Zentrum und Peripherie - Gesellschaftliche Phänomene in der Frühgeschichte: Materialien des 13. Internationalen Symposiums "Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung im mittleren Donauraum", Zwettl, 4.-8. Dezember 2000 3700133170, 9783700133179

Der Band enthält die Vorträge des 13. Internationalen Symposiums "Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung

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Zentrum und Peripherie - Gesellschaftliche Phänomene in der Frühgeschichte: Materialien des 13. Internationalen Symposiums "Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung im mittleren Donauraum", Zwettl, 4.-8. Dezember 2000
 3700133170, 9783700133179

Table of contents :
Vorwort – 7
Historische Beiträge – 9
Gerhard Dobesch / Zentrum, Peripherie und "Barbaren" in der Urgeschichte und der Alten Geschichte – 11
Walter Pohl / Die Namen der Barbaren: Fremdbezeichnung und Identität in Spätantike und Frühmittelalter – 95
Andreas Schwarcz / Städte und Foederaten an der mittleren und unteren Donau im 5. und 6. Jahrhundert – 105
Herwig Wolfram / Wechselnde Zentren und ihr "Kärnten". Ein historisch-vergleichender Streifzug durch den frühen Donau- und Ostalpenraum – 115
Archäologische Beiträge – 123
Jan Bouzek / Der Klientelstaat der Quaden – 125
Thomas Fischer / Bemerkungen zu Grab 622 von Kemnitz, Kreis Potsdam in Brandenburg – 131
Anna Haralambieva / Marcianopolis als Anziehungspunkt für Ostgermanen (Goten) vom 3. bis zum 5. Jahrhundert – 143
Radu Harhoiu / Der römisch-byzantinische Import des 6.–7. Jahrhunderts als ethnischer Indikator der siebenbürgischen Romanen – 149
Maciej Karwowski / The Probability of the Existence of Glass-working Sites from the Late Iron Age in Lower Austria. A contribution to the question of the significance of the Late La Tène open settlements – 169
Andrzej Kokowski / Die Kontakte zwischen der Maslomęcz-Gruppe und dem Mitteldonauraum aufgrund der Verbreitung ausgewählter römischer Importe – 177
Títus Kolník / Das mitteldanubische Barbaricum – eine Brücke zwischen Zentrum und Peripherie am Beispiel der medizinischen Messerfunde – 195
Magdalena Mączyńska / Bemerkungen über einige Typen der Augenfibeln im Barbaricum – 211
Max Martin / Childerichs Denare – Zum Rückstrom römischer Silbermünzen ins Merowingerreich – 241
Marek Olędzki / The Wielbark and Przeworsk Cultures at the Turn of the Early and Late Roman Periods. The dynamics of settlement and cultural changes in the light of chronology – 279
Vladimír Salač / Zentren in der Peripherie – 291
Michael Schmauder / Anmerkungen zum Verhältnis zwischen barbarischer Oberschicht und spätantikem Reich aufgrund archäologischer Quellen – 303
Alois Stuppner / Ein Herrschaftszentrum der Völkerwanderungszeit auf dem Oberleiserberg – 313
Jaroslav Tejral / Mušov und Czarnówko. Bemerkungen zu weiträumigen Verbindungen zwischen germanischen Herrschaftszentren – 327
Peter Tomka / Kulturwechsel der spätantiken Bevölkerung eines Auxiliarkastells: Fallbeispiel Arrabona – 389
Barbara Wewerka / Spätantike Gräber im Bereich der Burggartengasse in Mautern a. d. Donau – ein Vorbericht – 411
Abkürzungsverzeichnis – 431
Zum Symposium – 433
Programm – 433
Teilnehmerliste – 435

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ISSN 0065-5376 ISBN 3-7001-3322-7

Zentrum und Peripherie

Inhalt der historischen Beiträge sind die verschiedensten Erscheinungsformen von „Zentrum und Peripherie“ nach den historischen und literarischen Quellen, Probleme der ethnischen Zugehörigkeit und der Größenordnungen der Bewohner in der Peripherie sowie des Germanenund Slawenbegriffes.

Zentrum und Peripherie

In den archäologischen Beiträgen sind Zentren und Peripherien der Latènezeit und das Verhältnis des Römischen Reiches zu den germanischen Stämmen jenseits von Rhein und Donau das vorrangige Thema. Durch charakteristische Funde in germanischen Gräbern und Siedlungen werden die intensiven Beziehungen zwischen dem Römischen Reich und den germanischen Gentes aufgezeigt und gedeutet. Am Beispiel von spätantiken ”r / Arrabona und Gräberfeldern wie Gyo Mautern / Favianis stehen Aspekte der Assimilation und Akkulturation von eindringenden Barbaren in römischen Zentren am norisch-pannonischen Limes im Vordergrund.

Gesellschaftliche Phänomene in der Frühgeschichte. Hrsg. Herwig Friesinger, Alois Stuppner

H. Friesinger, A. Stuppner

Der Band enthält die Vorträge des 13. Internationalen Symposiums „Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung im mittleren Donauraum“, das in Zwettl vom 4. bis 8. Dezember 2000 abgehalten wurde. In zwanzig Beiträgen behandeln Historiker und Fachkollegen aus dem mitteleuropäischen Raum das Thema „Zentrum und Peripherie – Gesellschaftliche Phänomene in der Frühgeschichte“ im Zeitraum von der jüngsten Eisenzeit bis zum Frühmittelalter. „Zentrum und Peripherie“ waren in dieser Zeit durch vielerlei Beziehungen miteinander verbunden.

Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Österreichische Akademie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse

MITTEILUNGEN DER PRÄHISTORISCHEN KOMMISSION

Herausgegeben von Herwig Friesinger

BAND

57

Redaktion: Michaela Lochner

Herwig Friesinger, Alois Stuppner (Hrsg.)

ZENTRUM UND PERIPHERIE GESELLSCHAFTLICHE PHÄNOMENE IN DER FRÜHGESCHICHTE

Materialien des 13. Internationalen Symposiums "Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung im mittleren Donauraum" Zwettl, 4.-8. Dezember 2000

Veranstalter Österreichische Akademie der Wissenschaften Institut rur Ur- und Frühgeschichte der Universität Wien -Archäologisches Institut der Akademie der Wissenschaften eR, Brno Archäologisches Institut der Akademie der Wissenschaften Slowakei, Nitra Archäologisches Institut der Universität zu Köln, Abt. Archäologie der Römischen Provinzen

VERLAG DER ÖSTERREICHISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN Wien 2004

Vorgelegt von w. M . Herwig Friesinger in der Sitzung am 25. Juni 2004

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Umschlagbild: Die Münze mit der Umschrift "rex Quadis datus" zeigt links den germanischen König und, ihm gegenüberstehend, etwas größer den römischen Kaiser Antonius Pius. Zeichnung: Leo Leitner

Wiss. Redaktion und Lektorat: Viktoria Stuppner Lektorat: Eleonore Melichar Umschlag und Layoutkonzept: Thomas Melichar

Die verwendete Papiersorte ist aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff hergestellt, frei von säurebildenden Bestandteilen und alterungsbeständig.

Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-7001-3322-7 ISSN 0065-5376 Copyright © by Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien Gesamtherstellung: Crossdesign Weitzer, A-8042 Graz http://hw.oeaw.ac.at/ 3322-7 http: / /verlag.oeaw.ac.at

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Vorwort – 7 Historische Beiträge – 9 Gerhard Dobesch Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte – 11 Walter Pohl Die Namen der Barbaren: Fremdbezeichnung und Identität in Spätantike und Frühmittelalter – 95 Andreas Schwarcz Städte und Foederaten an der mittleren und unteren Donau im 5. und 6. Jahrhundert – 105 Herwig Wolfram Wechselnde Zentren und ihr „Kärnten“. Ein historisch-vergleichender Streifzug durch den frühen Donau- und Ostalpenraum – 115 Archäologische Beiträge – 123 Jan Bouzek Der Klientelstaat der Quaden – 125 Thomas Fischer Bemerkungen zu Grab 622 von Kemnitz, Kreis Potsdam in Brandenburg – 131 Anna Haralambieva Marcianopolis als Anziehungspunkt für Ostgermanen (Goten) vom 3. bis zum 5. Jahrhundert – 143 Radu Harhoiu Der römisch-byzantinische Import des 6.–7. Jahrhunderts als ethnischer Indikator der siebenbürgischen Romanen – 149 Maciej Karwowski The Probability of the Existence of Glass-working Sites from the Late Iron Age in Lower Austria. A contribution to the question of the significance of the Late La Tène open settlements – 169 Andrzej Kokowski Die Kontakte zwischen der Maslomęcz-Gruppe und dem Mitteldonauraum aufgrund der Verbreitung ausgewählter römischer Importe – 177 Títus Kolník Das mitteldanubische Barbaricum – eine Brücke zwischen Zentrum und Peripherie am Beispiel der medizinischen Messerfunde – 195

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Inhaltsverzeichnis

Magdalena Mączyńska Bemerkungen über einige Typen der Augenfibeln im Barbaricum – 211 Max Martin Childerichs Denare – Zum Rückstrom römischer Silbermünzen ins Merowingerreich – 241 Marek Olędzki The Wielbark and Przeworsk Cultures at the Turn of the Early and Late Roman Periods. The dynamics of settlement and cultural changes in the light of chronology – 279 Vladimír Salač Zentren in der Peripherie – 291 Michael Schmauder Anmerkungen zum Verhältnis zwischen barbarischer Oberschicht und spätantikem Reich aufgrund archäologischer Quellen – 303 Alois Stuppner Ein Herrschaftszentrum der Völkerwanderungszeit auf dem Oberleiserberg – 313 Jaroslav Tejral Mušov und Czarnówko. Bemerkungen zu weiträumigen Verbindungen zwischen germanischen Herrschaftszentren – 327 Peter Tomka Kulturwechsel der spätantiken Bevölkerung eines Auxiliarkastells: Fallbeispiel Arrabona – 389 Barbara Wewerka Spätantike Gräber im Bereich der Burggartengasse in Mautern a. d. Donau – ein Vorbericht – 411 Abkürzungsverzeichnis – 431 Zum Symposium – 433 Programm – 433 Teilnehmerliste – 435

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Vorwort Die Prähistorische Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und das Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Wien hielten gemeinsam mit dem Archäologischen Institut der Akademie der Wissenschaften ČR in Brno und dem Archäologischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften in Nitra sowie dem Archäologischen Institut der Universität Köln, Abt. Archäologie der römischen Provinzen, das 13. Internationale Symposium „Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung im mittleren Donauraum“ in der Zeit vom 4. bis 8. Dezember 2000 in Zwettl, Niederösterreich, ab. Zahlreiche Wissenschaftler aus den Niederlanden, Deutschland, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien sowie Österreich nahmen an der Tagung teil, die dem Thema „Zentrum und Peripherie – Gesellschaftliche Phänomene in der Frühgeschichte“ gewidmet war. Zuschüsse des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Kulturabteilung der Niederösterreichischen Landesregierung halfen die Kosten zu tragen, wofür allen Stellen bestens gedankt sei. Die Veranstalter und Organisatoren danken auch allen jenen, die zum erfolgreichen Ablauf der Tagung und der Exkursion nach Mautern beigetragen haben. Die Prähistorische Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften übernahm dankenswerterweise die Herausgabe des Tagungsbandes mit den Vorträgen. Herwig Friesinger

Der Rhein und die Donau bildeten jahrhundertelang die Grenzen zwischen dem Reich und den Barbaren. Diese Nachbarschaft blieb nicht ohne Auswirkungen – sie war geprägt von gegenseitiger Beeinflussung und Anpassung, von Konfrontation zur Integration. So fanden z. B. die Errungenschaften der römischen und byzantinischen Zivilisation Eingang in die barbarische Alltagskultur, was sich durch die Funde römischer und byzantinischer Provenienz und Tradition in den Siedlungen und Gräberfeldern widerspiegelt. Das Anliegen des Symposiums war es, die Auswirkungen auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung der Völker jenseits und diesseits der nassen Grenzen durch die Berührung mit der Hochkultur aufgrund von historischen und archäologischen Quellen näher zu erörtern. Der hier vorgelegte Band gliedert sich in einen historischen und einen archäologischen Teil und enthält die zum Druck eingesandten Vorträge von Historikern und Archäologen, wobei zusätzlich der Beitrag von Jaroslav Tejral aufgenommen wurde. Für die sorgfältige und mühevolle redaktionelle Bearbeitung der Beiträge sind wir Frau Mag. Viktoria Stuppner zu großem Dank verpflichtet. Die sprachliche Korrektur der englischen Beiträge übernahm dankenswerterweise Frau Dr. Ingeborg Friesinger. Für die digitale Bearbeitung der Abbildungs- und Tafelvorlagen sei Frau Mag. María Antonia Negrete Martinez gedankt. Alois Stuppner

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

Historische Beiträge

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Gerhard Dobesch

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte Gerhard Dobesch 1. Grundsätzliches – 12 2. Zentrum – 13 2.1 Zu Wesen und Funktion – 13 2.2 „Schizophrenie“ auseinanderklaffender Realitäten – 15 2.3 Einige weitere Arten von Zentrum – 16 2.4 Mobiles Zentrum – 18 2.5 Begegnung von Zentren; Gegenwelten und Gegenzentren; kulturelle Autonomie – 18 2.6 Polyzentrismus – 19 2.6.1 Das regnum Noricum als alternatives Modell – 22 2.6.2 Keltische Oppida als Zentren? – 22 2.7 Systole, Diastole und Ethnogenese – 25 2.8 Gegenbewegungen gegen den Polyzentrismus; Hegemonie und Prostasie – 27 2.9 Monozentrik – 31 2.10 Einige weitere Modelle – 33 2.11 Subjektivismen – 34 3. Peripherie – 34 3.1 Haupttypen und spezielle Phänomene – 34 3.2 Ausstrahlung – 35 3.3 Innere Peripherien – 37 3.4 Äußere Peripherien – 38 3.4.1 Verschiedene Modelle – 38 3.4.2 Überlappende Peripherien und Klientel – 40 3.4.3 Draußenhalten und die Germanen Roms – 41 3.4.4 Ideologien im Mediterraneum und bei Kelten wie Germanen – 43 3.4.5 Raubzüge, Beute, Abenteuer bei Kelten und Germanen – 44 4. Umkehrung – 49 5. Soziale Zentren, soziale Peripherien – 49 6. Peripherisierung und Ende – 52 7. Nachbarschaft/Konfinität – 52 8. Kulturtransfer: von der Akkulturation bis zur Dekulturation oder der Verweigerung – 54 8.1 Kulturtransfer – 54 8.2 Akkulturation – 54 8.3 Mischung – 56 8.4 Konkulturation – 56 8.5 Integration – 56 8.6 Multikulturalität – 57

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Gerhard Dobesch

8.7 8.8 8.9 8.10 8.11

Inkulturation – 57 Antikulturation – 57 Assimilation und Dissimilation – 57 Rom, Romanisierung und Romanen – 57 Dekulturation – 59 8.11.1 Grundsätzliches und bezeichnende Beispiele – 59 8.11.2 Proletariat und „Barbarisierung“ – 60 8.11.3 Verweigerung (Repulsion), auch speziell bei „Barbaren“ – 61 9. Die Probe auf das Exempel: antike Kelten – 63 9.1 Vorkeltisches – 63 9.2 Das Werden der La-Tène-Kelten – 65 9.3 La-Tène-Kunst – 66 9.4 Einige weitere Besonderheiten der La-Tène-Kultur – 71 9.5 Ausbreitung der La-Tène-Kelten – 71 9.6 Weitere Auseinandersetzungen mit dem Süden – 74 9.6.1 Oberitalien und Galater – 74 9.6.2 Das keltische Europa und Rom; Politik und Handel – 75 9.6.3 Die Gallia Narbonensis – 77 9.6.4 Das große Gallien bleibt frei – 77 9.6.5 Romanisierung in der Gallia Narbonensis; Pompeius Trogus – 78 9.6.6 Kurze Vorschau: die caesarische Eroberung Galliens – 80 9.6.7 Kulturelles und politisches Leben im vorcaesarischen Gallien; Spätlatène? – 80 9.6.7.1 Kulturelle Autonomie und „Verweigerung“ – 80 9.6.7.2 Intensität des Lebens – 81 9.6.7.3 Die Druiden – 81 9.6.7.4 Militärwesen; soziales Problem – 83 9.6.7.5 Politische Labilität – 83 9.6.7.6 Die Rolle der Städte – 84 9.6.7.7 Die Schrift? – 85 9.6.7.8 Tapferkeit und gallisches Selbstwertgefühl – 86 9.6.7.9 Die Grenzen der Archäologie – 86 9.7 Romanisierung – 87 9.8 Noch einmal zum „Volkscharakter“ der Kelten – 89 10. „Barbaren“ – 90 Literaturverzeichnis – 91 1. Grundsätzliches Zum Fragenkreis „Zentrum und Peripherie“ ist bereits eine schwer überschaubare Literatur erschienen, in der dieser geographisch, historisch, wirtschaftshistorisch, politisch usw. abgehandelt wird. Auch die modernen Dependenztheorien oder Interdependenzlehren haben hier Eigenes beizusteuern. Eine Reihe von festen Begriffen wurde dabei entwickelt, wie z. B. „innere“ und „äußere Peripherie“ oder „Semiperipherie“. Im Rahmen eines Kongressreferates kann es nicht die Aufgabe sein, all diese Gedanken zu referieren und zu diskutieren. Es geht hier vor allem um einige ganz konkrete Phänomene in einem zeitlich konkret umgrenzten Thema.

Methodisch ist vorab zu betonen, dass solche Erscheinungen nie völlig definiert und in einen Gesamtkatalog von ausformulierten Modellen eingefangen werden können. Das heißt nicht, dass es nicht klare Großphänomene gibt, aber es lassen sich zwischen ihnen oft ebenso wenig klare Grenzen festlegen wie zwischen den Farben eines Regenbogens: Diese sind sogar sehr dezidierte Farben von dezidierter Eigenheit, aber wo endet in den Zwischenzonen die eine und beginnt die andere? An ein scholastisches Definitionsspiel ist zu denken: Exakt wie viel Getreidekörner sind notwendig, damit sie, aufeinander gelegt, als „Haufe“ bezeichnet werden dürfen?

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

2. Zentrum 2.1 Zu Wesen und Funktion Zentrum und Peripherie sind sogar weit mehr als Begriffe, sie sind in der Geschichte reine Lebensfunktionen und Lebensvorgänge, und sei es auch nur deren Erzwingung oder deren Anschein. Einer (inneren oder äußeren) Peripherie als Zentrum entgegenzutreten und umgekehrt, ist ein dynamischer Prozess, der sich im Laufe der Zeit verschieben und verändern kann, ja muss, und der in sein direktes Gegenteil umzuschlagen vermag. Zentrum zu sein ist etwas Besonderes und fällt schwer (und auch nicht jede Peripherie hat ein leichtes Schicksal), und jeder im Zentrum stehende Faktor muss sich immer wieder neu in dieser Rolle bewähren, muss sich seine hohe Stellung immer wieder neu erwerben oder verliert sie. Soviel sei universalgeschichtlich im Voraus angemerkt. Ein paar Kategorien müssen aber doch eigens genannt werden. Da sind einmal die vielen verschiedenen Arten von „Zentrum“, denn es gibt ein geistiges Zentrum so gut wie etwa ein industrielles, ein wirtschaftliches. Die Frage nach der Subjektivität (in allen ihren Spielarten) lehrt, dass ein Leben als Zentrum, gar als das Zentrum, durchaus nur subjektiv sein kann, nicht objektiv zutreffen muss; aber ist diese subjektive Selbstschau etwa einer Kultur, eines Volkes, einer Stadt nicht selbst auch eine objektive Geschichtstatsache ersten Ranges? Und als Letztes: Worin bestehen Gewalt und Aussagekraft der Idee eines „Zentrums“? Das Wort evoziert sogleich den Begriff Kon – zentra – tion, also die Steigerung bis hin zur Fülle, damit die Offenheit und Sichtbarkeit des Gesteigerten, vor allem der Werte einer Kultur. Dazu tritt die Tatsache der Aktivität, die vom Zentrum ausgeht, weil es pulsierendes Leben ist. Damit sind wir beim Kern dieser Idee. Sie meint zum Teil das aristotelische Meson, das Mittlere, als reinste und ausgeglichenste Steigerung der Güter, noch mehr aber ist sie in jenem tiefsten Sinn enthalten, in dem Hans Sedlmayr (1965) vom „Verlust der Mitte“ sprach: Die Mitte als Ort des Ideals, das alles sie Umgebende, so gut es ist, in sich enthält und erst sinnvoll, ja überhaupt erst zu einem Ganzen macht. Hieraus ergibt sich eine neue Sicht auf die „Peripherie“, und durchaus nicht nur auf die „innere“. Uns scheint das in der Geschichte selten zu sein, ein allzu theoretischer Begriff. Aber ist nicht jede große Kultur, von den Ägyptern über die Griechen zu den Kelten, ein Ganzes? Sieht nicht jede in sich den wahren Mittelpunkt der Welt? Gehören nicht alle die ethnographischen Tatsachen, dass auch urgeschichtliche oder frühgeschichtliche Stämme sich

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als „die Redenden“, „alle Menschen“, „die Freien“ usw. betrachten, genau in diese Vorstellungswelt der „Mitte“, des „Zentrums“? So führt die Idee „Zentrum“ in verschiedensten Kulturen zu einer jeweiligen „Ideologie des Daseins als Zentrum“. Es ist festzuhalten, dass erstens der Begriff „Zentrum“ nur in seltenen Fällen rein geographischer Natur ist, und dass zweitens „Zentrum“ und „Peripherie“ in sehr ernster Weise Wertbegriffe sein und Wertungen enthalten können. Und in einer Schichtung mehrerer Peripherien kann jeweils die vergleichsweise mehr innere sich gegenüber der nächsten für überlegen halten – und kann es auch sein. Eines der bekanntesten Beispiele für geistige „Mitte“ ist der Gedanke, ein auserwähltes Volk zu sein (vgl. dazu jüngst Mosser 2001), eine Sicht, die keineswegs auf die Juden beschränkt ist. Die Amerikaner etwa sehen sich gern als „God’s own people“. Unter Ludwig XIV. und in der Aufklärung erlangte Frankreich eine so große kulturelle Bedeutung, dass es sich als das Land der „culture“ schlechthin fühlte. Voltaire versuchte grollend, auch Shakespeare in dieses Weltbild einzuordnen: Ein Genius – aber ein Barbar. Daher ist es auch ein Missverständnis, mythisch beeinflusste Landkartenzeichnungen, die, quer über die Welt hin, Babylonien, Jerusalem, Rom, China oder das mexikanische Tenochtitlan (vgl. Köhler 1996, 222 ff.) in die genaue Mitte des gezeichneten Raumes stellen, mit real-geographischen, rationalen Landkarten zu kontrastieren. Erstere meinen einen Raum ganz anderer Art, sie meinen den Kosmos des Geistes und der auserwählten Wichtigkeit, sie sind kein Bild der Welt, sondern ein Welt-Bild. Bei streng geographischen Landkarten hat sich das Wissen nicht nur erweitert, es hat sich grundsätzlich verändert. Der Blickpunkt und die angestrebte Aussage sind grundsätzlich verschiedener Natur. Einer solchen Idee der Mitte ist in der Zeit der hellenischen Archaik auch die griechische Vorstellung vom Omphalos der Erde in Delphi entsprungen: Er ist die innerste Mitte jener Mitte, die Griechenland selbst ist. Daher wachte das Heiligtum des Apollon als heiligstes Zentrum und als geistige Mitte damals über jener religiösen und ethischen Ordnung, aus der alle wahre menschliche Kultur entsprang: Es war der Ort der delphischen Weisheit. Delphi sollte für alle Griechen gelten, möglichst auch für die Völker ringsum – gegenüber der fremden, äußeren Peripherie spendete es Rat und moralische Einsicht nur denen, die zu ihm kamen; denen aber ganz selbstverständlich, ohne Ausschluss. Denn diese erkannten die überlegene Weisheit der Götter Griechenlands an.

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Gerhard Dobesch

Eine ebenfalls religiöse, anders geformte, aber ähnliche Zentralstellung liegt vor, wenn in Caesars Zeit es eine heilige Mitte Galliens gibt, getragen vom Druidenorden; in dieser Mitte, die im Land der Carnuten liegt, gibt es ein weiteres Zentrum, einen locus consecratus; zu einer heiligen, festgelegten Zeit – Zentrum der Zeit, der Feste – kommen dort jedes Jahr die Druiden zusammen. Und dorthin kamen dann Menschen aus ganz Gallien, um als Einzelne oder als Stamm die gerechtesten Entscheidungen ihrer Streitfälle zu erhalten1, und durchaus nicht nur in streng religiösen Fragen2. In diesem Fest ist also die intensivste Heiligkeit bewusst in eine Mitte gelegt. Die Carnuten als Stamm haben dabei offensichtlich nichts zu sagen, ja sie selbst – und auch die politische „Herrschaft“ anderer Stämme über just dieses Land – spielen keinerlei Rolle im Streit um den Vorrang in ganz Gallien3. Es ist also eine rein sakrale Mitte, die dann aber der Quell von Gerechtigkeit und von Beilegung unlösbarer Streitfälle, von Buße und friedlicher Schlichtung sein will, zwar freiwillig, aber von den Druiden wurde das offenkundig möglichst fest in höchster Geltung verankert. Überhaupt lernen wir aus Caesars ganzem Bericht (Caes. b. G. 6, 13, 3–14, 6), dass die Druiden rein geistig, auch ohne Geographie, sich selbst als die moralische, religiöse und gerechte Mitte der gallischen Kultur zu sehen wünschten. Und sie selber hatten dann im rein Personalen eine eigene Mitte, den Oberdruiden. Die sakrale Mitte lag objektiv fest im Land der Carnuten, die politische Mitte Galliens war mobil und konnte mit dem Besitz des principatus unter Stämmen wechseln. Es gibt auch hier sehr verschiedene Arten von Mitte. Dabei war Britannien als Ursprungsland des Druidenordens immer noch das höchste Zentrum der Druidenausbildung und der authentischen Lehre (Caes. b. G. 6, 13, 11– 12). Britannien ist damit ein wichtiges Beispiel für ein geographisch ganz exzentrisch gelegenes Zentrum. Ja als Ort der Stiftung hatte es in seiner Lage weitab sogar einmal die Rolle eines ganz besonders schöpferischen Zentrums, Her-

kunftsort von Impulsen und Aktivitäten, übernommen. Der Geist hält sich eben nicht immer an die Geographie. Bezeichnend ist auch, dass die caesarischen Gallier, bei weiterbestehender Verbindung zu der Insel, sich im Rahmen des Ordens eine eigene heilige Mitte und einen eigenen Oberdruiden geschaffen hatten, dem von auswärts offenbar keine Weisungen kamen. Gallien also wollte selbst eine Mitte sein, die die Welt bedeutet, es akzeptierte keine Rolle als Peripherie. Der gallisch-britannische Keltenbereich und der Orden zeigen in der Religion einen sehr interessanten, sublimen Polyzentrismus. Bleiben wir im Keltentum und ändern nur Ort und Zeit; zugleich wird sichtbar, welch geistiges Ideengut uns verloren gegangen wäre, hätten nicht christliche Mönche später so viel aufgezeichnet. Irland war in vier Viertel geteilt, so wie die Himmelsrichtungen, so wie die Welt, die Insel selbst die ganze (abbreviierte) Welt für sich. Aber bezeichnenderweise war das nicht genug, sondern es bedurfte der Aufgipfelung und Vollendung durch ein fünftes Element: den gesamtirischen sakralen Hochkönig, also ein Zentrum, eine Mitte, also eine zusätzliche Kategorie zu den vier. Dabei war Irland selbst schon sozusagen Zentrum, einziges wirklich wichtiges Land auf dem Erdrund. Der Hochkönig hält die Welt der vier Viertel beisammen, er ist die Ordnung und die in Festen immer wieder neu bestätigte Dauer dieser Welt, er formt sie erst zum Ganzen. Der Besitz dieses Weltzentrums konnte wechseln wie in Gallien. Es ist eine bemerkenswerte, radikale Folgerung dieses Weltseins, dass die Iren untereinander heftigst um den Besitz dieser Welt und die Stellung als Zentrum kämpften, aber keinerlei Neigung zeigten, andere Länder zu unterwerfen4, also ihre Weltmitte nach außen hin zu bestätigen und zu betätigen. Wohl entsandte die Insel bedeutende Missionare, aber gerade hier – dem fehlenden Eroberungstrieb voll entsprechend – zeigte es sich, dass der „Rest“ der Welt eigentlich gar kein wirkliches Leben besaß, kein würdiges, volles Dasein ermöglichte: Das missionierende Verlassen der Insel galt als „weißes Martyrium“, ein Opfer ohne Blutvergießen.

Caes. b. G. 6, 13, 10 hi certo anni tempore in finibus Carnutum, quae regio totius Galliae media habetur, consistunt in loco consecrato, huc omnes undique, qui controversias habent conveniunt eorumque decretis iudiciisque parent. Zur druidischen Rechtspflege siehe Birkhan 1999, 917. Freilich gibt es bei den Kelten wie bei fast allen vergleichbaren Völkern keine Scheidung zwischen sakral und profan. Das Sakrale wirkt prinzipiell in allem, aber doch in sehr verschiedener Konzentration. Im Jahr 52 v. Chr. übernehmen die Carnuten die Aufgabe der ersten Aktion gegen die Römer (Caes. b. G. 7, 2, 1) und schlagen in Cenabum los (ebd. 7, 3, 1). Es wird dabei zwar „Gutruatus“ genannt (ebd. 7, 3, 1, wie immer das Wort auch lautete; vgl. zu all dem beispiels-

weise die Spekulationen im Kommentar von Kraner/Dittenberger/ Meusel zur Stelle in Bd. 2, 242). Aber im weiteren Verlauf treten weder dieser Mann noch der Stamm weiter hervor, weder bei der Wahl des Vercingetorix zum Oberbefehlshaber (zugleich principatus) noch bei Bestreitung und dann Bestätigung seiner Stellung noch beim Ersatzheer für Alesia. Im Jahr 51 werden die Carnuten mit ihrem Anführer noch einmal genannt, nur als ein Stamm unter vielen (Caes. b. G. 8, 4, 2–5, 4; 8, 31, 1–4; 8, 38, 3–5; 8, 46, 4). Raubzüge kamen vor, waren aber etwas ganz anderes, und dasselbe gilt von der irischen Einwanderung in Westschottland.

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Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

Mit unerhörter Kühnheit konstituierte sich hier ein im Sinne des Kontinents Europa geographisch äußerst exzentrisch gelegenes Land als Welt und Mitte5. Dieses Urteil verschiebt sich freilich, wenn man der Erstreckung Europas die Weite des Ozeans entgegenstellt. In diesem Sinne konnte Irland als Mittelpunkt oder Überschneidungsraum beider geographischer Hälften gelten. Es ist wohl auf dieses Vorbild zurückzuführen, dass dann die Wikinger/Normannen einige Jahrhunderte später einen vergleichbaren Schritt taten, aber in völlig anderer Weise. Ihre Heimat stieg nicht zur „Welt“ auf, wohl aber setzten sie extrem thalassozentrisch6 sich selbst als Personalverbände heldischen Zuschnitts als Mitte, wobei die Küsten und küstennahen Bereiche bis Italien hin zur Peripherie dieser Mitte wurden, reine Objekte von Heldentum und Raub. Die Vorstellungswelt blieb im Rahmen des lebenden, beherrschten Meeres, lange Zeit scheinen die Länder Europas überhaupt nur als Küsten (mitsamt den ins Innere führenden Strömen) begriffen worden zu sein. So lag die Idee des Zentrums nicht so sehr im Land der Heimat, sondern in ad hoc immer neu gebildeten Kriegergruppen, die vom Meer aus, von der ungreifbaren gestaltlosen Mitte aus, als mobiles Zentrum alles andere zum raubend heimgesuchten „Rand“ (Peripherie) der eigenen Tapferkeit machten.Von daher aber erklärt sich die auffallende Bereitschaft, ja Neigung, mit der sie als Personalverbände die Heimat und die Küsten, an denen sie lebten, wechselten. Um auch ein fernes Beispiel anzuführen: Die Idee von China als dem Reich der Mitte strebte höchste kulturelle Weihen an bzw. beanspruchte sie. Natürlich zog diese Vorstellung auch das Kartenbild etwa in der frühen Neuzeit an sich (s. o.), wenn fremde Völker und Reiche gern als vergleichsweise winzig gezeichnet wurden, aber es war primär eine Mitte des Menschenbildes in umfassender Harmonie aller Gegensätze, von Yin und Yang, mehr noch eine Mitte von Ethik und „Sitte“, die im umfassendsten Sinn als geistige Macht und harmonisches Gleichgewicht aller menschlichen Pflichten und damit aller menschlichen Daseinswürde galt. Am Ende dieses Abschnitts ist zu betonen, dass in der Weltgeschichte bei weitem nicht jede „Mitte“ einen solchen Tiefgang besitzt wie die gebrachten Beispiele.

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Wobei freilich daran zu denken ist, dass gerade in der Zeit der Blüte Irlands der Westen und die Mitte des Kontinents kein sonderliches Bild von Würde und Größe, von Werten und Ordnung boten. Britannien lag zwar nahe, aber es musste eben psychologisch „zur Seite geschoben“ werden.

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2.2 „Schizophrenie“ auseinanderklaffender Realitäten Dafür gibt es mehr Beispiele als man aufzählen kann. Im Alten Orient lernten nach der Schlacht bei Kadesch im 13. Jh. v. Chr. sowohl die Ägypter wie die Hethiter ihre allzu großen Machtansprüche aufzugeben. Es gab keinen Sieger, es gab kaum einen Verlierer, man grenzte die gegenseitigen Interessenszonen ab und verkehrte auf gleichem Fuß. Aber im politischen, geistigen und kulturellen Innenraum Ägyptens wurde man nicht müde, jene Schlacht als überragenden Sieg zu feiern. Gestürzt ist die Größe der Hethiter, sie leben jetzt im Elend, sie sind Peripherie Ägyptens, ja überhaupt „hinausgestoßen“. Man darf das nicht allzu leichthin als propagandistische Lüge bezeichnen. Es war vielmehr geradezu unerlässlich für das seit Jahrtausenden bewahrte Bild Ägyptens von sich selbst, d.h. von den Göttern und der Welt, der eigenen Kultur und von der religiösen Stellung des Pharao. Es war eine historische Unwahrheit, aber eine mythische, kulturelle Wahrheit. Durchaus vergleichbar ist das Rom des Augustus. Der Kaiser sah einen Partherkrieg als sinnlos an. Damit wich er freilich das erste Mal von dem römischen Grundsatz ab, in unmittelbarer Nähe des Reiches keine Großmacht zu dulden: Es musste eben sein. Der Iran mitsamt Mesopotamien wurde als Großreich akzeptiert, man verhandelte meistens auf völlig gleichem Fuß miteinander. Aber innenpolitisch feierte Augustus seinen Ausgleich als ungeheuren Erfolg, die Parther wurden als Unterwürfige, Schutzflehende dargestellt, die Rom großzügig verschonte. Erst jüngst hat D. Timpe (1996, 34 ff.) herausgearbeitet, dass in der römischen Kaiserzeit im gewöhnlichen Geistesleben die Germanen gern als Barbaren dargestellt wurden7, dass die reale Außenpolitik der Kaiser aber ganz nüchtern und meist freundlich war und fremde Stämme oder Herrscher oft durchaus nicht mit Verachtung behandelt wurden. Blicken wir auf jenes Germanien, so zeigt sich auch hier ein überaus häufiges ethnographisches Phänomen: In der Mannusgenealogie waren sie schon sehr früh selber die Nachkommen des Mannus, des Urmenschen, gewesen. Die Alemannen erhoben viel später sogar den Anspruch, innerhalb der anderen „alle Männer, alle Menschen“ zu sein. Wir fragen uns, wie sich so etwas mit den täglichen Erlebnissen vereinen ließ. Aber beide spielten eben wieder auf verschie-

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Zumindest im Westen. Anders verhielten sich anscheinend die Skandinavier in Osteuropa, aber auch hier banden sie sich an die großen, durchlässigen, raumübergreifenden Verkehrsrouten, vor allem an die großen Ströme. Natürlich nicht immer.

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denen Ebenen. Auf der des Menschenwertes schlechthin war eben alles andere, das wie ein Mensch aussah, ein bedauerlicher Seitentrieb, ein Misslungenes, aber beruhigenderweise Unwichtiges. Es gab sie, leider, aber es war nur gerecht, sie zu ignorieren, sie in die äußerste geistig-moralische Peripherie zu versetzen; sie waren „draußen“. Auch wenn das nicht auf die Dauer so blieb, der Impetus des Anfangs geschah aus eben dieser Haltung. Hat solches auch bei der Ethnogenese der Kelten eine Rolle gespielt? Die Zeugnisse raten, das eher zu bejahen. Denn erstens trennte sich das entstehende Keltentum künstlerisch (und damit auch geistig) bald scharf von seiner Umwelt ab, und zweitens entwickelte es in ein paar Generationen eine geradezu unerhörte Aktivität nach außen. In Hellas sah nach dem Sturz Kimons Athen sich als fast totales Zentrum; es gab zwar ein Griechenland, aber doch nur zu dem Zweck, um von Athen geführt zu werden. Nach der militärischen Erfolglosigkeit transponierte Perikles diese Selbstschau ins Kulturelle. Im Titel des Abschnitts ist von „Realitäten“ im Plural die Rede. Denn auch das Menschenbild getrennter Kulturen ist jeweils eine feste Tatsache. Und wenn auch in moderner Zeit nicht so viele Kulturvölker sich offen als Mitte der Welt, als Inbegriff der Kultur, als Zweck der Menschen fühlten, gäbe es vielleicht weniger und kleinere Kriege, und mit geringerer Brutalität. Im Verborgenen scheinen aber eben doch manche sich so zu fühlen. 2.3 Einige weitere Arten von Zentrum Die „ordnende“ Mitte ist wohl zuerst zu nennen. Es gibt wahrscheinlich keine – oder keine ausgeprägte – Kultur ohne ein Zentrum: ein Zentrum des Denkens, Willens und Planens, Ausgangspunkt neuer Initiativen, Ausgangspunkt der Taten, Mitte des Schöpfertums – Mitte des Lebens. Leben setzt ein Lebenszentrum voraus oder ist selbst als Ganzes ein Zentrum. Ordnung zu schaffen, ist die hohe Kunst, sinnvoll nach Werten zu strukturieren: geistig, politisch, religiös, sozial und überhaupt allgemein kulturell. Immer ist, verborgen oder offen, eine Hierarchie der Werte und der sie ausübenden Menschen vorhanden. Man gestaltet sich selbst, die innere Peripherie und gegebenenfalls auch die äußere. Wo Struktur gegeben wird, ist zumindest für eine Zeit das Zentrum. Das Ordnen kann ideell oder mit Gewalt geschehen. Auch hier ist an die Druiden zu erinnern. Sie hatten sich personal und religiös (etwa im Opferwesen) für eine Reihe von Belangen zur Recht gebenden, moralischen, weisen und vieles leitenden Mitte gemacht. Es ist zur Diskussion zu stel-

len, ob dieser Vorgang vielleicht erst im Werden und noch nicht abgeschlossen war, als Caesar kam. Aber das Zentrum kann auch ein bloß „herrschendes“ und „eroberndes“ sein und alle Zwischenformen zwischen Niederwerfung und sinnvoller Struktur aufweisen. Die „Weltreiche“ des Alten Orients sind als Versuche zu begreifen, das eigene Volk und Land, den eigenen König, den eigenen Gott, die eigene Stadt zur Mitte einer gewaltsam unterworfenen ökumenischen Gesamtwelt der „vier Weltgegenden“ (oder so ähnlich) zu machen. Oft tritt die Maxime auf, dem eigenen Gott die Welt zu erobern, ob es nun Assur, Ahuramazda oder Allah ist. Dabei zeigten diese Weltreiche oft nur eine geringe Fähigkeit, sinnvolle Strukturen zu schaffen, da mit der Eroberung der religiös-geistige Auftrag erfüllt war. Daher die kurze Dauer der meisten dieser Schöpfungen. Das Extrem nackter Unterwerfung war etwa das Neuassyrische Reich, das fast nur mit Zerstören, Verwüsten, Töten und alles mischenden Deportationen arbeitete. Der größte – und misslungene – Versuch, jede Struktur außerhalb Assurs zu vernichten, war die Ausradierung Babylons und seines Gottes Marduk. Das Perserreich, weit gelassener (weil stärker) und toleranter, erzielte in bedeutendem Maße eine lose, aber sinnvolle Strukturierung seines Herrschaftsbereiches und garantierte damit in einem riesigen Länderkomplex doch Ordnung, Frieden und Wohlfahrt. Hätte es nicht die Griechen und Alexander d. Gr. gegeben, kein Volk Vorderasiens hätte dieses Imperium stürzen können. Nur Ägypten zeigte einen obstinaten Widerstand, sich in eine Ordnung zu integrieren, in der es nicht selbst das absolute Zentrum war oder sich wenigstens so betrachten konnte. Die Herrschaft der Azteken von Tenochtitlan war ein Extrem blutiger Niederwerfung ohne jede Ordnungsidee, nur gestützt auf den Machtwillen der eigenen Götter. Hingegen war das enorm große Reich der Inka zwar im höchsten Grade totalitär, aber es strukturierte die Landmassen, die es enthielt, und schuf einen wohlgeordneten Frieden. Sein Zentrum waren die Person des Inka und die Stadt Cuzco, sein Anspruch war, die Welt schlechthin zu sein; deswegen befand es sich in ständiger Expansion.Von allen unterworfenen Ländern und Provinzen wurde Erde nach Cuzco geschafft und auf einem bestimmten Platz einplaniert. Die Idee von Welt, Weltherrschaft und Weltmitte konnte kaum noch deutlicher ausgedrückt werden. Eine spezielle Ausformung eines Zentrums ist die Funktion als „integrative“ Mitte; der Ort von ausgeglichener Gemeinsamkeit für einen größeren Kreis von Ländern, die an sich auch sehr vielfältig und durchaus verschieden geartet

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

sein konnten und etwa gar nicht untereinander verbunden waren als eben nur in diesem Punkt. Memphis war im Alten Reich in Ägypten etwas dieser Art. Bekanntlich gab es in pharaonischer Zeit nie ein Land Ägypten, es gab nur ein Unter- und Oberägypten, der Pharao war nur der König beider Länder, die künstlerische Darstellung der symbolischen steten Verbindung der zwei Hälften als Ordnung und Harmonie stiftender Kultur war ein Fixpunkt im Reservoir königlicher Selbstdarstellung. Memphis aber, die Residenz des Alten Reiches, war die „Waage beider Länder“, der Ort ihrer harmonischen, gerechten Zusammenbindung. Roms Geschichte lässt sich zu einem sehr beträchtlichen Teil in solche Ideen fassen. Am Beginn stand die reine Eroberung, dann die Ordnung von Latium, nach blutigsten Kämpfen die Ordnung des vielfältigen, divergenten Italien. Und wieder einmal rückt eine brutale, weit ausgreifende Eroberung in den Vordergrund. Mit größter, wenn auch chronologisch ausgedehnter Konsequenz unterwarf Rom sich die Länder des Mittelmeeres ohne besondere Kulturtaten dafür anzubieten; einen römischen Frieden garantierte jedoch zum Teil schon die römische Republik. Aber der oft zweifelhaften Treue der regierenden Statthalter und der enormen Ausnutzung der römischen Hochfinanz und des Handels blieben die Provinzen unterworfen. Die Funktion als „eroberndes“ und „beherrschendes“ Zentrum stand im Vordergrund, auch wenn es schon eine beachtliche Ordnung in Provinzen gab, auch im Rechtswesen. Diese Stadt, und nur sie, war militärisch und politisch der zusammenfassende Faktor – in Idee wie realer Initiative – erst für Italien, und dann des ganzen „Weltkreises“ rund um das Mittelmeer. Die Ersetzung des griechischen Wortes „oikumene“ durch das lateinische „orbis“, Kreis, evoziert die Vorstellung einer Peripherie rund um einen Mittelpunkt. In der Tat war „Rom“ die einzige Definition für dieses kunterbunt zusammengewürfelte Reich. Wo immer wir aber heute im Gebiet des ehemaligen Imperiums bis nach Schottland, bis zu Rhein und Donau den Spaten ansetzen, tritt uns in dichten Zeugnissen der Kaiserzeit überall ein ganz anderes Rom entgegen: Ein Rom, das mit Generationen währender Zähigkeit und Konsequenz die mediterrane Kultur auch in die fernsten und äußersten Länder implantiert und inkulturiert hatte. Bereiche, die um 100 v. Chr. noch unbekannt, ja oft sagenhaft gewesen waren, partizipierten um 150 n. Chr. an der Reichszivilisation. Wenn man scharf hinsieht, so wurde der Übergang – für den es schon einzelne Vorformen gab – von Caesar inauguriert. Erst unter ihm wurde Rom zu einem wahrhaft ordnenden, ja sogar schon integrierenden Zentrum. Augustus

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ging ein Stück Weges zurück, aber unter ihm formulierte Vergil (Aen. 6, 851–853.) mit berühmten Versen den neuen Gedanken: tu regere imperio populos, Romane, memento … pacisque imponere morem … Hier ist es Roms welthistorische Aufgabe, „die Völker“ in seinem Reich zu leiten, und mit mos ist ein wichtiger römischer Kulturbegriff hereingenommen: Rom soll der beherrschten Welt Ordnung und eine sinnvolle Struktur geben, deren Wohltaten mit „Frieden“ und „Führung“ symbolisiert sind. Aber wie in anderen Dingen glitt in den Jahrhunderten der Kaiserherrschaft die Entwicklung in die Linie Caesars hinüber. Den „inneren Peripherien“ des Reiches (es ist ein Plural, da viele, verschieden hohe Zivilisationsformen bestanden), gerade auch den „barbarischen“ Peripherien trat Rom immer näher, ja es entwickelte eine Virtuosität im Umgang mit den Peripherien. Es war der ebenso einfach scheinende wie geniale Weg, in immer weiter gespannten Zonen durch Städtegründungen Subzentren zu schaffen. Diese Urbanisierung, die im 2. Jh. n. Chr. auch die unmittelbar am Limes gelegenen, „barbarischen“ Bereiche ergriff, gab den einheimischen Oberschichten ein ungefährliches Ziel des lokalen Ehrgeizes, entlastete die Reichsverwaltung von einer Fülle niedriger Administration und Rechtsprechung und war ein sanftes, ohne Zwang wirkendes Mittel der sprachlichen Romanisierung, vor allem der gesinnungsmäßigen Identifikation mit Rom und seinem Reich, der geistigen Romanisierung. Man darf hierin eine der größten weltgeschichtlichen Leistungen Roms sehen, die auch kulturell noch durch viele Jahrhunderte nachwirkte und einer der Grundpfeiler der Entstehung des heutigen Europas im Frühmittelalter war. Zugleich ist es einer der großen Akkulturations- und Inkulturationsvorgänge der Geschichte (dazu unten). So wurde im Reich die Stadt Rom, die „Stadt“ schlechthin, zu einem integrativen Zentrum ohnegleichen. Der „orbis“, die innere Peripherie, wuchs immer mehr in das Reich herein, Rom hatte sie zu einem idealen Umkreis gemacht: zur „integrierten Peripherie“. In Griechenland war einst die Kultur zum integrativen Medium geworden, das politisch nichts bewirkte. Selbstverständlich hatten so umfangreiche Völkerfamilien wie Kelten und Germanen keine integrierende Mitte, auch wenn Theoderich in der Spätantike und Karl d. Gr. im Frühmittelalter Gedanken dieser Art nachgingen. Im engeren Kreise Galliens hätte vor Caesar der principatus eventuell eine solche Rolle spielen können; dazu erst unten. Aber noch einer Funktion des Zentrums muss gedacht werden: Wenn es seine Werte aufgibt, kann es zur destrukturierenden Mitte werden. Denselben Weg kann auch ein Teil

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der Peripherie gehen, wenn er die Werte des Zentrums erfolgreich angreift und so sich selber als Gegenzentrum etabliert.

Das mobile Zentrum ist also in Hochkulturen eher selten, vermag aber doch sogar in ihnen bei Bedarf oder Wunsch spontan neu aufzutreten.

2.4 Mobiles Zentrum Auch dieser Typus ist nicht selten. Zu ihm zählen alle jene definitiven Wanderungen von ganzen (oder fast ganzen) Stämmen, gelegentlich auch nur von in sich geistig und mental „vollständigen“ Gruppen wie etwa Gaue. Solange sie sich nicht neu niedergelassen haben, bleiben sie natürlich wie zuvor mehr oder weniger ausgeprägte Zentren, die nun ohne Territorium nur im Personenverband bestehen. Ein Sonderfall, den wir später behandeln werden, sind die bewusst auf eine unbestimmte Dauer mobil werdenden Kimbern (Teutonen, Ambronen, keltische Tiguriner als ehemaliger Gau der Helvetier). Der Übergang zur ethnisch nicht eindeutigen, aber zahlenstarken Gruppe lange Zeit wandernder und plündernder Krieger unter einem Gefolgschaftsherrn oder Heerkönig ist fließend, und ebenso zur Tatsache einer „Wanderlawine“. Mindestens ein Teil der keltischen „Wanderungen“ wie z. B. die der Boier nach Oberitalien oder die belgischer Stämme nach Britannien usw. ist hier einzuordnen. Der Bezug auf Völker der germanischen Völkerwanderungen liegt ebenfalls auf der Hand. Musterbeispiel eines mobilen Zentrums waren die Juden vor ihrer Niederlassung im Gelobten Land, bei denen zum Zwölfstämmevolk und Moses wie dem Priestertum als Anführern noch die völlig mobile Bundeslade als wichtigstes, einzigartiges religiöses und politisches Zentrum trat. In gewissem Sinne blieb es wenigstens latent so, bis auf dem Sion und im Tempel sich eine endgültige Festlegung als säkulares Ereignis größten Stils vollzog. Ein beschränkt mobiles Zentrum waren die persischen Großkönige, die zwar bestimmte feste Stätten hatten (Persepolis, Susa, Babylon), aber unter ihnen wechselten und dabei stets die gesamte Zentralregierung und Entscheidungsgewalt mit sich bewegten. Ein ähnlicher, markanter Fall waren die deutschen Königs- oder Kaiserpfalzen. Ein Extrem dieser Art war Alexander d. Gr., der prinzipiell keine örtliche Festlegung, auch nicht so beschränkt wie die Perser, wollte und, wohin immer er zog, die komplette Reichsleitung behielt, also ein mobiler Zentralismus, wie ihn F. Schachermeyr (1973, 509 f. vgl. 142) eindrucksvoll gezeichnet hat.

2.5 Begegnung von Zentren; Gegenwelten und Gegenzentren; kulturelle Autonomie Auch dieses in Form und Inhalt unerschöpflichen Themas sei nur kurz gedacht. Der Fall einer destrukturierenden Zentralität oder Peripherie wurde oben schon erwähnt. Ein getrennter Fall ist der Polyzentrismus (s. u.). Zwei Reiche, zwei Kulturkreise, zwei Völker und Völkergruppen können in sehr verschiedener Weise miteinander politisch, wirtschaftlich oder kulturell verkehren. Hierher gehört z. B. der griechische Handel von Massalia ins Gebiet des westlichen Hallstattkreises, dann mit den Kelten und schließlich, im späten La-Tène, der recht umfangreiche römische und griechische Handel in Gallien. Beide Kulturkreise änderten sich nicht, freilich ohne einander als „Zentrum“ zu erkennen bzw. anzuerkennen. Auch der weit gefasste Begriff des „Kulturtransfers“ ist zu nennen (s. u.). Natürlich gibt es Verbindungen zwischen Zentren vermittels der Peripherien. Die alltäglichen Kontakte vieler Art, um nur ein Beispiel zu nennen, geschahen nicht zwischen Senat und norischem König, sondern vor allem von Aquileia aus. Der Daker Burebista und nach ihm der Markomanne Marbod fassten ihr Volk und ihre Reiche jeweils durchaus als Zentrum auf. Burebista suchte während des caesarischen Bürgerkriegs auf gleicher Ebene mit Pompeius zu unterhandeln, wobei ein latenter Streit um Interessensgebiete eine Rolle spielte (Dobesch 2001, 786 f.). Marbods gesamte Außenpolitik lässt sich in dem Grundsatz zusammenfassen, sich Rom gegenüber als gleichwertiger Partner zu etablieren, aber um keinen Preis in eine politische Konfrontation mit dem Reich zu geraten. Die Formen des Verhandelns wechselten dabei (Vell. 2, 109, 1 f.); wirtschaftlich bestand eine sehr beachtliche Verbindung mit dem Römerreich8. Man kann die Haltung der zwei großen Herrscher auch in der modernen Kategorie formulieren, dass beide in keiner Weise zur Peripherie des römischen Mittelmeerraumes werden wollten. Um diesen und vielen anderen Fällen gerecht zu werden, wird man neben den Begriff der „politischen“ Autonomie (in möglichst hohen Graden) den der „kulturellen“ Autonomie stellen9. Es geht darum, in der Kultur (im weitesten

Tacitus (ann. 2, 62, 2 f.) nennt für Marbods Herrschaftszentrum: regiam castellumque iuxta situm. (3) veteres illic Sueborum praedae et nostris e provinciis lixae ac negotiatores reperti, quos ius commercii, dein cupido au-

gendi pecuniam, postremum oblivio patriae suis quemque ab sedibus hostilem in agrum transtulerat. Vgl. 80.

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Sinne) die eigene Identität festzuhalten und ebenso die Eigengesetzlichkeit der eigenen Weiterentwicklung und das eigene „Kultursystem“ zu wahren. Dies ist durchaus verträglich mit Begegnung und lebendiger Reaktion auf das Fremde; vor allem geht es dann darum, vom Gegenüber nur das Passende zu nehmen und umzuformen, also um Vorgänge der Assimilation, Integration oder gar Inkulturation. In hervorragender Weise gelang dies z. B. dem Hallstattkreis. Auch die frühen Hellenen übernahmen Beträchtliches vom Orient und Ägypten, gaben aber ihre geistige Autonomie nie auf und weigerten sich, zu deren Peripherie zu werden. Orient wie Nilland mögen sie dafür angesehen haben, doch blieb das subjektiv. Übrigens ist ein Dasein als „äußere“, fremde, ausgeschlossene, getrennte Peripherie in gewissem Grade mit einer Autonomie (auch politisch) durchaus verträglich. Mit bestem Erfolg wahrte La-Tène seit der frühesten Begegnung mit mediterranen Einflüssen über die Einwanderung ins Mittelmeergebiet bis hin zur römischen Eroberung Galliens und erheblich später Britanniens die eigene kulturelle Autonomie, Zeichen einer außerordentlichen Lebenskraft. Nur die Galater mussten sich, militärisch bezwungen, in größerem Maße fremden Formen beugen, behielten aber lange eine eigene politische Aktivität. Italien scheiterte im Verlauf der Renaissance auf politischem Gebiet weitestgehend, aber seine kulturelle Autonomie, die immer wieder sogar die Außenwelt bereicherte, bewahrte es ungestört bis an die Schwelle des Klassizismus. Als Beispiel für wirtschaftliche Autonomie in teilweise enger Konfinität können wieder Hallstatt, La-Tène und zuletzt die Germanen in Bezug auf den Mittelmeerraum, später auf das Imperium Romanum bis zum 3. Jh. n. Chr. genannt werden; sehr selten entgleiste deren eigene, wechselweise ökonomische Geschlossenheit. Eine höhere Form nimmt eine solche Autonomie – auch die politische – an, wenn zwei Kulturkreise nicht nur verschiedene Wege gehen, also getrennte Welten sind, sondern völlig andere, gegensätzliche Wege, also durch zwei klar widerstreitende Gesetze der Eigengesetzlichkeit (Autonomie) auseinander streben, womöglich beide auch noch in großer Aktivität. Solange sie weit genug entfernt sind, um ungestört eigene Wege in Religion, Kultur, Politik oder Militär gehen zu können, ohne einander zu gefährden, wie z. B. das früheste La-Tène und die Mediterrankulturen in Kultur wie Politik, wird man eher nur von Gegenkulturen oder Gegenwelten sprechen: Zwei nicht bloß „andere“ oder „fremde“, sondern zwei latent entgegengesetzte Welten stehen nebeneinander, getrennt. Das ist eine explosive Art von Verbindungen oder Fremdheit zwischen zwei Zentren.

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Kommen sie in unmittelbare Berührung, so muss es früher oder später zum Konflikt kommen. Das muss nicht Kampf bedeuten, es gibt auch eine beiderseitige „Ausschließung“ oder wenigstens Ignorierung, die schon eine der Formen einer negativen Bewertung ist. Das ist einer der Faktoren, die zum Barbarenbegriff in seiner herabsetzenden Bedeutung führen. Hier darf man von Gegenzentren sprechen. Es genügt, wenn mindestens eine der beiden Seiten die andere dafür hält. Solches gibt es aber auch geistig innerhalb des gleichen kulturellen Raumes. Es kann eine neue Religion wie das Christentum gestiftet werden, es können Träger einer neuen Religion einwandern. Es gibt auch unerbittlich streitende Ideen von Verfassungsformen, von Kulturgestaltung, von Revolutionen im philosophischen oder politischen Bereich. Eine Kultur kann erstaunlich lange gemeinsam mit solchen Gegenwelten bestehen, aber ihre Lage wird immer prekär bleiben oder mit der Zeit werden. Solche Gegenzentren kann es also auch innerhalb eines Volkes oder einer Kultur geben. Es ist das ein Zustand, der nicht auf die Dauer gelten kann, auch wenn man von „Multikulturalität“ spricht. 2.6 Polyzentrismus Ein Verhältnis von Zentrum (oder Zentren) zu Zentrum (oder Zentren) kann Polyzentrismus genannt werden, wenn es innerhalb eines politischen oder geistigen Kreises geschieht, der einen großen gemeinsamen Bestand in sich schließt. Ein und dieselbe Kultur wird dann in ihrem Wesen und ihrer Einheit geradezu konstituiert durch einen inneren Polyzentrismus gesteigerter Individualitäten und allerengster „innerer“ Nachbarschaft (innerer Konfinität, s. u.), die eine Nachbarschaft mit oft unerhörten Spannungen sein kann. An sich sieht jede Mitte subjektiv alle anderen möglichst als Peripherie, nur im Polyzentrismus nicht. Aber auch hier kann es aus Feindschaft oder Eifersucht oder übertriebener Selbstgefälligkeit den Versuch geben, die anderen Zentren, Mit-Zentren, wenigsten für Peripherie zu halten, ja das zu verkünden. Die übelste Form ist, wenn man die Gemeinsamkeit des Kulturbereichs leugnet, ein feindliches Zentrum aus dem Polyzentrismus überhaupt hinauszustoßen sucht und es damit zum Gegenzentrum macht; in der Regel geht das Hand in Hand mit der Bewertung als überhaupt kulturlos, als „Barbar“ im bösen Sinn. Berühmte Beispiele des Polyzentrismus sind die Tempelstädte der frühen Sumerer, die kretischen und dann die mykenischen Paläste, die griechischen Poleis, die Städte der Etrusker oder die vielen Tempelzentren der Mayas, alle auf

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relativ engem Raum. Die eng beieinander liegenden Städte der Phoiniker förderten zwar nicht so sehr Kunst oder Geist, umso mehr aber die Unternehmungslust. Auch die vielen Zentren der Renaissance in Italien gehören hierher. Auch Indien besaß in den meisten Epochen seiner Geschichte einen politischen wie religiös-geistigen Polyzentrismus mit einer verwirrenden, nie endenden Fülle wechselnder Konstellationen. Auch Europa war bis jetzt ein weitgestreckter Raum, weiter als manche andere, der an Vielfalt und Individualitäten der Völker unerschöpflich reich war, ja in seinem gemeinsamen Rahmen fast getrennte Teilkulturen hatte, so wie etwa die großen romanischen Dome am Rhein auch noch in einer Zeit gebaut wurden, als Nordfrankreich schon gotisch war; usw. In diese Reihe gehören aber auch die keltischen (später die germanischen) Stämme insgesamt, die in einer Fülle großer lokaler Zentren über den Raum von Britannien bis Kleinasien verteilt waren. Die Gunst der Quellen erlaubt es, das Gallien der Zeit Caesars als eine sehr intensive Ausprägung eines Polyzentrismus zu erkennen: Große Stämme, kleine Stämme, größte Stämme, die, soweit sie nur irgend imstande waren, sich „Stammesreiche“ von Gefolgschaftsstämmen, befreundeten Stämmen, Klientelstämmen und tributzahlenden Stämmen schufen, Geltungsbereiche ihrer auctoritas in lokaler Größe anstrebten, wobei die größten voll Erbitterung um die erste Rolle in ganz Gallien stritten. Es war eine labile und gefährliche innere Konfinität von einander widersprechenden Schwerpunkten in einer grundsätzlich fast völlig gleichen Kultur (ihnen allen gemeinsam die Druiden). Ja die Arverner/Sequaner und die Haeduer waren in dieser Gemeinsamkeit durch ihren Hass und ihren Machtwillen zu politischen Gegenzentren geworden, deren Geltungen einander ausschlossen. Wir lernen daraus zugleich, dass polyzentrische Kulturen häufig nach irgendeinem übergeordneten Zentrum suchen (siehe dann unten zum principatus in Gallien). Dabei kann sich das auf verschiedenen Ebenen abspielen, so dass die Rollen verteilt werden: Vorrang gegen Vorrang politischer Art in Gallien bestand (weitgehend?) losgelöst vom Oberdruiden und dem Fest im Land der Carnuten. So bestehen bisweilen Kulturkomplexe, auch Völker, mit nicht nur einer Mitte, sondern mit einer Mehrzahl von Mitten, die miteinander nicht zu streiten brauchen. Diese Suche nach einem Ehrenzentrum oder auch nur nach lokaler Machtbildung, also ein Zentrismus im Polyzentrismus, stürzt den letzteren fast notwendig in schwere innere Kämpfe. Beispiele erübrigen sich, die Fortschritte der Forschung in den letzten Jahrzehnten haben uns sogar ge-

zeigt, welch harte Kämpfe gegeneinander auch die Tempelstädte und Kultzentren der Maya beherrschten. Wir stehen damit schon tief in der Problematik, wie ein Polyzentrismus in der Praxis funktioniert und bestehen kann.Wie können benachbarte, in irgendeiner Weise zusammengehörige und daher physisch oder psychisch benachbarte Zentren miteinander verkehren? Auch hier müssen Andeutungen genügen. Grundsätzlich gibt es einen „gesteuerten“ und einen „ungesteuerten“ Polyzentrismus und Pluralismus. Vielleicht ist jener Polyzentrismus der Idealfall, der keiner Steuerung bedarf. Wir treffen dieses seltene Glück in Griechenland vor den Perserkriegen. Lokale Kämpfe waren stets möglich, ja auf der Tagesordnung, aber sie waren keinerlei Gefahr für das Bestehen, ja die Blüte von Hellas. Sie gefährdeten auch nicht ein politisches System, weil es nämlich (fast) keines gab. Was äußerst bescheiden als etwas größere Macht auftrat, blieb mit der Machtbildung, sofern überhaupt eine da war, in engem Rahmen. Nur Sparta war eine Ausnahme und hatte eine große Eroberung, Messenien, gemacht. Aber danach lernte es sich bescheiden und strebte nur nach einem eher losen Vorrang in ganz Griechenland. Solange alle Ansprüche so gering waren bzw. noch niemand Sparta entgegentrat, gab es keinerlei Anlass für große Kriege. Es ist auch möglich, dass sich ein Polyzentrismus selber steuert. In Griechenland standen im 5. und 4. Jh. v. Chr. Sparta, Athen und dann Theben gegeneinander, aber in Europa gab es so viele große Mächte, dass sie durch wechselnde Bündnisse einander in Schach halten konnten. Aber dennoch ist Europa auch vor dem 20. Jh. in katastrophale Kriege verstrickt worden. Die edelste Form der Steuerung ist die „Harmonisierung“. Sie ist demgemäß selten. Kimon setzte sie eine Reihe von Jahren durch, indem er die einander ergänzenden Werte und militärischen Potentiale Athens und Spartas in Freundschaft verbunden erhielt. Auf die Dauer erfolglos war auch die mittelalterliche Idee, den europäischen Polyzentrismus durch Rollenteilung in der Vorrangstellung sinnvoll und ungefährlich zu machen: Gott habe Italien das Sacerdotium, Deutschland das Imperium und Frankreich das Studium gegeben. Andere Möglichkeiten einer Formung eines Polyzentrismus können kultische Bündnisse sein. In Mittelgriechenland suchte die pyläisch-delphische Amphiktyonie bzw. das delphische Heiligtum selbst ein gewisses Ethos ritterlichen Krieges zu schaffen und darüber hinaus noch bei Gelegenheiten leitende und mäßigende Weisungen zu geben. Eine ebenso lose Harmonisierung durch einen Kultbund der

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„Gesamtheit“ konnte in früher Zeit das Panionion für die Jonier Westkleinasiens, für die Latinergemeinden das gemeinsame große Fest, für die zentralen Etrusker die Institution der duodecim populi Etruriae werden. Sie alle verhinderten Kriege nicht und wollten das auch nicht, aber sie erinnerten an übergeordnete Gemeinsamkeiten und schufen Gelegenheiten zu Begegnungen. Lokal begrenzte, aber doch auch bemerkenswerte Modelle von freiheitlicher Einigung, Verbindung oder Harmonisierung örtlicher Zentren sind etwa in den Beziehungen von Freiheit und Verbundenheit, aber ohne Aufhebung der Stammesidentität, zu erblicken, die uns Caesar für die Haeduer und die Boier oder für die Suessionen und die Remer bezeugt10. Es ist lehrreich zu sehen, welche Formenarten und welchen Einfallsreichtum die keltische politische Phantasie kannte, wobei wir hier fast nur zufällig davon hören. Erwähnt seien auch die „vier Völker“ der Vindeliker11. Andere Mittel sind möglichst umfassende Bündnissysteme für militärische und politische Übermacht und, meist daraus resultierend, die Schaffung einer alle große Politik irgendwie kontrollierenden Vormacht, etwa in einem Ehrenvorrang. Darüber werden wir unten im Rahmen des gallischen principatus sprechen. Nur kurz sei die Frage genannt, was diese speziellen Formen von Zentrum (und Peripherie) welthistorisch zu „leisten“ vermögen. Allbekannt sind die Tatsachen, dass erstens gerade ein wetteifernder Polyzentrismus zu einer Intensivierung der Kräfte führt, die eine kulturelle Blüte begünstigt – wie gerne wüssten wir, wie im caesarischen Gallien auch geistige Leistungen dadurch gefördert wurden, etwa bei den Druiden, oder ohne sie vielleicht bei den Barden. Dazu tritt aber als Zweites die Gefahr dauernder gegenseitiger Schwächung in Macht, Ansehen und Kampf, was oft zum politischen Ruin führt und zum Verlust der Freiheit. Man sollte das aber modern nicht zu sehr beklagen und anklagen: Schließlich geht ja jeder politische Komplex früher oder später zugrunde.

Andererseits ist zuzugeben, dass auch Kulturen, Länder und Völker, die durchaus „monozentrisch“ leben, größte Leistungen der Kultur erbringen können. Die zeitweise absolute Dominanz des Pharaos schadete der ägyptischen Kunst nicht. Die alles anspannende Konzentration und Intensivierung der Kräfte gelang auch ohne Feind. Rom zog im Imperium lange Zeit fast alles geistige Leben an sich, und große Kulturleistungen waren das Ergebnis. Polyzentrismus kann drei Wurzeln haben: 1. Er kann aus dem Zerfall einer Einheit entstehen. So geschah dies bei den germanischen Nachfolgestaaten des Weströmischen Reiches, bei China wenigstens einmal, bei Ägypten mehrmals in Perioden der Auflösung in eine Vielzahl wetteifernder Mitten; in China vor allem in der Zeit der Streitenden Reiche, in Ägypten z. B. in der ersten (mit großer Blüte der Kultur) und zweiten Zwischenzeit. Gallier wie Germanen besaßen nie eine Einheit, die zerfallen hätte können, bei ihnen ist also der Pluralismus anderer Herkunft. – 2. Ein Zentrum (einzeln oder im Plural) kann mit Willen wie ohne Willen (gleichsam wie ein „unbewegter“ Beweger, wenn auch in sich selbst bewegt genug) andere Zentren (nicht nur Peripherien) um sich entstehen lassen, ihre Initiative wecken. So erhoben sich rund um Griechenland die Makedonen, die Epiroten, verschiedene kleinasiatische Völker wie die Lykier, ferner die Etrusker und zum Teil auch die Römer. Japan ließ sich von China inspirieren, ohne dass China sich dabei sonderlich angestrengt hätte. Das ohnehin schon polyzentrische Hellas schuf durch die erste und zweite Kolonisation eine große Anzahl zusätzlicher griechischer Zentren von hoher und höchster Bedeutung: Milet, Ephesos, Smyrna, Rhodos, dann Syrakus, Poseidonia, Elea, Sybaris, Metapont, auch Olynth oder Massalia und die Städte rund um das Schwarze Meer usw. Nur das letzte Beispiel passt auf die Kelten der Wanderbewegungen, die neue große Zentren von Irland bis Galatien ins Leben riefen. – 3. Eine Kultur kann sich a priori polyzentrisch konstituieren. Auf diesen Problemkreis soll eingegangen werden, wenn zuerst zwei spezielle Fälle von Polyzentrismus kurz gestreift sind.

Zu den Haeduern und Boiern: Caes. b. G. 1, 28, 5 Boios petentibus Haeduis …, ut in finibus suis conlocarent, concessit (sc. Caesar); quibus illi agros dederunt quosque postea in parem iuris libertatisque condicionem atque ipsi erant receperunt. Die Remer nennen die Suessionen (ebd. 2, 3, 5) fratres consanguineosque suos, qui eodem iure et isdem legibus utantur, unum imperium unumque magistratum cum ipsis habeant. Früher meinte ich noch, die Boier seien als Gau dem Volk der Haeduer einverleibt worden, heute glaube ich, dass Caesars Worte nicht dafür sprechen. Dass die Boier in ebd. 7, 75, 3 (Entsatzheer für Alesia) getrennt von den Haeduern genannt werden, ist kein sicherer Deutungsanhalt, da

die neue Rechtsstellung ihnen von den Haeduern auch danach noch gegeben worden sein kann; nur die Abfassung der commentarii ist ein sicherer terminus ante quem. – Zu all diesen Fragen grundlegend Sordi 1953, 111 ff. (jetzt dies. 2002, 23 ff.).Vgl. b. G. 6, 3, 5. Plin. n. h. 3, 137 (Inschrift des Alpentropaeums des Augustus) Vindelicorum gentes quattuor. Bei Liv. 39, 54, 11; 39, 55, 1 wird der wahrscheinlich als die Noriker anzusehende, einheitliche Verhandlungspartner Roms auch als „populi“ bezeichnet; dazu Dobesch 1980, 179 ff. 376 ff.

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2.6.1 Das regnum Noricum als alternatives Modell Eine eigene Form der Verbindung von Zentrismus und Polyzentrismus scheint das keltische regnum Noricum in den Ostalpen gewesen zu sein. Es war ein „Stammesreich“, also eine Hegemonie der Noriker und ihres Königs über Stämme, die vielleicht verschiedene Rechtsstellung hatten: Verbündete, Klienten, Abhängige, vielleicht auch Freunde. Wie sehr sie das führende Zentrum waren, zeigt sich daran, dass nach außen ihr Name als Bezeichnung für die Stämme der Ostalpen siegte. Aber R. Göbl (1973, 53 ff. 65)12 hat in der Auswertung der Münzen gezeigt, dass sie andere Stämme ihrer Hegemonie an der Münzprägung teilnehmen, ja zum Teil sogar in Stempelgemeinschaft mit ihnen prägen ließen, was wohl als sehr hohe Ehre aufgefasst werden kann. Diese kluge, die Freiheit betonende Beteiligung, die manchen angeschlossenen Stämmen und Königen etwas von der Würde eines Subzentrums, ja von der Teilnahme am Zentrum verlieh, mag an der Stabilität dieser norischen Machtbildung kräftig mitgewirkt haben. Wir wissen nicht, welch andere Mittel die norischen Könige etwa noch eingesetzt haben. Der Magdalensberg, der in ihrem Territorium lag, könnte Zentrum einer Art von lokaler Amphiktyonie gewesen sein. Vor allem aber durften sich alle mit ihrem Reich Verbundenen im Handel mit Italien und Rom des Prestigenamens der Noriker bedienen und an dem festen, sicheren Schutz, den in diesem Ausland das hospitium publicum zwischen den Norikern und Rom bot, partizipieren. Diese politische Stabilität überlebte nicht nur den Einfall der Kimbern, ohne sie wäre der kühne, fast allzu kühne Griff der Noriker über den Alpenhauptkamm hinaus nach großen Teilen des Donautals und bis ins westliche Pannonien nicht möglich gewesen. Ob sich die Noriker auch des oben erwähnten Mittels einer „Sympolitie“ und ähnlicher Phänomene bedient haben, wissen wir nicht. Im großen Gallien scheint aus Caesars Berichten hervorzugehen, dass es etwas, das dem regnum Noricum entsprochen hätte, nicht gegeben hat13. Aber unsere Quellen erlauben keine Aussage, ob östlich des Rheins bei Kelten oder anderen Stämmen irgendeine Parallele bestanden hat. An die Vindeliker sei noch einmal erinnert. Ein „diffuses“ Zentrum – das letztlich von einem ruhigen Polyzentrismus kaum zu scheiden ist – scheinen die Galater

in Kleinasien zumindest in den ersten Generationen ihrer Ansiedlung gebildet zu haben, mit der Aufteilung der Ränder Kleinasiens in zugewiesene Raubgebiete einerseits und dem gemeinsamen Heiligtum im Drynemeton andererseits. In reiner Personalstruktur mögen sie alle zusammen das Zentrum gewesen sein, ein Modell, das näherer Untersuchung und Ausarbeitung würdig wäre.

Er hat freilich andere politische Schlüsse aus seiner Erkenntnis gezogen. Der Suessione Galba hatte kurz vor Caesar ein „Reich“ von belgischen und britannischen Stämmen gehabt (Caes. b. G. 2, 4, 7), aber

diese rein persönliche Schöpfung ging wieder vorüber und bestand zu Caesars Zeit nur noch als Erinnerung. Caes. b. G. 7, 15, 1–2: Im Jahr 52 v. Chr. uno die amplius XX urbes Biturigum incenduntur, wobei Avaricum nicht mitgezählt ist (s. u.).

