tam liberales fuisse homines, ut […] pauperes ad communionem proprii laboris admitterent (inst. 5,5,7)

Bezeichnung der Tugend als aequitas (inst. 5,8,8)

habentes non habentibus large copioseque donarent (inst. 5,5,8) Bezeichnung der Tugend als humanitas, aequitas, misericordia (inst. 5,6,4)

(3) Moral, die aus (1)/(2) folgt: Freigebigkeit

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non erant neque dissensiones neque inimicitiae neque bella (inst. 5,5,4)

Quodsi solus deus coleretur, non essent dissensiones et bella […], nullae fierent insidiae, non essent fraudes et rapinae. (inst. 5,8,6)

(4) Folge aus (3) für das Miteinander

Omnibus immortalitatem spopondit: Perspektive wohltätigen Handelns inst. 5,14,7–5,14,20 Während in der aurea aetas und deren Wiederkehr die Freigebigkeit zwar eine wichtige, teilweise herausgehobene Rolle spielt, jedoch oft in einer Reihe mehrerer Tugenden genannt ist, wird diese herausragende Position des großzügigen Gebens ab inst. 5,14, 7 explizit und ausführlich erwiesen.679 Nach der Veranschaulichung von Existenzbedingung und Wesen der iustitia am Beispiel der aurea aetas folgt hier die Definition der Gerechtigkeit. Wie schon in der Darstellung der aurea aetas ist die Argumentation eingebettet in die Auseinandersetzung mit paganen Überlegungen zur Thematik; an dieser Stelle insbesondere mit Karneades’ Rede für und gegen die iustitia als Veranschaulichung des Prinzips in utramque partem disserere (ab inst. 5,14,3). Laktanz vereinnahmt die Demontage der iustitia durch Karneades als zusätzliches Argument für den (sogar einem Heiden, der Karneades ja war, möglichen) Nachweis, dass eine kopf- oder wurzellose Tugend die Bezeichnung virtus nicht verdiene: Erat enim facillimum iustitiam radicem non habentem labefactare (inst. 5,14,6).680 Weil die iustitia nirgends fest verankert gewesen sei, hätten die paganen Philosophen auch nicht die Möglichkeit gehabt, sie gegen Karneades zu verteidigen (inst. 5,14,8). Dagegen steht nun das christliche Verständnis der iustitia, cuius origo in religione, ratio in aequitate est (inst. 5,14,7). In dieser Begriffsbestimmung der iustitia findet sich in aller Kürze zusammengefasst, was für die aurea aetas wie für deren Wiederkehr gilt, wo jeweils die Gerechtigkeit als anwesend beschrieben wird: Gerechtigkeit ist dann gegeben, wenn Gott verehrt und auf dieser Grundlage der Mitmensch geachtet wird. Gerechtigkeit ist fest in Gott verankert und kann sich auf

679 Inst. 5,9 bis 5,14,6 stehen im Zeichen einer scharfen Polemik gegen das falsche Werteverständnis der Nichtchristen, ausgehend von inst. 5,8,10f., wo beschrieben wird, dass der Polytheismus für das Nichtwissen um Gut und Böse verantwortlich ist. Die Folgen dieses Nichtwissens werden ab inst. 5,9 skizziert – mit Verweisen auf die Christenverfolgung und andere scelera der Nichtchristen. Güte und Gerechtigkeit im Handeln sind für Laktanz ohne den Glauben an Gott nicht möglich; ausgehend von dieser Grundannahme erweist er die paganen virtutes als wert- und kopflos. So greift er in inst. 5,10 die heidnische pietas an, verkörpert im pius Aeneas, dem er die Berechtigung als exemplum abspricht. 680 „Es war überaus leicht, die Gerechtigkeit, die ja keine Wurzeln hatte, auszuhebeln.“

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dieser Grundlage im Handeln manifestieren. Die laktanzische Gerechtigkeitskonzeption ist, wie sich bereits angedeutet hat, zweiteilig, wobei der zweite Teil auf dem ersten aufbaut (origo und ratio).681 In inst. 5,14,9 wird diese Zweiteiligkeit der iustitia nochmals wiederholt: Iustitia quamvis omnes simul virtutes amplectatur, tamen duae sunt omnium principales, quae ab ea divelli separarique non possunt, pietas et aequitas.682

Interessant ist, dass andere Tugenden wie fides, temperantia, probitas, innocentia oder integritas für Laktanz nicht unbedingt aus der Verehrung Gottes resultieren müssen, sondern auch ohne diese denkbar sind (proficisci a iustitia possunt et ab ipso fonte discerni; inst. 5,14,10); während in inst. 5,8,8 alle diese Tugenden gleichermaßen aus der Gottesverehrung resultieren und die aequitas als eine von ihnen genannt wurde, ist sie hier herausgehoben: Sie ist ohne den Glauben an Gott nicht denkbar. Pietas und aequitas sind untrennbar mit der Gerechtigkeit verbunden, sie gelten als deren Adern oder, in einem weiteren Bild, als deren Quellen (his enim duobus fontibus constat tota iustitia; inst. 5,14,11); in einem dritten Bild bezeichnet Laktanz die pietas als caput der Gerechtigkeit, die aequitas als vis omnis ac ratio (ebd.) Daraufhin werden pietas und aequitas einzeln nacheinander definiert. Zunächst heißt es: Si ergo pietas est cognoscere deum […], ignorat utique iustitiam, qui religionem dei non tenet. Quomodo enim potest eam ipsam nosse, qui, unde oriatur, ignorat (inst. 5,14,12)?683

Die Verehrung Gottes muss deswegen allem gerechten Handeln vorangehen, weil sie den Sinn des Handelns überhaupt erst erschließt. Danach bestimmt Laktanz den inzwischen mehrfach verwendeten Begriff der aequitas, den er, wie er zuerst anmerkt (inst. 5,14,15), nicht im juristischen Sinne als die Fähigkeit bene iudicandi verstanden wissen will, sondern als die gottgewollte Bereitschaft, sich anderen gleichzustellen (se cum ceteris coaequandi). Erklärend führt er fort:684

681 Dieses zweifache Gebot, Gott und die Mitmenschen zu lieben, sowie, damit zusammenhängend, der Verweis darauf, dass alle weiteren Handlungsmaximen darin bereits enthalten sind, findet sich auch im Neuen Testament: Mt 22,36–40; Mark 12,28–31; Luk 10,25–28. 682 „Obwohl die Gerechtigkeit alle Tugenden zugleich umfasst, gibt es doch zwei hauptsächliche, die von ihr nicht losgerissen oder getrennt werden können, nämlich die Frömmigkeit und die Rechtsgleichheit.“ 683 „Wenn die Frömmigkeit also bedeutet, Gott zu kennen […], dann kennt derjenige die Gerechtigkeit nicht, der den Glauben an Gott nicht hat. Denn wie kann jemand sie kennen, der nicht weiß, woher sie kommt?“ 684 Zunächst zieht er Cicero heran, der in diesem Zusammenhang von aequabilitas gesprochen habe. Aequabilitas in dem Sinne, den Laktanz meint, nämlich als Gewährung gleicher Rechte, lässt sich schwer einer bestimmten Cicero-Stelle zuordnen. In dieser Bedeutung verwendet Cicero den Begriff etwa in off. 1,88. Winger 1999, 159 Anm. 1055, verweist auf Cic. rep. 1,43 als Vorlage; dort hat aequabilitas jedoch einen tendenziell negativen Beiklang, es ist von aequabilitas iniqua die Rede (in dem Sinne ungerecht, dass aequabilitas die „messbare“ Gleichheit bezeichnet, in der alle Unterschiede aufgehoben sind. Winger verweist ebd.

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Laktanz Deus enim, qui homines et generat et inspirat, omnes aequos, id est pares, esse voluit, eandem condicionem vivendi omnibus posuit, omnes ad sapientiam genuit, omnibus immortalitatem spopondit: nemo a beneficiis eius caelestibus segregatur (inst. 5,14,16).685

In den unterstrichenen Formulierungen fällt auf, wie stark Laktanz betont, dass Gott alle Menschen gleichermaßen erschaffen und ausgestattet habe, was bereits in inst. 5,6,12 sowie inst. 5,8,6 anklingt. Die Menschen werden als omnes aequos wahrgenommen, als gleich und gleichberechtigt; aequitas ist die Tugend, welche dieser Einsicht Rechnung trägt. Dabei erscheint aequitas jedoch (ebenso wie in der Besprechung der Freigebigkeit der aurea aetas bereits angemerkt) als Tugend der Begüterten: die Möglichkeit, sich aktiv mit anderen gleich zu stellen, haben nur diejenigen, die etwas abgeben können; die anderen, Mittellosen, sind auf deren Gaben angewiesen, um in eine gleichberechtigte Position zu gelangen; hier scheint also die Perspektive des Vermögenden, Gebewilligen und -fähigen durch. Weiterhin ist in dieser Passage zu beobachten, dass Gott als handelnde, vorsorgende Macht beschrieben wird (deus voluit, posuit ad…, genuit ad…, spopondit),686 der allen Menschen gleichermaßen seine göttlichen Wohltaten zur Verfügung stellt. Von beneficia divina bzw. caelestia war bereits im Zusammenhang mit der goldenen Zeit die Rede; hier umfasst der Begriff noch mehr: Er bezeichnet nicht allein die gleichberechtigte Versorgung aller Menschen mit Lebensnotwendigem (vgl. inst. 5,5,6). Die für alle Menschen gleich vorgesehene condicio vivendi bildet hier nur einen Teil einer viel umfassenderen göttlichen Fürsorge, zu der ferner nämlich noch die allen gemeinsam gegebene Veranlagung zur Weisheit und das allen Menschen gleichermaßen ausgesprochene Unsterblichkeitsversprechen gehören.687 In inst. 5,14,17 wird der Gedanke der gleichberechtigten Fürsorge Gottes für alle Menschen (auch hier ist eine Häufung von omnis/nemo/aequus zu beobachten) erläutert:

weiterhin richtig darauf, dass Laktanz den Begriff viel weiter fasse als Cicero, der die Rechtsgleichheit nicht auf alle Menschen beziehe. Eine Würdigung der laktanzischen Gleichsetzung von aequitas/aequabilitas findet sich bei Garnsey/Humfress 2001, 204: „The reading of aequitas as aequabilitas is an early sign that Lactantius is sailing in uncharted waters.“ Das laktanzische Verständnis von aequitas/aequabilitas findet sich zusammengefasst bei Ocker 1986, 356: „Equity is the equality of people who live according to the same conditions, who are endowed with wisdom, and who are promised immortality. In other words, equity is a state of affairs granted by God. […] Equality is a condition unique to God’s government.“ 685 „Denn Gott, der die Menschen erschafft und ihnen Leben einhaucht, wollte, dass alle gleichberechtigt, das heißt, einander gleich gestellt seien; er setzte allen dieselbe Lebensbedingung, erschuf alle zur Weisheit, stellte allen die Unsterblichkeit in Aussicht: Niemand ist von seinen himmlischen Wohltaten ausgeschlossen.“ Vgl. hierzu 1. Kor 12,12f. 686 Hierzu Fisher 1982, 358. 687 Zur sapientia gehört für Laktanz auch, die eigene condicio vivendi zu erkennen, die in der Gnade der Offenbarung enthalten ist. So heißt es in inst. 5,17,3: Nobis […], quibus caelesti beneficio familiaris est ac penitus nota iustitia.

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Nam sicut omnibus unicum suum lumen aequaliter dividit, emittit omnibus fontes, victum subministrat, quietem somni dulcissimam tribuit, sic omnibus aequitatem virtutemque largitur. Nemo apud eum servus est, nemo dominus: si enim cunctis idem pater est, aequo iure omnes liberi sumus.688

Als erster Teil der Vorsehung wird die gleichberechtigte materielle Ausstattung aller Menschen mit Lebensnotwendigem (lumen, fontes, victus, quies) beschrieben; danach verweist Laktanz darauf, dass Gott allen Menschen gleichermaßen aequitatem virtutemque schenke.689 Gott wird als Vater aller Menschen dargestellt, vor dem Rangesunterschiede nicht gelten (nemo servus/nemo dominus). Doch, wie im weiteren Textverlauf deutlich wird, bewertet auch Gott die Menschen, allerdings nach anderen Kriterien: Nemo deo pauper est, nisi qui iustitia indiget, nemo dives, nisi qui virtutibus plenus est, nemo denique egregius, nisi qui bonus et innocens fuerit, nemo clarissimus, nisi qui opera misericordiae largiter fecerit, nemo perfectissimus, nisi qui omnes gradus virtutis impleverit (inst. 5,14,18).

Das Gegensatzpaar dives und pauper bestimmt für Laktanz nicht die materielle Ausstattung, sondern die ethisch-moralische Qualität eines Menschen.690 Was einen

688 „Denn wie er allen sein einziges Licht in gleicher Weise zuteilt, allen Quellen entspringen läßt, den Lebensunterhalt bereitstellt, die süßeste Schlafesruhe zumißt, so schenkt er allen Gleichheit und Tugend. Niemand ist bei ihm Sklave, niemand Herr: Wenn er nämlich allen derselbe Vater ist, sind wir alle mit gleichem Recht frei.“ (Übersetzung Winger 1999) Liberi lässt sich hier sowohl mit „frei“ als auch mit „Kinder“ wiedergeben – ersteres könnte die Gegenüberstellung von Herr und Sklave auflösen, indem alle Menschen gleichermaßen als frei erwiesen würden, letzteres wäre das Korrelativ zu deus pater. Insofern als auf die Gleichheit aller abgehoben ist und herausgestellt werden soll, dass es vor Gott keine Unterschiede gibt, scheint mir die Übersetzung, dass es aequo iure keine Herrn und Sklaven, sondern nur Freie gibt, schlüssiger. Ähnlich Winger 1999, 160 Anm. 1060. Zur Auffassung der Sklaverei bei den Christen de Ste Croix 1975, 19: „It is often said that christianity introduced an entirely new and better attitude towards slavery. Nothing could be more false: Jesus accepted slavery as a fact of his environment.“ Sklaverei werde aufgehoben „in a strictly spiritual sense“ (ebd.). De Ste Croix, ebd. vergleicht diese Überzeugung der geistigen Freiheit mit ähnlichen Annahmen in der Stoa (s.o., bei Seneca); der christliche Hintergrund könne für einen Sklaven unter Umständen „greater spiritual comfort“ bedeutet haben, sei aber „basically the same view“ wie „the familiar view that if he was a good man he was ‚really‘ free already.“ Dass dieser „greater spiritual comfort“ dazu führen konnte „to rive the shackles rather more firmly on his feet.“ (ebd., 20), ist eine zynische Überlegung, denn wenngleich die geistige Gleichheit noch keine äußere Befreiung bedeutet, ist doch der Gedanke, dass Hierarchien nicht von Wert sind, durchaus revolutionär: Berücksichtigt man die Tatsache, dass auch in christlichen Gemeinden diejenigen Mitglieder oftmals mit umständlicher Höflichkeit bedacht wurden, die weltlich bedeutende Stellungen bekleideten, ist die Formulierung der geistigen Bruderschaft doch zumindest die Aufforderung, diese Bestätigung von Rangesunterschieden fallen zu lassen. 689 Die Formulierung ist als Hendiadyoin aufzufassen, da aequitas, wie in inst. 5,14,9 ausgeführt, zu den virtutes gehört. 690 De Ste Croix 1975, 10, merkt an, dass auch bei paganen Autoren dives/pauper sowohl die materielle als auch die moralische Ausstattung eines Menschen beurteilt hätten, dass dabei jedoch

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Menschen vor Gott zum Bedürftigen bzw. zum Reichen macht (pauper indiget/ dives plenus est), kann für Laktanz nur seine innere Disposition sein, die allein für Gott von Belang ist. Gleiches gilt für allen Vorrang: Einen solchen kann es geben, doch allein aufgrund tugendhaften Handelns; und einen solchen Vorrang erarbeitet sich etwa der, qui opera misericordiae largiter fecerit, womit Gaben an Mittellose gemeint sind.691 Der Dativus Iudicantis deo verweist auf Gott als Richter. Die Zeitenfolge in inst. 5,14,18 zeigt an, dass Gottes Urteil – im Präsens – aufgrund vorgängiger Bewährung im Handeln erfolgt. Laktanz verwendet drei Verben im Futur 2 (fuerit, fecerit, impleverit); den Formulierungen (Verben im Aktiv!) ist außerdem zu entnehmen, dass jeder Mensch durch sein eigenes Handeln selbst steuern könne, wie Gottes Urteil über ihn ausfallen wird. Für christliche Leser ist hier greifbar, ohne dass dies explizit ausgedrückt würde, dass es sich bei dem Urteil um Gottes Gericht handelt, vor das jeder Mensch nach dem Tode tritt und vor dem sein Verhalten geprüft und ggf. mit der Unsterblichkeit belohnt wird – zumindest implicite wird das Versprechen der immortalitas aus inst. 5,14,16 wieder aufgegriffen. Insofern als alle Menschen durch göttliche beneficia in derselben Weise ausgestattet sind, gilt das Versprechen der Unsterblichkeit für alle gleichermaßen (omnibus immortalitatem spopondit): Alle Menschen sind ad sapientiam geboren, zur Verehrung Gottes und zur Einsicht in ihre Bestimmung. Kraft dieser Einsicht sind alle prinzipiell in derselben Weise befähigt, ihre Anlagen so auszubilden, dass sie vor Gottes Gericht in der versprochenen Weise Anerkennung finden. Der Grad der Ausbildung der eigenen Tugend ist das einzige Kriterium, das vor Gottes Gericht zählt und das somit zu Wert- und Rangunterschieden der Menschen führen kann (deo dives, egregius, clarissimus, perfectissimus). Da jeder Mensch dasselbe Potential zum rechten Verhalten in sich trägt, liegt die Verantwortung für den eigenen Rang vor Gott bei jedem selbst.692

der Begüterte zugleich mit einer „basically moral connotation“ für „the good, the best, the upright, the fair minded“ usw. gestanden hätten; im Hebräischen hingegen, „unlike the greek, poverty and a lowly station in life are often associated with the moral virtues.“ (ebd. 11). Damit wäre die Umdeutung des Laktanz durch Jesu Argumentation schon vorbereitet; wie De Ste Croix ebd., 9 betont, lebte und lehrte Jesus „within an area which was neither greek nor roman but wholly jewish.“ Ähnlich auch an anderen Stellen, auch ganz am Ende des Werkes in inst. 7,27,11. Die Auseinandersetzung mit der Armut findet sich, wie Lausberg 1975, 29 anmerkt, in ähnlicher Weise auch bei Cypr. eleem. 9. Cyprian verweist dort auf eine Formulierung aus Spr 28,27, wo es heißt: Qui dat pauperibus numquam egebit: qui autem avertit oculum suum in magna penuria erit. Auch dort werden Armut und Bedürftigkeit moralisch verstanden. Bei Cyprian kommt allerdings noch hinzu, dass nach seiner Vorstellung Gott den Barmherzigen auch materiell einen unmittelbaren Ausgleich verschafft (vgl. auch eleem. 11, wo Gottes Fürsorge für Elias und Daniel beschrieben wird). 691 Vgl. zu den gradus virtutis inst. 6,13,6. 692 Was sich hier wieder zeigt, ist, dass gottgefälliges Leben immer auch vom eigenen Willen dazu abhängt: Der Mensch muss sich bereit machen für Gottes Offenbarung; er muss ferner willens

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In inst. 5,14,19 wendet sich Laktanz gegen Römer und Griechen, die, weit von der Annahme der wesensgemäßen Gleichheit entfernt, dispares multis gradibus homines habuerunt, a pauperibus ad divites, ab humilibus ad potentes, a privatis denique usque ad regum sublimissimas potestates.693

Bei ihnen sind die Rangunterschiede von äußeren Kriterien abhängig; dives und pauper bezeichnen hier die materielle Ausstattung; für Laktanz folgt daraus, dass sie – ebenso wie dies bereits in inst. 5,6,4 formuliert wurde – keinen Zugang zur aequitas haben: Ubi enim non sunt universi pares, aequitas non est, et excludit inaequalitas ipsa iustitiam, cuius vis omnis in eo est, ut pares faciat eos, qui ad huius vitae condicionem pari sorte venerunt (inst. 5,14,20).694

Die zuvor beschriebenen Rangunterschiede vor Gott haben mit den hier erwähnten Hierarchien nichts gemein, die auf unterschiedlicher materieller Ausstattung und Macht beruhen. Die Unterschiede vor Gott ergeben sich aufgrund unterschiedlicher eigener Anstrengung, gottgefällig zu handeln – sie sind nicht festgelegt und zudem prinzipiell veränderlich und überwindbar, weil die Grundannahme doch die bleibt, dass alle Menschen unter denselben Bedingungen in dieses Leben gekommen seien, und das Handeln darauf abziele, diese Gleichheit zu wahren bzw. wieder herzustellen (ut pares faciat). Die Basis dafür, aufgrund dieser Überzeugung zu handeln, fehlt für Laktanz den Nichtchristen; die skizzierte inaequalitas der Gesellschaft verwehrt ihnen den Zugang zu aequitas/iustitia; dieser Zugang sei allein den Christen offenbart worden: nullis aliis praeterquam nostro populo revelatum est (inst. 5,15,1).695 Nun formuliert Laktanz einen rhetorischen Einwand: Es könnte einer sagen, dass auch bei den Christen alii pauperes, alii divites, alii servi, alii domini seien – auch bei ihnen gebe es doch Statusunterschiede (Nonne aliquid inter singulos interest? inst. 5,15,2). An dieser Stelle geht aus dem Text hervor, dass der christliche

sein, die Einsicht in den ihm bestimmten Weg auch im eigenen Handeln umzusetzen; das Resultat der eigenen Willensstärke ist es letztlich, das vor Gottes Gericht bewertet wird. Vgl. hierzu 2. Kor 9,6–11. 693 „… sie unterschieden die Menschen anhand verschiedener Ränge, von Armen zu Reichen, von Niedrigen zu Mächtigen, von Untertanen bis zu den erhabensten Machtstellungen der Könige.“ 694 „Wo nicht alle gleich sind, herrscht keine Rechtsgleichheit, und die Ungleichheit im Recht schließt die Gerechtigkeit selbst aus, deren Kraft ja darin liegt, diejenigen einander gleich zu machen, die mit gleichem Los in dieses Leben gekommen sind.“ 695 In inst. 5,14,19–5,15,1 findet sich kurz wiederholt, was bereits in der Skizze der Entartung der goldenen Zeit in inst. 5,6 ausgeführt wurde, wenngleich hier die Reihenfolge genau umgekehrt ist: In inst. 5,14,19 und 20 verweist Laktanz auf die hierarchische Gliederung der Gemeinschaft (homines dispares multis gradibus = inaequalitas), in der es auf diese Weise keine aequitas geben kann. Diese Gliederung ergibt sich jedoch, weil die iustitiae fontes, worunter nach inst. 5,14,111 pietas und aequitas zu verstehen sind, eingetauscht worden seien (fontibus immutatis), und zwar – das wird nicht formuliert – gegen den Polytheismus. Die Gerechtigkeit flieht (remigrat in caelum).

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populus innerhalb der politischen Gemeinschaft Roms verortet und den Zwängen und Hierarchien dieser Gesellschaft unterworfen ist (nur so ergibt der rhetorische Einwand Sinn). Diesem Einwand widerspricht Laktanz: Für die Christen gebe es keine Unterschiede zwischen den Menschen, sie nennten einander fratres, denn sie seien von der Gleichheit aller überzeugt (pares esse nos credimus; ebd.). Und weiter heißt es: Nam cum omnia humana non corpore, sed spiritu metiamur, tametsi corporum sit diversa condicio, nobis tamen servi non sunt, sed eos et habemus et dicimus spiritu fratres, religione conservos (inst. 5,15,3).696

An dieser Stelle wird nun Folgendes deutlich: Insofern als auch die Christen sich den Rahmenbedingungen des römischen Reiches nicht entziehen können, stellt die Betonung des alleinigen Wertes der davon unabhängigen inneren Gleichheit der Menschen den Ausweg aus der corporum diversa condicio dar: Wie bereits in der Skizze der aurea aetas herausgestellt wurde, sind die Menschen aufgrund ihrer gemeinsamen, gleichen Schöpfung und Bestimmung durch ein fraternitatis vinculum (inst. 5,6,12) fest aneinander gebunden; hier wird die geistige Verwandtschaft als Grundlage dieser Bindung als alleiniges Kriterium erwiesen, indem explizit von Brüdern im Geiste (spiritu fratres) die Rede ist.697 Diese Wesensgleichheit ist, bei allen möglichen äußeren Unterschieden, das Bindeglied des christlichen populus. Zu gleich gibt es, wie sich in inst. 5,14,18 zeigt, innerhalb dieses populus, in dem die Einsicht in die gemeinsame Veranlagung im Vordergrund steht, wie gesagt, durchaus Rangunterschiede, die vor Gottes Gericht, mit Blick auf die verheißene Unsterblichkeit, eine Rolle spielen. Welche Folgerungen für die aequitas sich aus dieser Betonung der „Innerlichkeit“ des christlichen populus ergeben, wird ab inst. 5,15,4 ausgeführt. Dort heißt es zunächst: Divitiae quoque non faciunt insignes, nisi quod possunt bonis operibus facere clariores. Divites sunt enim non, quia divitiae habent, sed quia utuntur illis ad opera iustitiae, et qui pauperes videntur, eo tamen divites sunt, quia et non egent et nihil concupiscunt.698

696 „Denn da wir alles Menschliche nicht am Körper, sondern am Geist bemessen, haben wir, mag auch die Bedingung des Körpers verschieden sein, doch keine Sklaven, sondern behandeln und benennen sie als Brüder im Geiste und Mitsklaven im Glauben.“ Vgl. hierzu Loi 1966, 590. 697 In inst. 3,21,2 führt Laktanz aus: Docente igitur Socrate non fugit Platonem iustitiae vim in aequitate consistere, siquidem omnes pari condicione nascuntur. Die Formulierungen erinnern an Laktanzens eigene Gerechtigkeitskonzeption; die Gemeinsamkeit der condicio nascendi sowie die aequitas als Bestandteil der iustitia werden auch bei ihm betont. Doch was ihn von Platon unterscheidet, ist die Konzentration auf die Gleichheit im Geiste; eine materielle Gleichstellung, Güter- und Frauengemeinschaft, wie sie Platon vorschwebte, lehnt er entschieden ab und kritisiert sie in inst. 3,21f. auch scharf. 698 „Reichtum macht nicht berühmt, außer wenn er durch gute Werke Ruhm bringt. Denn reich sind sie nicht, weil sie Reichtum haben, sondern weil sie ihn auf Werke der Gerechtigkeit verwenden, und diejenigen, die arm zu sein scheinen, sind dennoch reich, weil sie weder Mangel leiden noch etwas begehren.“

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Es fällt auf, dass Laktanz sich hier wieder an die Vermögenden richtet; wie schon beobachtet, ist aequitas ihm eine Tugend der Begüterten. Sie sind diejenigen, die überhaupt die Voraussetzungen erfüllen, Reichtum großzügig teilen zu können, was mit opera iustitiae gemeint ist, insofern als aequitas den „praktischen“, ausführenden Teil der iustitia beinhaltet.699 Allein Vermögende sind aktiv in der Lage, das Wissen um die wesensgemäße Gleichheit aller Menschen praktisch umzusetzen, indem sie andere sich selbst gleich machen (s.o: ut pares faciat eos, qui ad huius vitae condicionem pari sorte venerunt; inst. 5,14,20). Die Betonung der „Innerlichkeit“ aller Werte zeigt sich, wie schon in inst. 5,14,18, in der erneuten Verwendung des Gegensatzpaares pauper/dives für moralische Qualitäten, die allein von Belang sind; materieller Reichtum ist nur insofern relevant, als sein Einsatz der eigenen aequitas dienen kann. Erstmals nimmt Laktanz in diesem Zusammenhang – zumindest für einen Moment – auch die Perspektive der Mittellosen ein, deren Tugend sich für ihn in Bedürfnislosigkeit (non egent) und dem Freisein von Begierden (nihil concupiscunt) manifestiert; durch diese Fähigkeiten gelten sie ihm als reich – vor Gott. Der Schwerpunkt liegt jedoch schon quantitativ bei der Darstellung des gottgefälligen Verhaltens der Begüterten. Wie schon in inst. 5,14,18 verwendet Laktanz Adjektive, die eine Vorrangstellung und Auszeichnung vor anderen anzeigen, was üblicherweise Handlungsziel der Vermögenden war und ist. Die Adjektive werden nun im christlichen Kontext anders gedeutet, allein auf innere Auszeichnung beschränkt; so heißt es, insignis bzw. clarus werde man nicht durch den Besitz an sich, sondern durch dessen Einsatz zum Wohl anderer.700 inst. 5,15,6–5,18,11 Die Sprecherperspektive der Vermögenden wird auch in inst. 5,15,6 beibehalten, wo Laktanz die iustitia definiert als „sich den Niedrigeren gleich zu machen“ (se inferioribus coaequare). Iustitia steht hier (totum pro parte) für aequitas; die Formulierung ist eine fast wörtliche Wiederholung von deren Definition in inst. 5,14,15 (aequitatem dico se cum ceteris coaequandi);701 und wie auch schon dort ist hier darauf zu verweisen, dass diese Möglichkeit, sich den Niedrigeren gleich zu stellen,

699 Zur Gleichsetzung der opera iustitia mit der aequitas Loi 1965, 116. Den Ausdruck der opera iustitiae/misericordiae habe Laktanz nach Loi 1966, 606, von Cyprian übernommen. Überlegungen zu Werken der Barmherzigkeit finden sich in Mt 25,34–46 und, von Laktanz hinzugezogen, Tob 1,17–20. 700 Je gerechter man handle, als desto erhabener (sublimior) gelte man vor Gott, fügt Laktanz in inst. 5,15,5 noch an – im Kontrast zu den in inst. 5,14,19 angeführten, vermeintlichen regum sublimissimas potestates der Nichtchristen. 701 Monat 1973, 59, weist darauf hin, dass iustitia bei Laktanz sowohl für die Beziehung MenschGott wie für diejenige der Menschen untereinander stehen kann und also bald synonym mit pietas, bald mit aequitas verwendet werde.