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2.6.2 Keltische Oppida als Zentren? Dass die keltischen Stämme prinzipiell keine Hauptstadt kannten, ist längst Gemeingut der Forschung geworden. Größere gallische Völker und vielleicht auch kleinere besaßen mehr als nur ein einziges Oppidum. Dennoch wird man besser nicht von Polyzentrismus sprechen, da wir kaum wissen können, inwieweit jedes dieser Oppida überhaupt ein Zentrum, sei es noch so lokal, war. In der Wirtschaft mochten sie bis zu einem gewissen Grad Schwerpunkte wenigstens ihres unmittelbaren Umlandes sein, was sich ganz von selbst aus der – relativen! – Bevölkerungsballung und deren Bedarf ergab. Wahrscheinlich war die handwerkliche Produktion zum Teil in ihnen zusammengefasst, doch wissen wir nicht, wieweit die Landgüter des Adels diesbezüglich selbständig waren, so wie in vieler Hinsicht das Haus eines landsässigen griechischen Ritters des 8. Jhs. v. Chr. (Dobesch 2000, 18 ff.). Für den Handel waren die Oppida bequeme Mittelpunkte des größten Angebots. Dass sie als Märkte dienten, ist wohl sicher, und ihre Rolle wird auch dadurch beleuchtet, dass Kaufleute – eigene oder fremde – offenbar ihren Weg über die Oppida – wohl über nur das wichtigste oder die wichtigsten – zu nehmen hatten (Caes. b. G. 4, 5, 2). Das ist ohne Verpflichtung, ihre Waren dort anzubieten, kaum sinnvoll. So hatte wahrscheinlich das größte Oppidum (oder die größten Oppida) eines Stammes eine überregionale Geltung als Anziehungspunkt des intensivsten Kaufens und Austauschens. Die Oppida unterschieden sich darin von echten Städten, dass sie anscheinend nie zu vollen Zentren des Lebens wurden. Es ist enorme Übertreibung, wenn Caesar den Biturigen plakativ mehr als 20 urbes zuschreibt14, aber völlig auf die Zahl Zwei oder Drei kann man die Angabe auch nicht reduzieren. Hier sind natürlich auch kleine Siedlungskonzentrationen mitgezählt, aber selbst abgesehen davon waren die Oppida eines Stammes verschieden an Größe und verschieden an Bedeutung. Zum Polyzentrismus fehlte nicht „poly“,

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wohl aber „zentrismus“. Natürlich spielten im Alltagsleben des Krieges und innenpolitischen Streites die militärisch besonders sicheren Oppida wie Gergovia oder Alesia eine Rolle; Caesar sicherte seinen Krieg gegen Ariovist ab, indem er das feste Vesontio besetzte und so das Gebiet der Sequaner militärisch beherrschte; vorher war schon von gallischer Seite betont worden, dass alle Städte (Plural!) der Sequaner in Reichweite Ariovists lägen, was diesem große Vorteile sichere15. Oppida waren wichtige Punkte für den Nahrungsmittelnachschub, einer der Gründe, warum Vercingetorix im Jahr 52 v. Chr. alle Städte mit Ausnahme der uneinnehmbar gelegenen niederbrennen ließ16; das haeduische Oppidum Noviodunum war für Caesar eine Festung, in der sowohl Geiseln wie Nachschubbevorratung möglichst gesichert waren (Caes. b. G. 7, 55, 1–3. 5–8). Und in dem Kimbernsturm waren die in geschützter Lage liegenden Oppida der letzte Zufluchtsort der umliegenden Bevölkerung gewesen (Caes. b. G. 7, 77, 12), wobei die ältere Funktion als Fluchtburg ganz von selbst weiterlebte. Zu Beginn des Jahres 52 v. Chr. sicherte Vercingetorix seine Herrschaft über die Arverner auch dadurch, dass er mit dem ganzen Stamm das exzellent gelegene, starke Gergovia (auch mit dessen auctoritas) in seine Hand brachte, aus dem er zuvor vertrieben worden war (Caes. b. G. 7, 4, 2. 4); nicht zuletzt wegen der symbolischen Bedeutung dieser Stadt für das Prestige des Arvernerkönigs Vercingetorix unternahm Caesar im selben Jahr einen erfolglosen Angriff auf sie. Die Städte – was sich von selbst versteht – hatten also die praktische Bedeutung, die solchen Anlagen von Natur aus zukommt und auch von den Galliern selbst ausgenützt wurde. Hingegen scheint ihre politische Bedeutung meist gering gewesen zu sein und, was das Wichtigste ist, eine juristische und soziale Bedeutung überhaupt nicht existiert zu haben. Das soeben genannte Noviodunum war ein bedeutendes

haeduisches Oppidum neben Bibracte. Bibracte unterschied sich von ihm und anderen durch das, was Caesar (b. G. 7, 55, 4) in unnachahmlich präziser Charakteristik definiert, und zwar in den Wirren um den Abfall der Haeduer im Jahr 52 v. Chr.: Bibracte … quod est oppidum apud eos maximae auctoritatis17. Man beachte, was Caesar sagt und was er nicht sagt. Von Hauptstadt, endgültiger Entscheidung und Ausübung von Rechten und rechtlichen Gewalten ist nicht die Rede. Eine auctoritas ist in römischem Munde eine politische Tatsache, nicht aber eine rechtliche Institution. Auch ist die Relativität des Superlativs interessant: Aus der Aussage, dass Bibracte die meiste auctoritas von allen haeduischen Städten hatte, ergibt sich, dass auch andere – etwa Noviodunum – eine solche besaßen: Bibracte war nicht die einzige Stadt mit auctoritas, teilte sich diese Rolle mit anderen, wenn es sie auch übertraf. Seine große Bedeutung ist praktischer oder auch moralischer Natur (auch Ruf und Ehre in den Augen von Menschen sind nur praktische Tatsachen), nicht institutioneller oder rechtlicher. Die militärische Rolle fester Städte gehört auch dazu. Um es paradox auszudrücken: Bibracte war eben Bibracte, soviel, – aber auch nicht mehr. Wir haben schon erwähnt, dass im selben Jahr die Biturigen ihre Siedlungen niederbrannten. Aber sie baten im Kriegsrat flehentlich, nicht auch Avaricum diesem Schicksal zu unterwerfen: Caes. b. G. 7, 15, 4 pulcherrimam18 prope totius Galliae urbem, quae et praesidio et ornamento sit civitati. Wieder ist darauf zu schauen, was gesagt und was nicht gesagt wird: Avaricum wird nicht als Hauptstadt oder dergleichen bezeichnet. Aber es ist militärischer Schutz (Fluchtburg) des Stammes. Und es ehrt den Stamm und mehrt sein Prestige durch seine Schönheit. Die Stelle, deren Wert ich schon oft betont habe, ist ein unschätzbares Zeugnis dafür, dass mindestens im spätesten La-Tène bewusst Anlagen geschaffen wurden, die einer Stadt in keltischen Augen – nicht

Caes. b. G. 1, 32, 5 Sequanis … quorum oppida omnia in potestate eius essent. Modernen Übersetzern kann dies den Eindruck erwecken, als hätte Ariovist alle Städte in seiner Gewalt, was als Lüge Caesars zu betrachten sei. Ob Caesar absichtlich zweideutig formuliert hat, bleibt unklar, für den römischen Leser ergab sich eine solche Interpretation keineswegs zwingend aus diesen Worten. Derselbe Caesar erzählt bald danach, dass Ariovist den Versuch machte, bei dem Nahen der Römer Vesontio zu besetzen, er selbst ihm aber zuvorkam (ebd. 1, 38, 1. 7). Der Ausdruck „in potestate“ heißt nur, dass – wie es dann ja auch versucht wurde – die Städte der Sequaner in Griffweite Ariovists lagen, seinem Zugriff stets ausgesetzt: „in potestate“, nicht „sub imperio“ oder „occupata“. Caes. b. G. 7, 14, 1–9 mit Betonung auch der Nahrungsmittelversorgung (commeatus). Aus dem späteren Bericht geht hervor, dass z. B. Gergovia und Alesia, sicher auch Bibracte, nicht niedergebrannt worden waren, wohl im Vertrauen auf die Erfahrungen im Kimbern-

krieg (s. u.). Das Weiterbestehen Bibractes geht z. B. wohl aus ebd. 7, 63, 5; 7, 90, 7; 8, 2, 1; 8, 4, 1 hervor. Es geht um die politische und militärische Bedeutung der Tatsache, dass der Caesarfeind Litaviccus dort aufgenommen worden war, und zwar, wie Caesar ausdrücklich sagt: „ab Haeduis“, nicht (nur) von den Bewohnern, sondern vom Stamm insgesamt (vielleicht wenigstens symbolisch). Das zeigt, als wie wichtig die Haeduer die Stadt ansahen, zugleich aber nennt es nicht die Stadtbewohner selbst als Handelnde. Das ist (im äußersten Fall!) nur zum Teil auf landschaftliche Schönheit zu beziehen, denn die schöne Lage der Stadt wäre ja bei einem Wiederaufbau dieselbe geblieben. Auch hätte es etwas Peinliches, im Kriegsrat zu sagen: „Aber sie liegt so herrlich“, statt sich auf durch Brand für immer zu vernichtende menschliche Werke zu berufen. Es geht um zerstörbare Schönheit.

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unbedingt in denen der Römer – besondere Würde und Zierde verleihen sollten, also offenbar wenigstens auch nach ästhetischen Gesichtspunkten geplant wurden. Man darf an Tempel, vielleicht sogar an „öffentliche Bauten“ wie „ausgeschmückte“ Straßenanlagen (etwa hölzerne Arkaden) denken, vielleicht an bewusst schöne Häuser, die Adelige sich im Wettstreit erbauten. Es geht um „gefühlsmäßige“ Kategorien, um das Ansehen des Stammes, der seinen Stolz in diese seine größte Stadt setzt, nicht aber um politische Funktionen der Stadt. Der eingeschränkte Superlativ lehrt, dass Städte anderer Stämme mit Avaricum rivalisierten19, also entweder auch die Schönsten zu sein versuchten oder wenigstens einige Schönheit gewinnen wollten. Die Nachricht nennt also klar und treffend die engen Grenzen der Geltung selbst eines so bedeutenden Oppidums. Aber sie sagt doch auch wieder viel: Hier begann eine Art moralischer Identifizierung mit seiner größten Stadt, die ja offenbar deswegen besonders ausgebaut worden war (wenn auch eben ohne politische Folgen). Aber in der Wertung als fast schönste Stadt, einer irrationalen Kategorie, zu der auch die Funktion als ornamentum zählt, lag ein Ansatz, aus dieser Stadt einen Bezugspunkt für den ganzen Stamm zu machen, für dessen Ehre und Ansehen. Man hing sein Herz an diese Stadt. Das konnte sie ohne weiters einst zu einem wesentlichen Identifizierungsobjekt für den Stamm werden lassen. Wir tun hier einen kulturhistorischen Blick in das Kunstempfinden des freien Gallien vor seinem Ende, vielleicht auch in eine lebendige Entwicklung des damaligen Städtewesens. Aber sie hatte zugleich auch noch nicht darüber hinausgeführt, blieb also bisher ganz deutlich noch im hergebrachten Rahmen. Dass wichtige Zentren anderer Stämme wie Bibracte, Gergovia oder Vesontio versucht haben, damit in Wettstreit zu treten (s. o.), wird nicht ausdrücklich berichtet, doch ist ein Schluss e silentio keineswegs möglich20. Begann hier also ein Neues gerade dann, als Caesar der autonomen gallischen Entwicklung ein Ende setzte? Cicero spricht einmal von der außerordentlichen Hässlichkeit gallischer Oppida21. Das ist kein Gegenargument 19

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Vielleicht nennen deswegen die Biturigen höflicherweise ihr Avaricum nur die „fast“, „annähernd“ schönste Stadt Galliens. Diese für uns so interessante Nachricht wird nur nebenbei und fast zufällig anlässlich des Niederbrennens und anlässlich der Bitte der Biturigen erwähnt. Wo nicht beide Voraussetzungen zutrafen, hatte Caesar keinen Grund, von einer – gallisch subjektiv gesehenen – Schönheit einer Stadt zu berichten. Cicero (prov. 29) nennt in rhetorischer Frage als unmögliche Gründe für Caesars Bleibenwollen ironisch amoenitas … locorum, urbium pulchritudo etc. Er gibt dann darauf selbst die Antwort: quid illis terris asperius, quid incultius oppidis etc. (Auf diese Stelle wies mich V. Salač hin).

gegen Caesars Bericht über Avaricum. Zum einen hat Cicero ein argumentatives Interesse an einer solchen Beschreibung, denn er betont, Caesar wolle nur aus Pflichttreue eine Verlängerung seiner gallischen Statthalterschaft, denn nichts sonst halte ihn in dem wilden und hässlichen Land. Zum anderen spricht Cicero sicher auch aufrichtig, da, verglichen mit Rom und den Städten Italiens, die gallischen Oppida keine Reize für den gewöhnlichen mediterranen Betrachter haben konnten. Caesar legt die Begeisterung über die Schönheit Avaricums Galliern in den Mund22. Für die Städte als wirkende „Zentren“ ist abschließend zu sagen, dass diese Oppida also kein politisches „Hinterland“, kein ihnen attribuiertes Territorium hatten. Hier war der Stamm unvermindert das Ganze, die Stadt nur eines seiner Elemente und nie formeller Entscheidungsträger. Es gab weder Stadtbürger als eine politisch oder sozial konstituierte Schicht, nur weiterhin Adel, Druiden und plebs, und ebenso wenig gab es eine Machtentwicklung irgendeiner Stadtgemeinde. In allen Berichten Caesars von Machtbildungen vor und in seiner Zeit, von innenpolitischem Streit (etwa der Macht des Dumnorix) und Entschlüssen zu politischen und militärischen Taten spielt kein Oppidum eine entscheidende Rolle; auch die Bibractes ist militärischer und psychologischer Natur, aber der Stamm handelt. Keine gallische Stadt hatte nach Caesar eine eigene Willensbildung, die für den Stamm galt, keine war ein Zentrum selbständiger oder bestimmender Machtausübung. Es gibt eine Nachricht des Hirtius, die das näher beleuchtet: Der Cadurker Lucterius hatte hohe Macht in seinem Stamm gehabt, sicher als einer seiner principes, vielleicht sogar als der größte princeps, im Besitz des principatus im Stamm (natürlich nicht juristisch zu verstehen); im Jahr 51 v. Chr. besetzt er mit seinen Truppen (und denen des Drappes) Uxellodunum, quod in clientela fuerat eius, … oppidanosque sibi coniungit23. Der übergeordnete politische und soziale Faktor ist Lucterius, die Städter agieren nur als seine Klientel. Die feste Lage der Stadt hat reale militärische Bedeutung, die Stadteinwohner handeln erst, als Lucterius sie dazu inspiriert 22

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Dass er, der dem murus gallicus einigen ästhetischen Reiz zugestand (Caes. b. G. 7, 23, 5), auch die gallischen Oppida nach jahrelangem Aufenthalt anders sah als der rhetorische Cicero, wäre möglich, wir wissen es aber nicht. Es ist interessant, dass auch Tacitus (Germ. 16, 2) der bescheidenen Dekoration germanischer Hausmauern eine winzige Aufmerksamkeit widmet. Siehe dazu die Deutung von Perl 1990, 179 f. Caes. (Hirtius) b. G. 8, 32, 2. Diese oppidani bleiben bis zuletzt treu (ebd. 8, 34, 1; 8 37, 2; 8, 39,1; 8, 40, 1. 4. 5; 8, 41, 2.–3. 6; 8, 42, 1; 8, 43, 2. 4.–5).

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(dann allerdings halten sie auch ohne ihn am Freiheitskampf fest – dazu Caes. b. G. 8, 39, 2–3). 2.7 Systole, Diastole und Ethnogenese Wenn man den Lauf der Weltgeschichte überblickt, so ist es erstaunlich, wie oft entscheidende kulturelle, aber auch politische Impulse von auffällig kleinen Gebieten ausgehen. Hier sehen wir eine besondere Funktion der „Mitte“, nämlich latent „alles“ zu sein; eine besondere Funktion des „Zentrums“, nämlich in wörtlicher, gesteigerter Kon-Zentration höchste Intensität und Schöpferkraft voll und ganz zu verkörpern, wenigstens eine Zeit lang eine fast unerschöpfliche Kraft des „Prägens“, des Befruchtens, des Individualisierens auszuüben. Denn gerade die Individualität bleibt eines der unerforschlichen Geheimnisse historischen Werdens und historischen Lebens. Ihr Zusammenhang mit dem ebenfalls undefinierbaren Phänomen der Identität einer Kultur, einer Gesellschaft, eines Landes, eines Stammes, eines Volkes liegt auf der Hand. Dass solche Begriffe undefinierbar sind und jeder genauen Gliederung spotten, darf uns nicht verbieten, sie zu verwenden. Sie verdanken ihre Vieldeutigkeit gerade unmittelbar sowohl ihrer mächtigen Realität wie ihrer Ganzheitlichkeit. Sonst dürfte man ja auch nie von „Kunst“ reden. Das gilt auch von modernen Versuchen, die Begriffe „Stamm“ und „Volk“ durch „Ethnos“ zu ersetzen. Denn dadurch gerät Ethnos entweder sofort in dieselbe Skylla und Charybdis der Inhalte und Bedeutungen oder bleibt völlig leer, damit aber fast entbehrlich. Es ist der Systole eigen, dass häufig eine Kultur, je intensiver sie wird (wie Athen im 5. und 4. Jh. v. Chr.), umso mehr gerade sie selbst ist. Systole als eine sehr spezielle Ausbildung des Phänomens „Zentrum“ ist Konzentrierung auf und für einen Wert (oder Wertekomplex), sie hat einen Zweck, sie intensiviert diesen Wert. Aber dieser höchstgesteigerte Wert kann dann eben als solcher zu Mission oder auch Eroberung in der Ferne führen, und zwar eben um dieser Werthaftigkeit (und ihrer Träger) willen, also zu einer Diastole. Solchen darauf folgenden – politischen oder kulturellen – Ausbreitungen sind oft nur sehr ferne Grenzen gesetzt; vehementer Impuls und Wirkungsmacht stehen in einem merkwürdigen wechselseitig stärkenden Dialog. Entgegen mancher gängigen Meinung wechseln Systole und Diastole keineswegs immer nur ab, oft korrespondieren sie vielmehr unterirdisch. Das Imperium Romanum der Republik und dann vollendet in der Kaiserzeit ist zweifellos eine weltweite, mit unwiderstehlicher Vehemenz vorgetragene Diastole des Phänomens „Rom“, jedes Zentrum und jede Polyzentrik

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austilgend. Aber solange dieses Reich unerschütterlich in sich verbunden blieb, war es zugleich eine stets neue Systole alles Lebens und Entscheidens, politisch wie kulturell, in dieser einen, flächenmäßig winzigen, alles lenkenden Stadt. Nennen wir noch Athen als den Herkunftsort einer ganz unproportionalen Mehrheit der hellenischen Kulturleistungen. Dieser relativ kleinen Stadt mit sehr bescheidenem Territorium entstammen nicht nur das Drama selbst, sondern auch so gut wie der ganze Bestand an griechischen Tragödien, die Mehrzahl an griechischen Komödien. Dasselbe gilt von fast der gesamten griechischen Philosophie in vorchristlicher Zeit, die jonischen Naturphilosophen und die Eleaten u. a. ausgenommen, die ihrerseits aus einem sehr moderaten Gebiet an der Westküste Kleinasiens oder im äußersten Südwesten Italiens kamen. Dabei erfolgte die Diastole attischer Kultur völlig freiwillig, durch ungezwungene Faszination auf die Umwelt. All das darf nicht als Regel aufgestellt werden, aber ein unleugbares Phänomen bleibt es. Es ist auch auf die uns bekannten Beispiele von Ethnogenese als Kulturgenese reichlich anwendbar, ja es scheint der schöpferische und unerhörte Vorgang des Werdens geradezu der extremen Intensivierung zu bedürfen. Die sumerische Kultur, die für den Vorderen Orient und noch darüber hinaus auf Jahrtausende entscheidend wurde, war am Beginn nur die Sache einiger Städte im südlichsten Mesopotamien. Die Hellenenkultur, die Europa, aber auch den Orient nach Alexander auf das Reichste beschenkte, hatte ihre Heimat im eher kleinen Griechenland und auch hier, besonders bei ihrer Entstehung, in wenigen, kleinen Landschaften. Die Reihe ließe sich noch weiter fortsetzen. Diese Beobachtung scheint auch für das Keltentum zu gelten. Soweit die Archäologie uns Hinweise auf die Ethnogenese der Kelten gibt (Pauli 1978, 443 ff.; Fischer 1986, 209 ff.; vgl. Dobesch 2001a, 602 ff. 619 f.), scheint sie sich in einem überschaubaren und eher engen Bereich abgespielt zu haben, zu dem vielleicht bald ein konkurrenzierender zweiter trat.Vor allem ist zu betonen, dass es sich um eine der mächtigsten und eigenartigsten Kulturgenesen Europas handelte. Denn damals entstand ein neues, in sich geschlossenes Bild von Göttern, Menschen und Welt, ein Lebensideal und ein höchst eigenartiger Kulturstil. Was hier in relativ kurzer Zeit geschaffen wurde, hat dann einen sehr großen Teil Europas und auch ein Stück Kleinasiens mit seiner Kraft umspannt und ist heute nach zweieinhalbtausend Jahren noch nicht am Ende seiner Geschichte; mag es sich von einem einseitigen Standpunkt aus jetzt auch nur mehr um Randbereiche zu handeln scheinen.

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Wir sprachen von relativ kurzer Zeit. Das ist in der Geschichte eher die Regel. Die Auswertungen und Entfaltungen eines Menschenbildes können unermesslich sein und das Vorhandene in immer neue Formen und neue Ideen ausmünzen, die Entstehungszeit ist oft mehr konzentriert. Aber dennoch geschieht eine neue Schöpfung selten in einem einzigen Geniestreich, sondern die Konstitution geht eher, wie es in Altägypten der Fall gewesen zu sein scheint, und ebenso in Sumer, in zwei, drei gewaltigen Schritten vor sich. Die Ausstattung des Grabes von Hochdorf zeigt einen neuen Einfallsreichtum, eine neue Verve und Dynamik, eine neue Energie, ja Freudigkeit, die über Hallstatt deutlich hinausgehen und schon ein beträchtlicher Schritt in Richtung auf La-Tène sind. Als dann gegen 400 v. Chr. wandernde Kelten in den mediterranen Bereich und damit in die Möglichkeit historischer Wahrnehmung traten, scheint die Entwicklung im Wesentlichen schon abgeschlossen gewesen zu sein. Wir haben oben den schon in der Entstehung vorhandenen Polyzentrismus erwähnt. Dieser ist natürlich nicht der einzige Typ von Ethnogenese. So war das vordynastische Ägypten zwar reich an verschiedenen kulturellen Landschaften, das „Ägyptische“ aber ist wohl in strenger Konzentration um den Pharao herum entstanden. Ein gleich von Beginn an vorhandener Polyzentrismus, der im Wesen des entstehenden Volkes (Kultur) angelegt ist und von ihm nie mehr zu trennen ist (!), lag offenbar bei den Sumerern, bei den Phönikern, bei den Hellenen und bei den Etruskern vor. Gehören auch die Kelten in diesen Typus mit all seinen machtpolitischen Nachteilen? Man darf es wenigstens vermuten, da er ihrer gesamten späteren Geschichte wie eingebrannt war. In dem Gemeinschaftserlebnis (nicht Kollektiv!) der neuen geistigen Welt mögen, vielleicht mit geringer zeitlicher Verschiebung, mehrere Zentren in Südwestdeutschland und Ostfrankreich mitgewirkt haben, ja jedes dieser Einzelzentren kann, wie in Griechenland, seine eigenen Leistungen wie Besonderheiten beigesteuert haben. Oder weist das Ende der sogenannten „Fürstensitze“ und ihrer weiten Streuung auf einen zeitweise mehr geschlossenen, politisch-sozialen Vorgang mit gemeinsamem, größerem Impuls hin? Aber die „gallisch-westgermanische Revolution“ zeigt, so wie das Scheiden der Könige und danach die entstehenden Zentren der Tyrannis in Griechenland, dass generelle Tendenzen zwar fast allgemein, aber doch in ganz individueller Spontaneität zu wirken vermögen, in eine Fülle einzelner Aktionen aufgespalten. Vielleicht ist auch die alte Genese der indogermanischen Sprachfamilie polyzentrisch zu denken, ungemein eng verbunden, aber nie mit nur einer Sprache.

Das Germanentum der späten Kaiserzeit erfuhr seine damalige Ethnogenese grundsätzlich in einem Plural von Völkern, in relativ kleinen, getrennten Zentren und keineswegs in Ort und Zeit einheitlich. Antike Berichte erlauben doch einige Einsicht. Die neue Konzeption des Großstammes hat vielleicht bei den Alemannen begonnen, aber sehr schnell weiter gezündet, bei Franken, Sachsen usw. und bei der völlig neuen Aktivität der Goten. Also ein Trend, eine Idee, die überall dann spontan und in eigener Weise wirkte. Nach 213 n. Chr. treten die neuen großen Feinde Roms in eher rascher Abfolge auf. Doch gab es auch Nachzügler wie die Bajuwaren. Aber hier scheint die Genese etwas flächiger geschehen zu sein als bei den Kelten. Aber wer weiß, welche Überraschungen der Boden noch bringt. Auch auf dem Höhepunkt ihrer Ausbreitung waren die Kelten dezidiert eine reiche Welt ganz eigener Zentren, LaTène schuf sich in der Expansion ein weitgespanntes polyzentrisches Gefüge. Sehr schnell breitete sich das Neue aus, sei es durch freiwillige Übernahme des neuen Lebens- und Heldengefühles sowie seines Formenschatzes, oder aber durch lange Zeit immer neu entstehende, unsystematische und spontane Wanderungen aus den verschiedensten Anlässen heraus. Beides führte unmittelbar zur Bildung einer Überfülle eigener, eigengesetzlicher Zentren verschiedenen Ranges. Ob nun ausgewandert oder sich anderswo selber neu konstituierend, die vielen Keltenstämme scheinen sich, zumindest sobald wir ihrer ansichtig werden, durchaus nicht dem alten Zentrum (den alten Zentren) untergeordnet zu haben, ganz genauso wie die meisten Städte der ersten und zweiten Kolonisation der Griechen. Diese Vorgänge, so selbstverständlich sie zum Teil scheinen können, sind doch wohl eine politische Aussage über jenen ersten, entscheidenden Raum der Entstehung von La-Tène und bestimmten den gesamten Verlauf der keltischen Geschichte im Altertum und darüber hinaus. Wenn eine prägende Mitte ihre Kraft in eine so enorme „Peripherie“ ergießt, so kann diese das Dasein als Peripherie abstreifen. Und das alte Zentrum kann erleben, dass es, wenn seine Arbeit getan ist, nicht mehr – und schon gar nicht in allem – Zentrum bleibt, sondern diese Stellung abgeben muss. Ein schöpferisches Zentrum schafft um sich immer neue Zentren, auch auf eigene Kosten. Die von den Galliern verehrte „Mitte“ Galliens im Land der Carnuten lag wohl außerhalb des altkeltischen Siedlungs- und Kulturbereiches, war also ein neues Zentrum. Der ehemalige westliche Hallstattkreis trat später weder für die Gestaltung der politischen Geschichte des Keltentums noch für die Entwicklung seiner weiteren Kultur und Kunst besonders hervor.

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

2.8 Gegenbewegungen gegen den Polyzentrismus; Hegemonie und Prostasie Griechenland, eines der geopolitisch gefährdetsten Länder Europas, genoss in seinem Werden den historischen „Zufall“, dass es just damals von keiner Seite bedroht war. So entwickelte es ein politisches, polyzentrisches System, das nur in Sonderfällen Machtballungen ermöglichte, im Wesen aber bloß für diesen damaligen Zufall geeignet war. Auch die Kelten scheinen in der Zeit ihrer Ethnogenese von keinem wesentlichen äußeren Feind bedroht gewesen zu sein. Ja sie scheinen ihrerseits relativ rasch aggressiv und expansiv geworden zu sein. So konstituierten auch sie sich wohl in einem gänzlich ungesteuerten Polyzentrismus. Übrigens war beides auch bei den Germanen der Neuwerdung ab dem Ende des 2. Jhs. n. Chr. der Fall. Das Imperium Romanum war für sie eine Herausforderung, aber keineswegs eine Gefahr. Im Gegenteil, es wurde das Ziel der Abenteuersehnsucht. Nicht einmal gegenüber der Hunnengefahr erwachte ein politischer Wille in ihnen, ja ganz im Gegenteil, sie wurden die Vertriebenen oder Beherrschten. Im frühen Griechenland erwuchs mit einem klarer werdenden Einheitsgefühl der Hellenen von selbst und noch ohne äußeren Druck eine Vorstellung der Prostasie, des Ehrenvorranges unter den Hellenen. Sie entwuchs vielleicht dem griechischen Wesen, das sich selber stets die Schicksalsfrage von „besser und schlechter“, „höher und tiefer“, „größer und kleiner“ stellte. Sparta glitt als bei weitem stärkste Macht im 6. Jh. v. Chr. ganz von selbst in diese Rolle. Schon hier beobachten wir zwei ideelle Ebenen: In seinem Peloponnesischen Bund war es durch formelle Verträge der Anführer im Krieg und daher auch im Frieden der Hegemon. Auf dieser konkreten Machtbasis gründete der völlig informelle Anspruch, auch weit über den Bund hinaus eine im Großen lenkende Aufgabe und eine Wächterrolle innezuhaben. Sparta bewährte dies etwa in seinem Vorgehen gegen Tyrannenherrschaften. Es handelte einfach, ohne Vertragsgrundlage, und seine Würde war schlechthin manifest. In ganz ähnlicher Weise etablierten im 20. Jh. bis in unsere Zeit die USA durch Bündnissysteme ihre konkrete Macht und üben, darauf gestützt, eine Art Weltprostasie aus, ohne oder fast ohne Vertragsrechte, ein rein „moralischer“ Anspruch. Relativ enge Hegemonie und umfassendere Prostasie waren für die griechische Staatenwelt die Suche nach einem Zentrismus im fortbestehenden Polyzentrismus. Es ist eine

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Caes. b. G. 6, 11–12 und in vielen über die commentarii verteilten Einzelaussagen. Siehe Dobesch 1980, 236 ff. 257 ff. 463 ff.

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tragische Ironie solcher Kulturen, dass gerade dieses Streben nach Ordnung letztlich eine unheilbare Unordnung hervorruft. Hellas war trotz ungezählter kleiner, lokaler Kriege ein weit ruhigeres und friedlicheres Land, nicht in einer „Ordnung“, sondern in besserem „Zustand“, solange noch keine Prostasie bestand bzw. niemand deswegen mit Sparta rivalisierte. Denn die Bedrohung durch das persische Weltreich zwang die Griechen zu einer Machtentwicklung, zu einer neuen Strukturierung, die dem Wesen ihrer politischen Kultur im Grunde widersprach. Die Abwehr gelang, doch als ihr Erbe hinterließ sie einen neuen Polyzentrismus, nämlich einen Dualismus: Sparta mit seiner Landmacht und Athen mit seiner Flotte als die zwei gleich starken Retter. Für ein paar Jahre verhinderte der athenische Staatsmann Kimon den Zusammenprall, aber dann brach dieser los, und im Grunde wurde er nie beendet.Vor allem seit Persien gar nicht mehr drohte, wurde der Hass unheilbar. Athen wie Sparta, immer egoistischer, herrschsüchtiger, machtbesessener werdend, verspielten Prostasie wie Hegemonie, Theben als neuer Prätendent brachte die letzte Verwirrung. Und die kämpfenden Griechen scheuten sich nicht, die persische Großmacht in ihre inneren Streitigkeiten mutwillig hereinzuziehen, so dass sie bisweilen sogar den Ausschlag gab. Die Kämpfe der Führenden gegeneinander waren unrettbar verbunden mit inneren Kämpfen in allen Städten selbst. Es wird immer noch zu wenig beachtet, dass diese Grundzüge alter hellenischer Politik in erstaunlichem Maße – natürlich nicht in allem – das politische Leben im Gallien der Zeit Caesars bestimmten. Caesar schildert uns dies in ganz klaren Worten, die den Meister der Politik erkennen lassen24. Dabei sei betont, dass das keineswegs auf alle Keltengebiete außerhalb Galliens25 und ebenso wenig auf frühere Zeiten extrapoliert werden darf: Caesar beschreibt sein ganz konkretes und aktuelles Gallien. In Gallien bestehen, so sagt er, nicht nur in allen Stämmen, Gauen und Unterteilungen, sondern fast in jeder Familienund Hausgemeinschaft Parteiungen. Deren Anführer seien die bedeutenden Männer des Stammes, deren auctoritas, Urteil und Rat die höchsten seien. So habe jeder aus der plebs gegen einen Mächtigeren eine Hilfe, da jeder dieser Ersten keinen der Seinen bedrücken und überwältigen lasse, weil er ja so selber seinen Einfluss und sein Ansehen gefährde. Hier scheint primär von der plebs gesprochen zu werden, doch geht das aus Caesars Worten nicht hervor, denn gerade

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So besaß etwa Britannien anscheinend keinen principatus/Ehrenvorrang.

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der Schutz der plebs beruht auf dem alle umfassenden Widerstreit großer Adeliger um Einfluss im Stamm, da mit den „domus“ doch wohl nicht nur Unedle gemeint sind, ebenso mit dem Zank im Stamm oder Gau. Auch der Einfluss der principes beruht kaum nur auf der plebs, sondern, wie in Caes. b. G. 6, 15, 2 gesagt wird, auf genus und copiae, auf ambacti und clientes. Wahrscheinlich setzt er hier die Grundlinien von Anhängerschaft, Gefolgschaft und Klientel auseinander, um nach dem „höchsten Ansehen und Einfluss auf Entscheidungen“ dann konkret auf die fast extreme Schutzbedürftigkeit der plebs einzugehen. Man beachte, dass Caesar nicht, wie man nach ebd. 6, 11, 5 meinen könnte, sagt, dass es überall nur zwei factiones – und daher nur zwei principes – gebe. Es ist mit einer Mehrzahl von adeligen „ersten Männern“ zu rechnen, deren Kampf um den Vorrang nicht zum geringsten Teil darin besteht, einen anderen „Ersten“ zu treffen, indem man dessen Klientel trifft. Caesar schildert hier reale Machtkämpfe, denn das negativ besetzte Wort factiones hat nur Sinn, wenn damit Zerrissenheit, fiebernde Uneinigkeit und streitende Gegensätze gemeint sind. Der Historiker erkennt bei dieser Schilderung einmal mehr, dass gleichartige Strukturen größte Unterschiede bedingen können, je nach der Art, wie ein Volk mit ihnen umgeht. Bei den auf Gemeinschaftssinn ausgerichteten Römern waren die Klienteln ein stabilisierender Faktor und ein Element des Zusammenschlusses, bei den stets und leidenschaftlich streitenden Galliern ein Mittel zu Streit und Hass, zu Uneinigkeit, das vom Gesamtstamm bis in fast jedes Haus hinein wirkte. In Rom gehörten jede domus, ja ganze Landstädte in der Regel als Ganze der Klientel eines nobilis an, und wir haben denn auch keine aufregenden Schilderungen, wie in Familien, Landschaften, Städten gegeneinander für diesen oder jenen großen princeps gestritten wurde. Caesar kannte die Mechanismen römischer Politik wie kaum ein anderer, und er hob in seiner Schilderung genau und klar den Unterschied zu Rom heraus. Caesar vollzieht von dieser sehr plastischen Schilderung des Innenpolitischen, oft Privaten, den Schritt zur Außenpolitik, zur größten Politik, ja zur Zeichnung der Grundzüge gallischer Geschichte: Dieselben Prinzipien und Methoden (ratio) gelten auch in der Gesamtheit des politischen Lebens

Galliens selbst, denn alle Stämme seien in zwei Parteiungen geteilt. Als er nach Gallien gekommen sei, seien die Anführer (principes) der einen die Haeduer gewesen, die der anderen die Sequaner26. Dieser Kampf um den principatus totius Galliae (Prostasie, Ehrenvorrang) war in der Tat das perpetuum movens politischer Bestrebungen, die immer wieder Gallien zur Gänze oder zum Teil involvierten, namentlich in nie ganz endende Kriege stürzten. Wir verstehen dies erst dann, wenn wir die Frage nach dem „Ersten“ als eine der heftigsten Leidenschaften des Galliers und als völlig unvermeidbar erkennen, innerhalb des Stammes, wie es Caesar (s. o.) erzählt, in der Gesamtheit und auch im Privatleben, wo es über der Frage des ersten Ansehens beim Gastmahl, das sich im Erhalt des Ehrenstückes des Bratens ausdrückte, spontan zu blutigen Kämpfen kam27. Diese Kategorie gemeinschaftlichen Lebens ging den Galliern letztlich über alles. Caesar (b. G. 6, 15, 1) bezeugt, dass es fast jährlich irgendwo in Gallien Krieg gab, in dem sich die equites „alle“ engagierten28. Offenbar zogen, wie im ältesten Griechenland, von überall her die kampfversessenen Ritter ihren jeweiligen Freunden, Gastfreunden und Verschwägerten zu Hilfe29. Wie leicht hier Adelige aus den um den Prinzipat ringenden Stämmen und gar diese selbst hereingezogen werden konnten, so dass auch solche Kriege zu einem etwas generelleren Kräftemessen wurden, ist klar. Durften doch, nach der von Caesar genannten Gleichheit der Prinzipien, auch große Stämme (und nicht nur die des principatus) keinen der Ihren „unterdrücken, überwältigen“ lassen. Die Prostasie wird sich vielleicht in der Veranstaltung der gallischen Landtage30, sicher aber in deren Verlauf sehr deutlich und auch sehr peinlich gezeigt haben. Daneben steht, dass, wie wir sahen, in jedem republikanischen Stamm um den Vorrang einzelner Männer und Familien im Stamm gestritten wurde, um das Maß von Einfluss und Macht und doch wohl auch darum, wer der Zweite nach dem Ersten war (so sehr, dass der Streit bis in die Familien hineinging). Da große Adelige die Netze ihrer Politik und ihres Ansehens auch weit außerhalb des eigenen Stammes zu anderen Großen knüpften, um Macht zu erhalten, ergab sich die Möglichkeit zahlreicher Wechselwirkungen.

Vor letzteren waren es die Arverner gewesen. Poseid. FGrH 87 F 116 = Theiler 169; 16 = Theiler 171a = Edelstein/Kidd 68; Theiler 171b = Edelstein/Kidd 275. Ich betone nochmals, dass das nicht heißt, dass überall ununterbrochen Krieg war. Die Heiratspolitik (es war Politik!) des Adels war, wie zu allen Zeiten der Geschichte, eine ganz internationale, vgl. Caes. b. G. 1, 18, 6–7.

In denselben Kontext fällt auch die bekannte Ehe des Ariovist mit einer Norikerin (ebd. 1, 53, 4); von den germanischen Edlen wird dasselbe gegolten haben wie von den gallischen. Vgl. Caes. b. G. 1, 30, 4–5, wo sicher Diviciacus dasselbe große Wort führte wie bei den anschließenden Geheimverhandlungen (ebd. 1, 31, 3 ff.).

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In sehr vielen Stämmen wurde erbittert um Königtum, Adelsrepublik und neues Königtum gerungen. Wie eng verschmolzen solches jeweils mit dem ständigen inneren Streit in Gauen und Familien sein musste, liegt auf der Hand. Aber auch hier vernetzten sich diese Fragen wohl mit den vielen Aspekten persönlicher Fernbeziehungen und auch mit dem Kampf um lokalen oder umfassenden Vorrang. Orgetorix, Dumnorix und Casticus verbanden ihre überstammliche Verschwörung zum Gewinn führender Macht zugleich mit dem Streben eines jeden nach Königtum im eigenen Stamm, einander natürlich unterstützend. Wir erhalten nicht nur den Einblick in eine – durchaus auch altgriechische – fixe Idee von Geltung und Ehre (der homerische Held starb für sie wie Aias), sondern auch in die ungezählten Möglichkeiten, mit denen sich innerer und lokaler Streit und gesamtgallischer Vorrang miteinander verquicken und zu erbitterten Kriegen führen konnten. Aber nicht nur die gesamtgallische Geltung, auch eine landschaftliche konnte gefragt werden. Hier können nicht alle Beispiele gebracht werden, es sei auf die Veneter hingewiesen, die an einem großen Teil der gallischen Küste weithin die größte – aber offenbar nicht die einzige – auctoritas hatten31. Die Remer waren mit den Stämmen der Belgica propinquitatibus affinitatibusque (beides Plural!) coniuncti (Caes. b. G. 2, 4, 4) und bezeichneten die Suessionen als fratres consanquineosque suos, qui eodem iure et isdem legibus utantur, unum imperium unumque magistratum cum ipsis habeant (Caes. b. G. 2, 3, 5; siehe Sordi 1953, 111 ff. und dies. 2002, 23 ff.) – eine solche Verbindung verhinderte nicht eine ganz verschiedene Politik gegenüber Rom. Der boische Splitter, der mit den Helvetiern gezogen war, wurde, auf Bitten der Haeduer an Caesar, auf haeduischem Gebiet angesiedelt, offenbar als ganz abhängige Klienten, aber die Haeduer gaben diesen bald

eine zusätzliche Ehre: postea in parem iuris libertatisque condicionem atque ipsi erant, receperunt (Caes. b. G. 1, 28, 5). Unter den Belgern waren die Bellovaker et virtute et auctoritate et hominum numero die Stärksten (Caes. b. G. 2, 4, 5)32. Bei den Suessionen war nicht allzu lange vor Caesar König Diviciacus der mächtigste Mann ganz Galliens gewesen: qui cum magnae partis harum regionum, tum etiam Britanniae imperium obtinuerit (Caes. b. G. 2, 4, 7)33. Es ist bemerkenswert, dass ein solches Stämmereich nicht mit dem principatus totius Galliae eines anderen Stammes kollidieren muss: Galliens Strukturen waren überaus vielgesichtig und zum Teil bemerkenswert frei. Vom Atrebaten Commius (König durch Caesar) galt als Einzelperson im Küstengebiet Galliens (und vielleicht auch in dem des gegenüberliegenden Britannien): cuiusque auctoritas in his regionibus magni habebatur (Caes. b. G. 4, 21, 7). Derselbe war, wieder als Einzelperson, durch ein hospitium mit dem Gesamtstamm der Bellovaker verbunden34. Geltung, lokale Machtgebiete, formaler und informeller Einfluss, Gleichheit, Überlegenheit, „Verwandtschaft und Brüderschaft“ von Stämmen und vieles andere vermischte sich, immer auch im Hinblick auf die genannte Prostasie eines Größten und auf die ständigen Kriege, zu einer kaum mehr trennbaren Verflechtung. Dabei waren die – offenbar über ganz Gallien verstreuten – Machtsysteme dieser Größten auch alles eher als einheitlich35. Die Palette der Verbundenheiten reichte von sub imperio, Tributpflichtigen und Unterwürfigen bis zu Klienten, von freien, vertraglich verbundenen Gefolgschaftsleistenden bis zur Stellung in fide atque amicitia und zur Reichweite von auctoritas36. Angesichts eines solchen Inventars politischer Mittel der Kelten nimmt es nicht wunder, dass auch im regnum Noricum vielleicht nicht alle Stämme gegenüber den führenden No-

Caes. b. G. 3, 8, 1 huius est civitatis longe amplissima auctoritas omnis orae maritimae regionum earum. Dennoch wurde wegen seiner persönlichen Qualitäten im Kampf des Jahres 57 v. Chr. der Oberbefehl im antirömischen Bündnis an den Suessionenkönig Galba gegeben (ebd. 2, 4, 7): man sieht, die Vielseitigkeit gallischer politischer Gestaltung ist kaum aufzählbar. Der Ausdruck „totius Galliae potentissimum“ bedeutet nur, dass er jener Gallier gewesen war, der die meiste persönliche Macht hatte, nicht dass er die Vormacht über ganz Gallien besaß. Bei der Erwähnung Britanniens ist nicht an eine Herrschaft über ganz Britannien zu denken, sondern an eine magnae partis … Britanniae. Caes. b. G. 7, 75, 5 Bellovaci … pro eius hospitio. Natürlich mögen solche Beziehungen geistig zugleich dem König Commius gegolten haben, aber nach Caesars Worten gehörten sie doch ihm als Person zu. Die Freunde, ja wohl auch die Gefolgschaft leistenden Stämme und erst recht die, die diesen oder jenen Stamm als princeps anerkennen, sind keineswegs ein geschlossener geographischer Bereich, sondern

anscheinend wie ein Fleckerlteppich einander durchsetzend über Gallien hin verstreut. Dazu treten die lokalen Vorsteherschaften, wie die der Veneter an der Ozeanküste, und damit wieder die Entscheidung, wer wann wem folgt. Caes. b. G. 2, 14, 2 über die Bellovaker: omni tempore in fide atque amicitia civitatis Haeduae fuisse. Da die Bellovaker nicht nur außerordentlich stark, sondern sogar so arrogant waren, dass sie 52 v. Chr. am Bund des Vercingetorix nicht teilnahmen (ebd. 7, 75, 5 se suo nomine atque arbitrio cum Romanis bellum gesturos), kann es sich nicht um eine Klientel oder echte Abhängigkeit gegenüber den Haeduern handeln. Als Diviciacus 57 v. Chr. bei Caesar für sie intervenierte, mehrte das ihre Verbundheit mit den Haeduern. Darüber hinaus sagt Diviciacus für die Gesamtheit der Belger (b. G. 2, 14, 6): Haeduorum auctoritatem apud omnes Belgas amplificaturum, quorum auxiliis atque opibus, si qua bella inciderint, sustentare consuerint. Beim militärischen Stolz der Belger (ebd. 2, 4, 3) muss diese auctoritas frei sein, etwa der gratia vergleichbar, von Herrschaft ist keine Rede. Sie folgen nur dem principatus.

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rikern ein und dieselbe Position einnahmen (s. o.). Die hier bezeugte Stempelgemeinschaft einiger Stämme mit dem norischen König in der Münzprägung ist wohl Ausdruck ehrenhafter Beziehung, vielleicht fügt sie der kurz skizzierten Palette von Vernetzungen eine neue Variante hinzu; es muss den Fachnumismatikern überlassen bleiben, ob Ähnliches in Gallien zu vermuten ist. Wer all die genannten örtlichen und inhaltlichen, einzelpersönlichen oder stammesmäßigen (z. T. beides verquickenden) Varianten überblickt, wird zugestehen, dass die sich über ein riesiges Gebiet hinziehenden Verflechtungen an Kompliziertheit nichts zu wünschen übrig lassen. Galliens Politik war in Caesars Zeit gut und gern so schwierig und verästelt wie in „Hochkulturen“, ja sie übertraf gar manche der letzteren an Raffinesse und Vieldeutigkeit. Große gallische Politiker wie Celtillus, Diviciacus, Dumnorix, Commius, Orgetorix, Casticus und zuletzt Vercingetorix bedurften größter Energie und Konzentration, um ein solches Durcheinander dutzender Formen auf verschiedensten Ebenen zu verstehen oder gar leiten zu können. Auch unsere Achtung gegenüber Caesar, der in kurzer Zeit auf diesen Instrumenten virtuos spielte, wächst. Und wieder sei betont, dass wir ohne antike Nachrichten (besonders an Caesars commentarii hängt fast alles) und nur auf die Ergebnisse der Archäologie verwiesen, von dieser vulkanischen Vielfalt und Kraft des keltischen Lebens in dieser Zeit so gut wie gar nichts wüssten. Dabei muss im Auge behalten werden, dass zwar natürlich das Streben nach Macht bis hin zu Stammesreichen, nicht aber der principatus gemeinkeltisch ist und dieser auch keineswegs bei allen Kelten nachzuweisen ist; Caesar hat für sein Britannien nichts in dieser Art zu berichten – vielleicht blieb gerade auch dadurch seine Eroberung dort ganz ephemer. Was Caesar für Gallien bezeugt, ist ganz an dieses Land gebunden, belegt aber in auffallender Weise so etwas wie ein vages Zusammengehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl (aber keine Gemeinschaft!). Dasselbe wird dort sichtbar, wo von der kultischen Mitte des konkreten Gallien bei den Carnuten die Rede ist37. Überhaupt scheinen die Druiden und ihr rein gallischer Oberdruide (unabhängig von Britannien!) ein Ausdruck eines Konzeptes von „Gallia“ gewesen zu sein. Aber natürlich führte all das vor Vercingetorix nie zu einer Aktionsgemeinschaft der gallischen Stämme. Scharf 37 38

Siehe Anm. 1. Die Natur, die Geschichte und der Wechsel des römisch-deutschen Kaisertums kann mit diesen Worten nicht schlecht umschrieben werden.

gesagt: Gallien war Ziel, Spielpreis und Spielraum, nicht aber Zweck des Spiels. Die griechische Prostasie war in ihrem Ursprung als eine lose Harmonisierung eines vielgestaltigen, aber gemeinsamen Raumes gedacht gewesen. Als solche diente sie noch in den großen Perserkriegen, um bald danach nie mehr in diesem Sinne zu wirken. Für Gallien besitzen wir nur unzureichende ältere Nachrichten. Bei deren Einsetzen sehen wir bereits die erbitterte Rivalität: Schon vor 121 v. Chr. stellten sich die Haeduer offenbar gegen das große Stämmereich der Arverner und arbeiteten mit Rom zusammen. Der principatus hätte in Gallien die Idee einer politischen Mitte, zugleich und vor allem „sittliche“ Mitte ritterlicher Bewährung im Kampf sein können, ein geistig-moralisches (nicht geographisches!) Zentrum. Aber da um diese Zentralstellung polyzentrisch gekämpft wurde, war diese dem Wechsel (dem Wunsch nach Wechsel) und der Rivalität verfallen. Damit stehen wir vor dem mehr als fraglichen Wert und dem tragischen Inhalt einer solchen Idee der „Harmonisierung“ und Zusammenfassung eines extrem polyzentrischen Raumes: Statt ein Element der Ordnung zu werden, wurde die ruhmvolle Spitzenstellung ein Element nie rastenden Ehrgeizes und Neides, ein nie ruhendes Motiv für immer neue Kriege, ein Faktor unstillbaren Hasses. Die Prostasie bedeutete den institutionalisierten Streit. Die Frage, wer das Zentrum der vielen aktiven Zentren werden sollte (ein Zentrismus im Polyzentrismus; ein variables und mobiles Zentrum im Rahmen eines solchen Zentrismus38), konnte nie eindeutig entschieden werden: Die ganz großen Stämme waren nie stark genug, um auf Dauer zu befehlen, und nie schwach genug, um auf Dauer zu gehorchen. Die Prostasie implizierte den steten Versuch, die anderen zu peripherisieren39; das aber war gegen die prinzipiell zentrische Natur jedes anderen großen Stammes. Im Prinzip war es in Sumer, in Hellas, im mittelalterlichen Italien nicht viel anders. Der principatus integrierte Gallien nicht, sondern desintegrierte es in katastrophaler Weise durch seinen Anspruch wie durch seine Werke. In Gallien war jede Ordnung eines principatus äußerst fragil. Aber gerade das zwang zu steter höchster Spannkraft, Aufmerksamkeit und Aktionsbereitschaft. Man gewinnt den Eindruck, dass dies den Galliern (wie anderen vergleichbaren Völkern) im Innersten wichtiger war als ein großes, 39

Die Sequaner versuchten das durch Geiselnahme und einen Eid, den die Haeduer schwören mussten, formal zu institutionalisieren (Caes. b. G. 1, 31, 7 f.); natürlich ohne bleibenden Erfolg.

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stabiles Machtgebäude. Mit welcher Leidenschaft, ja Lust Gallier solchen Träumen folgten, zeigte sich darin, dass mitten in dem unentschiedenen Riesenkrieg gegen Rom 52 v. Chr. die Haeduer nichts Besseres zu tun wussten, als zu fordern, der Oberbefehl solle von dem verdienten und höchst bewährten Vercingetorix auf sie übertragen werden (Caes. b. G. 7, 63, 4). Der principatus war als solcher nie eine Frage von allgemeinen Verträgen, sondern beruhte ganz und gar auf der momentanen Stärke, auf der Kraft, ihn immer gegenwärtig neu durchzusetzen, wenn ihm nicht gefolgt wurde. Jederzeit konnte er in Frage gestellt werden. So war er nie viel mehr als ein (mit Genuss) umstrittenes, schwebendes Gleichgewicht, das einerseits auf der steten Anspannung zu vieler kriegerischer und politischer Kräfte beruhte, andererseits aber gerade auch zu ihr hinführte. Und das scheint das Wesentliche gewesen zu sein: die Chance und der Zwang zur steten Neubewährung. Wir verstehen das Wesen der informellen Institution, für die die Gallier in immer neuen Generationen ihr Bestes hingaben, am ehesten, wenn wir sie nicht als Formung, Ordnungsidee und Harmonie bleibenden Friedens betrachten, sondern als Ordnung des steten Zustandes höchsten Mutes und kriegerischen Erfolges; die nie nachlassende Tapferkeit als das höchste Formprinzip, als die wahre menschliche Mitte und Harmonie an sich und damit auch als das wahre menschliche Gleichgewicht. Die Labilität ist die Möglichkeit ununterbrochenen Wettkampfes, und – zugespitzt gesagt – dieser wird in mancher Hinsicht mehr geliebt als sein Ziel40. Man glaube übrigens nicht, dass das bloß bei Barbaren zu finden ist, auch Hochkulturen folgen nur allzu oft solchen Ideen und Wertgefühlen. Seit etwa 100 v. Chr. verschwand die keltische Welt in Süddeutschland und Böhmen, aber die Gallier gaben sich ihrem leidenschaftlichen Streit hin, als gäbe es auf der Welt weder Germanen noch sonstige Gefahren. Diese allgemein geübte Auffassung von „Ordnung“ in „Gallien“, lehrt, dass dadurch zwar nicht der Friede, wohl aber das gallische Lebensgefühl selbst aufs Äußerste stimuliert wurde, die Freude am Dasein, die Daseinsfreude, beschlossen in zwei der höchsten Werte,

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Selbstverständlich nicht in einer abstrakten Naivität, dass der Sieger nicht seinen Sieg jeweils zu stabilisieren suchte, auch mit harten Mitteln, siehe die vorige Anm. Vgl. Cato orig. Frg. 34 (HRR Bd. 1, 65) pleraque Gallia duas res industriosissime persequitur, rem militarem et argute loqui. Siehe Chassignet 1986, Bd. 2, Frg. 3 und dazu den Kommentar auf S. 68, ferner die neue Sammlung über die frühen römischen Historiker von Beck/Walter 2001, Frg. 2, 3 mit Kommentar und kurzer Erklärung auf S. 177.

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„virtus“ wie „gloria“41, die daher auch zu den konstitutiven Zügen ihrer Kultur zählten. Vielleicht wirkte ursprünglich auch mit, dass seit dem endgültigen Zusammenbruch der keltischen Expansion auf dem Festland42, nach der ehernen Abriegelung durch Roms Eroberung der Narbonensis und seit dem Ende keltischer Söldnerherrlichkeit43 den überströmenden Kräften und dem Wunsch nach Heldentaten und Abenteuern kein anderes Ventil mehr zur Verfügung stand. Dabei ist mit steter Vermehrung der Bevölkerung zu rechnen, die besonders in der adeligen Kriegerschicht zu Problemen führen musste, und das in einem nunmehr schon streng umgrenzten Raum. In vergleichbarer Situation hatten die Römer nach der Zusammenfassung Italiens die enormen, überschüssigen Kräfte zur Eroberung des Mediterraneums gewandt. In Gallien wie in Griechenland wurde dieser „Ehrenvorrang“ zum Ruin der Völker. Gallien ging an einem seiner wichtigsten Werte und an der nur allzu gut gelingenden Aufreizung aller Kräfte zugrunde. Denn die Rivalität endete vielfach in blindem Hass. Der agonale Kampf führte, wie in Hellas, zum Freistilringen von immer egozentrischer werdenden Kandidaten, die keinerlei ordnendes Konzept für Gallien als ihre maßlose Machtgier kannten. Die letzte Stunde der Freiheit Galliens schlug, als die Arverner und Sequaner, selber nicht stark genug, den Germanen Ariovist ins Land riefen und die Haeduer, selber nicht stark genug, sich an die Römer wandten. In Germanien gab es keinen principatus und keinen Streit um ihn. Das war einer der Faktoren, dass Roms Eroberung scheiterte. 2.9 Monozentrik Das ist ein Zentrismus in direktem Gegensatz zum Polyzentrismus. In der Mitte steht der Typus der Pantozentrik eines Raumes, die sich inmitten mehrerer Zentren eine alles integrierende, oft auch eine einigermaßen überragende Mittelstellung zu schaffen sucht. Die historische Erfahrung zeigt, dass beide Formen durchaus auch kulturell sehr fruchtbar sein können.

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In welche Zeit die Besiedlung eines Teiles von Britannien durch gallische Stämme fällt (vgl. Tac. Agr. 11, 2–3), sei dahingestellt. Immerhin meldet bei Caesar kein belgischer Stamm, auch nicht die starken Bellovaker, irgendeinen Anspruch auf Vorrangstellung in Gallien an, was vielleicht auf einen Auslauf der Kräfte in diese Richtung zurückgehen kann; zur Verbindung in der Machtgeschichte zwischen Belgium und Südbritannien siehe Caes. b. G. 2, 4, 7. Rom warb keine Söldner, und alle anderen Mächte am Mittelmeer, die früher ihrer bedurft hatten, waren vernichtet.

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Ägypten war in den Perioden seiner vollen Entfaltung meist fast ganz monozentrisch (s. o.). Und zwar nach innen wie nach außen. Im Inneren kann man für die 4. Dynastie geradezu sagen, dass außer Memphis und den „Pyramidenstädten“ nichts existierte, politisch wie geistig und künstlerisch.Wohl zeigte die 5. Dynastie dann etwas ausgebreitetere Präsenz, aber der Pharao blieb in nahezu allen Blütezeiten, bisweilen nur im Anspruch, im Ideal, das lebende, religiöse Zentrum für Land, Reich, Herrschaft und Kultur. Dabei gab es durchaus auch polyzentrische Epochen wie in der 1. und der 2. Zwischenzeit und noch viel später. Nach außen blieb Ägypten lange ebenso monozentrisch: Es zollte seiner Außenwelt so wenig Aufmerksamkeit, wie man ihm erlaubte. Bis zur 18. Dynastie ignorierte es sie mit Ausnahme der goldspendenden Sklavin Nubien („Kusch“) fast gänzlich. In der 18. Dynastie und danach führte der erweiterte politische Horizont (durch die Hyksos erzwungen!) zur Konsequenz einer Peripherisierung der Nachbarn. Aber das sog. „ägyptische Weltreich“ hielt sich in engen Grenzen und gefährdete Ägyptens einzige Zentralstellung nie. Die Fremde blieb aber immer das Fremde schlechthin und theoretisch verächtlich44. Außer wahrscheinlich einer leisen Anregung durch die Sumerer am Beginn der ägyptischen Kultur war Ägypten meist (durchaus nicht immer und in allem) ein Musterbeispiel für eine monozentrische Existenz, deren Kulturblüte im Wesentlichen oft keines anregenden Dialoges mit einer Umwelt und mit anderen Zentren bedurfte und aus eigenen Quellen schöpfte45. Hin und wieder griff Ägypten auch Anregungen von außen auf, seine kulturelle Autonomie verlor es niemals. Freilich besaß es in sich selbst eine – beschränkte – Dialektik, eine innere Konfinität (ohne Fremdsein), indem das Nilland stets als die „zwei Länder“ erschien, geteilt in Oberund Unterägypten, und der Pharao stets der König beider Länder blieb, nie eines einzigen Landes (s. o.). Beide Teile wiesen beträchtliche, oft politische und gerade auch sprachliche Unterschiede auf. Der monozentrische Einheitsstaat wurde auch ideell und in der Symbolik wie in den königlichen Insignien stets als „Vereinigung der beiden Länder“ aufgefasst. Das Ideal von Herrschaft und Kultur blieb aber stets einzig und eines, soweit die Kräfte jeweils reichten. Das klassische Athen träumte wiederholt davon, das eigentliche, ja im Grunde „einzige“ Zentrum der Hellenen zu werden. Selbst Sizilien wurde in diese übersteigerten

Träume einbezogen. Gerne, nur allzu gerne wäre es so der Inbegriff Griechenlands geworden, wie Paris dies seit dem späten Mittelalter immer mehr für Frankreich wurde. Im engeren Kreis des 1. und 2. attischen Seebundes setzte es das in politischer Hinsicht zeitweise mit verheerenden Konsequenzen durch. Kulturell errang es seit der Klassik diese Spitzenstellung in sehr beträchtlichem Maße, aber doch nie ganz. Rom war ein ganz eigen strukturiertes Phänomen. Innenpolitisch besaß es als Erbe der Ständekämpfe einen steten latenten Polyzentrismus: Senat, populus und unter den Magistraten den Spaltpilz des Volkstribunats. Dazu traten die rivalisierenden Adelsgeschlechter. Hier bestand Roms Politik in der Notwendigkeit, die Eintracht stets von neuem zu erringen, ein inneres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, in einem freien und doch durch gemeinsame Werte harmonisierten Spiel von Kräften, die – und das ist bezeichnend – ihre theoretischen juristischen und praktischen Möglichkeiten nie ganz ausschöpften. Ein Ende fand das in der Politik der Gracchen, bis dann die auch innere Monozentrik der Monarchie Caesars eine neue Phase einleitete, die in der faktischen Monozentrik der Stellung des princeps ja doch weitgehend fortgeführt wurde, anfangs mehr praktisch als ideell. In der Außenpolitik aber huldigte Rom – und zwar einheitlich in allen politischen Kräften, auch des Inneren – einer extremen Monozentrik, zuerst gegenüber dem Latinerbund, dann gegenüber Italien und zuletzt über die „ganze“ Welt hin. Rom erkannte nie fremde Mächte, Bereiche und Reiche als Grenzen an, bis es dann unter Augustus das gegenüber den Parthern nicht mehr aufrechterhalten konnte. Die Art, wie Rom im 2. Jh. v. Chr. mit allen anderen Völkern der Welt, mit Monarchen, Ländern und Kulturen umging, darf füglich ein politischer Solipsismus genannt werden. Das mäßigte sich später in Stufen, auf die wir hier nicht eingehen können, aber bis ins 3. Jh. n. Chr. hinein blieb die Stadt Rom (auf dem Podest seines gänzlich römisch gewordenen Italien) das absolute Monozentrum für die Welt des Reiches, von dem jedes politische Wollen, jede Entscheidung und jegliche Verwaltung unbedingt ausgingen (s. o.). Auch hier hat die Einzelstellung über weite Gebiete hin der kulturellen Fruchtbarkeit nicht geschadet. Aber war es wirklich eine reine Einzelstellung? Rom musste sich in Literatur und Kultur in einem dritten Strukturtypus (nach Innen- und Außenpolitik) zurechtfinden: Es sah sich mit

Zum Auseinanderklaffen von ideologischer und politischer Realität siehe 15 zur Stellung Ägyptens gegenüber dem Hethiterreich nach der Schlacht bei Kadesch. – Vgl. allgemein Assmann 1996, 77 ff. Es gab natürlich Ausnahmen: Die Kunst der 18. Dynastie und besonders der Amarnazeit griff Anregungen der minoischen Bewegungs-

kunst auf. Die Spätzeit suchte Griechisches zu inkorporieren. Aber die kulturelle und künstlerische Eigenart und die Dominanz des Einheimisch-Ägyptischen wurden dadurch nie erschüttert. In der Römerzeit siegte viel später ein vom Fremden abgeleiteter eigener Kunststil, der koptische, aber da war Altägypten schon vergangen.

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dem „griechischen Wunder“, der überreichen griechischen Kultur konfrontiert, und es war groß genug, sich dieser schweren Konfrontation zu stellen. Auch behauptete es sich als Zentrum, was niemandem sonst bisher gelungen war, aber es verlor nie den inneren Dialog mit den griechischen Leistungen und literarischen Meisterwerken der großen Zeit der Hellenen. Man kann auch solche Phänomene in den Kategorien von Systole und Diastole fassen. Ägyptens Geschichte von „Reichen“ und Zwischenzeiten vollzog sich in solchem Wechsel, und die Diastole nach dem Ende des Alten Reiches brachte nicht nur politische Not und eine Verwilderung des Kanons der Kunst hervor, sondern auch die geistige Tiefe des lokalen Reiches von Herakleopolis oder die Höchstleistungen in der Ausschmückung der Gaufürstengräber. Japan hat in seiner Geschichte wiederholt fremde Kulturelemente, ja Systeme, in radikaler Weise inkorporiert, ohne je sein Selbst zu verlieren: Chinesisches (Schrift), Buddhismus, westliche Zivilisation und Technik. China hat bis zum 20. Jh. nur einen einzigen bestimmend großen kulturellen Einfluss geschehen lassen und anerkannt: den indischen Buddhismus, von China übermittelt. Ansonsten aber – und letztlich auch hierin – verharrte es in einem kulturellen Monozentrismus, der sich bis ins 20. Jh. nie in irgendein anderes System einfügte, nie einen Gesprächspartner anerkannte. Auch für die Politik gilt dasselbe, nur dass der Monound Egozentrismus von Zeit zu Zeit zu umfangreichen Eroberungen führte. Im inneren Kulturleben herrschte in China eine Mittelstellung zwischen Roms Monozentrik und dem maßlosen indischen Polyzentrismus:Wohl nahmen der Kaiserhof und seine Hauptstadt eine überragende Stellung ein (z. B. in den Palastprüfungen), aber viele andere Teile des riesigen Landes wurden nicht einfach zur „Provinz“, sondern behielten ein eigenes Profil mit eigenen Zentren kultureller Aktivität. Die kaiserliche Residenz nahm eher eine Führungsstellung pantozentrischer Art ein: umfassende höchste Spitze eines weitgehend einheitlichen, vielfältigen Kosmos. Vielleicht darf man hier und in anderen Fällen von einem Henozentrismus (vgl. Henotheismus) zwischen Monozentrik und Polyzentrik sprechen. Von dem kulturell im höchsten Grade lebendigen, erfolgreichen Monozentrismus von Paris in Frankreich haben wir schon gesprochen; dem geht übrigens London in England parallel. Trotz gewaltiger Leistungen und Wünsche konnte sich Paris nie als ein des Dialogs unbedürftiges, totales Zentrum innerhalb des herrlichen Polyzentrismus Europas durchsetzen, der politisch wie kulturell in seiner beispiellosen Vielfalt bisher unerschöpflich fruchtbar war.

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Polyzentrismus wird für einen Bereich oder Länderkomplex zum Unheil, wenn er sich zum echten, nicht nur relativen Pluralismus auswächst, der keine einigenden, gemeinsamen und ausreichenden Werte mehr kennt, die eine Harmonisierung wenigstens einigermaßen leisten können. Eine solche kann im Politischen (aber auch sonst) durch ein pragmatisches Zusammenleben oder gar Zusammenrücken mehrerer Zentren in einer Art von Gleichgewicht zustande kommen. Eine nicht geographische, sondern geistige Pantozentrik ist unentbehrlich, wenn nicht der Pluralismus zur universalen Feindschaft oder zur universalen, multikulturellen Nichtssagendheit werden soll. Monozentrismus wird zum Unheil, wenn er in Egozentrismus übergeht. An die Stelle der Werte, die das Dasein eines Zentrums rechtfertigen, tritt das Ego. Zwar können manche Werte bewahrt werden, aber die anderen werden zum bloßen Spiegel maßloser Eitelkeit, die sich über die Umwelt erhebt. Und politische Ideen oder Ziele bleiben bestenfalls äußerlich erhalten, um den Kern einer reinen, zweckfreien Machtgier zu bemänteln. Athens Kampf gegen Sparta um die Prostasie in Griechenland mochte auch im Peloponnesischen Krieg (vor allem von Seiten des Perikles) als ein erlaubtes, agonales Kräftemessen gelten, die Herabdrückung der Bundesgenossen zu Untertanen auch noch nach dem Ende der persischen Gefahr und der Erfüllung der Kulturziele war Egoismus; außerhalb des Politischen aber blieb Athen der Pflege der Kunst objektiv treu. Spartas Streben, sich im Königsfrieden eine Prostasie zu verschaffen, kann verständlich sein, aber die Errichtung eines spartanischen Reiches in Hellas nach 186 v. Chr. war ebenfalls Egoismus. 2.10 Einige weitere Modelle Wer will, kann das zeitweise Mit- und Nebeneinander Athens und Spartas in der Prostasie, das dann in ein Gegeneinander umschlug, auch als „Dyozentrik“ bezeichnen (durch Theben dann zur Polyzentrik werdend), und dasselbe ließe sich in Gallien von Haeduern und Arvernern sagen. Überhaupt sind Monozentrismus und Polyzentrismus extreme Modelle, zwischen denen es fast beliebig viele Spielarten geben kann, und ebenso viele Spielarten des Zusammenlebens, im Guten wie im Bösen, vertrauend und lauernd, sind ideell wie pragmatisch alle denkbar. Wir haben schon auf S. 31 und oben (China) in diesem Sinne von „Pantozentrik“ gesprochen (oder Synzentrik), wenn mehrere Zentren gesteuert zusammenleben und alle von ihnen (wenn auch nicht immer in gleichem Ausmaß) ohne allzu gefährliche politische Gegnerschaft an der Rolle eines Zentrums teilhaben. In Mittelalter und Neuzeit haben alle bedeutenden Nationen Europas, vor allem im geistigen

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und kulturellen Sinn, zusammen eine solche Pantozentrik gebildet. Der Übergang zum „diffusen“ Zentrum ist fließend. Es setzt z. B. eine gewisse Wechselwirkung oder kulturelle Koine in einem inneren Polyzentrismus voraus, doch sind auch andere Formen möglich. Ihm werden wir wohl die Stämme der Germania libera bis zur Völkerwanderung zuordnen, ohne irgendeine agierende Gemeinschaft, aber doch in ähnlicher, gemeinsamer Position gegenüber dem Römerreich. Inwieweit solche Modelle auf La-Tène in der ersten Generation nach der Entstehung anzuwenden sind (s. o. 25 f.), bleibt offen. Das Imperium Romanum um 230 n. Chr. vereinigte verschiedene Züge in sich. Das Kaisertum und die Reichsidee waren so monozentrisch, wie man nur sein kann. Es war ein monolithisches Reich, das weit mehr war als eine Steuerung mehrerer Zentren, aber dieses Reich umfasste alle seine Länder gleichermaßen und gleichwertig, so dass man in dieser Hinsicht auch von einer Pantozentrik, sogar in der Form der überall gleichen Beteiligung am Zentrumsdasein, sprechen kann. Aber als Vielheit verschiedener Wirtschafts- und Kulturzentren von Gallien über Africa bis Ägypten, doch fest verbunden, trug es Züge eines diffusen Zentrums. Italien war faktisch nur mehr ein Land unter anderen, bloß als Symbol hatte es eine hervorgehobene Stellung. Diokletians Tetrarchie hielt an der monozentrischen Einheit des Kaisertums fest, teilte sie aber pantozentrisch auf zwei Augusti auf (mit leichtem Vorrang des Ostens), von denen jeder wieder einen Caesar als Subzentrum hatte. „Subzentren“ sind bis heute die auch noch so kulturell bedeutenden Städte Frankreichs gegenüber dem einen Paris. Die kulturell so reich individualisierten Bundesländer Österreichs bilden in ihrem friedlichen, fest vereinten Miteinander eine kulturelle Pantozentrik, auch wenn Wien oft einen – durchaus nicht unangefochtenen – Vorrang behauptet. Sicher kann man noch viele weitere Begriffe für Funktion, Geltung und Bezogenheit von „Zentrum“ finden, wir lassen es an diesen genügen und erinnern nur noch an die oben 33 genannte Henozentrik. 2.11 Subjektivismen Durch unsere gesamte Darstellung zieht sich mit Notwendigkeit die Tatsache, dass man ein „Zentrum“ auch in bloß subjektiver Betrachtung sein kann, und das gilt auch für die sogleich zu besprechende „Peripherie“. 46

Vgl. unten 40 f.

Ich bringe nur ein Modell: Etwas kann in objektiver historischer Tatsächlichkeit eine Mitte sein; und das sogar auch, wenn sich Zeitgenossen dessen nicht bewusst sind. Etwas kann aber auch sich selbst für eine Mitte halten, ohne es zu sein, es kann aber auch von anderen bloß dafür gehalten werden. Ebenso gibt es eine solche Stellung als Peripherie (in ihren vielen Abarten). Dass hier Dutzende von Kombinationen möglich sind, ist klar, dazu auch noch qualitative und quantitative Stufen und Formen (Politik, Wirtschaft, Kultur …). Es ist sinnlos, hier ein komplettes System schaffen zu wollen. Aber für einen speziellen Phänomenbestand, die ausschließlich subjektive Geltung als Zentrum oder Peripherie, ob nun in eigenen Augen und/oder in fremden, könnte man sich die Termini „Prozentrum“ und Properipherie“ vorstellen. 3. Peripherie Wir wiederholen: Es gibt fast keine menschlichen Beziehungen, die – komplementär zum Zentrum oder auch ohne es – nicht im Begriff Peripherie subsumiert werden können. Der Begriff ist daher so tausendfältig (und oft auch widersprüchlich), dass eine völlige Erfassung aller Varianten oder gar der Versuch eines Systems unmöglich sind. 3.1 Haupttypen und spezielle Phänomene Die moderne Strukturforschung hat schon eine Reihe fest etablierter Begriffe geschaffen, so etwa die „äußere Peripherie“, die „innere Peripherie“, die „Halbperipherie“ u. a. (s. o. 12). Wir wollen im Folgenden nur Einzelphänomene besprechen. Eingangs sei darauf verwiesen, dass ein Kulturraum, namentlich wenn er ein größeres Gebiet umfasst, meist eine sehr komplexe Struktur hat, die einerseits verschiedene Formen und Intensitäten von Peripherie aufweist und andererseits z. T. kaum unter diesen Begriff zu zählen ist. Und es kann Zonen geben, in denen, stufenweise fallend oder steigend, eine gerade noch innere Peripherie von einer schon äußeren sehr schwer, vielleicht manchmal gar nicht zu trennen ist46. Dazu ist ein Phänomen eigener Art zu nennen: der „Sockeleffekt“ oder „Piedestaleffekt“ (so wie Statuen auch größter Art gern ein Postament haben). Oft bezieht ein Zentrum einen großen Teil seines Glanzes aus der Existenz der inneren (vielleicht auch äußeren) Peripherie. Athen hätte ohne die radikale Herabsetzung des 1. Seebundes weder die Akropolis bauen noch die Riesenkriege des 5. Jhs. v. Chr. gegen Sparta und die Welt führen können. Rom war das

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

einzigartige Zentrum eines ganz peripherisierten Italien, aber ohne dessen Soldaten hätte es die Welt nicht erobern können. Was wäre das kaiserzeitliche Rom ohne seine Provinzen gewesen? Was waren Englands Macht und Wirtschaft bis ins 20. Jh. ohne das Kolonialreich und davor schon ohne die völlig peripherisierten Länder Wales, Irland und Schottland als Sockel der Macht? Das Selbstgefühl der USA beruht derzeit weitestgehend auf einer globalen (oder z.T. globalen) Führungsrolle; was wäre Amerika und sein Sendungsgeist ohne sie? Die Hoheit der früheren chinesischen Kaiser ist ohne eine weitgespannte Herrschaft nicht zu denken. Selbst das geistig so reiche Paris muss sich stets in ganz Europa und in der ganzen Welt spiegeln. Doch damit sind wir bereits bei der allgemeinen Wirkung der Umwelt als Peripherie (Properipherie) für die Selbsteinschätzung. Den Ägyptern des Alten und des Mittleren Reiches war die Umwelt aber fast völlig gleichgültig (s. o.)47. Inwieweit in der Zeit der Genese von La-Tène die umliegenden Länder irgend als Aufruf zu Besonderheit und Wert der Abgrenzung dienten, bleibt natürlich offen. Aber dass in der Zeit der keltischen Expansionen die unterlegene Umwelt für das Selbstgefühl der Kelten (d.h. jeweiliger Teile des riesigen keltischen Gebietes) von Wichtigkeit war, liegt nahe. Caesars Gallien hatte jede militärische oder politische Rolle jenseits seiner Grenzen verloren, es war endozentrisch geworden (oder war es immer gewesen?), ja auch hierin schon von den Germanen Ariovists erschüttert. Aber das war kein Hindernis für regstes geistiges und politisches Leben und für eine hochgespannte Meinung von sich als – fast –Spitze der Welt (vgl. Dobesch 1999, 349 f.). Russland denkt heute von sich nicht geringer, trotz dem Verlust nicht nur der Satellitenstaaten, sondern auch der fremden Länder der einstigen Union. China strebt politisch nach äußeren Verbindungen und Landgewinn, aber für seine Einschätzung der eigenen Kultur ist ihm die Umwelt so gleichgültig wie seit Jahrtausenden. Das Partherreich bedurfte keiner ständig aktiven Außenpolitik, den Sasaniden waren Expansion und „weltbezwingende“ Siegesmacht notwendig. Indien führte als solches nie äußere Eroberungskriege und war auch kulturell von äußerer Anerkennung unabhängig. Das Peru der Inka und das aztekische Tenochtitlan lebten von seiner und für seine stete Expansion, den Mayas genügten ihre inneren Kriege anscheinend völlig. Aber auch das gewaltige kulturelle Selbstgefühl der Hellenen war bis ins 4. Jh. v. Chr. praktisch unabhängig von jeder äußeren Anerkennung (das blieb z. T. sogar später noch so) und brauchte letztlich keine äuße47

Nubien als Quelle des Goldes ist für diese Kulturhaltung ohne Bedeutung.Vgl. S. 32 mit Anm. 44.

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ren Eroberungen; nur panhellenische Träume wie die des Isokrates führten in die Ferne.Verwirklicht hat das erst Makedonien. 3.2 Ausstrahlung Mit dem Phänomen „Zentrum“ ist oft – nicht stets – der schwer zu fassende Vorgang der „Anziehung“ oder aber der der „Abstoßung“ verbunden. Beides schafft Peripherien entgegengesetzter Art. Und es gibt eine negative „Anziehung“, etwa rein materieller Art, die zu Raublust oder/und zur Unterwanderung reizt. Die Grundlage ist für alles die „Ausstrahlung“, die hier also als das Movens verschiedener Arten von Peripherie zu erkennen ist. Es kann die kulturelle oder politische Ausstrahlung bewusst oder unbewusst sowohl zu einer Akkulturation wie zu einer Dekulturation (dazu unten 54 f.; 59 ff.) führen, kann Strukturen schaffen oder auflösen. Dieses Entstehen von Strukturen kann zu Folgen führen, die den Interessen des Zentrums glatt zuwiderlaufen. Es kann neue Zentren oder aktive Subzentren nicht nur mit, sondern auch ohne oder gegen seinen Willen entstehen lassen. So überkreuzen sich die historischen Prozesse von Aufstieg und Abstieg mit der Kategorisierung als Zentrum oder Zentren. Auch Zentren können noch weiter aufsteigen oder absteigen und zu einer Peripherie werden (49). All die genannten Phänomene von Ausstrahlung bis zu Aufstieg oder Abstieg können sowohl in den inneren wie in den äußeren Peripherien wirken. Die Typen von „Peripherie“ sind in geschichtlicher Analyse fast beliebig vermehrbar. Auch Toynbees ebenso bekanntes wie geniales Begriffspaar von „challenge“ und „response“ kann, wie es sich aus dem soeben Gesagten ergibt, durch Ausstrahlung ebenso an Zentren wie an Peripherien herantreten. Beide können „Antworten“ geben (und in tausend verschiedenen, auch glatt entgegengesetzten Formen!) oder unterlassen. Die geographische, politische oder geistige Nachbarschaft zu einem Zentrum ist an sich schon ein challenge48. Man kann vom Zentrum zur Peripherie gemacht werden oder sich selbst dazu machen; innen wie außen. Wir nennen einige Beispiele aus einer ungezählten Fülle. Das antike Spanien und Gallien wurden zuerst von den Römern mit Gewalt zu einer unterworfenen inneren Peripherie, aber doch eher Randperipherie des Reiches gemacht. Dann aber gliederten sie sich selbst als bewundernde und aktiv teilnehmende innere Peripherie dem Zentrum an, in Gesinnung und in Kultur. 48

Das gilt natürlich auch bei der Nachbarschaft zweier Zentren. Siehe im Übrigen unten 52 ff. zur Konfinität.

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So gibt es also die aktiv teilnehmende innere Peripherie. Man kann sich freiwillig in Gefolgschaft nach einer fremden Kultur ausrichten, sie nachahmen, so wie z. B. Bukarest zum Paris des Ostens gemacht wurde. Man kann zur Setzung eigener, bescheidener Initiativen (Kleinzentren) angeregt werden. Man kann aber die zentrale Existenz und ihre Werte mit einem eigenen Aufstieg (militärisch, politisch, geistig) beantworten und ab einem gewissen Grade eigener Kultur dann aus dem Dasein als Peripherie überhaupt ausscheren. Aber man kann sich auch gegenüber jeder Beeinflussung und Ausstrahlung abweisend verhalten, wie es die Germanen in der frühen und hohen römischen Kaiserzeit kulturell taten (politisch war es nicht ganz möglich, da Roms aktive Strategie der Errichtung von „Klientelstaaten“ das nicht erlaubte). Erst post festum lässt sich entscheiden, ob diese Ablehnung ein für die Zukunft positiver oder negativer response war. In römischen Augen kann er als ein besonderer, für sich stehender Typus von Peripherie gerechnet werden, kaum aber in germanischer Auffassung, außer eben geographisch. Es gibt also neben innerer und äußerer Peripherie auch die dritte Ausprägung der völlig „fremden“ Peripherie. Die Germanen sind nur eines der Beispiele. Alle drei können einander überschneiden. Palmyra und Hatra vermochten sich in der römischen Kaiserzeit durchaus als eigengeartete künstlerische und kulturelle Subzentren des römisch-hellenistischen oder/und des iranischen Strahlungsbereiches zu entfalten. In der Zeit der Agonie des Imperium Romanum in der Mitte des 3. Jhs. n. Chr. griff Palmyra sogar nach der Stellung als politische Großmacht, als neues Großreich. Das scheiterte an Aurelian. Rom machte seit dem 3. Jh. v. Chr. den Hellenismus zielstrebig zur machtlosen politischen Peripherie. Künstlerischkulturell lief es eine Zeit lang Gefahr, zur minderwertigen Peripherie des Hellenismus zu werden, um dann schrittweise zu einem eigenen geistigen Zentrum erster Geltung aufzusteigen. Für die Ausbreitung des „Keltentums von La-Tène“ ist bekanntlich neben Wanderungsbewegungen auch mit kulturellen Anschlussbewegungen fremder Landschaften und Stämme auf eigene Initiative zu rechnen. Dabei bedeutete das durchaus nicht ein Versinken in Peripherität; sowohl Wanderungen als auch Zuwendungen führten sehr oft zur Konstituierung eigener Zentren (s. u.): an der mittleren Do-

nau, in den Ostalpen, in Oberitalien, in Tylis, in Galatien. Die große germanische Ausbreitung in der Völkerwanderung geschah ursprünglich so gut wie gar nicht durch eigene kulturelle Werbekraft und Ausstrahlung49, sondern durch erzwungene Eroberung, und die Germanen stießen hier, von den Hunnen getrieben, nirgends auf eine kommensurable Bevölkerung eigener Art. Hingegen ist für die germanische Ausbreitung im 2. und 1. Jh. v. Chr., zum Teil auch noch danach und bis zur Völkerwanderung selbst, durchaus mit der Werbekraft des neuen, besonders tapferen Phänomens zu rechnen, so dass wir keltische Namen von Stämmen finden, die offenbar selber zum Germanentum übergewechselt waren. Tacitus bezeugt uns das – nicht ohne Verachtung – noch für die römische Kaiserzeit: Nervier und Treverer bemühten sich „ehrgeizig“ um die Fiktion, von Germanen abzustammen, um sich so von der „Trägheit“ der Gallier zu unterscheiden50. Wohlgemerkt, Tacitus sagt nicht, dass die Stämme germanischer Herkunft waren, und ebenso nicht, dass sie jetzt Germanen waren oder gar germanisch sprachen. Hingegen ist diese Überlieferung ein oft nicht genug gewürdigtes Zeugnis, dass mitten im Glanz provinzialrömischer Kultur einzelne Stämme, die an ihr teilnahmen und innerhalb der Reichsgrenzen lagen, doch im Hinblick auf Kraft und Kriegertum der Ausstrahlung und Anziehungskraft der kulturell sonst unbedeutenden Germanen verfielen. Diese fast zufällige, einmalige Nachricht zeigt, womit wir in dem Riesenreich an lokalen Symptomen zu rechnen haben. So wie in der Spätantike im Osten schon der Typus des iranischen Edlen auf die römerzeitliche Oberschicht ganz von selbst zu wirken begann, so darf man die Frage stellen, inwieweit nicht die seit dem 3. Jh. n. Chr. immer mehr als ungeheures Potential von Stärke und siegreichem, oft überlegenem militärischen Erfolg auftretenden Germanen eine Werbekraft auf die Reichsränder entfaltet haben, was manches spätantike Phänomen erklären könnte.Vielleicht war die provinzialrömische Reaktion (response) eine zwiespältige: Die einen identifizierten sich gegenüber den fremden, gewalttätigen Plünderern immer mehr mit der Romanitas (was beim Aussterben etwa der gallischen Sprachen mitgewirkt haben kann), während andere mit mehr Selbstvertrauen gerne bei den Germanen mitgetan hätten und auch künstlerisch zur Entstehung eines spätantik-provinzialen Kunsthandwerks beitrugen51.

Es sei denn in der Hoffnung, dort sowohl Sicherheit wie Lebensunterhalt zu finden. Tac. Germ. 28, 4 Treveri et Nervii circa adfectationem Germanicae originis

ultro ambitiosi sunt, tamquam per hanc gloriam sanguinis a similitudine et inertia Gallorum separentur. Siehe unten 40 f. zu Todds „Grenzgesellschaft“.

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3.3 Innere Peripherien Von all den Formen, Übergangsformen und Graden der Intensität sei nur einiges genannt. Bei der innersten Peripherie ist oft zwischen Anteil am Zentrum, bloß zugehörigem, gelenktem Teil des Zentrums oder entsprechender innerer Nähe und Betroffenheit nicht klar zu unterscheiden. Es kann demgemäß eine (über eine Zeit hin vollendet gewordene) „integrierte Peripherie“ geben, ein Tatbestand, der oft mit einer „integrativen Mitte“, einem zur geistigen Durchdringung fähigen Zentrum korrespondiert. Daneben steht der Typus der „adhärenten“ Peripherie, die, zum Teil mit Gewalt, in die unmittelbare Machtsphäre des Zentrums gezogen wurde. Die Schaffung großräumiger Organisationsformen durch das Zentrum bindet periphere Gebiete wenigstens äußerlich an es. Hier darf man von „untertäniger Peripherie“ sprechen. Gallische Stämme konnten sowohl eine „untertänige“ wie eine „gefolgschaftsleistende Peripherie“ haben; die Haeduer fanden für die Boier eine Art von Integration (zu all dem oben 29). Der Wechsel zwischen verschiedenen Arten von Peripherie ist oft möglich. Auch kann es „Subperipherien“ um periphere Zentren (Subzentren) herum geben. An dem entgegengesetzten Ende des Spektrums steht die in keiner Weise auch nur im Geringsten integrierte innere Randlage, die echte „Randperipherie“, die von der Ausstrahlung des Zentrums nur bedingt oder gar nicht betroffen ist. Auch hier kann also die Anordnung der „Zwiebelschalen“ von einigermaßen Erfasstem bis in noch fernere, aber doch innere Peripherien gehen. Ein Sonderfall von Peripherie ist das Verhältnis eines lokalen städtischen Zentrums zu seinem Territorium. In Hellas wollte die Polis ein Ganzes mit ihrem Territorium sein, aber in verschiedenen Formen. In Attika geschah dies im Sinne völliger Identität von Bevölkerung der Landschaft mit der der Stadtsiedlung Athen. Auch wenn die politischen Rechte nur in der Stadt ausgeübt werden konnten, kein Einwohner eines der ländlichen „Demen“ (Kleinbezirke) fühlte sich ernsthaft benachteiligt. Auch Sparta glückte die völlige Einigung der Landschaft Lakedaimonien. Aber hier hatten die Spartiaten allein alle politischen Rechte, die umliegenden Städtchen und Dörfer waren deren Herrschaft ganz unterworfen; sie hießen „Perioiken“, „Herumwohnende“, und das darf wörtlich als Formulierung der Idee einer politisch entrechteten, aber völlig integrierten inneren Peripherie gelten. Ähnliches erträumte sich Theben für Boiotien. Hier spielt natürlich auch das Faktum „Hinterland“ einer Stadt herein, das freilich innere wie äußere Peripherie (verschiedener Art) sein kann. Das griechische Massalia war ein klares

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städtisches Zentrum, es besaß eine untertänige oder gefolgschaftsleistende Peripherie kleinerer keltischer oder ligurischer Stämme; sein wirtschaftliches Hinterland griff aber tief nach Binneneuropa hinein. Roms Geschichte kann in vielem unter dem Blickwinkel von „Peripherien“ gesehen werden. Erst wurde 338 v. Chr. der aufgelöste Latinerbund zum Teil in das Zentrum direkt hereingenommen, zum Teil zur ganz abhängigen inneren Peripherie gemacht, die immer mehr integriert wurde. Bis rund 270 wurde Italien insgesamt zu machtloser und von Rom abhängiger gefolgschaftsleistender Peripherie, wieder aber mit einzelnen Integrierungen in das herrschende Volk. Rom versuchte dann diese Struktur um jeden Preis aufrechtzuerhalten, doch das scheiterte, und der Bundesgenossenkrieg 91–88 erzwang die volle Integration der Halbinsel in das römische Volk. Außenpolitisch machte Rom ab 264 v. Chr. schrittweise den Westmittelmeerraum zur völlig untertänigen inneren Peripherie seines werdenden Reichs. Im Osten verzichtete es bis 148 v. Chr. auf die Errichtung von Provinzen, formal blieb also die hellenistische Welt eine äußere Peripherie, aber in enger Untertänigkeit und Machtlosigkeit und politisch bewusst völlig destrukturiert. Die innere Geschichte des Imperiums der Kaiserzeit sei am Schicksal Pannoniens und Illyriens exemplifiziert: Pannonien und der Donauraum waren in der Republik eine ferne, äußere Peripherie gewesen, die ignoriert und z. T. bewusst „draußen gehalten“ wurde. Unter Augustus wurde Pannonien/Illyrien durch Eroberung eine innere Peripherie, aber eine von Wildheit und „Barbarei“ gekennzeichnete Peripherie (innere Randperipherie) niedrigsten Grades im Zustand reinster machtmäßiger Beherrschung. In den Generationen des Kaiserreiches wurde es nach und nach von provinzialrömischer Kultur durchdrungen und auf ausdrückliche kaiserliche Initiative durch Städte römischer (latinischer) Art erschlossen, was unter Hadrian bereits den Limes erreichte: Es wurde schrittweise zur integrierten Peripherie, was 212 n. Chr. in der Reichsbürgerschaft unter Caracalla die Vollendung erfuhr. Im ferneren Verlauf des 3. Jhs. n. Chr. wurde es zum wichtigsten Rekrutierungsgebiet des Reiches, aus dem erst die Soldaten, dann die Generäle und schließlich die Kaiser stammten. Es war zum Zentrum geworden, aber nur zu einem der Kraft und des Selbstgefühls, nicht als Land des Regierens. Geistig war sein Volk völlig romanisiert und fanatischer Träger der Reichsidee. Diesen Zustand, der durchaus bewusst war, drückt eine spätantike Lobrede auf einen Kaiser aus (XII Paneg. Lat. 10 (2), 2, 2), in der stolz ausgesprochen wird, dass Italia quidem sit gentium domina gloriae vetustate, sed Pannonia virtute. Hier liegt ein gemäßigtes Beispiel von „Umkehr der

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Rollen“ vor, worüber weiter unten noch gesprochen werden muss. Denn seit Caesar hat Rom nicht mehr nur erobert, es hat in das Provinzialreich meist recht kleine römische Subzentren in Form römischer (latinischer) Städte verlegt, und zwar in großem Maße. Das war das Symbol für einen Vorgang, der unter völliger Wahrung der absoluten Monozentrik Roms in Politik und Verwaltung das Reich mit römischem Leben erfüllte. Das zog sich – was durchaus notwendig war – lange hin, kann aber doch kaum nur jeweils spontan und zufällig gewesen sein. Aber ob nun bewusst oder nicht, Roms „Antwort“ auf die Existenz des Reiches gehört zu den größten Werken der europäischen Geschichte und ist keineswegs so selbstverständlich, wie sie uns heute im Nachhinein erscheint52. Fast das ganze Imperium Romanum wurde aus einer oft sehr geringen äußeren Peripherie schließlich in eine integrierte verwandelt. Selbst die zäh an griechischer Sprache und Kultur festhaltenden Bewohner des Ostens nannten sich zuletzt „Römer, Rhomaioi, Rhomäer“. Damit kommen wir zum oben gestreiften Phänomen der „Umkehr“ der Rollen. Die von Rom völlig ins Dasein des Zentrums gezogene Peripherie wurde im 3. Jh. n. Chr. de facto – rein militärisch, aber auch z.T. politisch durch immer neue Kaisererhebungen – das eigentliche Zentrum, das alte Zentrum Rom und Italien wurde zum Siegespreis im Kampf der Provinzialheere gegeneinander. Die vielleicht markanteste Umkehr vollzog Konstantin, indem er im Osten die – lateinisch konzipierte! – Stadt Konstantinopel als gleichwertiges Zentrum gegenüber dem westlichen Rom schuf; und diese neue Schöpfung erhob mit der Zeit als „Nea Rhome“, „Neues Rom“, sogar nach Möglichkeit den Anspruch der Überlegenheit. Aus dem gänzlich römisch beginnenden Ostteil des Römerreichs wurde durch Justinians Kriege die stolze Herrin, die auf Ausonien (Italien, Rom …) wie auf eine Sklavin herabblickte. Doch sei wenigstens noch ein Beispiel für Peripherien in Reichen genannt. England versuchte mit allen Mitteln, aus Wales, Schottland und Irland eine völlig machtlose, aber integrierte Peripherie zu schaffen (s. o.). Aber diese Länder hörten nie auf, sich als „unterworfen“ zu fühlen, also als eine (bestenfalls innere) fremde Peripherie. Das Höchste war noch ihre Verwandlung in eine realpolitische adhärente Peripherie. England betrachtete das Empire von vornherein als eine beherrschte, in beschränktem Maß adhärente Peri-

pherie. Auch gegenüber der englisch besiedelten Ostküste Amerikas war man nicht zu einer höheren Einbeziehung bereit, was im Abfall des Landes endete.

Um ein Gegenbeispiel zu nennen: Das osmanische Reich hat etwas Derartiges nie zustande gebracht oder auch nur versucht. Aber die europäischen Kolonialreiche haben ebenfalls meist sehr wenig getan,

um die beherrschten fremden Länder zu einer echten inneren Peripherie zu machen, und der Gedanke an eine integrierte Peripherie taucht in diesem Zusammenhang erst spät und eher punktuell auf.

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3.4 Äußere Peripherien 3.4.1 Verschiedene Modelle Auch hier sind die Artenvielfalt und die Zweideutigkeit gegeben, auch hier besteht der Unterschied zwischen subjektiv und objektiv (und das wechselseitig), der ein historischer Faktor ersten Ranges ist, selbst auch im „Dafürhalten“. Die rein geographische Peripherie ohne Bezogenheit wurde schon genannt, man kann sie als Historiker eine Nichtperipherie nennen, die höchstens unerschlossene Möglichkeiten enthält. Diese kann aber – wie zum Teil durch Peter d. Gr. in Russland – plötzlich zu wirken beginnen oder ergriffen werden. So zeigt die Geschichte ununterbrochen die Genese und das Ende von Peripherien und Zentren; ihr Wechsel gehört untrennbar zum Wesen dieser Funktionen. Auch hier gilt, noch mehr als bei inneren Peripherien, der Dualismus von positiver und negativer Wirkung des Angrenzens (Konfinität): Ein Zentrum kann die Umwelt erhellen oder blenden, es kann sie anregen oder zerstören; es kann sie ihrem eigenen Wesen entfremden. Vor allem aber kann ein Zentrum noch viel leichter gegen eine äußere Peripherie vorgehen (oder vorgehen müssen) als gegen eine innere. Aber auch das ist oft wechselweise. Beispiele gibt es übergenug: La-Tène fiel von der äußeren Peripherie her in Italien, Makedonien, Griechenland, Thrakien und Kleinasien ein; für die Keltisierung der britischen Inseln galt wohl dasselbe, nur wissen wir zu wenig. Ob im 2. Jh. n. Chr. Mark Aurel die Provinzen Marcomannia und Sarmatia schaffen wollte oder nicht (es wäre eine Hereinnahme in die innere Peripherie gewesen), es steht fest, dass er diese gefährliche äußere Peripherie, die dem Reich so verderblich geworden war, mit Konsequenz verwüstet hat. Die Sasaniden betrachteten das Römerreich als äußere Peripherie dem Faktum nach, obwohl – dem widersprechend – sie seinen Ostteil als alte, widerrechtlich geraubte, innere Peripherie des Perserreichs ansahen, als einen nie aufgegebenen Herrschaftsanspruch. Jedenfalls galten ihnen die Bereiche, solange sie sie nicht erobern konnten, als stete Quelle für geraubte Arbeitskräfte und erbeutete Güter.

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

Hier ist der Ort, das Phänomen „Krieg“ in seinem Verhältnis zu Zentrum und Peripherie wenigstens zu nennen. Selbstverständlich kann er von beiden gegeneinander geführt werden, ebenso von Peripherie zu Peripherie und von Zentrum zu Zentrum. Man sollte meinen, er sei ein Kriterium für die Unterscheidung von „außen“ und „innen“. Doch liegt die Sache nicht so einfach. Athen und Sparta kämpften im 5. und 4. Jh. v. Chr. als einander ausschließende Zentren, jedoch immer um die Vorstandschaft in dem sie gemeinsam verbindenden „Hellas“. Wenn sich Boudicca in Britannien gegen Rom erhob, wollte sie wieder zur äußeren Peripherie des Reiches werden, für Rom war das ein Krieg im Reichsinneren. Wie sich Realitäten jeder systematischen Einordnung entziehen können, dafür ist die Beziehung zwischen Rom und dem übrigen Italien bis zum Bundesgenossenkrieg ein Beispiel, das wieder andere Aspekte zeigt als die oben schon genannten: Alle socii (mit dem nomen Latinum als völlig undefinierbarer Mittelstellung) in Italien waren bis zu diesem Krieg nach internationalem Recht und im Bürgerrecht für Rom „peregrini“, Ausländer, insoweit fast eine äußere Peripherie53. Zugleich aber hatten sich ein faktisches Zusammenleben und eine Schicksalsgemeinschaft in Krieg und Frieden, parallel dazu eine Handhabung römischer Befehlsgewalt herausgebildet, die aus den Italikern eine freie, ohne Provinzregiment lebende, aber doch den Römern nicht gleichgestellte innere Peripherie der Macht und überhaupt der Lebenswelt Roms geschaffen hatten. Dieser Raum erhob sich nun gegen Rom: teils mit dem Verlangen nach dem römischen Bürgerrecht, teils aber mit dem ernsthaft verfolgten Plan, die Gemeinsamkeit „Italien“ durchaus aufrechtzuerhalten, in ihr zu verbleiben, ihr aber eine andere, in den Händen der socii liegende führende Stadt und politische Organisation zu geben. Bürgerkrieg war es eher nicht, aber war es ein echter äußerer Krieg? Man kann es auch als Kampf von zwei Zentren in demselben Raum gegeneinander werten, aber kaum so in den Augen der Römer. So wie bei der inneren Peripherie liegt auch bei der äußeren in der Regel (aber nicht zwingend) ein challenge vor, der positiv, negativ oder gar nicht beantwortet wird. Und ein positiver challenge ruft nicht stets eine positive Antwort hervor, ebenso der negative eine negative. Auch hier kann

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Im Unterschied zu den Provinzen, die als unzweideutig unterworfen zur passiv beherrschten, machtlosen, fast rechtlosen inneren Peripherie des Imperiums zählten. Die Quaden versuchten zuletzt mit der Auswanderung zu den Semnonen auf den Druck zu antworten; aber auch das vereitelten die Römer (Cass. Dio 71, 20, 2 p. 275 ed. Boissevain).

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der challenge zur Entstehung eines Zentrums führen: Elam reagierte im 3. Jt. v. Chr. auf den unerhörten Aufstieg Sumers mit einem eigenen Aufstieg und blieb mit Mesopotamien meist durch Gegnerschaft verbunden. Natürlich kann solches ein Verharren in der Stellung als äußere Peripherie bedeuten, aber doch in besonderer, anderer Art: Man könnte von „gleichwertiger“ äußerer Peripherie sprechen (zumindest in mesopotamischen Augen), ob nun friedlich oder verfeindet, eher aber von einem eng verbundenen Gegenzentrum. Die schon genannten Markomannen, Quaden und Jazygen konnten auf die Schläge Mark Aurels überhaupt nicht „antworten“ (nur in letztem Verzweiflungskampf54): Am Leben zu bleiben, war schon der äußerste positive response. Die äußere Peripherie kann auch ein schwerer challenge für das Zentrum sein, also nicht nur umgekehrt: Auf die tödliche Bedrohung durch die Kimbern und Teutonen reagierte die Weltmacht Rom gezwungenermaßen durch den dauernden Übergang zu jener Art der Heeresbildung55, die so viel zum Ende der Republik beigetragen hat. Die feindlich ins Reich einfallenden Germanen ab dem 3. Jh. n. Chr. wurden von Rom als barbarische, die Kulturorganisation auflösende und selber fast formlose äußere Peripherie niedrigster Ordnung betrachtet. Dass sie das in ihren eigenen Augen waren, müssen wir bezweifeln: In solchen Verhältnissen gilt überlegene Tapferkeit und Virtus ohne weiters als Ausweis einer moralischen Zentralstellung, sogar in Überlegenheit. Ganz manifest ist bei den Sasaniden – Hochkulturen und Barbaren sind oft erstaunlich ähnlich – die Selbsteinschätzung als eigentliches Zentrum von Kultur, Geist, Religion, Gesellschaft, Menschenideal, Tapferkeit gegenüber einem Römerreich, das, wie oben gesagt, eine ergiebige äußere Peripherie darstellte. Die Römer ihrerseits sahen im neuen Perserreich lange eine bloße Außenwelt (so wie in den Parthern), eine äußere Peripherie im Sinne der Wertung: nicht „wertlos“ (wie europäische Barbaren), wohl aber minderwertig, geistig nebensächlich. So war das Reich im 3. Jh. n. Chr. im dauernden Zweifrontenkrieg für die Kräfte Europas und Asiens faktisch (nicht mental) zur bekriegten äußeren Peripherie geworden. Es reagierte darauf (response) gezwungenermaßen mit jenem neuen politischen und sozialen Aufbau, der das Bild der

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Wesentlich verstärkte Anwerbung von besitzlosen proletarii als Rekruten. Natürlich galt die neue Form nie ausschließlich, das Instrument der Aushebung blieb bestehen.

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Spätantike in vielem prägte und keineswegs reine Bewunderung erregt: mit einer möglichst kompletten Erfassung, Kontrolle, Beherrschung und Ausbeutung aller wirtschaftlichen, militärischen, finanziellen, politischen, sozialen und religiösen Kräfte des Weltreiches. Das Imperium opferte die innere Freiheit, um Zentrum zu bleiben, wieder zum Zentrum zu werden. Ein neuer Faktor waren die Hunnen, die sich ohne Zweifel selbst als Zentrum auffassten und Germanentum und Römerreich peripherisieren wollten. Auf die dadurch ausgelösten germanischen Bewegungen fanden das westliche Kaisertum und sein Reich überhaupt keine Antwort mehr; das Ostreich lavierte geschickt durch alle Wechselfälle durch. Politisch Neues fand es nicht, und das schien auch angesichts der Blüte des Reichs bis zur arabischen Invasion nicht nötig zu sein. Formen äußerer Peripherie können sein, um zusätzlich zu den genannten Fällen ein paar Beispiele zu nennen: die „begünstigte, geehrte“ Peripherie (so China gegenüber dem indischen Buddhismus, wenigstens anfangs), die „dienende“ Peripherie (das Römerreich in Attilas Sicht), die „verachtete“ (das Achaimenidenreich für die panhellenischen Ideologen des 4. Jhs. v. Chr.), die „bagatellisierte“ und die „ignorierte“ Peripherie (die letzten drei gehören innig zur Ideologie einer Einstufung als „Barbaren“), die objektiv „bedeutungslose“ Peripherie (Europa für die USA im 19. Jh.), die „interessante“ Peripherie (die Völker der Erde für die Wissenschaft und den Kolonialismus der europäischen Neuzeit). Damit keineswegs identisch sind die „interessierte“ Peripherie (so die zur Christianisierung strebenden ostslawischen Völker gegenüber Byzanz), die „ausgebeutete“ (Kolonialismus), die „begehrenswerte“ (Mittel- und Südamerika für Spanien, Nordamerika für Engländer und Franzosen), die freundlich oder feindlich „anerkannte“, als unveränderliches Faktum akzeptierte, die „ausgeschlossene“ und „draußen gehaltene“, die „abgestoßene“, die „erweckte“ Peripherie (s. o.) und die vom fremden Zentrum „angelockte“ Peripherie (so das christliche Mittelmeerreich für die Araber, die sich soeben selbst im Islam als Zentrum etabliert hatten). Was Toynbee „äußeres Proletariat“ nennt, gehört auch hierher und ist eine wechselnde Konstellation von verschiedenen solchen Aspekten, aber mit eher negativer Wirkung. Man wird wohl den Grund, in dem die eigenen Strukturen einer äußeren Peripherie durch ein fremdes Zentrum, auf welchem Weg auch immer (absichtlich, unabsichtlich, aktiv, 56

Eine sehr wichtige Studie mit intensiver Aufarbeitung des Fundmaterials von der römisch-germanischen Grenze am Rhein hat vor kurzem M. Erdrich (2001) vorgelegt.

passiv, geistig oder sozial …), aufgelöst werden, zum Gradmesser für eine Bewertung als Proletariat machen müssen. Ausprägungen, Intensität, ein Wirken äußerer und innerer Faktoren mit und gegeneinander, all dies ist nicht zu zählen. 3.4.2 Überlappende Peripherien und Klientel Ein Spezialfall sind „einander überlappende“ Peripherien. Die griechischen Städte der Westküste Kleinasiens gehörten im 5. Jh. v. Chr. dem Attischen Seebund an und zahlten Abgaben, aber der Perserkönig als „König Asiens“ entließ sie nicht aus der Untertänigkeit und Reichsangehörigkeit, sondern fand sich in einem Abkommen mit Athen dazu bereit, seine Souveränität nicht auszuüben und keine Tribute zu verlangen. Beide Vertragspartner erkannten stillschweigend die Rechtsansprüche des anderen an, besser gesagt, sie bestritten sie einander nicht. F. Schachermeyr (1986) widmete einer solchen Zwitterstellung eine Monographie, da er dies schon im 2. Jt. v. Chr. für die achäischen Griechen Westkleinasiens im Spannungsfeld zwischen Mykene und Hethitern gegeben sah. Aber auch die janusköpfige Position Armeniens zwischen Rom und den Parthern seit dem Abkommen unter Kaiser Nero lässt sich vergleichen: Ein parthischer Prinz herrschte als König, aber Rom verlieh das Diadem und konnte ihn so als Klientelfürsten betrachten. Wer solche zwiefache, komplementäre Stellungen in Macht und Verzicht betrachtet, erkennt, dass diese Länder genau spiegelbildlich von beiden Großmächten als sowohl innere wie äußere Peripherien gesehen werden konnten. In Grenzgebieten können sich auch kulturell verschiedene Strahlungsgebiete überlappen: Palmyra wurde oben schon erwähnt; im Bosporanischen Reich durchdrangen einander Elemente der griechischen Kultur mit solchen einer eher iranisch ausgerichteten Welt der Steppenkrieger, und dazu trat seit dem 1. Jh. v. Chr. die politische Stellung als römisches Klientelreich. In diesen Zusammenhang gehört auch eine Erscheinung, die M. Todd (2000, 153 ff.) unlängst schön beschrieben hat56: In der Spätantike durchdrangen die Räume beiderseits der europäischen Grenzen des Römerreiches57 einander sowohl kulturell wie bevölkerungsmäßig, wofür er den Terminus „Grenzgesellschaft“ verwendet. In der Tat ist zu bedenken, dass sich an ein und derselben Grenze immer wechselseitig ein äußerer und ein innerer Rand berühren; im Rah57

Wirklich nur in Europa? Galt ähnliches nicht auch an der Ostgrenze, so etwa von Dura-Europos und dem schon mehrmals angeführten Palmyra?

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

men dieser letztlich unvermeidbaren Vieldeutigkeit kann Vieles, und auch weitgehend, ganz von selber miteinander verschmelzen. An anderer Stelle habe ich bei dem äußerst vielseitigen Institut römischer „Klientelvölker“ zwischen reichsangehöriger Klientel (also innere Peripherie) und außenstehender (also meist schon eher äußere Peripherie) unterschieden. Zu ersterer zählten etwa die Alpes Cottiae oder im Osten Galatien bis 25. v. Chr., Kappadokien bis Tiberius usw., zur zweiten alle römerfreundlichen Stämme im freien Germanien wie z. B. Markomannen und Hermunduren, aber auch die sarmatischen Jazygen östlich davon und andere. Sie waren für Rom also eine an sich gezogene und adhärente äußere Klientel.

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3.4.3 Draußenhalten und die Germanen Roms Doch galt dies nur politisch und diplomatisch. Im Alltagsleben wie in der Ideologie wurden die Völker jenseits des europäischen Limes systematisch draußen gehalten und aus dem Dasein im Reich völlig ausgegrenzt. Diese „abweisende Separation“ hat für beide Teile beträchtliche Folgen. Für sehr freundliche und enge diplomatische Kontakte bis ganz tief hinein ins Barbaricum sei auf die enge und ehrende Verbindung zwischen Domitian und den Semnonen – die nicht einmal ein Klientelvolk waren! – hingewiesen (Cass. Dio 77, 5, 3 p. 180 ed. Boissevain). Das Zusammengehen war offensichtlich gegen die zwischen beiden liegenden Markomannen und Quaden gerichtet. D.Timpe (1996) hat unlängst gezeigt, dass die völlige kulturelle und menschliche Egozentrik des Imperium Romanum, das in der frühen und hohen Kaiserzeit im Selbstgefühl die äußeren Barbaren als kaum

existent betrachtete, auf einer anderen Ebene zuhause war als die gleichzeitig sehr aufmerksame, wertungsfreie Diplomatie gegenüber denselben Stämmen. Es klaffen aber Ideologie und Realität äußerst oft auseinander, und, wie schon mehrfach genannt, die innere Selbstdarstellung einer Kultur kann andere Wege gehen als die anerkannte äußere Umgangsform. Römische Händler machten sich viel in der Germania libera zu schaffen; schon unter Tiberius bestand nahe der Königsburg des Marbod eine dauernde Siedlung von Händlern aus dem Reich, etwa sogar auch von Handwerkern (Tac. ann. 2, 62, 2 f. vgl. oben Anm. 8). Die Regierung sah das vielleicht gerne, weil es Möglichkeiten von auch politischer Information in sich schloss und zusätzlich römischen Spionen erlaubte, als Händler aufzutreten58. In umgekehrter Richtung verhielt sich Rom völlig anders. Rom hielt z. B. in Germanien jeden Kontakt unter strengster Kontrolle, so dass – natürlich mit Ausnahme formeller und sicher stets eskortierter Gesandtschaften – offenbar nur der Besuch römischer Märkte erlaubt war, und das nur an der äußersten Grenze unter peinlichster Aufsicht (vgl. etwa Tac. hist. 4, 64, 1)59. Tacitus erwähnt es als außerordentliches Privileg und ungewöhnliche, einmalige Sonderregelung, dass Angehörige des besonders vertrauenswürdigen Stammes der Hermunduren sogar zu Handelszwecken bis tief in die Provinz Raetien reisen durften. Der Bericht des Tacitus (Germ. 41, 1 ) darüber ist für alle (!) anderen Grenzabschnitte gegenüber den Germanen so aufschlussreich, dass wir ihn im Wortlaut anführen: . . Hermundurorum civitas, fida Romanis. eoque solis Germanorum non in ripa60 commercium, sed penitus atque in splendidissima Raetiae

Wenn 6 n. Chr. sich zwei römische Heere in weit ausholendem Zangenangriff von Carnuntum und vom Rhein aus gegen Marbod in Böhmen in Bewegung setzten, und wenn diese Operation ganz planmäßig verlief und beide schon knapp vor der geglückten Vereinigung standen (Vell. 2, 10, 9, 5. 110, 1–2), setzt das eine derart exakte Planung voraus – der Weg ging z. T. durch den westlichen herzynischen Wald! – , dass sie ohne Erkundung von möglichen Wegen, von Abständen, Distanzen und von halbwegs berechenbarer Marschdauer kaum zu denken ist. Wenn 170 v. Chr. keltische Gesandte aus den Ostalpen die ehrende, einmalige Sondererlaubnis erhielten, eine fixe Zahl von Pferden in Italien zu kaufen und auszuführen (Liv. 43, 5, 9), lässt dies ermessen, wie streng Märkte und Wege kontrolliert wurden. Solche fast zufällige Nachrichten werfen ein interessantes Licht auf das römische Verhalten. R. Much (1967, 464) in seinem Germaniakommentar betont mit Recht, dass „non in ripa“ für „non solum in ripa“ stehe, also die Hermunduren auch an der Grenze Handel betreiben konnten. Much (ebd. 464 f. – dort auch die ältere Literatur – und Lund 1988, 220 f.) sehen eine Schwierigkeit darin, dass zur Zeit, als Tacitus schrieb, der

rätische Limes schon bestand und die Donau nicht mehr die Grenze zu den Hermunduren war; Tacitus schöpfe hier also wohl aus einem älteren Autor, denn in der Zeit des Tacitus hätte sich der Verkehr am „Limes“, nicht an der „ripa“ abspielen müssen. Aber ich glaube nicht, dass solche Details für Tacitus eine Rolle spielten. Denn die Verlegung der Grenzkastelle etliche Kilometer nördlich der Donau war ein, vom Reich aus gesehen, so winziger Unterschied (und Tacitus wertet die flavischen Gebietsgewinne dezidiert ab), dass er, wenn man große Linien zeichnet, eine quantité négligeable war. Er spricht doch im Zusammenhang von der Gesamtheit der Germanen und hätte also auch für diese zwischen Rheinufer und obergermanischem Limes unterscheiden müssen. Tacitus sagt – wie etwa auch Caesar – das Grundsätzliche und Wesentliche ohne die angestrebte Wirkung durch lächerliche Einschübe zu verunklären, durch Einzelheiten zu stören, die am Sinn gar nichts änderten. Much 1967, 464 glaubt sogar, dass schon die Anlage einer engen Kastellkette durch Vespasian sich mit der Formulierung des Tacitus nicht vertrüge, da die Kastelle, einmal vorhanden, doch kontrolliert haben müssten. Aber Tacitus sagt ja gar nicht, dass die Hermunduren unkontrolliert die Grenze überschreiten, was ja auch ein Unding gewesen wäre;

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provinciae colonia61. passim sine custode transeunt et, cum ceteris gentibus arma modo castraque nostra ostendamus62, his domos villasquo patefecimus non concupiscentibus. Tacitus führt also zu dem, was unten noch behandelt wird: Mit Ausnahme der Hermunduren erlebten alle Germanen das Reich nur als starre, repressiv gehandhabte Grenze mit vorwiegend militärischem Charakter, alles weiter innen Liegende war letztlich doch immer wieder eine Sache des Hörensagens. Sogar auch die Hermunduren durften offenbar nicht über das Gebiet von Raetien hinaus tiefer ins Reich einreisen. Dass die größte, glänzendste Stadt des dortigen Reichsgebietes ihnen offen stand, war in den Augen des Tacitus bereits etwas Enormes. Geschickt führt er den Faden gleich weiter, um Zusätzliches zu sagen: Beim Handel auf dem flachen Land und dem Weg in die große Stadt durften die Hermunduren sogar die reichen Gehöfte, Gutsbetriebe und Landsitze sehen und besuchen, obwohl sie an solchem Reichtum und Luxus keineswegs interessiert waren63. Natürlich stand hinter der sonst lückenlosen scharfen Bewachung der Eintrittsorte ins Römerreich zunächst die Sorge bezüglich feindlicher Raubzüge von Kleinstgruppen (nicht von Heeren), die sich leicht als Kaufmänner ausgeben konnten, und daher war für Germanen eine tiefere Einreise ins Reich überhaupt verboten. Mauerbau am Limes und ständiges Patrouillieren waren primär gegen solche oder etwas größere Plündereinfälle berechnet: Unvorhergesehene Heere konnten nur kurz abgewehrt werden64, aber die innere Sicherheit gegen Einzelne und kleinere Scharen war dadurch sehr effizient gegeben.

Rom schottete sich gegen die Nachbarvölker hier – oder an den Wällen in Britannien – systematisch ab, die nichtrömische „Barbarenwelt“ sollte grundsätzlich scharf und systematisch draußen gehalten werden. Im 1. und bis tief ins 2. Jh. n. Chr. war das auch meist in weitestem Grade erfolgreich. Das ist für die römische Mentalität gegenüber einer äußeren Peripherie dieser Art aufschlussreich. Es muss aber auch von den Germanen her gesehen werden. Wenn man von Staatsbesuchen und offiziellen Gesandtschaften absieht, auch von römischen Gesandtschaften ins freie Germanien und von entsprechenden Beschenkungen65, also von in Teilnehmerzahl und Häufigkeit nur punktuellen Gelegenheiten, so ist festzuhalten, dass die bei weitem größte Zahl der freien Germanen, auch ihrer Edelinge, nur mit dem Reichsrand, mit der fernsten unter den inneren Peripherien des Imperiums Kontakt hatten, und das sehr beschränkt. Wohl brachten römische Händler verlockende Waren ins Land, wohl vor allem Wein, aber die Vorstellungen, die die freien Germanen von „Rom“ und „Reich“ haben konnten, beruhten auf solch winzigen Einblicken und generell auf dem Limes, auf meist nicht zu teuren Stücken provinzialrömischen – bestenfalls noch von weiter innen stammenden – Kunsthandwerks, auf den Grenzheeren (ein von Tacitus sehr betonter Aspekt) und einigermaßen noch auf Siedlungen an der Grenze (die Hermunduren ausgenommen), also auf Subzentren meist geringen Ranges. Selbst offizielle Kontakte fanden zunächst einmal mit dem Provinzstatthalter oder dessen Untergebenen statt. Rom und

leicht hätten ein paar Räuber, die gar nicht Hermunduren sein mussten, ins Reich übersetzen können. Das Wort „passim“ sagt nur, dass die Hermunduren nicht von vornherein gänzlich an spärliche Handelsorte gebunden waren, und „sine custode“ heißt nicht „unbewacht“, sondern dass ihnen bei dem Weg ins Innere der Provinz nicht einmal Wachen mitgegeben wurden, ein sehr hohes, zusätzliches Privileg. All das war natürlich nur möglich, wenn die römische Grenzwache die Ankömmlinge als Hermunduren rekognosziert hatte. Wahrscheinlich Augusta Vindelicum (Augsburg), die Hauptstadt der Provinz, eventuell Cambodunum (Kempten). Siehe zur Diskussion Lund 1988, 220. Daraus geht hervor – was sich ja von selbst verstehen sollte –, dass an allen anderen Grenzen die streng kontrollierte Zulassung zum Handel im Reich nur im Zusammenhang mit ausreichender militärischer Bewachung geschah, also bei Lagern oder Kastellen (und eventuell sonstigen militärischen Wachposten). Much 1967, 465 übersetzt in seinem Kommentar „non concupiscentibus“ mit „ohne dass sie danach begehren, es besitzen zu wollen“. Ein solcher Sinn ist natürlich zusätzlich nicht unmöglich. Aber wenn er das darauf bezieht, dass die Hermunduren als „civitas fida Romanis“

keine räuberischen Absichten hatten, und nicht so auffasst, dass sie bedürfnislos gewesen seien, so hätte Tacitus ein „sie verlangen nicht nach Raub“ doch wohl deutlicher ausdrücken müssen. Aber selbst wenn man diese Worte ganz im Sinne Muchs deutet, führt das ja doch wieder dahin, dass die Hermunduren gar kein Verlangen nach römischen Kostbarkeiten hatten, und das ist mehr als die – ohnehin schon ausreichend genannte – fides und eine Aussage, wie wenig Gier und Besitzverlangen nach Luxusgegenständen, ja überhaupt an Interesse für solches bei ihnen zu finden sind, ganz im Sinne des taciteischen Germanenbildes. Das gilt übrigens auch von der Chinesischen Mauer, die unmöglich in ihrer ganzen Länge stets voll besetzt gehalten werden konnte, wo also nur Patrouillen achteten, dass keine kleinen Scharen einfielen. Im Falle eines großen Krieges diente sie natürlich ebenfalls als ein Schutzmittel, wenn Heereseinheiten in den gefährdeten Abschnitt disponiert wurden. Vgl.Tac. Germ. 5, 3 est videre apud illos argentea vasa, legatis et principibus eorum munera data, non in alia vilitate quam quae humo finguntur. Aus all dem (legatis) geht hervor, dass Tacitus eher an römisch-germanische Diplomatie denkt als an Ehrengeschenke für eigene oder fremde principes oder zwischengermanische Gesandte.

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der Kaiser blieben eine ferne Mär, jenseits von Wissen und wohl auch von Einbildungskraft. Damit beginnen wir das Denken der germanischen (oder auch anderer) äußeren Peripherie des Reiches vielleicht ein wenig zu fassen. Das Imperium Romanum war ein fast mythischer Riese von unbeschränkter Ausbreitung und Leistungskraft, es war das Fremde schlechthin in der schärfsten Ausprägung: das Unverständliche und Unfassbare66. Es war unheimlich und in seinem konsequenten Ausschluss der Nachbarn auch stets latent feindlich, trotz aller Klientelbezüge. Es war mit der eigenen Art in keiner Weise kommensurabel. Die kulturelle Werbekraft, Elemente dieses Fremden für sich selbst zu apperzipieren, konnte in der Regel eher nur gering sein. Das Beste und Höchste, das eigentlich Wesentliche der Reichskultur blieb den mittel-, aber auch den osteuropäischen „Barbaren“ im Grunde verborgen, so verborgen, dass es nicht einmal ein Rätsel war. Vielleicht ist hier einer der Faktoren dafür zu erkennen, dass die Germanen sich lange Zeit gar so wenig von Anregungen dieser Reichskultur berühren ließen. Umso außerordentlicher wird die tiefe Umstellung der Germanen ab den Markomannenkriegen, spätestens ab etwa 200 n. Chr. Denn Roms Verhalten hatte sich kaum geändert, die Wandlung erfolgte rein innerlich in der germanischen Welt. Aber wir verstehen auch, dass selbst nach diesem Umbruch die neuen germanischen Stämme sich nichts von Eroberungen römischen Territoriums67 oder gar von einer Zerstörung des Reiches träumen ließen. Das stand ganz außerhalb der Vorstellungskraft, schien schlechthin unmöglich. Und so blieb denn der Raubzug als die wesentlich „edlere“ Alternative zu anderen Plänen. Auch in der neuen Konstellation hätte Rom die Politik des Draußenhaltens gerne unverändert weitergeführt; im 2. Jh. n. Chr. wollten das noch Antoninus Pius und Mark Aurel in unveränderter Weise beibehalten (vgl. Dobesch 2001b, 1038 ff. 1051). Aber es erwies sich, dass die Kräfte des Reiches dazu nicht mehr imstande waren: Die neue Energie der Germanen – oder auch der Karpen – war nicht mehr auf die Dauer zu dämpfen, jeder Erfolg – und es gab nicht wenige – musste zeitgebunden bleiben. Die Feinde waren nicht mehr abzustoßen, nicht mehr zu bagatellisieren, auch wenn man ideologisch zäh an der Wertung als „Barbaren“ festhielt. Aber diese Barbaren waren ungeahnt wichtig geworden. Ein neuer Faktor wurden sie auch durch die seit dem 3 Jh.

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Gelegentliche Prestigegeschenke hochwertigen römischen Kunsthandwerks (vgl. die vorige Anm.) wirkten dem nicht entgegen, sondern verstärkten eher noch diesen Effekt.

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n. Chr. immer wachsende Aufnahme ins römische Heer. Später hat ein griechischer Intellektueller das getadelt – man solle doch besser das eigene Volk bewaffnen –, und auch moderne Tadler fehlen nicht. Gewiss ist das Verhalten der Kaiser auch so zu interpretieren, dass ihnen das eigene Volk als Steuerzahler lieber war und sie mit diesem Geld erstklassige Krieger in Sold nehmen konnten. Aber das ist kaum die ganze Wahrheit. Denn der Druck auf die Reichsgrenzen war eine nicht mehr zu beseitigende Tatsache, offenbar auf dem Hintergrund eines gewaltigen Geburtenüberschusses bei den Germanen. Deren Überzählige ins Heer aufzunehmen, war fast die einzige Möglichkeit, diesem Druck ein wirksames Ventil zu geben. Um es zugespitzt auszudrücken: Jeder angeworbene Germane, Edler oder Gemeinfreier, war eine erstklassige Stärkung der römischen Armee, jeder nicht angeworbene ein potentieller Angreifer. Andere spätantike Ereignisse, die sehr fruchtbar unter dem Gesichtspunkt Peripherie – Zentrum gesehen werden könnten, sollen hier aus Platzgründen nicht mehr behandelt werden. 3.4.4 Ideologien im Mediterraneum und bei Kelten wie Germanen Wir haben schon von dem Nachdruck gesprochen, mit dem – und sei es nur in der Ideologie – Kulturen und Reiche oft Länder, die außerhalb ihrer Grenzen stehen, als minderwertig betrachten. Es ist ein Mittel, die „Fremde“ wenigstens subjektiv in ein Denkbild einzuordnen, welches die Zentralstellung der eigenen Kultur möglich macht und bestätigt. Diese Außenwelt kann als „schutzflehend“ aufgefasst werden (so Augustus gegenüber den Parthern, die Sasaniden des 3. Jhs. n. Chr. gegenüber den Römern) und als untertänig, als tributbringend (so Ägypten gegenüber Kreta oder China zeitweise gegenüber Indochina); man kann sie als allerfernste, unwichtige Weiten darstellen, man kann sie auch in näherem Umkreis als Bagatelle hinstellen, gleichsam als leidige Pannen menschlicher Existenz, die dem eigenen Anspruch, die „Welt“ oder „alle Menschen“ zu sein, leider nicht ganz entsprechen, aber doch nicht ins Gewicht fallen. Diese Länder sind dann „menschlich“ dermaßen unwichtig, dass sie nicht einmal unter einen Herrschaftsanspruch gestellt werden müssen. Sie sind im Sinne des jeweiligen Zentrums ein Extrem äußerer Peripherie, und das vollkommen subjektiv.

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Vielleicht bildeten die Markomannen zu Beginn der Kämpfe gegen Mark Aurel eine Ausnahme. Sie büßten es schwer.

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Wir erwähnen das auch deswegen, weil hierin eine zentrale Wurzel des Barbarenbegriffes liegt: der Barbar als das Fremde im Sinne der völligen Abwertung; der Barbar als unkultiviert und kulturfeindlich; der Barbar als untergeordnete menschliche Existenz, dem wesentliche Züge des menschlichen Wertes überhaupt fehlen; eine Bagatelle, ein misslungenes Menschentum, ein „Untermenschentum“, fast rechtlos. Der negative Barbarenbegriff folgt aus der subjektiven Zentral- und Füllenatur der eigenen Kultur, er wirkt in die Nähe und die Ferne, und er kann sehr seltsame Aktionen und Kriege „rechtfertigen“. Er schiebt die (ganze) andere Welt einfach an den Rand, der geistig wie politisch nebensächlich ist; die unwesentlichen Menschen als Gegensatz zu dem wahrhaften, eigentlichen, vollen Menschentum, das allein wahre Würde, wahre Menschenwürde besitzt. Nur vor diesem Hintergrund ist im Alten Orient die akkadische und assyrische (zeitweise und in Andersart die ägyptische) „Weltherrschaftsidee“ in der Realität ihres Ausspruches zu verstehen.War der König noch sosehr der „Herr der vier Weltgegenden“, man musste wissen, dass es außerhalb des Reiches fast überall immer wieder neue Länder und neue Völker gab. Die einzige Möglichkeit, diese handgreifliche Tatsache mit dem eigenen Universalitätsanspruch zu vereinigen, war, letzteren als kulturell und „ökumenisch“ aufzufassen. Die nicht unterworfenen Gebiete waren also subjektiv völlig peripher und unwichtig, konnten als außerhalb des wahren Menschseins, außerhalb der „Kultur“ betrachtet werden. Es handelte sich um Gebiete und Stämme, die des Besitzes durchaus unwürdig waren, die für ein umfassendes Reich der „Kultur“ und „Ordnung“ nicht in Betracht kamen. Implizit oder explizit ist hier eine Art von „Barbarenbegriff“ gegeben. Es genügte, in den formlosen, drohenden Außenperipherien schützende Außenzonen anzulegen und herrscherliche Einflussbereiche zu schaffen, Schutzpolster für die Kultur des „Zentrums“. Auch die Inka handelten nicht anders. Es darf gefragt werden, ob ein solches Denkmodell auf die „Hochkulturen“ beschränkt war.Wir haben wenig Material, aber vieles spricht gegen eine Beschränkung. Dass bei den Germanen eine solche Auffassung ihrer selbst als „die Menschen“ dereinst gegeben war, lehrt die uralte Mannus-Genealogie. Auf anderer Ebene kehrt solches in dem äußerst anspruchsvollen Namen „Alemannen“ wieder. Bei den Kelten könnte vielleicht die Etymologie dieses Namens in eine solche Richtung deuten, und dazu tritt eine weitere Überlegung: „Kultivierte“ wie „barbarische“ Völker sind meist mit Hingabe in nachbarliche Kriege verstrickt; ein auf Tapferkeit stolzer Stamm kann nach Macht streben oder ein besseres Territorium begehren und daher wandern. Aber was sich bei

den Kelten zwischen dem 5. und 3. Jh. v. Chr. abspielte, geht über alle solche Maßstäbe hinaus. Sie inszenierten eine Völkerwanderung, die darin die der Germanen übertrifft, und der – soviel wir sehen – kein „Hunnenschock“ und keine „Hunnennot“ als erstes Movens zugrunde lag. Ist es wahrscheinlich, dass eine große Völkergruppe die Welt von Britannien bis Kleinasien heimsucht, besiedelt oder sich untertan macht, ohne dass geistige Vorstellungen das begleiten? Die Kelten griffen in einer Weise aus, die das Existenz- oder Herrschaftsrecht der meisten anderen Völker negierte. Bei den Galatern Kleinasiens wird uns geradezu so etwas wie eine Ideologie fassbar, die die feigen, reichen Stadtbürger rundum als eine Peripherie auffasst, deren Güter den tapferen Galatern zustehen. Auch die Germanen ab dem 3. Jh. n. Chr. handelten gegenüber dem Imperium nach solchen Kategorien. Es bedurfte niemals einer juristischen Begründung für ihre Angriffe. Diese waren in sich selbst gerechtfertigt. Caesars Beschreibung der Sueben seiner Zeit ist natürlich übertrieben und schematisiert. Aber ein Grundmuster ist dennoch zu erkennen. Dieses gerade entstandene und entstehende Stämmephänomen von höchstem Anspruch auf Tapferkeit (vgl. Caes. b. G. 4, 2, 5–6, in fremder Spiegelung ebd. 4, 7, 5) wandte sich prinzipiell und dauernd gegen seine Nachbarn (Caes. b. G. 4, 1, 4–6), sie als bloße Peripherie ansehend, der gegenüber es keiner Rechtsansprüche oder sonstiger Gründe bedurfte. Wir fassen das noch gegenüber Usipetern und Tenkterern (Caes. b. G. 4, 1, 2 und 4, 1), gegenüber den Ubiern (Caes b. G. 4, 3, 3–4) und den Cheruskern (Caes. b. G. 6, 10, 5) sowie in der Anlage einer gewaltigen Wüstung an ihrer Ostgrenze (Caes. b. G. 4, 3, 1–2). Es ist keineswegs eine andere Erklärung, sondern stimmt mit dem genannten Zentrumsanspruch überein, dass man gerade im Besitz einer unübertrefflichen Virtus ein Anrecht auf alles Fremde zu haben meint. Das Selbstgefühl, die besten Krieger zu sein, verwandelt alle anderen „gerechterweise“ in Objekte dieser Kraft. Wer glaubt, dass solches ein Kennzeichen „barbarischer“ Mentalität ist, kennt die Geschichte der „Hochkulturen“ nicht, auch nicht die der höchsten. Es ist nur eine Verschiebung des Hochmuts auf eine anders scheinende Ebene, wenn man die Rechtfertigung öfters nicht nur in der eigenen Kraft, sondern in der rohen Kulturlosigkeit des anderen (ob dieser nun ein „Barbar“ ist oder nicht!) sucht. 3.4.5 Raubzüge, Beute, Abenteuer bei Kelten und Germanen Damit sind wir aber schon bei der eigentümlichen Besonderheit raubenden Verhaltens.

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

Ich gehe hier nicht noch einmal auf die wandernden Kimbern, Teutonen, Ambronen und Tiguriner ein, deren Raubexistenz unerhört weitgespannte Bereiche Europas zu einer mobil wechselnden Peripherie ihrer Tapferkeit machte. Für ganz normale, nicht außerordentliche Zustände beschreibt Caesar in genialer Deutlichkeit die Verhältnisse bei den Germanen seiner Zeit68, wobei nicht an Volkswanderungen gedacht ist: „Raubzüge seien keine Schande“ – also eine Ehre – „sofern sie außerhalb des eigenen Stammes geführt würden“. Damit haben wir eine schöne Definition wie die ganze restliche Welt (ob Germanen oder nicht) als „Peripherie“ angesehen wird. Zugleich aber dürfen wir diese Raubzüge keineswegs im Sinne der ja auch anders geschilderten, ständigen Kriegstätigkeit der Sueben (die steten Volkskrieg bedeutete) auffassen. Es waren offenbar gelegentliche, zum Teil auch sehr kleine Unternehmungen in die Nähe oder in eine Ferne verschiedenen Grades. „In den Versammlungen verkünde einer von den führenden Männern“ (principes, Edelinge; andere hatten weder Führungsansehen noch Charisma) „dass er einen solchen Zug plane und ihn als Anführer leiten werde, wer ihm Gefolgschaft leisten wolle, solle das jetzt öffentlich erklären. Darauf erhoben sich jene Männer, die den konkreten Raubzugsplan und den Anführer billigten, und versprachen ihre Hilfe. Die Masse“ (des Volkes, die Volksversammlung, das Thing) „lobe diese Männer.Wer von diesen nicht im Raubzug folgt“ (also wieder abspringt) „werde unter die Fahnenflüchtigen und Verräter gerechnet und finde in Hinkunft in überhaupt keiner Sache mehr Vertrauen“. Also ist dieses Unternehmen nicht ein Krieg des ganzen Stammes, sondern eine „Privatsache“ der Betroffenen und steht daher auch unter einem ad hoc sich selbst anbietenden Anführer, der auch schon das geplante Unternehmen grundsätzlich umschreibt. Nur die Billigung (conlaudantur, nicht ein formeller Beschluss) der Volksversammlung ist notwendig, da sonst chaotische Zustände herrschen würden und vielleicht dieses oder jenes Objekt des Raubzugs gegen das Interesse des Stammes verstöße. Caesar sagt es nicht ausdrücklich, dass diese Billigung verweigert werden kann, da

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Caes. b. G. 6, 23, 6 latrocinia nullam habent infamiam, quae extra fines cuiusque civitatis fiunt, atque ea iuventutis exercendae ac desidiae minuendae causa fieri praedicant. (7) atque ubi quis ex principibus in concilio dixit se ducem fore, qui sequi velint, profiteantur, consurgunt ii, qui et causam et hominem probant, suumque auxilium pollicentur atque a multitudine conlaudantur. (8) qui ex his secuti non sunt, in desertorum ac proditorum numero ducuntur, omniumque his rerum postea fides derogatur.

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sich das von selbst versteht. Diese Züge sind keineswegs primär gegen reiche „Hochkulturen“ gerichtet, sondern überallhin, wo Ruhm und Beute locken; natürlich ist auch – je nach Stärke des Trupps – ein sehr weiter Kreis der Abenteuerlust über große Entfernungen ebenso denkbar wie eine Nachbarschaft. Es handelt sich ganz eindeutig um Gefolgschaftsunternehmungen, die daher unter höchstem sozialen Ethos stehen (ducem; sequi; secuti; fides), deren Pflichten völlig freiwillig und ad hoc auf sich genommen werden, dann aber – zumindest für die Zeit des Zuges – strengstens binden. Der praktische und geistige Hintergrund ist klar: unternehmungslustige Adelige, vielleicht gerade auch deren jüngere Söhne, die kein Erbe als Befriedigung ihrer Geltungslust zu erwarten hatten; alle nach Abenteuer begierigen Gemeinfreien, aber naturgemäß vor allem Jüngere (iuniores), die sich eine Position im Leben schaffen wollten, und auch hier wieder in erster Linie wohl der Bevölkerungsüberschuss, der so ein für den Stamm harmloses Ventil fand. Natürlich lockte auch Beute, oder mancherlei privater Groll gegen Fremde mag hier mitgesprochen haben. Jedenfalls handelt es sich um Unternehmungen, die in vielem homerischen Lebensformen sowie deren sozialem und privatem Ethos entsprechen69: ein Zug in die Ferne, die Aussicht auf heroische Abenteuer als Selbstbewährung, auf Heldentaten und Heldenruhm (oft das mächtigste Motiv), aber zugleich ein völlig offenes Streben nach reicher Beute, die ja auch wieder Ausdruck der eigenen Kraft ist und Glanz, Ehre und Ansehen vermehrt. Und das sowohl für den Anführer wie für den Teilnehmer; jeder Gefolgschaftsführer war eo ipso zu reichen Verteilungen von Beute und Geschenken verpflichtet, die gegenseitige Bindung ist eine, die für beide Seiten höchst ehrenvoll ist. Auch den homerischen Helden ist die reine Heldenkraft als ausreichende Rechtsgrundlage selbstverständlich70. Natürlich bleibt die Frage offen, wie es nach der Rückkehr vom latrocinium stand; die Gefolgschaftspflicht mag als solche wohl erloschen sein, konnte aber sicher, wenn man wollte, weiterbestehen. Dazu hatte ein erfolgreicher Anführer sowohl an Ehre gewonnen wie auch durch seinen neuen Reichtum an Möglichkeit, andere durch Geschenke zusätz-

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Nicht umsonst hat Poseidonios bei seinen Kelten homerische Einzelzüge gefunden, vor allem in dem ungeheuren, agonalen Streben nach Ruhm (Homer: κλέος έσθλόν). Im Island der Sagazeit kann ein Bauer ohne weiteres in die Lage kommen, gegen einen privaten Angreifer regelrecht um seinen Besitz kämpfen zu müssen, wobei das Waffenrecht eben als echtes Recht gilt. Das geht noch weit über das von Caesar Beschriebene hinaus.

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lich in seine Gefolgschaft zu verpflichten. Damit war der Rückstrom an Beute (bei großen Stämmen eher groß, bei kleinen seltener, geringer oder gar nicht) mehr als eine ökonomische Zusatzquelle, sondern eine solche für die sozialen Verhältnisse im Heimatstamm. Auch vorher arme Gemeinfreie konnten sich mit ihrem Beuteanteil gegebenenfalls als gemachte Männer betrachten. Solche Raubgruppen mochten auch umkommen oder vielleicht anderswo in anderen Stämmen Bindungen an höchste principes eingehen und im Stamm Aufnahme finden. Für die Existenz des Heimatstammes war das irrelevant, da ja ohnehin in erster Linie der Bevölkerungsüberschuss abzog. Die beherrschende Grundlage solcher Unternehmungen in den Ideen von Ehre, Heldentat und Beute (eher nicht Macht oder Eroberung) machte es ohne weiters möglich, dass solche Gruppen unter ihren Führern sich auch in der Fremde in Sold nehmen ließen. Wenn nicht alles trügt, entstand Ariovists Unternehmen aus eben einem solchen Auszug tatendurstiger und eher unversorgter Jugend unter einem „privaten“ Gefolgschaftsführer. Arverner und Sequaner hatten ihn als Söldner gegen die Haeduer über den Rhein gerufen (Caes. b. G. 1, 31, 4; 1, 44, 2; 6, 12, 2). Schon ursprünglich oder früh mögen sich ihm auch Gefolgschaftsgruppen anderer Stämme mit ihren speziellen Gefolgschaftsherren angeschlossen haben71. Der Zuzug, den er dann in Gallien immer wieder erhielt72, trug sicher diesen Charakter. Caesar (b. G. 1, 51, 2) nennt dem gemäß in Ariovists Heer Haruden, Sueben, Markomannen, Triboker,Vangionen, Nemeter und Eudusier – welcher dieser Gruppen gehörte Ariovist ursprünglich an? Selbstverständlich waren das – außer vielleicht bei ganz kleinen Einheiten? – nicht die jeweiligen Stämme an sich (die ja nach der eben besprochenen Schilderung Caesars in eine solche Unternehmung nicht selbst verwickelt waren), sondern weitere private Gruppen bunter Herkunft (also dem Ursprung nach eine colluvies gentium, nicht aber in der Struktur)

unter eigenen Gefolgschaftsführern73, die sich offenbar Ariovist bedingungslos unterordneten: Caesar weiß von keiner Opposition in dessen Völkerkomplex und hätte eine solche doch kaum verschwiegen. Auch bei anderen Unternehmungen ist durchaus möglich, dass Gruppen fremder Stämme zu einem erfolgreichen Anführer stießen. Die seltsamsten und ephemersten „Lawinen“ (Kleinlawinen) sind hier denkbar. Von der Idee wandernder „Stämme“ ist dabei keine Rede. Nun waren die enorme Vielfalt verschiedener Völkersplitter und die Gesamtzahl, die bei Ariovist zu finden war, eine Ausnahme, so wie auch Ariovists Genie ein solches latrocinium als Söldnerunternehmen zu einer Machtidee erhob, zur Landnahme überging und als rex Germanorum74 die Splitter zu einer Einheit unter seiner Führung verschmelzen wollte (Dobesch 1980, 448 ff.)75. Das ist eine Ausnahme, aber nichts verbietet, dass Vergleichbares nicht auch sonst hin und wieder geschah und eine gewisse Rolle bei Völkerverschiebungen gespielt hat. Wenn etwa gar ein neuer Stamm entstand, so würde auf ihn die Idee von R.Wenskus (1977, 76 ff. 496) passen76, dass nicht Zusammenschlüsse, sondern eher Anschlüsse zu Ethnogenesen führen: Man schloss sich dem charismatischen, sieghaften Adeligen an, damit oft auch seiner ursprünglichen Gruppe. Es mögen solche Unternehmungen gewesen sein, deren ununterbrochene Nadelstiche dazu geführt hatten, dass die Keltenstämme Süddeutschland und Böhmen geräumt hatten. In Caesars Zeit stritten sowohl Belger wie Helvetier ständig mit Germanen (Caes. b. G. 1, 1, 3 und 4, 40, 7), und es ist unwahrscheinlich, dass, zumindest von Seiten der Germanen, stets regelrechte Kriege der Gesamtvölker vorlagen, vielmehr ist es leichter vorstellbar, dass es sich nicht um große, entscheidende Kämpfe, sondern um ephemere, aber ständige Belästigungen, die zu gegenseitigem Kräftemessen führten, handelte.

Es ist merkwürdig, dass Caesar kein Wort von einer ursprünglichen Bindung Ariovists an ein konkretes germanisches Ursprungsvolk sagt. Nur aus Unkenntnis? Es liegt nahe, dass Ariovist seiner „ursprünglichen“ Gruppe keine Sonderstellung einräumte und gleichermaßen Gefolgsherr aller Scharen und ihr Anführer sein wollte, gerecht und einigend. Das hätte seinen politischen Plänen entsprochen. Caes. b. G. 1, 31, 10, dazu 11 und 16 als unfundierte Horrorvision, die aber im Rahmen des Vorstellbaren liegt.Vgl. z. B. ebd. 1, 33, 3–4; 1, 35, 3; 1, 37, 2–3 (vgl. 54, 1), vor allem aber ebd. 1, 33, 5. Die neu heranrückende Suebenschar stand unter der Anführerschaft der Brüder Nasua und Cimberius (Caes. b. G. 1, 37, 3). Es ist das Wahrscheinlichste, dass der Senat ihn im Jahr 59 v. Chr. auf Caesars Vorschlag hin mit diesem Titel benannte. Jedenfalls nennt

Caesar ihn immer rex Germanorum, nie den eines Einzelvolkes, auch nicht der Sueben. Das wäre dann der früheste Beleg dafür, dass die Germanen selbst diesen gallischen Namen für sich anwandten (vgl. Tac. Germ. 2, 3). Siehe dazu auch oben Anm. 71. Caesar (b. G. 1, 36, 7) lässt Ariovist selbst diesen Gesamtnamen für seine eigenen Scharen gebrauchen, und zwar als Prestigenamen. Dem entspricht die Tatsache, dass Caesar auch sonst die Untergebenen Ariovists durchaus als Einheit behandelt, wie sie ja auch nur einen einzigen rex für alle gleichermaßen besitzen. Konnte eine für die Dauer institutionalisierte Gemeinschaft lange ohne Namen auskommen? Welch anderer Name war so gut verwendbar? Ariovists neue Schöpfung wäre geradezu ein Paradebeispiel dafür.

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Auch im 3. Jh. n. Chr. begann der Ansturm der Alemannen gegen den Limes eher mit kleinen, spontanen, punktuellen Überfällen, von denen nicht so sehr der einzelne, sondern ihr prinzipieller Dauerzustand gefährlich war. Einzelne Sondergruppen, Teile des Stämmeschwarms und ad hoc unter ihnen geschlossene, zeitgebundene Verbindungen konnten hier wirksam werden. An eine Niederlassung im Vorfeld des Dekumatlandes scheinen die Alemannen ursprünglich nicht gedacht zu haben. Caesars Bericht gilt sogar für die meisten römisch-germanischen Kriege ab dem 3. Jh. n. Chr. Überhaupt erklärt uns Caesars Nachricht über latrocinia, die das Wesen und alle wichtigen Umstände solcher Unternehmungen perfekt erfasst, einiges aus der Geschichte der Dialektik zwischen „Barbaren“ und Hochkulturgebieten, und das auch außerhalb der germanischen Welt. Die für die Betroffenen oft noch wichtigere Dialektik zwischen Barbaren und Barbaren haben wir schon genannt77. Die von Caesar geschilderte moralisch-geistige Institution der latrocinia ist unverändert auch auf die Einfälle der Wikinger oder Normannen anwendbar. Bei denen war es oft eine unverhältnismäßig kleine Schar, die die kühnsten Anschläge auch gegen ganze Städte richtete. Das mahnt uns, auch viele germanische Raubzüge der Zeit Caesars nicht an Menschenzahl zu überschätzen. Solche Unternehmungen trugen oft ganz bewusst verwegenen Charakter. Wir müssen für germanische Einfälle in Gallien vor der Offensive des Augustus und für sehr viele Wagestücke in der Spätantike ab dem 3. Jh., etwa auch für die extrem weit vorgetragenen Schiffsangriffe gegen römische Küsten durch Franken und andere, im Auge behalten, dass der Angriff gerade auf einen Stärkeren für solche Krieger einen besonderen Reiz hat, ein großes Motiv darstellt, namentlich wenn es um fast unmöglich scheinende Abenteuer für zu allem entschlossene, ad hoc gebildete Gefolgschaftsgruppen geht und nicht um regelrechte Volkskriege; die konnten für den Stamm viel gefährlicher werden als ein „privater“ Auszug einiger Helden. Hier liegt eine ganz eigene Form der „Anziehungskraft“ von Zentren und Peripherien78 vor: das aufs Äußerste gesteigerte Wagnis. Wir kehren noch einmal zu Caesars Bericht zurück. Es wird wenig beachtet, dass auf Grund des Charakters seiner ethnographischen Exkurse, in denen er konkret den Unter77

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Deutlich etwa im oben angeführten Schicksal der Usipeter und Tenkterer in ihrem Verhältnis zu den Sueben. Peripherie natürlich nicht im eigenen Selbstverständnis, sondern in der Auffassung der Hochkulturen.

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schied zwischen Galliern und Germanen nennen will79, klar ist, dass es solche „private“ gefolgschaftliche latrocinia im Gallien seiner Zeit nicht gab. Er nennt auch niemals solche in seinen Kriegsberichten. Vielmehr galt ein anderes „privates“ Engagement: Fast jährlich gab es in Gallien irgendwo einen Krieg, und wir dürfen diese also jetzt als Auseinandersetzungen von Stamm zu Stamm auffassen; in diese Kriege aber zogen equites (nicht ganze Heere!) aus allen Gebieten Galliens, um ihren Freunden zu helfen, so dass diese Ritterschicht Galliens in ihrer „Gesamtheit“ nahezu stets im Kampfe lebte80. Das ist kulturhistorisch interessant, denn es bezeugt für die Gallier eine weit bessere ideelle Ordnung im Zusammenleben der Stämme als der ein wenig anarchische – potentiell anarchische – Zustand bei den Germanen. Es bezeugt allerdings auch, dass bei den Galliern die Anarchie durch die Hintertür des manischen Zwistes der Stämme wieder hereinschlich. Damit erhebt sich generell die Frage nach den keltischen Verhältnissen im allgemeineren Sinn. Darf Caesars Zeugnis von der Abwesenheit privater latrocinia in seinem Gallien auf alle Gebiete und alle Zeiten keltischer Geschichte extrapoliert werden? Oder gab es einst und anderswo auch solche beweglicheren, spontaneren Unternehmungen? Wir können es nicht mit Sicherheit sagen. Ob und wie viel an den Gruppen- und Bevölkerungsverschiebungen (siehe dazu generell jetzt die Monographie von Tomaschitz 2002) der keltischen „Völkerwanderung“ (die wohl nicht unter äußerem Druck stand, s. o.) vielleicht auch durch derartige Faktoren bewerkstelligt wurde, bleibe hier offen, es mutet auf den ersten Blick eher unwahrscheinlich an, könnte aber für einzelne Gruppen gelten, da ja auch Kelten über Kelten herfallen konnten. Jedoch es gibt zu denken, dass die gallische Wandersage bei Livius 5, 34, 1–9 nicht von der Vorstellung wandernder Völker, sondern von dem Modell – freilich sehr großer – Gefolgschaftsgruppen ausgeht, wenn diese auch nicht als nur privat aufgefasst werden. Auch die Doppelungen von Völkernamen wie Boii oder Tectosages mahnen zur Vorsicht. Die am Balkan und in Kleinasien tätigen Haufen erinnern, auch wenn sie z. T. ihre Familien mit sich führten, oft eher an spezielle Großgruppen unter Heerkönigen als an Völker. Das Söldnerwesen, für das die Kelten lange berühmt waren, mag sich zum Teil in solchen Formen, in der Anwerbung ganzer Gruppen unter einem Gefolgschaftsführer, vollzogen haben. 79

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Caes. b. G. 6, 11, 1 quo differant hae nationes inter sese und ebd. 21, 1 Germani multum ab hac consuetudine differunt. Caes. b. G. 6, 15, 2 über die equites: hi cum est usus atque aliquod bellum incidit – quod ante Caesaris adventum fere quotannis accidere solebat, uti aut ipsi iniurias inferrent aut inlatas populsarent –, omnes in bello versantur.

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Die zeitweise geradezu ständigen Heimsuchungen der italischen Halbinsel durch die oberitalischen Kelten vom Beginn des 4. Jhs. v. Chr. an könnten zu einem beachtlichen Teil aus solchen immer wieder erneuerten Gruppenangriffen und Einzelunternehmungen bestanden haben. Müssen wir stets nur an Kriege eines ganzen Volkes denken? Man muss sich daran erinnern, dass die antike Historiographie – soweit sie uns überhaupt erhalten ist! – eher die wirklich großen und markanten Keltenzüge nennt, und auch hier meist mit dem Blick speziell auf Rom, das im 4. Jh. v. Chr. sehr weit davon entfernt war, ganz Italien als seine Einflusssphäre zu betrachten und sich von den dortigen Ereignissen betreffen zu lassen. Die andauernden Nadelstiche von Raub und Verwüstung sind uns nicht alle schriftlich (zum Teil aber archäologisch) bezeugt, doch waren zu einem beträchtlichen Teil eben sie es, die das extreme Feindbild des Kelten bei der italischen und so auch bei der römischen Bauernschaft schufen. Und bei den Gaesaten treffen wir auf eine eigentümliche Organisation, die nicht als Volk anzusprechen ist, sondern als eine ordensartige, dem Kampf extrem verschriebene Männergemeinschaft unter Heerkönigen, die als Gefolgschaftsführer anzusehen sind (im Singular oder im Plural); wenn sie kein Volk waren, so bedurften sie des steten Nachschubs an neuen Kriegern, die sich „privat“ von ihrem Heimatstamm trennten, ob nun für immer oder zeitweise. Den mediterranen Stadtkulturen galten erst die Kelten und dann die Germanen durchaus als „plündernde“ Peripherie. Aber in vielleicht höherem Grade wirkte diese Dialektik überall dort, wo in der Antike und im Mittelalter die Welt der Steppenkrieger an Ackerbaukulturen grenzte. Auf die Dauer galt hier die mindestens drohende Plünderung der „Reicheren“ durch die „Ärmeren“ als ein wesentliches Modell. Von Kleinasien über den Iran, von der im Altertum enormen Norderstreckung Ostirans bis hin zu Chinas Nordrand gab es keine feste Grenze81, und die ethnische Zuordnung der Reitervölker hatte keine Bedeutung: Kimmerier, Skythen, Massageten, Sarmaten, Hunnen, Awaren, Mongolen oder Turkstämme (und in der Spätantike zeitweise die Goten), sie alle schlüpften problemlos in diese kulturgeographisch vorgegebene Rolle. Ein Beispiel dafür waren auch die Magyaren, die nach ihrer Einwanderung in die Ungarische Tiefebene ununterbrochen verwüstende Beutezüge in das spätere Österreich, in Süddeutschland, in Oberitalien bis Südfrankreich unternahmen. Das endete erst mit der Schlacht auf dem Lechfeld und der babenbergischen Kolo81

nisation einerseits, der vollen Sesshaftwerdung und christlichen Bekehrung andererseits. Eine plündernde Existenz, ob nun von der Steppe aus oder nicht, führt nicht selten doch zu einer starken Bezogenheit, mit anderen Worten: in welthistorisch objektiver Betrachtung zu einem peripheren oder peripheroiden Dasein in allzu starkem Sinne, zum Leben eines „äußeren Proletariats“ im Sinne Toynbees. Die Kulturen der Bauernländer ordnen die Feinde ganz in solch negative Kategorien ein: Weil der Gegner militärisch nicht endgültig zu besiegen ist, wird er wenigstens moralisch und kulturell als völlig verwerflich gezeichnet, als Barbar, ob nun mit mehr oder weniger Kulturbesitz. Man wird zugeben müssen, dass er in der Tat ständig angriff, Zerstörung hinterließ und, vielleicht das Entscheidende, in der Eigengesetzlichkeit seiner Lebensstrukturen unbegreiflich, also „ohne kulturelle Ordnung“ war. Dieser subjektiven Abwertung steht die ebenso subjektive Selbstbewertung aller Plünderer entgegen. Fast nie betrachteten sich solche „Barbaren“ als Peripherie. Vielmehr sahen sie sich eher als „Zentrum“, wie wir es oben schon beschrieben haben: Ihrer „heldenhaften Tapferkeit“ gebührt die fremde Beute mit Recht. Skythen, Goten und Hunnen waren in der Tat eigene Kulturen von Bedeutung. Auf dieser Grundlage werteten sie ihr Dasein als Freie, Tapfere und Reiter sicher als den fremden Ländern und Reichen moralisch überlegen, ein höheres Menschentum als deren Bauern, Beamte und Händler: In diesem Sinne war das „Hochkulturgebiet“ für sie Peripherie, trotz seiner technischen und organisatorischen Überlegenheit. Nehmen wir wieder Attilas Reich als Beispiel. Der große König baute nach den Prinzipien „barbarischer“ Formen in Unterwerfung oder Gefolgschaftsbindung ein riesiges Reich auf. Es füllte tunlichst den Bereich an den römischen Grenzen, es überschritt diese zum Zweck des Plünderns, aber es eroberte nur geringe, geeignete Teile des römischen Imperiums, es wollte dieses weder besetzen noch zerstören. Es sollte Objekt der eigenen Tapferkeit bleiben und als „tributpflichtig“ angesehen werden, was die eigene Superiorität nach solcher Mentalität (der auch die „Hochkultur“ der Sasaniden folgte) ausreichend festlegte. Ein Verlangen nach römischem Kulturstil oder eine imitatio des Reiches gab es nicht. Im Grunde suchte Attila also ein höher stehendes „Gegenreich“ zu schaffen; was für die Mediterranen durchaus kulturelle Peripherie war, erhob sich zu einem „Antizentrum“, das nicht die fremde Kultur auslöschen, sondern

Die Chinesische Mauer sollte eine schaffen, ein fast größenwahnsinniger Versuch, die Landesnatur ins Gegenteil zu verkehren. Vgl. ferner Anm. 64.