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nur ein Begüterter hat. Laktanz geht nun noch einen Schritt weiter. Wenn der Begüterte sich dem Mittellosen nicht nur gleich mache, sondern sich ihm unterordne, erlange er einen um noch vieles höheren Rang vor Gottes Gericht (ebd.). Dieser Gedanke wird in den folgenden Abschnitten variierend wiederholt.702 Wie ausgeprägt diese Bereitschaft zur Niedrigkeit beim Einzelnen ist, hängt von ihm selbst ab; hier wird zum wiederholten Mal deutlich, dass jeder Einzelne für die Ausbildung seiner gottgegebenen Anlagen und damit für die Gottgefälligkeit des eigenen Verhaltens selbst verantwortlich ist. Insofern als die Tugendhaftigkeit des eigenen Handelns von Gott bewertet wird, können also die Menschen trotz ihrer wesensgemäßen Gleichheit ungleich sein bezüglich des dignitatis gradus vor Gottes Gericht. Um vor Gott eine hohe „Würdestufe“ zu erlangen, empfiehlt Laktanz (den Begüterten, denen dies allein möglich ist) insbesondere, die Tugend der aequitas zu leben, indem man sich (aufgrund der Einsicht in die gemeinsame condicio vivendi) den Niedrigen nicht nur gleich stellt, sondern mehr noch, sich ihnen gleichsam unterordnet, indem man – dies ist implizit zu ergänzen – sich selbst als ihnen dienend begreift. Diese Bereitschaft, sich gleicher als gleich zu geben, führt zur Auszeichnung vor Gott: hoc ipso praecellit, quod se inferioribus coaequavit (inst. 5,15,5). In inst. 5,16 schließt Laktanz den Kreis zum Ausgangspunkt der Definition der iustitia und führt, am Beispiel des Karneades, den Nachweis fort, dass den paganen Philosophen die Einsicht in das wahre Wesen der Gerechtigkeit versperrt gewesen sei:703 die wahre iustitia muss immer an Gott ausgerichtet sein und umfasst also gottgefälliges Handeln. Dieses Handeln wird von Gott belohnt: In inst. 5,17,16 spricht Laktanz von eius enim praemia, quae sunt aeterna et immortalia; in inst. 5,18,9–11 tauchen die Begriffe praemium und merces gleich viermal dicht hintereinander auf. In inst. 5,18,9 heißt es etwa, mercedem suam deo iudice accipiet [sc. virtus] et vivet ac semper vigebit; ganz ähnlich verweist Laktanz in inst. 5,18,11 auf immortalitatis praemium sublime. Tugend wird von Gott durch jenseitiges Fortleben belohnt – diese christliche Grundüberzeugung zieht sich deutlich sichtbar bis hin zu dessen letztem Wort des

702 So heißt es in inst. 5,15,9: Et ideo consulens nobis deus inter divina praecepta illud praecipue posuit: qui se extollit, humiliabitur, et qui se humiliat, exaltabitur (inst. 5,15,9; ebenso inst. 5,15,8). Hier findet sich mit Mt 23,12 eines der raren Zitate biblischer Texte. Monat 1973, 61, merkt an, der Ton von inst. 5,15 sei insgesamt „presque totalement chrétien“. In inst. 5,15,10 formuliert Laktanz: Cuius praecepti salubritas docet, qui se apud homines planum fecerit humilemque praebuerit, hic apud deum praecellens et insignis habeatur (inst. 5,15,10). In den Gegensatzpaaren se humiliare vs. extolli/praecellens et insignis haberi wird, ähnlich wie schon zuvor bei pauper/dives erwiesen, dass die Bereitschaft zur „Niedrigkeit“ moralisch von höchstem Wert sei. 703 Der Nachweis wird mithilfe eines weiteren Gegensatzpaares geführt, stultitia vs. sapientia, und erneut stellt Laktanz heraus, dass das pagane Wertsystem dem christlichen, wahren diametral entgegengesetzt ist (vgl. bereits inst. 5,15,7: rebus enim caelestibus contraria sunt ista universa terrena, ähnlich auch inst. 5,15,8 – dort sogar durch eines der wenigen Zitate biblischer Texte: sapientia hominum summa stultitia est apud deum; 1. Kor 3,19).

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Buches, welches bemerkenswerterweise praemium lautet. Bezogen auf die aequitas, die, wie wir gesehen haben, als Ausdruck von virtus schlechthin gilt, bedeutet diese Verheißung jenseitiger Belohnung nun, dass die gemeinnützige Absicht guter Werke zwar gegenwärtig und unmittelbar darauf abzielt, das Wohl der Bedürftigen zu befördern, zugleich – und eigentlich – jedoch im Dienste des eigenen Seelenheiles steht. In inst. 5,14f. wird, ebenso wie in der Darstellung der aurea aetas, als Ausgangspunkt der aequitas die Einsicht in die wesensgemäße Gleichheit der Menschen angeführt; als Ziel der aequitas gilt folgerichtig zunächst das Bemühen, diejenigen, die mit den gleichen Voraussetzungen in dieses Leben kamen, einander gleich zu machen (ut pares faciat eos, qui ad huius vitae condicionem pari sorte venerunt; inst. 5,14,20). Laktanz verweist auf großzügigen Umgang mit dem eigenen Reichtum, wodurch – was implizit zu erschließen ist – das Wohl der minores befördert wird. Während jedoch in inst. 5,5,5–8 ausgeführt ist, dass die aequitas der Vermögenden zum Wohlergehen aller führt, sodass letztlich alle gleichermaßen im Überfluss leben (inst. 5,5,8) und die Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen auch äußerlich Verwirklichung findet, ist von einem solchen gemeinsamen Überfluss in inst. 5,14 und 15 nicht die Rede. Im Rahmen fester Gesellschaftsstrukturen, in denen die tonangebenden Wertvorstellungen nicht mit den christlichen übereinstimmen, können die tatsächlichen Ergebnisse der aequitas nicht dieselben sein wie in der goldenen Zeit, in der alle Menschen gleichermaßen ihrer Bestimmung gemäß handelten – wenngleich Ausgangspunkt und Handlungsziel der Freigebigkeit doch auch weiterhin dasselbe Ziel verfolgen, nämlich das, einen Ausgleich herzustellen (ut pares faciat).704 Nun zeigt sich aber, dass Laktanz in inst. 5,14 und 15 nicht mehr nur betont, dass Gott gleichberechtigtes Miteinander in der diesseitigen communitas vorsieht, sondern dass (angesichts der unauflösbaren äußeren Unterschiede innerhalb der diesseitigen Gemeinschaft) der Fokus stärker auf die wesensgemäße Gleichwertigkeit der Menschen gerichtet ist, der alle gegebenen Hierarchien keinen Abbruch tun. In diesem Sinne umfassen auch die beneficia divina bzw. caelestia Größeres als die Versorgung mit Lebensnotwendigem; mit dem Unsterblichkeitsversprechen weisen sie über die diesseitige Existenz des Menschen hinaus. Allerdings ist diese Verheißung an eine Aufgabe geknüpft, nämlich die, sich im eigenen Handeln vor Gott verdient zu machen.

704 Loi 1965, 70, ist der Meinung, dass Laktanz sich hier etwas vergebe, indem er „traspone il problema dal piano politico–sociale al quello puramente spirituale“; daraus folge, dass die aequitas „si svuota di significato pratico revoluzionario.“ Ähnlich De Ste Croix 1975, 21–24. Beide übersehen aber, wie ich meine, dass Laktanz sehr wohl die Pflicht zur systematischen materiellen Unterstützung Bedürftiger betont; allein, er sieht – realistisch –, dass der theoretisch dadurch herstellbare Ausgleich nicht mehr in derselben Weise möglich ist, wie er ihn für die goldene Zeit beschreibt. Was er mit dem stärkeren Verweis auf die innere Gleichheit immerhin betont, ist, dass Standesunterschiede nicht zu Wertunterschieden zwischen den Menschen führen.

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In inst. 5,14 und 15 erweitert Laktanz die menschliche Bestimmung um die Perspektive des göttlichen Gerichtes, das den Zugang zur Unsterblichkeit darstellt. Neu ist damit der Verweis darauf, dass freigebiges Handeln von Gott entlohnt wird und also nicht ins Leere läuft, sondern vielmehr in einem größeren Kontext zu verorten ist. Auf der Grundlage der menschlichen Disposition ist die Unsterblichkeit potentiell jedem möglich; jedoch erst dann, wenn die wesensgemäße Bestimmung auch im Handeln den entsprechenden Niederschlag findet.705 Für die aequitas bedeutet diese Erweiterung der condicio vivendi auf das Jenseits, dass der Ausgleich nicht in einem gemeinsamen Überfluss besteht, sondern nur über humilitas herzustellen ist, wie Laktanz in inst. 5,15,6–10 mehrfach betont. Diese – aufopferungsvollere – Variante, sich einem anderen anzugleichen, wird vor dem Hintergrund des Unsterblichkeitsversprechens zugleich als wahrhafte Exzellenz, nämlich: Exzellenz vor Gott, erwiesen. Die humilitas wird in inst. 5,15,5 mit se non tantum quasi parem, sed etiam quasi minorem se gerere umschrieben; quasi zeigt an, dass es nicht darauf ankommen muss, den Niedrigen tatsächlich auch in den äußeren Bedingungen gleich bzw. sogar untergeordnet zu sein, sondern sich selbst mittels der eigenen Gaben so zu verhalten, als diente man ihnen. Wie Laktanz in inst. 5,15,3 unterstreicht, können sich die äußeren Lebensbedingungen der Menschen verschieden gestalten, solange man nur von der inneren Gleichwertigkeit überzeugt sei (tametsi corporum diversa sit condicio). Zugleich führt die Bereitschaft, Eigenes großzügig zu teilen, in hac vita saeculari (inst. 5,15,7), in der die Christen eine Minderheit darstellen, wie Laktanz in inst. 5,7,3 und 5,8,5 kurz anklingen lässt (dort ist jeweils von pauci die Rede) und in welcher die Menschen vornehmlich auf der Grundlage ihrer materiellen Ausstattung um Ansehen wetteifern (inst. 5,15,7; dazu inst. 5,6,1–5), durchaus auch zur Minderung des diesseitigen Ranges, der jedoch ohne Wert und vergänglich sei (inst. 5,15,8). Auf diese Weise wird aequitas nun in den Gesamtkontext der menschlichen condicio vivendi eingebettet: Sie dient, wie insbesondere in der Besprechung der aurea aetas betont, hier hingegen nur angedeutet ist, dem Wohl der diesseitigen Gemeinschaft, indem die Lebenssituation der minores verbessert wird. Zugleich nützt das Bemühen, durch großzügige Gaben im Sinne der aequitas unmittelbar und gegenwärtig zum Wohlergehen Bedürftiger beizutragen, aber letztlich dem künftigen, jenseitigen Wohl des Handelnden selbst: Aequitas ist auf diese Weise zwar durchaus gemeinnützig, insofern als damit andere versorgt werden; doch darüber hinaus zielt das Bemühen, Gleichheit herzustellen, darauf ab, sich selbst auszuzeichnen: vor Gott. In der folgenden Übersicht sind die Hauptpunkte der Argumentation veranschaulicht: Gerechtigkeit

pietas und aequitas als Hauptbestandteile (inst. 5,14,9).

caput/origo: pietas

Gott erkennen und den eigenen Ursprung verstehen (inst. 5,14,11f.);

705 Hierzu Inglebert 1996, 140.

Laktanz vis/ratio: aequitas

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pietas als Bedingung der Einsicht in die wesensgemäße Gleichheit der Menschen (inst. 5,14,16)

Grundlegung der aequitas Gleichheit der Menschen

gleiche Anteilnahme an beneficia caelestia (inst. 5,14,16)

Rang des Menschen bemisst sich nicht an seiner materiellen Ausstattung, sondern an seiner inneren Einstellung

gleiche Disposition zur Tugend (inst. 5,14,17) Gleichheit der Anlagen (inst. 5,15,3) Rangunterschiede vor Gott folgen daraus, wie sehr jeder Einzelne seine Disposition zur Tugend im Leben umsetzt (inst. 5,15,5).

Gegenstand der aequitas aufgrund dieser Einsichten Handeln im Sinne der gottgewollten diesseitigen Gleichheit

andere ebenbürtig behandeln (inst. 5,14,20) Werke der Barmherzigkeit tun (inst. 5,14,18 und 5,15,4) sich selbst den Niedrigen gleich stellen (inst. 5,15,6)

Auszeichnung vor Gott

gottgefällig handeln (inst. 5,15,6); erwarteter Lohn: Unsterblichkeit (inst. 5,17,16; inst. 5,18,11)

Quod homini tribueris, deo tribuitur: Christliche Verankerung der beneficentia inst. 6,1–6,10 Im sechsten Buch der Divinae institutiones behandelt Laktanz nach eigener Aussage den Kern seines Werkes (summum operis huius et maximum); er will nun, wie er sagt, aufzeigen, quo ritu quove sacrificio deum coli oporteat (inst. 6,1,2). Darin allein – in der Verehrung Gottes – bestehe die Pflicht und liege das Glück menschlichen Lebens (ebd.). Nach dieser Ankündigung wären die Inhalte der vorangehenden Bücher als Hinführung zu den nun folgenden Handlungsanweisungen anzusehen. Tatsächlich ist zumindest die Verbindung von inst. 5 und 6 eine besonders enge, insofern als die im fünften Buch herausgestellte zweiteilige Gerechtigkeitskonzeption auch den Ausführungen des sechsten Buches zugrunde liegt; gerechtes Handeln ist für Laktanz zugleich gottgefälliges, ist zugleich Gottesdienst. Eine strikte Trennung zwischen theoretischer Herleitung und praktischer Umsetzung der iustitia lässt sich jedoch im fünften und sechsten Buch nicht beobachten; schon im 5. Buch wird deutlich, dass der Einzelne aufgefordert ist, durch sein Handeln Gott zu verehren und sich seinen Mitmenschen gleich zu machen. Auf diese Weise finden sich im sechsten Buch zentrale Gedanken des fünften Buches wiederholt, werden dabei jedoch, wie wir gleich sehen, breiter ausgeführt und illustriert bzw. teilweise anders akzentuiert. Dass der wahre Gottesdienst nicht im Kultvollzug paganer Opferpraktiken zu finden ist, hat Laktanz bereits in den früheren Büchern der Divinae institutiones betont; den Gedanken wiederholt er zu Beginn des sechsten Buches, indem er den

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Nichtchristen Blindheit bescheinigt (inst. 6,1,11).706 Echter Gottesdienst finde sich allein im Christentum; Gottesdienst liegt für Laktanz in der virtus und in einem gottgefälligen Leben, durch das der so Handelnde sich gleichsam selbst als Opfer darbringt (inst. 6,2,13).707 In ähnlicher Weise, wie Laktanz sich im fünften Buch die paganen Lesern vertraute Vorstellung der aurea aetas für seine Argumentationsziele zu eigen gemacht hat, greift er im sechsten Buch auf ein ebenso bekanntes Bild zurück: auf das ZweiWege-Gleichnis, das, wie er anmerkt, sowohl in der Dichtung als auch in der Philosophie verwendet worden sei (inst. 6,3,1): In diesem Gleichnis werde veranschaulicht, dass der Mensch im Leben grundsätzlich zwei Richtungen einschlagen könne, den Weg der Tugend und den der Laster (inst. 6,3,2); der Weg der Tugend, des wahren Gottesdienstes, wird als der erstrebenswerte bezeichnet.708 Dabei spielt, wie wir sehen werden, wohltätiges Handeln eine entscheidende Rolle. Den paganen Autoren sei es durchaus um die Tugend gegangen, schreibt Laktanz, da jedoch keiner von ihnen deren Gestalt und Ziel (formas ac terminos) gekannt habe (inst. 6,3,5), müsse die gesamte Darstellung korrigiert werden (inst. 6,3,10f.). Laktanz stimmt mit der paganen Überlieferung darin überein, dass der Weg der Tugend, anders als der Weg der Laster, steil und beschwerlich ansteige. Er führt jedoch bereits in inst. 6,3,5 den entscheidenden, richtungsweisenden Zusatz der christlichen Zwei-Wege-Lehre ein, indem er betont, dass der Führer dieses himmlischen Weges stets Gott sein müsse, der die Vergeltung tugendhaften Lebens (merces a deo, ebd.), nämlich die Unsterblichkeit, keinem Menschen verwehre (inst. 6,3,16).709 Insbesondere ab inst. 6,4,7 wird mehrfach betont, dass diesseitige Mühsal jenseitige Vergeltung erfährt – das Steile, Beschwerliche des Weges ist also nicht umsonst. In inst. 6,4,14–17 erscheint der Zusammenhang zwischen diesseitiger Entbehrung und jenseitigem Lohn geradezu als Zwangsläufigkeit (wiederholt in inst. 6,8,4); Laktanz ermahnt dazu, auf kurzlebige, diesseitige Güter zu verzichten, um stattdessen bona aeterna zu erlangen (inst. 6,4,14; ähnlich auch inst. 6,4,16: praesens commodum differendum est, ut maius longiusque pariatur) – gleich mehrfach stellt er diesseitige, zeitlich beschränkte labores und den dafür erwartbaren

706 Dies erinnert an Joh 9,39–41. Tadel an paganen Opferpraktiken findet sich im Neuen Testament etwa in Apg 17,29. 707 Lausberg 1975, 34 spricht vom „richtigen sittlichen Handeln als dem wahren Gottesdienst“ 708 Auf das Zwei-Wege-Gleichnis ist auch in Mt 7,13f. und Luk 13,24 angespielt. Zur Verortung des Gleichnisses im Juden- und Christentum Rordorf 1972, 110–115. 709 Dies ist vereinnahmend formuliert (zur vereinnahmenden und ablehnenden bzw.: ausgrenzenden Persuasionsstrategie: Walter 2006, 32–36). Das Heilsversprechen gilt für alle Menschen. Jedem ist es prinzipiell möglich, den rechten Weg einzuschlagen; vgl. ähnlich inst. 5,14,16.

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ewigen Lohn kontrastierend gegeneinander.710 Genau diese Aussicht auf einen göttlichen, jenseitigen Lohn ist es jedoch, die seiner Darstellung nach in den paganen Anleitungen zur Tugend fehlt.711 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen nimmt Laktanz ab inst. 6,5 in oftmals polemischer Auseinandersetzung mit einem Luciliusfragment eine christliche Definition der virtus vor: Während bei paganen Philosophen nach Laktanz alles gute Handeln immer auf den Körper und das diesseitige Leben bezogen bleibe (inst. 6,6,5) und ihnen die Erkenntnis fehle, worin Gut und Übel tatsächlich bestehen (inst. 6,6,6), sei für die Christen Gott die Quelle der Güter (inst. 6,6,3). Die Ausrichtung an Gott, die für denjenigen verbindlich ist, der tugendhaft leben will (vgl. inst. 6,3,5 deus dux), wird in inst. 6,8,6 als dei lex bezeichnet.712 Diese dei lex enthält für Laktanz zwei Komponenten, die ab inst. 6,9,1 erläutert werden: Huius legis caput primum est ipsum deum nosse, soli obtemperare, solum colere. Non potest enim rationem hominis obtinere, qui parentem animae suae deum nescit; quod est summum nefas. Quae ignoratio facit, ut diis aliis serviat, quo nihil sceleratius committi potest.713

An Gott ausgerichtet zu sein, bedeutet also zunächst, Gott zu verehren und ihm zu gehorchen. Das Bild der Verehrung Gottes als caput dieses Gesetzes ist dem Leser aus inst. 5,14 vertraut, ebenso wie die Erklärung, weswegen sie an erster Stelle kommen muss: Durch sie wird dem Menschen das Wissen um die geistige Verwandtschaft mit Gott zuteil (parens animae suae), und er erkennt den Sinn menschlichen Daseins (ratio hominis; für das fünfte Buch als condicio humana bezeichnet).714 Die ratio hominis erstreckt sich, wie iim fünften Buch herausgestellt

710 Dieses Ineinandergreifen zeitlicher Leiden und ewigen Lohns findet sich auch in 2. Kor 4. 711 Durch diese Aussicht werden terminos ac formas der Tugend bestimmt. Laktanz gibt in inst. 6,3,5 an, sich his duobus libris mit der merces a deo befassen zu wollen. Damit sind inst. 6 und 7 gemeint; inst. 7 enthält die Eschatologie des Laktanz. 712 Für Laktanz ist die lex dei allgemeingültig und ewigwährend; sie wird dem ciceronischen Naturrecht (vera lex recta ratio, naturae congruens, inst. 6,8,7) angenähert und entspricht zugleich dem Gebot aus Mt 22,36–40; vgl. ferner Röm 7,12). Die lex dei ersetzt positives Recht, insofern als dieses häufig zu gemeinschaftsbedrohenden Interessenkonflikten zwischen verschiedenen Völkern führt. Dazu Nicholson 1999, 22f. und Ingremeau 2003, 44 sowie 48. Sehr ausführlich zur laktanzischen „Naturrechtsidee“ ferner Winger 1999, 393–470. 713 „Der erste Hauptpunkt dieses Gesetzes ist es, Gott selbst zu kennen, ihm allein zu gehorchen, ihn allein zu verehren. Denn die Bestimmung des Menschen kann derjenige nicht erfassen, der nicht weiß, dass Gott der Vater seiner Seele ist; dies ist höchster Frevel. Diese Unkenntnis bewirkt, dass er anderen Göttern dient – etwas Schrecklicheres als dies kann nicht getan werden.“ 714 Ohne Gott zu kennen, zu folgen und zu verehren ist jeder Lebensweg der des Lasters, wie Laktanz in inst. 6,7,7 anmerkt. Illustriert wird diese Überzeugung am Beispiel des athenischen Staatsmannes Kimon, dessen Freigebigkeit und Barmherzigkeit Laktanz zunächst lobt, dann aber als vergebliche Mühe verwirft (er verwendet frustra, supervacuum und inane) – denn: illud unum, quod est maximum, deest, agnitio dei (inst. 6,9,8). Hierzu Ingremeau 2003, 49. Bei Plut. Cim. 10,1 heißt es, Kimon habe seine Kriegsbeute unter den Bürgern aufgeteilt, alle Zäune von seinen Ländereien entfernt, um mittellosen Bürgern oder Fremden den Zugang zu Lebens-

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und ab dem Beginn des sechsten vielfach wiederholt, vor allem auch auf das Wissen um die Verheißung der Unsterblichkeit. Immer wieder weist Laktanz, wie gesehen, auf die praemia aeterna hin, ohne die es, wie er schließlich formuliert, keinen einsichtigen Grund gebe, tugendhaft zu leben (inst. 6,9,18–22).715 Diese Perspektive jenseitigen Heils stellt für Laktanz die eigentliche Motivation allen Handelns dar und gilt als spes omnis ac salus hominis (inst. 6,9,24); mit Blick auf die Unsterblichkeit ist es die Aufgabe des Menschen, Gott mit der ihm gebührenden pietas zu begegnen, ihm zu gehorchen und zu dienen (ebd.). Nachdem in inst. 6,9 die pietas als erster Teil der dei lex eingeführt ist, wendet sich Laktanz anschließend in inst. 6,10–13 in noch ausführlicherer Weise deren zweitem Teil zu, dem rechten Verhalten gegen die Mitmenschen. Dieses wird jedoch, wie er in inst. 6,10,1 im Verweis auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen anmerkt, gleichzeitig auch wiederum Gott zuteil; auch im Handeln am Nächsten bleibt der Mensch Gott zugewandt.716 In inst. 6,10,2 heißt es: Sed tamen primum iustitiae officium est coniungi cum deo, secundum, cum homine. Sed illud primum religio dicitur, hoc secundum misericordia vel humanitas nominatur. Quae virtus propria est iustorum vel cultorum dei, quod ea sola vitae communis continet rationem.717