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

in eigener Sicht als „sekundäres“, geringerwertiges Reich, als kriegerische Peripherie konstituieren wollte. Im Grunde war es eine Zusammenfassung und Überhöhung jener Existenz der Germanen, die seit dem 3. Jh. n. Chr. das Römerreich ausraubten, sich sicher für überlegen hielten, es aber nie zu zerstören gedachten. In einem Punkt stand es allerdings weit über den Germanen, da es den Gedanken eines großflächigen Reiches (= Stämmereiches), eines halbwegs geordneten Machtbaues verkörperte. Wie viel verdankten die germanischen Reiche der Völkerwanderungszeit, die außer ein wenig bei den Goten kaum Vorgänger in der germanischen Geschichte des 3. und 4. Jhs. hatten, nicht nur der vorbildhaften Wirkung des Römerreiches, sondern auch Attilas Reichsidee? Jedenfalls war letztere eine eindrucksvolle Variante des historischen Begriffes „Peripherie“ und der in der Außenwelt manchmal entstehenden neuen Zentren, die dem bisherigen Zentrum größte Schwierigkeiten machen können. 4. Umkehrung Für dieses Phänomen brachten wir oben 26 und 37 f. bereits Beispiele. Es ist in der Geschichte so häufig und geläufig, dass wir es hier nicht breit behandeln müssen. Immer wieder werden Peripherien zu Zentren und Zentren zu Peripherien. Durch die Hethiter wurde Kleinasien, bisher Peripherie, zu einem der bestimmenden Zentren Vorderasiens. Wir erinnern an die sonstige weitgestreckte Bergzone Vorderasiens, die gegenüber dem Fruchtbaren Halbmond stets im Wesentlichen eine Peripherie war, bis die Meder und noch mehr die Perser sie zum erstrangigen politischen Zentrum erhoben. Dazu sei an das Schicksal des minoischen Kreta gegenüber dem erst mittelhelladischen, dann zur mykenischen Kultur aufsteigenden griechischen Festland gedacht. Makedonien lag völlig am Rand der hellenischen Welt, bis es durch Philipp II. zur weitaus größten Macht im ägäischen Raum aufstieg und unter Alexander dem Großen dann die östliche Welt eroberte. In den Diadochenreichen und durch die hellenistische Ansiedlung von Griechen entstanden in dem soeben unterworfenen Raum

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Unter den Sängern von Heldenliedern kann einer als der Beste anerkannt werden, ein ruhmvolles Prestige, das auf anderen Ebenen kaum Bedeutung hat. Caes. b. G. 1, 17, 1–2 (vgl. ebd. 1, 18, 1). Der Vergobret Liscus über Dumnorix: esse nonnullos, quorum auctoritas (das ist nichts Juristisches, ja es steht sogar höher als dieses) apud plebem plurimum valeat, qui privatim plus possint quam ipsi magistratus. (2) hos seditiosa atque improba oratione multitudinem deterrere …. Dazu ebd. 1, 3, 3 Dumnorigi … qui eo tempore principatum in civitate obtinebat ac maxime plebi acceptus erat

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erstklassige neue Machtzentren, ja die Ptolemäer wetteiferten in Alexandria sogar mit der bisher unbestrittenen kulturellen Rolle Athens. 5. Soziale Zentren, soziale Peripherien Die Existenz rein geistiger Mittelpunkte und Randgebiete ist so selbstverständlich, dass sie nicht im Detail behandelt werden muss. Nicht so klar zu sehen ist die Dialektik von Zentrum und Peripherie innerhalb von Ländern oder Völkern: Soziale und politische Rollen verschmelzen hier häufig. Man wird hier nicht von inneren Peripherien oder Zentren sprechen dürfen, die Ordnung ist mehr eine „vertikale“ als „horizontale“. Menschliche Gemeinschaften sind wohl immer strukturiert, teils durch erbliche Herrscherstellungen und Adel, oder sei es auch nur durch Ansehen und Geltung, Ruhm und Körperkraft, durch Reichtum oder durch zeitweise Beauftragungen („Ämter“). Die meisten Kulturen, ob nun „hochkulturell“ oder nicht, besitzen reich entwickelte und oft komplizierte Formen des Zusammenlebens, das gilt für die assyrische Monarchie und die griechische Polis nicht klarer als für die La-Tène-Kelten. Auch können Strukturen auf sehr verschiedenen Ebenen gelagert sein, die nicht zusammenfallen müssen: Sippe, Besitz, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Religion usw.82. Es gibt also eine „inwendige“ Peripherie und ein inwendiges Zentrum. Sie treten in verschiedenen Formen, Inhalten (Rechtfertigungen) oder Intensitäten auf. Die Gefolgschaft ist in diesem Sinne eine ehrenvolle Peripherie eines keltischen Adeligen, eine wieder andere, weniger glänzende, besteht in seiner Klientel. Es gab in Gallien so etwas wie den principatus eines Einzelnen im Stamm, natürlich keine juristische Institution, sondern ein Vorrang an Ehre und auctoritas; er lag nicht auf derselben Ebene wie die formalen Ämter, er konnte sogar weit bedeutungsvoller sein als deren jährlich wechselnde Träger83. Politik und Geltung in der Gemeinschaft sind keineswegs primär eine Frage der juristischen Befugnisse. Häufig streben solche gallische „Erste“ nach der institutionellen

…; er strebt nach dem Königtum. Über denselben ebd. 1, 18, 3 summa audacia, magna apud plebem propter liberalitatem gratia, cupidum rerum novarum (weitere Machtmittel in § 4–6). – Im Jahr 52 v. Chr. stritten bei den Haeduern Eporedorix und Viridomarus „de principatu“; nicht sie bekleiden die Vergobretur, im Gegenteil hat jeder dafür einen eigenen Kandidaten, den er durchsetzen möchte (ebd. 7, 39, 1–2). Zum principatus innerhalb eines Stammes siehe Dobesch 1980, 413 ff.

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Verfestigung durch ein zu errichtendes Königtum, ihre Stellung gerät ohnehin leicht in die Affinität zu diesem. Wenn über „die“ Ersten „der“ einzelne Erste hinausragt, kann er in der Regel diesen Vorrang nur mit Hilfe des Volkes gegen die Ansprüche des Adels behaupten: Sein Versuch, ein soziales und politisches Zentrum zu sein, steht gegenüber dem gleichartigen, aber kollektiven Anspruch des anderen Adels (auch wenn einzelne Familien darin ihrerseits streiten). Durch die „barbarische“ wie „kulturelle“ Geschichte zieht sich wie ein roter Faden das stete Streben von Einzelnen, Ständen, Gruppen, Gemeinschaften oder Parteien aller Arten, einander aus der geistigen oder politischen Mitte hinauszustoßen. Eine sehr gedrückte, aber inwendige Peripherie war im alten Ägypten stets der Fellach: Er war unentbehrlicher Bestandteil des gesamten Gefüges84, aber das politische oder geistige Zentrum lag meist ganz und gar beim Pharao oder dessen Umgebung, gegebenenfalls beim Gaufürsten, zu anderer Zeit bei einer Priesterschaft bis hin zum Gottesstaat des Amun. In den Tempelstädten der Mayas oder Hinterindiens war auch die Masse der Bauern eine arbeitende und damit ökonomisch die im Wesentlichen tragende Schicht, die Fürsten oder Priester waren hingegen religiös und geistig das tragende Zentrum, und damit das Zentrum schlechthin, neben dem alles andere auch sozial nur eine Peripherie war. Es ist erstaunlich, wie oft und lange solche Systeme extremer Ungleichheit funktionieren. Man darf es wohl so erklären: Der Kultur- und Gesellschaftsorganismus mit seinen aufgeteilten Funktionen und Diensten blieb lebendig und leistungsfähig, solange alle Schichten der Kultur am Primat dieses Geistes, dieser Kulturwerte und dieser Religion festhielten, also auch die Oberschichten sich zu einem Dienen verpflichtet fühlten. Denn dann konnte sich auch die „Masse“ in diesen kulturtragenden Schichten, ihren Werken, Festen und Riten irgendwie „repräsentiert“ fühlen. Sie war in Ideale eingebettet, die das genaue Gegenteil zu einem ideologischen Überbau sind und vielmehr grundlegend im Zentrum stehen. Dadurch aber hatte an dem Zentralsein paradoxerweise auch die soziale Peripherie teil, gerade indem sie im Interesse des Zentrums diese periphere Rolle bejahte, sie auf sich nahm und so ipso facto unmittelbar eine ganz „teilnehmende“, ja mittragende Peripherie war und an der Sinngebung des Zentrums voll partizipierte. Als Teil eines Ganzen eine Peripherie zu sein und für es diese sehr oft unerlässliche (meist wirtschaftlich unbedingt notwendige)

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Rolle zu spielen, ist vielleicht die edelste Form des Daseins als Peripherie, auch als soziale. Übrigens ist ein solcher Sachverhalt in der unmittelbaren Praxis weit klarer und unkomplizierter als in seiner theoretischen Formulierung durch die Wissenschaft. Erst wo das versagt, d.h. wo die Oberschichten aufhören, den gemeinsamen und alle überragenden Werten zu dienen und sich ihnen hinzugeben, entstehen neue Egoismen der Oberen und brutale, politische oder plutokratische Missbräuche, deren Sinnlosigkeit schwere soziale Spannungen heraufführt; von der Lösung dieser Spannungen hängt dann freilich das Schicksal der betreffenden Kultur und ihres Volkes ab. In diesem Sinne ist erst von einem „inneren Proletariat“ Toynbees zu sprechen. Ein solches ist eher nur formal eine „inwendige“ Peripherie, denn es steht de facto außerhalb der Kultur, der Werte und der sozialen Würde, ja der sozialen Zweckhaftigkeit schlechthin. Es ist ein „Außen“ innerhalb einer Organisation, die ehemals eine Vereinigung aller war. Revolutionen suchen mehr oder weniger gewaltsam nach Heilung. Es kann durch sie innerhalb einer Gesellschaft zu dem kommen, was wir oben als „Umkehrung“ gesehen haben: Bisherige Zentren und Schichten können zu abgesunkener, ja zu schmählicher Peripherie werden. Aber auch stille und langsame Prozesse können gewaltlos zu einer Umkehrung führen. In diesen Zusammenhang gehört der meist gewaltlose Aufstieg eines Großbürgertums, das durch ökonomische Kraft und durch Gesinnung den alten Adel an die Wand drückt. Ein ganz anderes, äußerst raffiniertes und vielgesichtiges Beispiel für Peripherien verschiedener Art war das indische Kastenwesen. In Sparta waren die Perioiken eine inwendige Peripherie der Spartiaten, die Heloten hingegen ein inneres Proletariat, das bewusst in jeder Hinsicht „draußen“ gehalten wurde. Inwieweit die äußerst vieldeutige, ihr Wesen oft wechselnde Institution der Sklaverei in der Weltgeschichte jeweils in solche Kategorien einzuordnen ist, kann hier nicht untersucht werden. Die breite Masse der Bevölkerung des spätantiken und frühbyzantinischen Imperiums bildete mit dem alles ordnenden Kaiser und seinen beamteten Funktionären theoretisch, ja intentionell ein Ganzes, war aber de facto eine finanziell maßlos ausgebeutete Peripherie für beide und vielfach Opfer der Korruption. Ein besonderes Beispiel gefährlichster sozialer Peripherie sind die Verhältnisse im caesarischen Gallien.

Wegen seiner Arbeitskraft sowie als Bauer, der die Erträge des Landes erzielte.

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Gerade für dieses Gallien erlauben uns die antiken Berichte den Blick in vielgestaltige Entwicklungen. In der zweiten Hälfte des 2. Jhs. v. Chr. hatten, soweit ich es sehe, die arvernischen Könige Luernios und Bituitos alles darangesetzt, dem Königtum nicht nur die politische, sondern auch die gesellschaftliche, ja kulturelle Zentrumsstellung zu sichern, wobei ihr plakativer, oft extremer, durchaus populistischer Stil uns vermuten lässt, dass sie zugleich schon gegen die wachsende Rolle des Adels ankämpften (Dobesch, 2001a, 650 ff.). Schließlich siegte doch fast überall der Adel, und zwar in der Form des Rittertums (equites), wobei innerhalb dessen die hochadeligen Ritter (römisch: „nobiles“) an der Spitze der ihnen meist gefolgschaftlich zugeordneten geringeren equites die gesamte Macht in ihren Händen zu konzentrieren verstanden. Der Spätlatène-Stil in Gallien vor Caesar ist, gesellschaftlich gesprochen, als der Kunststil des hochgemuten, ja prahlerischen, äußerst ehrbegierigen und sehr schmuckfreudigen Ritterstandes zu verstehen. In Zentralgallien kam allein schon aus wirtschaftlichen Gründen die poverisierte und entmachtete Volksmasse (plebs) auch in ihren relativ besser gestellten Schichten kaum als Kunde der Künstler in Frage, und wo dies doch der Fall sein mochte, prägte sie sicher gesellschaftlich den künstlerischen Stil nicht, sondern übernahm den des Adels. Wir erinnern nur am Rande daran, dass die römischen Ständekämpfe auch zugleich eine Geschichte dessen sind, dass die Patrizier die Peripherisierung der Plebejer Schritt um Schritt aufgeben mussten. Wir haben schon früher von den principes innerhalb ein und desselben keltischen Stammes gesprochen, um die sich die Schutz suchenden Kreise des Volkes scharten, wie Caesar (b. G. 6, 11, 2–4) es schildert85. Diese sind innenpolitisch so etwas wie ein Polyzentrismus, und zwar politisch, sozial, in Einfluss und in wirtschaftlicher Kraft. Oben wurde angedeutet, dass sich gerade durch diesen Pluralismus das System in einigem Gleichgewicht hielt, gesteuert wurde, denn alle

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Aus Caesars Worten dürfen wir nicht herauslesen, dass es in jedem Stamm stets nur zwei konkurrierende principes gab, wie es durch den Vergleich mit Gesamtgallien (§ 5) scheinen könnte. Ja § 3–4 setzen die Idee des Pluralismus, nicht Dualismus voraus, den Caesar deswegen nicht ausspricht, weil er ihm, auch im Hinblick auf Rom und die Lebenswelt der römischen Leser, selbstverständlich schien. Nach Caes. b. G. 6, 15, 1 lebten sie in fast jährlichen Kriegen; von einer entscheidenden Rolle des (natürlich vorhandenen) Fußvolkes hören wir in vielen Gebieten Galliens nichts. Es blieb den gallischen Rittern nichts anderes übrig, als widerstrebend die Überlegenheit der Germanen an Virtus anzuerkennen. Aber sie setzten sich dafür an die zweithöchste Stelle aller Völker, also auch höher als Rom.

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principes standen in der Regel gegen jeden princeps, der sich das politische Übergewicht sichern wollte. In Rom funktionierte die Republik genau in dieser Weise. Dieser Sieg des gallischen Adels verband sich mit der allen überlegenen Rolle der Reiterschaft im Krieg86. Caesars Berichte, die m. E. nur für Zentralgallien und nur für seine Zeit in vollem Umfang gelten, zeichnen einerseits die militärische Bedeutung, andererseits die Selbsteinschätzung (Dobesch 1999, 349 f.)87 als Spitze der Tapferkeit88 und die verwegene, kühne, überstolze Haltung dieser Schicht. Das hatte zwei Folgen, die zugleich auch Ursache wieder neuer, höherer Macht waren: Die militärische Übermacht führte zu einer rücksichtslosen wirtschaftlichen Aufwertung der eigenen Stellung, zu katastrophaler Verarmung der plebs und einem stets wachsenden ökonomischen Übergewicht des Hochadels (Caes. b. G. 6, 13, 2–3; vgl. ebd. 1, 18, 3–4). Militärische und wirtschaftliche Übermacht ließ die plebs in den Volksversammlungen – die formal weiter bestanden – jede eigenständige Bedeutung verlieren, so dass sie ohne besonderen Anführer völlig ohnmächtig war. Viele versanken überdies in eine fast sklavenartige Untergebenheit gegenüber großen Adeligen (Caes. b. G. 6, 13, 1–3)89. Die Volksmasse war eine völlig depossedierte Peripherie sozialer, wirtschaftlicher und politischer Art, fast – aber nur fast – schon ausgegrenzt. Aber in Caesars Worten, dass die plebs nur auf sich gestellt, ohne führenden nobilis, ohne Gewicht war, zeichnet sich bereits ein Mittel einer Gegenbewegung ab: als Anhängerschaft einer machtbegierigen adeligen Einzelpersönlichkeit wie etwa Dumnorix oder Vercingetorix, die in dieser speziellen Weise sich aus dem Verhalten ihrer sozialen Schicht lösten und als rein individuelle Faktoren auftraten. Der soziale Zündstoff, der sich angesammelt hatte, konnte von ihnen genutzt werden, so wie einst bei den „Tyrannen“ im archaischen Griechenland. Sie gaben der plebs und die plebs gab ihnen neue Macht. Das „Volk“ erhielt eine unvermutete

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Caes. b. G. 7, 29, 6 rühmt sich Vercingetorix: unum consilium totius Galliae effecturum, cuius consensu ne orbis quidem terrarum possit obsistere. Zum prahlerischen Mut und Übermut vgl. ebd. 7, 66, 7. Bisweilen entstanden daraus zwei moderne Missverständnisse. Es sei die ganze plebs zur Sklaverei herabgesunken; aber Caesar sagt ausdrücklich „paene servorum habetur loco“. Zweitens sei die plebs ohne jede Aktionsfähigkeit gewesen; aber Caesar sagt nur, dass sie von jedem politischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen war (nullo adhibetur consilio) und ohne adeligen Führer ganz auf sich gestellt, machtlos war (nihil audet per se). Die Beliebtheit des Dumnorix bei der plebs war daher, als Führer der plebs, ein durchaus nennenswerter Faktor (vgl. Caes. b. G. 1, 17, 1–2; 1, 18, 3–4).

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politische Bedeutung, wie wiederholt aus Caesars Berichten hervorgeht, und damit wohl auch gesellschaftliche Geltung. Oft strebten solche Anführer nach Errichtung eines Königtums. In solchen Aktionen suchte sich die plebs – nicht ausgesprochen, aber faktisch und lebendig – wieder in die eigene Kultur zu integrieren. Niemand kann sagen, was ohne das Eingreifen Caesars aus all dem geworden wäre. 6. Peripherisierung und Ende Nur kurz sei gestreift, dass jede bedeutende Kultur und ihr Volk (ihre Völker) sich in irgendeiner Weise als Mitte fühlen, ob nun politisch, geistig, kulturell, religiös, ethisch oder sonstwie. Das Dasein als ein „auserwähltes Volk“ gehört in diese Kategorie als eigene Form von „Mitte“ (s. o.). Es scheint sich daraus zu ergeben, dass eine völlige Peripherisierung mit dem Bestehen einer hohen Kultur unvereinbar ist. Äußerstenfalls kann man noch zu einem Teil eines übergreifenden Bereiches, an dem man mitträgt (!), werden. Peripherisierung in begrenzten Einzelkategorien kann hingenommen werden: Italien blieb in Renaissance und Barock ein erstrangiges Kulturzentrum, als solches auch anerkannt, obwohl seine politische Bedeutung verspielt war. Auch der Sturz einer sozialen Schicht in eine inwendige Peripherie kann deren Kultur beenden. Erläutern möge das ein Blick auf die Kelten: Die LaTène-Kelten widerstanden der Ausstrahlungskraft des Mittelmeerbereiches mit bestem Erfolg. Und das nicht nur in ihrem Ursprungsgebiet90, sondern auch später noch, als ihre Wanderungen sie ungerufen, freiwillig, in ganz unmittelbare Berührung mit dem Süden geführt hatten. Weder die Gallia cisalpina in Oberitalien noch die Kelten der großen Gallia und die der Ostalpen usw. waren bereit, sich wesentlich vom Mediterraneum formen zu lassen; auch die Galater nicht. Sie alle beharrten auf ihrem Kulturtyp und nahmen dazu auch Nachteile in Kauf, so wie den weitgehenden Verzicht auf den Nutzen der Schriftlichkeit. Und wenn sie sich in einzelnen Gebieten von einheimischen Handwerkstraditionen beeinflussen ließen (Oberitalien), auch im Kunststil blieben sie im Großen unabhängig. Hierin waren sie geradezu ein Gegenbild zum Schicksal und Verhalten der Etrusker. Das Druidentum breitete sich von Britannien nach Gallien aus. Es war wohl unvermeidlich, dass Britannien auch seine Stellung als Ort, wo man Druidenkunst und Druidenwissen in besonderer Tiefe erfahren konnte, behielt (Caes. b. 90

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Wo sie sich noch des Vorteils des „fruchtbaren Abstands“ erfreuten. Vgl. Dobesch 1994, 5. Daraus geht hervor, dass der gallische Oberdruide überhaupt von Britannien unabhängig war.

G. 6, 13, 11–12). Aber in jeder anderen Hinsicht weigerten sich die Gallier entschieden, zu einer Peripherie Britanniens zu werden. Ganz im Gegenteil, sie hatten ihren eigenen Oberdruiden, der auch in Streitfällen keiner britannischen Zustimmung bedurfte (Caes. b. G. 6, 13, 8–9)91, sie hatten, wie oben erwähnt, ein völlig eigenes zentrales Druidenfest in einer völlig eigenen, ja ganz speziell gallischen Mitte im Land der Carnuten. Aber in militärischer Hinsicht mussten sie im Lauf der Jahrhunderte Unterwerfung und damit Peripherisierung hinnehmen: erst in Oberitalien und dann unter Caesar im großen Gallien selbst. Ersteres wurde sehr schnell völlig romanisiert, letzteres, in besserer geographischer Lage, behielt in viel höherem Maße seine Religion, gewisse soziale Strukturen und auch beträchtliches Selbstgefühl92. Aber dennoch, die La-Tène-Kultur in ihrer Geschlossenheit und in ihrer künstlerischen Eigenheit verschwand letztlich, auch wenn man am Straßenmaß der leuga festhielt. Dieser tiefgehende Schwund nach so langer Behauptung kann wohl auch daraus erklärt werden, dass das Selbstwertgefühl dieser Kultur doch in so hohem Maße in der kriegerischen Überlegenheit bestanden hatte. War diese endgültig verloren, so war auch die La-Tène-Kultur ins Mark getroffen. 7. Nachbarschaft/Konfinität Das Begriffspaar Zentrum – Peripherie kann mindestens dann als Sonderfall der Konfinität angesprochen werden, wenn die innere Peripherie in die äußere nicht verschwommen übergeht, welche also „jenseits der Grenze“ steht. Für den „seelischen Haushalt“ des Einzelmenschen wie einer in ihrem Zentrum sozusagen auskristallisierten Gruppe (Kultur,Volk, Stadt, …) gibt es zwei Grunderlebnisse und formende Wirklichkeiten der Nachbarschaft: die Erkenntnis der geistigen (religiösen, sozialen, wirtschaftlichen, …) Nähe oder der ebensolchen Ferne. Das sind zentrale Fälle von „Bezogenheit“, wobei letzterer auch in „Abstoßung“ bestehen kann. Man begegnet dem „Anderen“, dem „Nicht-ich, Nicht-wir“ in all seinen Abstufungen bis hin zum „Fremden“ (siehe dazu Dihle 1994)93, das, wie gesagt, auch in einer Peripherieberührung anwesend sein kann. Die Möglichkeiten und Formen, darauf zu reagieren, sowie auch die Haltungen des Nichtreagierens sind unermesslich viele. Sie gestalten aber mit an dem Charakter einer Kultur. Das eigene Wesen kann herausgefordert, verfestigt, gesteigert, erwei92

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G. Dobesch, Zum gallischen Selbstgefühl und dem Weiterleben gallischer Strukturen in der Kaiserzeit. In: Dobesch 1980, 436 ff. Dazu grundlegend auch die Artikel im Sammelband von M. Schuster (1996).

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tert, verändert, vermischt oder vermindert werden; es kann auch ganz verloren gehen. Ein Zentrum kann an ein anderes Zentrum oder an dessen Peripherie grenzen; es kann aber auch nur mit der eigenen Peripherie an das fremde Zentrum oder die fremde Peripherie grenzen. Es gibt ein bloßes Nebeneinander, ein Zueinander, ein Auseinander, ein Gegeneinander. Das Fremde kann als Umwelt zur eigenen Weltvorstellung gehören oder aus der eigenen „Welt“ völlig draußen gehalten, ignoriert und verachtet werden. Das alles fällt durchaus nicht immer unter den Peripherie-Begriff. Es gibt eine Nachbarschaft, in der, trotz lebendigem kulturellen Austausch, keines der beiden Länder gleichwertiger Kultur peripher wird: Das sieht man aus dem Nebeneinander von England und Frankreich nach dem Ende des Hundertjährigen Krieges. Eine solche „eingependelte“ Nachbarschaft bestand zwischen dem Kaiser von Konstantinopel und dem Kalifen von Bagdad. Die Araber übernahmen eine Fülle griechischer Literatur und Wissenschaft, zur Peripherie wurden sie nicht; es war eine Akkulturation (s. u.). Ein Nebeneinander von urgeschichtlich-„barbarischer“ und städtischer Kultur beobachten wir durch Jahrhunderte am Verhältnis zwischen Alpenstämmen und den Römern in Oberitalien. Man betrieb eifrig wechselseitigen Handel, Alpenbewohner besuchten italische Märkte, wohin sie auch ihre Produkte brachten (vgl. Strab. 4, 6, 9 p. 206 f.)94. Gelegentliche Überfälle in die Poebene änderten bis Augustus nichts an der grundsätzlichen Statik dieser Grenze mit ihren getrennten parallelen Existenzen. Seit Tiberius die Offensive in Germanien abgebrochen hatte, setzte Rom alle Künste von Diplomatie, Zahlung, Beschenkung, Festungsbau und unter den Flaviern knapp danach ausnahmsweise auch lokalen Krieg ein, um die langgestreckte Grenze zwischen dem Imperium und den Germanen zur Trennungslinie eines völlig statischen Nebeneinanders im Rahmen engster „Nachbarschaft“ zu machen. Die Bildung von Klientelstaaten jenseits der Grenze scheint dem zu widersprechen, diente aber letztlich völlig diesem Zweck. Die strikte „Draußenhaltung“ haben wir oben 41 ff. besprochen. Die Daker unter Burebista in caesarischer Zeit und später fast noch deutlicher Marbod mit seinen Markomannen versuchten, sich in Konfinität zum römischen Einflussbereich bzw. zum Reich selbst zu großen Zentren eigener Macht zu machen, wobei aber Rom grundsätzlich nicht angegriffen wurde. Es sollte also jeweils eine enge oder weitere Nach-

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barschaft zweier Zentren entstehen, deren Grenze aber doch statisch bleiben sollte. Man kann es als ein Streben bezeichnen, selber Zentrum zu sein und doch nicht zum Gegenzentrum gegenüber dem Reich zu werden (s. o. 18 f.). Schon Augustus machte die Euphratgrenze statisch, eine beiderseits anerkannte Trennlinie zweier unmittelbar benachbarter Großmächte. Das ruhige, getrennte Nebeneinander der zwei Zentren war von römischer Seite als Dauerzustand intendiert, nur die Parther suchten das bisweilen zu ändern. Nach der Eroberung der Gallia Narbonensis machte der Senat die Grenze gegenüber dem großen Gallien, die weitgehend mit den Cevennen zusammenfiel, zu einer völlig statischen Linie, jenseits derer er äußerst selten aktive Politik betrieb, nie aber an eine Eroberung dachte (Caes. b. G. 1, 45, 1–3). Die Freiheit der Gallier blieb eine problemlose Konfinität bis auf Caesar. Weder Peripherie noch – zumindest gewisse Arten von – Konfinität sind an die geographische Berührung geknüpft. Vielmehr sind sie, oft mit Verkehrswegen auch über eine längere Distanz oder mit technischen Mitteln verbunden, aneinandergefügt. Die Spanier und Lateinamerika waren seit dem 16. Jh. durch den Atlantik geeint, nicht getrennt, und den Engländern gelang es, über unerhörte Distanzen hinweg, ganz Indien vom Meer aus sogar zu peripherisieren. In unserer Gegenwart sind die USA fast jedem Land der Erde in Macht, Militärinstrumenten und Wirtschaft benachbart, und noch darüber hinaus strebt die Globalisierung eine Nachbarschaft aller Länder mit allen an, bis dann auch hier wieder die Diastole auf die Systole folgen wird. Eine dem ganz vergleichbare innere Konfinität vieler Länder mit vielen in einem künstlich, nicht von Natur aus zur Einheit gemachten Raum bestand lange Zeit im Imperium Romanum und seiner pax Augusta. In vieler Hinsicht gehört auch das vorcaesarische Gallien zu diesem Modell. Fast alle Stämme standen politisch und kulturell im übertragenen Sinne miteinander in Konfinität. Die Ritter Galliens zogen über das Land hin ihren Freunden im Krieg zur Hilfe, das mobile Zentrum des Prinzipats wurde mit Hingabe umkämpft und betraf in Zustimmung oder Ablehnung (fast) alle gallischen Völker. Der kultische Mittelpunkt der Druiden im Lande der Carnuten war sowohl geographisch wie religiös für alle die Mitte. Caesars gallischer Krieg kann auch unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, dass er die im tiefsten Grund beziehungslose Konfinität zwischen Römischem Reich und

Das Pferde-Embargo in republikanischer Zeit hatte nur Sinn, wenn Alpenbewohner regelmäßig auf norditalischen Märkten zu sehen waren.

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freiem Gallien, eine Koexistenz von Zentrum neben Zentrum (Zentren), radikal beendigte. Das Imperium konstituierte sich plötzlich als Gegenzentrum zu Gallien, peripherisierte es und schuf völlig neue Konfinitäten Roms am Rhein oder gegenüber Britannien.

8. Kulturtransfer: von der Akkulturation bis zur Dekulturation oder der Verweigerung 8.1 Kulturtransfer Nicht wenige Phänomene des Kulturtransfers, der tausend Formen, Mittel und Ergebnisse haben kann, korrespondieren mit dem Begriffspaar „Zentrum – Peripherie“. Wir behandeln hier nur einige der möglichen Aspekte. Träger eines Transfers können Einzelne und Gruppen aller Art sein: Missionare, Künstler, Bauleute, Reisende,Wanderer, Händler, Söldner oder auch Besatzungssoldaten. Instrumente eines Transfers vermögen Gebrauchsgegenstände jeder Art bis hin zu Münzen zu sein, vor allem aber Sprache und geschriebene Literatur; natürlich auch Kunstwerke materieller Art; oder im Geistigen Schulen. Die Inhalte des Transfers erstrecken sich über Religionen, Philosophien und Stile bis hin zu Wirtschaftsformen, politischen Ideen, Technik usw. In der Überlieferung des Helvetiers Helico, der einst wegen der Kunst eines faber in Rom weilte (Plin. n. h. 12, 5), hat sich vielleicht eine Erinnerung sowohl vom personalen Träger wie von der Übermittlung technisch-kunsthandwerklichen Wissens, das aus dem Mediterraneum kam, niedergeschlagen.

8.2 Akkulturation Die Akkulturation ist selbst ein vielgesichtiges Phänomen des Proteus „Kulturtransfer“. Es gibt vier Grundformen, die einander paarweise entsprechen, je nach Aktion und Betroffenheit. a) Der Geber breitet seine Kulturformen, vielleicht dazu auch seine Sprache, mit Gewalt aus. b) Die gebende Kultur breitet sich von selbst aus, ja zum Teil sogar freiwillig geholt. Die Werbewirkung griechischer Kunst vor Alexander d. Gr. in Phoinikien, Kleinasien, Makedonien oder bei den Skythen, in Einzelnem auch in Ägypten, rief ohne jede Gewalt das Verlangen der Umwelt wach. Auf ganz anderer Ebene, aber ebenso freiwillig, wurde die Verwendung griechischer Söldner im Vorderen Orient, im Perserreich und in Ägypten selbstverständlich. c) Der Empfänger erleidet einen äußeren Zwang, dessen er sich nicht zu erwehren vermag.

d) Der Empfänger gibt sich der Ausstrahlung fremder Kultur selber hin. Das kann Faszination sein, die übrigens durchaus nicht eine kulturelle Überlegenheit des Fremden zur Voraussetzung hat, sondern auch auf dem Ruf von Modernität oder auf der Tatsache politisch-militärischer Überlegenheit beruhen kann. Der Empfänger bestimmt mindestens zu Beginn Art und Ausmaß, in denen er sich beeinflussen lässt, selber, auch wenn dann eine Eigengesetzlichkeit fremder Einflüsse und ein wachsender Sog des Fremden sich verselbständigen können. Als Japan im 19. Jh. die europäischamerikanische Technik und Kultur an sich heranzog, hatte es kaum das im Sinn, was in unserer Gegenwart daraus geworden ist. Der Umfang, in dem die Etrusker (und in geringerem Maße andere Italiker) griechische Kunst, Götternamen und Mythologie rezipierten, entsprang ganz ihrem eigenen Willen – oder Bedürfnis! – ohne jeden machtmäßigen oder sonstigen, absichtlichen Einfluss der Griechen, ja in scheinbarem Widerspruch zur nachdrücklichen Feindschaft gegen sie in Politik und Handel. Ein solcher Fluss von Kulturelementen in hauptsächlich eine Richtung und die zugehörige „Ausstrahlung“ können zur Entstehung von Peripherien führen, doch ist das kein Zwang, schon gar nicht auf Dauer. Alle von a bis d genannten Beeinflussungen können ebenso gut umfassend wie andererseits partiell sein. Das Ausmaß und der Inhalt der „Mitteilungen“ reichen von modischen Einzelheiten über Anregung bis zur vollkommenen Wirkung. Der Fluss von Kulturgut kann von „Hochkultur“ zu „Hochkultur“, von „Barbaren“ zu „Barbaren“, von „Hochkultur“ zu „Barbaren“ und von „Barbaren“ zu „Hochkultur“ geschehen. Als Konsequenz einer Akkulturation ist alles von Änderung, kleinen Entlehnungen bis zur Reifung oder auch zur Überfremdung denkbar, alle Mischformen und noch mehr. Die Möglichkeiten jedes response, von Bewährung bis zum Versagen, sind unzählbar. Zu den welthistorisch bedeutendsten und fruchtbarsten Fällen ist der Aufstieg durch Akkulturation zu rechnen, in dem die Bewahrung des eigenen Profils mit einer entschiedenen Verarbeitung und Integration des fremden Kulturgutes (soweit es integrierbar ist) zusammengeht. In der Regel werden in einem solchen Vorgang, der oft eine schöpferische und offene Selbstbehauptung ist, ganz neue und besondere Energien geweckt, die bestenfalls latent vorhanden waren. Fremde oder allzu fremde Anregungen oder Vorbilder können sogar als Gefahr für das eigene Wesen, die eigene Identität erlebt werden, die aber nicht einfach abgewiesen werden.

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

Aus diesem challenge kann im Extrem eine völlig neue Kultur geschaffen werden, und das ist das ehrwürdigste Beispiel einer Akkulturation. In einem unberechenbaren, unableitbaren, schöpferischen Prozess entsteht eine eigene Leistung bis hin zu ganz neuen, eigenen Formen und einem eigenen Menschenbild. Bisweilen scheint nicht mehr als nur eine Idee Hochkultur (oder Schrift) als solche weitergegeben zu werden, so wie anscheinend von Sumer an Ägypten; vielleicht nicht mehr als das, aber doch entscheidend. Eine Akkulturation dieser Art war ohne Zweifel die Entstehung von La-Tène, wobei als Besonderheit festzuhalten ist, dass der mediterrane challenge sich gegenüber Hallstatt kaum geändert hatte, neu war die Bereitschaft, sich von ihm so sehr ergreifen zu lassen. Das Ergebnis war eine völlig ungriechische, unmediterrane Formen- und Gedankenwelt (s. u.). Es bleibe dahingestellt, ob man der Bewertung von La-Tène als erste Hochkultur Europas zustimmt. Aber auch ohne das scheinen die Ideen oder Erlebnisse eines reicheren Menschenbildes, einer erhöhten Leistung, einer gesteigerten künstlerischen Formenwelt und einer zur Dauer erhobenen initiativen Dynamik – bis zum Verlassen des Verhaltenheitszustandes! –, wie wir sie als typisch für La-Tène empfinden, rein geistig durch mediterrane Vorbilder geweckt worden zu sein, diese Vorbilder aber sogleich wieder ausscheidend, ihnen widersprechend. Auch Ägypten wurde ja – anders als Elam – zu einer ganz und gar unsumerischen Kultur mit einer ganz und gar unsumerischen Schrift und ganz und gar unsumerischen Kunst. Die persischen Achaimeniden schufen gegen 500 v. Chr. aus mancherlei Komponenten (auch griechischen, ägyptischen und denen der Steppenvölker), vor allem aber im Anblick des gewaltigen mesopotamischen Vorbilds, sowohl eine eigene persische Keilschrift wie eine großartige Reichskultur, eine Reichskunst in Reliefs, Plastiken und unerhörten Bauten. Es gehörte und gehört zum Besten, das die iranische Geschichte zu bieten hat. So etwas entsteht weder zufällig noch von selbst unter allgemeiner Unkenntnis der Beteiligten. Gerade hier muss es eine bewusste Tat gewesen sein, die nicht nur geistig, sondern auch politisch für den Bestand des Reiches geradezu entscheidend war. Denn „Realpolitik“ ist hoffnungslos blind und ephemer, der wahre politisch realistische Herrscher weiß, dass es eine tiefgehende Politik ohne Kulturpolitik überhaupt nicht geben kann, wenn sie auf Dauer erfolgreich sein will. Völker und Städte, Staaten und Reiche bedürfen einer geistigen Ganzheit, die zum sichtbaren Vehikel der Einheit und Eigenart wird. Auch Caesar begann, parallel mit vielen anderen Kul95

Der Begriff stammt, soviel ich sehe, von F. Schachermeyr.

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turaktionen, Rom zum repräsentativen Zentrum eines Weltreiches auszubauen, und Augustus, auch er ein wahrer Realist, ist ihm hierin in größtem Umfang gefolgt. Ein besonderer Fall ist Hellas in geometrischer und archaischer Zeit: Es übernahm orientalisches, phoinikisches, ägyptisches und besonders auch kleinasiatisches Gut in beachtenswertem Ausmaß, von der Schrift über mythologische Motive bis zur Idee der Monumentalplastik und des Riesentempels, ob man nun in der Vasenmalerei von einem „orientalisierenden“ Stil sprechen will oder nicht. Aber es verharrte völlig in seiner Identität, es wurde niemals auch nur teilweise zur Peripherie, es behauptete seine schöpferische Kraft ohne Einschränkungen. Dass die Idee erhöhter Leistung der „Hochkultur“ an sich von außen stammte, war nicht mehr als eine grundsätzliche Erweckung, die, einmal erfolgt, die hellenische Eigengesetzlichkeit nicht zu stören vermochte. Nicht immer führt eine Weckung zu völlig eigenständigen Kulturen. Es gibt auf das Vorbild frei bezogene Parallelkulturen, man kann aber auch Satellitenkulturen95, Filialkulturen (wie das ägyptische Nubien) oder doch noch andere Begriffe anführen. Das ursprüngliche Epizentrum kann im Laufe der Geschichte auch zum Zentrum werden. Robert Heine-Geldern war der große Protagonist der Theorie, dass letztlich sich alle Hochkulturen der Welt durch sublimen Kulturtransfer in die Welt der sumerischen Kultur zurückführen lassen. Das muss wohl so verstanden werden, dass es letztlich doch die Idee „Hochkultur“ war, die immer wieder in hundert Formen zündete. Dieser Gedanke scheint heute stark zurückgetreten zu sein. Seine erneute Prüfung wäre sehr zu wünschen. F. Schachermeyrs „Vorderasiatische Kulturdrift“ weist in seine Richtung. Hier sei versucht, R. Heine-Gelderns Idee nicht nur für Hochkulturen anzuwenden, sondern, in sehr verschiedenen Kategorien, auch auf das Verhältnis der „Hochkulturen“ zum gleichzeitigen „urgeschichtlichen“ Europa; dies kann Folgen für den „Barbaren“-Begriff haben. Betrachten wir noch einige Beispiele von Akkulturation verschiedener Art, die z. T. freilich auch schon mit der unten zu besprechenden Inkulturation verbunden sind. Dazu gehört der starke griechische Einfluss auf die indische Gandharakunst. Er wirkte sehr fruchtbar und wurde schöpferisch verarbeitet, zuletzt aber doch aus dem Organismus der indischen Kunst wieder fast ganz ausgeschieden. In schöpferischer Verbindung von griechisch-römischen Kunstformen und z. T. auch Geistesgütern mit den iranischen Traditionen und völlig neuen Ideen schufen die Sasaniden seit dem 3. Jh. n. Chr. (teilweise nach dem Vorgang der Parther) eine Kultur

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höchsten Ranges. Zwar war durch den griechischen Einfluss die Kunst dieser Neuperser für immer von allem, was es vor den Griechen im Orient gegeben hatte, getrennt, aber sie war doch ganz und gar eigenständig. Aus diesem Erbe und ebenso dem Ostroms erwuchs viel später nach der Eroberung Syriens, Ägyptens, Mesopotamiens und des Iran überraschend schnell eine durchaus eigene, Fremdes in sich assimilierende arabische Kultur. Noch lange danach wurden ganz wesentliche griechische wissenschaftliche und philosophische Einflüsse durch Übersetzungen bruchlos in das eigene Geistesleben integriert. Grundsätzlich sind also zwei Typen von Akkulturation zu unterscheiden, auch wenn es Mischtypen zwischen beiden geben kann. Die eine Akkulturation übernimmt Fremdes sinnvoll und ändert – oder gar erhöht – das eigene Wesen in autonom bleibender Weise parallel (das kann auch eine Ähnlichwerdung einbeziehen) zur ausstrahlenden Kultur. Die andere Akkulturation nimmt eher die „Idee“ höherer Kultur und einige Grundanregungen auf, baut aber neu eine eigene, der ausstrahlenden Kultur möglichst gleichwertige Kultur auf. 8.3 Mischung Ein wenig ist z. B. das genannte Sasanidische und Arabische zu Anfang mit einer anderen Form von Akkulturation verbunden, nämlich der Mischung. Ein Beispiel genüge: In den ersten Jahrhunderten des 1. Jts. v. Chr. entstand in Phoinikien unter sehr starkem mesopotamischen wie ägyptischen Einfluss eine Art Filiale in der Kunst (nicht sosehr in anderem!), eine gelungene Vermischung der Wirkungen dieser Zentren mit beachtenswertem Kunstgewerbe. Das mit hochwertigen Vorstellungen besetzte „Verschmelzen“ würde ich – auch angesichts der Beschränkung auf wenige Kultursparten – lieber nicht verwenden. Das phoinikische Wirken war ein kunsthandwerkliches Ineinanderarbeiten, kaum eine tiefe Integration. Auf eine weitere Form von Akkulturation, nämlich auf den Abstieg durch fremden Einfluss, werden wir unten noch zu sprechen kommen („Dekulturation“). 8.4 Konkulturation Ein Sonderfall von Akkulturation ist die Konkulturation, bisweilen auch als beiderseitige Akkulturation zu sehen. Ein wechselseitiger Kulturtransfer, eine gegenseitig wirkende Ausstrahlung führt zu einer echten Annäherung ohne Substanzverlust und ergibt eine überwiegend harmonische Annäherung zweier Zentren aneinander (aber es müssen nicht immer Zentren sein). Natürlich kann das Ausmaß dieser Vorgänge wechseln, aber eine letztlich fruchtbare Bezogen-

heit verbindet beide Seiten. So können verschiedene Kulturräume mehr oder minder sogar zu einer Einheit zusammenwachsen. Das vielleicht berühmteste Beispiel ist das Rom der Republik. Politisch hat es die hellenistische Staatenwelt erbarmungslos peripherisiert. Kulturell war das aber unmöglich. Rom hätte grundsätzlich mehrere Wege gehen können: von einer glatten „Verweigerung“ der Geisteskultur (61 ff.) bis zum gesichtslosen Aufgehen im gleichzeitigen, internationalen Hellenismus (eine Art Integration, s. u.). Es wählte den weitaus überraschendsten Weg. Es setzte sich der fremden Kultur offen und letztlich vollständig aus, und es behauptete sich in zähem Ringen gegen die ursprüngliche geistige Übermacht, es rettete seine Eigenheit, erwarb sich sogar auch geistig die Stellung eines Zentrums, aber nur dadurch, dass es griechische Einflüsse aller Art fruchtbar verarbeitete und so zu neuen, ungeahnten Entfaltungen dieser Eigenart erweckt wurde. Das Ergebnis war eine Konkulturation: In Rom erwuchs eine Kultur, die ehrenvoll neben der hellenischen stand, ihr durch tausend Fäden unlösbar verbunden, weder fremd noch in das Andere einbezogen, sondern einen gemeinsamen, polyzentrischen Kulturraum bildend. Die Konkulturation war insofern gegenseitig, als die Griechen die politische Führung der Römer schließlich nicht nur anerkannten, sondern auch geistig die römische Weltreichsidee als universale, positive, kulturelle Friedensordnung der Welt selber voll bejahten. Von da ging später der Weg zum Oströmischen und Byzantinischen Reich. 8.5 Integration Ein anderer Fall der Akkulturation ist etwa die „einseitige Integration“. Eine gegenseitige Integration ist wohl selten. Ein Volk, ein ganzes Kulturgebiet kann – freiwillig, durch Eroberung oder andere Zwänge – von einer anderen, ursprünglich äußeren Kultur ganz erfasst werden, so dass es, letztlich doch zustimmend, zur völligen Übernahme jener Kultur schreitet, sich ihr angliedert und schließlich eingliedert. Der gesamte, riesige La-Tène-Bereich auf dem europäischen Festland und in Britannien (außer Schottland und natürlich außer Irland) wurde, soweit ihn nicht die Germanen aufsogen, in langsamem Vorgang in die provinzialrömische Reichskultur völlig integriert, – aber eben unter Verlust der La-Tène-Kultur –, und Gallien war in der Spätantike sogar eine Stütze der Romanitas. Eine andere Form ist der von R. Wenskus (1977, 78 ff.) betonte Fall, dass sich Völker, Stämme und Gemeinden einem prestigemächtigen Namen (nicht unbedingt auch der Kultur oder Sprache) von selber zuschreiben, sich ihm von außen her willig anschließen.

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

Wie immer ist aber auch das Gegenteil des Phänomens möglich, eine Desintegration in mehrere Zentren (Peripherien) oder durch die Loslösung eines bisherigen Bestandteils aus dem System. Es gibt innere Desintegrationen des Geistes innerhalb einer Kultur. 8.6 Multikulturalität Ein völlig anderer Fall ist Multikulturalität, die wir hier nur en passant streifen. Sie ist entweder ein unfruchtbar bleibendes örtliches und zeitliches Nebeneinander von Kulturen, ein Polyzentrismus auch von einander widersprechenden Zentren (Kulturen), von denen noch keines die Herrschaft angetreten hat, oder eine Abwertung aller dieser Kulturen zu nebensächlichen Daseinsbereichen, in denen sie gelten dürfen, unbemerkt gesteuert von einer Gemeinsamkeit, die sich als gemeinsamer Nenner eindeutig überlegen fühlt und als Zentrum etabliert. 8.7 Inkulturation Etwas anderes als die vielen Sparten von Akkulturation ist die Inkulturation. Sie ist gegeben, wenn ein aus einer fremden Kultur stammendes Gut (aber auch Menschengruppen) in eine andere nicht nur transferiert, sondern verpflanzt wird. Es passt sich ihr an, soweit es ohne Verlust des Eigenwertes geschehen kann, und sie passt sich, unter derselben Bedingung, ihm an. Das von außen Gekommene wird im neuen Raum heimisch und letztlich nicht mehr als fremd empfunden (in diesem Sinne ein integriertes Kulturgut). Zwei Beispiele, die die inhaltliche Reichweite der Inkulturation zeigen: die Ausbreitung z. B. einerseits der Eisentechnologie im „barbarischen“ Europa nach 1000 v. Chr., die ganz in die eigenen Kulturen hereingenommen wurde, natürlich auch Veränderungen bringend; andererseits die Ausbreitung des Christentums bei den vielen Völkern Europas und über die ganze Welt, dazu etwa die Ausbreitung des Buddhismus nach China und Japan, wo er vollständig einheimisch wurde. Die griechische Philosophie wurde in die arabische Kultur ebenso inkorporiert wie in das Denken des mittelalterlichen und auch noch des neuzeitlichen Europa. 8.8 Antikulturation Auch eine Antikulturation kommt vor. Gegen das Vordringen des Fremden erwachen plötzlich Kräfte in einer Kultur, in einem Volk (z. T. in Erinnerung an eigene alte Werte), die durch die bedrohende Ausstrahlung erst geweckt werden, zugleich aber zu einer Überwindung des Fremden in eigener Gestaltung führen. Daher gehört auch die Idee des „Antizentrums“.

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Eine solche Antikulturation war, wie ich glaube, in spezifischer Form auch La-Tène. Cato d. Ä. versuchte, als sein Streben nach völliger Ausstoßung hellenistischer Kultur nicht mehr möglich war, eine eigene römische Antikultur gegenüber Griechenland zu fördern. Rom ist auf diesem Weg im Großen und Ganzen nicht weitergeschritten. Eine höchst aktuelle Antikulturation sehen wir dort, wo sich gegen westliche Lebens- und Kulturformen aller Art, westliche Werte, westliches Denken und Menschenbild ein neu gewordener islamischer Fundamentalismus erhebt. 8.9 Assimilation und Dissimilation Natürlich sind mit den Phänomenen von Akkulturation usw. auch die Assimilation oder, ebenso existent und wichtig, die Dissimilation verbunden; und noch Weiteres. Man wird diese Begriffe bisweilen auch für weniger grundsätzliche und weniger umfangreiche Prozesse verwenden. So haben beispielsweise die Boier Norditaliens einige Kenntnisse der vorkeltischen Bevölkerung an sich assimiliert. Nach 395 n. Chr. vollzogen die – theoretisch ganz zusammengehörenden – weströmischen und oströmischen Reichshälften einen stets weiterschreitenden Prozess der politischen Dissimilation. 8.10 Rom, Romanisierung und Romanen Dass sich alle die genannten Möglichkeiten auch überschneiden, sonstwie ineinander übergehen oder sich kombinieren können, liegt auf der Hand. Es gibt so viele Sonderformen, dass ein geschlossenes System von Begriffen unmöglich ist. Vielleicht sind alle zugehörigen historischen Vorgänge einmalige Sonderfälle innerhalb der oben skizzenhaft umrissenen Allgemeintypen. Besonders gewaltige Beispiele der Integration oder Assimilation sind z. B. in der Neuzeit die Ausbreitung der englischen Sprache und auch ihrer Literatur, allerdings stets zur Konstituierung örtlicher neuer Zentren führend (USA, Kanada, Australien), und derzeit parallel dazu die universale Ausbreitung amerikanischer Zivilisationsformen. Daneben steht die überwältigende Erscheinung „China“, das bisher anscheinend eine unbegrenzte Fähigkeit hat, Kulturen und ganze Völker in sich zu integrieren, ohne die spezifische und monolithische Identität des Chinesentums aufzuweichen. Etwa in der Mitte zwischen beiden steht das vielleicht beispiellose Phänomen Rom, das alle Möglichkeiten von Assimilation, eigener Entfaltung, Integration, Akkulturation, Inkulturation und sogar Konkulturation enthält, dazu auch eine Dosis Multikulturalität. Selbst Dekulturation ist dieser Welt nicht fremd (z. B. 60).

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Und fast immer entsprechen diesen äußeren Vorgängen auch Prozesse im Inneren Roms, bestehend in gewaltigen Änderungen und gewaltigem Festhalten der eigenen Identität. Wir haben schon vieles genannt, hier genügt ein Überblick, der andere Schwerpunkte hat. Am Anfang Roms steht die Integration latinischen und sabinischen Wesens, verbunden mit einem kräftigen Zuschuss von Etruskertum. Aber nie versank Rom in die Peripherie eines dieser Faktoren. Seine Assimilationskraft bewährte es nach 338 v. Chr., als es die Latiner zum Teil romanisierte, während sich deren anderer Teil von selbst römisch machte. Und immer war Rom auch selber offen für Erweiterungen, ganz anders als die meisten hellenischen Poleis, vor allem als Athen. In langen Generationen wurde dann Italien in Lebensgefühl und Selbstwert immer römischer, aber ohne Roms Mitwirkung. Im Gegenteil, einmal ohne innere, eigene Assimilationsbereitschaft verweigerte es den Italikern das Bürgerrecht. Die Folge war der Bundesgenossenkrieg von 91 bis 88 v. Chr., den Rom militärisch nur gewann, weil es politisch weitgehend kapitulierte: Gemeinsam mit den Treuen erhielten die Abgefallenen, wenn sie zurückkehrten, das Bürgerrecht, und sie kehrten sehr gerne zurück. Ihre Wendung gegen Rom war ein Akt verzweifelten Trotzes gewesen, mit voller Bereitschaft gingen jetzt die meisten (denn die Samniten widerstrebten noch) ganz im Römertum unter. Und Rom selbst überschritt die gefürchtete Schwelle ohne inneren Schaden und wurde ohne weiters die Stadt eines geeinten Italien. In der Kaiserzeit wurde, nach republikanischen Vorspielen, ein vergleichbarer Prozess universal; nur Germanen, Iranier und Juden widerstanden ihm. In den ehemals „barbarischen“ Provinzen des Reiches inkulturierte Rom seine von einem vereinfachten Hellenismus abgeleitete provinzialrömische Kunst, aber ebenso sein rein römisches Städtewesen und, für die führenden Schichten, seine lateinische Sprache; alles mit der Langsamkeit innerer Sicherheit und so gut wie ohne Zwang. Diese Provinzen erhoben sich dadurch zu einer Akkulturation, die sie immer näher an Rom heranführte. Sie wurden von Rom assimiliert, in vielem assimilierte Rom auch sich selbst an sie, aber es blieb immer Rom. Immer mehr Provinzen und schließlich das ganze Reich wurden in die Romidee integriert und waren dazu meist gerne bereit; und Rom erweiterte sich innerlich, wurde weltbürgerlich, aber blieb noch lange Rom. Als Beispiel seien die Gallier genannt, die

bewusst Gallier blieben – aber völlig römische Gallier. Nur im römischen Wesen und seiner Assimilationskraft war ein solches Paradox eine reale Möglichkeit. Sie verlangten selber, in die römische Führungsschicht aufgenommen zu werden, Rom tat es und verlor sich dennoch lange nicht allzu sehr96. Im Wohlstand der pax Romana erblühten Africa, Spanien, Gallien, Asia, Syrien und andere zu Subzentren der Kultur und Kunst des sich vereinheitlichenden Reiches; nur politische Subzentren hat Rom niemals irgendwo geduldet. Hier blieb es monolithisch, bis Diokletian einen völlig einigen Polyzentrismus staatlicher Ordnung einzuführen suchte. Auch eine reziproke Konkulturation haben wir schon erwähnt (56). Rom schuf nach griechischem Bild seine eigene, den Griechen angenäherte Kultur, während die Griechen schon seit Polybios die politische Führungsstellung Roms immer mehr anerkannten, ja in ihr mitwirkten. Manche Griechen versuchten einen seelischen Modus zu finden, indem sie wie etwa Dionysios von Halikarnaß Rom kurzerhand für eine im Ursprung griechische Stadt erklärten. Aber die meisten bedurften solcher Mittel nicht: Beide Welten hatten einander harmonisch gefunden. In politisch-staatlichem Geist war der Ostteil des Reichs römisch geworden, römisch im Selbstverständnis des Reiches, und die Menschen dort nannten sich zuletzt selber „Römer“: Rhomaioi. Aber auch in tieferer Hinsicht assimilierten sich große Bereiche des Ostens, und zwar völlig freiwillig, an die römische politisch-moralische Haltung und gaben Rom hervorragende Vertreter des typisch römischen Beamtenstandes mit typisch römischem, nüchternem Pflichtethos. Dabei war, wie oft übersehen wird, das Reich durchaus nicht ein nivellierter Block, sondern in Roms Reichsidee fanden sich sehr viele Länder mit eigenem Profil und lokalen Entwicklungen; aber all dies nie politisch und auch sonst nur bis zu einem für die Einheit erträglichen Grade. Als Palmyra ausscheren wollte, wurde es zerstört. Diese einzigartige, gleichzeitige Verbindung von Systole und Diastole im Römerreich (eine παλίντονος ἁρμονία Heraklits) hat der spätantike Dichter Rutilius Namatianus in berühmte Worte gefasst, als er – eigentlich schon post festum – die Stadt Rom pries: „Du hast den unterschiedlichen Völkern ein einziges Vaterland geschaffen, und den Ungerechten ward es zum Nutzen, unter deiner Herrschaft erobert zu werden. Und indem du den Besiegten Anteil an deiner eigenen Rechtsstellung bietest, hast du zu einer Stadt gemacht,

Natürlich gab es satirische Gegenstimmen, so wie wenn Juvenal (3, 62 ff.) klagt, dass der Orontes in den Tiber mündet. Überhaupt spottet Juvenal reichlich über Fremde und ihre Sitten in Rom). Es wäre

ein Wunder gewesen, wenn es sie nicht gegeben hätte. Am großen Ablauf änderten sie nichts, auch wenn sich dieser in verschiedenen Phasen, einmal mehr bremsend, dann wieder voll fördernd vollzog.

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Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

was vorher ein Weltkreis war“97. Die verschiedenen Völker – also nicht ein einziges Volk wie in China – haben ein gemeinsames Vaterland (oder Vaterstadt, patria heißt beides), haben Anteil an Roms Stellung, die Welt ist eine einzige Stadt geworden, die wahre Kosmo-polis. Also völlige Einheit für die vielen Länder, und diese Einheit ist Rom, das konkrete Rom und das den Weltkreis umfassende Rom-Reich mit seinem Recht. In diesem Rahmen bestand auch etwas von einer Multikulturalität, aber in einer im großen einheitlichen Kultur. Nur im religiösen Polytheismus blühte die Multikulturalität ohne Einschränkung, und doch wieder stets innerhalb der offiziellen Kulte und sich diesen unterordnend. So sieht man an Rom einen Integrationsvorgang (Dobesch 1998, 15 ff.), der keineswegs nur militärisch und machtmäßig war, der alle Kultur und Geistesbildung umschloss und doch das scheinbar Widersprüchlichste für lange zusammenband. Die dafür notwendige Kultur hatten die Griechen geschaffen und die Römer umgeschaffen, neugeschaffen, und beides vertrug sich problemlos. Eine solche Integration geht sogar noch über das hinaus, was gegenwärtig die Europäische Union anzustreben scheint. 8.11 Dekulturation Hier geht es um ganz andere, sehr schmerzliche Vorgänge, die aber feste Realitäten in der Weltgeschichte von Kulturbegegnungen sind. 8.11.1 Grundsätzliches und bezeichnende Beispiele Dekulturation zieht sich durch alle Weltgeschichte hin. Sie kann mit Gewaltanwendung verbunden sein, muss aber nicht. Der Kulturverlust kann übrigens auch ganz von innen kommen. Kommt er von außen, ist er ein Versagen z. B. von Kulturtransfer oder auch von versuchter Inkulturation. Er kann von einer Peripherisierung herkommen; von einer Dezentralisierung in doppeltem Sinn: Ein Kulturraum verliert sein Zentrum oder ein Zentrum hört auch sonst auf eines zu sein, verliert seine innere oder äußere Zentralität. Dekulturation kann spezielle Teile oder Kategorien des „Kulturensembles“ betreffen oder das Ganze. Sie droht vor allem, wenn verschiedene Kulturen (Kulturwelten) mit verschiedenen Formprinzipien jeder Art und formenden Ideen aufeinander treffen, besonders wenn diese Kollision durch Eroberung oder übermächtige Ausstrahlung unvermeidbar ist. Alle „Kulturgüter“ kommen hier in Frage, 97

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von Geist über Politik bis hin zum Konsum. Sie geschieht vor allem einseitig, bisweilen aber auch gegenseitig und setzt in der Regel wohl voraus, dass beide Kulturideale, Lebensstrukturen und Institutionen fremd in dem Sinne sind, dass sie inkommensurabel sind. Es gibt Religionen, Sozialphänomene, politische Organisationsformen usw., die völlig unvereinbar sind (oder, was den gleichen Effekt hat, so angesehen werden). Das gilt in besonderem Maße, wenn es sich um zwei ganz verschiedene Kulturtypen handelt (siehe unten zu den „Barbaren“). Es ist ferner denkbar, dass eine Harmonisierung an sich möglich wäre, aber die fremde und/oder die eigene Kultur versagen vor diesem challenge und treiben somit – oder treiben einander – in den Abstieg. Dekulturation ist dort am deutlichsten sichtbar, wo sie bestehende Formen und Strukturen auflöst. Hier wie auch sonst ist zu unterscheiden, ob sie neue bringt oder nicht, ob der Schwund ersatzlos erfolgt oder nicht, und ob der Verlust durch Gewinn aufgewogen oder gar übertroffen wird. Ist das der Fall und bringt sie neue Strukturen bzw. ruft sie sie hervor, steht sie der Bewertung als Akkulturation in manchem nahe. Vor allem ist zu beachten, dass es eine vollständige oder nur partielle Dekulturation gibt, und auch diese in ganz verschiedenen Kulturinhalten, die bisweilen zu trennen sind. Solche Dekulturationen können etwa sozial sein, wirtschaftlich, religiös, künstlerisch und geistig im weitesten Sinne (auch in der „Bildung“). Ferner ist die typologische Scheidung von äußerem oder innerem Ursprung der Dekulturation im Auge zu behalten. Das langsame Vergehen der altägyptischen Kultur in ptolemäischer und römischer Zeit (erstaunlich langsam, denn es dauerte immerhin mehr als ein halbes Jahrtausend) ist eine Dekulturation durch Auflösen der kulturellen Grundstrukturen. Die ägyptische Kultur beruhte einerseits auf der – weit mehr als nur politischen – Idee „Pharao“ als Welt- und Kulturordnung, andererseits auf der unmittelbaren, massiven Geltung der Tempel. Als das eine nicht einmal mehr fiktiv aufrechterhalten werden konnte und das andere immer mehr zerbröselte, war das Ende gekommen. Denn im Christentum verlagerten sich die Interessen der Bevölkerung gänzlich. Ein markantes Beispiel für eine speziell politische Dekulturation ist der persische Königsfriede von 387/386 v. Chr. für Hellas: Mit der Auflösung fast aller Bünde und der Wacht des Großkönigs über Freiheit und Autonomie der Griechen sollte jede Machtidee und Machtmöglichkeit in Griechenland getilgt werden.

Rutilius Namatianus (1. Hälfte des 5. Jhs. n. Chr.), de reditu suo 1, 63 – 66: fecisti patriam diversis gentibus unam, |profuit iniustis te dominante capi|dumque offers victis proprii consortia iuris,|urbem fecisti, quod prius orbis erat.

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Gerhard Dobesch

Rom gelang dies, wie schon oben bemerkt, gegenüber der hellenistischen Staatenwelt noch weit besser. Die römischen Kaiser zerstörten systematisch jede bemerkenswerte Machtbildung bei den Germanen, lösten also deren größere politische Strukturen auf. Hingegen hat die römische Republik nach der Einrichtung der Narbonensis als Provinz und der Zerschlagung des Arvernerreiches gegenüber dem freien Gallien keine solche Politik betrieben, vielmehr gab sich dieses ganz ungestört all seinem inneren Zank und dem Wetteifern um den principatus totius Galliae hin. Es ist dies zugleich ein Symptom dafür, wie wesentlich sich die Kategorien und Interessen römischer Politik sowie ihre geopolitische Lage erst spät durch Caesar änderten. Ein Beispiel einer Inkulturation innerhalb von La-Tène war die Übernahme des Druidenordens von Britannien her nach Gallien gewesen, der sofort gallische Strukturen erhielt98. Eine gezielte Dekulturation, primär wohl politisch, war die bewusste Ausrottung des Druidenordens durch Rom in der frühen Kaiserzeit. Eine parallele Dekulturation war die Verbrennung der Handschriften der Mayas unter Diego de Landa, also eines wesentlichen Trägers von Überlieferung und Gedankengut. Die große Einwanderung der Kelten in Oberitalien ließ dieses Gebiet aus dem Kreis mediterraner Städtekulturen ausscheiden. Die Kelten entwickelten kein wesentliches Eingehen auf das Substrat, sie blieben im Großen und Ganzen in ihrem ungestörten La-Tène, auch wenn sich später ein gewisses „Städtewesen“ bildete, aber eben nie im Sinn mediterraner Städte. Hier, im großen Gallien und überhaupt in allen von Rom eroberten Teilen des alten „Keltengürtels“ (Süddeutschland, Ostalpen …) bedeutete die römische Herrschaft im Wesentlichen dann ihrerseits eine Dekulturation von La-Tène (s. o. 56). In der Cisalpina führte das zu einer schnellen Romanisierung, im caesarischen Gallien blieben viel mehr gallische Eigenart und gallische Sprachen erhalten. Dennoch geschah dies im Rahmen einer – sehr beachtlichen – provinzialrömischen Kultur mit ihren Städten und allen neuen Formen, welche mit dem kulturellen Geist und den kulturellen Strukturen von La-Tène nicht vereinbar waren: Die Gallier überlebten, die Gallier betrieben römisch-griechische Studien99, aber ihr gesamtes keltisches Traditionsgut von Mythen, Dichtungen und Naturphilosophie (vgl. Caes. b. G. 6, 14, 5–6) gaben sie entweder

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Siehe 14. Diese Anpassung berechtigt uns, trotz weitgehend gleicher Wesensart in der sonstigen Kultur von Inkulturation zu sprechen, namentlich da die neuen und für den Orden spezifischen Lehren ebenso eingeführt, übernommen und angeeignet wurden.

ganz auf oder brachten es nicht in die sich entwickelnde Zivilisation ein (s. u. 62; 88). In diesen Zusammenhang gehört eine zeitweise keltische Dekulturation, die ich anderswo geschildert habe (Dobesch 1996, 289 ff. mit Taf. 84–89; 330 ff. mit Abb. 1–10 auf Taf. 84–89): die katastrophale Auflösung der künstlerischen Formen, zum Teil sogar gegenseitig. Zeitlich nah vor dem vollen Sieg der provinzialrömischen Kultur vollzog sich im keltischen Bereich bisweilen eine Begegnung mit den römischen Kunstgattungen und ihren Formen, uns etwa in Reliefs erkennbar. Im Versuch der Übernahme des Fremden ging die gesamte bisher so erstaunliche Formgewissheit, Zucht und künstlerische Sicherheit von La-Tène verloren, aber die römischen, ebenso zuchtvollen Formideen wurden nicht bewältigt und lösten sich ebenso auf. In Kleinplastiken etwa lebte später z. T. noch ein Hauch keltischen Empfindens nach100, aber verglichen mit dem gewaltigen inneren und äußeren Umfang der La-Tène-Kunst war das ärmlich. Etwas Paralleles geschah bei der spanischen Eroberung Mexikos. Während die spanische Kunst aktiv agierte, wurden von einheimischer Seite weiterhin ohne weiters Bilderhandschriften angefertigt. Aber verglichen mit der überwältigenden Zucht und dem instinktsicheren Formwillen der aztekischen Handschriften der vorspanischen Zeit konnten sie eine erschreckende Formlosigkeit und Verwilderung zeigen: Das Alte war zum größten Teil zerfallen, wirkte noch in Details und in der Idee „Bilder-Buch“ weiter, das Europäische war andererseits keineswegs wirklich verstanden und rezipiert. All dies kann auch unter den Gedanken gestellt werden, dass, im Falle tiefer Verschiedenheit, jede Akkulturation und jeder Transfer mit einem Verlust in anderen geistigen Bereichen verbunden sein muss. Die Fragen der Spätantike und ihrer germanischen Reiche auf römischem Boden klammere ich bewusst aus. Was hier geschah, war derart unterschiedlich und widersprüchlich, spielte sich außerdem auf so vielen Ebenen ab, dass es einer Monographie bedürfte. 8.11.2 Proletariat und „Barbarisierung“ Es ist m. E. stets das Ergebnis einer inneren oder äußeren Dekulturation (oder verpassten Akkulturation), wenn ein –

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Vgl. etwa die vorbildlichen „studia Gallorum“ bei Tac. Agr. 21, 2 und Iuven. 15, 111. Grundlegend für alle diesbezüglichen Fragen Hatt 1970, mit reichem Bildmaterial. Einen vorzüglichen Bildband mit wichtiger Einleitung verdanken wir Pobé/Roubier 1958.

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

inneres oder äußeres – Proletariat entsteht. Proletarisierung stößt entweder aus einer vorhandenen Kultur aus oder verweigert die Aufnahme in sie (soweit diese überhaupt angestrebt wird); beides gilt auch beim Ausschluss aus entstehenden neuen Kulturformen. Die soziale Dekulturation ist vielleicht die schrecklichste Form von Peripherisierung. Eine solche innere Dekulturation hatte sich in Mittelgallien vor der Ankunft Caesars gegenüber der plebs vollzogen (51 f.). Wenn man in der Stellung der Germanen gegenüber dem römischen Reich, namentlich seit dem 3. Jh. n. Chr., Züge eines äußeren Proletariats sieht, handelt es sich sogar um eine auf eigene Faust ohne Zwang oder Unrecht erfolgte Umstellung. Akkulturation (Inkulturation) kann an sich schon eine Dekulturation sein, wenn sie in einer Anpassung nach unten besteht, freiwillig oder unfreiwillig. Das vermag bis zur Barbarisierung einer Kultur, sogar auch Hochkultur, führen (ich verwende das Wort „barbarisch“ hier in negativem Sinn, ohne Anführungszeichen). Eine solche Auflösung von Kultur kann auch ganz von innen her erfolgen, aus dem Kulturbereich selbst heraus. Nur kurz kann an die ungeahnt gefährliche Situation erinnert werden, wenn „moderne“ („westliche“) Einflüsse etwa in Afrika die alten Strukturen von Stamm und Sippe mit ihren Bindungen, Werten und Sicherheiten auflösen, ohne Ausreichendes an ihre Stelle zu setzen. Ein gesichtslos gewordenes Proletariat sammelt sich in den Peripherien viel zu großer neuer Städte. Es ist ferner nicht auf unsere Gegenwart beschränkt, dass es „Kulturgüter“ einer Hochkultur gibt, die höchst zweifelhafter Art sind und deren Inkulturation negative Folgen, Auflösung und geistiges Absinken hervorruft. Wenn Gebende und Nehmende gleichermaßen mitwirken oder einander negativ ergänzen, darf man von einer Kon-Dekulturation sprechen. 8.11.3 Verweigerung (Repulsion), auch speziell bei „Barbaren“ Jetzt bleibt nur noch ein Phänomen zu besprechen, das an historischer Bedeutung und seelischer Problematik hinter keinem der genannten zurücksteht: die Verweigerung, die Nonkulturation oder Repulsion. Von vornherein ist zu beachten, dass es nicht nur eine Verweigerung von Akkulturation, Inkulturation usw. gibt, sondern auch eine von Dekulturation. In manchen Fällen verfängt keine der möglichen „Kulturationen“, ja es wird jegliche kulturelle Auseinandersetzung (bewaffneter Kampf ist aber durchaus möglich) vermieden, auch bei äußerer oder innerer Konfinität. Das Erleben der „Fremdheit“

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ist sicher da, meist wohl auch irgendeine summarische Feindlichkeit, vor allem aber die Macht der eigenen Formen. Hochkulturen können räumlich sogar relativ eng nebeneinander leben, aber auch sonst einander irgendwie berühren und dabei glatt „verweigern“, sich der anderen anzupassen, sich positiv oder negativ beeinflussen zu lassen. Ägypten und Alter Orient existierten Jahrtausende, ohne einander kulturell in Frage zu stellen. Nur in Palästina und Phoinikien war künstlerischer Einfluss aus Ägypten wirksam, aber eng begrenzt.Während der griechischen Klassik wurde Persepolis gebaut, und auf der geistigen Ebene tat keines dem anderen ein Leid, blieb aber auch ganz in sich versammelt. Die römische Kaiserzeit mag oder mag nicht persisches Kaiserzeremoniell übernommen haben, beide Bereiche blieben doch getrennt. Und als vielleicht östliche Einflüsse an der Konstituierung der spätantiken Kunst mitwirkten, wurde sie doch eine ganz und gar unsasanidische Kunst. Jahrhundertelang verweigerten China und Japan jeden wesentlichen Einfluss westlicher Kunst oder Kultur. Von allen aber fällt das Phänomen „Verweigerung“ bei der Begegnung zwischen „Hochkulturen“ und „urgeschichtlichen“ Kulturen auf. Es geht um die unverständliche Kraft – denn es ist Kraft –, auch ohne eigene, größere Leistungen nicht zur Peripherie zu werden. Andererseits ist aber nicht die Kraft oder nicht der Wille da, sich zum Gegenzentrum zu machen. Etwas eigentümlich Obstinates liegt in einem solchen Verhalten, das wie Stagnation wirken kann, es bisweilen vielleicht auch ist. Einige Beispiele sind zu nennen, um das Gemeinte zu erläutern. Mit Ausnahme der Makedonen und der Epiroten (die Thraker sind ein Sonderfall) zeigten die balkanischen Völker kein nennenswertes Interesse an den Herrlichkeiten oder auch Nützlichkeiten hellenischer Kultur,Technik und Kunst. Als Makedonien sich – spät genug – dem Hellenentum öffnete, blieb dieses, außer in der Politik, eine von auswärts gekommene Kultur. Ihre Kultur und selbst ihre Administration sprach griechisch. Hierin war es eben doch Peripherie geworden. Demgegenüber bestand Rom furchtbare Kämpfe des Geistes, um weder ganz ungriechisch noch ganz griechisch zu werden. Rom rang fast verzweifelt um eine eigene, vom Hellenentum selbständig beeinflusste Kultur; für die Makedonen existierten solche Fragen offenbar überhaupt nicht. Das zeigt uns zugleich, wie wenig selbstverständlich der Weg war, den Rom schließlich doch ging. Cato d. Ä. versuchte sogar, noch in der vollen Blüte von Roms Groß-

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macht, als die Schlacht schon zum Teil verloren schien, Rom zur Haltung eines generellen Verweigerns gegenüber der griechischen Kultur zurückzuführen. Mit Recht kann „zurück“ gesagt werden, denn bis in den Anfang des 3. Jhs. v. Chr. verweigerte Rom gegenüber den Hellenen und dem Hellenismus, den Etruskern und anscheinend auch den Oskern eine echte Akkulturation in Dichtung, Denken und bildender Kunst. Und das bei vollem Stadtcharakter und voll entfalteter Kunst der Innen- und Außenpolitik. Rom war um 300 v. Chr. das nahezu beispiellose Phänomen einer Hochkultur fast ohne Literatur und Kunst (dazu siehe Dobesch 1998a, 131). Dabei übernahm es völlig frei und autonom jene Elemente, die es übernehmen wollte: etwa die Verwendung des Alphabets, die disciplina Etrusca oder etruskische Bildwerke. Es ist denkbar, dass die Verweigerung aus dem Erleben heraus entstand, dass eine echte kulturelle Öffnung Roms so wunderbar in sich geschlossene Identität schwer gefährden, sicher aber mühevollste Kämpfe der Selbstbehauptung und schließlich doch eine beträchtliche Änderung des Lebens herbeiführen musste. Das trat ein. Ein anderes „Verweigern“ mitten im hochkulturellen Leben der jüngeren Vergangenheit: Die italienische Opernkunst, geführt von Verdi, verweigerte möglichst lange die Akzeptierung der umstürzenden musikalischen Erfindungen Wagners, eben weil diese so bedeutend und vor allem umstürzend waren. Es war schließlich Verdi selbst, der dieses transferierte Gut ganz selbständig verarbeitete, aber um den Preis wesentlicher Veränderung. Bis in unsere Gegenwart verweigern die Indianer des Amazonasbeckens, wenigstens zum Teil, den Übergang von einer weder besonders reichen noch angenehmen Lebensweise zu den „Errungenschaften“ der an politischer Macht weit überlegenen Industriekultur. Sie wollen nicht „beglückt“ werden. In der Antike entwickelten die Skythen feinstes Verständnis für die herrlichsten Goldschmiedearbeiten der Griechen, ja gaben offenbar solche auch in Auftrag, wie die skythische Thematik bei rein hellenischen Kunstwerken zeigt. Wir sprechen sicher mit Recht von künstlerischem Verständnis, denn diese Werke müssen Unsummen gekostet haben. Aber eine grundsätzliche Änderung skythischer Kultur fand nicht statt. Das führt zu den handgreiflichsten Beispielen von Verweigerung, wenn nämlich einfache, uns selbstverständlich scheinende und sehr nützliche Kulturelemente nicht übernommen werden. So etwa wurde die Idee der Schrift und Schriftlichkeit auffallend oft im Wesentlichen hartnäckig nicht rezipiert. Trotz unmittelbarer Nachbarschaft und voller Kenntnis

des Prinzips der Schrift, ja sogar trotz teilweiser Anwendung von Schriftlichkeit, ignorierten die Kelten von La-Tène deren große kulturelle Möglichkeiten, auch wenn sie in Gallien für alltäglichste Zwecke das griechische Alphabet gebrauchten. Das Ogham war später eine nur sehr beschränkt gebrauchte, in der Tat sehr unpraktische Erfindung. Die Iren erschlossen sich der Schrift erst durch die christliche Missionierung, denn da lag ein heiliges Buch vor, das gelesen werden musste. Bald aber verwendeten sie die Schrift zu umfangreicher Aufzeichnung eigener Sagenüberlieferungen.Von den Kelten in Gallien haben wir schon gesprochen (60); als sie durch die römische Eroberung zu voller Schriftlichkeit und schriftlicher Geistesbildung übergingen, zeichneten sie ihre eigene mündliche Tradition überhaupt nicht auf: Beides spielte auf verschiedenen Ebenen der Kultur. Hier liegt klärlich keine fehlende „Entwicklung“ oder eine Primitivität vor, sondern ein seltsames Prinzip zweier verschiedener Kulturen: La-Tène hatte nie geschrieben und würde auch jetzt nicht schreiben. Die Germanen lebten jahrhundertelang in engster Nachbarschaft mit den Römern, sie kannten und verwendeten die Runenschrift, aber zur Schriftlichkeit gingen sie die längste Zeit nicht über. Die Kelten der Poebene verweigerten im Wesentlichen (wenn man vom Problem der Oppida absieht, aber siehe 60) die Übernahme jener Hochkulturelemente, die sie vorfanden oder stets in engster Nachbarschaft in Italien vor Augen hatten, dessen bewegliche Güter sie bereitwillig plünderten. Als sie unterworfen waren, gingen sie – einzelne religiöse Elemente ausgenommen – ganz in die andere Kultur ein und romanisierten sich sprachlich und kulturell völlig. Hier liegt dasselbe Entweder-oder vor, das, wie oben gesagt, die mündliche La-Tène-Überlieferung in Gallien untergehen ließ. Vielleicht erhellen diese beiden Beispiele einander und lassen uns ahnen, welch scharfe Wendung notwendig war, und welche ausschließliche Entscheidung und letztliche Unvereinbarkeit bei einem fast vollen Wechsel der Kultur am Werke waren. Überhaupt kennzeichnete eine „Verweigerung“ bis in die Gegenwart durch Jahrhunderte und Jahrtausende das Verhalten vieler bedeutender „primitiver“ Kulturen gegenüber der westlichen oder östlichen Kultur. Heute verschwindet dieses Verweigern mit rasanter Schnelligkeit, und es scheint oft kein ersprießlicher Wechsel zu sein. Das entspricht völlig dem Verhalten des urgeschichtlichen Europa – wenn auch mit wechselnden Grenzen – gegenüber den mediterranen Kulturen durch lange Jahrhunderte und in den meisten Sparten. Die Schrift ist nur ein besonders ins Auge springendes Symptom. Als die Römer, zurückgehend

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auf einen ungeheuerlichen Willensakt Caesars, willkürlich die Rhein- und Donaugrenze schufen, verengte sich der Kreis des urgeschichtlichen Europa, aber innerhalb seines noch verbleibenden Raumes änderte er sich wenig. Dabei war das urgeschichtliche Europa vor den Römern alles andere als statisch, sei es in der Bronzezeit, sei es mit Hallstatt oder La-Tène. Fast möchte man sagen, dass der Schock der römischen Eroberung die Germanen, nach misslungenen Ansätzen, erst statisch gemacht habe. In diesem einstigen autonomen Entwickeln übernahm man frei aus Süden und Osten erst die Bronzetechnologie und dann die des Eisens, aber mit einer fast auffälligen Verzögerung, die vielleicht den hier zu schildernden Phänomenen zugehört, jedenfalls aber zeigt, wie frei man im Großen und Ganzen dabei handelte. Auch die Annahme von Schmuckelementen erfolgte nur gerade soweit, wie diese Völker es selbst wollten; eine von außen gebrachte Änderung im grundsätzlichen kulturellen Habitus geschah jedenfalls nicht. Nur in Südspanien begann eine echte Akkulturation mit Schrift und eigenem Stil, die erst Karthago und dann Rom vernichteten. Hier bleibt nur noch der Versuch, nach den Gesetzmäßigkeiten eines „Verweigerns“ und dessen Motiven zu fragen. Natürlich kann ein Verweigern Stumpfheit bedeuten, ein Versagen im Sinne Toynbees vor einem höheren challenge. Jeder historische Einzelfall ist historisch zu prüfen. Aber der – auch rein passive – Widerstand kann ein höchst erfolgreicher response vor einem solchen challenge sein. Er kann aus einem, sei es auch noch so unreflektierten Bewusstsein der eigenen Art kommen, also aus dem Erleben und Fühlen der Werte, die diese eigene Art formen. Daraus erwächst ein Identitätsbewusstsein, das zum Wunsch nach Bewahrung dieser Identität führt. Daher auch die Haltung, bei der Verteidigung der eigenen Art gegen ein ganz anderes Gegenüber, kriegerisch oder friedlich, für die eigene Würde, ja für das eigene Menschsein und die eigene Freiheit zu kämpfen.Wir sehen im Verhalten der Chauken und in einem tiefen Missverstehen des Römers Plinius (n. h. 16, 2–4) ein solches Paradigma. Sieht man schärfer hin, so beruht ein solch zähes Festhalten an der eigenen Kultur auf einem nicht formulierten, aber sehr nachdrücklichen und sehr gegenwärtigen Wissen („Bewusstsein“, Erleben) um die Ganzheitlichkeit des eigenen Wesens, damit aber auch um den Wert dieser Ganzheit. Daraus resultiert zugleich das Wissen um die Zerstörbarkeit, das die Form panischer Angst annehmen kann – und damit eines blinden Wütens gegen das Fremde, wenn es die politische und militärische Lage gestattet. Ein werthaftes Ganzes erlaubt kein wesentliches Abweichen. Es geht nicht

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um mehr oder weniger Technik, mehr oder weniger Schriftlichkeit usw., sondern es geht um ein oft nur allzu unteilbares Ganzes. Man kann in der Regel nicht einfach nur „Kulturelemente“ aufgeben, wenn diese zu einem lebendigen System verwoben sind: Nicht Einzelnes, sondern alles müsste man geben; (fast) die gesamte Kultur selbst. Solche Antinomien der Kulturen gibt es in der Urgeschichte, es gibt sie auch in Hochkulturen. Recht leicht kommt einem die unreflektierte Formulierung über die Lippen: „Da liegen Welten dazwischen“. Aber es stimmt, stimmt oft nur allzu wesenhaft und daher tragisch. Daher gehen Völker, Städte und Kulturen in einen entscheidenden oder schon im vorhinein verlorenen Krieg buchstäblich wie in einen Weltuntergang. Post festum kann der Historiker z. B. an den Germanen sehen, dass die Verweigerung der Akkulturation die Menschen für eine viel reichere „Akkulturation“ der Zukunft in Selbständigkeit aufsparte. Im Nachhinein erkennt man, wie die Gelegenheit der eigenen Entfaltung gerettet wurde. Es entspringt der Verständnislosigkeit und verhindert jedes Verständnis in der Zukunft, urgeschichtliche Kulturen in ihrem Verhältnis zu „Hochkulturen“ in das Prokrustesbett als stufenweise Entwicklung, als Aufsteigen, als Stufenleiter eines Mehr oder Weniger zu spannen. Das geht am historischen Tatbestand vorbei. Es handelt sich vielmehr meist um unaustauschbare und unvermischbare, getrennte Naturen, um ein Entweder-oder. 9. Die Probe auf das Exempel: antike Kelten 9.1 Vorkeltisches Versuchen wir, einiges von den oben skizzierten Möglichkeiten des Zentrums, der Peripherie oder der Akkulturation auf die uns bekannte Geschichte der Kelten anzuwenden, soweit wir es nicht schon in den prinzipiellen Kapiteln getan haben. Nie werden wir wissen, was hinter den vielen Wanderungen indogermanischer Völker stand, etwa der Einwanderung in Westeuropa, in Griechenland und Kleinasien bis hin zum Iran und zu Indien. Waren all diese Bewegungen eigene Entschlüsse oder stand, wie beim größten Teil der germanischen Völkerwanderung, wenigstens zum Teil eine fremde Gewalt dahinter, die gewachsene Nachbarschaftsstrukturen zerschlug und mit mehr oder weniger Angst Wandernde weichen ließ? Ebenso können wir nicht erkennen, was hinter dem Seevölkersturm stand; drängte hier eine Peripherie ins Zentrum? Wurde sie gedrängt? Die Kimmerier in Kleinasien, die Skythen in Medien, wir können den Charakter dieser Züge nur schwer abwägen.

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Für die Griechen blieb bis in das 3. Jh. v. Chr. hinein das „barbarische“ Europa subjektiv eine äußerst ferne Peripherie. Gewiss waren seit der großen Kolonisation im 8.–6. Jh. v. Chr. die Grenzen der bekannten weiten Welt ungemein gedehnt, doch lehrt das, was wir von der jonischen Geographie noch um 500 v. Chr. wissen, dass Wissen und Erfahrung von den Küsten her ergriffen wurden. Eine gewisse Thalassozentrik ist nicht zu übersehen, die vieles (nicht alles), was im Binnenland lag, als Peripherie sah. Im 5 Jh. v. Chr. zeigte Herodots vorzügliche Ethnographie der Skythen, wie weit Interesse und Verständnis im osteuropäischen Raum gingen. Aber die Länder jenseits der Skythen blieben, was verständlich ist, eine fremde Ferne; doch das galt bemerkenswerterweise auch lange noch vom europäischen Binnenland wie auch von seinem Norden und Nordwesten; die Erkundungsfahrt des Pytheas im 4. Jh. blieb ohne Folgen.Wie vage die Kenntnisse waren, beweist Herodot, wenn er die Kelten des Donauursprungs einfach mit den Kelten ganz im Westen der iberischen Halbinsel zusammensah. Lange haftete allen diesen Ländern die Schau als äußerste Randperipherie an, ja ein Hauch von der alten Märchengeographie mit ihrem Rhipäengebirge, den Hyperboräern oder Thule wirkte oft nach. Von den Völkern dieser weiten Bereiche besitzen wir natürlich keine eigenen Schriftquellen. Handelsrouten gab es, ein gewisses Interesse an der Herkunft der Handelsgüter und z. T. der Händler ist anzunehmen. Die Griechen wussten nicht viel, weil diese Länder – mit Ausnahmen wie Massalia – für sie kaum Bedeutung hatten101. Vielleicht war die Anteilnahme bei den „Barbaren“ sogar größer, da der ferne und bisweilen doch nicht allzu ferne Süden und Osten mit ihren Städten, Märkten, Kunstfertigkeiten und völlig fremder Besonderheit ihre Phantasie ergreifen konnten. Das Mediterraneum blieb für die „Barbaren“ lange subjektive Peripherie, wohl auch mit einigem Gepräge des Erstaunlichen, Unverständlichen und Märchenhaften. Oder war das Wissen größer als wir vermuten? Jedenfalls im späten Hallstatt und bei den frühen Kelten muss es vertrautere Kontakte gegeben haben. Ohne einige konkrete Vorstellungen wäre die spätere Abwanderung keltischer Scharen zu neuen Siedlungsplätzen102 oder die stete Bereitschaft keltischer Männer, sich als Söldner in das Mediterra-

neum zu verdingen, schwer denkbar. Der Krater von Vix bezeugt lebhafte Anteilnahme an Prachtwerken griechischer Kunst und als Prestigeobjekt, vielleicht Geschenk, sehr beachtliche Kontakte zum griechischen Raum. Auch der Inhaber des Grabes von Hochdorf hatte seine Freude an südlichem Import, und für die Heuneburg vermutet man schon lange mediterrane Vorbilder. Dennoch darf für die Hallstattzeit als solche kaum eine wirklich enge Verbindung mit dem Mediterraneum angenommen werden. Sie stand weit überwiegend nicht in Konfinität zu ihm. Offenbar bestand kein – oder zumindest kein merkbarer – challenge.Was man an südlichem Gut, das meist auf dem Handelsweg vermittelt wurde, kulturell akzeptierte, unterlag ganz dem eigenen Urteil, das durchaus zurückhaltender Natur blieb. Die Hallstattländer lebten in ungestörter kultureller Autonomie, in einer „schützenden Distanz“, die eine Ruhe garantierte, in der man nach seinen eigenen, inneren Entscheidungen existierte. Das einverwandelte Kulturgut bestand ja doch nur aus systemlosen Splittern. Größer war der südliche Einfluss auf die Situlenkunst, deren Bereich ja schon eher zur Konfinität des Mittelmeeres zählte. Diese Kunst apperzipierte die Idee einer (nicht allzu deutlich) ausgeprägten Figürlichkeit mit einem Hauch von Plastizität, und deren Ausarbeitung zu größeren erzählenden Friesen auf Gefäßen. Hallstatt und der Süden lebten in einem glücklichen, problemlosen Nebeneinander, ja sie durften aneinander vorbeileben. Der westliche wie der östliche Hallstattkreis wurde in keiner Weise zu einem Ableger des Mediterraneums, ja er behielt sogar seine Eigenschaft als eigenständiges kulturelles Zentrum, ganz anders als die Germanen der frühen und hohen Kaiserzeit. Soweit wir aus Funden von Siedlungen, festen Sitzen und prunkvollen Gräbern überhaupt schließen dürfen, war der Hallstattbereich zumindest gegen Ende deutlich polyzentrisch, vielleicht im Sinne eines „diffusen“, aufgeteilten, weitgestreckten Zentrums. Hat dieser große Hallstattbereich je eine Welle ausgreifender, sich ausbreitender politischer Energie nach außen gesandt? Wir wissen es nicht. Man darf an die keltische Wanderung nach Iberien denken. Die erste bescheidene Einsiedlung in die nordwestliche Poebene wird man kaum als große

Wieviel Informationen die Einwohner von Massalia hatten, vielleicht auch aus Gründen der Konkurrenz verschwiegen, wissen wir nicht. Dasselbe gilt von den Etruskern, die dem „Barbaricum“ weit näher standen und intensive Handelskontakte pflegten. Sehr selten – wenn überhaupt – ziehen wandernde Großgruppen ins Ungewisse. Solche moderne Vorstellungen kommen letztlich

von einem romantischen Bild der „Barbaren“ als schlichte, naive Menschen. Es war aber für einen Zug ins Weite existentiell notwendig, sich Ziele und ihr eigenes künftiges Leben einigermaßen vorstellen zu können und, wie 60–59 v. Chr. die Helvetier, möglichst auch Vorsorge für den Unterhalt zu treffen oder ihn durch kalkulierten Raub zu gewinnen.Vgl. Dobesch 2001c, 722 ff.

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Aktivität rechnen.Von Letzterem abgesehen, erfolgte jedenfalls nie ein hallstättischer Angriff oder eine Wanderung gegen das Mediterraneum, gegen Südfrankreich, Italien oder Griechenland103. 9.2 Das Werden der La-Tène-Kelten Mit der La-Tène-Zeit begegnen wir einer sich rasch wandelnden, zum Schluss völlig verwandelten Welt. Für die Ethnogenese der Kelten sind immer noch die durchaus verschiedenen, aber meisterhaften Modelle von F. Fischer (1986, 209 ff.) und L. Pauli (1978, 443 ff.) die grundlegenden Untersuchungen. Hier seien nur wenige Elemente einer historischen Einordnung dieses Prozesses versuchsweise skizziert. Offenbar war der innere Impuls der La-Tène-Kultur von vornherein wesentlich schärfer als der der vorausgehenden Hallstattzeit. Dessen fruchtbare, schützende Distanz wurde nun in großem Schöpfertum noch viel fruchtbarer, und eines Schutzes bedurfte die eigene innere Dynamik offenbar nicht mehr. Ohne dass der Einfluss von Süden her in objektiver Schau deutlich wuchs, wurde dieser nun wesentlich wacher erlebt und wuchs subjektiv: Er wurde zum challenge, weil und indem man ihn nun als herausfordernden challenge zu erleben vermochte und wollte, die grundlegende Voraussetzung jedes solchen Schöpfertums. Und alle südlichen Motive wurden letztlich völlig eigenständig verarbeitet, in weit aktiverer Weise als dies einst Hallstatt und dessen Stil getan hatte. Jedenfalls fassen wir ein Phänomen, das die Beurteilung als neue Kultur vollauf verdient, und diese Kultur scheint, wie oft in der Weltgeschichte, in relativ kurzer Zeit geschaffen worden zu sein, vielleicht in zwei oder drei Stufen. Bald überwand sie nicht nur alle mediterranen Beeinflussungen104, sondern streifte auch das restliche Erbe der Hallstattzeit ab: Die neue Kultur war in der Regel aus einem Guss und unverwechselbar. Sie nahm nur, was sie wollte, und ver-

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Die Keltiberer scheinen die mediterran dominierten östlichen und südlichen Küstenbereiche der iberischen Halbinsel eher gemieden zu haben. Auch mit wenigen, aber wichtigen skythischen Anregungen ist zu rechnen. Vgl. oben 55. Dass die für den Druidenorden spezifische Idee der Reinkarnation (und auch die Idee eines Ordens?) aus dem Pythagoräismus oder einem anderen vorsokratischen System übernommen wurde, durch Vermittlung Massilias, kann durchaus zutreffen. Es würde nur noch mehr zeigen, wie nahtlos die Kelten alles Fremde in die eigene Kultur inkulturierten, ja völlig integrierten.Viel früher scheint auch das Modell des Übergangs vom Königtum zur Adelsrepublik von Süden

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arbeitete nur, wie sie es wollte. Sie ist in ihren wesentlichen Teilen nicht von irgendwo oder von irgendwas ableitbar. Sie bleibt dem Historiker ein Phänomen des Werdens, das er als solches zu akzeptieren und zu respektieren hat. Die neue Kultur zeigte geistig und später auch politisch eine ungleich größere Energie als Hallstatt. Ja diese stete Aktivität, die fast nie mehr versiegte, scheint eines ihrer Hauptmerkmale gewesen zu sein; sie endete erst mit der militärischen Unterwerfung (bzw. wurde transformiert). Man hat, wie oben erwähnt, für La-Tène das Wort von der „ersten Hochkultur“ des nichtmediterranen Europa geprägt. Das darf offen bleiben. Aber es steht fest, dass es den prinzipiellen Typ der „urgeschichtlichen Kultur“ nicht transzendierte. Doch in der erhöhten Lebendigkeit und der Verve, die auch noch aus den antiken Berichten für uns nachklingt, meint man zu spüren, dass dieses La-Tène in doch intensiverer Weise die südliche „Idee der Hochkultur“105 (nicht die Hochkultur selbst) rezipierte, und das ist wichtig genug. Aber ihre Antwort war ohne jede Abhängigkeit, in allem Wesentlichen aus dem eigenen Geiste heraus geformt106. Sie gehörte zwar noch ganz in den Rahmen des urgeschichtlichen Europa, nicht in die Welt der Mediterrankulturen, aber sie schlug ein neues Kapitel der Geschichte auf, das, in vielen Metamorphosen weiterwirkend, auch heute noch nicht „ausgelesen“ ist. Mehr noch als Hallstatt (vgl. oben) ein eigenes, kräftiges Zentrum, war es objektiv historisch für das Mittelmeer keine „Peripherie“; es war ohne Bezogenheit, es kannte bis zuletzt dem Süden gegenüber keine Konkulturation107. Auch beim späteren direkten Zusammentreffen wahrte es geistig, sozial, politisch und künstlerisch hartnäckig seine eigenen Strukturen (so z. B. die des „Stammes“). Gerade die Stammesstruktur scheint für das innere und äußere Leben der antiken Kelten so konstitutiv und unentbehrlich gewesen zu sein wie die Polis für die Hellenen. La-Tène scheint wie Hellas oder Sumer, völlig anders als

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her gezündet zu haben. Kaum eine Kultur der Weltgeschichte kann wie auf einem fremden Planeten leben. Vielleicht wird jemand eine solche in den Wandlungen Galliens im 2. und besonders im 1. Jh. v. Chr. sehen. Ich möchte mich dem nicht anschließen. Gallien blieb völlig eigengesetzlich (s. u. 65; 80 ff.), eine Vermischung trat nicht ein. Zwar konnte dann die provinzialrömische Kultur auf manchem aufbauen, vor allem auf der Entwicklung der Oppida, doch waren diese politisch immer noch etwas völlig anderes als eine römische, griechische oder etruskische „Stadt“. Wir haben oben auch schon betont, dass diese Provinzialkultur, statt eine Konkulturation zu vollenden, die La-Tène-Kultur weitestgehend auslöschte.

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Ägypten, in seiner Entstehung bereits polyzentrisch gewesen zu sein, was zugleich ein weitgestrecktes, „diffuses“ Zentrum über einen größeren Bereich hin bedeutete. Die ebenso entstehende griechische Polis wurde in einer Zeit konstituiert, als – ein seltener Ausnahmefall der Geschichte – der Raum der Ägäis von außen nicht bedroht war. Nun waren die politischen Formen der Kelten, die keltische Stammeswelt ganz ebenso wie die griechischen Stadtstaaten bestens geeignet für kulturelle Initiativen jeder Art, punktuelle, aber große Kräfte und ein spontanes Wirken weit in die Ferne, aber ebenso ungeeignet für die große Machtbildung, die Entstehung stabiler Reiche und die umfassende Zusammenfassung unter einem übergeordneten Zentrum, denn niemand, der sich einen vergleichbaren Anspruch leisten konnte, wollte wirklich je ganz zur Peripherie eines anderen werden, bis in späte Zeiten des Keltentums hinein. Liegt das vielleicht daran, dass das werdende La-Tène ebenso frei war von äußeren Pressionen wie das älteste Hellas und sich daher den Gewohnheitszwist ohne solide Machtbildung leisten konnte? Es wäre möglich, dass die keltische Ethnogenese in mindestens zwei großen Schüben von Energie und prägender Schöpferkraft vor sich ging, die vielleicht mit der unentwirrbaren Namensdoppelung „Kelten – Gallier (Galater)“ zu verbinden sind (Dobesch 2001a, 607 ff. 612 ff.). Das mochte den Polyzentrismus noch gemehrt (kaum erst begründet?) haben und geht vielleicht mit der unten näher zu besprechenden Wendung zur Expansion zusammen. Der Kultur- und vielleicht Ideentransfer aus dem Süden zu den Kelten war also wichtig, als Samenkern, aber umfangmäßig gering. Er zersetzte das keltische System nicht, vielmehr wurde er von ihm zersetzt und in getrennte Anregungen ohne Zusammenhalt umgewertet, die ein ganz neues System ergaben. Eine gewisse partielle Eigengesetzlichkeit kann auch in einer der Arten von Peripherie am Werk sein. Bei den Kelten aber handelte es sich um volle kulturelle und entwicklungsgeschichtliche Autonomie, also um eine Zentralstellung ersten Ranges. Und dies in einem Gegenüber zum Süden, bei dem beide Teile eine so große kulturelle

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Aus der Fülle vorzüglicher Darstellungen nenne ich hier zuerst das umfassende, grundlegende Werk von P.-M. Duval (1978); eine unschätzbare Zusammenfassung bildlicher Zeugnisse gibt H. Birkhan (1999a). Dazu die in Anm. 100 zitierte Literatur und Varagnac/ Fabre 1964; Joffroy 1964, 125 ff.; Duval/Hawkes 1976; Megaw/ Megaw 1990; Raftery 1990; Green 1995, darin bes. 345 ff.: The Art of the Celts (Beiträge von R. Megaw/V. Megaw, M. Jope, S. Champion) sowie Green 1996.

Aktivität entfalteten, dass man mit Recht sagen kann, dass sie nach völlig eigenen „Gesetzen“ handelten. Eine passive Autonomie der Kultur bewahrten sich die Germanen im 1. und 2. Jh. n. Chr. 9.3 La-Tène-Kunst Für uns am unmittelbarsten fassbar ist diese völlige Autonomie in der keltischen Kunst, die ideell von der des griechisch erleuchteten Mediterraneums gar nicht weiter getrennt hätte sein können. Hier fassen wir wieder eine Seite jenes Widerspruchs lebendiger Prinzipien, die bis in unsere Zeit Europa so reich und vielfältig machen: auch spannungsreich, aber auch harmonisch. Diese Kunst, obwohl sie in ihren Bildaussagen für uns schweigen muss, lässt uns im Verein mit späteren Zeugnissen ein völlig eigenes, fesselndes Menschenbild erahnen. In Letzterem liegt die innere Kraft (und zuletzt Schwäche) von La-Tène beschlossen. Es war dieses Menschenbild, das im Grunde allen äußeren Einflüssen, solange es möglich war, widerstand – und dann erlag. Wenn der später bezeugte, unerhörte Sagen- und Märchenreichtum Irlands und des westlichen Schottland und keineswegs geringer in Wales nicht erst eine spätere Schöpfung ist, darf man mit einer gehaltvollen und vielseitigen Religion, Mythologie und Heldensage rechnen, die eine bunte Fülle des Lebens umfasste und sich ebenso durch Extreme wie durch blühenden Einfallsreichtum auszeichnete. In der Tat kann nicht alles sekundär sein: Der Gundestrupkessel gibt Bilder, die ohne viele Sagen und Erzählungen kaum vorgestellt werden können. Bleiben wir noch bei der Kunst108 als einem Symptom und ebenso sehr als Träger der Ethnogenese. Für die Gesamtheit dieser Kunst, die als ein Gegenpol zu der der Griechen aufzufassen ist, habe ich versuchsweise den Begriff „Gegenwelt“ verwendet (Dobesch 1995, 18 f.)109. Der Weg der griechischen Kunst, schon weit vor der keltischen begonnen, ist umso charakteristischer für den griechischen Formwillen, als er von einer diesem Weg gerade entgegengesetzten Startposition ausging, in der nichts des Kommenden auch nur angelegt zu sein schien. Vor der archaischen

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In letzter Zeit ist ein ausgezeichneter Sammelband dieses Titels erschienen, der von T. Hölscher (2000) herausgegeben worden ist. In diesem Buch ist eine reiche Fülle historischer und kultureller Exempel vereint, die freilich nur zum Teil auf die Kelten oder generell die „Barbaren“ (wohl aber auf die Germanen) eingehen, was auch vom Umfang her kaum möglich gewesen wäre. Zu nennen sind darin die Beiträge von A. Dihle (183 ff.), A. Schnapp (205 ff.), R. Brilliant (391 ff.) geht vor allem auf die römische Sicht ein, ebenso P. Zanker (409 ff.).

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

Zeit war die Kleinplastik deutlich auf stereometrische, asketische Formen reduziert. Die Vasenbemalung folgte nur geometrischen Grundformen, war eher intensiv als in Inhalten phantasiereich und verhielt sich ablehnend sowohl gegen organische, „natürliche“ Gestalten (Tiere, Pflanzen) wie auch gegenüber figürlichen Szenen, und wo solche doch aufgenommen wurden, war die Herrschaft einer fast reinen abstrahierenden Stereometrie nur noch deutlicher. Weder das Organische noch das Prinzip des Plastischen erfreuten sich des Interesses dieser Kunst. Von hier aus geschah eine völlige Umwandlung der Prinzipien in äußerst mühevollen, wohlbedachten Schritten, arbeits- und gedankenreich und in immer neuen Versuchen und klarerem Hervortreten umstürzender neuer Ideen, bis die griechische Kunst der Bildhauerei und der Malerei das genaue Gegenteil des Alten erreicht hatte, so dass sie bis heute eine der äußersten Apotheosen des Plastischen, des Organischen und des Erzählenden in der Weltkunst blieb. Entscheidende Werke entstanden schon in der Archaik, ja in der zweiten Hälfte des 6. Jhs. war der Sieg schon gewonnen (erinnern wir uns etwa der höchsten Meisterschaft des Vasenmalers Exekias). Mit der Wende vom 6. zum 5. Jh. erfolgte eine nochmalige Steigerung in der Entfaltung der Klassik. Wir haben schon von den Handelskontakten Mitteleuropas zum griechischen Massalia wie zu den Etruskern gesprochen, welch Letztere den Entwicklungen plastischer, organischer Formen bei den Griechen folgten. Dass man griechische Werke wie den schon genannten Krater von Vix mit seinen figürlichen Reliefs zu schätzen wusste, ist nicht zu verkennen. Es mögen noch sehr viel mehr Prunkstücke und Prestigeobjekte in diesen Raum gelangt sein. Bekannt ist ja, dass man auch figürlich bemalte attische Keramik als vornehmes Stück zu werten wusste. Neben den Handel, der zusätzlich Wein und sogar Feigen nach Mitteleuropa brachte, und neben solche Keimelia (ob nun gekauft oder geschenkt) trat die punktuelle, aber enge Berührung mit dem Süden durch Söldner, die wohl – wie später Germanen – zum Teil in ihre gentile Welt zurückkehrten, reich an Erfahrungen, Erzählungen, Sold und kostbarer Beute. In der doch ruhigeren, gemessen verlaufenden Hallstattzeit, die erst ganz gegen ihr Ende mit einigen erregenden Neuerungen auf das Kommende vorauswies, hatte solches viel weniger zu bedeuten. Das entstehende La-Tène nahm mehr aus dem Süden auf – aber in welcher Weise! Technisch wären die La-Tène-Schmiede, die dann so kunstvolle, schwierige Werke schufen, zu einer annehm-

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baren Nachahmung dieser – wir betonen es nochmals: sehr geschätzten – Kunstwerke durchaus in der Lage gewesen110, wären vielleicht auch hierin fortgeschritten. Aber nichts dergleichen geschah. Es stellt sich die Frage, ob es ein Zufall ist, dass gerade gegen das Ende des 6. Jhs. v. Chr. und gleich danach, als das griechische Vorbild ins Unerhörte stieg, in Mitteleuropa der entscheidende Aufbruch zu La-Tène erfolgte, und zwar dem hellenischen Weg direkt zuwiderlaufend in das entgegengesetzte Extrem hinein; aber, was ebenso beachtet werden muss, in dem Gefühl für Plastizität eben doch über Hallstatt weit hinausgehend – auf südliche Anregung? In der neuen keltischen Kunst wurden organische Formen – ohne zu verschwinden – so weit aufgelöst und in anderen Zusammenhang transponiert wie nur irgend möglich. Es entstand eine funkelnde Zwitterwelt von teils geometrisch scheinenden, aber doch zugleich organisch bewegten Formen (ein Hauch von Anregung aus dem Süden?) und Symbolen, bei denen oft nicht zu entscheiden ist, wo z. B. die phantastisch geänderte Gestalt eines menschlichen Kopfes endet und das „Ornament“ (ein zu geringes Wort!) beginnt; und man sollte es auch nicht wissen, da keines der beiden jemals im anderen ganz aufgehoben ist. Dass die zugleich organische wie ornamentale, fast abstrahierte Palmette griechischer Vasenkunst, so anders sie ist, auf die Entstehung von La-TèneFormen eingewirkt hat, ist bekannt. Gelegentlich gab es rein geometrische – aber immer phantasievoll lebendige – Schmuckelemente, die mit Kreisen und Zirkelwendungen geistreich spielten; beliebter war die Spirale, die zugleich ruhte, sich einrollte und entrollte, ein Element steten Wechsels und steter Vieldeutigkeit. Während die griechische Kunst seit der Spätarchaik die Sagenmonster immer mehr vernatürlichte und bändigte, lebte die keltische Phantasie in solchen Ungeheuern doppelt auf. Vieles, fast alles, blieb bewusst mehrdeutig, so dass die enorme, überreiche Einbildungskraft der Kelten – ganz dem Hallstättischen und seiner würdigen Klarheit entgegengesetzt – sich unbeschränkt ausleben konnte. Alles schien ein Spiel zu sein und war doch sehr viel mehr; es ist dabei sehr wohl auch an einen religiösen und mythologischen Hintergrund zu denken, an ein geistiges Menschenbild. In dieser Kunst ist eine Art von Widerspiel, ein spannungsreicher Dialog von Formideen am Werk, in dem die Harmonie immer wieder neu errungen wird. Immer wieder sieht man in La-Tène-Arbeiten ein ganz eigenständiges, unverkennbares Formwollen, und dieses Wollen umfasste

Eines der Löwenköpfchen aus dem Grab von Hochdorf ist eine nicht so üble Kopie durch einen einheimischen Werkmeister.

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auch das Verlangen nach Bändigung und Entschiedenheit der Formen. Die ausufernde Phantasie verband sich meist mit strengster Formzucht, mit der Notwendigkeit der klar umschriebenen Gestalt, hinter der ein disziplinierter Wille stand. Da gab es in der Regel keinen laxen Kompromiss; so unerhört die höchst bewegte, lebendige Phantasie dieser Kunst war, sie führte nie zu einer phantastischen Formlosigkeit, im Gegenteil, sie war unerbittlich geformt. Wirklich Ungeformtes findet sich selten, das „Spiel“ misslang fast nie, und das ist ein Zeichen, wie ernst es war. Die hallstättische, auch in der Situlenkunst gegebene Neigung, den Figuren immer ein Maß an nicht ganz festgelegter Oberfläche und an Umriss zu belassen, was durchaus kein künstlerischer Mangel ist, sondern ein Wille zur Unverbindlichkeit111, ist meist verschwunden. Wie viel an dieser Änderung beruht auf dem Vorbild klarster und entschiedenster Formen, voll von Zucht, wie die griechische Kunst (und ihr etruskischer Ableger) es aufwies? Etwas andere Wege, aber im selben Geist, ging die spätere Münzprägung der Kelten. Hier hatten sie, besonders durch heimkehrende Söldner, griechische Originale in all ihrer Frische und Herrlichkeit unmittelbar und zahlreich vor Augen und in Händen, und zwar – ganz anders als „Erlesenes“ wie der Krater von Vix – allen zugänglich. Auch hier gilt, dass keltisches Kunsthandwerk durchaus imstande gewesen wäre, gute Nachahmungen zu schaffen. Zum Teil geschah das, aber es kam ganz anders: Alles verwandelte sich keltischen Künstlern unter den Händen. Die organischen, klassisch-harmonischen griechischen Formen wurden schrittweise ins Phantastische aufgelöst, „zerlöst“, einmal mehr, einmal weniger, fast individuell. Sie nahmen oft eine wilde, wirbelnde Bewegtheit an oder wurden zu einem Gewirr von kurzen Strichen und Schlingen; da konnte, wer wollte, noch einen menschlichen Kopf in dem scheinbaren Durcheinander geheimnisvoll erkennen, wer aber nicht wollte, eben nicht. Das Ambivalente in der Verve bewegter Linien von anscheinender Kunstlosigkeit muss offensichtlich intendiert gewesen sein: Es tritt zu oft und zu deutlich auf. Verformte Köpfe wären bisweilen noch als ungenügendes Können aufzufassen, aber was in diesen Münzbildern geschah, brauchte an Mühe und Sorgfalt wesentlich mehr, als dies bloße Kopien getan hätten, es war viel „teurer“, kostete viel mehr Kraft. Schon aus den Münzen spricht nicht ganz dasselbe Formgefühl wie etwa keltische Schmiedearbeiten es hatten; doch könnte dies noch einen Dialekt derselben Sprache bedeuten. 111

Unüberbietbar reich das Bildmaterial und die Deutungen im Text bei V. Kruta (1993).

Aber weit darüber hinaus müssen wir anerkennen, dass die La-Tène-Kunst als Ganzes über ein eindrucksvolles Repertoire an verschiedenen Ausdrucksmitteln, „Stilen“, verfügte. Das Spärliche, was uns an Holzschnitzereien erhalten ist, besticht wieder durch seine Eigenart und abweichende Geformtheit. Dass man dreidimensionale Formen voll beherrschte, zeigt sich an manchen Kopfstücken der Torques oder an Mischtieren wie denen der Schnabelkanne vom Dürrnberg, hier noch gebannt in die abstrakt-organischen Formen der Kleinkunst. Die Kelten hatten ein künstlerisches Verständnis auch für die Plastik. Sie versuchten sich ebenso in größeren Vollplastiken, wobei sie mit sicherem Instinkt wieder andere Formen als z. B. in den Goldschmiedearbeiten wählten, da das Prinzip der bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Kleinformen sich kaum ins Große übertragen ließ. Es gelangen Steinplastiken einer demgemäß nicht so scharfen Gestaltung, aber von packender, fast erschreckender Expressivität. Ohne uns hier auf Datierungsfragen einzulassen (vor oder nach Caesar?), es gehen die wenigen uns erhaltenen, ein wenig größeren vollplastischen Götterbilder112 ganz eigene Wege anderer, ausdrucksvoller Eigenart, zum Teil sogar einer – immer keltisch bleibenden – Organik. Auch hierin zeigt die Ähnlichkeit der anregenden Grundidee und die völlige Eigenart gegenüber der südlichen Art der Vollplastik oder des Reliefs drastisch den Unterschied zwischen beiden Kulturbereichen. Und wieder anders verbinden die großformatigen Reliefs des Gundestrupkessels eine expressive Bewegtheit mit freierer Umrissgestaltung figürlicher Darstellung und Erzählungen. Die keltische Kunst war sehr reichhaltig und immer selbständig, sie war fast wie eine Sprachfamilie von Stilen mit vielen Einzelsprachen und Dialekten. Wir müssen La-Tène einen Pluralismus von Stilen zuerkennen, der jeweils an spezielle Aufgaben angepasst war und doch ein einziges großes Ganzes – wie die Instrumente eines Orchesters – bildete. Selbstverständlich ist auch die lokale Eigenart der Länder eines so großen geographischen Raumes zu berücksichtigen. Man erinnert sich ferner daran, dass auch im späteren irischen Kulturbereich das zu Recht weltberühmte Book of Kells (mit seinen expressiven, ganz flächigen, straff geformten Figurenseiten neben dem zuchtvollen Überfluss an „abstrakten“ Ornamenten), die Reliefs der Hochkreuze (und Verwandtes) und die herrlichen Schmuckbroschen nicht auf ein und dieselbe Ebene zu projizieren sind. Doch kehren wir in die Antike zurück. All diese Werke zeigen unverkennbar ein ganz eigenes Kunstwollen, ja ein 112

Für alle genannten Genera und Ausdrucksformen ist die beste Sammlung vorzüglicher Reproduktionen Duval 1978.

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eigenes Schönheitsideal. Gegenüber den Griechen handelte es sich nicht nur um eine völlig neue, äußerst seltsame Art von Schönheit, sondern auch um eine ganz andere Zielrichtung der Ausdrucksmittel und des Ausdrucks sowie der Aneinanderfügung von Gedanken und Formen: eine völlig andere Art des Ausgedrückten, des seelischen Inhalts. Diese oft erschreckende Eigenart, der völlig eigene Wille, setzte sich scharf ab von der Hallstattkultur und ging auch nicht die Wege der Situlenkunst. In allem aber blieb es eine völlig ungriechische, ja antigriechische Kunst, eine Gegenkunst gegenüber dem Mediterraneum schlechthin. Doch darf das Wort „Gegenkunst“ nicht an negative Abhängigkeit erinnern: Die Phantasie der Kelten sprudelte ganz aus ihren eigenen Quellen. Dass dieser scharfe Bruch des Empfindens just zu der Zeit erfolgte, als griechische Vorbilder ihre erdrückende Strahlungskraft gerade zum Höhepunkt des letzten Extrems der anderen Formkultur entfalteten, haben wir schon erwähnt. Die Frage nach der „Bewusstheit“ des Vorgangs bei den Kelten wird sich nie beantworten lassen. Aber dass die elementare, unversöhnliche Gegenpoligkeit zwischen beiden Kulturen ein Zufall ist, ist wenig wahrscheinlich. Es ist dies eines der auffälligsten Beispiele einer fruchtbaren kulturellen „Verweigerung“ in der antiken Geschichte. Die aufs herrlichste erblühte, unerhörte griechische Kunst, bei den keltennahen Etruskern voll wirksam, wurde – bei unleugbarer Verwertung von Anregungen – von der La-Tène-Kunst auch später stets abgelehnt, ja fortgestoßen, ihre Organik und Harmonie humaner Formen blieb den Kelten zutiefst fremd. Fast möchte man sagen, dass, anders als in der Hallstattkunst und bei deren Vergehen, die werdenden Kelten gegen eine übermächtige Strahlungskraft ihre eigene kulturelle Autonomie durch Gegenleistung bewahrten, neu schufen, fast wiedergewannen. Liegt hier schon ein rein geistiger Vorgänger der späteren politischen Wendung gegen den Süden vor? Sie wurden und waren in viel höherer Intensität als die Hallstattkultur ein völlig eigenes und höchst aktives Zentrum, und das, so scheint es, auf allen Ebenen historischen Seins und Wirkens. Dieser Weg war keineswegs selbstverständlich. So blieben etwa die Skythen ihrer skythischen Kultur stets treu, aber importierten in größtem Umfang griechische, organisch-

plastische Goldschmiedekunst von höchster Vollendung. Ihre eigenen Versuche in figürlicher Goldarbeit erreichten kaum ein höchstes Niveau. Die Kelten aber wollten solche griechischen Werke überwiegend gar nicht hereinholen, so dass sie ein unkeltisches Ganzes hätten bilden können. Selbst die exzessive keltische Freude an buntem, protzendem Schmuck scheint, soweit die bisherigen Funde ein Urteil gestatten, zu keinem sehr nennenswerten Import klassischen, spätklassischen und hellenistischen Gold- und Silberschmucks geführt zu haben, weder in Gallien noch in Mitteleuropa. Und doch war gerade hellenistischer Schmuck prahlerisch, formenreich und in griechischer Weise phantasievoll, in einem Ausmaß, das einem modernen Urteil nach an Vulgarität grenzte113. Versetzen wir uns in die Welt der Griechen und ihrer griechisch beeinflussten Nachbarn, so versteht man, dass diese keltische Haltung in deren eigener subjektiver Wertung ein ganz negativer Primitivismus gewesen sein muss, ja eine Zerstörung der Formung schlechthin, eine Barbarisierung südlicher Form- und Ideenkultur. Hier fassen wir wieder eine Wurzel und ein wesentliches Element des Barbarenbegriffes schlechthin: das ganz Andere, das Unverständliche, mit Recht Unbegreifbare, das Chaos und die Formvernichtung an der Stelle einer humanen Ordnung. Das galt natürlich gegenüber allen urgeschichtlichen Kulturen Europas, aber die Kelten waren erst geistig und dann politisch viel aggressiver. So gilt bei La-Tène in besonderer Weise, was auch bei anderen „barbarischen“ Werken galt: Die Griechen und Römer nahmen die Kunst der Kelten, die wir so hoch schätzen und genießen, als solche gar nicht wahr. Es war schon der Höhepunkt an Beachtung, wenn man eigens vom Fehlen der Kunst sprach. Lucan (3, 412 f.) sagte von gallischen Götterbildern, zumindest von besonders scheußlichen: „arte carent“114, das heißt, sie lassen kaum Spuren menschlicher Bearbeitung erkennen. Vielleicht hat er nur völlig formlose Bilder wie Holzstrünke gemeint; denn dass andere gallische Werke wenigstens irgendeine Form hatten, war ja nicht zu übersehen. Aber um die Ignorierung eben dieser Form (die eine Fertigkeit, „ars“, ist, nicht Kunst in unserem Sinne) geht es ja. Unter all den unerhörten lucanischen Verbrechen Caesars hören wir nichts von einer Zerstörung von Kunstwerken in Gallien.

Green 1990, 102:“Always hovering on the very edge of ostentatious vulgarity, yet never quite succumbing, Hellenistic jewelry“. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Andreas Hofeneder (Wien). Lukian, Herakles 1–4 spricht von einem Gemälde mit einer Darstellung des Herakles, das er in Gallien gesehen habe. Wenn er

nicht die gesamte Passage um seiner Argumentation willen (die rhetorische Macht auch noch des alternden Redners) fingiert hat, so ist höchstens an provinzialrömische Kunst zu denken. Wichtig zu allen Fragen keltischer Bilddarstellung jetzt Schnapp 2000, 205 ff.

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Aber auch die anderen antiken Autoren schweigen. Selbstverständlich bleibt unser Urteil vor allem auf die (oft sehr reichlichen) Materialien beschränkt, die uns von Poseidonios bekannt sind, und ebenso auf die anderen uns noch vorliegenden Autoren. Poseidonios nennt Tierfiguren als Schmuck keltischer Schilde und ähnlich bei Helmen (Diod. 5, 30, 2.). Er sah sie als Objekte, aber er sah auch nicht mehr als das. Es bleibt eine Tatsache, dass er in seiner fein einfühlenden Schilderung der keltischen Psychologie und Kultur nirgends auch nur ein Wort übrig hatte für eine Kunst, in der wir eine hohe Raffinesse und ein Zeugnis einer großen Seele erblicken. Er war, wie seine Schilderungen zeigen, Gast hoher Adeliger im noch freien Gallien, er nennt ihre Schädeltrophäen, aber der Torques und Becher, sicher oft aus Gold, die er bei Gastereien sehen musste, gedenkt er nicht in dieser Weise. Dabei hätte diese Kunst mit ihren kühnen, extravaganten Formen und ihrer reichen Phantastik für eine Schilderung der keltischen Psyche, wie er sie mit solcher Hingabe schrieb, bedeutsam werden können. Er sah offenbar nur die Barbarei dieser Werke, nicht ihre Eigenheit. Dabei können wir Heutige uns eine ethnographische Schilderung der Kelten ohne Eingehen auf ihre Kunst überhaupt nicht mehr vorstellen115. Genauso schweigt Caesar in allen commentarii mit so vielen einzelnen Nachrichten eisern über die gallische Kunst. Dabei hätte er gerade hierin Poseidonios vorzüglich übertreffen können. Beim ethnologischen Vergleich, der die Gallier klar von den Germanen unterscheiden soll, kommt ihm nicht die Idee, Schmuckformen und Kunstunterschiede, die es ja gab, heranzuziehen. Das wird dadurch noch unterstrichen, dass er keineswegs blind war für einen gewissen ästhetischen Reiz, der die Oberfläche des murus Gallicus auszeichnete116: Das Aussehen einer Wand, das durch Abwechslung von Balken und Stein in geraden Linien und klar angeordnet entstand, war dem Empfinden des Mediterranen unmittelbar zugänglich und hielt sich innerhalb seiner Kategorien. Übrigens hatte dieser Anblick nichts mit dem eigentlichen La-Tène-Stil zu tun und beweist nur die Vielfalt keltischer künstlerischer Ausdrucksformen. Caesar sah die Mauern und beschrieb sie; die für uns viel wichtigeren und anziehenderen Kunstleistungen waren für ihn ohne jedes Interes-

se. Die relative „Schönheit“ des Oppidums Avaricum legt er gallischen Sprechern in einer Extremsituation in den Mund (Caes. b. G. 7, 15, 4)117. Diodor, der nicht in allen Nachrichten über die Geschichte der Kelten von Poseidonios abhängt, hat über Kunst nichts zu sagen, zumindest entnahm er nicht solches seinen Quellen. Pompeius Trogus rühmt die gallische Kultur, die freilich ganz von Südgallien und dessen Griechen ausging (s. u.); er schwärmt von den Kelten Oberitaliens als großen Städtegründern, aber – zumindest im Auszug des Justin (20, 5, 8) – von Kunst und Kunsthandwerk fällt kein Wort. Strabon schöpft sowohl aus Poseidonios wie aus eigener Erkundung. Eindrucksvoll schildert er in 4, 4, 5 p. 197 die Schmuckfreude der Gallier, ihre auffallend gefärbten Kleider, ihre goldenen Halsketten und Bänder um Handwurzel und Arm118. Diesen Tatbestand als Teil keltischer Psychologie nahm er ohne weiters wahr; weiter ging das Interesse nicht, Beobachtungen keltischer Phantasie bei eben diesen Torques usw. fanden nicht statt. In ganz paralleler Weise scheint, nach dem totalen Schweigen der Quellen zu schließen, Poseidonios auch alles glatt ignoriert zu haben, was er an Sagen, Mythen und Heldenerzählungen doch so leicht hätte erfragen können. Auch Caesar (b. G. 6, 17, 1–2; dazu auch ebd. 6, 18, 1) schweigt darüber völlig, während er von den Göttern kurz spricht, und für die Inhalte druidischer Lehren nennt er wenigstens die Sachbereiche – ausschließlich naturphilosophischer Art (Caes. b. G. 6, 14, 5–6; vgl. immerhin noch ebd. 6, 18, 1). Historisch interessante Angaben der Gallier über die reale Vergangenheit (oder was er dafür hielt) greift er auf, wo er sie braucht (Caes. b. G. 6, 24, 1). Welche Möglichkeiten wären dem Kelten Pompeius Trogus offen gestanden, aber es erfolgte anscheinend nichts (dazu auch noch unten). Überhaupt scheint sich antike Erkundung, selbst als Gallien und Britannien bequem bereist werden konnten, um keltische Sagen fast überhaupt nicht gekümmert zu haben – so wie in diesem Sinne die Gallier selbst (s. o.). Man sieht aus all dem, dass die grundlegende, unüberwindliche Gegensätzlichkeit der Kulturen selbst dem genialen Poseidonios, der an warmherziger Aufgeschlossenheit alle vor ihm übertraf, unübersteigbare, mediterrane Schran-

Welche Möglichkeiten wären in der Schilderung der üppigen Pracht des Luernios/Bituitos (Poseid. FGrH 87 F 18; vgl. Strab. 4, 2, 3 p. 191) oder der des keltischen, hochadeligen Gesandten (App. Celt. 12, 2–3) gelegen gewesen. Caes. b. G. 7, 23, 5 hoc cum in speciem varietatemque opus deforme non est alternis trabibus ac saxis, quae rectis lineis suos ordines ser-

vant …. Die Litotes “deforme non est“ dient als verstärkende Heraushebung. Siehe auch oben 23 f. Für Cicero (prov. 29, siehe oben 24) waren aber alle hässlich. Vielleicht aus Poseidonios, weil er diesen Schmuck als Zeichen keltischer Mentalität anführt.

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ken setzte. Die Kunst ist also nicht das Einzige, was Griechen und Römer nicht beachteten. Dass es auch anders sein konnte, lehrt Ägypten. Schon Herodot schildert die Ägypter als großes Kulturvolk, und die Rückführung uralter Weisheit auf dieses Land war gang und gäbe. Aber kein Geringerer als Platon begeisterte sich philosophisch (und in rein philosophischer Ästhetik) gezielt an ägyptischer Kunst. Die war ungriechisch genug, aber sie war eben organisch in ihren Bildern von Menschen und Tieren. In den Nomoi 2, 1, 3 (656e–657a) lobt er die Harmonie schöner Körperhaltungen und Melodien, und dass auch in der bildenden Kunst erstere streng verpflichtend seien, ohne Abweichungen; daher seien die vor buchstäblich 10.000 Jahren gefertigten Kunstwerke der Ägypter weder schöner noch hässlicher als die heutigen. Diese griechisch-römische Blindheit ist umso auffälliger, weil anknüpfend an Ägypter und Chaldäer, an persische Magier und indische Gymnosophisten, die Griechen auch noch in römischer Zeit durchaus bereit waren, den Druiden große philosophische Weisheit zuzugestehen (auf Grundlage der Tatsachen, die Caesar berichtete). Denn solches war mit den Kategorien griechischen Kulturbewusstseins vereinbar. Die bildende Kunst der Kelten war ein „Ding an sich“, das in diese Kategorie gar nicht hineinging. Ein klein wenig parallel, in unserem eigenen Kulturkreis, ist die Tatsache, dass Epochennamen wie „Gotik“, „Barock“, „Rokoko“ und „Biedermeier“ sich von Schimpfnamen herleiten: „barbarisch“, „unförmig entstellt“ usw. Natürlich war man in unmittelbarer Verwandtschaft nur selten gänzlich blind, aber die gleichwertige Schönheit, die für uns aus den Werken spricht, war verborgen. Im 18. Jh. wurde ein Teil der Glasfenster der Kathedrale von Chartres beseitigt, um das Innere durch weiße Fenster aufzuhellen, das romanische Wunderwerk der Kirche von Cluny wurde unter Napoleon fast gänzlich demoliert, um Pferdestallungen zu bauen, der Dom von Palermo erlebte eine verwüstende klassizistische Neuformung vor allem des Inneren. Goethe und seine Zeit entdeckten das Münster von Straßburg neu, so wie Adalbert Stifter den Altar von Kefermarkt. Aber Stifter neigte dazu, das Barock zu verabscheuen. 9.4 Einige weitere Besonderheiten der La-Tène-Kultur Kehren wir zum Anfang der politischen Geschichte der Kelten zurück. Wir sahen, wie Hallstatt und das Mediterraneum einander zum weitaus größten Teil ignorierten. So wie Hallstatt war auch der ursprüngliche Bereich des La-Tène als geographische Peripherie des Mittelmeeres aus mediterraner Sicht zu bezeichnen.

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Wir sahen ebenfalls, dass das neue La-Tène ein unvergleichlich aktiveres Zentrum war als sein Vorgänger, aber solange dieses neue Zentrum für sich blieb, änderte sich am alten politischen Zustand nichts. La-Tène war zwar eine Art Gegenkultur, aber nur wenn man es dezidiert mit dem hellenisch-etruskischen Bereich vergleicht. Beide Kulturen lebten sehr wohl ganz aus sich heraus, und, einmal entstanden, bedurfte La-Tène keines Gegenübers, um es selbst zu sein. Es waren Gegenpole ohne Gegnerschaft. Zu den „Verweigerungen“, die La-Tène erst viel später, und auch dann nur teilweise ablegte, gehören das Städtewesen und die Schrift (s. o.). Die Kelten scheinen die Idee der „Stadt“ im Sinne einer befestigten Großsiedlung zunächst weit nachdrücklicher abgelehnt zu haben, als es die Hallstattzeit tat. Wahrscheinlich schien ihnen ein solcher Tatbestand mit den stets ganz personalen keltischen Stammes-, ja Lebensstrukturen in ihrer jederzeitigen, unmittelbaren Konkretheit unvereinbar zu sein. Dass man das Prinzip „Stadt“ sowohl in Massalia wie bei den Etruskern, bis hinein in die Poebene, vor Augen hatte, spielte keine Rolle. Was sich nicht akkommodieren ließ, wurde „verweigert“. Die Kelten von La-Tène fanden erst viel später wieder zu einem Städtewesen, aber einem eigener Prägung. Völlig abgelehnt wurde auch die Schrift, deren Prinzip ihnen von Massalia und Italien bestens bekannt gewesen sein musste. Erst sehr lang danach, in Gallien, akzeptierte man es, aber nur für Niedriges, Alltägliches (Caes. b. G. 1, 29, 1; 6, 14, 3). Es ist aufschlussreich, dass man damit sozusagen zur Erfindung der Schrift in Sumer zurückkehrte: Denn sie entstand dort zuerst nur, um das, was der Gedächtniskultur, des Auswendigkönnens und der wissenden Weitergabe nicht würdig war, für kürzere Zeit festzulegen, nämlich um die Buchhaltung zu erleichtern. 9.5 Ausbreitung der La-Tène-Kelten Wie lange blieben die La-Tène-Kelten einigermaßen ruhig (natürlich nie ganz)? War die erste Aktivität bis tief ins 5. Jh. v. Chr. hinein noch vor allem nach innen, der Ausarbeitung der neuen Kultur zugewandt? Hat die Wendung zur Ausbreitung (wenn es sie als klare Wendung überhaupt gegeben hat) mit einem weiteren Schub der Ethnogenese zu tun? Vielleicht erlaubt einmal die Archäologie mehr konkrete Vermutungen, derzeit erlaubt sie keinerlei Aussagen. Was hier neu entstanden war an innerer Kraft, an geistiger, kultureller Bedeutung und an Energie, war allem „barbarischen“ Europa rundum überlegen; seit Stonehenge und den Megalithen oder der Nordischen Bronzezeit hatte es hier ein solches Phänomen nicht mehr gegeben. Die Kelten mussten – natürlich ohne solche historischen Rückerinne-

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rungen – sich ihrer Superiorität sehr wohl bewusst werden. Vor allem sind – nicht nur bei „urgeschichtlichen“ Kulturen – ein solches Dasein als neues Zentrum und der Optimismus des großen Aufbruchs ohne Gefühl der kriegerischen Überlegenheit kaum denkbar. Und da die Mentalität eine der wesentlichsten Ursachen für reale kriegerische Stärke ist (vgl. Dobesch 2001c, 674 ff.), waren keltische Heere jahrhundertelang ihren Feinden tatsächlich überlegen. Die keltische Expansion betraf ja, zusammenfassend gesehen, zum allergrößten Teil die „barbarischen“ Länder Europas, nur ein verhältnismäßig kleiner Teil rückte ins Mittelmeergebiet ein. Andererseits konnte gerade angesichts der unvergleichlichen Qualität und Dynamik des neuen Seins die schnelle Ausbreitung von La-Tène auch als freiwillige Akkulturation vor sich gehen, namentlich bei ohnehin sprachverwandten Stämmen. Ob so oder so, die Hallstattkultur scheint dahingeschmolzen zu sein wie der Schnee im Frühling. Die Latènisierung zog immer weitere Kreise. Nur die Vorläufer der späteren Germanen taten nicht mit, trotz mannigfacher Anregungen (grundlegend Birkhan 1970) breitete sich die neue Kultur in deren Kerngebieten nicht aus. Das ist ein bemerkenswerter Fall von „Verweigerung“. Für Herodot, etwa zwischen 450 und 430 v. Chr., waren die Kelten ein völlig nebensächliches Phänomen. Das erlaubt keine sicheren Aussagen für die Lage in Mitteleuropa, ist aber doch wohl ein Hinweis, vielleicht sogar eine Andeutung, dass die wesentliche Expansion auch in Mitteleuropa noch nicht begonnen hatte. Im 4. Jh. stellen beim Historiker Ephoros die Kelten bereits einen wichtigen Faktor in der Ethnographie Europas dar. In die Zwischenzeit darf man mit Vorsicht den großen Aufbruch zur Expansion setzen. Das neue Zentrum, weit „zentraler“ als die Hallstattkultur je gewesen war, wandte sich folgerichtig auch aggressiver gegen die Außenwelt. Das neue Selbstgefühl entlud sich in einer Kriegsbegeisterung, in einer Energie, Initiative und Aktivität, die für lange Zeit allen anderen überlegen waren. Gut fassbar wird uns das dort, wo es unmittelbar den mediterranen Raum und damit das Gebiet schriftlicher Überlieferung erreichte. Gegen 400 v. Chr. brach die endgültige Keltenwelle über die Poebene herein, baldigst bis gegen Rom ziehend, zur Zeit Alexanders d. Gr. (336–323) waren die Kelten schon an der Adria bis hin zur unteren Donau

spürbar, nach dem Zeugnis des Historikers Theopomp vielleicht bis ins mittlere Dalmatien119. Um 280 v. Chr. brach ein furchtbarer Sturm über Makedonien, Griechenland und Thrakien herein, der sich bis ins zentrale Kleinasien fortsetzte. Man gewinnt den Eindruck, als wäre die nach außen gewandte Kraft des Keltentums bis ins 3. Jh. hinein immer noch gewachsen. Weder Hallstatt noch der Situlenbereich hatten dergleichen auch nur erträumt, eine solche Kraft und Verwegenheit hatte es, von Europa kommend, für den Mittelmeerbereich seit dem Seevölkersturm (mit seinen Auswirkungen mindestens bis Sizilien und Sardinien) des 12. Jhs. v. Chr. nicht mehr gegeben120. Die Kimmerier der archaischen Zeit waren aus der Welt der Steppennomaden gekommen. Im zentralen und westlichen Europa können – ähnlich wie später bei den Germanen – durchaus auch andere keltische Stämme von Wanderern überlagert, durchstoßen, überrollt oder vertrieben worden sein. Geschah das etwa im österreichischen Alpenvorland? Durch den jähen Aufstieg von La-Tène konnten umliegende „keltoide“, „protokeltische“ Bereiche in Kultur oder Krieg zunächst peripherisiert worden sein. Südfrankreich wurde, offenbar durch Zuwanderer, weitgehend in ein Keltenland verwandelt, Westfrankreich nördlich der Garonne bis an den Ozean wurde keltisiert – oder sollte man (auch) „latènisiert“ sagen? –, schließlich auch die britischen Inseln. In Mitteleuropa umfasste die keltische Welt nicht nur Böhmen und (seit wann?) die Ostalpen, sondern mehr oder weniger geschlossen die pannonische Tiefebene bis über die Donau hinaus und bis Belgrad, dazu Gebiete an der nördlichen Adria. Da natürlich nie „die Kelten“ wanderten, sondern konkrete Gruppen, Stämme, Gaue, Gefolgschaftsverbände usw., die seit dem Augenblick ihres Aufbruchs eine eigene Wehrfähigenversammlung und konkrete Anführung hatten (also eine Art Staatlichkeit), verpflanzten sie, wenn sie sich irgendwo länger aufhielten oder gar ansiedelten, in den neuen Raum ein keltisches „Zentrum“. Vielleicht liegen die tieferen Wurzeln in einer Stammesstruktur, die labil genug war, um meist eine Trennung von den Wegziehenden erfahren zu können (nur „können“). Es war ein Vorgang genau dieser Art, als sich 186 v. Chr. rund 12.000 keltische Wehrfähige,

Theopomp (FGrH 115 F 40) erzählt von einem Überfall von Kelten gegen die Ardiaioi. Jacoby reiht das Fragment in die Zeit zwischen 359/58 und 357 v. Chr. ein. Strabon (7, 5, 5 p. 315) bezeugt die Ardiaioi am Naron (heute Narenta/Neretwa in Herzegowina), nahe der Insel Pharos (heute Hvar, ein Stück südlich von Split/Spalato). Freilich wohnten dort vor ihnen die Nestoi und Manioi (Tomaschek 1895, 615). Wann die Ardiaioi dieses Gebiet besetzten, ist

schwer zu sagen. W. Tomaschek (ebd.) setzt den von Theopomp bezeugten Überfall in die Zeit um 380 v. Chr. Den eigentlichen Orient erreichten die Kelten freilich nicht. Sie brachen oder stauten sich schon zuvor an den Römern und den makedonischen Diadochenreichen. Auch war die Zahl der in den Südosten Wandernden keinesfalls groß genug für übertriebene Unternehmungen.

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sicher wenigstens zum Großteil mit ihren Familien (wie die Galater Kleinasiens) von ihrem Ursprungsstamm in den Ostalpen trennten und ad hoc eine neue, selbständige Einheit im Gebiet des späteren Aquileia schufen, wo sie sich auch ein Oppidum bauten (Liv. 39, 22, 67; 39, 45, 5–7; 39, 54, 1–55, 4; vgl. Dobesch 1980, 14 ff.). Dasselbe geschah beispielsweise bei fast jeder neuen Stadt, die in den drei großen griechischen Kolonisationen gegründet wurde, zum Teil auch bei phoinikischen Städtegründungen oder solchen der Etrusker. In der Kolonialzeit Europas war es lange anders, und die USA lösten sich nur durch einen revolutionären Akt von der britischen Krone. Auch die Gebiete des Mediterraneums, die keltisch besetzt wurden, wurden allsogleich eigene, freie Zentren; Oberitalien scheint nie von der riesigen Keltiké jenseits der Alpen abgehangen zu sein (Verbindungen bestanden natürlich) und war seinerseits ein Raum von getrennt handelnden Keltenstämmen. Die Scharen in Griechenland und Makedonien agierten ganz auf eigene Faust, ebenso erhoben die Galater Zentralanatolien sofort zu ihrem eigenen, alleinigen Zentrum. Aus Britannien und Irland wurden nie Filialen der Kelten des Festlands121, ja sie entwickelten durchaus endozentrische Kulturaktivitäten. Die Gallier der Zeit Caesars hatten anscheinend vergessen, dass der größte Teil Galliens erst sekundär zu Keltenland geworden war. Sie fühlten sich ganz als alt und eigenständig und versuchten sogar, sich gegenüber den ostrheinischen Kelten als das Primäre darzustellen (Caes. b. G. 6, 24, 1). All dies liegt im Wesen des Keltentums, sich seit seinem schöpferischen Aufbruch als eine Art „diffusen“, überall anwesenden Zentrums zu erleben, aber nicht im Sinne einer Verbundenheit, sondern völlig polyzentrisch. Die Abstammung der Gallier von der Unterweltsgottheit, der Erdtiefe, konnte in diese Richtung wirken. Zunächst ist zu beachten, dass Caesar sie ausdrücklich als Lehre der Druiden bezeichnet122, die zwar offenbar in ganz Gallien galt, von der die Gallier aber sagten und wussten, dass sie speziell druidischer Herkunft war; also doch wohl nicht eine Überlieferung, die vor der Gründung des Ordens bestanden haben muss, und ferner eine Lehre, die keineswegs automatisch in alle Keltengebiete außerhalb Galliens projiziert werden muss. Ferner kann eine solche Abstammung überall gelten,

da die Erdtiefe und ihre Mächte überall sind. Natürlich nährten die Druiden Britanniens eine solche Überzeugung für ihre eigenen Stämme. Aber daraus folgte offenkundig nicht, dass die Festlandskelten der britannischen Tiefe entstammten, und es muss zugegeben werden, dass die Auffassung von der „Chthonie“ jederzeit zu einer von „Autochthonie“ werden konnte. Keltischem Wesen der Aufspaltung, wie wir es gerade geschildert haben, kam das entgegen. Mit der Besetzung von Teilen der mediterranen Welt und den von Galatien und Oberitalien aus betriebenen systematischen Plünderungen schufen sich die Kelten selber aus überströmendem Kraftgefühl eine volle Bezogenheit zu der Mittelmeerwelt. Diese selber geschaffene Konfinität in einzelnen, aber sehr wichtigen Bereichen zwang sie zur machtmäßigen Auseinandersetzung mit den mediterranen Völkern, ja ihre Raubzüge suchten diese Konfrontation in herausfordernder Weise. Die Hallstattkultur hatte solches, wie gesagt, nie gewollt. Damit war der erste Schritt zur Verflechtung Binneneuropas mit den Kulturen und Reichen der Mittelmeerländer getan, zu einem Zusammenwachsen, das ein welthistorisches Faktum wurde. Die Initiative ging hier ausschließlich von den Kelten aus. Sie wollten die reiche Welt des Südens nicht mehr ignorieren. Der Bogen spannte sich von der Vertreibung der Etrusker Oberitaliens und dem Brand Roms über viele Geschehnisse und durch die Jahrhunderte hin bis zur römischen Eroberung Galliens (dann Britanniens) und der Länder bis zu Donau. Das war freilich Gedankengut Caesars, der selber völlig frei solche Entschlüsse gefasst hatte. Die Rolle der Kelten für das Werden der römischen Macht darf übrigens nicht gering geschätzt werden. Zwar war Rom zuerst durch sie schwer getroffen. Aber wenige Generationen später war die ständige Gefahr verwüstender Einfälle vielleicht mit ein Motor der römischen Machtbildung, besonders aber ein Motiv der italischen, vor allem der mittelitalischen Bauernschaft, sich auch innerlich einem Rom anzuschließen, das die einzige Macht war, die solches wirksam bekämpfte. Dass die Samniten und Etrusker in ihrer Verzweiflung das Bündnis mit dem Teufel suchten (295 v. Chr.), war die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Aber etwa bei Telamon (225 v. Chr.) war es nur Rom, das Schutz gegen die bittersten Feinde organisieren konnte, der feste Macht-

Wenn nicht lange vor Caesar der festländische Suessione Diviciacus zugleich auch einen großen Teil Britanniens beherrschte (Caes. b. G. 2, 4, 7), so ist das natürlich kein Widerspruch dazu. Caes. b. G. 6, 18, 1 Galli se omnes ab Dite patre prognatos praedicant idque ab druidibus proditum dicunt. Gegen moderne Keltenphantasien ist ausdrücklich zu betonen, dass es sich dabei um einen männlichen Vater und nicht um eine “uralte“ Muttergottheit der Erde handelte.

Überhaupt fällt auf, dass Caesar bei seiner – freilich sehr knappen – Übersicht über die Götter der Kelten das weibliche Element keineswegs hervorhebt und auch nichts von einer göttlichen Mutter sagt. Nun brachte er diesem Aspekt der keltischen Religion – wie auch der germanischen! – ein geringes Interesse entgegen, so dass seine Berichte vorsichtig gelesen werden müssen. Immerhin aber geht aus ihnen hervor, dass ihm nichts Derartiges besonders auffiel.

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block Mittelitaliens rechtfertigte glänzend das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wurde. An diesem Machtblock ist ein paar Jahre danach Hannibal – in dessen Heer auch Gallier der Poebene mitzogen – gründlich gescheitert. Mit diesem südlichen Vordringen der La-Tène-Kelten wurde aus der parallelen „Gegenkultur“ von ganz eigener historischer Autonomie eine Mehrzahl höchst aktiver „Feindzentren“, Antizentren gegenüber den „Hochkulturen“. Hatte man bisher getrennt gelebt, ohne den Wert des anderen zu erkennen, so wurde aus dem fremden Menschenbild jetzt ein Feindbild. Es ist für den Historiker lehrreich, wie hier aus einer neuen Konfinität heraus zwei Kulturen, beide für sich Zentren, einander für eine missachtete, äußere Peripherie hielten: Die einen erblickten nur reines Barbarentum, die anderen sahen ihre als enorm empfundene, männliche Kriegerüberlegenheit über reichere, aber weniger tüchtige Völker. Das Wagnis, nach der eigenen barbarischen Umwelt nun auch noch die mediterrane Zone, soweit sie nicht keltisch besetzt wurde, tunlichst zu peripherisieren, ging natürlich nicht auf bewusste Pläne zurück (für die es übrigens auch keine Koordination hätte geben können). Aber Menschengruppen, die zu so etwas aufbrachen und es durchführten, müssen sich angesichts solcher Gegner, deren Macht und fremde Kultur man einigermaßen kannte (auch als Söldner), ihrer Lage doch irgendwie bewusst gewesen sein, so wie später die Kimbern besonders bei ihrem Angriff auf Italien. In unserer Sicht post festum erscheinen solche Taten natürlich absurd und letztlich aussichtslos, aber die gewaltige Selbsteinschätzung gerade bei Völkern, die in einem grundsätzlichen menschlichen Aufbruch stehen, neigt zur Megalomanie. Und man wird zugeben müssen, dass die kriegerische Überlegenheit doch geraume Zeit vorhielt. Das neue Menschenbild La-Tènes stand als hochgemuter „heroischer“ Gegenentwurf gegen die „Hochkulturen“. Beim Vergleich mit der germanischen Völkerwanderung fallen tiefgehende Unterschiede auf. Die Kelten erreichten mehr, indem sie Teile des Mediterraneums auf lange Dauer keltisierten; aber ihnen stand eben kein Riesenreich entgegen. Sie erreichten jedoch weniger als die Germanen, denn sie schufen keine großen Reiche auf Hochkulturboden, sondern blieben sogar auch völlig „urgeschichtlich“. Ein challenge echter Auseinandersetzung blieb ihnen erspart und wurde auch gar nicht gesucht. Oberitalien schied durch sie aus dem Hochkulturbereich aus, ein „Reich“ über das

restliche Italien wurde nie angestrebt, nie entstand eine Herrschaft am Balkan außer bei den „barbarischen“ Thrakern, und die Galater dachten nie daran, außerhalb ihres Siedlungsgebietes zu herrschen. Das erklärt sich daraus, dass hinter den Kelten kein hunnischer Druck stand, so dass nie so viele und so große Völker nach Süden zogen. Aber einen zweiten, nicht geringeren Grund für diese Zurückhaltung darf man darin sehen, dass ihnen das vorzügliche politische Instrument des „Großstamms“, das sich die Germanen ab 200 n. Chr. schufen, mit seinem stärkeren Selbstgefühl fehlte, ein Organismus, der sich in der Völkerwanderung als erstaunlich flexibel und erfolgreich in neuen Situationen bewies, auch wenn es natürlich Grenzen seiner Fähigkeiten gab. Aber die germanischen Reiche der Spätantike florierten durchaus und wurden nur von außen her zerstört: Odoakers Königtum durch die Ostgoten, deren Herrschaft und die der Vandalen durch die Byzantiner, das Westgotenreich durch die Araber. Auch das späte Langobardenreich fiel erst durch die Franken. Solche Großstämme waren also auch einer großflächigen Reichsbildung – nicht im Sinne keltischer Stämmereiche einer Hegemonie – fähig und einer Fortführung erheblicher romanischer Traditionen in der Kultur.

Germanische principes der Zeit des Tacitus bewahrten silberne Gefäße – bei ihnen Gesandtschafts- und Fürstengeschenke – als Zeichen der Ehre auf (Tac. Germ. 5, 3). Sie wurden wahrscheinlich in die einheimische Sitte der Gastmähler von Edlen und geehrtem Ge-

folge integriert (nach Tacitus ihrem Materialwert nach nicht höher geschätzt als Tongefäße), hatten aber für die germanische Kultur und ihr Menschenbild als Ganzes überhaupt keine Folgen, wirkten auch nicht als stilbildender Faktor einer großen eigenen Produktion.

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9.6 Weitere Auseinandersetzungen mit dem Süden 9.6.1 Oberitalien und Galater Wir haben von einem keltisch-urgeschichtlichen Menschenbild als gleichsam einem „Gegenentwurf“ zu den südlichen Hochkulturen gesprochen. Dies zeigt sich daran, dass die Kelten Oberitaliens die Annahme wesentlicher „Errungenschaften“ der einheimischen Bevölkerung, der Etrusker und des benachbarten Italien deutlich verweigerten. Wohl lehren die archäologischen Befunde, z. B. bei den Boiern, die partielle Aufnahme lokaler handwerklicher Traditionen, aber es wäre ja schwer vorstellbar, wie – in einem ganz unmenschlichen Purismus – solches hätte unterbleiben können. Die Kelten lebten vielmehr normal und einigermaßen pragmatisch, aber etwa die Schrift blieb an den Rand gedrückt, und gerade von südlichen Kunstelementen gilt dasselbe. Man übernahm, wenn auch ohne Eifer, vieles, was der eigenen Existenz kommensurabel war, aber die in sich geschlossene, eigenwertige Kulturidentität wurde bewahrt. Das ist natürlich zu trennen von konkreten Kulturgegenständen, etwa Beutestücken, die für den gehobenen Gebrauch als nobel und als Zierde gelten konnten123. Solches konnte

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

eventuell auch eingehandelt werden, wie es später bei den Galatern Kleinasiens geschehen sein mag. Diese verweigerte Akkulturation mit ihrem entschlossenen Fremdbleiben trug in der Antike sowohl den Galatern wie den Kelten der Poebene – beide als Räuber lange gefürchtet – einen schlechten Ruf barbarischer Niedrigkeit des Lebens ein. Sein Extrem fand dies in der Schilderung, die Polybios (2, 17, 9–11) über die Gallier der Cisalpina gibt und die als Bild rohester, abnormer, verachtenswerter Primitivität kaum übertroffen werden konnte. Ich habe das schon an anderer Stelle als das Feindbild, das die durch Generationen hindurch bedrohten italisch-römischen Bauern von ihren Peinigern hatten, zu erklären versucht. Eine eigene Studie darüber soll getrennt erscheinen. Diese Horrorvision einer fast kyklopischen, totalen Unkultur (an der anderen Seite kultureller Möglichkeit erinnern wir an die „spätgeborenen Titanen“ des Kallimachos) erlaubt uns zugleich einen Einblick in Genese, Art und Tendenz eines typischen Barbarenbildes, wie Bedrohte und Geschädigte es subjektiv entwickeln konnten, blind für das Wesen der Gegenseite. Das östliche Keltentum, weit entfernt von den Wurzeln seiner Kraft und ohne Menschennachschub, erhielt sich trotz seiner relativ geringen Zahl erstaunlich lange, wurde aber dann von den makedonischen Diadochenreichen gezähmt; mühevoll genug, namentlich wenn man deren zivilisatorische Überlegenheit bedenkt. Den letzten Stoß gaben ihm auch hier die Römer. Es ist ein oft wenig gewürdigtes Kapitel keltischer Lebenskraft und der von antiken Autoren betonten Gelehrigkeit, dass die Galater unter diesen Schlägen, ja in diesem völligen Bruch und Zusammenbruch nicht untergingen, sondern sich ein neues Dasein schufen und eine – wenn auch noch lange als Volkstum keltisch bleibende – Anpassung an die umliegende Kultur, eine echte Akkulturation leisteten, die ihnen schließlich die griechische Bezeichnung „Hellenogalater“ eintrug124, eine beachtliche Anerkennung. Wir beobachten hier jene seltsame Polarität keltischen Wesens, die wir unten wiederholt konstatieren müssen: ein festes Anklammern an das eigene Menschenbild und den eigenen Kulturtyp, ein erfolgreiches Verweigern, aber nach kriegerischer Unterwerfung eine erstaunliche Hingabe an die siegreiche Kultur; und doch meist darin ein Überleben. Auch die Galater blieben dann ein eigenes, einigermaßen freies Element; so versuchten sie Wege eines pluralen Königtums, das aber immer wieder das Streben nach einer alle Galater umfassenden Monarchie zeigte. Und als diese Initia124

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tiven durch Rom endgültig vereitelt wurden, blieben sie als römische Provinz seit 25 v. Chr. loyale und wertvolle Untertanen Roms und sprachen vielleicht noch in der Spätantike keltisch. Im Westen verlief die Entwicklung anders und doch parallel. Das westliche Keltentum zerschellte an Rom; und es wurde nicht in sinkender Zeit, sondern, was alle Achtung verdient, im Stadium höchster Kraft gebrochen. Als erste erlitten die Gallier der Poebene dieses Schicksal, trotz wiederholter Unterstützung aus dem riesigen Keltenland jenseits der Alpen, vor allem durch die Elite der erlesensten Blüten dortiger keltischer Kraft, der Gaesaten. Ich habe an anderer Stelle (Dobesch 2001d, 477) bereits geschildert, wie diese höchste Kraft der siegesgewohnten Gaesaten aus der Hand Roms 225 bei Telamon in Etrurien und 222 bei Clastidium in Oberitalien vernichtende Schläge hinnehmen musste, so dass mit seiner Pracht und seinem Sieg das Gaesatentum selbst unterging; wir hören nichts mehr von ihm, und als Hannibal vier Jahre nach Clastidium Südfrankreich und das Rhonetal durchzog, fand er kein Gaesatentum mehr vor. Es mag für ihn eine Enttäuschung gewesen sein, und in der Tat, wäre sein Heer durch solche Gaesatenmassen, wie sie 225 und 222 kämpften, verstärkt worden, hätte das seine Aussichten bedeutend verbessert. Ob irgendwo nördlich des Rhonetals irgendwelche Gaesaten sich noch lokal hielten, wissen wir natürlich nicht. Aber weder beim späten Kampf Roms gegen die Arverner noch bei Caesars Kriegen fällt auch nur der Name. Zugleich mit Gaesaten und dann noch einmal endgültig in den Jahren nach dem 2. Punischen Krieg warf Rom das Keltentum Oberitaliens völlig und für alle Zeit nieder. Auch hier gab es keinerlei zu Hilfe gerufenes Gaesatentum und auch keinerlei sonstige Unterstützung von jenseits der Alpen mehr; dort war den Kelten die Lust auf antirömische Abenteuer vergangen. Rom machte jetzt die Poebene zu einer völligen, inneren Peripherie, von Rom direkt beherrscht. Zur raschen Romanisierung siehe 76; 87. 9.6.2 Das keltische Europa und Rom; Politik und Handel Angesichts der Ruhe der Kelten jenseits der Alpen blieb auch Rom hier völlig ohne machtmäßiges Interesse, die dortigen Kelten konnten sich nach Belieben als Zentren fühlen, Rom errichtete hier keine Peripherie. Der Gastfreundschaftsvertrag mit den Haeduern ging bis ins 2. Jh. v. Chr. zurück (Dobesch 2001e, 755 ff.), wie weit, das wissen wir nicht, aber gerade diese Vertragsform musste keineswegs

Diod. 5, 32,5; lateinisch Gallograecia: Caes. b. c. 3, 4, 5; Liv. 37, 8, 4;Vell. 2, 39, 2, u. a. (Gallograeci).