Anstelle der dei lex verwendet Laktanz hier iustitia; darin zeigt sich deutlich, dass das göttliche Gesetz nichts anderes beschreibt als die Gerechtigkeit, deren zwei Pfeiler im übrigen in inst. 5,14f. bereits in derselben Weise bestimmt worden sind. Einzig die Bezeichnungen unterscheiden sich: Anstelle von pietas ist nun von religio die Rede, aequitas wird durch misericordia vel humanitas ersetzt.718

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notwendigem zu ermöglichen, sowie täglich Mahlzeiten ausgerichtet, an denen jeder Bedürftige teilnehmen konnte. Laktanz behält das Bild bei, dass ohne Gott jede vermeintliche virtus/ iustitia als kopfloser Körper gelten müsse; während das Fehlen einzelner Glieder – also virtutes – diesen Körper zwar schwäche, aber nicht umbringe, sei ein Leben ohne Kopf keineswegs möglich. Ähnlich bereits inst. 5,18,2: Wenn das Leben mit dem Tod endet, opfert man sich schwer für einen anderen. Ähnlich bereits inst 2,10; ferner inst. 3,27,11 sowie inst. 5,8,4; im Neuen Testament etwa 1. Joh 4,7–16. Im Gesamtkontext der göttlichen providentia muss jedes gute Handeln am Mitmenschen zugleich Handeln an Gott sein, vgl. gleich hier unten im Haupttext (insbesondere im Zitat epit. 64). „Aber dennoch ist es die erste Pflicht der Gerechtigkeit, sich mit Gott zu verbinden, die zweite, sich mit dem Menschen zu verbinden. Jene erste wird Gottesfurcht genannt, diese zweite Barmherzigkeit oder Menschlichkeit. Diese Tugend ist den Gerechten und Verehrern Gottes eigen, weil sie allein den Sinn gemeinsamen Lebens in sich trägt.“ Die Verwendung des Begriffes der humanitas ist für Lausberg 1975, 30 Anm. 1, im Zusammenhang mit dem grundsätzlichen Ansatz des Laktanz zu verstehen, ausgehend von paganen Konzepten zu argumentieren: „Laktanz will bewußt die christliche Nächstenliebe von dem heidnischen humanitas-Begriff her einsichtig machen. Dabei soll der heidnische Begriffsinhalt nicht negiert, sondern ergänzt werden.“ Außerdem spricht Laktanz von misericordia; nach eigener Aussage in Absetzung von den Überzeugungen paganer Philosophen (er meint konkret die Stoiker), welche misericordiam de homine sustulerunt (inst. 6,10,11). Die Stoiker wandten

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Insofern als die Verehrung Gottes stets an erster Stelle kommen muss, bleibt die iustitia auf die Christen beschränkt, wie Laktanz hier wiederum hervorhebt (propria iustorum vel cultorum dei). Indem er formuliert, dass die iustitia den Sinn gemeinsamen Lebens in sich trage (vitae communis rationem; vgl. rationem hominis, inst. 6,9,1), klingt zugleich an, dass durch die Ausrichtung an Gott das menschliche Leben (hier: in Gemeinschaft) noch in einem größeren Kontext steht. Zunächst zeitigen misericordia vel humanitas unmittelbar diesseitige Wirkung; sie sollen den Einzelnen dazu führen, Verbindungen zum Mitmenschen herzustellen (coniungi cum homine). Hier klingt eher beiläufig an, was in inst. 5 wesentlich deutlicher greifbar ist: Barmherziges Handeln gegen andere stiftet bzw. stärkt Gemeinschaft (coniungi). Die menschliche Ausrichtung auf die Gemeinschaft hin ist im göttlichen Schöpfungsplan verankert: Deus enim, quia ceteris animalibus sapientiam non dedit, naturalibus ea munimentis ab incursu et periculo tutiora generavit; hominem vero, quia nudum fragilemque formavit, ut eum sapientia potius instrueret, dedit ei praeter cetera hunc pietatis affectum, ut homo hominem tueat, diligat, foveat, contraque omnia pericula et accipiat et praestet auxilium (inst. 6,10,3).719

Die Tiere seien ohne sapientia, dafür aber mit natürlichen, instinktiven Mechanismen zur Abwehr von Gefahren ausgestattet; der Mensch hingegen sollte nach Gottes Willen sapientia erhalten. Wie im Zuge der Besprechung von inst. 5,14,16 angemerkt, bezeichnet sapientia bei Laktanz stets die Erkenntnis Gottes; der Mensch sollte also (als einziges Wesen) in der Lage sein, Gottes Offenbarung zu verstehen. Da natürliche Abwehrmechanismen und sapientia nicht in einem Lebewesen vereint sein können, musste der Mensch nach Laktanz körperlich schwach erschaffen werden, habe aber neben der Fähigkeit, Gott erkennen zu können, noch pietatis affectum erhalten, womit hier die angeborene, gottgegebene Zuneigung zu

sich tatsächlich gegen die Gefühlsregung des Mit-Leidens, weil derjenige, der sich durch fremdes Leid gleichsam „anstecken“ lässt, das eigene seelische Gleichgewicht verliert (vgl. etwa Sen. clem. 2,4,4–2,5,5); Hilfeleistungen an Mitmenschen im Sinne der humanitas bzw. beneficentia lehnten sie jedoch keineswegs ab, sondern gestanden ihnen, wie ja auch das Beispiel Senecas anzeigt, breiten Raum zu. 719 „Da Gott nämlich den übrigen Lebewesen keine Weisheit verliehen hat, erschuf er sie besser gesichert mit natürlichen Abwehrmitteln gegen Angriff und Gefahr; da er den Menschen jedoch nackt und schwach gestaltete, um ihn stattdessen mit Weisheit auszustatten, gab er ihm über das andere hinaus noch das Pflichtgefühl [Anm.: d.h. hier, ein Gefühl für angezeigte, pflichtgemäße Verhaltensweisen gegenüber den Mitmenschen; vgl. Winger 1999, 204, Anm. 1346], damit der Mensch den Mitmenschen schützt, liebt, pflegt und gegen alle Gefahren sowohl Hilfe annimmt als auch leistet.“ Vgl. auch opif. 4,18f., wo die humanitas direkt aus der Schwäche hergeleitet wird: Nam fere iura omnia humanitatis, quibus inter nos cohaeremus, ex metu et conscientia fragilitatis oriuntur. Zugleich wird die Ausstattung des Menschen einem vorsehenden, vorsorgenden Gott zugeschrieben.

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den Mitmenschen gemeint ist.720 Durch diese angeborene Hinwendung zum anderen ist Gemeinschaft mehr als ein Zweckverbund zum Ausgleich der Schwäche des Einzelnen. Die Anteilnahme am Nächsten wird, wie dies bereits in inst. 5 geschehen ist, im Rekurs auf die Verwandtschaft der Menschen hergeleitet: Summum igitur inter se hominum vinculum est humanitas: quod qui diruperit, nefarius et parricida existimandus est. Nam si ab uno homine, quem deus finxit, omnes orimur, certe consanguinei sumus et ideo maximum scelus putandum est odisse hominem vel nocentem (inst. 6,10,4).721

Die humanitas (synonym mit pietatis affectus) wurzelt in der Brüderschaft aller Menschen, die hier als gemeinsame Abstammung vom ersten Menschen und an dieser Stelle zunächst nicht als geistige Bindung, sondern als Blutsverwandtschaft erscheint (consanguinei sumus) – anders als etwas später in inst. 6,10,6, wo Laktanz die Verwandtschaft der Menschen (necessitudo, inst. 6,10,5) als eine Bindung der Seelen bezeichnet, welche allen körperlichen Banden überlegen sei und die Menschen zu Brüdern im Geiste mache. Unabhängig davon jedoch, ob es sich um Blutsverwandtschaft oder eine geistige Verbindung handelt, sind die Menschen durch die gemeinsame Schöpfung aneinander gebunden und ob hanc necessitudinem germanitatis aufgefordert, (einander) Gutes zu tun (inst. 6,10,8). Was dieses Gute sei, schreibe Gott vor; darunter falle die Unterstützung Bedrückter, Leidender und Bedürftiger (inst. 6,10,9). In inst. 6,10,10 heißt es: Deus enim quoniam pius est, animal nos voluit esse sociale: itaque in aliis hominibus nos ipsos cogitare debemus. Non meremur periculo liberari, si non succurrimus, non meremur auxilium, si negamus.722

Gott erscheint wieder als vorsorgende, fürsorgliche Macht (deus voluit; Gott wird als pius bezeichnet); ähnlich wie in inst. 6,10,3, wo Laktanz pietatis affectum als göttliche Gabe bezeichnet, spricht er hier davon, dass der Mensch als animal sociale erschaffen worden sei; diese angeborene Anteilnahme am anderen wird hier mit der Anweisung verbunden, diese Anlage auch im Handeln umzusetzen: Jeder Mensch ist verpflichtet, sich in andere einzufühlen; dadurch ergibt sich, wie dem Ende des Abschnitts e contrario zu entnehmen ist, potentiell wechselseitiges Miteinander:

720 Ebenso Winger 1999, 205 Anm. 1346. 721 „Das wichtigste Band der Menschen untereinander also ist die Menschlichkeit. Wer dieses zerreißt, ist als Frevler und Verwandtenmörder einzustufen. Denn wenn wir alle von einem einzigen Menschen, den Gott gebildet hat, abstammen, dann sind wir sicherlich blutsverwandt, und deshalb ist es als das größte Verbrechen zu erachten, einen Menschen zu hassen, ja sogar einen, der schuldig ist.“ (Übersetzung Winger 1999) 722 „Denn da Gott gütig ist, wollte er, dass wir ein geselliges Wesen sind: Deswegen müssen wir in den anderen Menschen uns selbst denken. Wir verdienen es nicht, aus der Gefahr befreit zu werden, wenn wir nicht zu Hilfe kommen; wir verdienen keine Hilfe, wenn wir sie versagen.“

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indem der Einzelne andere unterstützt, stellt er die Grundlage dafür her, im Notfall selbst unterstützt zu werden.723 Auch bei Seneca erscheint in benef. 4,18 eine göttliche Schöpferkraft, die dem Menschen als Gegenstück zur körperlichen Wehrlosigkeit rationem et societatem verliehen habe, sodass auch für Seneca Hilfsbereitschaft nicht durch Bedürftigkeit, sondern natürliche Geselligkeit erklärbar wird. Anders als bei Seneca steht bei der von Laktanz beschriebenen göttlichen Schöpferkraft jedoch das Ziel an erster Stelle, den Menschen mit sapientia auszustatten (Finalsatz inst. 6,10,3: ut eum sapientia potius instrueret); die körperliche Schwäche ist die daraus resultierende notwendige Beschränkung des menschlichen Wesens und wird – wiederum durch Gottes providentia – ausgeglichen mit dem angeborenen Bestreben, füreinander einzustehen (wechselseitig, wie die Formulierung et accipiat et praestet auxilium anzeigt). Der Mensch ist damit geboren, um Gott zu erkennen und zu ehren. Dieser Gedanke findet sich bereits in inst. 3,9,14: Si quis hominem, qui vere sapiat, interroget, cuius rei causa natus sit, respondebit intrepidus ac paratus colendi se dei gratia natum, qui nos ideo generavit, ut ei serviamus.724

Die gottgegebene sapientia (hier bezeichnet in der Formulierung: homo, qui vere sapiat) befähigt zur Erkenntnis, worin der Sinn des Lebens besteht (cuius rei causa natus sit; entspricht der ratio hominis): darin nämlich, Gott zu dienen.725 Die Rolle des Menschen im Rahmen des göttlichen Schöpfungsplanes wird in den Divinae institutiones an vielen Stellen erörtert;726 am prägnantesten erscheint mir hierfür jedoch eine Passage aus der Epitome divinarum institutionum, wo die ratio hominis vollumfänglich wie folgt bestimmt ist: Factus est a deo mundus, ut homines nascerentur; nascuntur autem homines, ut deum parentem agnoscant, in quo est sapientia; agnoscunt, ut colant, in quo est iustitia; colunt, ut mercedem immortalitatis accipiant; accipiunt immortalitatem, ut in aeternum deo serviant (epit. 64).727

723 Wer nicht bereit ist, anderen zu helfen, und insbesondere derjenige, der einem Mitmenschen schadet, verstößt nach Laktanz gegen das ius humanitatis und wird in inst. 6,10,4 als parricida sowie in inst. 6,10,8 als belua immanis bezeichnet. (s.o. Anm. 674 zu inst. 5,11, wo Laktanz den Christenverfolgern die Bezeichnung „Mensch“ abspricht). Ähnlich inst. 6,10,25. 724 „Wenn jemand einen Menschen, der wahrhaft weise ist, fragt, aus welchem Grund er geboren sei, wird er unerschrocken und prompt antworten, er sei geboren, um Gott zu verehren, der uns erschaffen hat, um ihm zu dienen.“ 725 Dass diese Anlage des Menschen Werk göttlicher providentia ist, wird wiederum in einem Finalsatz ausgedrückt (ebenso inst. 4,28,2). 726 Vgl. Inglebert 1996, 119. Die providentia steht bereits in inst. 1,2 im Mittelpunkt; ferner etwa in inst. 2,9,27, in inst. 6,20 sowie 7,3f. 727 „Die Welt wurde von Gott erschaffen, damit die Menschen geboren werden. Die Menschen werden aber geboren, um Gott als ihren Vater zu erkennen; darin liegt die Weisheit. Sie erkennen ihn, um ihn zu verehren; darin liegt die Gerechtigkeit. Sie verehren ihn, um den Lohn der Unsterblichkeit zu erlangen. Sie erlangen die Unsterblichkeit, um Gott in Ewigkeit zu dienen.“

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Verbindet man diesen Abschnitt mit der Aussage aus inst. 6,10,3, wo die Ausstattung des Menschen mit sapientia als Bestandteil des göttlichen Schöpfungsplanes herausgestellt wird, so findet sich hier die Begründung dafür: Es sollte ein Wesen geben, das Gott erkennen, verehren und ihm dienen würde. Die Existenz des Menschen, auch die diesseitige, ist also stets in diesem großen Kontext zu sehen; diese – für das Christentum zentrale – Annahme muss auch für die Untersuchung der Maximen der misericordia/humanitas stets mitgedacht werden.728 inst. 6,11–6,12 In inst. 6,11,1 bestimmt Laktanz den Gegenstand der humanitas wie folgt: Conservanda est igitur humanitas, si homines recte dici velimus. Id autem ipsum, conservare humanitatem, quid aliud est quam diligere hominem, quia homo sit et idem, quod nos sumus?729

728 In der Passage werden nochmals die zentralen Begriffe sapientia und iustitia in aller Kürze definiert – in derselben Weise, in der sie in den bisher behandelten Abschnitten aus inst. 5 und 6 auch schon erschienen sind. Epit. 64 ist ferner von zentraler Bedeutung für die Frage der Beziehungsstiftung durch wohltätiges Handeln. Dazu s.u. ab S. 244. 729 „Die Menschlichkeit ist also zu wahren, wenn wir zu recht Menschen genannt werden wollen. Gerade dieses Wahren der Menschlichkeit, was ist dies anderes, als den Menschen zu lieben, weil er ein Mensch ist, und damit dasselbe, das wir sind.“ Diese Folgerung (igitur) gehört in einen größeren Gesamtkontext: In inst. 6,10,11 behauptet Laktanz, wie erwähnt, in der paganen Philosophie sei die misericordia eine Fehlhaltung gewesen, obwohl doch auch dort gemahnt würde, dass die societatis humanae communio zu wahren sei. Sodann skizziert Laktanz ab inst. 6,10,13 pagane Vergemeinschaftungstheorien, aus denen diese Pflicht, das Miteinander zu schützen, immerhin hervorgehe, wenngleich die Theorien an sich falsch seien. Nacheinander befasst er sich mit der sogenannten Schwächetheorie (ausführlich und polemisch: inst. 6,10,13– 17) und dem Ansatz der angeborenen Geselligkeit (wesentlich kürzer: inst. 6,10,18); in beiden Theorien fehlt ihm die Grundannahme der göttlichen Schöpfung des Menschen (inst. 6,10,19). Die Vergemeinschaftungstheorie des Laktanz ist letztlich eine christlich verankerte Synthese beider Ansätze, sie basiert auf der biblischen Grundannahme des unus homo a deo fictus (inst. 6,10,19). Vgl. auch inst. 2,10–12 sowie 7,4,3. Fingamus tamen illa vera esse, quae otiosi senes fabulantur, setzt Laktanz in inst. 6,10,21 fort, und weist nach, dass sich sogar den falschen paganen Vergemeinschaftungstheorien die Verpflichtung zur Unterstützung anderer entnehmen lasse, um im Sinne des Bündnisses zu handeln, das die Menschen zum wechselseitigen Schutz geschlossen hätten, wie Laktanz zunächst aus der Schwächetheorie folgert (inst. 6,10,23). Hilfsbereitschaft ziele darauf ab, die Gemeinschaft zu bewahren (inst. 6,10,25): Retentio autem societatis est communitas, id est auxilium praestare, ut possimus accipere (ebd.; der Gedanke der Wechselseitigkeit wird mehrfach formuliert: mutua auxilia, inst. 6,10,22; praestando/accipiendo auxilio). In aller Kürze greift Laktanz in inst. 6,10,26 die auch zuvor nur knapp angeführte Theorie der natürlichen Geselligkeit des Menschen auf und folgert aus dieser, dass der Mensch bei angeborener humanitas den Mitmenschen selbstverständlich achten müsse (inst. 6,10,26).

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Die humanitas bezeichnet, wie Laktanz hier kurz bestimmt, die Zuneigung zum Mitmenschen, welche sich, wie er im darauffolgenden Abschnitt fortfährt, in Handlungen ausdrückt, die dem Mitmenschen nützen (prodesse igitur homini secundum naturam sit necesse est; inst. 6,11,2). In der Wendung prodesse homini ist die unmittelbar diesseitige, gemeinnützige Wirkung der humanitas zu fassen. Insgesamt ist aber anzumerken, dass die Verortung der humanitas/misericordia in der diesseitigen communitas im sechsten Buch der Divinae institutiones wenig Raum einnimmt;730 Beschreibungen gedeihlichen diesseitigen Miteinanders nach dem Vorbild der goldenen Zeit, wie sie ab inst. 5,5 dargestellt wird, finden sich hier nicht. Gleichwohl entwickelt Laktanz nun nach der Bestimmung der humanitas konkrete Anweisungen, wie Handlungen zum Nutzen anderer Menschen aussehen sollen. Als Kontrastfolie verwendet er Ciceros Anleitung zu recht verstandener beneficentia in De officiis, wobei, wie wir sehen werden, oftmals einzelne Gedanken aus ihrem Zusammenhang gerissen werden und deren Beurteilung durch Laktanz von bewundernder Vereinnahmung bis zu harscher Ablehnung reicht.731 Zuerst tadelt er die Berechnung gegenwärtigen (eigenen) Nutzens.732 Dafür zitiert er zunächst Plaut. Trin. 339f., wo davor gewarnt wird, einem Bettler etwas zu geben, weil erstens die Gabe nicht vergolten und zweitens das armselige Leben des Empfängers (unnötig) verlängert werde (inst. 6,11,8). Wenngleich Laktanz diese Empfehlung als verabscheuungswürdig tadelt, hält er Plautus das literarische Genre zugute; aus dem Blickwinkel einer Rolle mag ein solcher Ausspruch für Laktanz durchgehen (inst. 6,11,9); Cicero jedoch, so fährt er fort, habe Ähnliches in suis officialibus libris formuliert (ebd.), wo (implicite zu ergänzen) die Aussage nicht

730 Der Singular homini ist verallgemeinernd zu verstehen; es geht also um die Bereitschaft, anderen Menschen (im Plural) zu nützen. Wer dieser Verpflichtung nicht nachkomme, sei kein Mensch, so formuliert Laktanz in inst. 6,10,3 zum wiederholten Male. Die humanitas ist also das spezifisch menschliche Charakteristikum. Es fällt auf, dass Laktanz hier die Formulierung secundum naturam verwendet, welche an die Stoa denken lässt. Ein solcher Rekurs auf die natura ist selten; in der Regel verweist Laktanz auf Gottes providentia, die freilich hier implizit enthalten ist. Der Anklang an die Stoa lässt sich an dieser Stelle ferner damit erklären, dass Laktanz sich, wie eben ausgeführt, seit inst. 6,10,11 in Auseinandersetzung mit der stoischen Ablehnung der misericordia befindet und auch ab inst. 6,11,4 wieder die stoische Ablehnung des Mitleidens fälschlicherweise mit einer Ablehnung aller Hilfeleistungen gleichsetzt. Die Verwendung des stoischen Schlagwortes vom Naturgemäßen aus inst. 6,12,2 mag also suggerieren, dass der Einsatz für andere in den Augen des Laktanz eben doch secundum naturam sei, was ein Stoiker freilich auch sofort unterschrieben hätte. Dies sieht auch Lausberg 1975, 31, die anmerkt, bei Seneca (der für Laktanz stets der Gewährsmann der Stoa sei) habe aus der „Ablehnung des Affektes der misericordia keine Ablehnung tatsächlicher praktischer Hilfe“ resultiert. 731 Hierzu Long 2003, 210: „Although Lactantius takes issue with Cicero’s De officiis, finding that work deficient in its reticence concerning Christian charity, he judges Cicero, in spite of his ignorance of Scripture, to have hit upon many truths.“ 732 In seinen Ausführungen unterlässt es Laktanz interessanterweise immer wieder, auf Sen. benef. hinzuweisen, wo sich in ganz ähnlicher Weise wie bei ihm ein Vorwurf gegen das Nutzenkalkül findet.

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wie bei Plautus durch das Argument der dramatischen Rolle zu entschuldigen sei: Laktanz führt als erstes Cic. off. 2,52 an; dort wird (wie auch in dieser Arbeit gesehen) vor finanzieller Zuwendungen aus dem eigene Privatvermögen gewarnt, weil diese die Quelle der Güte erschöpften (ebd.); danach verweist er auf eine bedeutungsgleiche Mahnung in off. 2,54, sowie die Formulierung Ciceros, man müsse – wenn man schon finanzielle Zuwendungen tätige – geeigneten Menschen geben, idoneis hominibus; inst. 6,11,11; Zitat ebenfalls aus off. 2,54). Diese Anweisungen werden von Laktanz heftig kritisiert: Cicero (bezeichnet als professor sapientiae) halte die Menschen von der Menschlichkeit zurück (refrenat homines ab humanitate; inst. 6,11,10), und der Verweis auf idonei meine gewiss, man solle nur denen schenken, die sich für das Gegebene erkenntlich zeigen könnten (inst. 6,11,12). Wenn Cicero noch lebte, wollte Laktanz ihm zurufen: humanitatis officia utilitate metitus es (ebd.).733 Mit seinem Tadel liegt Laktanz nicht völlig falsch; Nutzenerwägungen spielen in Ciceros Maximen des Gebens durchaus eine Rolle. Doch dieser Nutzen – das sieht Laktanz nicht – den der Gebende aus seinem Handeln zieht, kommt, wie oben ausgeführt, letztlich wieder der Gemeinschaft zugute. Und der Nutzen ist nicht zwangsläufig materiell gedacht, sondern besteht, wie oben gezeigt, häufig in dankbarer Gefolgschaft, sodass die idonei für Cicero eher nicht die Begüterten sind, welche die empfangene Leistung vergelten können. Laktanz hat recht darin, Cicero eine grundsätzliche Abneigung gegenüber finanziellen Leistungen und eine Sorge um das eigene Vermögen zuzuschreiben; was er jedoch unterschlägt, ist, dass Cicero stattdessen tatkräftige Unterstützung (opera) vorschlägt. Der Vorwurf schließlich, die Menschen von der Menschlichkeit zurückzuhalten, ist ebenfalls nur in Teilen berechtigt: Wie sich in der oben besprochenen Passage off. 1,50–52 zeigt, formuliert auch Cicero selbstverständliche Pflichten der humanitas – die jedoch, das ist einzuräumen, ohne nennenswerten eigenen Einsatz auskommen und also mit der von Laktanz geforderten humanitas, wie wir nun sehen werden, wenig zu tun haben.734 So formuliert Laktanz in inst. 6,11,13: Non enim idoneis hominibus largiendum est, sed, quantum potest, non idoneis. Id enim iuste, id pie, id humane fit, quod sine spe recipiendi feceris.735

733 „Du hast die Pflichten der Menschlichkeit am Nutzen bemessen.“ 734 Außerdem aber sieht Cicero durchaus die Pflicht, jemandem bei Bedarf beizuspringen, wie sich in off. 1,49 und 1,59 andeutet. 735 „Es ist also nicht den geeigneten Menschen zu schenken, sondern, soweit möglich, den nicht geeigneten. Das nämlich ist gerecht, das ist menschlich, was du ohne Hoffnung auf Vergeltung tust.“

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Für Laktanz ist es Kennzeichen von iustitia, pietas und humanitas, gerade den non idonei zu schenken, bei denen keine Hoffnung auf Vergeltung besteht.736 Laktanz empfiehlt: Largire caecis, debilibus, claudis, destitutis; quibus, nisi largiare, moriendum est. Inutiles sunt hominibus, sed utiles deo, qui eos retinet in vita, qui spiritu donat, qui luce dignatur (inst. 6,11,18).737

Als Empfänger eigener Leistungen nennt Laktanz die Schwachen, Versehrten, die dringend auf die Unterstützung durch andere angewiesen sind. Indem man sich ihnen helfend zuwendet, dient man, wie sich hier zeigt, in besonderer Weise auch Gott, weil man sie im eigenen Handeln als seine Geschöpfe würdigt und schützt.738 Es sind also diejenigen zu unterstützen, von denen keine Vergeltung zu erwarten ist. Dies entspricht den praecepta in den behandelten Passagen aus inst. 5; dort hebt Laktanz – im Verweis auf die wesensgemäße Gleichheit und Gleichwertigkeit der Menschen sowie die gleichberechtigte Teilhabe an den göttlichen Gütern – hervor, dass die Begüterten verpflichtet sind, die Bedürftigen zu unterstüt-

736 Laktanz befindet sich von hier bis inst. 6,11,19 formal im vorgestellten Dialog mit Cicero, indem er ihn in der zweiten Person Singular mehrfach anspricht. In inst. 6,11,13 greift er zunächst Ciceros Formulierung der idonei auf (wobei er, wie gesagt, mit seiner Interpretation des Begriffs Ciceros Aussage nicht ganz gerecht wird), und verweist danach in der unmittelbaren Fortsetzung des Zitates auf eine weitere Stelle aus Cic. off, nämlich auf off. 3,69: … haec est vera illa et germana iustitia, cuius solidam et expressam effigiem nullam tenere vos dicis – anders natürlich als die Christen, welche Zugang zur iustitia haben. Ciceros Aufruf, eigene Leistungen an idonei zu richten, beschäftigt Laktanz auch noch in inst. 6,11,14f.. Dort führt er Cic. leg. 1,48 an, wo es heißt, dass die Freigebigkeit nicht käuflich sei und derjenige, der liberalis benignusque dicitur, seiner Pflicht und nicht seinem Vorteil folge. Das passt für Laktanz nicht zu Ciceros Mahnung, Geeigneten zu schenken: Cur ergo idoneis potius largiris, nisi ut postea mercedem recipias? Polemisch zugespitzt, folgert Laktanz in inst. 6,11,15, dass nach Cicero also Menschen in höchster Not von den copiosi et usque ad delicias abundantes keine Hilfe erwarten könnten, wenn sie nicht zufällig als idonei gälten. Wenn Cicero die Aussage von der liberalitas gratuita konsequent zu Ende gedacht hätte, müsste die Maxime lauten, wie Laktanz an Ciceros Adresse formuliert: … non tuo commodo aestima, ei potissimum tribue, a quo nihil speres (inst. 6,11,16). In inst. 6,11,17 setzt er seinen Tadel fort: Quid personas eligis? Quid membra inspicis? Pro homine tibi habendus est, quisquis ideo precatur, quia te hominem putat. Möglicherweise spielt Laktanz hier auf die Persona-Theorie an, die Cicero in De officiis entwickelt; die Unterteilung in die vier personae des Menschen dürfte ihm nach dieser Lesart missfallen; ihm geht es darum, im Mitmenschen – egal, wie dieser geartet ist – den Menschen zu sehen und zu achten. 737 „Schenke den Blinden, den Schwachen, den Lahmen, den Verlassenen, die, wenn du ihnen nichts gibst, sterben müssen.“ 738 Auch hier ist die Handlungsanweisung noch an Cicero gerichtet; in inst. 6,11,19 wird der Gedanke abermals wiederholt, dass alles in den eigenen Kräften Stehende getan werden sollte, um andere am Leben zu halten. Unterlassene Hilfeleistung gilt Laktanz als Tötungsdelikt. Dies ist wiederum im Gesamtzusammenhang der ratio hominis zu verstehen; jeder Mensch ist für Laktanz Gottes Geschöpf und geboren, um ihm in Ewigkeit zu dienen.