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eine Peripherie bedeuten, da sie keinerlei kriegerische Verwicklung und damit auch keine politische Verflechtung implizierte. Massalias Handel hatte schon seit Jahrhunderten große Teile Galliens wirtschaftlich zu seinem Einzugsgebiet (Hinterland) gemacht, also in griechischen Augen sehr milde und rein wirtschaftlich peripherisiert. Ob oder wie lange die oberitalischen Kelten, besonders nach dem Untergang der dortigen etruskischen Städte, dem italischen Handel in das Gebiet jenseits und nördlich der Alpen Schwierigkeiten machten, ist hier nicht zu fragen, es bedürfte einer klaren Antwort von archäologischer Seite. Immerhin waren im Nordosten der Poebene die Veneter, in deren Nordwesten die Cenomanen traditionell romfreundlich. Auch war der Ertrag aus Durchzugszöllen von keinem zu verachten. Neben die Handelstätigkeit der jetzt zu Roms Machtgebiet gewordenen Etrusker war wohl steigend sonstiger italischer, besonders römischer Handel getreten. Mit der Unterwerfung der Cisalpina waren dem – nun von Angst um Zoll völlig befreiten – Unternehmungsgeist römisch-italischer Wirtschaftstreibender keine Grenzen mehr gesetzt. Wenn Diodor (5, 26, 3) berichtet, dass die Gallier einen Sklaven gegen eine Amphore Wein eintauschten und die gierigen römischen Händler das gern nutzten, so geht das wohl auf vorrömische Zeiten zurück, als die Gallier noch ununterbrochen gegeneinander Krieg führten (Caes. b. G. 6, 15, 1) und daher immer neue Sklaven in beträchtlicher Zahl gewonnen wurden; konkret dürfte wohl Poseidonios hinter dieser Nachricht stehen (um 100 v. Chr. oder etwas später s. u.). Die Intensität römisch-italischen Handels selbst ins weiter innen gelegene Mitteleuropa bezeugt uns Caesar. Er nennt den Weg über die Alpen125, den die Kaufleute mit großer Gefahr und großen Zöllen (Abgaben, Mauten) zu nehmen gewohnt wären (Caes. b. G. 3, 1, 2 iter per Alpes, quo magno cum periculo magnisque portoriis mercatores ire consueverant. Man beachte sowohl das Gewohntsein wie dessen Datierung schon in die Zeit vor Caesar). Von Griechen konnte hier keine Rede sein. Die in ebd. 3, 1, 1 genannten Völker weisen auf den Großen St. Bernhard. Hier wird uns einmal ein

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Er hat nur sein Gallien im Auge, über einen Verkehr nach Süddeutschland oder in die Ostalpen sagt die Stelle gar nichts, weder positiv noch negativ. Oder gab es für ihn auch einen anderen Grund, den er nicht niederschrieb? Die Eroberung ganz Galliens war schon Wirklichkeit geworden (vgl. Caes. b. G. 3, 7, 1). War nicht auch militärisch-politisch ein gesicherter Alpenübergang nördlich des Mittelmeers und der Seealpen wünschenswert?

wirtschaftliches Motiv126 für eine Eroberung genannt: Caesar (b. G. 3, 1, 2 „patefieri“) wollte diese bisher kostspielige Route „öffnen“. Freilich verfolgte er dieses Ziel – und dessen mögliche Motive – nicht weiter; zwar wurde durch seinen Beauftragten ein Sieg errungen, aber ein Vertrag kam nicht zustande und das Gelände hätte, wie man erfahren musste, einen aufwendigeren Krieg erfordert. So gab er, mit gewahrtem Prestige, diesen Plan offenbar auf und wiederholte das Unternehmen nicht (vgl. ebd. 3, 6, 3–5)127. Gehen wir noch einmal kurz zur Unterwerfung der Cisalpina zurück. Wir beobachten hier eine in der Wurzel verwandte, im Ergebnis aber doch etwas andere Reaktion der Kelten als in Galatien. In der Poebene war jeder Stolz auf den gallischen Namen, auch in Beziehung auf die Transalpina, gebrochen, und Rom richtete auch eine unmittelbare Herrschaft ein (ohne rechtliche Stellung einer formalen Provinz). Freiheit und Selbstwert waren für immer verloren. Und so gingen mindestens die Oberschichten der Keltenstämme, wie stets beweglich und gelehrig, zu einem Verhalten über, das oft genug aus der Weltgeschichte bekannt ist: Sie schlossen sich dem erfolgreichen Namen, der erfolgreichen Tapferkeit und Kultur an und romanisierten sich auffallend schnell. Zur Zeit des Polybios war das keltische Wesen, seine Kultur und seine Sprache bereits in wenige Rückzugsgebiete verdrängt (Pol. 2, 35, 4). Roms keltiberische Kriege können nur kurz gestreift werden. Sie brachten Erfolg und Herrschaft, aber um einen unverhältnismäßig großen Preis. Jenes Rom, das die hellenistischen Reiche – eines ums andere – umstieß, musste hier generationenlang schwerste Kriege bestehen. Übrigens wurde von Rom dieselbe Politik wie gegenüber der Transalpina, dem großen Gallien, auch gegenüber der Gallia in den Ostalpen betrieben:Wahrscheinlich 170 v. Chr. (siehe Dobesch 1980, 309 ff.) schloss der Senat mit dem dort führenden Stamm, wohl den Norikern, so wie mit den Haeduern im Westen (s. o.) eine staatliche Gastfreundschaft (deren Existenz für die Noriker noch 113 v. Chr. bezeugt ist). Freundschaftliches Verhalten an den Grenzen und Handelsverbindungen waren daher vorzüglich geschützt. Mehr

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Dass die Seduni in den Alpen dann in ebd. 3, 7, 1 als „besiegt“ bezeichnet (übrigens mit Recht) und irgendwie in die Berechnung über ein „pacatam Galliam“ einbezogen werden, widerspricht dem nicht. Und nach der derben Lehre für die Seduni durfte die Alpenflanke in der Tat als wenigstens gesichert gelten. Caesar wollte den römischen Lesern, soweit es nur ging, Erfolge melden; aber zur Behauptung einer Unterwerfung der Alpenvölker verstieg er sich doch nicht, in solchen Dingen war er meist ehrlich.

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

wollte Rom nicht, von einer politischen Peripherisierung war auch in den Alpen keine Rede128. Rom verblieb hier und im großen westlichen Gallien sehr lange bei dieser Politik. So verbrachten die Gallier ihr historisches und kulturelles Leben in glücklicher Ungestörtheit. Und sie blieben ganz bei der Idee und Praxis des Daseins als völlig eigenes Zentrum. Sie nahmen von der – sogar siegreich legitimierten – griechisch-römischen Kultur weiterhin nur an, was ihnen konvenierte; es war wenig genug. 9.6.3 Die Gallia Narbonensis Rom griff erst ein, als vor 121 v. Chr. die Arverner ein besonders großes Stammesreich in Gallien von den Pyrenäen bis zum Rhein und von Narbo (damals keltisch) bis zum Ozean errichteten129. Dessen Schwerpunkt lag deutlich im südlichen Zentralgallien, in der Auvergne. Wir sind über die Motive der folgenden Verwicklungen nicht informiert. Rom scheint schon vorher ein gewisses Interesse am südöstlichen Gallien entwickelt zu haben; aber in welchem Umfang? Es führte damals Krieg gegen die Salluvier, dann gegen die Allobroger, die sich dabei einmischten, dann gegen den Arvernerkönig Bituitos, der sich zugunsten der Allobroger einmischte. Ging Rom von seinem zeitlosen Grundsatz aus, keine große Macht weder im näheren noch im ferneren Umkreis zu dulden? Wie auch immer, es nahm den Krieg gegen das große arvernische Reich auf, das unter dem römischen Schlag zusammenbrach130 und sogar das Königshaus verlor (vielleicht gab es von da an eine aristokratische Herrschaft in diesem Stamm). Jedenfalls errichtete Rom um 121/120 seine Herrschaft in der Provence und nahm auch gleich die andere gallische Südküste mitsamt Narbo dazu. Massalia mit den von ihm abhängigen Stämmen blieb in seiner altbewährten Romtreue als freie Stadt bestehen. Vielleicht war bei dieser Erweiterung nach Westen nicht nur der Vorteil wirksam, einen sicheren Landweg in das römische Spanien zu haben; denn wie spät erst geschah dies! Es fällt auf, dass die Republik von

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Mit einem Keltenkönig unbekannter Lokalisierung, aber wohl in den Ostalpen oder in deren Nähe, ging Rom in schöner Unparteilichkeit wohl 169 v. Chr. ebenso ein hospitium publicum ein (Dobesch 1980, 158 ff.). Unter den bekannten Königen Luer(n)ios und Bituitos. Solche „barbarischen“ Reiche waren auf dem Grundsatz von Freundschaft, Gefolgschaftsleistung, Klientel und z. T. (bei kleinen Stämmen) Untertänigkeit aufgebaut. Es genügte ein starker Schlag, der Verlust des kriegerischen Ansehens, damit der Führungsqualität, und ferner der Verlust der Kraft, andere zu schützen, dass solch ein „Reich“ sich auflöste. Die Arverner verloren ihre Vormacht also sicher auch in Bereichen, die Roms Heer damals nicht betrat. Das

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ihrem Usus abwich und in Narbo schon im Jahr 118, also sehr bald, eine Kolonie römischer Bürger außerhalb Italiens anlegte. Der Grund dafür dürfte im Handel liegen:Vom vormals keltischen Narbo führte ein viel gebrauchter Handelsweg, z. T. mit Benützung von Flüssen, zur Trichtermündung der Garonne (Strab. 4, 1, 14 p. 189) und damit zu einem wichtigen Punkt der Route nach Britannien. Dieser kam also jetzt aus den gallischen in römische Hände (siehe dazu Dobesch 2002, 14), während die Route die Rhone aufwärts eher mit Massalia verbunden blieb. So eroberte Rom doch noch die klimatisch begünstigten Gebiete Südgalliens, dort wo mediterraner Pflanzenwuchs die Länder in den wirtschaftlichen Umkreis des Mittelmeeres und in die Interessen einer Mittelmeermacht einband. Über diese Trennlinie ging Rom damals fast nirgendwo hinaus131. 9.6.4 Das große Gallien bleibt frei Der Senat verzichtete klar darauf, das Stammesgebiet der Arverner jenseits der Cevennen, also der Klimascheide, in die römische Herrschaft einzugliedern, was militärisch sicher möglich gewesen wäre, noch dazu nach dem Ruin des Königshauses. Caesar betonte das später sehr stark gegenüber Ariovist132. Die Arverner blieben völlig frei, ja der Senat verzichtete offenbar auf einen Vertrag jenes Typs, mit dem er sonst selbst freie Gemeinwesen so an Rom band, dass eine römische Einmischung jederzeit möglich war; ein probates Mittel römischer Expansion. Rom wurde auch kein Garant dieser Freiheit, wie es 196 v. Chr. gegenüber den Hellenen geschehen war. Es zog sich wirklich zurück. Noch 61 v. Chr. lehnte der Senat ab, alten Romfreunden, den Haeduern, gegen die Sequaner und Ariovist zu Hilfe zu kommen, denn eine Pflicht, wie er sie sonst gerne geschaffen hatte, bestand vertraglich nicht. Die Gallier blieben wirklich frei und sich selbst überlassen. Diese Politik des Senats war berechtigt, denn eine Vorschiebung der römischen Herrschaft jenseits von Alpen und Mittelmeerklima in das weite, von starken

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Verschwinden des Königs und seines Thronfolgers löste überdies alle Bande. Erinnern wir uns daran, wie schnell das Reich Burebistas oder das Attilas zerfiel. Nur in Spanien erfolgte immer wieder eine, zum Teil provozierte, Arrondierung, die aber vor Caesar gegenüber dem nicht so vielversprechenden Nordwesten erlahmte. Caes. b. G. 1, 45, 2 f. bello superatos esse Arvernos et Rutenos a Quinto Fabio Maximo, quibus populus Romanus ignovisset neque in provinciam redegisset neque stipendium imposuisset. (3) … si iudicium senatus observari oporteret, liberam debere esse Galliam, quam bello victam suis legibus uti voluisset.

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Stämmen bewohnte Europa konnte unabsehbare Folgen haben. Allermindestens hätte es einen verlustreichen, generationenlangen, teuren Krieg bedeutet wie einst in der iberischen Halbinsel. Rom konnte und wollte sich kein zweites Spanien133 leisten. Es war das persönliche Genie Caesars, das das riesige kontinentale Gallien in wenigen Jahren mit einem Schlag völlig unterwarf. So wurde Gallien nicht zur politischen oder militärischen Peripherie Roms, der Senat blieb streng abstinent, der Handel florierte umso mehr, griechische und römische Kaufleute und deren Abgesandte waren in Gallien ein vertrautes Bild (s. o.)134. Und wieder behielten die freien Gallier ihr ganz eigenes kulturelles Profil (s. u. 80 ff.). Es gibt keine Spur, dass sie sich der doch abermals siegreichen Kultur Roms in irgendeiner wesentlichen Hinsicht beugten. 9.6.5 Romanisierung in der Gallia Narbonensis; Pompeius Trogus Aber in der neuen Narbonensis zeigten sich bei den Kelten Züge einer ganz anderen Entwicklung, zum Teil so wie in der Cisalpina (s. o. 76). In der Narbonensis wirkte jetzt neben dem alten Massalia das ganz neue römische Narbo im eigenen Land; freilich, so eng wie in der Poebene war die Nachbarschaft nicht, auch erfolgte keine so starke italische Einwanderung. Ein Teil der Keltenstämme der Narbonensis, vor allem deren Oberschicht135, scheint sich sehr schnell dem römischmediterranen Wesen angeglichen zu haben. Caesar vergab

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Die Rolle, die die endlosen spanischen Kriege, noch dazu mit jahrelanger Abwesenheit der Legionäre von ihren heimatlichen Bauerngütern, für die Verschärfung der sozialen Lage und für den Ruin großer Teile des italischen Bauerntums gespielt hatten, ist bekannt. Es waren die spanischen Kriege gewesen, bei denen Rom erstmals mit der Heeresaushebung Schwierigkeiten gehabt hatte. Es genügt in diesem Zusammenhang nur auf ein Zeugnis Caesars hinzuweisen. In das doch entfernte Belgium kamen Kaufleute nicht „selten“, sondern „am wenigsten oft“: Caes. b. G. 1, 1, 3 minimeque ad eos mercatores saepe commeant. Sosehr ich an die Existenz eines eigenen keltischen Handels glaube, diese „mercatores“ aber, die nach Caesars weiteren Worten Luxuswaren brachten, werden z. T. auch Griechen und Römer gewesen sein. Ein Beispiel dafür dürfte die gleich zu nennende Familie des Pompeius Trogus gewesen sein. In der Narbonensis scheint Caesar im gallischen Krieg die legio V Alauda(e) ausgehoben zu haben.Vgl. Plin. n. h. 11, 121; Suet. Iul. 24, 2. Siehe vielleicht Caes. b. G. 7, 65, 1 zu den im Jahr 52 v. Chr. gegen Vercingetorix in der Narbonensis rekrutierten 22 Kohorten. Caes. b. G. 1, 19, 3 C. Valerium Troucillum, principem Galliae provinciae, familiarem suum, cui summam omnium rerum fidem habebat (er dient ihm

dann hier schon reichlich latinisches Recht (Plin. n. h. 3, 36–37; Strab. 4, 1, 12 p. 186 f.), was ohne eine gewisse Romanisierung kaum sinnvoll gewesen wäre136. Aus dem Keltenstamm der Vocontier stammte der hochgebildete Pompeius Trogus, der schon von seinem Großvater her, der ein Helfer des Pompeius gewesen war, das volle römische Bürgerrecht hatte. Sein Vater war einer der engsten Helfer Caesars und bewahrte dessen Siegel, ein ganz außerordentlicher Vertrauensposten (Iust. 43, 5, 11–12), der eine völlige kulturelle und gesinnungsmäßige Romanisierung voraussetzt. Auch sonst hatte Caesar in keltischen Edlen dieser Provinz, auch schon mit Bürgerrecht begabt, sehr zuverlässige Vertraute137, die dann sogar den nationalen Lockungen des Vercingetorix widerstanden138. Solche Männer wie Caesars Siegelbewahrer und andere Vornehme aus dieser Provinz139 mögen unter den quosdam e semibarbaris Gallorum gewesen sein, die Caesar in den Senat aufnahm (Suet. Iul. 76, 3; vgl. ebd. 80, 2. Dazu vgl. Dobesch 1980, 372 A. 5)140. Der erwähnte Pompeius Trogus ist insofern besonders wichtig, als wir in ihm einen der Typen eines romanisierten Kelten versuchsweise nachzeichnen dürfen. Dieser Mann war eine bedeutende Persönlichkeit der römischen Kultur der augusteischen Zeit: Er bekannte sich betont zu seiner keltischen Abstammung, zeigte also ein unbefangenes Weiterleben eines Selbstverständnisses, ein Gallier zu sein. Aber auch wo er seine Landsleute kulturell lobte, tat er es in griechisch-römischen Kategorien von Kultur. Das keltische Kulturverständnis hatte er komplett über Bord geworfen, er kümmerte sich um echte keltische Kulturtraditionen, soweit

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hier als gallisch-römischer Dolmetscher in besonders heikler Lage). Ferner ebd. 1, 47, 4 Gaium Valerium Procillum, Gai Valeri Caburi filium, summa virtute et humanitate [in römischem Mund heißt das: höchst kultiviert!]) adulescentem, cuius pater a Gaio Valerio Flacco civitate donatus erat, et propter fidem et propter linguae Gallicae scientiam … sandte er als Gesandten an Ariovist, vgl. auch ebd. 1, 53, 6 über ihn: hominem honestissimum provinciae Galliae, suum familiarem et hospitem. Das sind ganz außerordentliche Worte höchster Anerkennung und Freundschaft sowie höchsten Vertrauens. Gegen die Identifizierung beider Männer jüngst Wiotte-Franz 2001, 98 ff. Caes. b. G. 7, 64, 7–8 (8: horum principibus pecunias, civitati autem imperium totius provinciae pollicetur), zugleich ließ er sie militärisch angreifen (ebd. 7, 64, 5). Die Allobroger verteidigten sich ungerührt gegen die Truppen des Vercingetorix (ebd. 7, 65, 3). Vgl. Anm. 137. Wenn man freilich Ciceros Spott gegen Calpurnius Piso wegen mütterlicher Herkunft aus der Cisalpina bedenkt (Cic. Pis. 14 [semiplacentinus]; 53 u. a.; vgl ebd. Frgte. 9, 11, 15. ed. Nisbet), kann man es nicht ganz für unmöglich halten, dass dieser Spott sich auch auf Männer aus der Cisalpina bezog.

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

das Exzerpt des Justin eine Aussage gestattet, denkbar wenig. Er sah Menschen und Geschichte ganz mit mediterranen Augen. Für die Gallier Südfrankreichs entwarf er (Iust. 43, 4, 1–2) ein begeistertes Bild der Akkulturation dieser Kelten, die in manchem griechischen Standard erreichten: Gewöhnung an verfeinertes Leben mit Ablegung und Milderung des Barbarischen, Ackerbau, Ummauerung der Städte, Leben nach Gesetzen statt nach Waffenrecht, Wein- und Olivenanbau; ein solcher Glanz, dass Gallien nach Griechenland versetzt zu sein schien. Mit dem Tadel „Waffenrecht statt Gesetz“ übernahm er für die nicht griechisch geformten Gallier also ohne weiters einen Topos des südlichen Barbarenbildes. Es ist ebenso gallisches Würdegefühl wie rein südliche Wertung, wenn er die Gallier der Cisalpina tendenziös – und sicher Polybios zum Trotz, der von unbefestigten Dörfern gesprochen hatte – als große Städtegründer feierte141. So ist wohl deutlich, dass er das Land in der Provence und die südgallische Küste so pries, wie sie sich zu seiner Zeit und zu der seines Großvaters und Vaters darstellten, als der römische Friede schon lange eine Tatsache war, durch die auch die dortigen Gallier an der landwirtschaftlichen Blüte des gesegneten Landes teilnahmen, die vielleicht einst die Griechen mit inauguriert hatten. Eine weiter zurückreichende Überlieferung hatte er offenbar nicht, so wie er in seinem Buch auch sonst keineswegs aus keltischen Überlieferungen schöpfte, die ihm durchaus erreichbar gewesen wären.Wenn wir bedenken, welche Materialien ihm z. B. für die gallische Religion, für Mythen (s. o.) und für so vieles andere zur Verfügung gestanden wären, können wir seine Haltung nur zutiefst bedauern. Er blieb so gleichgültig wie andere mediterrane Autoren, denen er sich eben völlig angeschlossen hatte. Er musste von gallischen Oppida mitsamt ihren Mauern schon in vorcaesarischer Zeit gewusst haben, auch (und kaum nur aus Poseidonios und Caesar) von einer gewissen Art der gesetzlichen Regelung des Zusammenlebens, und er führte das, wenn er es überhaupt sah, kühn auf seine südlichen Landsleute zurück, die es ihrerseits aus nobelster Quelle, von den Griechen selbst, hatten.

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Iust. 20, 5, 8 Mediolanum, Comum, Brixiam, Veronam, Bergomum, Tridentum, Vincentiam condiderunt. Der Eindruck, dass dies gleich nach der Einwanderung geschah, lässt sich vielleicht auf den kürzenden Exzerptor zurückführen, die Tatsache aber hat Trogus, und sei es auch erst für eine etwas spätere, doch immer noch vorrömische Zeit, offenkundig berichtet.

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Man kann nicht scharf genug umreißen, was hier geschehen war: Er betonte die Dienste seiner Vorfahren an dem – in nicht allzu weiter Vergangenheit noch feindlichen – Römertum und zugleich ihre und seine ehrenvolle Stellung in ihm. Er war bewusst ein Kelte, aber ein römischer Kelte, der, so wie seine Familie vor ihm, völlig zu diesem anderen Kulturtyp übergegangen war und sich an ihm mit einem großen literarischen Werk beteiligte. Er rühmte kulturelle Leistungen des Galliertums, aber nur solche von südlicher Kulturart, die nur durch Akkulturation von Massalia her entstanden waren. Das einstige La-Tène-Keltentum war ihm jetzt eine barbaria, ein Leben nach dem Faustrecht statt nach Werten und Ordnungen, ein Dasein ohne Glanz und Zierde (nitor). Kein La-Tène-Kelte hätte so gewertet oder gefühlt, aber Trogus gehörte zwar zum Galliertum, doch nicht mehr zu La-Tène (auch er war sogar blind für diesen Kunststil). Der Vorwurf der Gesetzlosigkeit, die ohne Massalia geherrscht hätte – ein fast kyklopischer Topos –, war ungerecht. Der Klassifikation und der Vorstellungsgabe des Trogus war der alte Kulturtyp völlig fremd geworden. Es war ein völliger, ja eben ganzheitlicher Wechsel. Es war, wie wenn man ein Gewand, ein Menschenbild für immer ablegt und ein ganz anderes anlegt. Trogus blieb damit sogar hinter manchen griechischen und römischen Wissenschaftlern zurück142. Von älteren Autoren, wie etwa dem westgriechischen Historiker Timaios, wissen wir zwar zu wenig. Aber wir erkennen deutlich die (für uns) erste ernsthafte, tiefe Auseinandersetzung mit dem keltisch-galatischen Element bei Poseidonios, vielleicht die erste dieser Art, jedenfalls gleich auf höchstem Niveau. Er schrieb eine große keltische Ethnographie, von der jedes erhaltene Bruchstück für uns von höchstem Wert ist. Denn er spannte alle Weiten seines genialen Geistes und psychologisch verstehenden Feingefühls aus, um in den Kelten (von denen er die wilden Galater des Nordens unterschied) ein Phänomen von großer, welthistorischer kultureller Bedeutung in unleugbarer Sympathie – aber auch mit schwarzen Schatten – zu erkennen und seinen Lesern zu vermitteln. Soweit wir sehen, traten die Kelten erst bei ihm ganz gleichrangig neben andere, längst denkerisch anerkannte Kulturen, wie etwa die der Skythen.

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Allerdings bleibt stets zu bedenken, dass wir nur den stark gekürzten Auszug des Justin lesen. Und es wäre ferner denkbar, dass er bewusst nichts übernahm, das ohnehin schon bei Poseidonios zu lesen war. In der Frage des aurum Tolosanum hat er dem großen Historiker glatt widersprochen (Iust. 43, 3, 6–11).

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9.6.7.1 Kulturelle Autonomie und „Verweigerung“ Aber kehren wir noch einmal in die Generationen vor Caesar zurück. Im nichtrömischen „großen“ Gallien – aber auch in den Ostalpen – waren die Kelten frei von Unterwerfung und durften daher in ihrer Eigenart beharren (vgl. 77 f.). Und das taten sie, wie wir oben betont haben, auch in erstaunlichem Maße. Mit aller Hartnäckigkeit behaupteten sie ihre kulturelle und politische Eigengesetzlichkeit. Sie blieben obstinat sie selbst, in unerschütterter Identität. Erfolgreich wiesen sie es ab, eine Peripherie der römischen, mediterranen Welt zu werden, auch wenn diese jetzt das Rhonetal geschluckt hatte. Sie blieben vielmehr eine eigene Welt, auch als sie keinerlei Zentren oder gar Peripherie mehr rund

um sich hatten, auch nicht in den verloren gehenden anderen Keltengebieten im Osten: sie waren nur umso mehr noch für sich selbst der ganze Kosmos. Ihre Kunst – auch die Münzprägung – blieb ihre eigene, mit eigenem Formgefühl. Sie waren weit beweglicher als die damaligen und späteren Germanen, sie nahmen mancherlei Einzelnes auf, erfreuten sich südlicher Luxuswaren, besonders auch des Weins144. Die Schrift lehnten sie in allen kulturell wichtigen Belangen weiterhin strikt ab. Sie gaben ihre politischen (inklusive des principatus totius Galliae), stammesmäßigen und sozialen Strukturen in keiner Weise auf, ordneten auch das Städtewesen ihnen dezidiert unter (s. u.). Kein Zweifel, sie blieben voll und ganz La-Tène-Kelten. Wir haben oben 61 ff. schon über dieses „Verweigern“ und seine seelisch-kulturellen Wurzeln gesprochen. Die Lernfähigkeit der Kelten wird in der Antike betont, die Gallier und ihr – sehr reicher! – Hochadel blieben sicher nicht blind gegenüber dem repräsentativen, angenehmen Wohlleben im Süden, wie es gerade die dortige Oberschicht ihnen vor ihren Augen vorlebte. Konsumgüter des Luxus konnten akzeptiert werden, aber wir hören bei Caesar kein Wort auch nur über den geringsten Villenluxus der prahlenden gallischen nobiles. Hier liegt offenbar eben jenes oben genannte tiefe, unüberwindliche und berechtigte Erleben völliger Fremdheit zugrunde, der man sich nur ganz oder gar nicht hingeben konnte. Die eigene gallische – und sonstige „barbarische“ – Art war eben eine unteilbare Ganzheit in einem fest gefügten System von Werten in Religion, Lebensstil, kompliziertem sozialen Geflecht, Denken, Handeln, Politik, Kunst, Dichtung usw., eine Ganzheit, die eine besondere, unverzichtbare Würde besaß: Diese Würde, diese Ganzheit und mit ihnen das Menschenbild schlechthin durften nicht zersetzt werden. Im Menschenbild lag die Unvereinbarkeit der Kulturtypen. Es war nicht Stumpfheit, die die Kelten darin verharren ließ, es war vielleicht ein nur allzu klares und intensives Verständnis des ganz Anderen. Dabei hatten die Gallier gelernt, sich gegenüber der Außenwelt zu bescheiden. In ihr war ein erschreckender Schwund weiter keltischer Bereiche von 222 bis 100/90 v. Chr. geschehen: Oberitalien, die Narbonensis, Süddeutschland und Böhmen waren unersetzliche Verluste, auch wenn die Volcae Tectosages am herzynischen Wald, das deutsche Alpenvorland, die Ostalpen und die Großboier um Preßburg

Generell ist für diesen Autor jetzt die bedeutende Monographie von J. Engels (1999) zu nennen. Caesar (b. G. 1, 1, 3) betont das mehrmals (die Belger waren dem

weniger unterworfen); ebd. 6, 24, 4–5 (generell); ebd. 2, 15, 4 (die Nervier halten sich frei davon). Zu Diodor/Poseidonios siehe oben 76 (ein Sklave gegen eine Amphore Wein getauscht).

9.6.6 Kurze Vorschau: die caesarische Eroberung Galliens Caesar verlagerte dann die Auseinandersetzung auf die machtmäßige, kriegerische Ebene. Man täte ihm aber Unrecht, wenn man nur das sehen würde.Wer seine als „Kriegsberichte“ überschriebenen commentarii liest, wird darin, auch außerhalb des großen Exkurses in Buch 6, eine solche Fülle verständnisvoller Beobachtungen und charakteristischer Details finden, dass man ihm eine auch geistige Auseinandersetzung mit dem Keltentum (und neu dann auch mit dem Germanentum, soweit möglich) zugestehen muss; hier widerfährt ihm modern nicht immer Gerechtigkeit. Sein kulturelles und seelisches Bild der Kelten stellt sich fast oder vielleicht ganz neben das des Poseidonios. Und doch haben wir oben 70 gesehen, dass etwa gegenüber der Kunst oder auch der Sagenwelt der Kelten selbst solch geniales Erkennen wieder engen Begrenzungen unterworfen war. Nach der römischen Eroberung waren dann die Kelten Galliens politisch ein integrierter Bestandteil des Reiches, und so wirtschafteten Diodor, Timagenes und Strabon auf dem von Poseidonios und Caesar bestellten Felde rüstig und oft mit vorzüglichem Verständnis weiter, wobei Strabon einen ausgezeichneten Blick auch für die wirtschaftliche Bedeutung des römischen Gallien besaß143 und gerade er auch reiches zeitgenössisches Material einfließen lässt; in geringerem Maße tat das Timagenes. 9.6.7 Kulturelles und politisches Leben im vorcaesarischen Gallien. Spätlatène?

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noch geblieben waren, aber bei allen Verbindungen145 doch getrennt. Mit Ausnahme der britischen Länder war Gallien vereinsamt, es war eine Insel geworden, an die in den Jahren vor Caesar schon der Schwall der Germanen brandete. Haben sie auf diesen Rückgang etwa mit einer umso größeren Intensivierung des eigenen politischen Lebens innerhalb Galliens geantwortet146? 9.6.7.2 Intensität des Lebens Wir dürfen uns dieses Verharren in La-Tène in keiner Weise als etwas Starres vorstellen. Und hier muss mit einem bisweilen nahe liegenden, aber doch falschen historischen Urteil abgerechnet werden. Wir sprechen von „Spätlatène“, aber das ist ein Name erst im Nachhinein, eine Art vaticinium ex eventu. Was uns in den Berichten des Poseidonios und dann in ungeahnter Fülle bei Caesar vor Augen tritt, ist ein riesiges Stämme- und Völkerkonglomerat voll von überschäumendem, ja bisweilen zu großem und intensivem Leben. Gallien zeigte etwa gegenüber dem Schlag der Zerstörung des Arvernerreiches und vor allem auch gegenüber den entsetzlichen Verwüstungen des Kimbernsturmes (Caes. b. G. 2, 4, 2 und ebd. 7, 77, 12. 14) einen faszinierenden Grad von Elastizität und Selbstbehauptung. Die immer neue Energie der Gallier ist verblüffend.Wir dürfen uns das „spätlatènezeitliche“ Gallien Caesars nicht als eine im Abstieg befindliche, sich auflösende Kultur vorstellen, nicht als eine in lähmende Schwäche versinkende Welt, sondern als ein Zentrum voll Leben und Aktivität, und das auf sehr vielen Ebenen. „Spätlatène“ zeigte einige der wichtigsten Züge vitaler Kultur: Die Fähigkeit, sich aus sich selbst heraus immer weiter zu entfalten, ja sich mit oder ohne äußeren Anlass immer wieder zu erneuern. Immer wieder wurde Neues dieser Kultur akkommodiert, so wie das Städtewesen. Sie war, im vorgegebenen Rahmen, dynamisch und durchaus nicht ohne die Fähigkeit zu Neuerungen positiver oder negativer Art. Das Leben war auf überraschende Weise in stets beweglichem Fluss. Unser „Spätlatène“ befand sich keines-

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Wenn Ariovist vom Elsaß aus engste Beziehungen zu den Norikern in den Ostalpen unterhielt, und kaum nur in einem einzigen so großen und engen Kontakt (Caes. b. G. 1, 53, 4), so werden die Gallier westlich des Rheins das vor ihm und zugleich mit ihm ebenfalls getan haben. Die Kenntnis der Volcae Tectosages könnte zur Not noch auf die Ubier zurückgehen, ist also kein sicherer Beweis. Aber wir werden uns die keltische und insgesamt die „barbarische“ Welt West- und Mitteleuropas recht eng vernetzt vorstellen dürfen. So wie die Boier auf den Verlust Böhmens mit einer Großreichsbildung vom neuen Zentrum an der Donau aus reagierten. Das gilt, soweit die Archäologie und die sehr spärlichen antiken Nachrichten uns erkennen lassen, auch von den Boiern im Osten

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wegs in einem Endstadium147. Caesars Eroberung glich dem Werk des Cortez in Mexiko oder dem Pizarros in Peru. Wer die Grundhaltung der Schilderungen des Poseidonios und Caesars auf sich wirken lässt, sieht klar, dass beide dieses keltische Gallien keineswegs als eine stagnierende, in ihrem Inneren erstarrte oder schwach gewordene Zivilisation empfanden. Poseidonios hob zwar die Wertung auch seiner Kelten als Barbaren nicht auf148, und er konnte es auch nicht, ohne den Horizont seiner eigenen Kultur von Grund auf zu sprengen. Aber er reinigte dieses Schema doch erheblich zugunsten der Kelten. Er, der auch außerhalb der römischen Narbonensis im freien Gallien reiste149 und offenkundig als Gast gallischer Edler in ihren Häusern mit ihnen zusammen lebte, mochte wohl merken, wie wenig sich diese Gallier als Peripherie verstanden, und dass sie durchaus nicht kulturlos waren. Er verglich sie in manchem sogar mit homerischen Helden, was im Munde eines kulturstolzen Griechen nichts Kleines ist, und lobte die geistige Rolle ihrer Dichter-Priester. In dem hochgemuten Leben, das er mit ansah, lag nichts von Dekadenz, Verblassen, Energielosigkeit oder Schwäche: Seine Kelten lebten in voller Kraft, sie imponierten ihm. Was Caesar betrifft, so scheint er von den Galliern sogar noch mehr beeindruckt worden zu sein als Poseidonios. Aber das kann erst an anderer Stelle näher behandelt werden. 9.6.7.3 Die Druiden Betrachten wir einmal das Druidentum, das schon mehrmals erwähnt wurde, von dieser Seite. Poseidonios und seine Ausschreiber kennen den Namen, scheinen aber eher nichts von der doch so auffälligen und wichtigen (auch politisch wichtigen) Institution des Ordens zu wissen. Das wird ergänzt durch den Umstand, dass Caesar sich über ihn in ganz ungewohnter Gesprächigkeit äußert; und er hat, soviel wir erkennen können, Dubletten zu Poseidonios, soweit nur möglich, virtuos vermieden (dazu Dobesch 2001d, 469 ff.). Das kann die Möglichkeit nahelegen, dass dieser fest organi-

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und von den Norikern in den Ostalpen. Hier fanden diese Länder niemanden, der „commentarii“ geschrieben hätte. Vgl. Diod. 5, 31, 5 παρὰ τοῖς ἀγριωτάτοις βαρβάροις (auch wenn die Steigerung vielleicht erst von Diodor stammt). Vgl. ebd. 5, 2, 5 die angezweifelte Wertung als εὐγενές und zugleich θηριῶδες die ganz poseidonisches Gepräge trägt; Poseid. FGrH 87 F 15 ihre Tischsitten λεοντω δῶς. Offenbar erlebte er die Sitte, den Kopf des Gegners als Trophäe zu nehmen und voll Stolz als kostbaren Besitz aufzubewahren (Poseid. FGrH 87 F 55; vgl. Diod. 5, 29, 4–5) noch als lebendig. Aber die dazu nötigen Kriege oder Privatfehden waren in der römischen Ordnung der provincia Narbonensis nicht mehr möglich.

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sierte, mächtige, an speziellen Lehren reiche150 Orden um 100 v. Chr., wenn er überhaupt schon existierte, noch auf Britannien beschränkt war, eventuell auch noch auf das nördliche Gallien, von dem Poseidonios nicht soviel wusste wie von dessen Süden. Und es würde eher überraschen, wenn er schon lange in Britannien gelebt hätte, ohne auf das Festland überzugreifen. So ist es erlaubt, in diesem Orden mit seinen überreichen Besonderheiten eine Schöpfung des „späten“ La-Tène zu sehen, ein Zeichen intensiven geistig-religiösen Lebens. War die spezielle Wiedergeburtslehre eine Antwort auf griechische pythagoräische Philosophie, von der wenigstens diese außerordentlich interessante und so leicht wie kurz zu tradierende Meinung (aber vielleicht auch die Ordensidee) über massaliotische Adelskreise bis ins ferne Britannien wirkte? Für Gallien scheint es einigermaßen möglich zu sein, dass der Orden in die Zeit zwischen etwa 100 und 58 v. Chr. gehört. Nicht umsonst war sein britannischer Ursprung (also nicht nur eine Gemeinsamkeit mit Britannien) lebendig in Erinnerung151. Selbst wenn er in Gallien auch an etliche schon vorhandene priesterliche Rechte (wie Poseidonios sie nennt) anknüpfen konnte, die machtvolle politische und rechtsprechende Stellung dieser Druiden, ihre vorzügliche Organisation mit einem gemeinsamen jährlichen Fest im „Mittelpunkt“ Galliens und der Institution eines spezifisch nur gallischen Oberdruiden scheint doch eine Neuschöpfung zu sein, die nicht allzu lange vor Caesar erfolgt sein mochte; jedenfalls ein Werk außerordentlicher Energie und des Willens zu bedeutenden Neuerungen. Und diese Bedeutung galt ebenso im rein Geistigen. Sowohl die Auseinandersetzung mit der aus Britannien kommenden, spezifisch druidischen Lehre wie auch ihre Rezeption an sich setzt hohe geistige Interessen und Freude an philosophischer Spekulation voraus. Natürlich erwuchs das nicht aus einem nichts oder in ein nichts152. Vielleicht, ja wahrscheinlich hat etliches oder vieles dessen, was Caesar für

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Oft wird das vergessen und werden Caesars Angaben als Lehren „der“ Kelten betrachtet. Aber er schreibt das, was er in diesem Zusammenhang erzählt, ausdrücklich dem Druidenorden zu. Caes. b. G. 6, 13, 1–12 (in Britannien auch immer die beste Hochschule für angehende Druiden). Darum ist es auch ganz unwahrscheinlich, dass „die“ keltischen Priester ihren Ursprung aus Britannien herleiteten und womöglich dort studierten. Caesars Worte gelten für eine spezifische, selektive Institution. Dass auch die außercaesarische Überlieferung ihre Druiden als Philosophen zu rechnen scheint, setzt ja das Gesagte nicht herab, sondern malt nur jene hochstehende geistige Sphäre, die die Rezeption neuer Druidenlehren in so kurzer Zeit überhaupt erst ermöglichte.

die Lehren der Druiden überliefert, ältere Vorläufer (deren Caesar ja nicht kundig sein konnte und die er daher auch nicht erwähnt); es bleibt die Tatsache bestehen, dass er dieses Denken, ja Disputieren als etwas in seiner Gegenwart sehr Lebendiges beschreibt. Seine Worte bezeugen eine Würdigung echter philosophischer Fragestellungen (wie es ja auch die Wiedergeburtslehre in der Antike war153). Caesar (b. G. 6, 14, 3–6) spricht vom Erlernen sehr langer Lehrgedichte in der Druidenausbildung und nennt als deren Inhalt: de sideribus atque eorum motu, de mundi ac terrarum magnitudine, de rerum natura154, de deorum immortalium vi ac potestate; und all das erwägen sie untereinander in gelehrten Gesprächen (disputant) und überliefern es, sichtlich auch in Lehrgedichten, weiter (iuventuti tradunt). Die werdenden Druiden mussten eine große Zahl von Versen auswendig lernen, was bis zu 20 Jahre lang dauerte (magnum … numerum versuum ediscere … annos nonnulli vicenos in disciplina permanent). Vor uns entsteht die Konzeption einer höchste Forderungen erfüllenden, geistig-religiösen Elite, der als solche besondere Rechte und besonderes Vertrauen der anderen zufällt155. Caesars Formulierungen zeigen, dass er, selbst hochgebildet, mit Interesse an epikureischer Philosophie und voll von Skepsis, diesen Gedankengängen hohen Respekt zollt. Es ist kaum ein Zufall, dass er in seinem Exkurs diesen Bericht von der Skizzierung der „trivialen“ gallischen Religion und Götterverehrung deutlich trennt (Caes. b. G. 6, 17, 1–3), also von einem nur ethnographisch interessanten Phänomen, um dessen genauere Erkundung und Niederschrift er sich herzlich wenig kümmerte. Aber gesondert vom Druidenbericht – was vielleicht kein Zufall ist – trägt er dann die wieder mythologische, nicht philosophische Druidenlehre von der Abstammung der Gallier von Dis pater nach, bezeichnenderweise als Erklärung eines profanen, auffallenden Brauches in der Zeitzählung (Caes. b. G. 6, 18, 1–2).

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Im Rahmen der hochgeachteten pythagoräischen Philosophie, die damals gerade in Rom durch Nigidius Figulus erneuert wurde. Ein ehrwürdiger, ganz philosophischer „Buchtitel“, der nicht nur von Lukrez benützt wurde, sondern auch die Übersetzung des griechischen Περὶ φύσεως ist, was die Philosophiegeschichte gerne als Buchtitel bzw. Inhaltsangabe für die Werke der jonischen Naturphilosophie gebrauchte. Dürfen wir daraus, dass Caesar ihnen nur Gerechtigkeit und Zuverlässigkeit, aber keinen Missbrauch ihrer außerordentlichen Macht zuschreibt, schließen, dass die Macht noch nicht allzu lange ausgeübt wurde?

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

Insgesamt gewinnt man so den Eindruck von einem in vielen Bereichen blühenden Geistesleben, verbunden mit einer sehr umfangreichen oral poetry, die auch philosophische Dichtkunst mit umfasste. 9.6.7.4 Militärwesen; soziales Problem Die La-Tène-Kelten Galliens behielten aber auch die Eigenart ihres Militärwesens bei, ohne in eine Kopie römischer oder germanischer Kriegskunst zu verfallen. Es ist symptomatisch, dass sie vor Caesar die hochentwickelte römische Kunst der Anlegung befestigter Lager, die ihnen doch vor Augen stand, ablehnten, dann aber sie schnell erlernten156. Sie „verweigerten“, solange sie es sich leisten konnten, vielleicht weil ihnen ein solches Verhalten zu wenig ritterlich schien, zu wenig einem aristokratischen, agonalen Kampfesethos entsprechend. Als dann der caesarische Krieg sie zwang, akzeptierten sie es mit beweglichem Geist. Vielleicht lag der Übergang zur Reitertaktik als der für die Kriege in Zentralgallien entscheidenden Waffe unter Zurückdrängung der Infanterie noch nicht lange zurück (vgl. Dobesch 2001a, 633 ff. 635 ff.).Wenn in dieser fast alles erdrückenden Rolle der Ritterschaft und ihres hochgemuten, ja arroganten Ritterethos (vgl. etwa Caes. b. G. 7, 66, 7) Gallien in der Tat erst vor einiger Zeit Neues hervorgebracht hatte – altkeltisch ist dieses Rittertum nicht –, so hielt es sich jedenfalls ganz in der Struktur keltischer und „barbarischer“ Gesellschaft und Politik, die ganz auf personale und nicht zu sehr verfestigte juristische Bindungen ausgerichtet war. Sehr große Variation im beibehaltenen Rahmen ist immer eine beachtliche Entwicklung. Gefolgschaft und Klientel blieben immer bestehen, letztere nahm in vielen Bereichen immer mehr zu. Denn das überwuchernde Ritterwesen zerriss – in Zentralgallien – jede wirtschaftliche, gesellschaftliche und innenpolitische Ausgewogenheit. Darin liegt die bittere Poverisierung, Ausbeutung und Entmachtung der „breiten Masse“ (plebs) beschlossen, also jener Zustand, den Caesar (für Mittelgallien) in all seinen Schwierigkeiten und Härten plastisch schildert, als eine extreme Sonderentwicklung, die vor allem für die Zeit Caesars galt und gerade ihrem Höhepunkt zueilte. Der „Fortschritt“ auf diesem Gebiet war in reißendem Fluss, von Statik war sehr wenig zu sehen. Das schwere soziale Problem war hausgemacht und nicht sehr alt. Zu den Reaktionen darauf (es waren verschiedene möglich) zählte die oben 49 f. geschilderte Erneuerung 156

Caes. b. G. 7, 30, 4 vom Jahr 52 v. Chr.: primumque eo tempore Galli castra munire instituerunt.

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der Volksmacht unter ehrgeizigen Adeligen. Die gesellschaftliche Ordnung brachte auch neue Formen hervor. 9.6.7.5 Politische Labilität Das wirkte mit an der außerordentlichen Labilität, die für die Innen- und Außenpolitik des caesarischen Gallien bezeichnend war. Ihr gaben sich die Gallier offenbar mit Genuss hin. Sie gingen eigene Wege. Selbst das, was Caesar oft fast nebenbei erwähnt, zeigt ein Gewirr von Adelsrepubliken, sehr alten und ganz neuen Königtümern, von Streit innerhalb auch eines republikanischen Adels157, von demagogischen Volksführern der benachteiligten plebs, von allerlei Putschversuchen, vom Streben nach Erringung der Königswürde und scharfen (auch legistischen) Gegenmitteln der Adelsrepublik bis hin zu Prozessen und Hinrichtungen. Das gibt uns ein recht deutliches Bild des vielgestaltigen, beweglichen, mit fanatischer Aktivität durchgeführten politischen Lebens der Kelten. Vielleicht hat Gallien selbst die umgreifendere Erscheinung der „gallisch-westgermanischen Revolution“ zu einem eigengeprägten Phänomen gemacht und ihr spezifische, gallische Akzidentien eingefügt. Caesar hebt den außerordentlichen Eifer der Zwietracht, vom Stamm bis zur Hausgemeinschaft hinab, hervor (Caes. b. G. 6, 11, 2–4, s. o. 27 f.). Genauso von Streit, Zank und Hass zerrissen war die „Außenpolitik“ zwischen den Stämmen Galliens; das konnte sich natürlich jederzeit mit dem inneren Hader verbinden. Caesar nennt zwei Parteiungen unter den gallischen Stämmen (Caes. b. G. 6, 11, 5–12, 2, siehe wieder oben 28), die Gallien in widerstreitende Lager zerspalteten. Denn Gallien ging auch hier ganz eigene Wege: Es hatte die zwielichtige „Einrichtung“ des principatus totius Galliae geschaffen, also ein ganz besonderes Movens steter Anspannung im Kampf um den Ehrenvorrang. So etwas gab es anscheinend im damaligen Britannien nicht und sicher weder jetzt noch später in Germanien. Wir haben oben 30 f. darüber gesprochen und auch noch über weitere Ebenen politischen Lebens. Denn stärkere Stämme hatten ihre eigenen Anhänger, es gab Abhängige, Verbündete, Freunde und Tributzahlende, lokale Stammesreiche und noch vieles mehr. Das Inventar gallischer Politik war unerschöpflich (s. 30). Hatte Gallien, wie oben gesagt, auch keine stete Peripherie mehr um sich, so war es doch selbst ein Zentrum, das in sich zwei wechselnde Zentren hatte, die jeweils unter ihrem 157

So hatten z. B. im Sturmjahr 52 v. Chr. die Haeduer zunächst nichts Besseres zu tun, als dass zwei Adelsparteien fanatisch um die Besetzung des Oberamtes – die Vergobretur – stritten (Caes. b. G. 7, 32, 2–5, vgl. ebd. 33, 1–4).

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Vorrang möglichst viele der gallischen Stämme zu ihrer eigenen Peripherie zu machen suchten. Dazu die gerade genannten lokalen Mittelpunkte. Gallien hatte in sich Zentren, Peripherien, Ereignisse und Wechsel genug, um für sich selbst eine ganze Welt zu sein. Am Schicksal der „restlichen“ Welt nahm es nur soviel Anteil, wie die Suche nach äußeren Helfern im inneren Streit erzeugte (s. u.). Die religiöse, die soziale, die wirtschaftliche, die mehrfachen politischen Ebenen im Innen und Außen, sie vermengten sich, schieden sich, überkreuzten sich, befehdeten sich, verbanden sich: Es war eine labile Lebensform, die stets das höchste Interesse und die volle Anspannung aller Kräfte erforderte. Man mag das als eine gefährliche Lage ansehen, und mit Recht. Aber es war alles eher als ein Zustand von Stagnation, von stumpfem Absinken oder gleichgültigem Dahinvegetieren. Es sprühte von Leben, ja sogar von allzu viel Leben bis hin zum Hass. Weniger wäre mehr gewesen. War vielleicht das der Reiz, den die bestehenden Zustände auf die Gallier ausübten, so dass sie nicht an Mittel einer Überwindung des Streits dachten? Alles bisher Angeführte deutet auf ein fast übermäßig gesteigertes, erregtes Lebensgefühl hin, im Geistigen und vielleicht noch mehr im Politischen. Denn in diesem lief es doch so oder so auf eine stete Bewährung der Virtus hinaus, die sich, auch innenpolitisch, als Kühnheit und Mut in riskanten Zielen dokumentiert. Dieses Lebensgefühl, diese rastlose Tapferkeit und dieses Menschenbild mit seinem Wert und seiner Würde gehörten offenbar ins Zentrum der Welt gallischer Vornehmer, ja gallischer Männer schlechthin und wurden trotz allen Nachteilen immer wieder neu rezipiert und froh weitergetragen. Wenn wir die gallische politische Labilität als Nachteil empfinden, so müssen wir damit rechnen, dass gerade dies den damaligen Galliern wohl als ein erhebender und belebender Vorzug erschien, den sie nicht missen mochten (ähnlich war es in Griechenland nach 462/61 v. Chr.).Vielleicht wird mancher hier von Hektik reden und speziell darin etwas „Spätzeitliches“ sehen; darauf ist hier nicht einzugehen, die Frage wird auch immer unbeantwortet bleiben. Um die Gefahren deutlicher zu machen, erinnern wir nochmals an die Nachricht bei Diodor/Poseidonios, dass römische Händler in Gallien für eine Amphore Wein einen Sklaven erhalten konnten, ein für sie äußerst günstiger Tausch (s.o. 76). Bedenken wir, wie lange eine solche Weinmenge etwa bei einem adeligen Trinkgelage vorhalten mochte; und es gab auch noch andere Möglichkeiten des Konsums; wie viele Stämme es gab, in jedem Stamm wie viel halbwegs repräsentierende Adelige mit Gefolgschaft, bei je-

dem Adeligen wie viele Gelegenheiten zum Feiern alle Wochen, alle Monate, oft vielleicht täglich! Ein Gefolgsherr musste auch im Frieden möglichst viel Zeit im Rahmen seiner geehrten Gefolgsmänner verbringen; und im Krieg konnte man abends Erfolge oder Misserfolge feiern usw. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt Caesars Nachricht (b. G. 6, 15, 1), dass alle Ritter stets in einem der fast jährlichen Kriege in Gallien kämpften, eine makabre Plastizität; und es gab daneben kleinere, auch private Fehden, Überfälle, lokalen Streit usw. Auch verkaufte man sicher nicht ständig alle Sklaven, sondern es besaß jeder Vornehme auch selber deren genug (und nicht ganz so hohe Leute immerhin auch in kleinerem Ausmaß). Versklavung muss im wirtschaftlichen, sozialen und bevölkerungsmäßigen Leben Galliens eine größere Rolle gespielt haben, als auf den ersten Blick deutlich ist, auch wenn sehr viel Wein noch mit anderen Gütern bezahlt wurde. Jetzt verstehen wir auch besser die Rolle gallischer Sklaven im Sklavenaufstand des Spartacus. Bei all den Kriegern,Versklavungen und Streitigkeiten ist nicht zu vergessen, dass ein entstehender Bevölkerungsdruck (und er musste immer wieder entstehen) in diesem Gallien kein Ventil nach außen mehr hatte, weder als Söldner noch als Räuber noch als Auswanderer eine Chance in der Außenwelt hatte, ganz anders als in früheren Zeiten. So zehrte sich die auch hierin große Spannung eben in steten inneren Kämpfen auf. Es ist denkbar, dass die Gallier mit den Verfassungskämpfen und dadurch auch mit den sozialen Problemen fertig geworden wären. Die ständigen Kriege bedeuteten offensichtlich keine Gefahr für das Land, da ein immerwährender Überschuss an Kräften zur Verfügung gestanden zu sein scheint. Nur mit einem wurden diese Gallier nicht fertig: mit der maßlosen Uneinigkeit im fast schon verkrampften Streit um den principatus. Es waren gerade die glühende Elastizität und die nie endende Aktivität, die eine im Krieg gefallene Entscheidung nie als dauernd akzeptierten, sondern den Streit immer erneuerten. Und als es ausweglos schien, zu einer Lösung zu kommen, holten die Sequaner den Germanen Ariovist, die Haeduer den Römer Caesar ins Land. 9.6.7.6 Die Rolle der Städte In der Reihe der Aktivitäten des „späten“ La-Tène ist aber unbedingt auch noch die neue, changierende Rolle der Oppida aufzuzählen. Die Gallier hatten sich auf ein einigermaßen blühendes Städtewesen eingelassen, das dereinst vielleicht bedenklich werden konnte. Doch dürfen wir diese Städte auch nicht überbewerten; dazu ausführlich auch schon oben 22 f. Sie spielten natürlich in den Kriegsberichten Caesars eine herausragende Rolle als

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Objekte von Eroberung, Zerstörung oder Schonung. Auch erhalten sie dadurch, dass gerade sie archäologisch reichlich, deutlich und mit sehr eindrucksvollen Befunden auftreten, heute eine wohl überproportionale Bedeutung. Aber so, wie sich der „Stamm“ stets seine grundsätzliche Struktur als Lebenseinheit bewahrt hatte, nahmen die Gallier – zumindest bis in die Zeit Caesars – auch im Leben der Städte soviel – oder sowenig – Anregungen aus dem Süden auf, wie ihnen beliebte. Diese damaligen Oppida waren immer noch etwas, das sich keltischer Art akkommodierte. Galliens Lebensformen bewiesen eben stets ihre Lebenskraft. Die Stämme, ob Republiken oder Königreiche, hatten bisher nicht geduldet, dass diese Städte ein Störfaktor in der herkömmlichen Gesellschafts- und Stammesstruktur wurden. Diese behielten ihre Grundmuster und ihre Funktionsgesetze bei. Es gab keine Stadtbürger als konstituierte, eigene Schicht. Der Vergobret der Haeduer war Oberbeamter des Stammes, aber nicht Bürgermeister von Bibracte. Ja wir hören – in so vielen Kämpfen und Wechselfällen – niemals ein Wort von städtischen Institutionen oder lokalen Beamten. Städte hatten militärische Rollen als Fluchtburgen und generell als befestigte Zentren. Sie waren ein wichtiger Ort des Handels oder ein sicherer Platz für die Aufbewahrung von Nachschub usw. (Noviodunum für Caesar). Ein Oppidum konnte als Ganzes in der Klientel eines Adeligen stehen, und hierin konnte ein Ansatz liegen, dem Streit zwischen den nobiles oder dem Streben nach dem Königtum eine neue Dimension und neue Mittel der Austragung zu geben. Gallische Städte hatten gegebenenfalls auctoritas, so etwa das haeduische Bibracte mehr als alle anderen Oppida des Stammes; das ist ein psychologisches Gewicht und eine praktische Funktion als Festung und Lager, aber kein politisches Recht. Avaricum wurde von den Biturigen das annähernd schönste Oppidum in ganz Gallien genannt. Auch wenn dies in einer brennenden, konkreten Notlage geschah, gibt es

doch den Blick auf neue Möglichkeiten (nur Möglichkeiten) frei: das größte Oppidum als Schmuck des Stammes; eine denkbare Rolle als Identifikationsobjekt des Stammes, rein gefühlsmäßig. Es lässt sich nicht sagen, was daraus geworden wäre, wie weit eine solche Neuheit hätte gehen können, oder ob überhaupt etwas daraus geworden wäre. Die römische Eroberung schnitt jede eigene Entwicklung oder Nichtentwicklung ab und gab dem Städtewesen ganz neue Aufgaben.

Caes. b. G. 6, 14, 3 cum in reliquis fere rebus, publicis privatisque rationibus, Graecis utantur litteris; vgl. ebd. 1, 29, 1. Das Vorbild des griechischen Massalia war hier wirksam. Geht dieser Gebrauch, gleichviel in welchem Ausmaß, schon in längere Vergangenheit (etwa ins 2. Jh. v. Chr.) zurück, da die Gallier nicht das Alphabet des siegreichen Rom übernahmen? Als Ursprungsfeld dieses Gebrauches kommen Handelsabschlüsse und Abrechnungen mit den massaliotischen Kaufleuten in Betracht; so Strab. 4, 5, 1 p. 181. Caes. b. G. 5, 48, 4: an den im Winterlager bedrohten Q. Cicero sendet Caesar einen Brief in griechischen Buchstaben: hanc Graecis conscriptam litteris mittit, ne intercepta epistula nostra ab hostibus consilia

cognoscantur. Hier sind also diese griechischen Buchstaben unbekannt. Es ist verlockend, aus dieser Stelle auf eine Kenntnis des lateinischen Alphabets zu schließen. Sicher ist das wohl kaum, denn es wird ja, noch weit darüber hinaus, auch das Verstehen der lateinischen Sprache vorausgesetzt, was sicher nicht weit verbreitet war, da Caesar sogar mit Diviciacus durch Dolmetscher verkehrte (ebd. 1, 19, 3). Vielleicht ist also an Kriegsgefangene zu denken, vielleicht aber auch an die in den bisherigen Kriegsjahren bei manchen Kelten gestiegenen Kenntnisse, da ja nicht nur Caesar, sondern auch die Gallier jetzt lateinische Dolmetscher benötigten.

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9.6.7.7 Die Schrift? Ein anderer Aspekt einer möglichen Neuentwicklung sei gestreift. Wir haben gesagt, dass die Gallier die Verwendung des Schriftprinzips glatt ablehnten, und zwar für alles, was ihnen für ihre kulturelle Identität und geistige Würde wichtig war (vgl. Caes. b. G. 6, 14, 3–6). Nur für unedle und triviale Zwecke ließen sie dieses nichtgeachtete Prinzip gelten. Aber für diese Zwecke verwendeten sie die griechischen Buchstaben anscheinend in beträchtlichem Umfang, wenn Caesar recht hat, wohl mehr als andere Kelten158. Sie waren in der Tat gelehrig und stets offen für Neues, natürlich nur im gegebenen Rahmen. Dennoch darf man sich den Gebrauch der griechischen Buchstaben nicht allzu intensiv vorstellen, zumindestens nicht im Norden Galliens159. Noch ergab sich daraus keinerlei Neuerung. Wäre es vielleicht doch nicht ganz und gar undenkbar, dass sie in diesem Punkt irgendwann doch noch irgendwie weicher geworden wären? Doch das bedeutet bereits die ungeheure Frage, ob sie auf die Dauer, für immer und für alle Zukunft, auf dem Typ einer urgeschichtlichen Kultur beharrt oder, sich doch akkulturierend, selber den Übergang zur „Hochkultur“ eigener Prägung vollzogen hätten. Es ist die wichtigste und interessanteste der Fragen, aber wir können über sie nicht einmal spekulieren.

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9.6.7.8 Tapferkeit und gallisches Selbstwertgefühl Erinnern wir daran, dass für Cicero die „Rettung“ der Stadt Rom vor dem Umsturz Catilinas und die dabei – wie er hoffte – geglückte Neugründung des Staates sein Leben lang die zentrale Tatsache seines Selbstwertes und Inhalt aller Ansprüche auf Geltung war, nicht seine Schriften oder gar die philosophischen Werke, die doch für uns ungleich wichtiger sind und seinen wahren Ruhm begründen. Ebenso müssen wir in anderen Kulturen auch andere, uns ungewohnte Kriterien des Selbstwertes akzeptieren. So war bei den Kelten – wie ja auch bei vielen anderen Kulturen – ihre höchstrangige kriegerische Virtus das eigentliche Kennzeichen der Identität und damit das Mittel der Identifikation, das Kriterium für ihre Überlegenheit über andere Völker (tunlichst über alle Völker), der Gradmesser des Vorrangs ihrer Kultur und ihres kulturellen Menschenbildes. Einst hatte diese Virtus Raubzüge gegen alle Welt gerechtfertigt, und auch jetzt besaß sie immer noch ihre politische Rechtfertigungsmacht: Oft setzte sie das Recht, unterstand ihm aber nicht. Sie war die wahre Entscheidung für die Übernahme des principatus in Gallien, des Amtes des Oberdruiden160 und, so Poseidonios, jederzeit beim Streit um Ehre161: Diese Ehre bestand eben in der Kampfkraft. Im Jahr 52 v. Chr. beschwor der Chauvinist Critognatus die pristinae … virtutis memoria und nannte Roms Neid auf den edlen Ruhm und die Kriegskraft der Kelten als ein Motiv für den Krieg der Römer gegen Gallien162. Schon der ältere Cato (Orig. Frg. 2, 3, ed. Chassignet 1986) hat bekanntlich die res militaris gemeinsam mit klugem Reden für die zwei Hauptanliegen der omnis Gallia (für ihn primär in Oberitalien) erklärt. Aus einem Bericht Caesars geht hervor, dass sie einst sich selbst für das tapferste Volk der Welt gehalten hatten; erst als sie oft von Germanen besiegt wurden, erkannten sie deren Vorrang an, schätzten sich aber als die Zweithöchsten ein; das sogar mitten im gallischen Krieg und offensichtlich auch auf die Römer bezogen. Tiefer als an die zweite Stelle zu sinken, war ihnen offenbar seelisch unmöglich163. Es war gerade diese Gedankenwelt und dieser Selbstwert, an den Critognatus als an einen äußersten Wert appel-

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Caes. b. G. 6, 13, 9; wohl dort, wo eine gütliche Einigung nicht möglich war. Über den Streit um das Ehrenstück beim Mahl, notfalls sofort durch einen Zweikampf entschieden, siehe etwa Poseid. FGrH 87 F 16. Caes. b. G. 7, 77, 4, besonders 15: Romani vero quid petunt aliud aut quid volunt nisi invidia adducti, quos fama nobiles potentesque bello cognoverunt, horum in agris civitatibusque considere atque his aeternam iniungere servitutem?

lierte. Ganz unberechtigt war dieser Stolz nicht, denn Gallien schuf selbst einem Caesar mit einem perfekten römischen Heer Mühen und äußerste Gefahr. Dieses Zeugnis ist auch deswegen interessant, weil es zeigt, wie diese Gallier des „Spätlatène“ mit beachtlicher Beweglichkeit des Geistes und durchaus realistisch selbst die Germanen und Ariovist als neuen Faktor in ihr Welt- und Wertbild einordneten und doch auch wieder ihr Selbstgefühl nach Möglichkeit sicherten. Ihr Denken war scharf, sehr aktiv und offen. Die „späten“ Kelten sind (auch in den Ostalpen) eines ausgewogeneren modernen Urteils würdig. 9.6.7.9 Die Grenzen der Archäologie Methodisch interessant ist, dass all dieser geistige und politische Reichtum mitsamt seinem erregt vibrierenden Leben archäologisch nur zu einem winzigen Teil nachgewiesen werden könnte: Das große Avernerreich mit seinen Erfolgen, Festen und Niederlagen, sogar der Kimbernzug, die blühende oral poetry164, die komplizierten Lehren der Druiden, ja die Existenz der Druiden, die eng vernetzten gesellschaftlichen Beziehungen in Klientel und Gefolgschaft weit über das ganze riesige Gallien hin, die Freude am Wettstreit, der ganze principatus totius Galliae und sein Wechsel, das soziale Problem, das bis zum Zerreißen gespannt war, die vielen Stammesreiche, die wechselnden Staatsformen, all das intensive, unerhört belebte Dasein eines Gallien mit all den tausend Formen und Variationen, den Plänen, den Ideen, den ungeheuren Absichten, jeder Wechsel, alle diese Kriege, Hoffnungen und Tragödien, denen selbst der größte Pessimist die Bewertung als echte Geschichte nicht absprechen könnte – ohne griechische und römische schriftliche Berichte hätten wir bestenfalls nur seltene, zweifelhafte Hinweise in den Funden. Könnte jemand wagen, solches auch nur in Andeutungen zu vermuten? Und wer würde den welthistorisch wichtigen Unterschied zu den Germanen aus Zerstörungshorizonten, Gräbern, handwerklichen Techniken, Form und Dekoration der Keramik in dieser Art und Größe ausreichend und historisch deutend zu erschließen wagen?

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Caes. b. G. 6, 24, 1–6 ac fuit antea tempus, cum Germanos Galli virtute superarent … paulatim adsuefacti superare multisque victi proeliis ne se quidem ipsi cum illis virtute comparant. Dazu Dobesch 1999, 349 f. Zu Caesars Nachrichten über die Druiden sind die griechischen Bezeugungen der Barden (z. B. Diod. 5, 31, 2; Poseid. FGrH 87 F 17) und das Beispiel eines ad hoc improvisierten Liedes eines dankbaren Sängers im 2. Jh. v. Chr. (ebd. F 18) zu stellen.

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

All dies beweist nicht, dass es überall und immer in der Urgeschichte so war, es legt aber unseren Negationen und generellen Geschichtsbildern enge Grenzen auf. 9.7 Romanisierung Die Festigkeit, mit der die Kelten an ihrem Kulturtyp festhielten, könnte als ein Widerspruch dazu angesehen werden, dass sie sich dann auffallend rasch romanisierten, vor allem in Kultur und Gesinnung. Aber gerade diese beiden Tatsachen sind zutiefst miteinander verbunden. Erinnern wir an das, was wir oben über die Gallier der Poebene sagten (74 f.): Sie verweigerten Änderung und Akkulturation an Etrusker, Italiker und Römer, aber als sie nach weit mehr als eine Generation währenden, erbitterten Kämpfen bis zur letzten Kraft militärisch endgültig und ohne fernere Hoffnung gebrochen waren (193 v. Chr.; 189 Bononia latinische Kolonie; 183 Parma und Mutina Bürgerkolonien; 181 Aquileia latinische Kolonie), da konnte Polybios, wie wir sahen, um 150 v. Chr. oder eher noch früher feststellen, dass zu dieser Zeit keltisches Wesen aus Oberitalien mit Ausnahme kleiner Rückzugsgebiete am Rande der Poebene bereits verschwunden war. Im 1. Jh. v. Chr. waren ihre Nachkommen begeisterte Römer, verlangten das volle Bürgerrecht, ihre Jugend kämpfte in entscheidendem Maß unter Caesar gegen das große Gallien und Männer aus diesem Land waren wesentliche und leidenschaftliche Vertreter und Teilhaber an römischem Leben, römischer Literatur und römischem Selbstverständnis. Mit den Galliern der Narbonensis ging es nicht viel anders (s. 78 f.). Das Gebiet war erst 121/120 v. Chr. zur Provinz gemacht worden, also lebte keltisches Leben noch in beachtlichem Ausmaß weiter, aber problemlos und ohne Feindschaft gegen Rom. Sie blieben im großen gallischen Krieg Caesar völlig treu, ja sie unterstützten die Römer, und Caesar erkannte ihre Romanisierung an und förderte sie wesentlich (78). Über die Familie des Pompeius Trogus und ihn selbst, an denen diese totale Romanisierung manifest wird, haben wir schon gesprochen (78 f.). Auf derselben Linie lag auch das Verhalten der Galater in Kleinasien nach ihrer endgültigen Niederlage (75). In dieses Verhaltensmuster reihen sich auch die Gallier des großen caesarischen Gallien (übrigens später auch die Bri-

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Strabon (4, 4, 2 p. 196) sagt, dass zu seiner Zeit (Augustus/früher Tiberius) der beste Teil der römischen Reiterei in den Auxilien aus Gallien stammte.

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tanniens) ein. Sie kämpften heldenhaft bis zur letzten Erschöpfung, aber als die Entscheidung gefallen war, versuchten sie, von lokalen Phänomenen abgesehen, keinen Aufstand mehr. Sie akzeptierten die römische Herrschaft, sie wurden treue Untertanen und kämpften in römischen Heeren165. Sie akzeptierten ebenso die siegreiche Kultur; schon im 1. Jh. n. Chr. konnte Agricola in Britannien, lobend und als Vorbild, die blühende römisch-griechische Bildung dieser Stämme, die studia Gallorum, preisen (Tac. Agr. 21, 2)166. Natürlich galt das für die Oberschicht, die Geld genug für Schulen und ein Verlangen nach kulturellem Prestige in römischem Zuschnitt hatten. Vornehme gallische Jugend scheint vielleicht auch in Massalia gelernt zu haben (Strab. 4, 1, 5 p. 181 und 4, 4, 2 p. 195). Gerade bei den ritterlichen Kelten ist eine solche Einstellung psychologisch zu verstehen. Einst hatten sie sich für die Tapfersten der Welt gehalten, dann für die Zweittapfersten nach den Germanen (Dobesch 1999). Aber auch das hatte sich noch als Illusion erwiesen. Selbst bei Aufgebot aller Kräfte waren sie von Rom völlig, unzweideutig und – das ist sehr wichtig – in ehrlichem Kampf offen und ohne Zweifel geschlagen worden. Das akzeptierten sie nun, so wie einst gegenüber den Germanen. Das ist das Charakteristische an einem heroischen Menschenbild und an Ritterethos: Nach äußerstem Bemühen überwunden, ergeben sie sich großmütig und aufrichtig als besiegt, ergeben sich als immer noch Edle zu Recht an Edlere. Kriegsentscheidung hat hier in sich den Stempel einer echten, auch von den Göttern gewollten Rechtsentscheidung, sie schafft einen ordentlichen, ethischen Rechtstitel167. Es war keine Schande für Tapfere, von den Römern unterworfen zu werden, die sogar auch den Germanen überlegen waren. In relativ kurzer Zeit musste dadurch eine Umorientierung des Selbst- und des Kulturverständnisses eintreten, eine Wandlung des Menschenbildes. Die südliche Kultur, von der sie einst einigen Luxus und die praktischen griechischen Buchstaben hatten gelten lassen, sonst fast gar nichts, hatte sich in ganz anderer Weise, bis in die Tiefe gallischen Menschenseins, als völlig überlegen erwiesen. So nahmen sie, viel mehr noch bezwungen als gezwungen, die Stellung als Teil eines sieghaften Weltreiches an. Wir werden unten sehen, dass sie diese Stellung bald lebendig und selbstbewusst ausnützten.

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Es gab in Gallien florierende Rednerschulen schon zur Zeit Strabons (Strab. 4, 1,5 p. 181). Siehe Caes. b. G. 6, 149 (Entscheidung über das Amt des Oberdruiden).

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Und dazu trat gerade eben die Verschiedenheit der Kulturtypen. Das neue, reiche kulturelle Leben der ins Land verpflanzten römisch-griechischen Zivilisation gewann immer mehr einen unvermeidbaren Charakter, und so waren das alte Menschenbild und seine Kultur, mit ihr unvereinbar, nicht zu retten. Sie mussten gerade um ihrer Ganzheit willen als geistige Ganzheit versinken. La-Tène hatte sich nicht umformen lassen können, so ist es denn fast völlig untergegangen. Welche Bedeutung es hatte, sich einer siegreichen Welt und dem Prestige eines siegreichen Volkes zuzuschreiben, haben wir 76 behandelt. Die alte Kultur und ihr Selbstgefühl als Zentrum von Virtus waren beide besiegt worden. So versank dieser alte Kulturtyp nicht in vielen einzelnen Details, sondern nur in der Gesamtheit, hier aber völlig. Im caesarischen Gallien entstand im Wesentlichen keine Mischkultur, da hier nur sehr wenig zu mischen war, auch wenn z. B. einheimische Einflüsse in kleinen Besonderheiten der plastischen Kunst oder in der Mode lange wirksam waren. Vor uns steht eine manchmal lokal getönte, aber eindeutig römische Provinzialkultur. Der Übergang zu antiker Plastizität geschah jetzt relativ mühelos, weil man eben wirklich griechisch-römisch formte und empfand. Es ging hier nicht um eine naive Frage von „höherer“ oder „geringerer“ Kultur, sondern um ein getrenntes Wesen. Was sich an altgallischen Elementen in die neue Kultur integrieren ließ, wurde festgehalten, aber es waren getrennte und vereinzelte Tatsachen, die auch außerhalb des La-Tène-Systems und seines Kulturtyps bestehen konnten: die gallische Leuga, der Torques als Würdezeichen, der hohe Wert persönlicher Gefolgschaft, das stolze Selbstgefühl des Vornehmen (dazu Dobesch 1980, 436 ff.) und vor allem ein sehr großer Teil der Religion. In ihr verschmolz, wie allerdings fast überall in den Provinzen, einheimisches Gut wirklich mit dem fremden im Sinne einer interpretatio Romana, gallische und mediterrane Götter wurden gleichgesetzt oder standen ohne Probleme nebeneinander. Nicht der La-Tène-Stil und die La-Tène-Kultur wurden akkulturiert, sondern einige La-Tène-Elemente wurden in die provinzialrömische Kultur inkulturiert und integriert.

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Anscheinend durften in Gades finstere punische Opferformen bis in Caesars Zeit existieren (Cic. Balb. 43). Hier ist freilich zu bedenken, dass führende gallische Familien im caesarischen Krieg unvermeidlicher Weise in großer Zahl ausgerottet oder depossediert worden waren. Die Institution des gallischen Adels schwand dadurch nicht, aber die Auswechslung des Personenkreises muss bedeutenden Umfang gehabt haben. So kamen wohl mancherlei „neue“ Familien hinauf.

Nur zwei Dinge blieben ein Fremdkörper, nicht so sehr politisch als geistig: allzu grausame Opferriten und der fest und scharf organisierte Druidenorden mit seinem umfassenden und monolithischen Anspruch auf religiöse und moralische Führung, unterstützt durch ein hochentwickeltes „philosophisches“ System und verbunden mit weitgeltender juristischer Geltung als Schiedsrichter. Letztere muss ja auch nach Caesars Eroberung fortbestanden haben, gerade sie war aber auf die Dauer für Rom schwer erträglich und mag schon bald geendet haben. Caesar und Augustus ließen es – vielleicht mit dieser Ausnahme – auf keine Kraftprobe mit Opferwesen und Druiden ankommen168; erst später griff Rom ein. Wir haben es schon oben betont: Die Gallier, jetzt ganz zur Schriftkultur römischer Art übergegangen, empfanden keinerlei Neigung, ihre alten Traditionen – offenbar nicht einmal die der eigenen Familie169 – in die neue Schriftkultur hereinzunehmen und mit dem neuen Instrument aufzuzeichnen. Waren diese überhaupt inkulturierbar? Konnten sie ins Lateinische übersetzt werden? Und wenn, so wären sie ein völliger Fremdkörper in der lateinischen Bildung und Literatur gewesen. Hier wirkte also der Unterschied des Kulturtyps offenbar stark. Hier konnte es keinen Manetho, Berossos oder Philon von Byblos geben, die aus den Bereichen schriftlicher Hochkultur stammten; und selbst um deren Schriften haben sich weder Griechen noch Römer sonderlich gekümmert. Für Kalenderzwecke waren die neuen Mittel gut geeignet, denn hier waren deutliche Fixierung und allgemeine Information nützlich. Aber ansonsten wurden nicht nur heilige Texte, deren schriftliche Festlegung die Druiden auch weiterhin verhindern konnten, nicht aufgezeichnet, sondern auch Mythen, Göttergeschichten, Literatur jeder Art (Barden, lyrischer Preis von Vornehmen oder auch Schmähungen, geschichtliche Erinnerungen und jedes Gedenken an einstige, vielbewunderte Helden)170, das alles versank spurlos im Abgrund einer Unvereinbarkeit, die nur ein Entwederoder und keinen wirklichen Kompromiss kannte171. In diesem Sinne war sich Pompeius Trogus (ausführlich oben 78 f.) seines Keltentums nicht ohne Stolz bewusst,

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Der Bardenstand kann ja kaum plötzlich total geendet haben. Aber ihre altgallische Kunst lag eben auf einer anderen Ebene als die römische Literatur und Redekunst, für die dergleichen Hervorbringungen überdies kaum als echte, geformte Kunst galten. Mit der Zeit mögen im neuen Ambiente der Vornehmen die Barden unnötig geworden und ausgestorben sein. Als Ausnahme, die die Regel umso deutlicher hervortreten lässt, gelangte die namengebende Ursprungssage der Stadt Virunum (d. h.