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zen. Auf diese Weise machen sie sich vor Gott verdient. Dieser Gedanke der Werkgerechtigkeit wird auch jetzt wieder hervorgehoben.739 In inst. 6,11,20 deutet sich an, dass die Belohnung für die mildtätige, großzügige Unterstützung Bedürftiger zwar nicht von diesen zu erwarten sei, wohl aber von Gott. Die Nichtchristen könnten dies freilich nicht sehen: Verum etiam isti, quia neque naturam retinent neque praemium in eo, quod sit, sciunt, dum perdere timent, perdunt et in id, quod maxime cavent, incidunt, ut, quidquid largiuntur, aut pereat omnino aut ad tempus brevissimum prosit.740

Wenngleich Laktanz sich hier gegen isti im Plural wendet, sind inhaltlich Themen aufgegriffen, an denen er sich in De officiis stößt.741 Jedoch scheint mir die kritische Cicerolektüre zugleich eine Auseinandersetzung mit paganen Lesern zu sein, die ihm in Rang und Überzeugungen ähneln, sodass der Plural isti nicht verwundern muss.742 Die Formulierung, die Getadelten bewahrten nicht das Wesen (der Menschen), erinnert an die Kritik aus inst. 6,11,10, Cicero halte die Menschen von der Menschlichkeit zurück (also: er lasse sie nicht wesensgemäß handeln); die Befürchtung, das Geschenkte zu verlieren oder keinen großen Nutzen daraus zu ziehen, lässt an die skizzierte Reserve Ciceros gegenüber finanziellen Leistungen denken. Genau diese Furcht vor dem Verlust des Geschenkten führt nun, wie Laktanz in inst. 6,11,21 herausstellt, paradoxerweise zu den größten Einbußen für den Handelnden selbst (der nicht um den wahren Lohn des eigenen Verhaltens weiß (neque praemium in eo, quod sit, sciunt; diese Wendung kann als Reprise von Ciceros Eingeständnis gelesen werden, kaum Schatten der Gerechtigkeit greifen zu können). Dass Laktanz sich weiter in Auseinandersetzung mit Überlegungen aus De officiis befindet, wird auch deutlich in inst. 6,11,22–24, wo er Ciceros Erörterung finanzieller Leistungen insbesondere des Ädilenamtes anführt, um nachzuweisen, dass derartige Ausgaben überflüssig seien. Auf Laktanzens Billigung stoßen hingegen zunächst Hilfeleistungen an tribules oder clientes (dieses Beispiel entnimmt

739 S.o. Anm. 48. Von Albrecht 1997, 1270, weist in diesem Sinne darauf hin, dass Laktanz „bei römischen do-ut-des-Vorstellungen stehen“ bleibe und die Beziehung Gott-Mensch verstehe als „Rechtsverhältnis; der Mensch leistet Gehorsam und empfängt das Heil als gerechten Lohn.“ Das „Problem der Gnade“ sei „nicht eigentlich durchdacht.“ Ähnlich Wlosok 1960, 229, die beinahe deckungsgleich formuliert, dass der Glaube an Gott von Laktanz als Rechtsverhältnis begriffen worden sei, als System wechselseitiger Verpflichtungen, worin „göttliche Forderung, menschlicher Gehorsam, gerechter Heilslohn“ enthalten seien. Dies sei gut römisch am traditionellen religio-Begriff orientiert. 740 „Aber weil diese weder ihr Wesen beibehalten noch wissen, welcher Lohn darin liegt, verlieren sie, während sie zu verlieren fürchten, und verfallen in das, wovor sie sich am meisten hüten: dass nämlich das, was sie schenken, entweder ganz und gar verloren geht oder nur für einen winzigen Augenblick von Nutzen ist.“ 741 Der Plural lässt vermuten, dass Laktanz die pagane Philosophie über einen Kamm schert (wie er das in seiner „Abrechnung“ in inst. 3 in weiten Teilen auch tut), zumal Cicero in seinen Schriften ja tatsächlich oftmals die Überzeugungen mehrerer Schulen kombiniert. 742 Ebenso Winger 1999, 216 Anm. 1435.

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er nicht aus Cic. off.), denn damit würden Menschen unterstützt, dennoch sei auch dies noch keine vera et iusta largitio (inst. 6,11,26); Laktanz formuliert: Beneficentia enim nulla est, ubicumque necessitas non est (ebd.).743 An dieser Stelle verwendet er das lateinische Abstraktum beneficentia. Da er bei der Abfassung von inst. 6,11, wie gesehen, beständig in teilweise überspitzter Opposition zu Ciceros Pflichtenlehre seine eigenen Maximen vor allem zu den Adressaten der Hilfsbereitschaft entwickelt, ist die Vermutung naheliegend, auch in der Verwendung des Begriffes beneficentia eine Bezugnahme auf Cicero zu sehen, zumal der Terminus von anderen Autoren seiner Zeit nicht benutzt wird und insgesamt eine seltene Vokabel bleibt. Die Inanspruchnahme des Begriffes geht einher mit der Behauptung der Deutungshoheit. Denn indem Laktanz die ciceronische beneficentia neu bestimmt als Unterstützung in der Not, erweist er zugleich Ciceros Begriffsverständnis als falsch. Bei Laktanz fallen beneficentia und humanitas in eins; wahre beneficentia liegt in solchen Handlungen, die Cicero – in aller Kürze und mit wesentlich geringerem Anspruch – als humanitas bezeichnet. Die Behauptung der Deutungshoheit erstreckt sich auf die iustitia insgesamt, in deren Rahmen bei beiden Autoren die beneficentia angesiedelt ist. Cicero konnte für Laktanz die iustitia nicht in ihrem Wesen erfassen, weil ihm der Zugang zu Gott fehlte – dass Cicero dies selbst ahnte, belegt Laktanz mit Ciceros Selbstaussage im dritten Buch seiner Pflichtenlehre, allenfalls Schattenbilder der Gerechtigkeit greifen zu können. Ist die Gerechtigkeit nicht bei Gott verankert, kann es auch die beneficentia nicht sein, die doch einen Teil von ihr darstellt.744 Auf De officiis dürfte auch inst. 6,11,27 bezogen sein, wo es heißt, dass alle Gaben an Nicht-Bedürftige, die um des Dankes willen erwiesen und vergolten würden, verloren gingen und keine beneficentia darstellten (Perit ergo, quidquid gratiae causa tribuitur non indigentibus, aut cum fenore redit, et beneficentia non erit.). Insbesondere im zweiten Buch De officiis spielt gratia, wie gesehen, eine zentrale Rolle; deren Erlangen kann als das zentrale Anliegen der dort beschriebenen Maximen rechten Wohltuns gelten. Für Laktanz darf nun nicht die erwartete Dankbarkeit bzw. Vergeltung (fenus) des Empfängers das Handlungsmotiv darstellen; gerecht wird eine Leistung erst dann, wenn sie Schlechtes, Schlimmes von Hilflosen abwendet – erst dann handelt es sich für ihn um beneficentia: Die wichtigste Aufgabe des Gebenden sei es, die Bedüftigen zu nähren (Unum igitur certum et verum liberalitatis officium est egentes atque inutiles alere; inst. 6,11,28).745

743 „Es liegt nämlich keine Wohltätigkeit vor, wo es keine Not gibt.“ 744 Vgl. inst. 6,12,14: Ignoscendum est igitur umbratico et imaginario praeceptori nec ab eo verytas exigenda est, qui se nescire fateatur. Das Adjektiv umbraticus bezieht sich dabei auf die von Cicero in off. 3,69 genannten Schattenbilder der Gerechtigkeit; Cicero habe immerhin gewusst, non ad veram iustitiam, quam non teneat, praecepta se dare. 745 Hier zeigt sich, dass Laktanz, ebenso wie Cicero und möglicherweise nach dessen Vorbild in off. 1,20, beneficentia und liberalitas bedeutungsgleich verwendet (beneficentia, quam eandem vel benignitatem vel liberalitatem appellari licet).

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Auch in inst. 6,12 setzt sich die Auseinandersetzung mit De officiis fort. Gleich zu Beginn des Kapitels bündelt Laktanz das bis hierhin Gesagte zu einer Definition der vollkommenen Gerechtigkeit: Haec est illa perfecta iustitia, quae custodit humanam, de qua philosophi loquuntur, societatem, hic divitiarum maximus ac verissimus fructus est, non uti opibus ad propriam unius voluptatem, sed ad multorum salutem, non ad praesentem suum fructum, sed ad iustitiam, quae sola non interit (inst. 6,12,1).746

Die iustitia, wie Laktanz sie versteht, sei so beschaffen, dass sie die Menschengemeinschaft aufrecht erhalte. Dieser Verweis ähnelt Ciceros Formulierung zu Beginn von De officiis, wo die iustitia eingeführt wird als Grundbedingung gedeihlichen Miteinanders (ea ratio, qua societas hominum inter ipsos et vitae quasi communitas continetur; off. 1,20); die Abgrenzung von Cicero wird jedoch sichtbar, indem Laktanz dezidiert von der perfecta iustitia spricht und – angesichts der bereits mehrfach getadelten Befürchtungen Ciceros, durch allzu großen finanziellen Aufwand in der beneficentia den eigenen Reichtum zu verlieren – gerade diese Einsatzbereitschaft als Pflicht im Dienste der wahren Gerechtigkeit herausstellt.747 Im Verweis auf das Wohlergehen vieler (ad multorum salutem), welches durch beneficentia nach laktanzischem Verständnis befördert wird, lässt sich in seltener Deutlichkeit ein Hinweis auf die unmittelbar diesseitige, gemeinnützige Wirkung des eigenen Einsatzes für andere – nach Laktanz, wie gesehen, für Bedürftige und Notleidende – erkennen (custodit humanam societatem).748 Ferner zeigt sich in der Anweisung, divitiae/opes zu deren Nutzen einzusetzen, wieder deutlich, dass Laktanz aus der Sicht bzw. an die Adresse der vermögenden Oberschicht formuliert, welche allein den finanziellen Hintergrund hatte, viele Bedürftige (multi) zu unterstützen. Die laktanzische Sprecherperspektive entspricht der ciceronischen, allein die Maximen, wie der Reichtum anzulegen ist, unterscheiden sich. Selbst der Gedanke des „Anlegens“ ist bei beiden Autoren greifbar; beide verwenden Termini der Geschäfts- und Handelssprache: Bei Laktanz findet sich der Begriff fructus, den auch Cicero benutzt (off. 2,14), in der eben zitierten Passage inst. 6,12,1. Laktanz deutet ihn um; er will unter fructus nicht den materiellen Vorteil einer Handlung verstanden wissen, sondern den eschatologischen Ertrag. Auch für Laktanz geht es, wie wir in inst. 5 und bes. 6 mehrfach gesehen haben, um einen Lohn, dessen Verheißung alles menschliche Verhalten bestimmt, doch –

746 „Das also ist jene vollkommene Gerechtigkeit, welche die Menschengemeinschaft schützt, von der die Philosophen sprechen; dies ist der größte und wahrhaftigste Ertrag des Reichtums, die Güter nicht zum eigenen Vergnügen zu verwenden, sondern zum Heil vieler, nicht zum gegenwärtigen eigenen Nutzen, sondern für die Gerechtigkeit, die allein nicht untergeht.“ 747 Laktanz formuliert hier antithetisch, indem er den wahren Ertrag eigener Reichtümer nicht darin sieht, propriam unius voluptatem zu befriedigen, sondern multorum salutem zu befördern und, parallel fortgesetzt, nicht zum gegenwärtigen Nutzen einzusetzen, sondern für die ewigwährende iustitia. 748 Hierzu Lausberg 1975, 31: „Die christliche Nächstenliebe erscheint als Erfüllung der Vorstellungen von menschlicher Gemeinschaft, wie sie die heidnische Ethik hervorgebracht hat.“

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wie er in inst. 6,12,2 wiederholt – liegt dieser Lohn eben nicht in einer Vergeltungsleistung des Empfängers, die (implicite: wie dies bei Cicero der Fall sei) beim Geben einberechnet würde. Es muss vielmehr darauf geachtet werden, dass das Geben nicht durch die Hoffnung auf Vergeltung motiviert ist (Tenendum est igitur omni modo, ut ab officio misericordiae spes recipiendi absit omnino).749 Wer vom Empfänger eine Vergeltung erwarte, helfe nicht dem anderen, sondern sich selbst (non alteri, sed sibi praestat). Und dennoch – so gesteht Laktanz ein, laufe auch christlich verstandene Hilfstätigkeit darauf hinaus: Et tamen res eodem redit, ut, quod alteri quisque praestiterit nihil ab eo commodi sperans, vere sibi praestet, quia mercedem capiet a deo (ebd.).750

Dieser Satz ist zentral; darin ist explizit formuliert, dass wohltätiges Handeln, welches zum Nutzen eines anderen gereicht, letztlich dem Handelnden selbst zugute kommt. Die doppelte Gerichtetheit einer Hilfeleistung, die der Handelnde zwar alteri praestat (bzw. ad multorum salutem in der diesseitigen Gemeinschaft wirkt), vor allem aber sibi praestat, ist damit in inst. 6,12,2 gut greifbar.751 Anschließend folgen konkrete praecepta, denen sich entnehmen lässt, welche Arten von Leistungen für Laktanz zur beneficentia gehören. Die Anweisungen sind wiederum an De officiis orientiert – und oftmals in Abgrenzung von der paganen Vorlage neu bestimmt. Sie sind ferner – anklingend an die lex dei aus inst. 6,8,6 – als göttliche Gebote formuliert (Idem deus praecipit; inst. 6,12,3). Ausgehend von Cic. off. 2,64 skizziert Laktanz an erster Stelle das Gebot der Gastfreundschaft,752 das für ihn darin besteht, zum Essen jedesmal diejenigen dazuzubitten, die nicht in der Lage sind, eine Gegeneinladung auszusprechen. Was hier verlangt wird, ist viel – nicht gelegentliches Einladen Bedürftiger, sondern konsequentes Teilen jeder Mahlzeit, denn kein Teil es Lebens sei frei vom Dienst der Barmherzigkeit (omnis actus vitae nostrae non careat misericordiae munere; inst. 6,12,3). Bei Cicero besteht Gastfreundschaft, wie gesehen, darin, dass die Häuser bedeutender Männer ebenso bedeutenden Gästen offenstehen; diese Überlegung tadelt Laktanz; darin gehe es – ebenso wie im Verweis auf idonei als Empfänger eigener beneficia –

749 Hier zeigt sich auch, dass misericordia bedeutungsgleich mit beneficentia und liberalitas verwendet wird. 750 „Und doch läuft die Sache auf dasselbe heraus, dass nämlich, was einer dem anderen geleistet hat, ohne von ihm einen Vorteil zu erwarten, er in Wirklichkeit sich selber leistet, weil er von Gott den Lohn erhalten wird.“ 751 Hierzu Winger 1999, 212 Anm. 1400. 752 Zu den laktanzischen officia iustitiae insgesamt Ingremeau 2003, 51: „Aux fausses conceptions de la générosité […] notre auteur oppose une bienfaisance totalement gratuite, seule authentique à ses yeux. Telle devra être l’hospitalité chrétienne […], tels doivent être le rachat des prisonniers, la protection des veuves et des orphelins, des malades sans assistance; telle est enfin la prise en charge de la sépulture des pauvres et des étrangers, comble de la gratitude.“

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wieder um den eigenen Nutzen (inst. 6,12,5 und 6,12,10; in inst. 6,12,12 tadelt Laktanz Ciceros Gastfreundschaft als ambitiosa hospitalitas).753 Das Haus eines gerechten und weisen Mannes (implicite: der sich für Laktanz hinter dem vir illustris verbergen muss, den Cicero anführt) solle Bedürftigen offenstehen (Laktanz spricht von humilibus et abiectis), denn ein gerechter Mann solle stets wohltätig handeln. Wenn eine Wohltat jedoch vergolten werde, ginge sie zugrunde; es sei nicht möglich, das aufzubewahren, dessen Preis bereits gezahlt worden ist (Nihil autem a iusto viro faciendum est, nisi quod sit beneficum. Beneficium autem si refertur, interit atque finitur: nec enim possumus id habere integrum, cuius pretium nobis persolutum est; inst. 6,12,7). Hier verdeutlicht Laktanz, weswegen nur solche Leistungen für ihn beneficia sind, die nicht durch den Empfänger vergolten werden: Eine Vergeltung kann es nur einmal geben; erfolgt diese bereits vonseiten des Empfängers, ist für Laktanz der Preis gezahlt (pretium persolutum) und kein weiterer Lohn zu erwarten (beneficium finitur). Außer der Gastfreundschaft nennt Laktanz ab inst. 6,12,14 – wiederum in Bezugnahme auf Cic. off. – noch weitere Betätigungsfelder der beneficentia: In expliziter Übereinstimmung mit Cicero führt er den Gefangenenfreikauf an; dafür zitiert er off. 2,63, wo der Gefangenenfreikauf als wichtiger Dienst an der Gemeinschaft genannt wird (Atque haec benignitas, inquit, etiam rei publicae est utilis, redimi e servitute captos, locupletari tenuiores; inst. 6,12,15).754 Daneben ist hier noch die materielle Unterstützung Niedriggestellter als Variante gemeinnütziger benignitas (rei publicae utilis) angeführt. Daraus macht Laktanz – in eigenen Worten – das Gebot alere pauperes ac redimere captivos und setzt die ciceronische Aufforderung zur Unterstützung Niedrigstehender also gleich mit seiner in inst. 6,12,3 formulierten Anweisung, zu jeder Mahlzeit Bedürftige dazuzubitten. Locupletari tenuiores wird für Laktanz bedeutungsgleich mit systematischer Armenspeisung (hospitalitas in seiner Begriffsbestimmung). Weitere, ebenso große Werke der Gerechtigkeit bestünden darin, so fährt Laktanz in inst. 6,12,21 fort, hilfsbedürftige Witwen und Waisen zu schützen und Kranke zu pflegen (inst. 6,12,24); wer dies leiste und einem Mitmenschen eine Zeitlang

753 In inst. 6,12,5 spricht Laktanz von der hospitalitas der Philosophen – wiederum im Plural, obwohl er sich in inst. 6,12,6 explizit an Cicero im Singular wendet. Der Plural lässt sich an dieser Stelle damit erklären, dass Cicero in seiner Auffassung der hospitalitas explizit auf Theophrast als Gewährsmann verweist, und damit wäre Laktanzens Tadel an beide zugleich gerichtet. 754 Unmittelbar anschließend wird das Zitat fortgesetzt wie folgt: Hanc ego consuetudinem benignitatis largitioni munerum longe antepono, haec est gravium hominum atque magnorum (ebd.). Für diesen Vergleich (antepono) wird Cicero in inst. 6,12,19f. noch getadelt, weil Gefangenenfreikauf und Armenspeisung ein officium benignitatis darstellten, wohingegen Schenkungen nichtig, leichtsinnig und von der Gerechtigkeit denkbar weit entfernt seien. Schenkungen, wie Laktanz sie hier tadelt, sind (ohne dass dieser Verweis hier explizit formuliert würde) solche, die nach Ciceros Ausführungen dem Schenkenden Gunst einbringen sollen. In verbrämter Weise findet sich an dieser Stelle also wiederum der Tadel an der Nutzenberechnung beim Geben (wobei der erwartete Nutzen direkt vom Empfänger kommen soll).

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beistehe, der werde in Ewigkeit von Gott für diesen Einsatz belohnt, so erinnert Laktanz an die Verheißung der Unsterblichkeit (ebd.). Die letzte und zugleich wichtigste Pflicht der Barmherzigkeit ist für Laktanz die Bestattung der Fremden und Armen (inst. 6,12,25). Während die paganen Philosophen (in inst. 6,12,25 bezeichnet als virtutis iustitiaeque doctores) die vorher genannten Betätigungsfelder der beneficentia zumindest teilweise gesehen hätten,755 sei die Bestattung Fremder bzw. Armer von ihnen nicht berührt worden. Laktanz unterstellt, dass sie darin, anders als in den anderen Pflichten, keinen Vorteil für sich selbst sehen konnten (inst. 6,12,26).756 Wahre beneficia sind für Laktanz stets auf diese Empfängergruppen – Bedürftige oder Fremde – beschränkt. Nahestehende scheiden als Empfänger eigener Zuwendung nicht grundsätzlich aus, wie Laktanz zunächst betont (inst. 6,12,4). Ein verum et iustum opus findet für ihn jedoch außerhalb von Beziehungen statt, in denen aufgrund verwandtschaftlicher Verpflichtungen oder Rollenerwartungen vorgegeben ist, was vom Einzelnen gefordert wird (inst. 6,12,17). Wer nun aber einem Unbekannten etwas Gutes zuteil werden lasse, sei wahrhaft zu loben, denn solches Handeln sei eben nicht von familiären oder sonstigen Verbindlichkeiten, sondern allein von der Menschlichkeit bestimmt (Is vero dignus est laude, quoniam, ut faceret, sola ductus est humanitate. Ibi ergo iustitia est, ubi ad bene faciendum necessitatis vinculum nullum est; inst. 6,12,18).757 Laktanz trennt hier zwischen affectus und humanitas; ersterer macht Hilfeleistungen an Nahestehende für ihn leicht, letztere bezeichnet die den Einzelnen stärker herausfordernde Pflicht zur Mitmenschlichkeit. Damit erscheint in inst. 6,12,17 und 6,12,31 zumindest kurz die Überlegung, dass die Hilfsbereitschaft des Einzelnen – an sich ähnlich wie in der stoischen Oikeiosislehre – verschiedene Stärkegrade kennt, die unmittelbar von der gefühlten Nähe zum Hilfsempfänger abhängen. Anders jedoch als in der Stoa, wo es zwar als Telos gilt, auch einem fremden Menschen um seines Menschseins willen wohltätig 755 Laktanz gesteht ihnen in inst. 6,12,22 zu, dass sie von Natur aus fühlten, dass es gerecht sei, Bedürftige zu schützen – ohne allerdings zu wissen, warum. 756 Die Darstellung ist nicht korrekt, denn etwa in Sen. benef. 5,20,4–5 wird die Bestattung Fremder als selbstverständliche Pflicht der humanitas bezeichnet. Cicero allerdings, mit dem sich Laktanz hier vornehmlich auseinandersetzt, behandelt die Thematik nicht. Es ist also möglich, dass Laktanz hier Ciceros Auslassung der Fragestellung im Blick hat; daneben spielt er aber auf eine grundsätzliche philosophische Kritik an der Bedeutung der Begräbniskultur überhaupt an, ohne deren Vertreter zu nennen. Zu vermuten wären Atomisten, möglicherweise Epikur (über Lukrez). Dies zu diskutieren lehnt Laktanz an dieser Stelle ab, betont aber (zunächst apodiktisch), dass die Bestattungspflicht schlicht bestehe (inst. 6,12,29). In inst. 6,12,30 fügt er eine kurze christliche Rechtfertigung an, indem er – im Rekurs auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen – die Bestattung als Dienst an Gott bezeichnet, wodurch figura et figmentum dei vor wilden Tieren geschützt und der Erde zurückgegeben werde. Zur Passage Lausberg 1975, 32. Ferner Winger 1999, 216 Anm. 1430: „Hier ist der Höhepunkt der Auseinandersetzung mit dem antiken ‚Utilitarismus‘ erreicht.“ 757 Vgl. hierzu auch inst. 6,12,31: In quo autem magis iustitiae ratio consistit quam in eo, ut, quod praestamus nostris per affectum, praestemus alienis per humanitatem.

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zu begegnen, aber eine Handlung, die einem Nahestehenden zugute kommt, dennoch prinzipiell als beneficium gelten kann, trennt Laktanz zwischen den instinktiven (per affectum) und den wahrhaft gerechten Verhaltensweisen (per humanitatem; dignus laude).758 Anders als in der Oikeiosislehre, wo durch beneficia auf mehreren Ebenen gemeinschaftliches Miteinander gestiftet und gestärkt werden kann und soll, macht Laktanz mit einen einzelnen Teilbereich gemeinnützigen Handelns stark und verankert ihn allein als tugendhaft und gottgefällig: Er konzentriert sich auf die Anleitung zu systematischer Barmherzigkeit; die übrigen Varianten, wie ein Mensch sich einem anderen zuwenden kann, gelten ihm als selbstverständlich (s.o. der kurze Verweis auf die natura; inst. 6,12,17) und nicht als dezidiert tugendhaft. Diese klare Beschränkung der beneficentia bei Laktanz ergibt sich durch den beständigen Fokus auf Gott und das jenseitige Heilsversprechen, denn diejenigen Leistungen, die per affectum zugeteilt werden, dürften unmittelbar vom Empfänger beantwortet werden, wodurch die erwünschte göttliche Vergeltung ausbleiben muss. Dass beneficia vergolten werden, steht für Laktanz außer Frage, doch er betont immer wieder, dass die wahre Vergeltung von Gott allein kommt. Alles Handeln sollte in der göttlichen Unsterblichkeitsverheißung gründen. Damit dienen beneficia letztlich dem eigenen Wohl. Ab inst. 6,12,33 wendet sich Laktanz wieder an einen imaginierten Gesprächspartner. Erneut diskutiert er Gedanken aus De officiis, wodurch die Auseinandersetzung mit einem Cicero ähnlichen Leser hier ihre Fortsetzung findet: Quid? Tu tam pusillo animo paupertatem times, quam etiam vestri philosophi laudant, heißt es zuerst (ebd.). Laktanz greift hier die bei Cicero formulierte (und bei Mitgliedern der Oberschicht sicher grundsätzlich virulente) Sorge auf, durch finanzielle beneficia das eigene Vermögen aufzubrauchen, tadelt diese Kleingeistigkeit (pusillo animo) und verweist auf Philosophen (vestri – also pagan, wie Cicero), denen paupertas eine Tugend gewesen sei. In inst. 6,12,34–36 vereinnahmt er deren Verweis auf die Kurzlebigkeit und Unsicherheit materiellen Besitzes, welcher durch Schicksalsschläge jederzeit verloren gehen könne, um darauf aufbauend die gute, dauerhafte Anlage eigenen Reichtums in Werken der Gerechtigkeit zu empfehlen. Dabei verwendet er die Wendung bene collocare, die an Ciceros beneficia collocare aus u.a. off. 2,69 erinnert. Pointiert formuliert er: Wer vor Gott reich ist, kann niemals arm sein (inst. 6,12,35).759 In inst. 6,12,36 fordert Laktanz seinen Gesprächspartner nun heraus: Wenn dieser die Gerechtigkeit so hoch achte (implizit zu ergänzen: wie Cicero dies in De officiis ja zu tun vorgibt), dann solle er ihr auch folgen – und dies sei leichter möglich, wenn er sich zuvor von der Last und den Fesseln befreie, denn dann könne er ungehindert auf Gott zu laufen.

758 Unbedingt festzuhalten ist an dieser Stelle die Beobachtung von Lausberg 1975, 33, bezüglich eines wichtigen Unterschiedes zwischen stoischer und laktanzischer Konzeption der beneficentia: „Vielmehr erwartet Laktanz gerade im Gegensatz zum Stoiker eine Vergeltung für sein Tun, allerdings nicht vom Beschenkten, sondern von Gott.“ 759 Vgl. u.a. Mt 6,19–21; Lk 12,33. Lausberg 1975, 29, verweist auf Cypr. eleem. 9f., woran die laktanzische Argumentation hier auch angelehnt sei.

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Bemerkenswert ist, dass Laktanz einschätzen kann, wie schwer ein solcher Verzicht auf den eigenen Reichtum einen Aristokraten nach Art Ciceros ankommen dürfte,760 und so fügt er eine Reihe konzilianter Ermunterungen hinzu, die freilich in einem gewissen Widerspruch zu seinen vorher deutlich anspruchsvolleren Anforderungen an den beneficus stehen:761 Wenn ein begüterter nobilis nun so an seinem Reichtum hänge, solle er sich – mit Blick auf die Gerechtigkeit – doch bemühen, nicht nur durch seinen Reichtum alle anderen zu überragen, sondern im selben Maß auch durch seine guten Werke (inst. 6,12,38). Dafür sei es nicht zwingend notwendig (wie von begüterten Lesern befürchtet), sein Vermögen zu verringern oder aufzubrauchen, sondern es genüge zunächst, die Ausgaben für an sich überflüssige Dinge nun für Besseres zu verwenden (inst. 6,12,39).762 Auf diese vera munera, diese Gaben also, die für Laktanz wirklich als Wohltaten gelten, folge das munus aeternum, Gottes Gegengabe. Der Lohn des eigenen Einsatzes für Notleidende und Fremde besteht in einem Sündenerlass und damit im Zugang zum Paradies (Magna est misericordiae merces, cui deus pollicetur peccata se omnia remissurum; inst. 6,12,41).– hier schließt sich der Kreis zu den Überlegungen vom Beginn des 6. Buches, wo das menschliche Handeln als stets auf Gottes Lohn bezogen herausgestellt wird. In diesem Sinne formuliert Laktanz in inst. 6,13,1: Quotiens igitur rogaris, temptari te a deo crede, an sis dignus audiri.763 Werke der Barmherzigkeit werden zur Prüfung Gottes, an denen sich die Würdigkeit des Einzelnen ablesen lässt. Durch wahre beneficia kann sich der Mensch vor Gott verdient machen.764 Mit der wiederholten Aufforderung (nach inst. 6,12,37–40 nun wieder

760 Vgl. Mt 19,16–24; Mark 10,17–27; Luk 18,18–27. 761 Winger 1999, 217 Anm. 1440, spricht von „antirigoroser Relativierung“. 762 Als Beispiele überflüssiger Ausgaben führt Laktanz Tierkämpfe und Gladiatorenspiele an – möglicherweise in Bezugnahme auf Cic. off. 2,57f., wo traditionelle Aufwendungen im Rahmen des Ädilenamtes referiert werden, wobei dort zwar munera, aber nicht im Einzelnen Tierhatzen und Gladiatorenspiele genannt sind. Dass Laktanz genau diese in inst. 6,12,39 anführt, mag der Gestaltung des Abschnitts dienen, wo ein Kontrast hergestellt wird zwischen bestias emis vs. captos redime, feras pascis vs. pauperes ale sowie homines ad gladium comparas vs. innocentes mortuos sepeli. 763 „Sooft du also gebeten wirst, glaube, dass du von Gott geprüft wirst, ob du es verdienst, erhört zu werden.“ 764 Hier ist wieder der Gedanke der Werkgerechtigkeit zu greifen, der auch schon im fünften Buch sichtbar war. Was im weiteren Verlauf von inst. 6,13 noch angefügt wird, ist die Mahnung, dass der Zusammenhang zwischen beneficentia und Sündenerlass niemals so zu verstehen sei, dass man vorsätzlich sündigen dürfe – vor dem Hintergrund der Möglichkeit, durch nachfolgende beneficia Gottes Verzeihung zu erlangen (inst. 6,13,2). Diese wird nach Laktanz nur demjenigen zuteil, der imprudenter incauteque fehl geht; ferner dürfe niemand denken, wenn er sich von Sünde gereinigt habe, zugleich auch frei zu sein vom Dienst, beneficia zu leisten (inst. 6,13,3) – zumal diese Sündenfreiheit beim Menschen, quamdiu indumento carnis oneratus est, nie eintreten könne (inst. 6,13,5). Diese Überzeugung basiert auf der Grundannahme des Dualismus von Seele und Körper, der bei Laktanz einhergeht mit Gut und Böse; hierzu Wlosok 1989, 387 sowie inst. 2 passim. Laktanz beschreibt in inst. 6,13,6 drei Stufen der virtus: Primus est virtutis gradus malis operibus abstinere, secundus etiam malis verbis, tertius etiam

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in der anspruchsvollen Variante), den Reichtum für Werke allein für die Gerechtigkeit zu verwenden, beschließt Laktanz zunächst seine Ausführungen zur beneficentia (und ihren verschiedenen bedeutungsgleichen Erscheinungsformen).765 inst. 6,13–6,25 In inst. 6,18,2 greift Laktanz die Thematik nochmals auf: Nos ergo, ut ad propositum revertamur, quibus solis a deo veritas revelata et caelitus missa sapientia est, faciamus, quae iubet illuminator noster deus. Sustineamus invicem et labores huius vitae mutuis adiumentis perferamus nec tamen, si quid bonis operis fecerimus, gloriam captemus ex eo.766

Zumindest formal gibt er hier den imaginierten Dialog mit paganen Angehörigen der Oberschicht zugunsten einer adhortatio an die Mitchristen auf (quibus solis a deo veritas revelata est), einander zu unterstützen, um die Mühsal diesseitigen

cogitatione rerum malarum. Hier (wie auch in der ähnlichen Passage inst. 6,24,9) betont er, dass kein Mensch so prudens und so circumspectus sei, dass er nicht auch Fehler machte. 765 Ab inst. 6,14 befasst er sich mit der paganen Diskussion von Affekten und greift dafür seinen Verweis auf die misericordia in inst. 6,10,11 wieder auf. Er wiederholt die Beobachtung, dass er selbst sie für ein praeclarum et excellens bonum halte, während „die Philosophen“, also die Stoiker sie pro vitio semper habuerunt (inst. 6,14,1 bzw.; inst. 6,14,2: morbus animi). Er verweist darauf, dass pagane Denker versucht hätten, virtutes a vitiis distinguere, und fügt hinzu, dies sei freilich sehr leicht: Quis enim non possit liberalem a prodigo separare, ut illi faciunt, aut parcum a sordido (inst. 6,14,3). Er verspottet an dieser Stelle die paganen Philosophen, denen es, wie er im Folgenden nachweist, eben doch nicht gelungen sei, diese leichte Frage der Bestimmung der Tugenden zu beantworten, weil ad corpus cuncta referuntur (inst. 6,14,6; s.o. inst. 6,8,4), sodass sie virtutes quasdam pro vitiis et vitia quaedam pro virtutibus habuerunt (inst. 6,14,7). Die laktanzischen Deutungen der virtutes sollen uns an dieser Stelle nicht vollumfänglich beschäftigen; im Hinblick auf die beneficentia ist freilich die christliche Interpretation der parsimonia vs. prodigalitas von Belang, wenngleich deren Bestimmung letztlich eine Reprise dessen darstellt, was bereits mehrfach gesagt wurde, wie Laktanz auch selbst bekennt: Quodsi, ut supra docui, patrimonio minime parcendum est, ut humanitatem iustitiamque teneamus, non est virtus frugi esse: quod nomen specie virtutis fallit ac decipit (inst. 6,17,16). In den folgenden Überlegungen nimmt Laktanz auch die Auseinandersetzung mit De officiis wieder auf: Er stellt heraus, dass Sparsamkeit nach paganem Verständnis ex habendi amore entspringe (inst. 6,17,17) und nicht Tugend genannt werden dürfe. Dann referiert er, dass die paganen Philosophen liberalem distinguunt a prodigo und bezieht sich damit aller Wahrscheinlichkeit nach konkret auf off. 2,55. Während Cicero allein liberalitas als Tugend wertet, weil sie für ihn das rechte Maß zu wahren weiß, erweist Laktanz hingegen auch prodigalitas als in höchster Weise tugendhaft, wenn sie darauf gerichtet werde, misericordiae causa für den Lebensunterhalt Bedürftiger zu sorgen (inst. 6,17,18f.). 766 „Um zu unserem Ausgangsthema zurückzukehren: Wir, denen allein von Gott die Wahrheit offenbart und vom Himmel die Weisheit geschickt wurde, wollen also tun, was Gott, unser Erleuchter, uns befiehlt: Wir wollen einander unterstützen und die Mühen des diesseitigen Lebens durch wechselseitige Hilfestellungen ertragen und dennoch nicht, wenn wir ein gutes Werk getan haben, Ruhm daraus erhaschen.“

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Lebens zu ertragen.767 Im Verweis auf gloria mag freilich inhaltlich doch wiederum an De officiis (insbesondere off. 2) erinnert sein, wo deren Erlangung im Zentrum steht: Laktanz warnt demgegenüber davor, um des Ruhmes willen gute Werke zu tun, weil es sich beim Ruhm wiederum um eine diesseitige Belohnung handelt, welche den Zugang zum praemium caeleste versperrt (inst. 6,18,3).768

767 An dieser Stelle tauchen mit invicem und mutuis adiumentis Wendungen auf, die eine Reziprozität des Handelns bezeichnen. Als Beispiel gegenseitiger Unterstützung mag inst. 6,18,7 dienen, wo Laktanz auch das Verleihen von Geld unter die beneficia zählt, wofern dafür kein Zins genommen wird, dennoch aber – ist implizit zu ergänzen – eine Leistung vorliegt, für die (durch Rückzahlung) eine Vergeltung vonseiten des Empfängers eintritt. Beim wechselseitigen Geben und Nehmen ist für Laktanz stets eines zu beachten: plus autem accipere, quam dederit, iniustum est – weil man nach seiner Sicht auf diese Weise aus der Not des anderen Beute zieht (inst. 6,18,8). Diese Mahnung steht wiederum in Kontrast zu den praecepta recht verstandener beneficentia, wie sie sich bei Seneca und bei Cicero finden; dort gehört das Prinzip wechselseitiger Überbietung selbstverständlich dazu (vgl. etwa Cic. off. 1,48; vielleicht hat Laktanz an diese Stelle gedacht, da er doch intensiv mit De officiis arbeitete?). Für Laktanz soll der Gebende mit dem Eigenen zufrieden sein, also mit der Rückerstattung dessen, was er geleistet habe, und er solle insgesamt darauf sehen, misericorditer zu handeln, nec inquinabit se huiusmodi quaestu, sed efficiet, ut sine ullo suo damno id ipsum, quod commodat, inter bona opera numeretur. Die Formulierung, dass der Handelnde selbst keinen Schaden nehmen solle, ist sicherlich anders zu verstehen als ähnliche Mahnungen bei Cicero und Seneca, wo es jeweils darum geht, beneficia an den eigenen Ressourcen und Möglichkeiten zu bemessen. Damnum ist bei Laktanz eschatologisch zu beziehen; es geht um denjenigen Schaden, den im Übermaß vergoltene beneficia für die eigene Jenseitserwartung anrichten können, weil sie der Auszeichnung vor Gott, die allein relevant ist, entgegenstehen. 768 Illis virtutibus comprehensis seien, wie Laktanz danach in inst. 6,18,4 formuliert, alle weiteren Gebote leicht zu befolgen – damit schlägt Laktanz einen großen Bogen zurück zu inst. 6,10,2, wo (ebenso wie in inst. 5,14,9) pietas und misericordia/humanitas als zentrale christliche Tugenden eingeführt werden. In der Beschreibung des wahrhaft gottgefällig handelnden Menschen befindet sich Laktanz ab inst. 6,18,15 wiederum in Auseinandersetzung mit Cicero, der in off. 1,20 denjenigen als virum bonum bezeichnet, qui prosit, quibus possit, noceat nemini nisi lacessitus iniuria. Die letzten zwei Worte zerstören für Laktanz den Wert des ganzen Satzes. Ausgehend vom Tadel an Ciceros Formulierung, durch Unrecht gereizt einem anderen schaden zu dürfen, befasst er sich sodann mit den spezifisch christlichen Tugenden der patientia und der innocentia (damit schlägt er zugleich einen Bogen zum Beginn des Buches: vgl. inst. 6,1,4), nimmt ab inst. 6,19 die Auseinandersetzung mit den Affekten wieder auf sowie, davon ausgehend, mit den sensuum voluptates, die ihm als beständige Prüfungen der virtus gelten (bis inkl. inst. 6,23). Die Erörterung der Affekte ab inst. 6,14 sowie hier der Sinneslüste bezieht sich auf den Beginn des gesamten Werkes, wo Laktanz den Nichtchristen vorwirft, ihr ganzes Leben am Diesseitigen, Körperlichen auszurichten und deshalb auch ihre Erfüllung in den Lüsten zu suchen (inst. 6,1,7–9). In inst. 6,23,32 formuliert er schließlich die goldene Regel, ut non facias alteri, quidquid ipse ab altero pati nolis (inst. 6,23,32). Diese ist kontextuell eingebettet in die Erörterung der libido, die allein im Rahmen der Ehe ihren Raum haben dürfe, sowie einer kurzen Skizze der Maximen ehelichen Miteinanders. In inst. 6,24,25 bestimmt er schließlich den vir bonus als homo sanus, iustus, perfectus und beschreibt ihn als misericors, beneficus, mitis, humanus, und: pax in animo eius perpetua versetur – er reagiert nicht aggressiv auf erfahrenes Unrecht, sondern wahrt die Ruhe.

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Am Ende des Buches nimmt Laktanz das eingangs formulierte Zwei-WegeGleichnis wieder auf und ermuntert seine Leser dazu, den rechten Weg einzuschlagen, auch wenn sie dabei immer wieder straucheln oder in die Irre gehen. Eine Umkehr – und damit: eine Befreiung – sei immer wieder aufs Neue möglich: Nec tamen deficiat aliquis ac de se ipse desperet, si aut cupiditate victus aut libidine impulsus aut errore deceptus aut vi coactus ad iniustitiae viam lapsus est. Potest enim reduci ac liberari, si eum paeniteat actorum et ad meliora conversus satis deo faciat. (inst. 6,24,1).769

Ähnlich wie in den konzilianten praecepta an die Adresse paganer Leser in inst. 6,12,37–40 ist Laktanz darum bemüht, die stets gegebene Möglichkeit gottgefälligen Lebens zu betonen (potest reduci wäre zu ergänzen etwa mit: ad viam caeli); der Kreis der Angesprochenen ist hier jedoch größer; hier ist der Gedanke aus inst. 6,3,16 aufgegriffen, dass Gott keinem einzigen Menschen die Unsterblichkeit verweigere.770 Für Laktanz sind gottgefällige Handlungen Opfer in aram dei; 771 dies sei der wahre Kult, dies die lex dei (inst. 6,24,29).772 In inst. 6,25,8 wird die iustitia nochmals in den Gesamtzusammenhang der ratio hominis eingeordnet: Durch Werke der Unsterblichkeit erlang der Mensch die Unsterblichkeit und tritt auf Ewigkeit in den Dienst Gottes (Quomodo autem deus iustitia hominis utatur, intellectu facile est. Si enim iustus fuerit homo, accepta immortalitate in aeternum deo serviet; vgl. epit. 64). Im Laufe des sechsten Buches bestimmt Laktanz den Sinn menschlichen Lebens eschatologisch als dauerhaften Dienst an Gott, worin, wie er im letzten Satz des Buches formuliert, für ihn die Gerechtigkeit zur Vollkommenheit findet (consummata et perfecta iustitia est; inst. 6,25,16) und derjenige, der gerecht handelt, seiner gottgegebenen Menschenpflicht Genüge tut. In diesem beständigen Gottesdienst ist auch die beneficentia zu verorten, deren Wirkung sich zwar, wie von Laktanz mehrfach eher beiläufig angemerkt, als diesseitig und gemeinnützig erweist, die aber stets eschatologisch fundiert bleibt. Die

769 „Und trotzdem soll keiner den Mut sinken lassen und an sich selbst verzweifeln, wenn er von der Begierde besiegt, von der Leidenschaft angetrieben, vom Irrtum getäuscht oder durch Gewalt gezwungen auf den Weg der Ungerechtigkeit abgerutscht ist.Er kann nämlich zurückgeführt und befreit werden, wenn er seine Taten bereut und – zum Besseren hingewendet – Gott genüge tut.“ 770 Er benennt einzelne Gruppen, für die diese Heilserwartung gilt: Mit den cupiditate victi meint er vermutlich Mitchristen, deren Glaube hinter den Begierden zurücksteht; mit der Wendung errore decepti dürfte er sich an pagane Leser wenden; und unter den vi coacti ad iniustitiam lapsi wird er diejenigen verstanden wissen wollen, die durch Folter vom Glauben abgefallen sind (und gemeinhin auch als lapsi bezeichnet wurden). Vgl. hierzu auch oben S. 186 zu inst. 5,1,8–12, wo drei Adressatengruppen des Werkes benannt werden. 771 Zum Opfer außerdem wiederum inst. 6,25,5–7: Dort wird unterschieden in donum in perpetuum und sacrificium ad tempus; beides werde Gott geschuldet: Ersteres zielt auf die integritas animi, letzteres bezeichne den tatsächlich greifbaren, oftmals entbehrungsreichen cultus, wozu auch die Werke der Gerechtigkeit gehören, mit denen indirekt ja Gott gedient werde. 772 Wiederum gekoppelt an den Verweis darauf, dass auch Cicero vom göttlichen Gesetz spreche. Dieses kommt im übrigen (ohne dass eindeutig gesagt werden könnte, ob Laktanz hier auf diese Stelle anspielt), auch in De officiis vor, als lex divina in off. 3,23. Vgl. hierzu oben Anm. 216.

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Erörterung der beneficentia, die durchaus breiten Raum im sechsten Buch einnimmt (inst. 6,10–13; Reprise ab inst. 6,18), ist immer wieder rückgebunden an Verweise auf die ratio hominis, die bereits zu Beginn des Werkes als beständiger Gottesdienst bestimmt wird. Dieser Gottesdienst wird aufgewogen durch jenseitige Unsterblichkeit und gereicht letztlich dem Einzelnen zum Wohl. Die unmittelbaren Auswirkungen des Handelns im Dienste Gottes sind diesseitig; das gottgewollte Handeln zum Wohle Bedürftiger nützt, ohne dass dies jedoch besonders herausgestellt würde, zunächst auch dem unmittelbar gegebenen Gemeinwesen. Gemeinschaft wird als dem Menschen naturgemäß bezeichnet; deren Gestaltung tritt im sechsten Buch der Divinae institutiones neben der eschatologischen Ausrichtung des Verhaltens im Vergleich etwa zu inst. 5,5f. in den Hintergrund. Während dort immer wieder durchschien, dass etwa freigebiges Handeln stets diesseitig und gemeinnützig wirkt, aber zugleich zum eigenen Reichtum vor Gottes Gericht beitragen soll, steht in inst. 6 der Ausblick auf eigenen, jenseitigen Lohn schon rein quantitativ deutlich im Zentrum der Argumentation; die Verweise auf die diesseitige Auswirkung der beneficentia beschränken sich im Verhältnis zu den beständigen Wiederholungen von praemium/merces a deo, praemia aeterna etc., welche das gesamte Buch durchziehen, auf wenige explizite Formulierungen (inst. 6,11,26; 6,12,1). Der Nachweis der Gemeinnützigkeit der beneficentia (inkl. ihren Parallelbezeichnungen) stellt nach diesem Befund keinen Schwerpunkt der laktanzischen Argumentation dar. Doch obwohl das Handeln zum Wohle anderer nicht vordergründig im Rekurs auf dessen Gemeinnützigkeit empfohlen wird, lassen sich die Ausführungen sehr wohl lesen als Werbung für die beneficentia, indem sie – im vielfach wiederholten Verweis auf die (erwünschte) Belohnung, die den Handelnden erwartet – als der geeignete Weg zu deren Erlangung herausgestellt und attraktiv gemacht wird. Gestaltet ist die Erörterung fast durchweg als imaginierter Dialog mit paganen Angehörigen der Oberschicht, die Cicero in Denkweise und sozialem Hintergrund ähneln und die dazu gebracht werden sollen, ihren Reichtum zum Wohle anderer einzusetzen und also in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Mit ihren Mitteln wären sie in der Lage, diejenigen, die Laktanz als Empfänger von beneficia nennt, systematisch in die Gemeinschaft zu integrieren und damit die gottgewollte, menschengemäße communitas zu ermöglichen. Gerade mit dem Argument, dass beneficia eigennützig sind, wird den Adressaten ein Anreiz vor Augen gestellt, gemeinnützig, d.h. wohltätig zu handeln. Die folgende Übersicht soll die zentralen Gedanken der besprochenen Passagen nochmals veranschaulichen: Zwei-Wege-Gleichnis

Weg der Tugend: in den Himmel Weg des Lasters: in die Hölle (inst. 6,3,1f.)

via caelestis/virtutum

Weg der Tugend: steil und beschwerlich (inst. 6,4,6) aber dafür: Lohn von Gott (inst. 6,3,5 und passim) Gottes Gesetz (lex dei) als Orientierung (inst. 6,8,6)

ratio hominis

Ausstattung des Menschen:

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Laktanz – körperliche Schwäche zum Ausgleich für die Weisheit – angeborene Zuneigung zu den Mitmenschen (inst. 6,10,3) Erklärung, weswegen dem Menschen sapientia verliehen wurde: – Welt um des Menschen willen erschaffen

– Menschen zur Erkenntnis Gottes erschaffen – Erkenntnis Grundlage der Verehrung Gottes – Unsterblichkeit als Belohnung für die Verehrung – ewiger Dienst an Gott als Gegenleistung für die Unsterblichkeit (epit. 64) Gottesdienst als Sinn des Lebens (inst. 6,1,2) Tugendhaftigkeit als wahrer Gottesdienst (inst. 6,2,13) Mühsal des Weges der Tugend durch höchstes Gut aufgewogen (inst. 6,9,22) dei lex ( = iustitia)

gegenüber Gott: Gott kennen und verehren (religio; inst. 6,9,1–6,10,2; vgl. 5,14,11f.: pietas) gegenüber den Menschen (aber zugleich: quod homini tribueris, deo tribuitur): misericordia vel humanitas (inst. 6,10,1f.); etwas später: beneficentia (inst. 6,11,26)

humanitas, misericordia, beneficentia

Grundbedingung: Notlage des Empfängers; keine Vergeltung der Leistung (inst. 6,11,13; 6,12,2), Vergeltung allein von Gott (inst. 6,12,2) Adressaten: Bedürftige, Leidende, Fremde (inst. 6,11–12 passim) Wirkung: Wohl des unmittelbaren Empfängers, Wohl der Gemeinschaft (inst. 6,10,2; inst. 6,11,2; inst. 6,11,26; inst. 6,12,1; inst. 6,12,15 [Zitat aus Cic. off. 2,63])

opera misericordiae

Armenspeisung (inst. 6,12,3) Gefangenenfreikauf (inst. 6,12,15) Unterstützung bedürftiger Witwen und Waisen (inst. 6,12,21) Krankenpflege (inst. 6,12,24) Bestattung Fremder und Armer (inst. 6,12,25)