Zentrum, Peripherie und „Barbaren“ in der Urgeschichte und der Alten Geschichte

doch dieses, des alten Kulturtyps entkleidet, verband sich jetzt nahtlos mit Rom und seinem Reich, ein Widerspruch existierte nicht mehr, er hatte römische Wertbegriffe übernommen. Irgendein besonderes Verständnis für La-Tène oder gar allgemein für die ehemaligen „Barbaren“ fehlte bei ihm. Hier gab es offenbar unüberwindbare Schranken. Wenn Trogus wirklich eine Art „Anti-Livius“ war (dazu Dobesch 1980, 370 ff.) und dessen strengster Beschränkung auf die Geschichte Roms die Fülle der Weltgeschichte entgegensetzte und sie – nicht weniger römisch als Livius! – in die römische Geschichte, in das neue Weltreich des Augustus und Roms Weltbild einbrachte, könnte das mit seiner eigenen Position einerseits von betonter keltischer, nichtrömischer Abstammung und andererseits seines völligen, überzeugten Römertums, dessen Alter in seiner Familie er sich ganz ebenso rühmte, zusammenhängen. Er war ein gallischer Römer. Wir sähen dann in ihm eine bemerkenswerte Bereicherung der römischen Kultur, die zwar die allein geltende blieb, aber durch römischen Geist aus den Provinzen, erstmals in dieser Deutlichkeit, einen wesentlichen Impuls erhielt. Aus Trogus spricht – wie bisher nur aus griechischen Autoren, bei denen das viel leichter möglich war – eine neue Auffassung des römischen Weltreichs, die besser zu Caesar, dessen wichtiger Vertrauensmann sein Vater gewesen war, als zu Augustus passt. Das unleugbare Selbstgefühl des Galliers Trogus führt zu einem Blick in die Zukunft. Wohl gab es den Aufstand des Julius Sacrovir und des Julius Sabinus (sehr skeptisch dazu jüngst Urban 1999, 39 ff. 69 ff.) im 1. Jh. n. Chr., aber dieser Tatbestand ist weit weniger aussagekräftig als es der geringe Widerhall dieser Initiativen in Gallien ist172. In Wahrheit agierten die Gallier auf einer anderen Ebene. Caesar und Augustus hatten Gallien im Sinne des Römerreiches zu einer inneren Peripherie gemacht. Caesar war darangegangen, sogleich römisches Städtewesen nach Gallien zu verpflanzen, als eine mentale Verschmelzung, so wie durch seine neuen Römerstädte im griechischen Osten. Er und Augustus hatten die höchsten Spitzen des gallischen Adels schon durch die Verleihung des römischen Bürgerrechts ausgezeichnet, ja in römisches Leben zum Teil einbezogen. Nach den Verwüstungen des caesarischen Krieges hatte sich Gallien nach Jahrzehnten glänzend erholt, und die

damals der Siedlung auf dem Magdalensberg) in die mediterrane Literatur. Aber diese war für griechisch-römisches Denken einigermaßen akzeptierbar und transzendierte nicht dessen mythologische Formen. Zu dieser Sage siehe Dobesch 1997, 107 ff. Dieser Aufsatz hat schon einige andere Theorien nach sich gezogen.

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einheimische gallische Oberschicht galt in der frühen Kaiserzeit in Rom – keiner Stadt armer Leute! – als besonders reich173. Wie lange akzeptierte Gallien eine periphere Stellung, und in welchem Ausmaß? Als nach dem starr römischen Tiberius unter dem liberalen Claudius die gallischen Edlen Morgenluft witterten, besaßen sie die Kühnheit, von sich aus den Kaiser zu bitten, ihnen (d.h. de facto der exklusiven Oberschicht) zu dem bereits vorhandenen Bürgerrecht auch noch den Zugang in die hohen stadtrömischen Ämter und damit in den Senat zu öffnen; also bis ins Zentrum des Weltreiches und des römischen Selbstgefühls. Das war in römischen Kategorien gedacht, war aber ein geradezu extremer Versuch, am Zentrum selbst beteiligt zu sein. Claudius gewährte es ihnen. So emanzipierten sie sich aus dem Dasein als Peripherie. Es lag im hohen Selbstgefühl dieser Edlen im römischen Rahmen ein spezifisch gallisches Selbstgefühl. Das hatte also auch die Niederlage überdauert bzw. war bald wieder aufgelebt. Im gallischen Wesen lag eine seltsame Unverwüstlichkeit. Als in den Wirren der Jahre 70/71 n. Chr., der schlimmsten Krise des Reiches seit den Bürgerkriegen, Roms Macht in den Fundamenten zu wanken, ja zusammenzubrechen schien, erwuchs in Gallien kurzfristig die Chimäre eines imperium Galliarum174, und Druiden verkündeten, der Brand des Kapitols in Rom verheiße den Stämmen jenseits der Alpen175 die Weltherrschaft (vgl.Tac. hist. 4, 54, 2). Es war ein Strohfeuer. Die überwältigende Mehrheit der Gallier ließ sich dadurch in keiner Weise rühren (s. o.); aber diese Worte zeigen jenseits des politischen Moments und seiner leeren Utopie doch, wie sehr man sich als etwas Eigenes und Großes und als ein latentes Zentrum erlebte. 9.8 Noch einmal zum „Volkscharakter“ der Kelten Wir lassen hier das populäre Keltenbild beiseite, für das dieses Volk nicht nur aus dem Dunkel kam, sondern auch nicht weit darüber hinaus gelangte und im interessanten Dämmern stehen blieb. Druiden, Feen, Esoterik, Anderswelt, weise Frauen, mystische Naturverbundenheit – all das braucht hier nicht erörtert zu werden. Es tut, in dieser Form ausgestaltet, den Kelten schweres Unrecht. Aber auch die wissenschaftliche Vorstellung von den anti-

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Die Erhebung des Vindex gegen Nero trug ausschließlich römischen Charakter. Tac. ann. 11, 23, 4 oppleturos omnia divites illos. Neuerdings geleugnet von Urban 1999, 71 f. 78 ff. 124 f. mit Gründen, die mir nicht auszureichen scheinen. Tacitus schreibt natürlich aus der geographischen Sicht Italiens.

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ken Kelten enthält viele Ideen von Ruhmsucht, gewaltiger Vorstellungskraft, zu leicht gefassten Entschlüssen, mentaler Beweglichkeit, Überschwang, Poesie usw. All das trifft völlig zu. Aber es sagt nicht alles. Denn wie in vielen großen Kulturen vermählten sich auch in Gallien viele, oft krasse Widersprüche, und sicher nicht erst in der Zeit Caesars. Hochgemute Ritterlichkeit und edelste Aufopferung stehen neben der soeben genannten großsprecherischen Prahlerei und großen Illusionen; arroganter Leichtsinn verbindet sich mit tiefem religiösen Denken, Pflichterfüllung mit maßlosem Selbstgefühl, äußerst bewegliche Phantasie mit höchst fortgeschrittener Technik176, und formenreiche Kunst – auch Dichtung – feinen Geschmacks vereint sich mit Exzessen wildester Grausamkeit, heroische Größe und Noblesse mit Handlungen, die an religiösen Wahn grenzen. Diese Gegensätze waren durchaus keine coincidentia oppositorum, da sie, völlig unharmonisiert, sich viel mehr in einem oft erschütternden, oft schauerlichen Hin-und-her-Gerissensein auslebten. Zu diesen Gegensätzen stellt sich eine weitere Polarität, die zum Guten gewendet werden darf: Aller Phantastik in Kunst und, wie wir annehmen dürfen, in Mythos und religiöser Vorstellungswelt stand ein sehr bedeutendes, rationales (und technisches) Denken zur Seite, ja noch mehr, ein Zug ausgesprochener Nüchternheit und ein deutlicher, vernünftiger Realismus. Dieser half ihnen, selbst die extreme Umkehr aller Dinge unter Caesar in letztlich doch heilem Zustand zu überleben. Er ermöglichte ihnen, sich mit freiem, beweglichem und doch ausharrendem Geist und mit seriöser und solider Intelligenz in die neue Lage im Imperium Romanum zu fügen und aus ihr eben das Beste zu machen. Die Gallier überlebten La-Tène mit einer Elastizität, die mit Leichtsinn überhaupt nichts zu tun hat, eher ein Gegenteil dazu ist. Sie behielten ihre gallische Identität (Pompeius Trogus!) ohne Feindschaft gegen Rom, so wie es sonst etwa die Griechen oder, schon viel begrenzter, die Ägypter vermochten. Der Fähigkeit Roms, andere zu assimilieren, steht eine gallische Bereitschaft gegenüber, sich anzuschließen, aber

ohne unterzugehen. Trotz aller Erregbarkeit ergab man sich nach dem Sieg, mit winzigen Ausnahmen, klarsichtig in die Fakten, ohne zu verzweifeln und auch ohne seelisch zusammenzubrechen. Gallische Wirtschaftskraft schuf nach der furchtbaren Schädigung der Kriege unter Caesar relativ bald wieder eines der wohlhabendsten Länder des Imperiums, es waren gallische Adelige, die erneut zu ungeheuren Reichtümern aufstiegen. Überhaupt ist darauf hinzuweisen, dass zwar die personale Besetzung, nicht aber die Tatsache des keltischen Adels verschwand. Caesar rührte das soziale Gefüge der gallischen Stämme in keiner Weise an, er sorgte nur für eine romfreundliche Besetzung der unveränderten Positionen. Auch die Galater scheinen letztlich in der Art der großen Gallier reagiert zu haben, bezeichnenderweise erst nach dem endgültigen Sieg Roms, der keine andere Hoffnung mehr übrig ließ. Wir ahnen etwas Ähnliches, wenn sich 15 v. Chr. in den Ostalpen die Noriker – und fast alle Stämme ihrer Hegemonie – ohne sinnlosen Heroismus kampflos der römischen Okkupation fügten. Kelten verstanden nicht nur zu träumen, sondern ebenso gut auch wach zu sein, in der Praxis und mit den Anforderungen des Alltags zu leben. Ob das für alle Teile und Gebiete dieser riesigen Völkerfamilie galt, und ob zu allen Zeiten, kann hier nicht untersucht werden. Dass aber viele so lebten und überlebten, scheint sich doch abzuzeichnen.

Dazu z. B. Caes. b. G. 7, 22, 2 über die Biturigen, die Avaricum verteidigten: et laqueis falces avertebant, quas cum destinaverant, tormentis introrsus reducebant, et aggerem cuniculis subtrahebant, eo scientuis quod apud eos magnae sunt ferrariae atque omne genus cuniculorum notum atque usitatum est. Dazu auch die folgenden Paragraphen 3–5; nicht zufällig folgt die Beschreibung des exakt gebauten, sehr wirksamen murus gallicus in all seiner Rationalität (ebd. 7, 23, 1–5). Fast noch wichtiger ist, dass Caesar vor all dem in ebd. 7, 22, 1 die Gelehrigkeit der Gal-

lier gerade für solche technische Fertigkeit anerkennend heraushebt: singulari militum nostrorum virtuti consilia cuiusquemodi Gallorum occurrebant, ut est summae genus sollertiae atque ad omnia imitanda et efficienda (!), quae a quoque traduntur, aptissimum. (Vgl. das Erlernen der Verschanzung von Lagern oben Anm. 156.) Die Römer mussten in der Tat vor Avaricum ihre höchsten Fähigkeiten anstrengen, um zu siegen.

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10. „Barbaren“ Aus Umfangsgründen muss ein bereits verfasstes Kapitel über die Fragwürdigkeit auch des wissenschaftlichen „Barbarenbegriffes“ hier wegfallen und an anderer Stelle veröffentlicht werden. Statt dessen sei nicht nur auf die über den ganzen Text verstreuten Beobachtungen zu Entstehung und Inhalt solcher Vorstellungen verwiesen, sondern auch auf meine grundsätzliche Stellungnahme in: Dobesch 1995, 7 ff. 9 f. 11 ff.

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Die Namen der Barbaren: Fremdbezeichnung und Identität in Spätantike und Frühmittelalter

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Die Namen der Barbaren: Fremdbezeichnung und Identität in Spätantike und Frühmittelalter Walter Pohl Zentrum und Peripherie sind durch vielerlei Beziehungen verbunden. Wie sich schon im Inhaltsverzeichnis dieses Bandes zeigt, hat die Archäologie in vielen dieser Bereiche wesentlich reichere Befunde zur Verfügung als die Geschichtswissenschaft im engeren Sinn. Unsere Quellen sind karg und zudem von bestimmten Wahrnehmungsmustern geprägt, die freilich selbst immer mehr zum Thema werden. Ein grundlegendes Muster lässt sich bei der römischen Welt wie bei vielen anderen Zivilisationen feststellen: Die Peripherie wurde als das ganz Andere, Barbarische betrachtet. Diese Barbarenbilder und Stereotypen sind inzwischen recht gut erforscht: Barbaren sind wild, unbeherrscht, treubrüchig, grausam, trunksüchtig, unbeständig, doch tapfer und freiheitsliebend, zuweilen auch in ihrem einfachen Leben bewundernswert, in der Ehe treu und gastfreundlich (Müller 1980; Dauge 1981; Pohl 2000). Die römische Welt hielt sich in ihrer Peripherie einen fernen Spiegel vor, in dem sie selbst nicht immer vorteilhaft aussah und sich doch ihrer Überlegenheit bewusst blieb. Doch was römische und byzantinische Quellen (und später christlich-abendländische) über Barbaren und Fremdvölker berichten, sind nicht einfach Vorurteile. Hier wurde Wissen gesammelt, geordnet, ausgewählt und tradiert. Antike und frühmittelalterliche Ethnographie bieten ein hoch entwickeltes Instrumentarium, um die Peripherie aus Sicht des Zentrums überschaubarer und damit auch kalkulierbarer und leichter beherrschbar zu machen. Stereotypen und überkommene, teils überholte Orientierungsmuster verbinden sich mit durchaus angemessenen Beobachtungen und Einteilungen. Nicht immer lässt sich das eine sicher vom anderen scheiden, zumal wenn dazu eine hohe Darstellungskunst kommt, wie in der Germania des Tacitus, der gerade in scheinbar einfachen Aussagen komplexe Bedeutungen transportiert (Jankuhn/Timpe 1989; Neumann/Seemann

1992). Demgemäß kontrovers ist die Interpretation seiner Aussagen diskutiert worden. In diesem, wie auch in anderen Fällen kann die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Historikern und Archäologen vieles zur Lösung beitragen. Doch ist sie ein methodisch anspruchsvolles Verfahren und setzt voraus, dass Archäologen die historischen Quellen nicht einfach zum Nachschlagen verwenden; ebenso dass Historiker von archäologischen Arbeiten mehr als die historischen Schlussfolgerungen zur Kenntnis nehmen. Aber das ist gerade in dieser Publikationsreihe schon öfters gesagt und auch eingelöst worden. Ein Fall, in dem der Historiker dem Archäologen, der sich darauf einlassen will, mehr anbieten kann als dieser ohne weiteres selbst aus den Quellen herauslesen kann, ist die ethnische Ordnung des Raumes (wobei mehr in manchen Fällen dabei auch weniger sein kann, nämlich der Hinweis, dass eine bestimmte Quelle die ihr aufgebürdeten Deutungen nicht tragen kann – ein zunehmendes Problem der interdisziplinären Zusammenarbeit). Das Problem der ethnischen Deutung frühgeschichtlicher Fundgruppen ist ja eine der großen Fragen der Archäologie und auch für die Geschichtswissenschaft von hohem Interesse und hat in der deutschsprachigen Archäologie zuletzt wieder heftige Debatten ausgelöst (z. B. Daim 1998; Bierbrauer 1999; Siegmund 2000; Brather 2000). Was der Historiker zunächst dazu beitragen kann, ist Voraussetzungen und Kontext der Benennung von Völkern in den Schriftquellen zu untersuchen. Was meinte ein antiker oder frühmittelalterlicher Autor, wenn er von Völkern sprach? Setzt die Nennung in der Quelle barbarische Identität bereits voraus, trug sie dazu bei, oder hat sie wenig damit zu tun? Hier muss sicherlich differenziert werden, und dazu soll meine Skizze ein wenig beitragen (zum Hintergrund: Wolfram 1992; Geary 2002; Pohl 2002).

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Sicher ist zunächst, dass die barbarische Peripherie aus den Zentren des römischen Mittelmeerraumes als Welt von Gentes wahrgenommen wurde, als vielgestaltige und doch gleichförmige ethnische Landschaft, deren plötzliche und oft unvorhergesehene Veränderungen doch nur zur Wiederkehr des Immergleichen führten. Die Hunnen mochten in verheerender Schnelligkeit über die gotischen Völker herfallen, sie waren doch nur Skythen wie alle anderen Steppenvölker vor ihnen. Doch war die ethnische Zugehörigkeit der Bewohner der Peripherie für die Beobachter aus den Zentralräumen der römischen Welt keineswegs gleichgültig. Es ist beeindruckend, was für ein reiches Namenmaterial aus dem Barbaricum über die Jahrhunderte überliefert wurde. Kaum ein Werk der Historiographie kommt ohne eine Vielfalt an barbarischen Völkernamen aus. Manche Autoren geben darüber hinaus lange Namenlisten, die teils weit über das hinausgehen, was wir heute nachvollziehen können, bis hinunter zu civitates, lokalen oder regionalen Gemeinschaften oder Siedlungsmittelpunkten: Derartiges findet sich etwa bei Ptolemaios, später beim Geographen von Ravenna oder beim bayerischen Geographen des 9. Jahrhunderts. Auch Isidor von Sevilla bietet lange Listen von Völkern aus einem Jahrtausend antiker Bildungsgeschichte, jeweils mit meist phantastischen Etymologien versehen (Isid. orig. IX; Fontaine 2000). Außergewöhnlich in ihrer Kombination von Namen, ungefährer Lokalisierung und in ihren zusätzlichen Informationen ist die Germania des Tacitus; wenn wir ähnliches aus dem 5. oder aus dem 8. Jahrhundert hätten, wären manche offenen Forschungsfragen wohl gelöst. Doch erscheinen auch bei spätantiken und frühmittelalterlichen Historikern teils recht materialreiche ethnographische Exkurse, etwa bei Orosius, Jordanes, Prokop und bei Theophylactus Simocatta, bis zu einem gewissen Grad auch bei Beda oder Paulus Diaconus (Lozovsky 2000). Weitere, teils wenig zuverlässige Namenlisten bieten die Dichtung und Panegyrik, etwa Sidonius Apollinaris im 5. Jahrhundert. Charakteristisch ist vor allem hier, teils aber auch bei den Historiographen die Mischung von alten Bezeichnungen aus dem Fundus der klassischen Ethnographie mit aktuellen Informationen. Bei Archäologen gut bekannt und heillos umstritten ist etwa die Liste der Völker im Reich Ermanarichs bei Jordanes; Wolfram fasst resignierend zusammen: „Vor Athaul, Navego, Bubegenas und Coldas muß auch der beste Deutungsversuch kapitulieren“ (Wolfram 1990, 96; vgl. Kazanski 1992). Abschreibfehler während des teils komplizierten Überlieferungsganges ebenso wie fragwürdige Emendationen moderner Editoren erschweren noch die Deutung vieler Namen. Ein Charakteristikum solcher Völkerlisten, aber auch der antiken Terminologie insgesamt ist, dass kaum nach Bedeu-

tung und Größenordnung differenziert wird. Wieder mit Wolfram gesprochen, besteht eine Gens aus Gentes und wird von einer königlichen oder fürstlichen Gens regiert. Deutlich wird das etwa bei der angelsächsischen Tribal Hidage, einer Liste von Herrschaften, zu denen jeweils Bevölkerung bzw. Wirtschaftskraft gemessen in Anzahl von hides gesetzt wird. Das geht von den großen Königreichen wie Mercia oder Wessex mit tausenden hides bis hinunter zu ganz kleinen Herrschaften mit einigen dutzend, ohne dass in irgendeiner Weise unterschieden wird (Dumville 1989). Doch aus moderner Sicht können wir zwischen den verschiedenen Größenordnungen ethnischer Gruppen zu differenzieren versuchen, was ich im Folgenden skizzieren möchte. Der unterschiedlichen Größenordnung entspricht dabei gleichzeitig ein unterschiedliches Abstraktionsniveau des Namens, von den im täglichen Leben erfahrbaren lokalen Siedlungseinheiten, face-to-face-groups bis zu ethnographischen Sammelnamen. Folgende Stufen könnte man in einem groben Raster unterscheiden, wobei die Übergänge natürlich fließend sind: 1. Lokale Siedlungseinheiten oder kleine Verbände; so sind wohl viele der Namen bei Ptolemaios, aber auch beim Bayerischen Geographen zu verstehen, sonst hört man in den Quellen nur ausnahmsweise von ihnen. 2. Regionale Teil-Stämme oder Siedlungsgemeinschaften, Gentes innerhalb einer Gens, wie etwa die Brisigavi, Lentienses etc. bei den Alemannen. Die Bezeichnungen können, wie in diesem Fall, von der Regionsbezeichnung abgeleitet sein oder eigene Stammesnamen bilden. Ein Sonderfall davon sind Unterteilungen von Völkern in zwei Teilvölker, wie Terwingen und Greutungen bei den Goten des 4. oder Var und Chunni bei den Awaren bzw. Varchoniten des 6. Jahrhunderts (Pohl 1988, 31 ff.). In einigen weiteren Fällen ist ein solches doppelgliedriges Modell jüngst als Konstruktion der modernen Geschichtswissenschaft kritisiert worden, etwa die fränkischen Salier/Ripuarier (Springer 1997; vgl. Pohl 2000, 110 f.) oder die vandalischen Hasdingen/Silingen (Castritius 1999; vgl. Pohl 2002). 3. Kleinere Gruppen oder versprengte Teile anderer Völker unter fremder Herrschaft. Ein bekanntes Beispiel sind die Rugier im Gotenreich, die eine recht große und außergewöhnlich geschlossene Gruppe bildeten, die offenbar endogam lebte; bei der Erhebung des Rugiers Erarich zum Gotenkönig wurden sie während des Gotenkrieges nochmals politisch aktiv (Heather 1998). Ein anderes Beispiel sind die Bulgaren unter langobardischer Herrschaft, die unter Alzeco im Dukat Benevent angesiedelt wurden, oder die Sachsen von Bayeux im Merowingerreich.Weni-

Die Namen der Barbaren: Fremdbezeichnung und Identität in Spätantike und Frühmittelalter

ger geschlossen lebten offenbar die Gepiden im Awarenund im Langobardenreich. Solche Volksgruppen konnten viele Generationen lang ihre Identität bewahren. Im Barbaricum hört man seltener davon, aber es kann damit gerechnet werden, dass dies ebenso oft vorkam wie auf Reichsboden. Einige Ausnahmefälle sind belegt, der Langobarde Hildigis etwa, der im 6. Jahrhundert zu den Slawen floh. Steppenreiche waren überhaupt systematisch nach diesem Prinzip aufgebaut. Seit längerem werden für abweichende archäologische Befunde innerhalb einer Kultur gern solche Gruppen verantwortlich gemacht; doch das sind oft Gleichungen mit mehreren Unbekannten. 4. Selbständige Völker mit regionaler Ausdehnung und einigermaßen geschlossenem Siedlungsgebiet. Das war in der Germania der frühen Kaiserzeit wohl die vorherrschende Lebensform und erklärt die zahlreichen überlieferten Völkernamen, vor allem in der westlichen Germania (Cherusker, Chauken, Marser, Chatten, Usipeter etc.); die Größe schwankt natürlich. Im Frühmittelalter sind die Rugier an der Donau ein gutes Beispiel dafür. 5. Völker, die verstreut leben, oder Namen, die in mehreren Gebieten auftauchen, zum Beispiel die Sueben des 5.–6. Jahrhunderts, die Alanen und natürlich die Goten, später die Bulgaren oder Kroaten. Das kann unterschiedliche Ursachen haben, etwa Teilung und Wanderungen oder die Trennung eines ehemals zusammenhängenden Siedlungsverbandes durch Neuzuwanderung, aber auch die Attraktivität eines Namens und/oder einer Tradition, die von anderen Verbänden übernommen wurden (das hat bei den Goten und bei vielen Steppenvölkern eine Rolle gespielt). Zuweilen kann es sich auch um reine Fremdbezeichnungen oder bloßen Irrtum handeln. 6. Ethnische Verbände mit überregionaler Ausdehnung und fehlender oder schwacher zentraler Organisation, etwa die Sueben der frühen Kaiserzeit oder die Alemannen bis zum 5. Jahrhundert. Hier ist die Grenze zu ethnographischen Sammelnamen fließend, die Identitätswirksamkeit des Namens oft nur schwer nachzuweisen. 7. Völker, die überregionale Herrschaften aufbauen und Träger eines Reiches werden, in dem viele andere ethnische Gruppen leben, etwa Ost- und Westgoten, Vandalen, Franken, Hunnen, Awaren. In diesem Fall kann der Umfang des Begriffs bereits beträchtlich schwanken und eine kleine Kerngruppe, eine größere Gruppe von Kriegern oder eine Gesamtbevölkerung bezeichnen, wobei oft zwischen diesen Möglichkeiten in den Quellen schwer zu unterscheiden ist; noch schwerer lässt sich erkennen, was davon dem Selbstbewusstsein der Betroffenen entsprach.

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Die Awaren des 6. oder die Franken des 8. Jahrhunderts sind Beispiele für eine solche konzentrische Bedeutung eines Ethnonyms, das in engerem Sinn die politische Führungsschicht, in weiterem die freien Krieger und in pauschalem Sinn (zumindest als Fremdbezeichnung) die Gesamtbevölkerung benennen konnte (Pohl 1999). Diese verschiedenen Identitätsebenen standen in dynamischer Beziehung zueinander, und die Zugehörigkeit weitete sich bei Erfolg aus, sodass Franken/Franzosen oder Langobarden/Lombarden schließlich eine weitgehend territoriale Bedeutung bekommen konnten. 8. Ethnographische Sammelnamen, mit denen die Bevölkerung riesiger Gebiete charakterisiert wird: Kelten, Germanen, Skythen, Slawen; man könnte noch die Romanen und die Sarazenen dazustellen. Darüber möchte ich im zweiten Teil dieses Beitrages einige Bemerkungen anfügen. Diese Bezeichnungen sind methodisch besonders problematisch und neigen dazu, immer neue Bedeutungen an sich zu ziehen, und zwar bis in die moderne Wissenschaft hinein. Vergleichende historische Untersuchungen ihrer Bedeutung hingegen fehlen noch in vielen Fällen (zu einigen Aspekten vgl. u. a. Vigener 1976; Wenskus 1986; Anton 2000). Alle diese Sammelnamen sind als antike bzw. frühmittelalterliche Fremdbezeichnungen belegt. Für Romanen und Slawen sind zudem frühe germanische Äquivalente bezeugt, Walchen für die Romanen und Wenden für die Slawen, was zeigt, dass es sich nicht nur um realitätsferne Begriffe der antiken Ethnographie handelte. Wie weit diesen Begriffen ein Selbstverständnis entsprach, ist unterschiedlich und vielfach auch umstritten. Meistens gibt es objektive Korrelate der Namen, etwa die gemeinsame Sprache bei Germanen oder Slawen oder die Lebensweise bei den skythischen Steppenvölkern. Bei den Slawen ist der Volksname höchstwahrscheinlich selbst slawisch; bei den Germanen sind germanische und keltische Etymologien in Diskussion; jüngst ist wieder nachdrücklich die Erklärung mit dem lateinischen germani ins Spiel gebracht worden: die Echten – vielleicht die Übersetzung eines germanischen Namens oder Begriffes (siehe zuletzt Zimmer 2004). Hunnen, Awaren oder Ungarn haben sich dagegen selbst wohl kaum Skythen genannt. Der Befund ist also jeweils unterschiedlich, die Bedeutung in unseren Quellen aber meist analog. Daraus ergeben sich auch eine Reihe von Problemen der Interpretation und Abgrenzung, die ich am Beispiel des Germanennamens skizzieren möchte (siehe auch Pohl 2004). Der antike Gebrauch des Germanennamens ist gut erforscht (Dobesch 1982; Timpe 1995; Pohl 2000, 45 ff.). Caesar hat den Germanenbegriff in seiner klassischen, weit

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gespannten Bedeutung für die Völker östlich des Rheins und nördlich der Donau eingeführt. Paradoxerweise hat er aber die meisten Germanen westlich des Rheins in Gallien angetroffen.Vielleicht waren es diese Germani cisrhenani, von denen der Name kam; es ist möglich, dass sie gar keine germanische Sprache sprachen. Noch in der Germania des Tacitus spiegelt sich der widersprüchliche Prozess der Namengebung in dem viel umstrittenen Namensatz, nach den über den Rhein gekommenen Tungrern seien die Germanen von den Siegern aus Furcht so genannt worden.Was auch immer das bedeutet, für Tacitus war es keineswegs naturgegeben, dass die Germanen so hießen. Zudem hatte er im Osten der Germania bei mehreren Völkern Zuordnungsprobleme, aus denen seine Methode deutlich wird. Er urteilt zwar nach einer Abwägung der üblichen Kriterien Sprache, Tracht, Bewaffnung, Sitten, Lebensweise; entscheidend ist aber ein charakterologisches Prinzip: Wer anderen Tribut zahlt, kann kein freiheitsliebender Germane sein (Pohl 1998). Dennoch wurde Caesars Germanenbegriff in der frühen Kaiserzeit allgemein angewendet und erwies seine Brauchbarkeit gerade in seiner Flexibilität. Wie weit ihm germanisches Identitätsbewusstsein entsprach, ist schwer zu entscheiden. Zumindest bei römischen Truppen germanischer Herkunft am Rhein deutet manches darauf hin. In der Propaganda um den Civilis-Aufstand 69 n. Chr. spielte der Appell an germanische Solidarität, oder die Angst davor, eine Rolle. Freilich ist es gut möglich, dass erst die Anpassung an römische Wahrnehmungen zur Ausbildung germanischen Selbstbewusstseins führte. Eine bleibende Identität wurde jedenfalls nicht daraus. Die Goten gehörten für griechische wie für lateinische Autoren seit dem 3. Jahrhundert hingegen nicht zu den Germanen, sondern zu den Skythen, wodurch ein sehr fluktuierendes Begriffsfeld entstand. Im 5. und 6. Jahrhundert konnten die Goten als Geten den hunnischen Skythen gegenübergestellt werden oder als Skythen von den Hunnen abgegrenzt werden. Vielfach wurde auch die Sammelkategorie gentes Gothicae oder ähnlich gebildet, denen Goten und Gepiden, meist Alanen, Skiren, Rugier und Eruler sowie oft auch die Vandalen zugerechnet wurden (Prok. BG 5, 1, 2; 7, 2, 1; 8, 5, 5; vgl. Pohl 2002). Es ist noch keineswegs ins allgemeine Bewusstsein durchgedrungen, wie eingeschränkt im Gebrauch und widersprüchlich in der Anwendung der Germanenbegriff vom 3. bis zum 8. Jahrhundert wirklich war (Pohl 2004). Ab dem Ende des 3. Jahrhunderts verlor der Germanenbegriff für die Feinde und Partner Roms jenseits des Rheins langsam an Bedeutung und wurde zunehmend von spezifischeren Namen (Kategorien 6 und 7 nach dem obigen Modell) ersetzt, wie Franken, Alemannen, Burgunder; gleichzeitig verdräng-

ten diese Namen wiederum die zahlreichen Völker von bloß regionaler Bedeutung (Kategorie 4). Dadurch wurde der Germanenname allmählich überflüssig.Vor allem im byzantinischen Osten wurde er bald auf die Franken eingeschränkt. Vereinzelt findet sich in der Spätantike zunächst auch die Gleichung Germanen = Alemannen (Historia Augusta, Quadrigae Tyrannorum 13, 3). Mit der Gründung des Merowingerreiches setzte sich aber die Identifikation von Germanen und Franken durch. Im 6. Jahrhundert findet sie sich unter anderem bei Prokop (BG 5, 11) und Jordanes (Get. XI, 67). Am ausführlichsten kommentiert Agathias (1, 2) die Frage, warum diese ehemaligen Germanen in Gallien wohnen: „Sie (die Franken) können zurecht mit den Völkern identifiziert werden, die in alter Zeit ‚Germanoi‘ genannt wurden, da sie am Ufer des Rheins und in den umliegenden Gegenden wohnen, und obwohl sie den größten Teil Galliens besetzt halten, so ist das eine spätere Erwerbung, da sie vorher nicht dort gewohnt haben.“ Der Germanenbegriff als Sammelname wurde in Byzanz durch seine Identifikation mit den Franken offenbar völlig verdrängt. Das Strategikon des Maurikios, ein Kriegshandbuch der Zeit um 600, enthält eine typisierende Aufstellung der Kampfweisen verschiedener Völker. Dabei stehen neben Skythen und Slawen als dritte Gruppe von Barbaren die xantha ethne, die blonden Völker. Die Überschrift des betreffenden Kapitels (11, 3) lautet: „Wie man sich den blonden Völkern anpassen muß, wie den Franken, Langobarden und den anderen Völkern mit derselben Lebensart“. Gemeint sind, in unserem Sinn, die Germanen, doch musste das sehr umständlich umschrieben werden und war kaum klar abgegrenzt. Im lateinischen Westen wurde die Gleichung Franken = Germanen hingegen weniger häufig gebraucht und verschwand im frühen 8. Jahrhundert (z. B. Hier., Vita Hilarionis 22; Ven. Fort., carm. 6, 5, 41; Passio Praejecti 14. Vgl. Ewig 1976, 259 f.). Im übrigen diente der Germanenname in der Spätantike weiterhin zur Bezeichnung von Feinden am Rhein, eventuell auch an der Donau, wenn der affektive Aspekt des Namens betont werden sollte, etwa in den Nachrichten des Orosius (29, 15; 35, 4; 41,2) über die jüngere Vergangenheit. Diese Bedeutung, die ihre Wirkung aus historisierenden Anmutungen schöpfte, verlagerte sich allmählich auf Ereignisse in entfernterer Vergangenheit, und der Germanenname wurde zum historisierenden Bildungsbegriff. Paulus Diaconus definiert seinen Germanenbegriff in der Historia Romana (6, 17), nach Orosius, durch eine Aufzählung der Völker, denen Caesar in Gallien begegnet war. In der Historia Langobardorum (1, 1) stellt er wohl fest, dass die Langobarden von den wilden Völkern der Germania abstammten:

Die Namen der Barbaren: Fremdbezeichnung und Identität in Spätantike und Frühmittelalter

Winilorum, hoc est Langobardorum, gens, quae postea in Italia feliciter regnavit, a Germanorum populis originem ducens. Aber nach den Einleitungskapiteln ist von Germanen keine Rede mehr. Die Einschränkung des Begriffes auf den affektiven Horizont der Germaneneinfälle trug vielleicht dazu bei, seinen deskriptiven Wert weiter herabzusetzen. Einen Hinweis gibt es allerdings auf den volkstümlichen Gebrauch des Namens, und zwar auf den Britischen Inseln. Beda (HE 5, 9) berichtet über die Missionsbestrebungen des Ecbert Folgendes: „Er wußte, daß es davon (nämlich von Unbekehrten) in Germanien sehr viele Völker gab, von denen bekanntlich die Angeln und Sachsen, die jetzt Britannien bewohnen, Geschlecht und Abstammung herleiten; daher werden sie noch heute vom benachbarten Volk der Briten fälschlich, corrupte, Garmani genannt.“ Die Briten nannten offenbar die ethnisch ja durchaus uneinheitliche Bevölkerung, die sich von Einwanderern aus Germanien herleitete, Garmani. Beda selbst hielt diese Verwendung des Germanennamens für falsch und verwendete den Germanenbegriff nur im Zusammenhang mit Julius Caesar. Unter den Völkern der Germania, denen Ecberts Missionsbestrebungen galten, erwähnt Beda auch die Hunnen, also Awaren, was deutlich zeigt, dass ihm ein ethnisch-philologischer Germanenbegriff fremd war. Doch verbreitete sich im Zusammenhang mit der angelsächsischen Mission, besonders durch Bonifatius, der Germanenname, zumindest in seiner territorialen Ausprägung, wieder auf dem Kontinent (Pohl 2004; zum Kontext Wood 2001, 57 ff.). Als Quellenbegriff ist der Germanenname also äußerst wandelbar und widersprüchlich. Der moderne Germanenbegriff hat eine eigene Geschichte, die mit der Wiederentdeckung der Germania des Tacitus begann und Mitte des 20. Jahrhunderts einen schrecklichen Höhepunkt erreichte. Das heißt nicht, dass wir auf den Begriff verzichten müssen, aber dass wir auf die Obertöne achten sollten. Zwei unterschiedliche Bedeutungsfelder sollten sorgfältig auseinander gehalten werden: Auf der einen Seite die Frage der historischen Semantik nach der zeitgenössischen Bedeutung des Germanenbegriffes, auf der anderen Seite die forschungsstrategische Frage nach dem Gebrauch des Germanennamens in der modernen Wissenschaft und seiner sinnvollen Abgrenzung. In Spätantike und Frühmittelalter steckt darin ein gravierendes Problem der interdisziplinären Verständigung. Die germanische Philologie kann kaum auf ihren umfassenden Germanenbegriff verzichten, der höchstens kleinere Fragen der Abgrenzung offen lässt. Schwieriger ist die Frage bei der Zuordnung archäologischer Kulturen. Wieweit hier das Etikett ‚germanisch‘ Sinn macht, muss im Einzelfall diskutiert werden.

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Sicher scheint nur eins: Mit dem philologischen Germanenbegriff lässt sich in Spätantike und Frühmittelalter keinerlei archäologisch sinnvoll abgrenzbare Kultur umschreiben. Die meisten Fundgruppen der Römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit umfassen mehr als ein Einzelvolk, aber weit weniger als ‚die‘ Germanen. Dafür wurden oft synthetische Namen gebildet, wie elbgermanisch, ostgermanisch oder Rhein-Weser-germanisch, worin der Germanenname freilich bloß historisches Beiwerk ist, weil der germanische Charakter dieser Kulturen rein archäologisch vermutlich schwer zu fassen ist. Ethnische Zuordnung nach Einzelvölkern ist gerade in der Germania der Kaiserzeit, besonders aber der Völkerwanderungszeit problematisch. Sicherlich lassen sich bis zu einem gewissen Grad ein ‚fränkisches Kulturmodell‘, eine westgermanische Frauentracht, ebenso wie eine gotische Beigabensitte (ohne Waffenbeigabe) als Typ konstituieren (siehe u.a. Bierbrauer 1994). Doch ließ sich in den Reichen der Burgunder, Franken oder Goten nur ein Teil der Barbaren nach barbarischem Brauch mit Grabbeigaben bestatten. Besonders markant ist diese kulturelle Differenz innerhalb der herrschenden Schicht der ‚Germanen‘-Reiche bei den Westgoten, für die im tolosanischen Reich des 5. Jahrhunderts so gut wie gar keine Beigaben führenden Gräber belegt sind, während sie im 6. Jahrhundert wieder recht häufig auftreten, allerdings nur in einem Teil des Westgotenreiches, vor allem auf der spanischen Meseta (Ripoll López 1998). Wenn wir also die Grabsitte mit Beigaben als ‚germanisch‘ definieren, waren daher die Westgoten des 6. Jahrhunderts germanischer als ihre Vorfahren in Aquitanien? Noch schwieriger fällt die Unterscheidung bei vielen Gegenstandstypen. Waren die Goldblattkreuze mit Tierstil-Verzierungen, die mehrteiligen Gürtel, der Adler von Domagnano oder die Agilulf-Platte germanisch? Für jene Typen, die bereits vor der Wanderungszeit in der Germania gebräuchlich waren, mag diese Benennung sinnvoll sein, für die materielle Kultur der Regna ist sie problematisch; leicht verdeckt die im Mittelmeerraum geübte Bestattung ohne Beigaben die römische oder byzantinische Herkunft eines Typs, der nur mehr in Barbarengräbern erhalten geblieben ist (vgl. Daim 2000). Das Bedürfnis, eine wie auch immer abgegrenzte Gruppe von Völkern der Gegenwart als Germanen zu definieren, gab es im Frühmittelalter – zumindest von Orosius bis Bonifatius – offenbar kaum. Als Fremdbezeichnung wurde der Begriff entweder auf die Franken eingeschränkt oder für Völker früherer Zeiten verwendet. Auf germanische Selbstzuordnung fehlen die Hinweise; zum Unterschied vom Slawennamen hat sich der Germanenname jedenfalls nirgends als Selbstbezeichnung durchgesetzt. Einen quellengetreuen

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Germanenbegriff haben wir für diese Epoche also nicht zur Verfügung. Was der Forschungsbegriff ‚Germanen, germanisch‘ außerhalb der Philologie zu leisten vermag, müsste neu diskutiert werden. Bei den skythischen Völkern fehlen in der Forschungsgeschichte weitgehend die ideologischen Verzerrungen, die Germanentümelei und Deutschnationalismus beim Germanenbegriff zur Folge hatten (v. See 1970); einen skythischen Nationalismus hat es ja nicht gegeben, auch wenn die ‚iranischen Herrenvölker‘ der Steppe bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts einen gewissen Reiz ausübten. Als Fremdbezeichnung der Spätantike unterlag der Skythenbegriff keiner ethnischen oder sprachlichen Einschränkung, sondern umfasste alle Völker, die im Steppenraum nördlich der unteren Donau und des Schwarzen Meeres lebten und deren Krieger vorwiegend zu Pferd kämpften: Goten, Hunnen oder Awaren. Die Begrenzung blieb freilich äußerst verschwommen; oft wurden die Goten als Geten von den eigentlichen Skythen unterschieden, häufig aber auch dazugezählt. Ebenso wie bei den Germanen, lagerten sich um den Skythennamen, noch mehr aber um die Namen von Goten und Hunnen affektive Wertungen, ja apokalyptische Deutungen an, die in der Identifikation mit Gog und Magog gipfelten (Pohl 2002, mit weiterer Literatur). Im Frühmittelalter wurde allmählich der Hunnenname zum Gattungsbegriff, während der Skythenname an Bedeutung verlor. So konnten Awaren und Ungarn jeweils Hunnen genannt werden, die Ungarn auch Awaren. Die Ungarn wurden auf diese Weise zu den Erben von fast zwei Jahrtausenden Ethnographie der Steppenvölker, wie ein Blick auf die lange Liste der Namen zeigt, die ihnen griechische Autoren gaben: Sie umfasst unter anderem Geten, Gepiden, Daker, Myser, Ugrovlachoi, Ugrier, Hunnen, Pannonier, Sarmaten, Skythen und, am gebräuchlichsten, Türken (Moravcsik 1958). In ähnlicher Weise sollte auch die Frage des Slawenbegriffes und der Identität und Ausbreitung der frühen Slawen neu überlegt werden. Immerhin liegt hier das Problem etwas anders, da sich zum Unterschied vom Germanenbegriff der Slawenname auch als Selbstbezeichnung durchgesetzt hat. Zur Erklärung der Slawisierung wurde meist das Modell einer Völkerwanderung herangezogen: Slawen hatten sich mit Pflug und Schwert von einer Urheimat ausgebreitet, die oft, aber nicht immer am Pripjet in der heutigen Ukraine vermutet wurde (zur Forschungsgeschichte: Pohl 1988, 94 ff.; Goehrke 1992, 48 ff.; Curta 2001, 6 ff.). Als Schlüssel zur slawischen Vorzeit diente meist der Wendenname. In den germanischen Sprachen (in manchen Gegenden, wie in Kärnten, bis heute), aber auch in den griechischen und lateinischen Quellen des Frühmittelalters war Wenden, Venedi,

Venethoi oder ähnlich eine gebräuchliche Fremdbezeichnung für Slawen oder slawische Gruppen. Dieser Name geht auf ein antikes Ethnonym zurück; Tacitus (Germ. 46) etwa nennt Venethi als östliches Grenzvolk der Germania. Bis heute wird oft der Schluss daraus gezogen, dass die antiken Veneter bereits Slawen waren. Dagegen spricht jedoch schon die Parallele zur entsprechenden germanischen Fremdbezeichnung Welsche, Walchen etc. für Romanen: Sie geht, aus unbekannten Gründen, auf die Volcae der Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung zurück, die sicherlich keine Romanen waren. Doch gab die Veneter-Identifikation wiederum die Rechtfertigung dafür, archäologische Kulturen der Frühzeit als slawisch zu interpretieren, was zum Teil umfangreiche Lehrgebäude ergab. Je bedeutender und ausgedehnter die Slawen der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung waren, so meinte man, umso leichter war ihre Expansion zu erklären. Ganz im Gegensatz zu den weit gespannten historischen Entwürfen moderner Gelehrter beginnt die Geschichte von Menschen, die Slawen genannt wurden, um 500. Die ersten ausführlichen Nachrichten von „Sklavenen“ (wie es meist heißt) enthalten um 550 die Geschichtswerke von Prokop und Jordanes. Prokop (BG 7, 14) beschreibt Anten und Sklavenen in recht stereotyper Weise: „Weit voneinander getrennt, hausen sie in armseligen Hütten und wechseln alle häufig ihren Wohnsitz.Wenn sie in den Kampf ziehen, gehen die meisten zu Fuß; sie führen dabei nur Schild und Lanze, Panzer tragen sie nicht. Manche besitzen nicht einmal ein Hemd oder einen Mantel, sondern tragen bloß Beinkleider bis zu den Lenden herauf und werfen sich so auf ihre Gegner. Beide Stämme sprechen nur eine einzige, und zwar ganz barbarische Sprache. (…) Doch sind sie keineswegs schlechte oder bösartige Menschen, sondern tun es in ihrer Einfachheit nur der hunnischen Lebensweise gleich. (…) Sie werden nicht von einem Mann regiert, sondern haben seit alters her in einer Demokratie gelebt.“ Die Zuordnung zu den Hunnen zeigt, dass Prokop nicht über adäquate Kategorien verfügte, um Barbaren zu charakterisieren, die noch barbarischer lebten als die anderen; er musste sie daher mit den ‚hunnischen‘ Steppenvölkern vergleichen, deren Lebensweise aber ganz anders war. Jordanes (Get. V, 34) zählt Sklavenen in seinem ethnographischen Exkurs nördlich der dakischen Karpaten auf: „Vom Ursprung der Weichsel an siedelt in riesigen Gebieten das zahlreiche Volk der Venether. Ihre Namen wechseln jetzt je nach Familie und Ort, hauptsächlich werden sie jedoch Sklavenen und Anten genannt. Die Sklavenen halten sich von der Stadt Novietunum und dem See namens Mursianus bis zum Dnjestr und im Norden bis an die Weichsel auf; dort

Die Namen der Barbaren: Fremdbezeichnung und Identität in Spätantike und Frühmittelalter

haben sie Sümpfe und Wälder als Städte. Die Anten aber, die unter ihnen die stärksten sind, erstrecken sich an der Biegung des Schwarzen Meeres vom Dnjestr bis zum Dnjepr.“ Die genaue Lokalisierung der Sklavenen aufgrund dieser Informationen hat zu langen Debatten geführt (Pohl 1988, 97 f.; Barford 2001; Curta 2001, 42 f.). Jedenfalls lebten Slawen damals sowohl nördlich der Karpaten, wo laut Prokop (BG 6, 15) nach 508 die Eruler auf dem Zug nach Thule „alle Völker der Sklavenen“ berührten, als auch jenseits der unteren Donau, von wo aus sie unter Justinian mit Raubzügen in die Balkanprovinzen begannen (ebd. 7, 38). Diese slawische Kultur in der späteren Walachei war es auch, die das Bild der byzantinischen Autoren bestimmte. Menander und Theophylactus Simocatta haben recht ausführliche Berichte von Konfrontation und Zusammenleben an der Donau hinterlassen. Anders als bei den germanischen und gotischen Völkern, suchten die Byzantiner zunächst (von den Anten abgesehen) kaum die Kooperation mit slawischen Führungsgruppen; verhandelt wurde nicht. Das geschah erst im Verlauf des 7. Jahrhunderts, als regionale slawische Verbände in einigen Balkanprovinzen unter eigenen Fürsten in Sklaviniai, Slawenländern, organisiert und anerkannt wurden. Slawen und Anten kämpften zwar schon im Gotenkrieg in den Armeen Justinians, aber ein slawisches Offizierskorps entstand nicht. Auf der einen Seite lag das an der byzantinischen Politik, die eine stärkere Integration von Slawen und vor allem die Unterstützung slawischer Fürsten nach den Erfahrungen der letzten Jahrhunderte wohl bewusst vermeiden wollte. Damit wurde freilich die weitgehende Slawisierung der Balkanprovinzen im 7. Jahrhundert bis zur Peloponnes nicht verhindert. Diese Slawen hatten offenbar kein Interesse an einer Aufrechterhaltung der römischen Infrastruktur; der Bruch war stärker als in vielen Regionen des Westreiches, die unter die Herrschaft weit integrationsbereiterer Barbaren fielen. Der Schluss liegt nahe, dass die gesellschaftliche Differenzierung bei den Slawen weniger ausgeprägt war als bei jenen Völkern, die seit 375 ins Imperium gekommen waren, nachdem sie mehr oder weniger lange seine Nachbarn waren. Prokops Nachricht, die Slawen hätten seit alters her in einer Demokratie gelebt, ist ein Topos; in den demokratischen und nationalistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts ist er recht plakativ verwendet worden. Doch fällt auf, dass die frühen Slawen oft fremden Anführern folgten: dem langobardischen Prätendenten Hildigis und einem Hochstapler, der sich für den römischen General Chilbudios ausgab, im 6. (Prok. BG 7, 14; 7, 35) wie dem Franken Samo im 7. Jahrhundert (Fredegar 4, 48). Den Aufstieg slawischer Heerführer, meist nur als archontes, Anführer, bezeichnet, bekämpf-

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ten die Byzantiner; es scheint aber auch innere Widerstände gegen die Entwicklung von Herrschaft gegeben zu haben. Ein byzantinisches Kriegshandbuch der Zeit um 600, das Strategikon des Maurikios (11, 4), beobachtete, dass die Slawen keine Verwendung für Sklaven hatten: „Die Gefangenen halten sie nicht wie die anderen Völker unbegrenzte Zeit in Knechtschaft, sondern sie setzen ihnen eine verabredete Zeit fest und stellen ihnen frei, ob sie gegen Zahlung nach Hause zurückkehren oder als freie Freunde dort bleiben wollen.“ Dementsprechend warnt das Kriegshandbuch auch vor Römern, „die im Lauf der Zeit zu Slawen wurden, das eigene Wesen vergessen haben und die Loyalität gegen die Feinde vorziehen“. Zu Slawen werden: Selten findet man in antiken Quellen den Wechsel ethnischer Identität so deutlich angesprochen. Die rasche Slawisierung weiter Gebiete liegt wohl an der hohen Integrationsfähigkeit slawischer Gesellschaften, in denen Fremde als freie Menschen leben konnten (Pohl 1988, 94 ff. bes. 125–27). Die slawischen Gesellschaften waren für die Unterschichten in römischen Provinzen vielleicht deswegen eine Alternative, weil man in Freiheit das Land bestellen konnte und auch keinem Grundherrn Abgaben leisten musste. In den römischen Provinzen, die slawisiert wurden, von den Ostalpen bis zur Ägäis, verfiel deshalb die komplexe Arbeitsteilung der Spätantike, auf der die Kirchenorganisation, der Staat und seine Repräsentation, die Städte, der Fernhandel, Schriftlichkeit und Hochkultur beruhten, weitgehender als in anderen barbarisierten Teilen des Imperiums. Auch der Archäologie haben Slawen meist nur bescheidene Spuren hinterlassen. In vieler Hinsicht bleibt der Prozess der Slawisierung daher im Dunkeln. Was die frühe slawische Identität eigentlich ausmachte, ist nicht leicht festzustellen. Oft wird in der Sprache eine Erklärung gesucht. Dem entspricht auch die verbreitetste Erklärung des Slawennamens, wonach die ‚slověne‘ die Redenden, die ‚němece‘, die Deutschen, die Stummen waren. Tatsächlich war das ‚Gemeinslawische‘, soweit es zu rekonstruieren ist (die ersten schriftlich festgehaltenen längeren slawischen Texte stammen aus dem Kontext der Mission des späten 9. Jahrhunderts), zwischen Ostsee und Ägäis erstaunlich einheitlich. Doch die früheste erschließbare Stufe dieser Einheit wird meist ins 8. Jahrhundert gesetzt (Schramm 1997, 175 ff.). Was vorher war, ist ungewiss; entstand die gemeinsame slawische Sprache erst als Lingua franca des Awarenreiches? Archäologische Kennzeichen für frühe Slawen, wie Bügelfibeln (an der unteren Donau), Keramik vom ‚Prager Typ‘ oder Grubenhäuser sind jeweils regional begrenzt und/ oder über slawische Gebiete hinaus verbreitet (siehe u. a. die vielen Beiträge in Urbánczyk 1997).

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Kürzlich hat Florin Curta (2001) in einem sehr anregenden Buch einige neue Gedanken zur frühslawischen Identität ausgeführt. ‚Sklavenen‘, so meint er, setzte sich zunächst als byzantinische Fremdbezeichnung durch (ähnlich wie das durch Caesar bei den Germanen geschah): „The making of the Slavs was less a matter of ethnogenesis and more one of invention, imagining and labeling by Byzantine authors“ (ebd. 349). Als Selbst-Identifikation verbreitete sich der Name zunächst in der byzantinisch-slawischen Kontaktzone an der unteren Donau. Curtas Hypothesen werden manchen Widerspruch erregen. In jedem Fall erlauben sie eine wichtige Differenzierung: Bei den Slawen des 6. Jahrhunderts muss die Ausdehnung erstens der Fremdbezeichnung als Sklavenen, zweitens slawischen Selbstbewusstseins und drittens slawischer Sprache, Kultur(en) und Lebensformen keineswegs deckungsgleich sein. Für den Angriff auf den Slawenfürsten Ardagastes gab sein gepidischer Vertrauter den wartenden Byzantinern das Zeichen, indem er awarische Lieder sang (Theophylactus Simocatta 6, 8). Frühslawische Gesellschaften waren kulturell und sprachlich vielleicht noch recht uneinheitlich. Zum Unterschied von den Germanen der frühen Kaiserzeit fehlten im 6. Jahrhundert auch weitgehend regionale ethnische Identitäten, Einzelvölker oder Stämme. Die Namengebung richtete sich dann oft nach Fluss- oder Gegendnamen in den neuen Siedlungsgebieten auf dem Balkan und in Ostmitteleuropa (Schramm 1997). Für die Slawisierung war freilich nicht nur Byzanz von Bedeutung, sondern vielleicht mehr noch die awarische Expansion; nach Westen verlief beides in den im 7. Jahrhundert erreichten Grenzen so gut wie deckungsgleich. Der Slawenname ist, anders als die Pauschalbezeichnungen Kelten, Germanen, Skythen, tatsächlich in der europäischen Geschichte identitätswirksam geworden. Doch lehrt der Vergleich, dass das nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, und vielleicht erst das Resultat eines komplexen Identitätsbildungsprozesses, nicht schon dessen Voraussetzung war. Als Historiker des Frühmittelalters sehen wir die Peripherie des Mittelmeerraumes vorwiegend mit den Augen des Zentrums. Diesem Blick verdanken wir unschätzbare Informationen über eine reich gegliederte ethnische Landschaft. Doch geht es einem dabei oft so wie demjenigen, der eine Landschaft von einem Berggipfel aus gesehen hat und nun ihre Schönheiten in der Ebene wieder finden möchte. Manches sieht aus der Nähe anders aus. Der Blick aus der Nähe ist Gegenstand vieler weiterer Beiträge dieses Bandes. Für zahlreiche Fragen ist diese Betrachtungsweise angemessener als der Versuch, die Dinge mit großen, aber pauschalen Namen zu belegen.

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Städte und Foederaten an der mittleren und unteren Donau im 5. und 6. Jahrhundert Andreas Schwarcz Im Jahr 376 n. Chr. erhielten die gotischen Gentiles des Suerid und Colias, die damals im Winterquartier in Adrianopel – Edirne lagen, den schriftlichen Befehl von Kaiser Valens, den Hellespont zu überschreiten. Ihre Kommandanten suchten daraufhin den Magistrat der Stadt auf, präsentierten den Marschbefehl und ersuchten ordnungsgemäß um das Viaticum, den Reiseproviant und zwei Tage Aufschub, um den Abzug zu organisieren. Der Duumvir war verärgert über Verwüstungen in seinem Besitz in der Vorstadt (offenbar waren die Goten dort einquartiert) und verweigerte den Aufschub und die Bezahlung des Reisegeldes. Mehr noch, er mobilisierte die Plebs der Stadt und die Fabricenses, die Arbeiter der örtlichen staatlichen Waffenfabriken, mit Waffen aus diesen gegen die Goten vorzugehen. Diese, zu offener Rebellion getrieben, schlugen die Städter in die Flucht und vereinigten sich mit den aufständischen Truppen des Fritigern. Kurz danach bei der Belagerung der Stadt holten sie sich blutige Köpfe. Die Verteidigung von Adrianopel leitete wohl ebenfalls jener Duumvir, der den Konflikt verursacht hatte (Amm. 31, 6, 1–3 [ed. Rolfe 1952, Bd. 3, 418–423]). Diese uns von Ammianus Marcellinus überlieferte Episode beleuchtet schlaglichtartig den Kern der Probleme in den Beziehungen zwischen Städten und aus Foederaten rekrutierten militärischen Einheiten in der Spätantike, ja zwischen Stadt und Heer insgesamt. Die Civitas ist das wichtigste Finanzierungsinstrument für die kaiserliche Armee. Sie ist über das System der Hospitalitas bzw. des Metatum verpflichtet, dieser bei Bedarf Quartiere für ihre Soldaten zur Verfügung zu stellen. Nur Angehörige der kurialen oder noch höherer Rangklassen sind von den Munera sordida für die Armee befreit. Aber die Magistrate der Stadt können im Notfall auch die Bürger bewaffnen und leiten die Verteidigung der Stadt, wenn in ihr keine professionelle militärische Besatzung liegt. Bemerkenswert ist an unserer Episode auch die Verfügungsgewalt des Duumvir über die Fabricenses. Zwar war im Endeffekt der Praefectus praetorio verantwort-

lich für die Waffenfabriken. Doch war er auch der Vorgesetzte der Praesides oder Rectores der Provinzen und diese wiederum hatten die Oberaufsicht über die Civitates ihrer Provinz. Im Notfall konnten wohl auch die städtischen Magistrate auf Bestände und Personal der Waffenfabriken zugreifen. Eine bekannte militärische Maxime besagt, dass man zum Kriegsführen erstens Geld, zweitens Geld und drittens Geld braucht. Im Imperium der Spätantike war es nicht anders. Dieses Geld brachten die Städte über die Steuern auf. Allseits bekannt ist, dass die städtische Oberschicht, die Curiales, kollektiv die Einhebung der Steuern organisieren musste und für ihren Ertrag haftete. Aus diesen wurde auch die Annona militaris bezahlt. Die Hauptsteuer war die Annona und sie betraf sämtliche Untertanen, die sich mit Landwirtschaft beschäftigten. Sie war in höchstens drei Jahresraten zu leisten, ursprünglich als Naturalabgabe, und wurde in den Horrea, den Getreidespeichern, der Provinzverwaltung deponiert. Aber schon im 4. Jahrhundert zeigten sich breite Tendenzen zur monetären Steuerleistung (Adaeratio) der Annona, die sich im 5. Jahrhundert allgemein durchsetzten (Karayannopulos 1958, 95 f.). Verbunden mit der Ablösung in Geld war dann der staatliche Zwangsankauf, die Coemptio oder Synoné. Nach Santo Mazzarino ist dieser bereits seit Konstantin belegt, wurde aber erst unter Leo I. und Anastasius als ausnahmslose Zwangsmaßnahme gesetzlich fixiert, der alle Landwirte mit ihrer Überschussproduktion im Verhältnis zu ihrer Steuerleistung unterworfen waren, in Thrakien nach Karayannopulos bemerkenswerterweise auch die Kaufleute (CJ 10, 27, 2, 10 f.; Karayannopulos 1958, 98). Da der Preis für die Waren nach der Coemptio nur dann in bar auszuzahlen war, wenn der Kaufpreis die Steuerpflicht überstieg, muss sie als Versuch gewertet werden, die Adaeratio zumindest teilweise wieder rückgängig zu machen. Die Annona als Rechnungsgröße war die Grundlage der Besoldung von Armee und Zivilbeamten. Verpflegung, Be-

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soldung und Strohfutter (capita) waren theoretisch von den Intendanzoffizieren, den Optiones und Opinatores, den Steuereinhebern der Armee für die Annonae, aus den Horrea zu beziehen, den Lagerhäusern unter Verwaltung der Procuratores, doch in der Praxis kamen sie in der Regel direkt von den Susceptores, die im Auftrag der Curiales, der städtischen Oberschicht, die Steuern eintrieben. Aber auch Direktlieferungen Steuerpflichtiger an die Truppen kamen vor. Diese waren allerdings gesetzlich verboten (CTh 7, 4, 23 [396]; CJ 12, 37, 8; Karayannopulos 1958, 99 f.). Tatsächlich finden sich aber schon im 4. Jahrhundert Curiales in der Funktion der Diadotae, über die die Armeeversorgung lief1. Karayannopulos nahm an, dass die Diadotai nur den Transport der Waren in die Garnisonen übernahmen. Aus unserem ersten Beispiel und einer Reihe von Stellen in den Variae Cassiodors geht hingegen die direkte Verantwortung für die Durchführung staatlicher Aufgaben hervor. So sollten etwa die istrischen Curiales Getreide für die Versorgung von Ravenna schicken (Cassiod. var. 12, 22; vgl. Wolfram 1994, 5; 11). Etwas anders verhielt es sich mit dem Stipendium der Soldaten, einer theoretisch regelmäßigen Entlohnung in Geld, die direkt aus den Thesauri der Provinzen bezahlt wurde. Im Fall des Bewegungsheeres geschah dies nach Delmaire eventuell in Verbindung mit mobilen Münzstätten2. Verantwortlich dafür war der Comes Sacrarum Largitionum, ebenso auch für die Donativa, die bei Herrschaftsantritt und Regierungsjubiläen fällig wurden (Delmaire 1977, 312–315). Die Mittel für sie wurden aus der Corona aurea und der auris lustralis collatio der Handwerker bezahlt. Die Bekleidung der Soldaten wurde aus der Vestis militaris finanziert, einer jährlichen Steuer, für deren Einhebung der Provinzgouverneur verantwortlich war. Für die tatsächliche Einhebung sind aber aus Ägypten kuriale Epimeletes belegt (Delmaire 1977, 316 Anm. 1). Die Einnahmen gingen in den Provinzthesaurus oder direkt vom Gouverneur an die militärischen Einheiten (Delmaire 1977, 316). 377 wurde noch eine Vestis auf 20 Capita in Thrakien erhoben, sonst auf 30. Die Vestis wurde schon früh monetär erlegt. 396 n. Chr. wurde sie von zwei Drittel auf einen ganzen Solidus erhöht (CTh 7, 6, 4). 423 wurde sie endgültig geldlich abgegolten. Die Soldaten bekamen fünf Sechstel ausbezahlt, ein Sechstel ging an die Arbeiter der Gyneceen (CTh 7, 6, 5).

Das Aurum tironicum hingegen war die monetäre Steuerleistung zur Rekrutenaushebung, die bereits im 4. Jahrhundert erfolgte, endgültig aber ab November 397 zwangsweise für senatorische Besitzungen und die Domänen der Res privata bzw. ihrer Pächter. Außerordentliche Einhebungen derselben betrafen nur die Honorati und Officiales (Delmaire 1977, 318 f.). Die equi militares canonici (CTh 11, 17, 3 [401]) aber wurden wie die Vestis militaris regelmäßig von allen eingehoben, seit 367 n. Chr. auf kaiserlichen Domänen monetär, ab 401 auch in Afrika. Damals betrug die einkassierte Summe 20 Solidi. Davon gingen sieben Solidi an die Reiter, zwei an den Comes Sacri Stabuli. In der Folge wurde der Betrag auf 18 bzw. 15 Solidi reduziert. Die Pferde wurden von einem Strator eingetrieben, der dafür Sporteln kassierte (CTh 6, 31, 1; Delmaire 1977, 321 f.). Die Steuerpflichtigen hatten die Prosecutio equorum zu beachten, d. h. dass sie selbst die Pferde am Besteuerungsort abzuliefern hätten (CTh 11, 10, 2 und 13, 4, 4; Delmaire 1977, 321 f.). Im Codex Justinianus findet sich die Collatio equorum nicht mehr, weil im 6. Jahrhundert die Pferde für die Armee von den kaiserlichen Domänen in Kleinasien stammten (CJ 12, 24, 1; Const. Porphyrog., De caerimoniis 2, 44 f.; Delmaire 1977, 323). Ende 444 schuf Valentinian III. noch eine Verbrauchssteuer im Westen, das Siliquaticum. Es betrug ein Vierundzwanzigstel des Kaufpreises, war jedenfalls zur Hälfte vom Verkäufer und vom Käufer zu bezahlen und diente dem Unterhalt der Armee (Nov. Val. 15). Die Einnahmen wanderten in das Aerarium, der Kasse des CSL, aber ihr Inkasso erfolgte über die Provinzen und daher wohl über die Civitates (Delmaire 1977, 323–325). Es ist klar, dass ein Großteil dieses Armeefinanzierungssystems auf der Ebene der Mittelaufbringung über die Civitates und konkret über die Curiales lief, eine soziale Gruppe, die bekanntlich bereits im 4. Jahrhundert einem sozialen Aushöhlungsprozess unterworfen war. Während viele versuchten, der Bürde der kurialen Liturgiae zu entkommen, wurden sie selbst von den Steuerpflichtigen als Bürde empfunden, gegen die man im 4. Jahrhundert das Amt des Defensor civitatis schuf. Dieses wurde aber bald darauf ebenfalls von Curiales ausgeübt. Für den Osten des Reichs hat man lange ihre Abschaffung unter Anastasius I. postuliert (Kirsten 1958, 6), der tatsächlich die Steuereinhebung an private Steuerpächter, die Vindices, vergab. Örtlich und regional

Karayannopulos 1958, 102 mit Hinweis in Anm. 98 auf Quittungen der Diadotai an Epimeletai (Procuratores) und in Anm. 99 auf CTh 7, 4, 28 (406), wonach eine Auszahlung nur an tatsächlich An-

wesende durch den Praepositus pistorum und die Diadotai erfolgen sollte. Delmaire 1977, 313 mit Hinweis auf Iliescu 1965.

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mag dies auch passiert sein. Velkov nimmt zum Beispiel das Verschwinden der Curiales nach 392 an3. Insgesamt haben jedoch Chrysos und Claude ihr Weiterleben als Institution im 6. Jahrhundert eindeutig nachgewiesen (Claude 1969, 107 ff.). Die Gesetzgebung Justinians zeigt jedoch auch andere städtische Institutionen, die für die Steuereinhebung Verantwortung tragen: Nov. 128, 5 nennt …iudices sive sint curiales sive exactores seu vindices aut canonicarii aut alii quidem…, c. 8 …curiales, exactores, vindices,…officiales…4. Nach Nov. 128, 16 hatte die städtische Selbstverwaltung daneben bereits neue Strukturen geschaffen: Eine Versammlung, die aus dem Bischof der Stadt, den Vornehmen (Proteuontes) und den Possessores (Ktetores) bestand, sollte die Beamten wählen, die für die Verwaltung der städtischen Gelder zuständig waren. Diese sollten dem Bischof und fünf Vornehmen jährlich Rechenschaft legen. Unter diesen Amtsträgern waren der Pater póleos und der Sitónes, der Aufkäufer für die Annonae, von besonderer Bedeutung. Daneben gab es auch noch den Defensor civitatis, aber niemals einen Pater póleos und Defensor nebeneinander in der gleichen Stadt (Claude 1969, 114 f.). Die Possessores waren schon seit 366 für die Steuern ihrer Coloni verantwortlich (CTh 11, 1, 14; Hardy 1931, 50 f.). Spätestens 383 hatte sich die Autopragie ausgeweitet. Nach CTh 11, 7, 12 lieferten die großen Possessores ihre Steuern direkt an die Provinzregierung, die Defensores hoben sie von den kleinen Possessores ab und die Decuriones von den Curiales. Bis zum 6. Jahrhundert verbreitete sich die Autopragie wahrscheinlich globaler (Hardy 1931, 54). Senatorische Possessores zahlten die Collatio glebalis und das Aurum oblaticinium (Demandt 1989, 408). Überdies waren die Possessores dazu verpflichtet, bei Heeresdurchzügen Naturalien zu liefern5. Neben den Versammlungen der Notabeln sind im 6. Jahrhundert auch noch Volksversammlungen belegt, die etwa die Amtszeit des Defensors verlängern konnten. Nach der Constitutio pragmatica wählte in Italien eine Versammlung der Bischöfe, der vornehmsten Possessores (Ktetores) und von Stadtbewohnern ohne Landbesitz (Oiketores) die Beamten der Provinzialverwaltung; unter Justinus galt das dann allgemein (Nov. 149; Claude 1969, 119). Städtische Baugelder

sollten nach CJ 1, 4, 26 vom Bischof und drei Notabeln verwaltet werden6. Seit 409 hatten bereits Bischof und Klerus gemeinsam mit den Honorati, Possessores und Curiales das Vorschlagsrecht für den Defensor (CJ 1, 4, 19 und 1, 55, 8; Demandt 1989, 404). In Edessa übte um 500 der Bischof das Amt des Defensors selbst aus (Claude 1969, 121) und ab 539 konnten Besitzwechsel beim Bischof statt beim Defensor registriert werden (Nov. 167, 1). In der Zeit Justinians wurde auch die Audientia episcopalis reformiert (Nov. 86) und 546 der weltlichen Gerichtsbarkeit gleichgestellt (Nov.123; Claude 1969, 121). Der Bischof war der Schutzherr der Stadt gegen Übergriffe der Provinzverwaltung und konnte auch bei Hof intervenieren (Claude 1969, 122 f.). Doch wir finden den Bischof auch bereits sehr früh in militärische Aufgaben involviert. Demandt nennt in diesem Zusammenhang Jacobus in Nisibis im Jahr 351, Synesios in Ptolemais 411, Hilarius in Arles 444, den Heiligen Germanus in Britannien 429, Sidonius Apollinaris in ClermontFerrand 471–475, den Bischof von Thessalonike 479, dort um 480 auch Eusebius bei der Erneuerung der städtischen Befestigungen und 535 Aristeidess und Sergius in Birtha7. 442 beschwerten sich die Hunnen beim Kaiser darüber, dass der Bischof von Margus in ihr Gebiet eingedrungen war und hunnische Königsgräber geplündert hatte (Priscus frg. 6, 1 [ed. Blockley 1983, 230 f.]; Claude 1969, 132 f.). Papst Leo I. gehörte der kaiserlichen Gesandtschaft an, die 452 bei Mantua mit Attila verhandelte (Prosp. ad. a. 452 [MGH AA 9, 482]; Caspar 1930, 556). Im Perserkrieg Justinians führten immer wieder die Bischöfe der von den Persern belagerten Städte die Verhandlungen mit den Angreifern, wie etwa Megas von Broia, Thomas von Apameia, der Bischof von Sura, Kandidos von Segiupolis und Baradotos von Konstantine8. Auch die Perser schickten umgekehrt den Bischof Maurikios als Unterhändler als die Byzantiner Chlomarion in Arzazene belagerten (Menander Protector, frg. [FHG 4, 258]). Als die Awaren 567 vor Sirmium standen, verhandelte mit dem Awarenkhagan Baian der byzantinische Feldherr Bonus gemeinsam mit dem Bischof der Stadt und ihren wichtigsten Notabeln (Menander Protector, frg. 27 [FHG 4, 233]; Pohl 1988, 58–60). Asymos hatte Ende des 6.

Velkov 1962, 50 mit Hinweis auf CTh 12, 1, 124. Vindices gab es mindestens noch bis 556 n. Chr., unter Tiberius werden sie nicht mehr erwähnt, s. Claude 1969, 113 mit Anm. 49 gegen Dölger 1959, 1–66. Nov. 130, 3 vom Jahr 545 n. Chr., dazu Claude 1969, 118. Präzisiert durch Nov. 128, dazu Claude 1969, 120 f. Demandt 1989, 412 Anm. 55. Zu Jacobus von Nisibis: Theod. hist. eccl. 21. – Zu Synesios: Synes. Kat. II, 5. – Zu Hilarius von Arles:

Nov. Theod. 17. – Zu Germanus: Const. Lugud., Vita Germani 18. – Zu Sidonius Apollinaris: Sidon. epist. II, 1; III, 2 f. – Zu Thessalonike: Malchus, frg. 18 und zu Sergius: Joshua Styl. c. 91; zu Thessalonike siehe auch Claude 1969, 138. Prok. BP 2, 7, 35 (Megas); ebd. 11, 20 (Thomas) und 24 (zu Sura); ebd. 13, 14 (Baradotos); ebd. 2, 20, 2 und 15 (Kandidos). Zu Baradotos s. auch Joshua Styl. c. 58; Claude 1969, 127–129.

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Jahrhunderts eine örtliche Miliz, die nach einem Privileg Justins II. nur zur Verteidigung der Stadt eingesetzt zu werden brauchte. Als sie zu Ehren des Strategos Petros, des Bruders des Kaisers Maurikios, eine Parade abhielt, wollte er sie in sein Heer eingliedern, worauf die Milizionäre Asyl in der Kathedrale suchten. Petros drohte daraufhin mit der Arretierung des Bischofs der Stadt. Er scheint der Kommandant der Miliz gewesen zu sein9. In Drizipera verschlossen die Stadtbewohner dem fliehenden Feldherrn Comentiolus die Stadt und bewarfen ihn von den Mauern herab mit Steinen (Theophyl. Sim., HE 7, 14, 11). Auch Drizipera war Polis und Bischofssitz (Claude 1969, 129–131). Ein bemerkenswertes Licht auf das Verhältnis zwischen Foederatenheer, Städten und Bischöfen liefern auch die Ereignisse des Jahres 479 n. Chr. in der Karriere Theoderichs des Großen, über die Malchus berichtet: Als in diesem Jahr Kaiser Zenon Frieden mit dessen gleichnamigen gentilen Konkurrenten schloss, dem älteren und mächtigeren Theoderich Strabo, griff der Ostgotenkönig Thessalonike an, nachdem er vorher Stobi zerstört und die Besatzung der Stadt getötet hatte10. In der Metropole Ostillyricums löste die Nachricht vom Heranrücken der Goten einen Volksaufstand aus. Die Bürger befürchteten, der Praefectus praetorio per Illyricum Johannes werde die Stadt im Auftrag des Kaisers an den Gotenkönig ausliefern, der immerhin dessen „Adoptivsohn modo barbarico“ war. Sie stürzten die Statuen des Kaisers und stürmten den Amtssitz des Praefectus praetorio per Illyricum. Nur das rechtzeitige Eingreifen des Klerus rettete diesem das Leben und das Prätorium vor dem Verbrennen. Der Bischof übernahm die Schlüssel der Stadt und die Organisation ihrer Verteidigung, wie es seine Aufgabe als wichtigster Funktionsträger der Stadtverwaltung war11. Nun nahm auch der Kaiser wieder Verhandlungen mit den Goten des Thiudimirsohnes auf, denn er brauchte ihn noch immer als Gegengewicht zu den thrakischen Goten. Er betraute zwei enge Vertraute mit dieser heiklen Mission: seinen Verwandten Artemidorus, später unter Theoderich Praefectus urbi von Rom, und Phokas, der Primiscrinius seines Officiums als Magister militum gewesen war12. Sie brachten den Gotenkönig dazu, seinerseits eine Gesandtschaft nach Konstantinopel zu schicken und veranlassten die Stationierung seines Heeres im Stadtbezirk von Heraclea Lyncestida – Bitola. Die Organisation der Versorgung übernahm auch

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Theophyl. Sim., HE 7, 3, 1 ff.; Theophanes, Chron. a. 6089 verlegt die Episode nach Novae – Svištov. Malchus, frg. 18, 4. 20 (ed. Blockley 1983, 434–437), Abzug mit Zustimmung der kaiserlichen Offiziere ebd. frg. 20 (ed. Blockley 1983, 444–447); Wolfram 1990, 273; Schwarcz 1992, bes. 73 f.

in diesem Fall der Bischof der Stadt aus ihrem Steueraufkommen, ein Zeichen für den kaiserlichen Auftrag dazu. Zur Einquartierung des Gotenheeres wurde die ganze Stadt beschlagnahmt. Die Bürger übersiedelte wohl auch der Bischof für diese Zeit in eine nahe gelegene Festung, in der sie offensichtlich auch vor den Foederaten geschützt waren. Die Antwort des Kaisers auf die Gesandtschaft Theoderichs überbrachte der Patricius Adamantius, Expräfekt und Exkonsul. Der Kaiser schlug die Stationierung des Gotenheeres im Stadtbezirk von Pautalia – Kjustendil in der Dacia mediterranea vor, von wo aus sie einerseits Druck auf Theoderich Strabo ausüben konnten, andererseits jederzeit selbst von letzterem und dem Magister militum per Illyricum in die Zange genommen werden konnten, und weil von dort im Moment keine Erträge zu erwarten waren (offensichtlich hatte Theoderich die Stadt bereits auf dem Marsch nach Makedonien geplündert), gab er Anweisung an den Praefectus praetorio per Illyricum, der für die Versorgung der Truppen zuständig war, für 200 Goldpfund Verpflegung für das Gotenheer sicherzustellen. Der Versuch, diesen kaiserlichen Befehl in Thessalonike zu exekutieren, führte zu einer Rebellion der dort liegenden regulären Einheiten (Malchus, frg. 20 [ed. Blockley 1983, 438 f.]). Theoderichs Begeisterung über die Vorschläge Zenos hielt sich in Grenzen, denn sie bedeuteten für sein Stammesheer, sich zwischen Hammer und Amboss zu legen. Aber mittlerweile wurden die Vorräte in Heraclea knapp. Daher organisierte Theoderich Thiudimirsohn im Frühsommer 479 die Verlegung des Gotenheeres in die nächstgelegene größere Stadt nach Westen, nach Epidamnus – Dyrrhachium – Durres in Epirus Nova. Noch dazu lagen in der Nähe die Besitzungen seines Verwandten Sidimund, des Neffen des Comes domesticorum Aidoingus, der für seine Stammesgruppe ein eigenes Foedus mit Konstantinopel geschlossen hatte, das ihm Landbesitz und ein schönes Einkommen brachte (Malchus, frg. 20 [ed. Blockley 1983, 438 f.]; Martindale 1980, 1007). Dieser spielte auf Ersuchen des Gotenkönigs für ihn den Metator, den Quartiermacher, und sorgte unter Vorspiegelung eines kaiserlichen Auftrags dafür, dass die 2000 Mann starke Besatzung und die Bürger die Provinzhauptstadt räumten und mit Hab und Gut in andere Städte und auf die Inseln umzogen. Theoderich versuchte vor dem Abzug noch das Viaticum und die Annona expeditionalis, Weggeld und Marschver-

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Malchus, frg. 20 (ed. Blockley 1983, 436 f.); Bury 1958, 416; Claude 1969, 120–123; Demandt 1989, 411 f. Malchus, frg. 20 (ed. Blockley 1983, 436 f.); Martindale 1980, 155 f. 881 hält Phocas für den Schreiber Theoderichs als Magister utriusque militiae praesentalis.