Notionem veritatis munus summ fecit: Beneficentia und Beziehungsstiftung In diesem Kapitel sollen die bisherigen Arbeitsergebnisse auf die Frage hin untersucht werden, was sich ihnen im Hinblick auf die Frage nach der Stiftung von Beziehungen und Gemeinschaft entnehmen lässt: Welche Art von Beziehungen wird durch beneficia nach laktanzischem Verständnis gestiftet und welche Gemeinschaft dadurch gestärkt? Was ist die Bezugsgröße der beneficentia? Laktanz selbst zieht die Verbindung zwischen Wohltat und Gemeinschaft nur an wenigen Stellen explizit, und zudem geschieht dies jeweils eher beiläufig. Dennoch lassen sich auf

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der Grundlage dieser Äußerungen Aussagen über die gemeinschafts- bzw. beziehungsstiftende Kraft von beneficia treffen, die ich im Folgenden systematisch zusammenfassen möchte. Zur Ergänzung und Abrundung sollen einzelne Abschnitte insbesondere aus anderen Büchern, insbesondere inst. 7 einbezogen werden; den methodischen Hintergrund bilden wie schon bei Cicero und Seneca die eingangs skizzierten gabe- und kommunikationstheoretischen Grundannahmen. Zugespitzt (und, wie wir sehen werden, etwas verkürzt) lässt sich insgesamt festhalten, dass besonders ab inst. 5,14f. wohltätiges Handeln als eigennütziges Verhalten mit gemeinnütziger Wirkung erscheint: Die Vorsorge für eigenes, jenseitiges Heil kommt zwar Bedürftigen in der diesseitigen Gemeinschaft zugute, und dieser Einsatz zu deren Wohl gehört zu den zentralen Verpflichtungen des Menschen. Doch folgt man Mauss bzw. Watzlawick, nach denen Beziehungen bzw. Gemeinschaft stets auf wechselseitigem Miteinander beruhen, ist zu sagen, dass eine unmittelbare Gemeinschaftsstiftung zwischen Gebendem und Empfänger nicht stattfindet. Wenn Laktanz Wendungen wie coniungi cum homine (inst. 6,10,2) benutzt und davon spricht, dass die societas humana zu wahren sei (inst. 6,12,1) oder wenn er aufeinander bezogene Verben des Gebens und Nehmens unmittelbar nacheinander setzt (accipere vs. praestare auxilium; inst. 6,10,3), vermittelt er darin eine Vorstellung von Reziprozität, die seiner Begriffsbestimmung des beneficium nicht zu entnehmen ist: Dieses stellt sich, wie vielfach betont, als Gabe dar, die vom Empfänger nie vergolten werden darf (und in der Regel auch nicht kann), sodass die Handlung (das Erweisen der Wohltat) auf dieser Ebene einseitig bleibt. Für Laktanz steht außer Frage, dass Einseitigkeit auf Dauer nicht funktioniert (inst. 6,9,21). Auch nach seiner Darstellung muss – ganz im Sinne der mauss’schen Gabetheorie – der Einsatz eigener Ressourcen zum Wohle anderer zwingend aufgewogen werden durch eine Gegenleistung, die den Wohltäter erwartet. Das Besondere an seiner Konzeption ist dabei, dass diese Gegenleistung, wie insbesondere im sechsten Buch der Divinae institutiones gesehen, nicht vom Empfänger kommt, sondern von Gott. Insofern als eine Handlung nur einmal vergolten wird, darf bei Laktanz die Vergeltung nicht vom Empfänger kommen, weil dann die – seiner Darstellung nach viel größere – Belohnung durch Gott ausbleibt (inst. 6,12,7). Damit erweist der Gebende die Wohltat nur scheinbar seinem Mitmenschen, in Wirklichkeit aber Gott – und wird von diesem auch entlohnt. Der Blickwinkel des Empfängers wird von Laktanz kaum eingenommen (s.o. die Anmerkungen zur Sprecherperspektive); implizit ist jedoch zu vermuten, dass auch er beständig auf Gott bezogen ist und sich also ebenfalls Gott erkenntlich zeigt für das ihm Zugedachte.773 Die wahre Beziehungsstiftung findet also statt zwischen Gott und den Menschen und – dies ist aus dem Text zu schließen – geht von Gott aus.

773 Alle Menschen – egal ob begütert oder mittellos – sind aufgefordert, Gott zu verehren (pietas). Daraus ergibt sich, wie gesehen, die Einsicht in die ratio hominis, wozu gehört, dass Menschen aufgrund der ihnen von Gott verliehenen Zuneigung zu anderen bereit sind, füreinander zu sorgen. Wer selbst die Mittel nicht hat, um in die aktive, wohltätige Position zu gelangen, weiß

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Gemäß der mauss’schen Theorie beginnt eine Gabebeziehung mit einer Eröffnungsgabe.774 Eine solche lässt sich auch der laktanzischen Darstellung entnehmen: Wie sich etwa in inst. 6,10,3 zeigt, ist der Mensch das einzige Wesen, das über die Fähigkeit verfügt, Gott zu erkennen. Das heißt, dem Menschen ist die Anlage zur Weisheit gegeben; sie findet jedoch erst dann ihre Verwirklichung, wenn das caeleste beneficium der Offenbarung angenommen wird (inst. 5,7,2).775 Diese Überlegung ist zentral und wird bereits ganz am Anfang des Werkes explizit formuliert. Der Mensch kann Gott nicht aus eigener Kraft finden; dies verdeutlicht Laktanz gleich im Prooem des ersten Buches, woraus aufgrund der Prägnanz der Formulierungen an dieser Stelle zitiert werden soll: veritas […] ingenio ac propriis sensibus non potest comprehendi (inst. 1,1,5);776 Gott ist derjenige, der den Menschen die Wahrheit erkennen lässt, der notionem veritatis munus summ fecit (inst. 1,1,6). Die Eröffnungsgabe besteht also in der spezifisch menschlichen Disposition, in der Vernunft, die zur Bejahung der göttlichen Offenbarung befähigt. Munus bezeichnet, wie oben gesehen, ein Geschenk, das zugleich eine Verpflichtung mit sich zieht – mit der Bejahung der Offenbarung und damit der Verwirklichung seiner eigenen Anlage (zur sapientia) geht der Mensch eine com-munitas mit Gott ein und ist verpflichtet, eine Gegengabe zu leisten. Diese Gegengabe besteht nun – wie bei Laktanz dargestellt – in iustitia, welche ihren Ausdruck findet in pietas (inst. 5)/religio (inst. 6) und aequitas (inst. 5)/beneficentia (sowie den Parallelbegriffen; inst. 6). Dafür zeigt Gott sich wiederum erkenntlich, indem er die letztlich ihm erwiesenen opera iustitiae (s.o. inst. 6,10,1: quod homini tribueris, deo tribuitur) mit dem Lohn der Unsterblichkeit vergilt. Wie in epit. 64 und, weniger prägnant, in inst. 6,25,8 deutlich wird, folgt darauf nochmals eine Vergeltungsgabe vonseiten des Menschen, indem dieser auch jenseitig in Gottes Dienst tritt.777 Zwischen dem gottgefälligen irdischen Leben und den praemia aeterna ergibt sich eine zeitliche Differenz; die Belohnung bleibt zunächst eine Verheißung, ein Versprechen. Genau dieser Zeitabschnitt zwischen Gabe und Vergeltung festigt nach Mauss die Bindung

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doch zumindest darum, dass die ihm hilfreiche Haltung der anderen sich aufgrund des göttlichen Schöpfungsplanes ergibt; also ist er Gott dankbar für die Unterstützung, die er erfährt. Ferner ist der Verweis aus inst. 5,5–8 mitzudenken, dass alle irdischen Güter als göttliche beneficia zum Wohle aller Menschen zu verstehen sind, deren Verwaltung den Begüterten obliegt. Auch hier ist der Dank für alles Erhaltene wieder an Gott zu richten, denn er ist es, der die Güter bereitgestellt hat. S.o. Anm. 67 Im Römerbrief des Paulus (8,23) wird der Geist Gottes als aparche bezeichnet, als eine Gabe also, die am Anfang steht. „Die Wahrheit […] kann mit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit nicht erfasst werden.“ Vgl. auch inst. 7,9,1: deus ab homine videri non potest. Vgl. oben S. 229. Der Beziehung Gott-Mensch wohnt ein klares hierarchisches Gefälle inne; das allen anderen vorgängige caeleste beneficium der Offenbarung kann der Mensch niemals gleichartig vergelten; mit seiner dankbaren Verehrung Gottes durch pietas und aequitas bleibt er in der nachrangigen, untergeordneten Position; Ebensolches gilt für die darauffolgenden praemia aeterna – auch hier ist der Mensch nicht zu gleichartiger Vergeltung imstande und schenkt also sich selbst mit ewigem Dienst.

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der Partner zueinander, anders jedoch, als dies für Laktanz zu verstehen ist: Wie Därmann in ihrer Zusammenfassung der mauss’schen Theorie ausführt, stiftet jede Gabehandlung zunächst Asymmetrie, indem sie den Gebenden in die superiore Position bringt.778 In der Beziehung zwischen Gott und Mensch bleibt jedoch letzterer dauerhaft in der inferioren Position, die sich durch die Größe der vorgängigen, göttlichen Eröffnungsgabe ergibt, welche er beständig aufzuwiegen bemüht ist.779 Er hat die Aufgabe, sich gemäß seines von Gott vorgesehenen Wesens als animal sociale zu verhalten und in dieser Befolgung seiner eigenen Bestimmung gottgefällig zu handeln. Auf die praemia aeterna, die den gottgefällig Lebenden erwarten, wird im fünften und sechsten Buch der Divinae institutiones, wie gesehen, vielfach hingewiesen. Das siebte und letzte Buch ist deren Beschreibung nochmals explizit gewidmet – sodass das Werk gleichsam in den jenseitigen Verheißungen gipfelt. In diesem Sinne macht Laktanz zu Beginn des siebten Buches deutlich, sein gesamtes Lehrgebäude mit Blick auf diesen himmlischen Lohn errichtet zu haben.780 Laktanz wiederholt den Gedanken, dass jede Ermahnung zur Tugend sinnlos sei, wenn kein Lohn dafür in Aussicht gestellt würde; es sei nicht denkbar, so große Mühen umsonst auf sich zu nehmen (7,1,4).781 An diesem zu erwartenden jenseitigen Lohn lasse sich das Handeln ausrichten, dafür seien diesseitige Entbehrungen gern zu ertragen (inst. 7,1,5; 7,11,3f.; zum zwangsläufigen Ineinandergreifen diesseitiger Mühsal und jenseitiger Entlohnung s.o. inst. 6,4,11–16). Der Mensch sei zur Verehrung Gottes geboren und, wenn er sich bewähre, mit der Unsterblichkeit zu beschenken (inst. 7,13,1).782 In dieser beständigen Ausrichtung auf das eigene Heil liegt die letztlich eigennützige Motivation von beneficia, die mit deren unmittelbar gemeinnütziger Wirkung einhergeht. Im siebten Buch der Divinae institutiones erweist sich Laktanz deutlich als Vertreter des Chiliasmus (inst. 7,14); für ihn ist das Ende der Zeit nah und also das

778 Därmann 2010, 25. 779 Diese dauerhafte Verpflichtung zur beneficentia erinnert an das bei Cicero greifbare Bemühen jedes Einzelnen, in seinem Handeln die vorgängigen beneficia der patria aufzuwiegen. 780 Er verwendet das Bild eines Hauses, das – erbaut auf einem festen Fundament – totum paene usque ad summa erbaut worden sei (inst. 7,1,1). Dazu wiederholt er Schlagworte der ersten sechs Bücher. Was nun fehle, sei das Dach, sine quo tamen priora opera et inutilia sunt et ingrata (inst. 7,1,2). 781 Hier zeigt sich nochmals, dass einseitiges Handeln für Laktanz undenkbar ist. 782 In diesen Überlegungen wird wiederum der laktanzische Dualismus greifbar. In inst. 7,5,15 wiederholt Laktanz den Verweis auf die körperliche Schwäche des Menschen aus inst. 6,10,3. Anders als dort liegt hier jedoch der Schwerpunkt darauf, dass diese körperliche Schwäche als Prüfstein für die Tugend anzusehen sei: Der Mensch müsse sich entscheiden zwischen seinem körperlichen und seelischen Leben. Der Mensch sei ein Zwischenwesen zwischen Leib und Seele (inst. 7,5,27); die virtus sei auf die Seele bezogen und damit unsterblich; deswegen müsse die Belohnung für virtus-Handeln auch unsterblich sein.

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tausendjährige goldene Reich fast gekommen,783 in dem die iusti zum ersten Mal auferstehen (und die dereinst gottgefällig Lebenden nicht sterben; inst. 7,24f.);784 die zweite, ewige Auferstehung folgt, wie er ausführt, nach dem jüngsten Gericht (inst. 7,26). In diesen eschatologischen Ausführungen wird greifbar, welche Zukunft den Gottesfürchtigen erwartet, und so schließt das Buch (und damit das gesamte Werk!) in inst. 7,27 mit der nochmaligen Ermunterung, den Weg mit Gott zu gehen (exhortemur omnes ad suscipiendam cum vera religione sapientiam; inst. 7,27,1),785 um den göttlichen Lohn zu erhalten (caelestis thesauri praemia; ebd.).786 Der Lohn, der den gottgefällig Lebenden erwartet, wird deutlich in den Vordergrund des Werkes gestellt. Im Hinblick auf die Frage nach der Beziehungsstiftung, welche hier untersucht wird, scheint die eigene Beziehung zu Gott maßgeblich zu sein: sowohl für den Gebenden, der mit jedem beneficium seine Bindung an Gott festigt, als auch – das ist allerdings nur implizit zu erschließen – für den Empfänger, der mit seiner dankbaren Verehrung Gottes Ebensolches tut. Indem das beneficium zugleich Wohltäter und Empfänger an Gott bindet, wird, wie sich hiervon ausgehend weiter denken lässt (ohne dass Laktanz dies allerdings formuliert!), tatsächlich eine Gemeinschaft mit Gott gestärkt, nicht nur eine Verbindung zweier „Partner“, denn über die Gabe eines Menschen an mindestens einen anderen wird die Beziehung Gottes zu mindestens zwei Menschen gestärkt. Der Wohltäter kann durch beneficia an eine große Anzahl von Empfängern bewirken, dass viele Menschen durch ihre Dankbarkeit gegenüber Gott ihre Bindung an ihn bejahen; ein

783 Die Berechnung findet sich in inst. 7,25,5. Für Laktanz dauert es zum Zeitpunkt der Abfassung seines Werkes noch höchstens 200 Jahre bis zur Einrichtung der goldenen Zeit. Interessanterweise streitet Laktanz in inst. 7,24,9 ab, dass es in der Vergangenheit bereits ein goldenes Zeitalter gegeben haben könne; für ihn muss dieses ein zukünftiges Reich sein. Diese Aussage widerspricht inst. 5,5, wo Laktanz das goldene Zeitalter als historische Tatsache behandelt. Diesen Widerspruch beobachtet auch Freund 2009, 553f. 784 Die hier beschriebene goldene Zeit unterscheidet sich von der species illius aurei temporis aus inst. 5,7,2 dadurch, dass das Böse (in Gestalt des Polytheismus) verschwindet. Die Beschreibung des goldenen Zeitalters in inst. 7,24 ähnelt jener in inst. 5,5; es ist von Fruchtbarkeit der Natur, Überfluss und Frieden die Rede (versinnbildlicht im Tierfrieden von Löwe und Kalb sowie Wolf und Lamm etc.; vgl. Jes 11,6–8; Freund 2009, 557); in inst. 7,24,15 heißt es, die Menschen regierten in dieser Zeit gleichwertig mit Gott (regnabunt cum deo pariter). 785 Das Kapitel inst. 7,27 stellt den Epilog des Werkes dar, wie sich in inst. 7,27,1 zeigt, wo Laktanz beginnt: Quoniam decursis propositi operis septem spatiis ad metam pervecti sumus. Das Ende des Werkes ist erreicht, jetzt folgt ein Fazit. In diesem Sinne auch Freund 2009, 607f., der überdies nachweist, dass Laktanz in diesem Fazit „gedrängt Kerngedanken des Gesamtwerkes“ wiederhole, insbesondere aus dem sechsten Buch. 786 Im letzten Satz des Werkes heißt es ganz ähnlich: Man solle gerecht leben, ut […] praemium virtutis quod ipse promisit a domino consequamur (inst. 7,27,16). Nochmals werden hier diesseitige Entbehrung und jenseitiger Lohn gegeneinander aufgewogen; letzterer erscheint wiederum als größtmögliche Belohnung diesseitiger Mühsal (inst. 7,27,2). Die Aufforderung, Diesseitiges zugunsten der göttlichen virtus zu verachten, zieht sich durch den gesamten Abschnitt; das Ringen um virtus wird umschrieben als Kriegsdienst (infatigabilem militiam deo militemus; inst. 7,27,16; hierzu Freund 2009, 620).

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großzügiger Wohltäter kann also dazu beitragen, dass die communitas zwischen Gott und den Menschen wächst. Vor diesem Hintergrund wäre der zuvor zugespitzt ausgedrückte Befund der Eigennützigkeit der beneficentia zu relativieren und zu folgern, dass nicht allein die Beziehung Gott-Mensch gefestigt wird, sondern die Gemeinschaft zwischen Gott und einer Vielzahl von Menschen. Laktanz selbst formuliert diese Überlegung jedoch nicht; bei ihm steht in der Tat das eigene Heil im Vordergrund; von der jenseitigen Gemeinschaft ist nicht die Rede. Der Bezugspunkt allen Verhaltens ist für Laktanz die göttliche Jenseitsverheißung, die jedem Einzelnen vor Augen steht. Dennoch greift es zu kurz, die Divinae institutiones allein als eschatologische Schrift zu verstehen. Letztes Ziel des Handelns ist gewiss stets die Unsterblichkeit, doch dazu braucht es die Bewährung durch opera iustitiae in der diesseitigen Gemeinschaft, auf deren Gestalt die beständigen beneficia festigend einwirken.787 Eschatologie und Ethik greifen ineinander. Wie gesehen, lässt sich das sechste Buch der Divinae institutiones auch verstehen als Plädoyer an Leser mit einem ähnlichen sozialen sowie finanziellen Hintergrund wie Cicero, sich wohltätig in die Gemeinschaft einzubringen: Gerade indem immer wieder prononciert auf den eigenen Lohn solchen Handelns hingewiesen ist, wird beneficentia ausgesprochen attraktiv gemacht. Diese Wirkung dürfte mit dem siebten Buch der Divinae institutiones nochmals verstärkt werden, das explizit den praemia aeterna gewidmet ist und ausführlich erweist, wie erstrebenswert diese praemia sind (insbesondere auch im Kontrast zu dem bösen Ende, das diejenigen erwartet, die sich nicht für ein Leben mit Gott entscheiden). Alles Handeln mit Blick auf diese praemia findet, wie gesagt, statt im Rahmen einer diesseitigen communitas. Nun ist zu fragen, welchen Wert diese für Laktanz hat, der doch so regelmäßig auf die Verheißungen des Jenseits verweist, im fünften Buch aber andererseits die aurea aetas als historische Verwirklichung gedeihlichen Miteinanders einführt und das Christentum als bereits gegenwärtige Rückkehr der goldenen Zeit beschreibt. Hier fällt eine eindeutige Antwort schwer. Dass die diesseitige communitas für Laktanz die römische ist, zeigt sich im Text immer wieder deutlich: Die mit der Abkehr vom Urmonotheismus entartete Gemeinschaft, von der in inst. 5 die Rede ist, trägt deutlich die Züge Roms (etwa inst. 5,6, wo Laktanz römische Insignien nennt und als Manifestationen gemeinschaftsschädlicher inaequalitas tadelt), und auch im sechsten Buch, wo Laktanz sich beständig mit Ciceros

787 Gabetheoretisch lässt sich dieser Befund wie folgt beschreiben: Indem der Einzelne (der über entsprechende Mittel verfügt) mit jedem erwiesenen beneficium in der Gunst Gottes steigt, ist er (mit Blick auf genau diese Gunst) motiviert, dauerhaft zum Wohle bedürftiger Mitmenschen zu handeln. Die Empfänger wiederum (deren Rolle allerdings, wie gesagt, stets nur implizit zu erschließen ist) können beneficia annehmen, ohne sie dem Wohltäter zu vergelten, weil sie ihre dankbare Vergeltung in der pietas gegenüber Gott zum Ausdruck bringen. Ohne dass die Handlungen von Gebendem und Empfänger direkt aufeinander bezogen wären, können sie doch fortgesetzt stattfinden. Wiederum implizit ist zu folgern: Über Gott als eigentlichen Adressaten bzw. „Partner“ wird die Gemeinschaft der Menschen gefestigt.

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De officiis auseinandersetzt und damit implizit Leser nach Art Ciceros anspricht, lässt sich gut greifen, dass er als römischer Bürger im römischen Kontext schreibt und damit nicht die Wirkung der virtus auf eine beliebige communitas skizziert. In den häufigen Angriffen auf „die Philosophie“ (im dritten Buch, das dem Thema gewidmet ist, aber auch, wie gesehen, in den Büchern 5 und 6) sind im allgemeinen Rekurse auf Römisches zu erkennen, denn Laktanz bezieht sich vorrangig auf deren lateinische Vertreter, die bald explizit genannt werden, bald implizit zu erschließen sind. Daneben finden sich Zitate römischer Dichter; der gedankliche Kontext der laktanzischen Argumentation ist immer wieder als römisch zu bestimmen.788 Andere Stellen, an denen die Bezugnahme auf Römisches deutlich wird, sind ferner die kritischen Abschnitte (nicht nur) des fünften und sechsten Buches, wo die Christenverfolger scharf angegriffen werden. Dort, wo Laktanz eine zwangsläufige Abfolge diesseitiger Mühsal und jenseitigen Heils skizziert (etwa inst. 6,4), liegt den Ausführungen ein solches pessimistisches Rom-Bild zugrunde, das – geprägt von der Herrschaft der Christenverfolger – den Christen feindlich gegenübertritt. Ein solches Reich kann für die Christen nur der diesseitigen Bewährung dienen und wird erträglich durch die Hoffnung auf eigenes jenseitiges Heil.789 Insgesamt finden sich in den Divinae institutiones jedoch wenige dezidiert romkritische Äußerungen.790 Heck sieht eine solche in der Beschreibung vom Untergang Roms im Vorfeld des tausendjährigen Reiches (inst. 7,15,11f.). Hierin stimme ich nicht mit ihm überein, immerhin merkt Laktanz an, dieser Gedanke schaudere ihn (horret animus dicere; ebd.).791 Das Szenario, das er entwirft, beschränkt sich – durchaus anders als später bei Augustin792 – auf eine Skizze der Tatsachen;793 Rom wird eingeordnet in das beständige Werden und Vergehen großer Reiche (ab inst. 7,15,12).794 Die Berechnungen des Zeitpunktes, zum dem das Weltende zu erwarten ist, sind ebenfalls auf Rom bezogen, und auch dies scheint mir ein Beleg dafür zu 788 Dies stellt u.a. auch Ocker 1986, 359, heraus. 789 Loi, 1965, 107, bezeichnet inst. 5 als romfeindlichstes Buch des Werkes. 790 Hier stimme ich mit Heck 1978, 182 Anm. 35, überein. In diesem Sinne auch Inglebert 1996, 140: „Lactance acceptait la société romaine, l’organisation politique impériale, et il assuma pleinement la culture classique qu’il voulut mettre au service du christianisme. S’il critique certains aspects du pouvoir ou de l’histoire de Rome, c’est essentiellement dans le cadre d’une polémique antipaïenne, mais cela ne l’amène pas à un rejet des valeurs traditionelles romaines.“ Anders Loi 1965, passim; Hauptthese 65–67; ferner 84: „Dopo di lui [sc. Lattanzio], soltanto la polemica agostiniana del De civitate Dei raggiungerà toni così aspri e taglienti. “ 791 Heck 1978, 182 Anm. 35. Ebenso Loi 1965, 78: „Lattanzio attacca apertamente il mito della ‚aeternitas populi romani‘.“ 792 Aug. civ. 19,4; hierzu Edwards 1999, 210, der Augustin beschreibt als „shedding few tears for the fall of Rome.“ 793 In diesem Sinne Nicholson 1999, 16: Roms Untergang werde als Tatsache beschrieben, „it is anticipated with no pleasure.“ 794 Exemplarisch nennt Laktanz Ägypter, Perser, Griechen, Assyrer und Karthager. Die Phasen des römischen Reiches werden verglichen mit den Lebensaltern eines Menschen; zum Lebensaltervergleich Freund 2009, 424–436.

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sein, dass sich in der Beschreibung vom Untergang Roms keine romkritische Einstellung greifen lässt. Laktanz hält fest, dass der Weltuntergang zwar unvermeidlich eintreten werde (weil davon die Sibyllinischen Orakel kündeten; inst. 7,25,7), aber nicht zu befürchten stehe (nihil istius videtur esse metuendum; inst. 7,25,6), solange Rom unversehrt sei: Illa, illa est civitas, quae adhuc sustentat omnia, precandusque nobis et adorandus deus caeli, si tantum statuta eius et placita differri possunt, ne citius quam putamus tyrannus ille abominabilis veniat, qui tantum facinus moliatur ac lumen illud effodiat, cuius interitu mundus ipse lapsurus est (inst. 7,25,8).795

Rom erscheint als bewahrenswert, um ein vorzeitiges Ende der Welt abzuwenden.796 Weitere direkte Bezugnahmen auf Rom finden sich in den Kaiseranreden an Constantin, die freilich nur in der zweiten Fassung des Werkes enthalten sind. Inwieweit die Ausführungen in den Anreden ernst zu nehmen bzw. als eher formelhafte Panegyrik aufzufassen sind, ließe sich kontrovers diskutieren und wäre gesondert, möglicherweise im direkten Vergleich mit den Panegyrici Latini, zu untersuchen. Ich schlage im Folgenden eine Lesart vor, die dem Gehalt der Kaiseranreden durchaus Gewicht beimisst. Deren letzte formuliert Laktanz ab inst. 7,26,11, am Ende des Werkes also,797 nach der Skizze des Tausendjährigen Reiches und des Jüngsten Gerichtes, unmittelbar vor der finalen adhortatio an alle zu einem Leben mit Gott. Diese letzte Hinwendung an Constantin verleiht den Divinae institutiones kurz vor deren Ende nochmals panegyrischen Charakter (nochmals deshalb, weil die erste Kaiseranrede, die dedicatio des Werkes, ebenso panegyrisch gehalten ist): Nachdem eben noch die Aggressivität der Christengegner beschrieben wurde, preist Laktanz nun – recht unvermittelt798 – Constantin als denjenigen, den Gott als denjenigen aufgerufen habe, der die Wohnstatt der Gerechtigkeit wiederherstellen und das Menschengeschlecht beschützen solle (deus summus ad restituendam iustitiae domicilium et

795 „Das, das ist die Stadt, die noch immer alles aufrecht erhält, und wir müssen den Gott des Himmels bitten und zu ihm beten, sofern seine Festsetzungen und Beschlüsse überhaupt aufgeschoben werden können, dass nicht schneller, als wir glauben, jener verabscheuenswerte Tyrann komme, der eine so gewaltige Untat ins Werk setzt und jenes Augenlicht aussticht, durch dessen Untergang die Welt selbst zusammenstürzen wird.“ (Übersetzung hier wie auch in den anderen Passagen aus dem siebten Buch: Freund 2009) 796 Den Gerechten erwartet zwar letztlich das Paradies, zunächst bleibt er von der Endzeitkatastrophe aber nicht verschont. Hierzu Freund 2009, 572: „Diese Position ermöglicht es, christliche Endzeiterwartung und Loyalität zum alternativlos gedachten römischen Staat zu vereinbaren.“ Ferner Nicholson 1999, 15–19. Zum tyrannus aus inst. 7,25,8 Freund 2009, 578. 797 Diese Anrede stellt neben der in inst. 1,1,13–16 die zweite lange Hinwendung an Constantin dar. In den übrigen fünf Büchern finden sich nur kurze Zueignungen (jeweils zu Beginn eines neuen Buches). Zur Position dieser letzten Anrede im Text Freund 2009, 592. 798 Dieser Kontrast dürfte auf verschiedene Abfassungszeitpunkte hinweisen: „Offenbar setzt die Kaiseranrede, die vom Ende der Verfolgungen ausgeht […], einen anderen zeitlichen Rahmen voraus als die Umgebung, die von andauernder Repression […] und Bedrohung […] der Christen spricht.“ (Freund 2009, 593).

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ad tutelam generis humani excitavit; inst. 7,26,11);799 unter seiner Herrschaft würde den cultores dei endlich zu ihrem Recht verholfen (ebd.). Constantin sei durch göttliche providentia zum Gipfel der Macht gelangt (inst. 7,26,12),800 um die Fehler der früheren Herrscher zu korrigieren, die mali aus der res publica zu entfernen und auf diese Weise für das Wohl der Menschen zu sorgen (ebd.). Unter Constantin erfahren für Laktanz die Christengegner ihre gerechte Strafe, und es zeigt sich, was wahre Größe sei (ib). Constantin wird als derjenige dargestellt, der Gott auf Erden vertritt und verteidigt (inst. 7,26,15).801 Er wird als vorbildhaft im Hinblick auf virtus und sanctitas bezeichnet, sodass er dem Ruhm früherer, ausgezeichneter Herrscher, nicht nur erreiche, sondern überrage (ebd.).802 Denn die Früheren hätten aufgrund ihrer guten Wesensart den Anschein von Gerechten gehabt (ebd.), doch sei ihnen eines, das Entscheidende freilich, nicht zuteil geworden: die Einsicht, dass Gott die Welt lenke (inst. 7,26,16).803 Bei Constantin finde sich nun eine Kombination aus guter Anlage (morum ingenita sanctitas) und der Gotteserkenntnis (dei agnitio; inst. 7,26,17), sodass er allein in seinem Handeln wirkliche opera iustitiae vollbringen könne. Weiter heißt es: Erat igitur congruens, ut in formando generis humani statu te auctore ac ministro divinitas uteretur (ebd.).804 Diese Überlegung ist bemerkenswert: Mit Freund bin ich der Überzeugung, dass die Formulierung des generis humani status einen konkreten historischen Zustand innerhalb der Menschheitsgeschichte bezeichnet, nämlich den Zustand, der unter Constantins Herrschaft beschrieben wird. Dieser erscheint als eine Vorwegnahme des Tausendjährigen Reiches, in dem die goldene Zeit wiederkehrt: Die Christen werden geschützt in

799 Freund 2009, 599 versteht darunter aufgrund der Ähnlichkeit der Formulierung zu mort. pers. 3,4 die institutionelle Wiederherstellung der Kirche; die Lesart, die ich bevorzuge, nämlich die „Wiedererrichtung einer Wohnstatt der Gerechtigkeit“ (ebd. 600) sei jedoch „nicht ganz auszuschließen“ (ebd.). 800 Freund 2009, 601f.: Mit dem Verweis auf die providentia sei ein wichtiges Element constantinischer Selbstdarstellung aufgegriffen. 801 Auch in der dedicatio wird Constantin als von Gott eingesetzter Herrscher bezeichnet, der die iustitia zurückgebracht habe; auch dort ist von einer Bestrafung der Christengegner die Rede. In der ersten Anrede wird Constantins Herrschaft zusätzlich noch in eine historische Abfolge gestellt; es heißt, er werde sie so an seine Kinder weitergeben, wie er sie selbst von seinem Vater übernommen habe (Constantius, Constantins Vater, wird von Laktanz als einziger der Tetrarchen als christenfreundlich dargestellt). 802 Gemeint sind nach Freund 2009, 604 (im Verweis auf mort. pers. 3,4f.) „die Herrscher zwischen den Verfolgern Domitian und Decius, unter denen das römische Staatswesen gedeiht und das Christentum sich verbreiten kann.“ 803 Auf dieser Bedingung der Gotteserkenntnis fußt, wie gesehen, die gesamte laktanzische Gerechtigkeitskonzeption, wie er sieim fünften und sechsten Buch der Divinae institutiones entwickelt. 804 „Es war also nur folgerichtig, dass die Gottheit bei der Gestaltung der Menschheitslage dich als Anführer und Diener einsetzte.“

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ihrem Bemühen, opera iustitiae zu vollbringen, die wahre pietas triumphiert; die mali werden bestraft.805 Anschließend führt Laktanz aus: Cui [sc. divinitati] nos cottidianis precibus supplicamus, ut te in primis, quem rerum custodem voluit esse, custodiat, deinde inspiret tibi voluntatem, qua semper in amore divini nominis perseveres, quod est omnibus salutare et tibi ad felicitatem, ceteris ad quietem (ebd.).806

Dieser Satz bildet das Ende der Kaiseranrede. Laktanz spricht in der ersten Person Plural, sodass das Gebet, das er im Folgenden vorträgt, nicht nur seines ist, sondern – wirkkräftiger – auch das einer nicht explizit bestimmten Gruppe, worunter aber die Mitchristen zu fassen sein dürften, denen die Herrschaft Constantins ja zum Wohl gereicht. Gebetet wird für das Wohl Constantins und zugleich dafür, dass er weiter im Glauben verankert bleibe – womit im Gebet auch der Wunsch impliziert ist, dass er sich weiter als der gute Herrscher bewähren möge, als der er von Laktanz (und, nach seiner Aussage, von den übrigen Christen) wahrgenommen wird. Constantin erscheint als rerum custos;807 nach dem Vorhergehenden lässt sich schließen, dass sein Wächteramt sich auf das bezieht, wofür ihn Gott eingesetzt hat: nämlich den Schutz der Christen im römischen Reich. Unter ihm können Christen ungehindert opera iustitiae vollbringen und unangefochten leben. In diesem Sinne ist wohl auch die Formulierung zu verstehen, nach der Constantins Herrschaft als omnibus salutare gelobt und damit explizit als gemeinwohldienlich808 und somit gemeinnützig erwiesen wird: Gemeinnützig ist Constantins Herrschaft insofern, als die Christengegner bestraft und aus der Gemeinschaft entfernt sind, sodass sich unmittelbar diesseitig die gottgewollte Menschengemeinschaft wiederhergestellt findet, deren Bild Laktanz in inst. 5,5 zeichnet und die durch den Abfall vom Monotheismus zerrissen wurde (inst. 5,5,13). Was Constantin nach diesem euphorischen Lob bringt, ist nicht weniger als die aurea aetas!809 Hilfsbereitschaft macht für Laktanz den Menschen aus (vgl. inst. 6,10,3: pietatis affectus), der bei ihm als animal sociale bezeichnet wird (inst. 6,10,10). Die 805 Freund 2009, 606: „Die konstantinische Epoche erscheint somit als eine von Gott gewollte Konsolidierungsphase. Es geschieht doch noch einmal, was Laktanz 14,16 [gemeint ist inst. 7,14,16, Anm. AJ] erst für die Zeit nach dem Ende des sechsten Milleniums ankündigt.“ 806 „Zu ihr [der Gottheit, AJ] flehen wir in unseren täglichen Gebeten, dass sie in erster Linie dich, der nach ihrem Willen der Wächter über alle Dinge ist, behüte, dann, dass sie dich mit dem Willen erfülle, durch den du immer in der Liebe zum göttlichen Namen verharrest, denn das ist für alle heilsam und verschafft dir Glück, den Übrigen Frieden.“ 807 Laktanz verwendet hier zweimal denselben Wortstamm: Constantin ist custos, Gott wiederum bewacht ihn (custodiat). 808 Die Formulierung ist eine adjektivische Variation der – bei paganen Autoren – gängigen Wendung der salus publica. 809 An die Stelle der zwangsläufigen Abfolge von diesseitiger Bewährung vs. jenseitiger Belohnung tritt die Abfolge diesseitiger und jenseitiger Harmonie. Der Dualismus zwischen Gut und Böse scheint damit weitgehend überwunden, doch – wie Laktanz in inst. 6,13 formuliert – die Leiblichkeit des Menschen (und damit: seine Triebhaftigkeit) ist Bewährungsprobe genug: Solange der Mensch in seinem Körper gefangen ist, muss die virtus sich in jeder Handlung neu bewähren. Zur neuen aurea aetas De Palma Digeser 2000, 62f.

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ratio hominis geht jedoch, wie wir insbesondere in der Besprechung des sechsten Buches gesehen haben, über seine diesseitige Bestimmung hinaus, und auch in dieser Hinsicht erweist sich, wie sich weiter folgern lässt, die Herrschaft Constantins als omnibus salutare: In inst. 7,26,11 heißt es, diejenigen, die opera iustitiae vollbrächten, würden nicht länger angegriffen. Damit wird gottgefälliges Handeln zu allgemein anerkanntem Verhalten; es trifft nicht auf Widerstand, sondern wird prinzipiell von allen bejaht (da die Gegner aus der communitas entfernt sind). Wenn nun alle zumindest bemüht sind, gottgefällig zu leben, so lässt sich weiterdenken, treten alle zugleich in Beziehung zu Gott, sorgen für ihr eigenes jenseitiges Heil (omnibus salutare auf dieser Ebene also!) und – wie oben skizziert – auch für das der Nutznießer eigener Handlungen. Constantin selbst gereicht sein eigenes Handeln, wie Laktanz ausführt, ad felicitatem – auch er ist damit letztlich auf Gott bezogen. Constantins Herrschaft erweist sich – nach dieser letzten Kaiseranrede – als doppelt gemeinnützig: für die diesseitige und die jenseitige Gemeinschaft. Dabei ist das Imperium Romanum in der Gestalt, die es nach Laktanzens Panegyrik annimmt, ein diesseitiges Reich Gottes, in welchem das jenseitige Reich bereits weitgehend vorweggenommen ist.810 Zur Beschreibung des diesseitigen Gemeinwesens sind ergänzend (bisher übersprungene) Überlegungen aus inst. 6 einzubeziehen, in denen Laktanz sich gegen Patriotismus ausspricht. Die entsprechenden Ausführungen finden sich ab inst. 6,6,19, im Kontext der Einführung der dei lex, die – anders als positives Recht – universell gedacht ist. Laktanz tadelt die Überzeugung, es gehöre zur virtus, den Nutzen des Vaterlandes zu verteidigen; es verhalte sich umgekehrt: indem man der eigenen patria zu ihrem Recht verhelfe, schade man zwangsläufig einer anderen, und tugendhaft könne solches Verhalten keinesfalls sein (ebd.).811 Durch Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gemeinwesen hebe man die Menschengemeinschaft auf (inst. 6,6,20). In inst. 6,9 wird diese Überlegung fortgesetzt, dort findet sich eine kritische Einschätzung des römischen Weges zur Weltherrschaft, der stets zulasten Außenstehender gegangen sei.812 Was Laktanz ab inst. 6,6 vertritt, ist ein kosmopolitischer Ansatz, nach dem es kein Gegeneinander verschiedener communitates gibt.813

810 Weitgehend deshalb, weil der Mensch noch im Körper gefangen ist. Siehe vorige Anmerkung. 811 Er befindet sich hier in der Auseinandersetzung mit dem in inst. 6,5,3 zitierten Luciliusfragment, das eine Definition der Tugend zum Inhalt hat und das gleichsam die Negativfolie für die laktanzische Bestimmung der virtus darstellt. Zugleich bezieht sich Laktanz wiederum auf Cic. off., wie sich ab inst. 6,6,21 zeigt. 812 Inst. 6,9,4 lässt sich also einsortieren in die – insgesamt kurze – Reihe der romkritischen Passagen. Auch hier befindet sich Laktanz im übrigen in Auseinandersetzung mit Cic. off., hier konkret 1,38, wo Cicero die Überzeugung des bellum iustum vertritt. 813 Hierzu auch De Palma Digeser 2000, 59. Für sie ist Laktanz der erste Autor, der „clearly postulated a Christian empire whose foundation was based on a new understanding of natural law.“ Ähnlich Loi 1965, 85, der zwar bei Laktanz eine grundsätzlich romfeindliche Einstellung diagnostiziert, diese aber in den Kaiseranreden ersetzt sieht durch „una visione nuova e feconda

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Verbindet man diesen kosmopolitischen Anspruch nun mit inst. 7,25,8, wo Rom als letzte Bastion vor dem Weltuntergang erscheint, sowie dem Lobpreis der constantinischen Herrschaft, so ist implizit zu vermuten, dass diese Kosmopolis mit dem römischen Reich in eines fällt.814 Dabei ist dessen Struktur allerdings durchaus neuartig gedacht, denn was für Laktanz offenbar nicht zählt, sind ethnische Zugehörigkeiten (vgl. inst. 6,6,20–24 sowie, früher schon, inst. 5,8,8, wo von einem christlichen populus die Rede ist) – worauf es hingegen ankommt, ist die Bejahung des christlichen Glaubens (insofern als die Christengegner und Verfechter von Götzenkulten profligati iacent; inst. 7,26,13).815 Die laktanzische Kosmopolis bezeichnet damit, so lässt sich erahnen, einen christlichen Weltstaat. Damit ist nun zu sagen, dass die Divinae institutiones zugleich eschatologisch und politisch zu verstehen sind; den letzten Dingen geht ein durch Constantin beherrschtes diesseitiges Gottesreich voraus.816 Mit der Hinwendung an Constantin verändert sich der Charakter des Werkes.817 Während in kritischer Auseinandersetzung mit der Politik der Tetrarchen der Ausweg aus der von Laktanz als krisenhaft empfundenen Situation darin bestand, auf

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dei rapporti Cristianità-Romanità: la conciliazione e la fusione dei due mondi nell’ideale visione di un impero romano-cristiano.“ Loi, der diesen Meinungsumschwung infrage stellt, zweifelt zunächst an der Autorschaft der Kaiserdedikationen (vgl. hierzu bereits Pichon, s.o.), schlägt letztlich aber – vor Heck – deren Spätdatierung vor (ebd. 99–103). In der ersten Fassung des Werkes konnte die Kosmopolis für Laktanz freilich nicht gut mit dem römischen Reich in eines fallen; eine solche Verbindung ist für ihn erst in der constantinischen Ära denkbar; die Abschnitte inst. 6,6–9 lassen sich somit erst vor dem Hintergrund der Kaiseranreden in der von mir vorgeschlagenen Weise deuten. De Palma Digeser 2000, 16 und 140, vertritt die Überzeugung, dass es nicht um den christlichen Glauben, sondern, weiter gefasst, um den Monotheismus der Gemeinschaftsmitglieder gehe. Mit der Diagnose einer – auch – politischen Ausrichtung des Werkes stehe ich nicht allein. Bereits Pichon schreibt im Jahr 1901 in seiner ausführlichen Monographie, dass Laktanz mit seinem Werk zur „réconciliation de l’Église et de l’Empire“ beigetragen habe (Pichon 1901, 454f. Er sieht die Wirksamkeit der laktanzischen adhortationes zur Tugend auf Constantin und dessen Entourage sowie die „classes dirigeantes, lettrées et aristocratiques, dont la conversion, encore inachevée et incertaine, était nécessaire à la victoire définitive de la religion nouvelle.“). Monat 1973, 33, stellt heraus, dass Laktanz zeige „qu’il faut être chrétien pour être un bon citoyen, et qu’on ne peut être un bon citoyen si l’on ne connaît pas la véritable justice, c’est-àdire si l’on n’est pas chrétien“. Damit ist in ähnlicher Weise wie in meiner Darstellung aus dem Werk gefolgert, dass das Christsein die Zugehörigkeit zum Imperium bedingt (nicht allein der unbestimmte Monotheismus, wie ihn De Palma Digeser – v. vorige Anmerkung – voraussetzt). Ebenso verbindet Ocker 1986, 350, Rom und das Christentum, indem er formuliert, dass Laktanz geglaubt habe „that Roman society was best served by Christian worship“; und führt ebd. aus, dass sich Laktanz gegen das System der Tetrarchie wende, indem er Argumente „for the social significance of Christian worship“ vorbringe. Ferner ebd. 356: „In short, a just society is impossible apart from Christian monotheism.“ Für Loi 1965,101f., stehen die Kaiseranreden im schroffen Widerspruch zum Rest des Werkes. Laktanz setzt in Constantin offenbar große Hoffnungen. Dennoch scheint mir das Werk nicht durchgängig eine Handreichung an ihn zu sein, wie dies v.a. De Palma Digeser und Hughson meinen (Hughson 2011, 194, bezeichnet die hier behandelten Bücher inst. 5 und 6 als missionarische adhortatio an ihn mit dem Ziel einer tiefgreifenden Transformation des römischen

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jenseitiger Vergeltung diesseitigen Leides zu hoffen,818 scheint in den Kaiseranreden, zumindest, wenn man deren Gehalt für bare Münze nimmt, die Krise überwunden zu sein und die diesseitige Existenz des Menschen einen anderen Wert zu bekommen.819 Mit dem Preis Constantins und der Hoffnung auf dessen Reich ist (nach der hier vorgeschlagenen Lesart) in den Divinae institutiones eine Vision greifbar, in der jenseitige und diesseitige Bestimmung des Menschen einander nahe kommen und die Zwangsläufigkeit von Mühsal vs. Entlohnung aufgehoben ist.820 Gesteht man den Kaiseranreden weniger Gewicht zu, ändert sich an der prinzipiellen Möglichkeit einer solchen Annäherung von diesseitiger und jenseitiger Bestimmung des Menschen nichts, denn diese wird auch – ohne einen Verweis auf Constantin – in der Skizze der aurea aetas ab inst. 5,5 zumindest angedeutet: In einem Gemeinwesen, dessen Mitglieder den wahren Gott verehren, gedeiht auch das alltägliche Miteinander, weil die Einsicht in dessen Regeln gegeben ist. In diesem Sinne sei abschließend Fisher zitiert, bei dem sich diese Überlegung prägnant zusammengefasst findet: „Thus, in sum, the Christian truth not only described with divine certainty an invisible celestial reality, thereby laying bare the secret meaning of terrestrial existence, but also through its enlightening force it could do what pagan wisdom had failed to do – transform the world into something entirely new and better – not the naively innocent mythical Golden Age, but rather an age keenly conscious of its historical and ontological uniqueness, conscious of the watchful eye of a threatening, promising God […]. The idea of a society based on Christian truth was only just emerging in Lactantius’ writings.“821

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Reiches; De Palma Digeser 2000, passim, argumentiert ganz ähnlich; Würdigung bei Walter 2006, 26f.). Das Werk lässt sich nicht auf Constantin als Angesprochenen beschränken: Wie besonders in der Besprechung des sechsten Buches gesehen, steht Laktanz auch immer wieder im vorgestellten Dialog mit Vertretern paganer Vorstellungen. De Palma Digeser 2000, ix:„Lactantius’s Divine Institutes reacted to a crisis in Roman religious politics with a sophisticated proposal for constitutional change.“ An dieser Stelle ist wieder die Abfassungszeit des Werkes zu berücksichtigen; wie gesagt, entstand die erste Fassung noch in der Krise; die Kaiseranreden wurden in die zweite Fassung nach deren Ende eingearbeitet. Der Preis Constantins nimmt im Gesamtwerk vergleichsweise wenig Raum ein. Die Widersprüche mögen der fehlenden Endredaktion der zweiten Ausgabe geschuldet sein, sind aber zugleich ein deutlicher Beleg dafür, dass das Verhältnis diesseitiger und jenseitiger Macht im Christentum – je nach historischem Kontext – sehr verschieden beurteilt wurde. Für eine Beurteilung der constantinischen Herrschaft aus historischer Sicht Girardet 2010, passim; im Eingangskapitel ebd. 4–9 findet sich eine kurze Diskussion des Forschungsstandes. Fisher 1982, 361f. Ähnlich Nicholson 1999, 19: „The framework of Lactantius’s universal history was Christian, but many of his judgments derived from a continued engagement with the history of Rome.“ Die möglichen politischen Implikationen der Divinae institutiones sind sowohl bei Fisher als auch bei Nicholson vorsichtig ausgedrückt – dies entspricht dem Textbefund, nach dem der Jenseitsbezug des Menschen stets vorrangig behandelt wird, daneben aber die diesseitige communitas doch auch Beachtung findet. Die Positionierung beider zueinander und v.a. der Wert der diesseitigen communitas ist im Christentum sehr verschieden bestimmt worden; siehe vorige Anmerkung.

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Es folgt abschließend noch eine Übersicht, welche Aussagen sich den behandelten Passagen im Hinblick auf die Stiftung von Beziehung bzw. Gemeinschaft entnehmen lassen. Ähnlich wie in der Veranschaulichung dieser Thematik bei Cicero und Seneca wird zugunsten einer systematischen Rückschau wiederum auf Stellenangaben verzichtet: beneficentia und Beziehungsstiftung

Ein beneficium wird nie vom Empfänger vergolten. Wenn es vom Empfänger vergolten wird, ist es keines mehr. Zwischen Wohltäter und Empfänger entsteht keine Beziehung. Die Vergeltung erfolgt allein durch Gott. Jedes beneficium stärkt also die Beziehung des Gebenden zu Gott (implicite: zugleich auch die des Empfängers zu Gott, weil er Gott für das Erhaltene dankt.).

Beziehung Gott-Mensch

Gott befähigt den Menschen, die Offenbarung anzunehmen (sapientia; Eröffnungsgabe). Der Mensch zeigt sich durch iustitia (pietas gegen Gott und beneficentia gegen die Mitmenschen) erkenntlich. Dafür wird er von Gott mit der Unsterblichkeit belohnt. (In der Unsterblichkeit tritt er in Gottes ewigen Dienst.)

Auswirkung der iustitia

Diesseits: Unterstützung Bedürftiger, Stärkung der menschengemäßen Gemeinschaft

Motivation der iustitia

Jenseits: eigenes Heil

beneficentia und communitas

Sehen sich die Christen Angriffen ausgesetzt (Vorherrschaft des Polytheismus), ergibt sich eine Gegensätzlichkeit diesseitiger Bewährung und jenseitigen Heils. Eine Annäherung von Diesseits und Jenseits wird möglich, wenn die christliche iustitia mit ihrer doppelten Gerichtetheit (pietas und beneficentia) sich unangefochten entfalten kann. Die beneficentia bleibt immer der pietas untergeordnet; menschliches Handeln ist stets ein Handeln an und für Gott. Gestärkt wird im Handeln also in jedem Fall die Beziehung zwischen Mensch und Gott.

ZUSAMMENFASSUNG Mit den Divinae institutiones bewegt sich Laktanz im Spannungsfeld der christlich verstandenen ratio hominis, die sich auf dessen diesseitige und jenseitige Existenz erstreckt. Während insbesondere in inst. 5,5–8 die diesseitige Bestimmung des Menschen im Vordergrund steht, verschiebt sich im sechsten Buch der Fokus hin zur Verheißung jenseitigen Fortlebens, das durch diesseitige opera iustitiae vorbereitet wird; das siebte Buch ist explizit der Eschatologie gewidmet. In inst. 5,5– 8 bezieht sich Laktanz auf die auch paganen Lesern vertraute Vorstellung eines

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goldenen Urzustandes, der als historische Tatsache behandelt wird und sich der laktanzischen Beschreibung nach durch den Glauben an Gott sowie einträchtiges Miteinander auszeichnet, welches in der Überzeugung gottgewollter Gleichheit aller Menschen wurzelt: Die Begüterten hätten sich selbst als Verwalter göttlicher Gaben gesehen und selbstverständlich Mittellose gleichberechtigt teilhaben lassen – hier entwirft Laktanz aus der Perspektive der Vermögenden das Bild einer Gemeinschaft, in der es zwar Reiche und Arme gibt, erstere aber, weil sie ihr Handeln an Gott ausrichten, ihre Güter zum Wohle aller einsetzen, sodass letztlich alle gleichermaßen im Überfluss leben können, wie es in inst. 5,5,8 heißt. Die Gemeinnützigkeit großzügiger Leistungen an andere ist in diesen Abschnitten gut greifbar. Mit der Abkehr vom Urmonotheismus zerfällt nach Laktanz die Urgemeinschaft; Götzen werden angebetet, äußere Hierarchien zwischen Arm und Reich zementiert; Habgier hält Einzug. Laktanz bezieht sich in seiner Darstellung klar auf das römische Reich – Roms entarteter, polytheistischer Zustand wird skizziert. Wie er ausführt, wird durch Jesus als Gottes Boten eine species illius aurei temporis zurückgebracht – allerdings nur den Christen, weil nur sie mit dem Glauben an den wahren Gott die Grundbedingung harmonischen Miteinanders erfüllen. Das Leben in einer durch Götzenkulte geprägten Gemeinschaft gestaltet sich für die Christen beschwerlich; die Grundannahme der wesensgemäßen Gleichheit der Menschen ist nicht mehr ohne weiteres auch äußerlich umsetzbar, weil auch die Christen, wie sich den Überlegungen in inst. 5,14f. entnehmen lässt, aus ihrer jeweiligen sozialen Position heraus handeln und sich in bestehende Hierarchien eingebunden sehen. Die Handelnden, aus deren Perspektive Laktanz formuliert, sind weiterhin die Vermögenden; wie schon in der Skizze der aurea aetas werden sie aufgefordert, ihre Güter zum Wohle Mittelloser einzusetzen – in der entarteten Gemeinschaft nun aber nicht mehr mit dem Ziel, damit einen gemeinsamen Überfluss aller herzustellen, sondern mit dem Anspruch, sich als Gebende durch die eigene Haltung den Bedürftigen gleichzustellen bzw., besser noch, ihnen als Dienende unterzuordnen, um sich gerade dadurch vor Gott auszuzeichnen. Sowohl bei der Schilderung des Gebens in der goldenen wie auch in der entarteten Zeit ist greifbar, dass vom unmittelbaren Nutznießer der eigenen Leistung keine Vergeltung erwartet wird. Liberalitas (bzw. ab inst. 5,14,15: aequitas) erscheint als Unterstützung Bedürftiger, denen die Mittel fehlen, sich selbst erkenntlich zu zeigen. Dass das Handeln des Großzügigen dennoch nicht ins Leere läuft, zeigt sich in inst. 5,14,16, wo Laktanz beneficia caelestia in Aussicht stellt und damit die ratio hominis erweitert um die jenseitige Bestimmung des Menschen. Das diesseitige Handeln am Mitmenschen, das diesem unmittelbar zum Wohl gereicht und also gemeinnützig wirkt, findet sich durch diesen Verweis letztlich eigennützig motiviert: Nach dem Ansatz der Werkgerechtigkeit stellt gottgefälliges Handeln die Grundlage dafür dar, sich vor Gott auszuzeichnen. In den behandelten Passagen aus dem sechsten Buch zeigt sich, dass Laktanz sowohl die diesseitige wie auch die jenseitige Bestimmung des Menschen argumentativ verankert, letzterer jedoch den Vorrang einräumt: Er beschreibt den Menschen als einziges Geschöpf, dem von Gott Weisheit verliehen wurde, das

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dafür allerdings – notwendige Kehrseite dieser Auszeichnung – körperlich schwach erschaffen werden musste, dafür aber wiederum zum Ausgleich eine angeborene Hinwendung und Zuneigung zum Mitmenschen erhielt. Der Mensch erscheint als animal sociale, welches durch die Bereitschaft, anderen zu helfen, seiner diesseitigen Bestimmung gerecht wird. Mit der Weisheit ist darüber hinaus aber die jenseitige Bestimmung des Menschen angelegt: Insofern als darunter letztlich die Fähigkeit zur Annahme der göttlichen Offenbarung zu fassen ist, gehört der Mensch Gott an; indem er – um mit Mauss zu sprechen – diese Eröffnungsgabe annimmt, verpflichtet er sich, eine Vergeltungsgabe zu leisten, die in rechtem Handeln gegen Gott und die Mitmenschen (pietas/religio und aequitas/humanitas/beneficentia sowie Parallelbezeichnungen) besteht,822 wofür er wiederum mit der Unsterblichkeit belohnt wird, die – so ist es in epit. 64 prägnant zusammengefasst – sich als ewiger Dienst an Gott darstellt. Durch gottgefälliges Handeln wird eine Beziehung zwischen Gott und den Menschen bestätigt, die ihm mit der Weisheit und dem göttlichen Gabe der Offenbarung bereit steht. Über Gott als eigentlichen Interaktionspartner wird fortwährendes Handeln im Diesseits möglich, Handeln zugunsten Bedürftiger, die auf diese Weise dauerhaft versorgt werden können, ohne dass der Gebende seine Hilfsbereitschaft als Einbahnstraße verstehen müsste, weil er auf Gottes reichen Lohn hoffen kann. Der Stellenwert der diesseitigen Gemeinschaft innerhalb der komplexen ratio hominis lässt sich in den Divinae institutiones in zweierlei Weise bestimmen: Die christenfeindliche, polytheistische Gesellschaft unter den Tetrarchen erscheint als Bewährungsprobe der Tugend; das wahre Leben findet sich auf das Jenseits verschoben. Die Kaiseranreden der zweiten Fassung des Werkes können jedoch so gelesen werden, dass unter Constantin auch diesseitig eine gedeihende communitas möglich scheint, welche – als christliches Rom, als Verwirklichung der aurea aetas – der jenseitigen Gemeinschaft mit Gott sehr nahe kommt.823 In diesen Anreden nimmt das Werk panegyrischen, politischen Charakter an; bezogen auf den Gesamttext sind die Aussagen, welche sich auf die Gestaltung der diesseitigen Gemeinschaft richten, jedoch deutlich in der Minderzahl. Der Fokus verschiebt sich von inst. 5,5 bis inst. 6 immer mehr hin zur Betonung der Jenseitsverheißung; das abschließende siebte Buch ist explizit der Eschatologie gewidmet. Von einem schwerpunkthaften Nachweis der Gemeinnützigkeit der beneficentia kann bei Laktanz keine Rede sein. Dennoch mag gerade durch den beständigen 822 Wobei, wie gesehen, auch das Handeln am Mitmenschen Dienst an Gott ist, indem seine Schöpfung gewahrt wird. 823 Garnsey/Humfress 2001, 205, werfen die Frage auf: „Was Lactantius as radical a thinker as it appears?“ Angesichts der „nur“ inneren Gleichheit der Menschen wird in ihren Augen die Radikalität der Aussagen zwar gemindert, doch ihre Würdigung fällt abschließend sehr positiv aus: „Still, when all is said, in Lactantius we have a singular thinker, whose experience at the epicentre of the Great Persecution, coupled with and working on his millenarian proclivities, produced ideas of an unconventionality thas was remarkable for his time and his society.“ Allgemeiner noch, auf die Grundbotschaft der Christen konzentriert, stellt Hénaff 2014, 17, die Radikalität des Christentums heraus, das die Armen und Verfolgten privilegiere.

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Rekurs auf den zu erwartenden eigenen Lohn der beneficentia ein Anreiz gegeben sein, eigene Mittel zum Wohle anderer einzusetzen. Wie gesehen, formuliert Laktanz beständig aus der Perspektive der Vermögenden, die potentiell Gebende sein könnten – und dies sein sollen.824 In seiner adhortatio, sich systematisch Bedürftigen zuzuwenden, liegt durchaus sozialrevolutionäres Potential, denn in der komplexen, beständig eschatologisch rückgebundenen Argumentation deutet sich vorsichtig der Weg zur Institutionalisierung der Sozialfürsorge an.825

824 Pointiert zugespitzt, ließe sich sagen: Gerade indem Laktanz die beneficentia nicht vorrangig als gemeinnützig erweist, erzielt er eine große gemeinnützige Wirkung. 825 Vgl. hierzu Loi 1965, 121: Wohltaten haben – im Bezug auf die diesseitige Gemeinschaft – integrative Kraft, denn die Ausgeschlossenen, Niedrigen, die sich selbst nicht in die Gemeinschaft einbringen können, werden nicht übergangen, sondern im Zuge christlicher Barmherzigkeit als deren vollwertige Mitglieder behandelt. Insgesamt ist die Wirkmächtigkeit der Divinae institutiones sehr verschieden beurteilt worden. Für De Palma Digeser 2000, 15, stellt das Werk einen „significant step in the Christianization of Rome“ dar; sie referiert ebd., 138, tatsächliche Verfassungsänderungen Constantins, die in die von Laktanz gewünschte Richtung weisen. Young 2005, 656, hingegen spricht dem Werk eine ethische Wirkkraft ab und sieht in der laktanzischen Argumentation das grundsätzliche Dilemma des Christentums verdeutlicht: „The tension between Lactantius’ claims about the transformation of human society and his failure to envisage social revolution may be taken to reflect a perennial tension in Christian political thought: spiritually all may be equal, but what effects is this to have on earthly society? […] In the end Lactantius accepts the need for Constantine to exercise divine authority so as to ensure social order, and retains a lively Millenarian hope.“

FAZIT Das Eingangszitat aus Senecas De beneficiis aufnehmend, ließe sich nun, am Ende dieser Untersuchung, sagen: „Von Wohltaten sollte die Rede sein; es war die Sache der Reihe nach zu erörtern, welche die menschliche Gemeinschaft am meisten zusammenhält.“ Sowohl Senecas Schrift als auch den besprochenen Texten von Cicero und Laktanz lassen sich Aussagen über die gemeinnützige Funktion von Wohltaten entnehmen, wenngleich – das ist zu betonen – deren Nachweis in keinem der Werke den Schwerpunkt der Darstellung bildet. Wie wir gesehen haben, sind sich die Autoren grundsätzlich einig darin, dass die Unterstützung anderer gemeinschaftsstiftend und -stabilisierend wirkt. Warum man sich einem anderen wohltätig zuwenden sollte und welche Form von Gemeinschaft auf diese Weise gefestigt wird, beantwortet jeder Autor in je eigener Weise. Während Cicero und Seneca unterschiedlich konsequent stoische Theorie zur Stützung ihre Argumentation heranziehen, greift Laktanz im Bemühen um Abgrenzung darauf zurück: Ihm geht es darum, letztlich die Überlegenheit seiner christlich fundierten Überzeugungen über die pagane Ethik herauszustellen. Für alle drei Autoren liegt die Bereitschaft, sich anderen hilfsbereit und freigebig zuzuwenden, im geselligen, Anteil nehmenden Wesen des Menschen begründet. Die Vorstellung reziproker Hilfstätigkeit als Reaktion auf die Defizienz des Einzelnen, als bloße Notwendigkeit also, spielt daneben eine untergeordnete Rolle: Die Wirkung hilfsbereiten Miteinanders mag ein Ausgleich der konstitutionellen Schwäche des Einzelnen sein, der Ursprung solchen Verhaltens bleibt jedoch stets die emotionale Ausrichtung aufeinander. Cicero und Seneca leiten diese – mit unterschiedlicher Konsequenz – aus der stoischen Oikeiosislehre her; Laktanz beruft sich auf die christliche Überzeugung der göttlichen Schöpfung. Cicero beginnt stoisch mit einer Bestimmung des menschlichen Wesens, worin er die vier Kardinaltugenden (honesta) angelegt sieht, deren Besprechung den Inhalt des ersten Buches De officiis ausmacht. Vorrang unter den honesta hat das zweite, die iustitia, welcher die beneficentia zugeordnet wird. Deren Grundlage bildet die natürliche Anteilnahme am Mitmenschen. Durch beneficentia wird in höchster Weise die dem Menschen gemäße Gemeinschaft gewahrt. Ausgehend von der Definition des iustum als desjenigen Handelns, in dem jedem das Seine zugeteilt wird (suum cuique tribuere) führt Cicero sehr differenziert aus, welche beneficia einem anderen jeweils zustehen (zu beurteilen sind Ausmaß und Verbindlichkeit der Zuwendung). Diese Maxime des suum cuique tribuere durchzieht seine Anleitung zur beneficentia wie ein roter Faden: Für Cicero kommt es darauf an, dass jeder das erhält, was ihm zukommt. Um dies bestimmen zu können, entwirft er – aus der Perspektive des Angehörigen der Oberschicht (per definitionem zugleich vir bonus), der eine Wahrung von Status und Besitz als das ihm Zukommende, ihm Eigene betrachtet –

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eine Reihe von Kriterien, in denen die eigene Situation, die des anderen sowie beider Position zueinander Berücksichtigung finden und deren Beachtung dem Gedeihen der Gemeinschaft dient. Cicero skizziert in einem Exkurs eine Reihe von Vergemeinschaftungsebenen, denen der Einzelne angehört und in unterschiedlichem Maße verpflichtet ist. Als die beiden maßgeblichen Bezugsgrößen erscheinen letztlich patria et parentes, in deren Schuld der Mensch steht, weil sie – bevor er selbst sich dafür erkenntlich zeigen kann – fürsorgend für ihn da sind; ihnen steht damit der höchste eigene Einsatz zu. Oberste Pflicht des Einzelnen muss es sein, sich um einen Ausgleich der Schuld zu bemühen, in der er bei Vaterland und Eltern steht. Im zweiten Buch De officiis verortet Cicero die beneficentia im Rahmen des utile, welches stets am honestum ausgerichtet sein müsse. Er schreibt deutlich aus der Perspektive und an die Adresse der Oberschicht, in deren Interesse es liegt, bestehende Herrschafts- und Besitzverhältnisse zu wahren sowie sich den politischen Einfluss zu sichern, der ihr, wie Cicero sich überzeugt zeigt, aufgrund von Befähigung, Position und Mitteln zusteht. Für diese Schicht stellen wohl überlegte beneficia nicht zuletzt auch ein Instrument dar, andere an sich zu binden. Cicero formuliert praecepta, auf welche Weise diejenigen, die nach einem solchen Einfluss streben, mittels beneficia Gunst und Gefolgschaft der Menge erringen können. Dies darf jedoch, wie immer wieder betont wird, nie aus eigennützigen Motiven geschehen. Das Ringen um Macht und Einfluss zielt für Cicero darauf ab, sich selbst – als politische Führungspersönlichkeit – in den Dienst der Gemeinschaft, der patria, zu stellen, um auf diese Weise die Schuld ihr gegenüber auszugleichen. Auch wenn Cicero im dritten Buch De officiis das stoische Bild vom kosmischen Gesamtkörper bemüht und die Verantwortung jedes Einzelnen für das Wohl dieses großen Ganzen beschreibt, steht im Vordergrund seiner Ausführungen doch nicht die Bemühung, das Handeln der Adressaten auf diesen Rahmen hin auszurichten, der – gemäß der Stoa – in letzter Instanz die Referenzgröße menschlichen Lebens bildet. Die Gemeinschaft, für deren Wohl Cicero im Rekurs auf Elemente stoischer Ethik gesorgt wissen will, ist, wie sich bereits in den Vergemeinschaftungsebenen andeutet, immer noch die stark hierarchisch gegliederte römische res publica, die sich nach Ciceros Beschreibung in der Krise befindet. Die Kriterien des suum cuique, anhand derer empfohlen wird, beneficia in Ausmaß und Verbindlichkeit abzustufen, und die praecepta an die Adresse Führungswilliger im zweiten Buch sind im Sinne einer Bestätigung bestehender Verhältnisse, insbesondere auch bestehender Asymmetrien formuliert. Hierin zeigt sich, dass gemeinschaftliches Gedeihen – und also: ein Ausweg aus der von Cicero empfundenen Krise – seiner Auffassung nach dann gegeben ist, wenn durch Leistungen insbesondere der Führungsschicht an die zu Führenden das hierarchisch gegliederte, aristokratisch geführte Gemeinwesen der res publica Romana in seiner Struktur bestätigt wird. Wenngleich Cicero und Seneca sich gleichermaßen auf stoische Vorlagen berufen, ist für Cicero eher von einer klugen Anwendung stoischen Gedankengutes auf römische Verhältnisse zu sprechen, während Seneca eine konsequent stoische

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Konzeption des beneficium vorlegt.826 Ausgehend von der Diagnose grassierender Übel, als deren schlimmstes die Undankbarkeit anzusehen sei, entwickelt Seneca insbesondere in den ersten zwei Büchern De beneficiis Regeln recht verstandenen Gebens, Empfangens und Vergeltens, welche dazu verhelfen sollen, die Beziehungen zwischen Einzelnen zu heilen. Grundlegend für diese Anleitung ist Senecas Begriffsbestimmung des beneficium, welches er gemäß der stoischen Güterlehre als Manifestation einer wohlwollenden Haltung (animus/voluntas) definiert. Die gegebene Sache gilt an sich nur als (willkommenes) adiaphoron.827 Seneca empfiehlt, die eigene Haltung angemessen zu gestalten und, darüber hinaus, andere durch beharrliche Wohltaten (im Sinne wiederholter Bekundungen des eigenen Wohlwollens) zu einer ebensolchen Haltung zu erziehen, um ineinandergreifende beneficia zu ermöglichen. Gelingende Beziehungen Einzelner ermöglichen gemeinschaftliches Gedeihen; um der Gemeinschaft willen sind also die inneren Haltungen von Gebendem und Empfangendem zu korrigieren. Die innere Haltung ist Ausdruck der eigenen virtus, die nach stoischer Auffassung, wie insbesondere im vierten Buch De beneficiis deutlich wird, mit Blick auf das Telos des secundum naturam vivere (= Eudaimonia) den einzigen wirklichen Wert bildet. Virtus besteht in einer bewussten Ausbildung der menschlichen Anlage, die als vernünftig und gemeinschaftsorientiert beschrieben wird; menschengemäß ist ein vernünftiges Leben in Gemeinschaft. Wesentlicher Gehalt der virtus muss also die Beförderung solcher Gemeinschaft durch das Erweisen, Annehmen und Vergelten von Wohltaten sein. Insofern als dies langfristig nur reziprok funktioniert, erhält die Dankbarkeit, die ein jeder selbst manifestiert und beim Handlungspartner herbeiführen soll, herausragende Bedeutung: Nur im Ineinandergreifen von Gabe und Dank kann die menschengemäße Lebensform, die Gemeinschaft, ent- und bestehen. Wer dauerhaft undankbar bleibt, verhält sich nicht wie ein Mensch. In seinem Vorschlag der Heilung menschlicher Beziehungen als Basis gedeihender Gemeinschaft konzentriert sich Seneca auf die innere Disposition jedes Einzelnen. Greifbare wechselseitige Leistungen werden als notwendiges Konstituens schutzbringenden Miteinanders erkannt; vor dem Hintergrund der stoischen Güterlehre zählt jedoch allein die Tugend, und Gemeinschaft wird auf dieser Ebene zum Austragungsort von virtus. Mit der Ausübung der Tugend ist auch dem konkreten, den Einzelnen umgebenden Gemeinwesen gedient, doch indem bei der alleinigen Relevanz der inneren Haltung nicht nur Gabeinhalte, sondern auch äußere Strukturen (also bestehende soziale Verhältnisse bzw. Hierarchien) als adiaphora erscheinen, wird impliziert, dass auch die Wirklichkeit durchaus drückender Missstände philosophisch gesehen ohne Bedeutung ist – und sich, lenkt man den Fokus auf den eigentlichen Bezugsrahmen menschlichen Handelns, die Gemeinschaft als menschliche Bestimmung, ertragen lässt. 826 So urteilen auch Griffin 2013, 22, und Chaumartin 1985, 35-37. 827 An sich deshalb, weil Seneca sich nicht an sapientes wendet, sondern an proficientes, die der gegebenen Sache Wert beimessen. Solange die Haltung übergeordnet bleibt, stellt dies für Seneca kein Problem dar.

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Laktanz entwickelt seine Konzeption der beneficentia als frühchristlicher Autor in oftmals kritischer Auseinandersetzung mit paganer Ethik, insbesondere mit Cicero (und, seltener, Seneca). Seiner Darstellung nach ist es für den Menschen als einziges Lebewesen vorgesehen, Gottes Offenbarung anzunehmen und Gott als denjenigen zu begreifen, der sowohl ihn selber als auch seine Mitmenschen erschaffen hat. Davon ausgehend, besteht die Aufgabe des Menschen zunächst in pietas, der frommen Verehrung Gottes, die ihn zugleich befähigt, alle Mitmenschen als Brüder zu sehen. Der Mensch ist von Gott als animal sociale erschaffen, gesellig und Anteil nehmend. Zur pietas kommt damit, ihm wesensgemäß, die aequitas, oder synonym, die misericordia, humanitas bzw. beneficentia. Pietas und beneficentia (bzw. deren Parallelbegriffe; herausgegriffen ist hier derjenige, der terminologisch v.a. an Cicero anschließt) zusammen bilden die iustitia. Damit ist – der Form nach zunächst ähnlich wie in Ciceros Darstellung – bei Laktanz die beneficentia Teil der iustitia. Auch bei Laktanz erscheint das Handeln zum Wohle anderer als Weg zu gedeihender Gemeinschaft: Im fünften Buch der Divinae institutiones entwirft er das Bild einer goldenen Zeit, die basierend auf der Verehrung Gottes und, davon ausgehend, freigebigem Handeln durch harmonische Gemeinschaft gekennzeichnet ist; der als Anfang der Krise empfundene Polytheismus (Flucht der iustitia!) setzt dieser Epoche ein Ende und lässt das Miteinander entarten. Indem Laktanz Wohltaten auf Werke der Barmherzigkeit beschränkt, die, um diesen Namen zu verdienen, von den (mittellos gedachten) Empfängern nicht vergolten werden dürfen, setzt er sich von Cicero ab, für den die Empfängerreaktion von entscheidender Wichtigkeit ist. Bereits in der Beschreibung der goldenen Zeit im fünften Buch der Divinae institutiones schildert Laktanz, wie das großzügige Geben der Begüterten den Mittellosen zum Auskommen verhilft, welche, weniger reichlich ausgestattet, doch zu gleicher Teilhabe an den Gaben der göttlichen Schöpfung berechtigt sind, als deren Verwalter die Vermögenden bei dieser Betrachtungsweise gelten müssen. Das Christentum erscheint als eine Wiederkehr der goldenen Zeit, welche jedoch nur denjenigen zuteil wird, die sich zu Gott bekennen. Aus Laktanzens Ausführungen im weiteren Verlauf des fünften und besonders des sechsten Buches geht hervor, dass angesichts der im Polytheismus prekären Situation der Christen und zudem im Rahmen der vorgegebenen sozialen Strukturen des römischen Reiches eine Gemeinschaft nach dem Bild der goldenen Zeit nicht möglich ist. Pietas und beneficentia der Christen können diesseitig nicht dieselbe Wirkung zeitigen wie das entsprechende Verhalten, das für die aurea aetas beschrieben war. Bezugspunkt des Handelns ist allein Gott. Wohltaten stiften keine Beziehung zwischen Gebendem und Empfangendem, laufen aber auch nach Laktanzens Verständnis nicht ins Leere, sondern gelten als Dienst an Gott (als eigentlichem Enpfänger) und werden von ihm mit dem Lohn der Unsterblichkeit vergolten. Gestärkt wird damit die Beziehung des Einzelnen zu Gott, und das Handeln findet sich motiviert durch die Hoffnung auf jenseitiges Heil. Laktanz empfiehlt die beneficentia dem Leser also nicht in erster Linie als gemeinschaftsstärkende Verhaltensweise, sondern verweist vielfach variierend auf den zu erwartenden Lohn für den Handelnden

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selbst. Beneficentia wird damit, überspitzt gesagt, eher eigennützig als gemeinnützig motiviert. Der Ausweg aus der Krise des Gemeinwesens, für Laktanz also aus dem Polytheismus, der zur Christenverfolgung geführt hat, ist verankert in der christlichen Eschatologie: Die Hoffnungen des Handelnden sind auf Gott gerichtet; er ist der eigentliche Adressat rechten Verhaltens (insbesondere der beneficentia); gegenwärtige Anfechtungen gelten als Bewährungsprobe der Glaubensfestigkeit. In den Beispielen, die Laktanz zur Illustration seiner Argumente anführt, zeigt sich allerdings, dass er nicht losgelöst vom Lebensumfeld des römischen Reiches formuliert: Im siebten Buch der Divinae institutiones wird deutlich, dass Laktanz Rom nicht feindlich gegenüber steht; die panegyrischen Zusätze an Constantin lassen sich sogar als Ankündigung der Möglichkeit einer diesseitigen Wiederkehr der goldenen Zeit verstehen. Die untersuchten Ausführungen enthalten also, wenngleich eher nebenbei, auch ein politisches Statement und sind nicht im Sinne einer Weltflucht zu verstehen: Diesseitige Gemeinschaft kann gedeihen, wenn die Grundbedingung des Monotheismus (näherhin: des christlichen Glaubens) ihrer Mitglieder erfüllt ist. Solange dies aussteht, bleibt dennoch die Perspektive des jenseitigen Fortlebens als Ausgleich für gute Taten. Und wenngleich Laktanz die diesseitigen Auswirkungen der beneficentia nicht in den Vordergrund seiner Ausführungen stellt, dürfte genau dieser beständige Verweis auf damit zu erlangendes eigenes Heil das wohltätige Verhalten attraktiv gemacht und – gerade ohne das dezidierte Bemühen, es als gemeinschaftsstärkend herauszustellen – eine bemerkenswerte gemeinnützige Wirkung entfaltet haben.828 Alle drei Autoren nehmen in ihrer Argumentation tendenziell (Cicero und Laktanz so gut wie ausschließlich) die Perspektive des Wohltäters ein, der jeweils als begütertes Mitglied der Führungsschicht erscheint. Die Handlungsanweisungen und Vorschläge möglicher beneficia sind gemünzt auf eine Leserschaft, die ihnen in Position und Möglichkeiten ähnelt. Weiterhin ist spürbar, dass Cicero, Seneca und Laktanz in ihren Ausführungen als cives Romani denken und schreiben; der Referenzpunkt ihrer Handlungsanweisungen ist das sie umgebende Gemeinwesen. Doch wenngleich die praecepta von Römern an Mitrömer gerichtet sind, fällt insgesamt auf, dass bei allen drei Autoren die Erörterung, wie durch Wohltaten Gemeinschaft wachsen kann, auch eskapistische Züge trägt. Seneca und Laktanz setzen, ohne die politische Realität grundsätzlich anzugreifen, eine zweite, an sich entscheidende Bezugsgröße daneben; Cicero beschreibt Normen für die bereits verlorene römische Republik, die es in der bei ihm anvisierten Gestalt so auch nie gab. Die Gemeinschaft, die durch Wohltaten jeweils gestärkt wird, ist letztlich ein Anderswo, ein Entwurf, der in einem jeweils ganz eigenen Verhältnis zur gegebenen Realität Roms steht.

828 An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass die Kirche ab frühester Zeit eine bemerkenswert gut strukturierte Sozialfürsorge installierte.

 

LITERATURVERZEICHNIS TEXTAUSGABEN, ÜBERSETZUNGEN UND KOMMENTARE Die fettgedruckten Textausgaben sind die jeweils in der Arbeit zitierten.

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Senecas Schrift „De beneficiis“ ist einzigartig in der uns überlieferten Literatur der griechisch-römischen Antike. Gleichwohl gehört „De beneficiis“ in eine lange Reihe – für uns leider nicht überlieferter – themengleicher Traktate, die ebenfalls von Stoikern verfasst wurden. Das Interesse an der Materie entspringt deren Relevanz für die stoische Ethik: Diese kreist um die Frage gemeinschaftlichen Miteinanders, welches als die dem Menschen gemäße Lebensform gilt. In der römischen Literatur finden sich – wenngleich weniger ausführlich und mit

je anderem Fokus – bei Cicero und Laktanz ebenfalls stoisch rückgebundene Annäherungen an die Thematik. Doch wenngleich Cicero, Seneca und Laktanz die Überzeugung der gemeinschaftsstiftenden Kraft von Wohltaten teilen, sind ihre Begründungen, in welcher Weise wohltätiges Verhalten gemeinschaftliches Miteinander befördert, sehr verschieden. Und auch in ihren Vorstellungen, welche Form von Gemeinschaft durch Wohltaten gestiftet bzw. gestärkt wird, unterscheiden sie sich maßgeblich voneinander.

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