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pflegung, von den Bürgern von Heraclea zu kassieren, doch verweigerte der Bischof die Auszahlung, sei es, weil die Mittel der Stadt tatsächlich schon erschöpft waren oder weil kein kaiserlicher Marschbefehl für das Gotenheer vorlag. Zur Strafe brannte dieses die von den Einwohnern verlassene Stadt beim Abmarsch zum Teil nieder (Malchus, frg. 20 [ed. Blockley 1983, 440 f.]; Schwarcz 1992, 74 f.). Sowohl der Aufenthalt des Gotenheeres in Heraclea als auch in Epidamnos sind zudem vom Aspekt der Einquartierungsmodalitäten gesehen interessant: Der Gotenkönig, seit 478 als Magister militum auf Expedition, ließ in beiden Fällen die komplette Stadt für seine Truppen räumen. Soldateneinquartierung war zu allen Zeiten ein wenig geschätztes Erlebnis, auch nicht im Falle der Truppen des eigenen Staates, um die es sich auch hier zumindest nach dem eigenen Anspruch handelte. Es ist auch den Bürgern von Thessalonike nicht zu verdenken, dass sie lieber rebellierten als eine Einquartierung in Kauf zu nehmen. Möglicherweise hatten sie noch die Stationierung des Gotenheeres in den sieben makedonischen Civitates: Europos, Kyrrhos, Pella, Beroia, Methone, Pydna und Dion (Jord. Get. 283–288 [MGH AA 5, 131 f.]; Wolfram 1990, 269 f.) gemäß dem damals geschlossenen Übereinkommen mit Zenon noch in allzu guter Erinnerung, und im Zweifelsfall hielt man, wie das Beispiel von Drizipera gezeigt hat, auch vor den kaiserlichen Truppen die Stadttore geschlossen. Gerade bei der Foederatenstationierung spielten die Städte immer wieder eine wichtige Rolle, insbesondere in Bezug auf die Goten. Schon der „populus immensus“ des Wulfila war 348 bei Nikopolis ad Istrum angesiedelt worden, allerdings als friedliche Bauern und nicht als Soldaten13. Die Anführer der Tervingen, Alaviv und Fritigern, standen nicht zufällig vor Marcianopel als dort 376 die Rebellion der Goten wegen des Zusammenbruchs der Versorgung ausbrach (Amm. 31, 5, 4). Die eingangs erwähnten Gentiles waren damals in Adrianopel für den Winter einquartiert (Amm. 31, 6, 1). Alarich residierte als Magister militum per Illyricum von 397 bis 401 in Thessalonike (Schwarcz 1984, 88 f.) und nützte auf seinen Feldzügen wie später auch Theoderich der Große immer wieder die Städte als Versorgungsbasis und als Hauptquartier. Alarichs Schwager und Nachfolger Athaulf heiratete im Jänner 414 Galla Placidia im Haus eines vor-

nehmen Bürgers von Narbonne und beendete sein Leben ein Jahr später in Barcelona (Wolfram 1990, 194–196). Die Stationierung der Westgoten in Aquitanien 419 n. Chr. war höchstwahrscheinlich mit der Erneuerung des Rats der Sieben Provinzen verbunden, der diese Frage vielleicht schon bei seiner konstituierenden Sitzung im Sommer 418, sicher aber beim nächsten Treffen im August 419 behandelte. Die Neuankömmlinge wurden in den Civitates der Aquitania Secunda und in einigen Städten der Novempopulana und Narbonensis I untergebracht, unter ihnen auch in Tolosa – Toulouse, das ihrem Reich in der modernen Historiographie den Namen geben sollte (Wolfram 1990, 178–180; Schwarcz 2001, 15–18). Nach der Schlacht am pannonischen Nedao (454/455) zwischen Attilas Söhnen und den gegen ihre Herrschaft rebellierenden Völkern sind für eine Reihe von ihnen die Stationierungsorte als Foederaten bekannt. Der Schlacht folgte eine tief greifende Neuordnung der politischen und siedlungsgeographischen Verhältnisse im ehemaligen Hunnenreich und in den an diese angrenzenden Provinzen des Römerreiches. Zwar nahmen die siegreichen Völker die Kerngebiete des Hunnenreiches in Besitz, allen voran die Gepiden des Ardarich, und die Verlierer mussten um Aufnahme in das Imperium ansuchen, doch wurden nahezu alle gleichermaßen Foederaten des Reiches, vor allem die des Ostens unter Marcianus. Die Revocatio Pannoniarum des – im Osten als Usurpator geltenden – Westkaisers Avitus blieb vergleichsweise ephemer. Der Panegyricus, den sein Schwiegersohn G. Sollius Apollinaris Sidonius zu Ehren des Konsulats des Kaisers am 1. 1. 456 hielt, belegt als einzige Quelle eine militärische Expedition im Herbst 455 nach Pannonien, deren Zweck wohl die Wiederbesetzung der an die Hunnen abgetretenen Savia war, eventuell verbunden mit Ansprüchen auf die Pannonia I14. Immerhin konnte noch 458 Maiorianus den zum Westen gehörenden Teil Pannoniens und das Gebiet nördlich der mittleren Donau als Rekrutierungsgebiet nutzen. Apollinaris Sidonius nennt Sueben, Pannonier, Hunnen, Geten, Dakier, Alanen, Rugier, Ostgoten und Sarmaten als von der Donau kommend im Heer, mit dem der Kaiser nach Gallien zog, und berichtet von der Rebellion einer (gotisch-hunnischen) Gruppe unter der Führung eines Tuldila, die erst jüngst ihre Herren (d. h. die

Maximini episcopi dissertatio, 35-38; Jord. Get. 267; Wolfram 1990, 73; Schwarcz 1987, 109. …et cuius solum amissas post saecula multa/ Pannonias reuocavit iter… Sidon. carm. 7, 589 f. (ed. Loyen 1960, 77); dazu Loyen 1967, 57 f.;

Stein 1959, 369; Wolfram 1990, 259–261; Demougeot 1979, 577; 768; Várady 1969, 331 glaubt, dass Avitus die Pannonia II beanspruchte, wofür es aber keinen Anhaltspunkt gibt; s. zusammenfassend Schwarcz 1992, 52.

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Attilasöhne) verloren hatte, beim Aufbruch aus Italien15. Die Nennung der Rugier ist ein Indiz dafür, dass diese damals bereits als Foederaten des Westreichs nördlich der Donau saßen. Den Gepiden weist Jordanes die alte Dacia zu, nicht die spätantike Diözese südlich der Donau, sondern den gesamten Raum zwischen Theiß, Donau und Ostkarpaten, rechtlich abgesichert und bestätigt durch ein Foedus mit Kaiser Marcianus, das ihnen auch „annua solemnia“, Jahrgelder, zusicherte (Jord. Get. 264 [MGH AA 126]; Pohl 1980, bes. 263 f. und 268 f.). Die Ostgoten unter der Führung der drei Amalerbrüder Valamir, Thiudimir und Vidimir erhielten vom Reich einen Gebietsstreifen bestätigt, der den Großteil der Pannonia II und Teile der alten Provinz Pannonia I, vielleicht auch den äußersten Südwesten der Valeria umfasste. Jordanes lokalisiert die Wohnsitze der Ostgoten so: Ergo, ut ad gentem, unde agimus, revertamur, id est Ostrogotharum, qui in Pannonia sub rege Valamir eiusque germani Thiudimer et Videmir morabantur, quamvis divisa loca, consilia tamen unita (nam Valamer inter Scarniungam et Aqua nigra fluvios Thiudimer iuxta lacum Pelsois, Vidimer inter utrosque manebat)…. (Jord. Get. 268 [MGH AA 5, 127]; Schwarcz 1992, 53 f.). Valamir, dem unter den drei Brüdern eine Vorrangstellung zugebilligt wurde, denn Jordanes nennt bis zu seinem Tod nur ihn rex Gothorum und Thiudimir und Vidimir nur Königsbrüder16, saß also zwischen den Flüssen Scarniunga – Jarcina östlich von Sirmium und Aqua Nigra – Karasica westlich von Mursa – Ossijek im Gebiet südlich der Drau und um die Save und kontrollierte damit die Pannonia II, Thiudimir um den Balaton und Vidimir zwischen seinen Brüdern, d. h. südöstlich des Balatons beiderseits der Drau (Wolfram 1990, 261 f.; Schwarcz 1992, 53). Möglicherweise schlug Valamir seine Residenz in der alten Kaiserstadt Sirmium auf, die als Festung für die Verteidigung des Gebiets zwischen Save und Donau von vitaler Bedeutung war (Wozniak 1981, bes. 352). Jordanes zählt noch einige kleinere Gruppen auf, die ebenfalls ins Reich aufgenommen wurden: – Einer Gruppe von Sarmaten, Cemandri und Hunnen, die 15

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Sidon. carm. 5, 470–488 (ed. Loyen 1960, 46); Loyen 1967, 78 f.; Maenchen-Helfen 1978, 121 f. glaubt, dass es sich bei der TuldilaGruppe um Hunnen aus der Moesia superior oder Dacia ripensis handelt und etymologisiert auf den S. 274 und 286 den Namen ihres Anführers als hunnisch; Wolfram 1990, 260 lokalisiert sie an der mittleren Donau, spricht aber von einem erfolgreichen Angriff des Maiorianus auf sie. So z. B. Jord. Get. 268 und 274 (MGH AA 5, 127 und 129): …Thiudimer germanus Valameris regis Gothorum… Jord. Get. 265 (MGH AA 5, 126); Prok. BG 1, 16, 2 (ed. Veh 1966, 124); Maenchen-Helfen 1978, 113; Pohl 1980, 261; Velkov 1977, 13; 264 f.

bei Castra Martis nahe dem heutigen Kula in der Dacia ripensis angesiedelt wurde, gehörten dann der Dux Pentapolis Blivila, sein Bruder Froila und der bekannte Heerführer Justinians, der Patricius Bessas, an17. – Skiren, Sadagaren und Alanen wurden unter der Führung des Candac in der Scythia minor und Moesia inferior stationiert18. – Rugier und unbestimmte Angehörige „aliaeque nationes“ setzte das Imperium bei Bizzim – Vize und Arcadiopolis – Lüleburgaz in relativer Nähe zur Hauptstadt ein. – Der Attilasohn Ernak wurde mit den Seinen in der äußersten Scythia minor stationiert, also in der Norddobrudscha und in Südbessarabien zwischen Prut, Dnjestr, Donau und Schwarzem Meer (Jord. Get. 266 [MGH AA 5, 126 f.]; Beševliev 1981, 69–72; Altheim 1962, 339). – Seine Verwandten Emnetzur und Ultzindur bemächtigten sich der Städte Utum – Gaurensko gradište an der Mündung des Utus – Vit, Oescus – Gigen und Almus – Lom in der Dacia ripensis19. – Viele Hunnen, aus denen dann die Fossatisii und Sacromontisii des 6. Jahrhunderts wurden, ergaben sich dem Reich und wurden wohl in Moesien und Thrakien stationiert20. Dass unter allen diesen Gruppen ein relativ hoher Anteil an Goten gewesen sein muss, verrät der unmittelbar auf diese Aufzählung folgende Hinweis des Jordanes auf alii Gothi um Nikopolis ad Istrum – Stari Nikjup, die Gothi minores in der Tradition der Gefolgsleute des Gotenbischofs Wulfila, ein zahlreiches, aber friedlich von der Landwirtschaft lebendes Volk21, das eben nicht wie die vorher aufgezählten Gruppen aus dem Hunnenreich kam, sondern bereits seit der Mitte des 4. Jahrhunderts reichsangehörig war. Auffällig ist bei einem Großteil der genannten Gruppen die Stationierung in Stadtbezirken, ein Indiz für ihren militärischen Charakter und den entsprechenden Modus der Unterbringung und Finanzierung. Für das Ostreich bedeutet die Aufnahme und Ansiedlung der Splittergruppen aus der Konkursmasse des Attilareiches 18

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Jord. Get. 209 und 265 f. (MGH AA 5, 111 und 126); MaenchenHelfen 1978, 113; Wolfram 1990, 43; 260 f. 290; Pohl 1980, 261. Jord. Get. 266 (MGH AA 5, 126 f.); Velkov 1977, 91 f.; ders. 1980, bes. 201; Vetters 1950, 13; 43. Jord. Get. 266 (MGH AA 5, 126 f.); Maenchen-Helfen 1978, 113 besonders zu den Fossatisii und Sacromontisii; Pohl 1980, 261; Várady 1969, 333; Beševliev 1981, 14; 73 f. Jord. Get. 267 (MGH AA 5, 127). Nikopolis war zur Zeit des Jordanes wahrscheinlich bereits nach Veliko Tàrnovo verlegt, vgl. Hoddinott 1975, 249–252.

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die Sicherung der Donaugrenze von Pannonien bis an die Donaumündung. Nützliche Nebeneffekte waren wohl auch die Belebung des einstigen, wüst liegenden Grenzstreifens gegen die Hunnen und Rekrutierungsmöglichkeiten für das Bewegungsheer. Die Städte waren aber auch Gegenstand des Konflikts unter den Foederaten. Als Valamir spätestens 466 die Sadagen in der „Pannonia interior“ angriff, sammelte der Attilasohn Dengizich die ihm verbliebenen Völker und belagerte die Stadt Bassianae, zwischen Sirmium und Singidunum gelegen und der äußerste Posten des ostgotischen Herrschaftsbereichs. Valamir sah sich gezwungen, seine Expansionsbestrebungen nach Norden einzustellen und den hunnischen Angriff abzuwehren22. 467 machten die Ostgoten einen wenig erfolgreichen Vorstoß nach Noricum, wenn man den Nachrichten der Vita Severini und des Panegyricus des Apollinarius Sidonius auf Anthemius glauben darf. Viel mehr als die Einnahme einiger kleinerer Orte an der Donau und ein Foedus mit Teurnia – verbunden mit der Entrichtung der Kleidersteuer, des Canon vestium, als Naturalabgabe durch die Einwohner der Stadt – scheint den Goten nicht gelungen zu sein23. Im Jahr 470 besiegte der aus Konstantinopel heimgekehrte Theoderich Thiudimirsohn die Sarmaten des Babai, tötete diesen, eroberte Singidunum und wurde von seinem Heer vielleicht zum Heerkönig, aber nicht zum Rex Gothorum ausgerufen. Die Einnahme von Singidunum, das er nicht an Konstantinopel zurückgab, begründete die eigenständige Herrschaft, „dicio“, Theoderichs unter der Oberhoheit seines Vaters24. Als Thiudimir und sein Sohn Theoderich 474 das Ostreich angriffen, waren die Städte Illyricums ihr primäres Ziel. Thiudimir eroberte zunächst Naissus und blieb dort über den Winter 473/74, während sein Sohn Theoderich gemeinsam mit den Comites Astat und Invilia einen Aufklärungsfeldzug über das Amselfeld bis nach Larissa machte und dabei Castrum Herculis – Kurvingrad, Ulpiana – Lipljan, Stobi bei Gradsko und Heraclea – Bitola eroberte. Damit war die Basis für einen gemeinsamen Angriff von Vater und Sohn im Frühling 474 auf Thessalonike, die Metropole Illyriens, gelegt. Dieser blieb zwar militärisch ergebnislos, führte aber zu den erwünschten Verhandlungen und zu einem neuen Foedus, der die bereits oben erwähnte Stationierung der Thiudimirgoten in den sieben makedonischen Stadtbezir-

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Jord. Get. 272 f. (MGH AA 5, 128 f.). Wolfram 1990, 264 datiert die Ereignisse auf 467/68, Maenchen-Helfen 1978, 123 zwischen 463 und 466. Letzteres ist wahrscheinlicher, da Dengizich von 467–469 in Kämpfe in Thrakien verwickelt war, siehe Schwarcz 1992, 59.

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ken von Europos, Kyrrhos, Pella, Beroia, Methone, Pydna und Dion zum Inhalt hatte. Thiudimir residierte in Kyrrhos, wo er 474 vor seinem Tod seinen Sohn Theoderich zum alleinigen Nachfolger unter Übergehung von dessen Bruder Thiudimund designierte (Jord. Get. 283–288 [MGH AA 5, 131 f.]); Wolfram 1990, 269 f.). 475 finden wir Theoderich bereits an der unteren Donau in Novae – Svištov, wo er dann auch wieder 488 vor seinem Aufbruch nach Italien residierte (Excerpta Valesiana 2, 42). Grundvoraussetzung für die Stationierung einer Foederatenarmee in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts war jedenfalls auch an der Donau die Existenz noch funktionierender Civitates und es überrascht nicht, dass in vielen dieser Orte auch Bischöfe nachgewiesen sind. In einer Zeit des Niederganges der alten Curiae vermochten alleine sie das Gemeinwesen zusammenzuhalten. Das Verhältnis von Armee und Stadt, auch von Foederaten und Stadt war von der Rolle der Stadt als wichtigster Trägerin des Finanzierungsund Versorgungssystems der bewaffneten Macht geprägt. In der Umwandlung der inneren Strukturen der Städte im 5. Jahrhundert blieb diese Funktion erhalten. Mit dem Untergang der Städte an der oberen Donau um 488 und an der mittleren und unteren Donau am Ende des 6. Jahrhunderts war auch dem traditionellen Modell der Stationierung und Versorgung auch einer Foederatenarmee die Basis entzogen. Quellen- und Literaturverzeichnis Altheim 1962 F. Altheim, Geschichte der Hunnen. Band 4. Die europäischen Hunnen (Berlin 1962). Beševliev 1981 V. Beševliev, Die protobulgarische Periode der bulgarischen Geschichte (Amsterdam 1981). Blockley 1983 R. C. Blockley, The fragmentary classicising historians of the Later Roman Empire. Eunapius, Olympiodorus, Priscus and Malchus. Band 2. ARCA 10 (Liverpool 1983). Bury 1958 J. B. Bury, History of the Later Roman Empire. From the death of Theodosius I. to the death of Justinian. Band 1 (New York 1958).

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Wechselnde Zentren und ihr „Kärnten“. Ein historisch-vergleichender Streifzug durch den frühen Donau- und Ostalpenraum

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Wechselnde Zentren und ihr „Kärnten“. Ein historisch-vergleichender Streifzug durch den frühen Donau- und Ostalpenraum Herwig Wolfram Der historische Vergleich ist ebenso gefährlich wie notwendig. Zum einen ist er die unabdingbare Voraussetzung für jede wissenschaftliche Aussage, zum anderen relativiert er mit Hinweis auf Zeit und Veränderung jede Individualität und Faktizität. Mögen beide noch so unfassbar, unmenschlich und verbrecherisch gewesen sein, aus der subjektiven Einmaligkeit des Geschehens macht der Vergleich ein objektives „Alles schon da gewesen“. Den Historikern, den Fachleuten für Zeit und Veränderung, wirft man daher vor, jeder Aktualität so viele Parallelen und Analogien aus der Vergangenheit gegenüberstellen zu können, dass sich deren Besonderheit in nichts auflöst. Tatsächlich sind es aber gerade die Historiker, die – um ein Beispiel zu nennen – den medial vielfach bemühten Hitler-Vergleich für Politiker unserer Tage in seiner Unhaltbarkeit, ja gefährlichen Verharmlosung des „Vorbildes“ reflektieren. Ein solcher Vergleich kann methodisch nicht funktionieren, weil er die Differenz der geschichtlichen, geschweige denn historischen Individualitäten nicht berücksichtigt und die grundsätzliche Verschiedenheit der Rahmenbedingungen, der inneren wie äußeren Strukturen und – ganz allgemein – des Motivationshorizonts außer Acht lässt. Dazu ein Beispiel: Ist der Satz, Gerhard Schröder und Joschka Fischer hätten im ersten Halbjahr 2000 wie Rheinbund-Duodezfürsten agiert, eine bloße Beschimpfung oder enthält er etwas Wahres? Verglichenes und zu Vergleichendes beziehen sich auf den Rhein als Achse eines Systems, das dem donauländischen gegensätzlich war und ist. Aber damit haben sich die Vergleichsmöglichkeiten schon erschöpft. Sich selbst verstehen die beiden nicht mehr als Vertreter der Bonner, sondern der Berliner Republik, und damit nicht mehr als Politiker vom Rhein, sondern von der Spree. Daher ist ein solcher Vergleich schon vom Ansatz her sinn- und wertlos. Vergleicht man dagegen auf einer historischen

Landkarte das karolingische Frankenreich und das kleine tassilonische Bayern an dessen Rande mit der Ländermasse, die sich 2000 am stärksten für die Sanktionierung der österreichischen Regierung einsetzte, wird man die beiden Karten fast deckungsgleich finden. Sind es also gar nicht die Menschen, die einzelnen Individuen, sondern ihre geopolitischen Rahmenbedingungen, die Orte der Handlung, die den Vergleich über die Zeiten hinweg erlauben, wie ja auch die „longue durée“ auf die historische Dimension von Raum und Zeit bezogen wird? Ist es – wie in unserem Fall – die unaufhebbare Spannung zwischen Zentrum und Peripherie, die hier durchschlägt? Nun, der Historiker ist auch diesbezüglich skeptisch, lässt sich aber auf das im Titel vorgegebene Spiel ein, weil das Experiment reizt, nach einigen antiken wie frühmittelalterlichen Zentren und ihrem Verhältnis zu einer „Kärnten“ genannten Peripherie zu fragen. Dieses „Kärnten“ liegt einerseits im Gebiet des heutigen Bundeslandes Kärnten und in seinem Umkreis, aber auch im mitteleuropäischen Raum von Böhmen bis zur oberen Adria. Der Begriff „gallisch-westgermanische Revolution“ dient seit einem halben Jahrhundert zur Darstellung des Phänomens, wonach es den Völkern in einem Zentrum der barbarischen Welt, nämlich zu beiden Seiten des Rheins, im 1. Jahrhundert vor Christus gelang, das Königtum abzuschaffen. Dagegen habe sich das oder ein „altes Königtum“ an der europäischen Peripherie gehalten, in Britannien, Skandinavien, im Osten Germaniens wie im östlichen keltischen Siedlungsgebiet unter Einschluss unseres Raums (Wenskus 1977, 409 ff. bes. 413). Diese an sich wertvolle Theorie definiert aber Peripherie nach anachronistischen Gesichtspunkten, weil sie auch den antiken Ostalpen- und Donauraum an den Rand rückt. Tatsächlich lagen diese Gebiete Rom und dem Mittelmeer geographisch und politisch näher als das

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Rheinland, und gerade die mediterranen Stadtstaaten waren die ersten, die das seit Homer überkommene Königtum abschafften (Wolfram 1970, 9 bes. mit Anm. 43). Dieser Entwicklung folgten die ostalpinen Kelten bereits in der ersten Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts. Waren bei ihnen 186/83 vor Christus oligarchische „Älteste“ die Ansprechpartner der Römer gewesen, verhandelte der Senat eineinhalb Jahrzehnte später für dasselbe Ethnikon mit einem machtvollen König, dessen Verantwortung und Herrschaft sich über ein Stammesreich hinaus auf Bundesgenossen erstreckte. Das alpenkeltische Regnum von 170 stellte eine Neuschöpfung dar und hatte anscheinend auch ein neues Doppelkönigtum entwickelt, das nicht mehr – wie etwa bei den Spartanern – als Samtherrschaft ausgeübt wurde, sondern bereits regional zuständig war. Nicht unmöglich, dass in einem Stammesteil König Cincibilus herrschte, während der im Jahre 169 genannte Balanos der andere König der Alpenkelten war. Weil dieser den Römern seine Waffenhilfe gegen die Makedonen antrug, könnte er der König des östlichen und Cincibilus der des westlichen Stammesteils gewesen sein. Wie dem auch sei, zwischen 183 und 171/70 wurde im Südostalpenraum ein keltisches Königtum errichtet, das keinen genetischen Zusammenhang mit möglicherweise älteren Königsformen der frühkeltischen Geschichte unseres Raums hatte, wovon Paul Gleirschers Dellach zeugen könnte. Sowohl Cincibilus wie Balanos waren Könige ohne Einschränkung, die ihre Herrschaft als Könige neuen Typs, als Heerkönige, errungen hatten. Balanos war ein Herrscher, der Truppen für einen Auslandseinsatz anbieten konnte. Das Königtum des Cincibilus beruhte auf seiner Herrschaft über einen polyethnischen Verband; er ist qualitativ mit den „modernen“ Heerkönigen nach Art Ariovists oder Marbods zu vergleichen. Die „gallisch-westgermanische Revolution“ hat sich zwar von einem Zentrum am Rhein zu beiden Seiten des Stroms ausgebreitet, sie besaß aber bereits Vorläuferinnen im Südostalpenraum. Hier schloss die Entwicklung an Oberitalien an, wo schon im 3. vorchristlichen Jahrhundert die Kelten ihr Königtum im Kampf gegen die Römer verloren hatten. Letztere verhinderten seither südlich der Alpen jede, selbst eine modifizierte königliche Staatsform1. Die Römer mögen das Königtum gehasst, ja verflucht haben (Wolfram 1970, 9 mit Anm. 43). Ihre bedingungslose Ablehnung galt jedoch der Innenpolitik; nach außen blieb

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Siehe Dobesch 1993, 182–236 bes. 185 ff. zu Wenskus 1977, 329 f. Zu Balanos siehe Urban 2000, 436 Anm. 471. Wenskus 1977, 415 differenziert zu wenig die Überlieferung.

man flexibel. Daher war es tatsächlich einmal die Nähe Roms, die für die Abschaffung des barbarischen Königtums sorgte2. Zum anderen war es durchaus möglich, dass die römische Politik die Erhaltung, ja die Wiedererrichtung eines barbarischen Königtums förderte, weil es den Zwecken der Stadt und des Reichs diente. Rom griff daher in die Stammesverfassungen an seiner Peripherie in durchaus widersprüchlicher Weise ein, ganz wie es seiner Politik nützte. Und im Raum des heutigen Kärnten und der Steiermark nützte es der römischen Politik, eine Oligarchie durch eine Monarchie zu ersetzen, weil die keltischen „Ältesten“ nicht imstande waren, Ruhe und Ordnung an der Nordostgrenze Italiens zu sichern oder, wie man heute sagen würde, die Werte der römischen Gemeinschaft, die pax Romana, zu gewährleisten. Immer wieder lösten sich junge und nicht so junge Krieger mit ihrem Anhang aus dem alpenkeltischen Stammesverband und zogen nach Italien. Damit sollte ein für allemal Schluss sein, indem die Stadt dem unruhigen Völkchen nördlich von Tarvis einen Monarchen verpasste3. Wie sehr sich die römische Ordnung bewährte, lehrt der Einbruch der Kimbern (Urban 2000, 335; Dobesch 1989, 10 ff.; Herrmann 1991, 591), lehrt aber auch die Zeit Caesars, als einmal Ariovist mit Hilfe einer „Kärntnerin“, der Schwester des Norikerkönigs Voccio, gezähmt werden sollte, was erstaunlicherweise nicht gelang (Caes. Gall. 1, 5, 4 und 1, 53, 4; Dobesch 1994, 51 ff.), und als zum anderen ein ungenannter Norikerkönig den Zug Caesars gegen Pompeius mit einem beachtlichen Reiterkontingent unterstützte (Caes. civ. 1, 18, 5; Göbl 1973, 24; 70; 76; 80). Handel und Wandel, vor allem mit Gold und dem Ferrum Noricum, haben in dieser Monarchie von Roms Gnaden auch nicht gelitten. Erst als das etwa fünf Generationen alt gewordene System nicht mehr zufriedenstellend funktionierte, ist die römische Gemeinschaft 15 vor Christus einmarschiert, hat aber das Regnum Noricum noch zwei Generationen lang fortbestehen lassen (Urban 2000, 364 ff.). Als dieses aufgehoben und in die gleichnamige römische Provinz umgewandelt wurde, steckte ein norddanubisches Königreich in einer tiefen Krise, ein Regnum, dessen Entstehung durchaus dem norischen zu vergleichen ist. Die Rede ist vom Marbod-Reich und seiner Umgestaltung. Als Angehöriger der markomannischen Führungsschicht, aber unköniglichen Geblüts und ohne eine offizielle Stellung bekleidet zu haben, ging Marbod noch vor 9 vor Christus

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Siehe bes. Dobesch 1993, 283 f. zur Rolle Roms bei der Ausbildung des alpenkeltischen Königtums.Vgl. Green 1998, 135 f.

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nach Rom. Hier fand der junge Mann die Unterstützung und Förderung durch niemand Geringeren als Kaiser Augustus. Dies muss eine Erziehung im Sinne der römischen Oberschicht bedeutet haben, das heißt, der junge Barbar erhielt eine Ausbildung in römischer Staatskunst und im römischen Militärwesen.Vielleicht ausgestattet mit dem römischen Bürgerrecht, jedenfalls mit Erlaubnis des Kaisers, kehrte Marbod in die, wir würden heute sagen, nordbayerisch-thüringische Heimat zurück, wo er – unbekannt wie lange nach seiner Ankunft – eine schwierige Aufgabe übernahm. Der kaiserliche Adoptivsohn Drusus der Ältere hatte seinen großen Germanenkrieg des Jahres 9 vor Christus auch gegen die Markomannen geführt, von denen sich ein Teil den Römern unterwarf und am linken Rheinufer in Gallien angesiedelt wurde. In dieser für die Existenz des Stammes prekären Situation bot sich Marbod als Retter in der Not an. Es ist zwar leichter gesagt, als sich vorzustellen, aber es gelang ihm, höchstwahrscheinlich mit massiver römischer Unterstützung, vornehmlich markomannisch-quadische Scharen nach Böhmen und Mähren zu führen und dort ihr König zu werden4. Um sich eine Vorstellung von der Marbod gestellten Aufgabe zu machen, verglich man ihn zutreffend mit dem Keltenfürsten Orgetorix, der 58 vor Christus bereits bei der Planung der helvetischen Völkerwanderung, die auch ihm das Königtum hätte bringen sollen, kläglich scheiterte (Dobesch 1993, bes. 455 ff. nach Caes. Gall. 1, 2–4.Vgl. Birkhan 1999, 999 f.). Die Marbod-Markomannen waren dagegen erfolgreich; sie trieben nicht nur die restlichen Bojer aus dem Land (Tac. Germ. 42, 1), sondern wurden von Böhmen aus sofort militärisch und diplomatisch aktiv. Kaum anzunehmen, dass Marbod das alles allein getan hat, sodass man sich mit Bert Brecht fragt: „Caesar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ Ob Marbod einen solchen aus Rom mitbrachte oder nicht, sein Heerkönigtum, das ihm spätestens in Böhmen den Königsnamen eintrug, war nicht gegen die römische Reichsregierung errungen worden. Es war aber verfassungsgeschichtlich ebenso eine Neuschöpfung wie der Königstitel, den Rom auf Betreiben Caesars an Ariovist verliehen hatte. Obwohl keine Quelle eine derartige Rechtshandlung im Falle Marbods bezeugt, ist doch sein Königtum in allen anderen Belangen mit dem Ariovists zu vergleichen (Caes. Gall. 1, 35, 2; 1, 40, 2; 1, 43, 4). Dies betrifft selbst die Zusammensetzung des überlieferten Heeres-

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aufgebots (vgl. Caes. Gall. 1, 31, 6; 1, 48, 5–7; 1, 49, 3 mit Vell. 2, 109, 2). Militärische Macht, Reichsbildung im eroberten Land und ein geschützter Herrschaftsmittelpunkt als permanente Residenz bildeten die idealen Voraussetzungen dafür, dass Marbod sein Heerkönigtum in eine Monarchie umwandeln konnte. Das Marbod-Reich expandierte eindeutig in Richtung norddeutscher und polnischer Tiefebene zwischen Elbe und Weichsel. Trotzdem fühlten sich die Römer bedroht, obwohl Marbod jeden offenen Krieg vermied, auch Gesten des guten Willens setzte, wie die Übersendung des Varus-Hauptes an Augustus (Vell. 2, 119, 5), und sich kaum diplomatische Provokationen leistete. Was aber für den Meinungsumschwung in Rom den Ausschlag gab, war die Tatsache, dass Marbod zu groß geworden war, dass der König eine militärische Großmacht in einer Entfernung von nur 300 km von den „höchsten Alpengipfeln, die Italiens Grenze bilden“, geschaffen hatte. Rom hatte mit der Besetzung von Norikum und des nordwestlichen Pannonien gerade erst die Donau erreicht. Es konnte keine derartige Machtkonzentration nördlich des Stromes dulden, noch dazu ein Königreich, das sich den barbarischen Romfeinden und den Romflüchtigen als politische Alternative und Zufluchtsort bot (Vell. 2, 109, 1–4). Es muss hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden, dass Marbod die römische Invasion von 6 nach Christus deswegen gut überstand, weil der große pannonische Aufstand ausbrach. Ebenso darf als bekannt vorausgesetzt werden, dass Marbod etwa im Jahre 18 die Heimat verließ, weil er, geschwächt durch die vorausgegangene Niederlage gegen Arminius, in einer von Rom unterstützten Palastrevolution gestürzt wurde und im Römerreich Zuflucht suchte (Tac. ann. 2, 44–46 und 62 f.; Vell. 2, 109, 2–110, 6; Suet. Tib. 37, 4). Schließlich genügt ein Hinweis, dass in der Nachfolge Marbods bei Markomannen und Quaden ein von Rom abhängiges Königreich errichtet wurde, mag dies nun Regnum Vannianum oder sonst wie geheißen haben (Tac. ann. 2, 63, 6 und 12, 29, 1 ff.). Worauf es hier ankommt, ist die Behauptung, dass der Tacitus-Satz: „Gewalt und Macht besitzen die Könige aufgrund der römischen Autorität“ (Tac. Germ. 42, 2) sich nicht nur auf die späteren markomannisch-quadischen Herrscher bezieht, sondern bereits auf Marbod zutraf. Insgesamt bildeten Markomannen und Quaden nicht weniger als 400 Jahre, länger als irgendein anderes Germanen-

Vell. 2, 108, 1 ff. R. Gest. div. Aug. 32; Suet. Aug. 21, 1 und ebd. Tib. 9, 2; Cass. Dio 55, 1.Vgl. Dobesch 1993, 215 mit Anm. 50 und 455 ff.; Herrmann 1992, 585 (Nennung eines Markomannenkönigs).

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volk, für die Römer eine abwechselnd ärgerliche wie höchst bedrohliche Peripherie. Trotzdem haben die römischen Schriftsteller über dieses „Kärnten“ weitaus weniger berichtet, als über alle anderen Völker an Rhein und Donau. Warum dies so war, kann nur vermutet werden: Markomannen und Quaden blieben zum Unterschied von Franken, Alemannen und Goten stets an der Peripherie und marschierten niemals in ein Zentrum. Ja, als sich ihre suebischen Nachkommen um 400 über die römischen Donauprovinzen in Bewegung setzten, endete ihre Wanderschaft im nordwestspanischen Galicien, in einem Land, das mental und strukturell durchaus ein „Kärnten“ war und ist (Schmidt 1938/40, 206 ff.). Karantanien Kehren wir nach einer Zeitreise von nahezu 800 Jahren in den Südostalpenraum zurück5. Auf mehr als 35% des heute österreichischen und etwa 10–15% des slowenischen Staatsgebiets entstand mit Karantanien die älteste frühmittelalterliche Staatlichkeit des Ostalpenraums. Die Karantanen waren das älteste slawische Volk, wenn man folgende, vom fränkisch-merowingischen Chlodwig-Muster gewonnene Kategorien anlegt: Die in die Ostalpentäler eingedrungenen Slawen gaben nach etwa einem Jahrhundert, um etwa 700, den allgemeinen Volksnamen auf und nahmen einen Sondernamen an, der nicht slawischer Herkunft, sondern einheimischen Ursprungs war. Im Falle der Karantanen reichte der Name = Felsenleute über die Römerzeit in norische, vielleicht sogar vornorische Schichten zurück. Die Karantanen kannten um 740 eine monarchische Stammesordnung. Es gab eine genau geregelte Herrschaftsnachfolge, und zwar im Erbgang vom Vater auf den Sohn wie bei Fehlen von unmittelbarer männlicher Nachkommenschaft von diesem auf den nächsten Blutsverwandten. Gleichzeitig liest man von der Mitwirkung des zur Herrschaft berechtigten Populus, der die Erbfolge bestätigen musste. Dem karantanischen Monarchen wird wie dem bayerischen Herzog in fränkisch orientierten Quellen – und andere haben wir nicht – der Königsname verweigert, obwohl beide Duces königliche Rechte ausübten. Die Monarchie hat sich aber bei den Karantanen sicher nach westlichen, bayerisch-langobardischen Vorbildern entwickelt. Ja, es fragt sich, ob nicht einer der beiden Nachbarn oder beide dafür verantwortlich waren, dass die crudelissimi pagani et Sclavi unter einen Monarchen gezwungen wurden.

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Eine derartige Interpretation lässt sich aus folgendem historischen Befund ableiten: Um 740 befanden sich ein Boruth und seine Sippe im Besitz einer ungeteilten und allgemeinen Herrschaft über die Karantanen.Von den Awaren angegriffen, wandte sich der Karantanenfürst an die Bayern um Hilfe. „Jene erschienen eilends, vertrieben die Hunnen, versicherten sich der Karantanen und unterwarfen sie und in gleicher Weise ihre Nachbarn dem Dienst für die Könige. Darauf führten sie Geiseln mit sich nach Bayern. Darunter befand sich der Sohn des Boruth namens Cacatius, den sein Vater nach Christenart zu erziehen und zum Christen zu machen bat. Und so geschah es. Das gleiche forderte er auch für Cheitmar, den Sohn seines Bruders.“ (Conversio c. 4, ed. Lošek 1997). Die Entstehung der karantanischen Abhängigkeit wird im Zeitraffer-Stil dargestellt. Trotzdem lässt sich erkennen, dass der karantanische Monarch Boruth keinerlei Schwierigkeiten machte, sich den Bayern, die seine Herrschaft im Lande stabilisierten, anzuschließen. Es stellt sich die Frage, ob er seine Herrschaft nicht überhaupt als bayerisches Mandat erhalten hat, nachdem die Bindungen an den langobardischen Süden um 730 erloschen waren. Wie die Franken von Chlodwig wurden auch die Karantanen „von oben nach unten“ christianisiert. Wie aber unter den Nachfolgern Chlodwigs gab es auch unter denen von Boruth noch zahlreiche Angehörige der Führungsschicht, die Heiden blieben. Von diesen Gruppen wurden mehrere heidnische Reaktionen durchgeführt, die jedoch an der Christianisierung der Karantanen bis zum Ende des 8. Jahrhunderts nichts mehr ändern konnten. Unbeschadet der wirklichen Vorgänge wird die Taufe von Chlodwig mit einem unerwarteten Sieg über einen mächtigen Feind in Verbindung gebracht. Dieses Motiv kommt auch bei der Bekehrung der Karantanen vor. Die Karantanen wurden von den Awaren angegriffen, die sie unterwerfen wollten. Wider alle Erwartung gelang den Karantanen der Sieg. Obgleich sie dazu der bayerischen Hilfe bedurften, waren die Karantanen die ersten Slawen, die sich nachweisbar ihre Unabhängigkeit gegen angreifende Awaren erkämpften und sie erfolgreich verteidigten. Die heidnischen Reaktionen endeten 772. Danach wirkte der Bayernherzog bei der Einsetzung eines monarchischen Karantanenfürsten in der Weise mit, wie dies bei den Nachfolgern Boruths der Fall gewesen war. Und so blieb es, bis Kaiser Ludwig der Fromme nach einem aller-allerletzten Karantanenaufstand im Jahre 828 das Fürstentum abschaffte

Dazu und zum folgenden siehe Wolfram 1995, 45 ff. 73 ff. und 275 ff. sowie ders. 1995a, 122 ff. 218 ff. und 301 ff.

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und einen Großgrafen an dessen Stelle setzte, einen Mandatsträger, der unmittelbar an die Zentrale in Aachen gebunden war. Allerdings „grau, Freund, ist alle Theorie.“ Und in der Praxis hatten die karolingische Zentrale und ihre Nachfolgerinnen immer wieder große Schwierigkeiten mit ihren Marken, ihren zahlreichen „Kärnten“, an der Peripherie des Reichs. Marken So lange das Frankenreich expandierte, waren die an den Außengrenzen liegenden politischen Regna und Dukate für ihren eigenen wie für den Schutz des ganzen Reichs zuständig, eine Maßnahme, die in den meisten Fällen als Vorwärtsverteidigung durchgeführt wurde6. Die Beauftragten dieser Einheiten bildeten eine hierarchisch gegliederte Gruppe von Grafen und Königsboten, an deren Spitze ein Obergraf oder Dux stand, für den offiziöse Quellen auch den Ausdruck „Präfekt“ verwendeten. Die obersten Grenzgrafen stammten aus der Führungsschicht des Frankenreichs und waren auch mit den Karolingern verwandt und verschwägert. Sie waren unmittelbare Delegierte der königlichen Gewalt, da die Herrscher selbst kaum in die Peripherie kamen: Die Aufenthalte der karolingischen Kaiser und Könige in unserem Raum kann man an den Fingern einer Hand abzählen, die ihrer ottonischen, salischen und staufischen Nachfolger halten sich im gleichen Rahmen. Die grenzund markgräfliche Position barg gerade deswegen enorme Risken. Um seine Aufgaben entsprechend wahrnehmen zu können, bedurfte der karolingische Grenzgraf besonderer Entscheidungsfreudigkeit. Er gab anderen Grafen Befehle, die Königsvasallen mussten ihm folgen. Der Grenzgraf schloss Frieden mit den benachbarten Völkern, musste aber seine Entscheidungen und Maßnahmen beim verpflichtenden herbstlichen Zusammentreffen mit dem König (in Aachen) bestätigen und verlängern lassen. Was, wenn er diesen Termin aus irgendeinem Grund nicht wahrnahm? Ein Grenzgraf war nun einmal ein Königsbote und bedurfte der Huld des Herrschers. Tatsächlich beendete der Huldverlust so häufig die Karriere, ja sogar das Leben eines Grenzgrafen, dass dies fast zur Regel wurde. Gefährlich war die Wanderung über den schmalen Grat zwischen Versagen und Überschreiten der Kompetenz. Aber auch beides zugleich konnte zum Verhängnis werden. Dies widerfuhr dem Kommandanten von Friaul, Balderich, dann Ratpot, dem obersten Grenzgrafen des bayeri-

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Dazu und zum Folgenden siehe Wolfram 1995, 155 ff. und 175 ff. sowie ders. 1995a, 212 ff.

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schen Ostlandes (mit Hauptort Tulln), oder Gundakar von Kärnten. Letzterer betrieb eine fatale Schaukelpolitik zwischen seinem unmittelbaren Herrn Karlmann und dessen Vater König Ludwig dem Deutschen, und zwar in einer Zeit, da Vater und Sohn miteinander aufs heftigste zerstritten waren. Schon Karlmanns Kernland und nicht erst das seines eigenen Sohnes Arnulf („von Kärnten“) war Karantanien, wo er in der Auseinandersetzung mit dem Vater den stärksten Rückhalt fand. Aber auch hier hatte der Königssohn mit diesem Gundakar zu rechnen, der Verbindung mit Ludwig dem Deutschen aufnahm, um die karantanische Position Karlmanns selbst zu erringen. Gundakar scheiterte, weil er der Aussöhnung zwischen dem König und seinem Sohn geopfert wurde. Dann wechselte er vollends die Seiten und kam 869 als Überläufer – dem heiligen Emmeram sei Dank – zu Tode, als er in mährischen Diensten ein Heer Rastislavs gegen Karlmann führte. Eine zwielichtige Figur, dieser „Kärntner“ Gundakar, für uns aber deswegen so interessant, weil er der Einzige ist, dessen Herausforderung der Zentrale, dessen „Untaten“ im einzelnen dargestellt werden (Wolfram 1995a, 253 f. 320). Von den anderen, viel wichtigeren, aber dennoch unter die Räder gekommenen Grenzlandgrafen erfährt man nur die Tatsache ihrer Absetzung; bestenfalls ist von Treubruch die Rede, was heute etwa mit „Verrat der europäischen feudalen Werte“ übersetzt werden könnte. Nur der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass alle „Kärntner“ Rebellen keine „Kärntner“ waren, nicht im Lande geboren wurden, sondern dorthin der Karriere willen gingen. Adalbero II. von Kärnten Am Beginn des 11. Jahrhunderts ereignete sich eine der bekanntesten Auseinandersetzungen zwischen rheinischem Zentrum und Kärntner Peripherie, der Streit zwischen Kaiser Konrad II. (1024–1039) und Adalbero II. von Eppenstein, Herzog von Kärnten (1011–1035)7. Die Entfremdung zwischen Konrad und Adalbero endete mit der Absetzung des letzteren im Mai 1035 auf dem Reichstag zu Bamberg. Konrad II. legte karolingische Maßstäbe an seine Politik, nicht zuletzt auch hinsichtlich seiner Stellung zu den Herzögen wie Grafen. Überträgt man diese auf Konrads Politik gegenüber Adalbero zwischen 1030 und 1035, bekommt man die beste Erklärung für den Sturz des Kärntner Herzogs. Sicher ging es auf Adalberos Initiative zurück, dass der Kaisersohn Heinrich III. 1031 ohne Wissen des Vaters mit Stephan von

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Dazu und zum Folgenden siehe Wolfram 2000, 101 ff. 344 ff. 350 ff. sowie ders. 2000a, 671 ff.

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Ungarn Frieden schloss. Die darauf folgenden, im einzelnen unbekannten Maßnahmen im Grenzraum zwischen Ungarn, Kroatien und Byzantinern führte Adalbero überhaupt in Eigenregie durch. Tauscht man die Völkernamen aus, hätte der Satz im 9. Jahrhundert oder, was die Verurteilung einer Absicht, nicht einer Handlung betrifft, und zwar in Abwesenheit des Beschuldigten, im Jahre 2000 geschrieben werden können: „Gestützt auf Kroaten und Ungarn wollte Adalbero, so sagte man, der Königsgewalt Widerstand leisten.“ Diese Königsgewalt hatte ihr Zentrum am Rhein, ja am Niederrhein. Dass Adalbero seine allzu selbständige Politik auch von Konrads Sohn Heinrich III., also vom Bayernherzog absegnen ließ, was der Vater als gegen ihn gerichtete Verschwörung auffasste, kann jedoch nicht der Auslöser für das Absetzungsverfahren gewesen sein, weil Konrad II. davon erst während der Verhandlungen erfuhr. Derartige Überlegungen treffen mit höchster Wahrscheinlichkeit das Richtige und stehen auch nicht im Gegensatz zur eindeutigen Aussage, wonach Konrad II. gegen seinen Schwager Adalbero von Kärnten einen alten Groll hegte und dieser ihm ein rachewürdiges Unrecht, iniuria, angetan habe. Beide Erklärungen, die notwendig eigenmächtige Politik Adalberos im Südosten des Reichs und die alte Feindschaft zwischen Konrad und Adalbero, die Schwestern geheiratet hatten und das reiche Erbe ihrer Schwiegermutter jeweils ungeteilt bekommen wollten, schließen einander nicht aus. Das Misstrauen der Zentrale gegenüber der Peripherie und gegensätzliche wirtschaftliche Interessen sind bis heute aktuell geblieben. Der Sturz Adalberos kann daher nur im Nachhinein als „vertane Chance der Gestaltung des Südostalpenraums“ bezeichnet werden. Beurteilt man die Vorgänge aus der Zeit selbst, stellen sie sich als konsequente Anwendung der karolingischen Politik dar, wonach die Zentrale stets zu verhindern verstand, dass sich in der Peripherie ein königsgleicher Fürst eine eigenständige Machtstellung aufbaute. Theoretisch verfügte der bayerische und nach 976 der karantanische Herzog im oberitalienischen Raum über verhältnismäßig große wirtschaftliche Ressourcen. Tatsächlich befand er sich hier aber auf dem Rückzug, wenn er nicht überhaupt von Anbeginn an die Reichtümer des Landes anderen, besonders geistlichen Gewalten überlassen musste. Kärnten, die Kärntner Mark (Vorläuferin der heutigen Steiermark) und Krain waren dagegen arme Länder, in denen der Herzog überdies seine Macht mit dem Grenz- und Markgrafen zu teilen hatte. Adalberos besondere Stellung bestand darin, dass er beide Funktionen ausübte, aber sie reichte nicht aus, um dem Machtpotential Konrads, des Ver-

treters der Zentrale, zu widerstehen. Die Hilfe, die wichtige Angehörige der bayerischen Führungsschicht Adalbero zuteil werden ließen, konnte den innerbayerischen Widerstand gegen den Eppensteiner nicht kompensieren, geschweige denn überwinden, und dies, obwohl Heinrich III., der junge Königssohn und Bayernherzog, an der Spitze der AdalberoFreunde stand. Hermann von Spanheim Nicht ganz fünf Generationen später, in den 60er und 70er Jahren des 12. Jahrhunderts, ergab sich wieder ein Gegensatz zwischen kaiserlicher Zentralgewalt und der alpinen Peripherie. Dabei spielte allerdings der damalige Kärntner Herzog Hermann von Spanheim, obwohl er ein treuer Anhänger Barbarossas war, keine aktive Rolle.Vielleicht konnte er sie – nach Verlust aller Außenposten – auch gar nicht mehr spielen. Vielmehr ging es um das Erzbistum Salzburg, das im Schisma der römischen Kirche auf Seiten von Alexander III. stand, während der Großteil der deutschen Reichskirche Barbarossa gehorchte und dessen Päpste unterstützte. Der Kaiser griff mit allen militärischen Mitteln ein: Salzburg und der Salzburger Besitz im Südostalpenraum hatten furchtbar zu leiden. Hilfe hätte man – wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen der Metropoliten mit Přemysliden und Babenbergern – von Böhmen und vor allem von Österreich erwartet; es blieb aber bei der verbalen Unterstützung (Dopsch u. a. 1999, 144 ff. und Dopsch 1983/84, 284 ff.). Schlusswort Allerdings waren es diese Babenberger, 1035 noch die Gegner Adalberos und seiner peripheren Machtbildung, die im 12. Jahrhundert daran gingen, von der Donau aus ein eigenständiges Ostland innerhalb des Reichsverbandes zu bilden. Sie konnten sich dabei – wie ihre habsburgischen Nachfolger – auf die verhältnismäßig große Wirtschaftskraft des österreichischen Donauraums stützen und 1192 mit der Gewinnung der Steiermark langfristig an die Politik der Eppensteiner anknüpfen. Nicht zu unrecht versteht man heute deren Aussterben im Jahre 1122 als die „Geburt“ der Steiermark (Brunner 1994, 340). In Wirklichkeit waren es allerdings erst die Habsburger, die als Vertreter des alten rheinischen Zentrums den peripheren König Ottokar II. Přemysl stürzten und in seiner Nachfolge eine mächtige Zentrale an der Donau errichteten. Bis ins 19. Jahrhundert haben die Habsburger diese Alternative zu den Zentren an Rhein, Seine, Themse und Newa glaubwürdig vertreten.

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Archäologische Beiträge

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Der Klientelstaat der Quaden* Jan Bouzek Die Beziehung zwischen den Römern und ihren Nachbarn war nicht immer nur dadurch bestimmt, dass Rom seine Nachbarn als Gegner betrachtete, die aufgrund der friedlichen Verhältnisse im römischen Imperium für eine Eingliederung als ungeeignet galten. Das Verhältnis zwischen Rom und den sog. Barbaren beruhte nicht nur auf Gegensätzlichkeiten. Auch das Barbarenbild bei den Römern hat sich mit der Zeit mehrmals geändert. Ikonographisch ist eine Entwicklung fassbar. In antoninischer Zeit bekommen die davor wild und ungestüm dargestellten Barbaren menschliche Züge, eine Seele. In weiterer Folge werden sie als würdevolle römische Föderaten dargestellt (Bouzek 1982). Für die Germanen trifft noch heute der berühmte Satz von Fustel de Coulanges zu: „Depuis le troisième siècle, Rome n’était pas plus un ennemi pour les barbares, mais une carrière“ (für Pannonien vgl. Mócsy 1972). Daneben aber haben sich entlang des Limes zwischen dem „echten“ Barbaricum und den römischen Provinzen sog. „Zwischenzonen“ gebildet (Bouzek/Ondřejová 1990; Tejral u. a. 1995). Mehrere Klientelstaaten an der Grenze Roms sind uns bekannt; manche, wie Numidien oder das Königreich von Noricum, fielen nach einer gewissen Zeit an das Imperium, andere, wie das Bosporanische Reich oder Armenien, behielten ihren Klientelstatus sehr lange (Braund 1984; Lemosse 1967) und wieder andere, wie z. B. die germanischen und sarmatischen Reiche in Mitteleuropa, hatten nur für kurze Zeit eine höhere Stabilität erreicht. Sie standen am Beginn einer echten Staatenbildung, wobei der griechische Begriff ethnoi wohl treffender wäre (vgl. Wenskus 1977). Die Gesellschaften im freien Germanien waren für gewöhnlich wie folgt gegliedert: die Familie, darunter auch Familien, aus denen die elitären Adelsdynastien hervorgingen, das Dorf, die Dorfgruppen (pagus) und der Stamm (gens) mit dem Stammeshäuptling (princeps) und Stammesbund (ev. rex wie bei Tac. Germ. 7, 11–15). Beim Königreich von Marbod

spricht man von einem Zustand zwischen Stammesbund und Proto-Staat, ähnlich wie bei Arminius. Die späteren uns bekannten Könige des 1. und 2. Jahrhunderts (z.B. Vannius usw.) regierten wohl nur einen einzigen Stamm und waren dem Ethnos-Typ aus der griechischen Terminologie (lateinisch eher gens als nation) näher. Schon Marbod, der römisch erzogen worden war, und der seine Armee nach römischem Vorbild organisierte, wollte nicht gegen Rom kämpfen (vgl. Droberjar/Sakař 2000). Er hat sowohl seine Jugend als auch die Zeit nach seiner Absetzung durch Katvalda im Jahr 19 n. Chr. bis zu seinem Tode im Jahr 37/38 n. Chr. in Italien verbracht. Seine ersten Nachfolger (Katvalda,Vibilius) haben nur ephemere Reiche gebildet (19–21 n. Chr.) und die späteren kleineren Könige der Quaden, soweit wir von ihnen etwas wissen, waren mehr oder weniger vom Imperium abhängig. Vannius war im Jahr 20 n. Chr. von Roms Gnaden König (bis 50 n. Chr.), ebenso seine Nachfolger Vangio und Sido, bis Sido und Italicus (sein Name zeigt schon, dass er mit römischer Unterstützung König wurde) im Jahr 69 n. Chr. für Vespasian bei Cremona kämpften. Allerdings halfen die Markomannen und Quaden Domitian bei seinen Feldzügen gegen die Daker nicht. Im Jahr 80 n. Chr. erlitten sie eine Niederlage. Hadrian zog nur pro forma gegen die Quaden und Markomannen und Antoninus Pius, der erfolgreichste römische Kaiser, gab (oder bestätigte) ihnen zwischen 140 und 144 n. Chr. einen König, wie wir es von der berühmten Münze, die zu dieser Gelegenheit geprägt worden war, wissen. Im Grunde haben meist die quadischen – zum Teil auch die markomannischen – Könige geschickter oder ungeschickter zwischen Loyalität und Unabhängigkeit laviert (vgl. Dobiáš 1964, 149–193; Bouzek 1994; Braund 1984; Erdrich 1995; Tejral 1994). Nach der Niederlage des Varro hatte schon Augustus begriffen, dass sich Versuche der Erweiterung des Imperiums im Norden nicht sehr lohnen würden, aber die Sicherung

* Ich danke Jiří Musil für seine Hilfe und Ratschläge während der Vorbereitung dieses Beitrags.

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sowohl der Bernsteinstraße als auch der Nordgrenze und wohl auch die unverzichtbaren Verdienste der Germanen im römischen Heer haben sowohl die römische Diplomatie als auch das Militär gezwungen, den Frieden mit den halbfreien – im Klientelstatus befindlichen – reges der benachbarten Barbaren zu pflegen. Eine eingeschränkte militärische Präsenz bis nach Südmähren zur Sicherung dieser Beziehungen ist zumindest wahrscheinlich – sie war für alle historisch besser bekannten Klientelstaaten die Regel. Die Markomannenkriege waren im gewissen Sinne eher ein Aufstand als ein Krieg zweier Mächte, wobei die ferneren Nachbarn der Römer den Krieg initiiert hatten. (Dobesch 1994; Domański 1994; Dobiáš 1964, 149–272; Birley 1983; Ichikawa 1988). Die Wiedereinrichtung des vorkriegszeitlichen Status durch Commodus im Jahr 180 n. Chr. hat noch einmal das Gleichgewicht wiederhergestellt und die Verhältnisse stabilisiert (Alföldi 1971; Friesinger u. a. 1994). Der genaue Ablauf ist kaum aus der sehr kargen literarischen Überlieferung ablesbar. Doch einige archäologische Funde aus Südmähren und aus der Südwestslowakei können dazu beitragen, dass wir mit dem Versuch, die damalige historische Situation zu erleuchten, vorwärts kommen. Der Fundort Devín zeigt, dass seit der römischen Eroberung der Donaugrenze kontinuierliche Beziehungen zum römischen Imperium bestanden haben (Pieta/Plachá 1999). In Mušov sind Spuren, wenn auch nicht eindeutig klare, von einer frühen römischen Präsenz entdeckt worden (Bálek/Šedo 1996). In Bezug auf die aktuelle Forschung ist einzuwenden, dass nicht alle römischen Ziegelfunde aus Südmähren von einem Ort stammen können und dass nicht alle bislang entdeckten Marschlager unbedingt in die Zeit der Markomannenkriege gehören müssen. Noch wichtiger ist aber die Evidenz der reichen Gräber. In den Nekropolen bei Dobřichov und bei Třebusice in Böhmen ist die Führungsschicht der Markomannen unter Marbod bestattet. (Sakař 1970; Droberjar 1999; Droberjar/Sakař 2000). Die dort gefundenen Spitzenerzeugnisse der frühkaiserzeitlichen Kunstindustrie bestätigen die Berichte über viele römische Kaufleute an Marbods Hof und damit die Anklänge einer Romanisierung, die es auch in anderen Teilen des freien Germaniens bis hin zu den großen Lagern der augusteischen Zeit nördlich des späteren Limes gab (v. Schnurbein u. a. 1995). Die Zone von Südmähren und der Südwestslowakei, die bis zu einem gewissen Grad romanisiert war – u. a. wurde dort allgemein römisches Tafelgeschirr verwendet –, haben wir einmal als „dritte Zone“ zwischen dem Imperium und dem Barbaricum zu definieren versucht (Bouzek/ Ondřejová 1990; dies. 1996; vgl. TIR 1986).

Für die Geschichte des Klientelstaates der Quaden sind jedoch andere archäologische Funde von besonderer Bedeutung – die reichen Königsgräber und die nach römischem Vorbild erbauten Sitze bedeutender Persönlichkeiten außerhalb der römischen Provinz. Gute Beispiele für letztere sind Bratislava-Dúbravka (Elschek 1995), Milanovce, Pác in der Slowakei (Kolník 1980; ders. 1986), wohl auch andere in Österreich. Devín dürfte eventuell auch eine ähnliche Bedeutung gehabt haben (Pieta/Plachá 1999). Die meisten dieser Bauten gehören erst dem 3. und 4. Jahrhundert an; die reichen Gräber der römischen Föderaten dem 5. Jahrhundert. Davor hätte wohl die öffentliche Meinung einen außergewöhnlich ausgestatteten Sitz der Königsfamilie nicht ertragen, wie es etwa bei Tacitus zu lesen ist. Angeführt werden kann auch eine Parallele aus der Frühgeschichte Roms (das Haus des Poplicola), die von Plutarch (vgl. die Vita des Poplicola) erzählt wird. Doch haben wir auch frühere archäologische Zeugnisse, die uns die Lage im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. erleuchten können. Im Königsgrab von Mušov (nun Peška/Tejral 2002) hat man besonders wertvolle Erzeugnisse der römischen Kunstindustrie gefunden: Der Tisch mit Pferdeprotomen datiert etwa in das 3. Viertel des 1. Jahrhunderts n. Chr., die Situla mit den Mänadenköpfen gehört einer ähnlichen Zeitstellung an, der Kessel mit den Barbarenköpfen (Abb. 1) ist nicht viel später nach der Regierungszeit des Trajan entstanden. Da die Gefäße zuvor repariert und die Büsten neu eingesetzt worden waren, mussten diese sehr lange in Verwendung gestanden haben, bevor sie in das reiche Grab aus der Zeit der Markomannenkriege gelangten. Noch älter scheint die Bronzelampe zu sein, die am ehesten in das frühe 1. Jahrhundert n. Chr. zu datieren ist (Bouzek 2000a; ders. 2000b). Der eiserne Feuerbock knüpft an die keltische Tradition an. Die Trachtgegenstände aus dem Grab gehören dagegen nicht mehr der frühkaiserzeitlichen Tradition der Germania Libera an, die das latènezeitliche Erbe fortsetzt, sondern zu den frühesten Vorläufern der spätrömischen Feinschmiedetradition (v. Carnap-Bornheim 1994). Gegenüber C. v. Carnap-Bornheim (2000) scheint mir immer noch wahrscheinlicher zu sein, dass es sich im Grab von Mušov um die Bestattung eines lokalen Königs handelt, der vorher in guter Beziehung mit den Römern lebte (vgl. Bouzek 2000b und Tejral 1999); auch wenn sein Name nicht bekannt ist (Kehne 2000). Auch die in den reichen Gräbern von Stráže bestatteten Aristokraten erhielten als Grabbeigaben schon Antiquitäten (Ondrouch 1957; Svoboda 1972). Am interessantesten von ihnen ist die Lanx (Dekan 1979), deren linke Griffplatte sich heute in New Yorker Privatbesitz befindet. Auf dieser ist der

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Kampf zwischen Römer und Sabiner, der von den Sabinerinnen unterbrochen wird, zu sehen. E. Simon (2001) hat vor kurzem gezeigt, dass auf dem Randfries der Lanx (Abb. 2) die ganze Geschichte des ersten Jahres der römischen Republik dargestellt ist, und nicht nur die Geschichten des Brutus, seiner Söhne und der Lukretia (im Sinne von Plutarch, Vita Poplicoli). E. Simon ist der Ansicht, dass die Lanx für die 900 Jahrfeier der Stadt im Jahre 147 n. Chr. unter Antoninus Pius erzeugt worden ist. Weil etwa in derselben Zeit auch die Münze mit dem Text rex Quadis datus entstanden ist, dürfte die Lanx schon damals in die Hand eines quadischen Königs gekommen sein, wahrscheinlich als Geschenk bei seiner Investitur (vgl. jetzt Bouzek 2002). Die Lanx zeigt eine starke Abnützung der Oberfläche, sie war also lange in Verwendung bevor sie ins Grab kam. Sowohl die Bronze- und Glasgefäße des Grabes von Mušov als auch die Silbergefäße von Stráže, gehörten lange Zeit zu den Keimelia der vornehmsten Familien der Quaden. Sie gingen als Erbgut über mehrere Generationen. Dies scheint auch zu zeigen, dass sie zu den Symbolen gehörten, die die dynastische Kontinuität, wenn vielleicht auch nicht ohne Konkurrenz – zumindest innerhalb einer kleinen Gruppe –, sicherten. Die Verwendung des Prunkgeschirrs während der Feste der Oberschicht, der Anführer und ihrer Gefolgschaft, festigte die Strukturen des quadischen, respektive wohl auch des markomannischen Stammbundes, der Ethnoi. Die römischen Geschenke waren aber auch Symbole einer Partnerschaft mit Rom, ein Pfand für die Klientel, die Vorläufer der späteren Föderaten waren, die wiederum schließlich mächtiger wurden als die römischen Kaiser selbst. Dies war sicher noch nicht im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. der Fall, aber das gesellschaftliche Ritual dieser Zeit – und die von beiden Seiten anerkannte Partnerschaft – haben die späteren Verhältnisse vorbereitet. Literaturverzeichnis Alföldi 1971 G. Alföldi, Der Friedensschluß des Kaisers Commodus mit den Germanen. Historia 20, 1971, 84–109. Bálek/Šedo 1996 M. Bálek/O. Šedo, Das frühkaiserzeitliche Lager bei Mušov – Zeugnis eines augusteischen Feldzugs ins Marchgebiet? Germania 74, 1996, 399–414. Birley 1993 A. Birley, Marcus Aurelius3 (London 1993). Bouzek 1982 J. Bouzek, Die Entwicklung des Barbarenporträts. In: Römisches Porträt. Wege zur Erforschung eines gesellschaftlichen

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Abb. 1: Kessel mit Barbarenköpfen aus dem Grab von Mušov. Umzeichnung nach Bouzek 2000. Abb. 2: Umzeichnung der Randszene auf der großen Lanx von Stráže nach Svoboda 1972.

Bemerkungen zu Grab 622 von Kemnitz, Kreis Potsdam in Brandenburg

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Bemerkungen zu Grab 622 von Kemnitz, Kreis Potsdam in Brandenburg Thomas Fischer Aus dem großen, modern gegrabenen germanischen Gräberfeld von Kemnitz, Kr. Potsdam in Brandenburg, stammt eine besonders reich ausgestattete Bestattung, das Brandgrab 622 (Geisler 1973). Dieses wurde wegen seiner überdurchschnittlichen Beigaben vom Ausgräber Horst Geisler vorab publiziert und als Adelsgrab bezeichnet1. Der Katalog soll hier nach Geisler (1973) wiedergegeben werden: „1) Urne: Schwarze Terrine aus Ton, flacher Standboden, leicht eingezogenes Unterteil, gerundete Schulter, abgesetzter, einziehender Rand mit kräftigem Randwulst, Absatz durch waagerechten Wulst betont. Auf der Schulter ein schmaler, kantiger Henkel, von dessen unterem Ansatz gebogene Leisten abgehen. Rand, Schulter und Unterteil tragen Verzierungen aus Rillengruppen, Rädchenstempel und Rollrädchenmuster. H. 28,9; Mdm 32,8; gr. Dm 41,0; Bdm 14,0 cm. 2) Leichenbrand: Viel, grob; Diagnose: adult; Geschlechtsbestimmung: unsicher. Beigaben a: aus der Urne 3) Eiserne Zwinge.Verlust. 4) Geschmolzene Bronzestücke.Verlust. 5) Reste von Glasperlen.Verlust. 6) Urnenharz.Verlust. b: neben der Urne 7) Unverzierter goldener Fingerring (Beckmann Form 3). Dm 2,7 cm; 19,5 g. 8) Bronzener Eimer vom Östlandtyp I mit eisernem Henkel (Form 39/40 nach Eggers). H. 24,9; Mdm 22,4; gr. Dm 35,6; Bdm 6,7 cm. 9) Deckschale von 8: schalenförmiges Gefäß aus Ton mit gewölbter Wandung und massivem Fuß. H. 9,9; Mdm 22,4; Bdm 6,7 cm. 1

c: aus dem Bronzeeimer 8 10) Zusammengedrückter bronzener Eimer vom Östlandtyp I mit bronzenem Henkel (Eggers Form 39/40). 11) Eiserne Ringbrünne, zusammengefaltet und fest zusammengerostet. Ring: Dm 0,7–0,8 cm; Gewicht etwa 15,5 kg. 12) Größere Mengen geschmolzener Glasperlen, die entsprechend den Falten der Ringbrünne in dieser eingelagert sind. 13) Bronzegürtel mit Scharniergelenk, mehreren Nietlöchern und einem Niet, in Stücken erhalten. Br. etwa 8 cm (hier Abb. 1) 14) Getriebene bronzene Bleche mit Darstellungen aus dem Herkulesmythos. Zu erkennen ist: a) Herkules mit dem erymanthischen Eber über der Schulter bei der Rückkehr von seiner dritten Arbeit für den König Eurystheus, der aus einem Gefäß heraus abwehrend die Hände hebt, b) Herkules beim Fang der Hirschkuh, die er am Geweih (!) hält und mit dem Knie niederdrückt, seine vierte Arbeit, und c) der Kampf mit der Amazonenkönigin zu Pferd, die er gerade vom Pferd herunterzieht, seine neunte Arbeit. Die Bleche sind unvollständig. Es können aber noch einige Bleche in den Klumpen der Ringbrünne stecken (hier Abb. 2). 15) Eiserne, rechteckige, zweiteilige Schnalle mit Riemenplatte. Br. 2,5 cm 16) Bronzene, rechteckige Gürtelöse (?), vielleicht zum Gürtel 13 gehörend (hier Abb. 3) 17) Gebogenes, bronzenes Fragment. 18) Knochenkamm mit durchbrochenem Griff und Würfelaugenmuster (Thomas Typ C). H. etwa 6 cm 19) Zahlreiche Bronzeblechstücke zu 10 und 13.“ Durch die reichen Importbeigaben und besonders den goldenen Fingerring hebt sich das Brandgrab 622 von den zeitgleichen Bestattungen seines näheren und weiteren Umfeldes deutlich ab. H. Geisler hat es zu Recht als Bestattung einer sozial höhergestellten Persönlichkeit, als Adelsgrab an-

Geisler 1973; ders. 1974, 70 f.; ders. 1984, 100; 125; 134; CRFB 1994, Taf. 6, 2; 8, 1; 14, 1.

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gesprochen. Das Brandgrab datiert nach Geisler in die Endphase der Stufe B2 (Geisler 1973, 285 ff.), die dem Horizont B2b nach Godłowski entsprechen würde (Godłowski 1994, 118; 125 Abb. 4; 128 Abb. 7; Kaczanowski 1994, 141). Dieser Materialhorizont wird in die 2. Hälfte des 2. Jhs. gesetzt, also in die Zeit der Markomannenkriege (Kolník 1994, 233 ff.). Er ist durch einen deutlich vermehrten Zustrom römischer Waffen in das mitteleuropäische Barbaricum, vor allem an Ringknaufschwertern und Kettenhemden, charakterisiert (Kaczanowski 1994, bes. 141; 148 Abb. 2). Dieser Beitrag soll den Gegenständen Nr. 13, 14 und 19, vielleicht auch 16 gelten2, welche Geisler einem römischen Gürtel zurechnet, bei den reliefverzierten Blechen Nr. 14 freilich nur mit Vorbehalt. Er meint, sie könnten z. B. als Zierbleche auf den Gürtel genietet gewesen sein, rechnet aber auch mit der möglichen Zugehörigkeit zu einem Gefäß mit Reliefdekor3. Den Gürtel bezeichnet er als Teil der Rüstung, also als militärisches Ausrüstungsstück der römischen Armee. Die Interpretation durch Geisler, der auch nachfolgende Autoren gefolgt sind4, in diesen Blechresten die Fragmente eines Gürtels von der militärischen Ausrüstung zu sehen, ist äußerst problematisch. Kann doch ein solchermaßen gestalteter römischer Gürtel aus einem durchgehenden Blechstreifen mit Scharnier mit und ohne Zierbleche durch keine einzige Parallele in der frühen und mittleren Kaiserzeit belegt werden, zumal ein vergoldetes Stück5. In großer Zahl dagegen gibt es Gürtel aus Leder (oder Stoff?) mit metallenen Beschlägen (cingula). Diese sind in der römischen Kaiserzeit dem Militär vorbehalten, über Beschläge römi-

scher cingula liegt eine umfangreiche Literatur vor. In der 2. Hälfte des 2. Jhs. nach Chr., als der Fund in den Boden gelangte, dominieren durchbrochene Bronzebeschläge als Zierrat römischer Militärgürtel6. Im Fundmaterial überwiegen vereinzelte Beschläge ohne Kontext, doch gibt es gerade in der 2. Hälfte des 2. Jhs. auch eine ganze Reihe von kompletten oder fast kompletten Beschlagsätzen aus Grabfunden, besonders in den Donauprovinzen7. Doch wenn die Bronzereste aus dem Brandgrab 622 von Kemnitz nicht zu einem Gürtel gehören, welche Interpretation bietet sich dann an? Gehen wir einmal von der auch von Geisler in Betracht gezogenen Prämisse aus, dass das lange bandförmige Scharnierblech und die verzierten Blechreste zu einem einzigen Gegenstand gehörten. Durch das Motiv und die gekonnte Ausführung des Reliefdekors erweist sich dieser Gegenstand zunächst einmal zweifelsfrei als römische Arbeit und nicht als germanische Nachahmung oder gar Eigenschöpfung. Betrachtet man nun die abgebildeten Fragmente etwas näher, so fällt bei dem stark zerstörten Stück auf, dass der angebliche Gürtel an keiner Stelle eine glatte Kante, also einen ordentlichen, glatten Rand aufweist, was man bei einem Gürtelblech erwarten darf.Vielmehr machen die Ränder an der Längsseite eher den Eindruck von Bruchkanten, es liegt also der Verdacht nahe, dass hier ein größerer Gegenstand aus Bronzeblech, zu dem mindestens ein Scharnier gehörte, intentional zerlegt wurde. Allerdings scheint dies nicht ganz gelungen zu sein, bei Geisler 1973, Abb. 6a ist das kürzere Blech, welches an das Scharnier anschließt, nicht an der Falzkante gebrochen, sondern an dieser Stelle breiter, was ja für einen Gürtel ungewöhnlich wäre. Der erhaltene

Für Hinweise und Diskussionen danke ich D. Boschung (Arch. Inst. der Univ. zu Köln), F. Fless (Arch. Inst. der Univ. Leipzig) und R. Förtsch (Forschungsarchiv für Antike Plastik am Arch. Inst. der Univ. zu Köln), für Fotoarbeiten Ph. Gross (Arch. Inst. der Univ. zu Köln). Eine Zusammengehörigkeit sollte mit Hilfe von Metallanalysen zu klären sein. Allerdings wären mir keine römischen Bronzegefäße bekannt, auf denen vergleichbarer Reliefdekor vorkommt. Da man zudem annehmen muss, dass ursprünglich mehrere oder gar alle zwölf Taten des Hercules vorhanden waren, wird die Sache noch unwahrscheinlicher: Kein bekanntes römisches Bronzegefäß der 2. Hälfte des 2. Jhs. wäre groß genug, um dieser Menge an Reliefschmuck Platz zu bieten! Ich möchte aber betonen, dass alle meine folgenden Ausführungen unter der Einschränkung stehen, dass ich die hier diskutierten Stücke nur aus der Literatur kenne, nur ein Relieffragment konnte ich in der Römerausstellung 2000 in Rosenheim in der Vitrine sehen (Wamser 2000, 368 Kat. Nr. 115). Es wäre auch zu wünschen, dass der Kettenpanzer, in dem nach Geisler noch weitere Bronzeblechstücke eingebacken sein könnten, zumindest

einmal einer Röntgenuntersuchung unterzogen wird. Eine entsprechende Anfrage an das Brandenburgische Museum für Ur- und Frühgeschichte in Potsdam vom Dezember 2000 blieb allerdings bis jetzt ohne Antwort. Geislers Interpretation wurde kritiklos von T.Weski (1982, 254) und von R. Madyda-Legutko (1991, 85 ff.) wieder aufgegriffen. Dennoch wurde der „Gürtel“ von Kemnitz kürzlich als Parallele für einen – allerdings völlig anders gearteten – Metallgürtel mit Scharnieren aus dem Grabfund von Hagenow herangezogen. Dort wird in Tab. Abb. 160 auch angemerkt, dass der „Gürtel“ von Kemnitz vergoldet gewesen sei. Eine briefliche Nachfrage bei U. Voß (Berlin) erbrachte die Bestätigung. Dies stützt m. E. die hier im Folgenden vorgebrachte neue Interpretation der Kemnitzer Bleche, vgl. Voß 2000, 197 ff. Hier seien nur angeführt: Fischer 1990, 77 ff.; Bishop/Coulston 1993; Oldenstein 1976, 133 ff.; Jütting 1995, 162 ff.; Petculescu 1995, 105 ff. Fischer, Oldenstein, Petculescu (wie Anm. 6).

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Blechstreifen von noch ca. 50 cm Länge und ca. 8 cm Breite macht also nur einen bedingt gürtelähnlichen Eindruck! Da Spuren von Schnitten mit einer Blechschere oder einem ähnlichen Gerät zu fehlen scheinen, dürfte man möglicherweise den Gegenstand einfach durch wiederholtes Biegen zerlegt haben. Weitere Beschädigungen erfolgten durch das Feuer des Scheiterhaufens. Zusätzlich wurde dann das Blech mit dem Scharnier zusammengefaltet, wohl um es im Bronzegefäß Nr. 8 deponieren zu können. Dort hat dann die Korrosion im Boden die Substanz des Stückes weiter dezimiert. Die absichtliche Zerstörung einer Grabbeigabe ist ein im germanischen Raum häufig zu beobachtendes Phänomen. Besonders Waffen, etwa Schwerter, wurden so vor der Deponierung im Grab unbrauchbar gemacht. Dabei liegen sicherlich rituelle Gründe vor und nicht nur die Absicht, einen größeren Gegenstand der kleinen Grabgrube anzupassen. Wenn das lange Blech mit Scharnier von Kemnitz kein Gürtel war, sondern nur der Teil eines größeren, absichtlich beschädigten Gegenstandes aus vergoldetem Bronzeblech, dann könnten auch die Reliefbleche zu ein und demselben Stück gehört haben und müssten nicht – wie Geisler annimmt – als gesonderte Zierbleche auf dem Gürtel aufgenietet gewesen sein. Doch bei welchem römischen Gegenstand kann dies der Fall gewesen sein? Der Schlüssel zur Neuinterpretation und Rekonstruktion des Gegenstandes, dessen beschädigte und im Feuer des Scheiterhaufens dezimierte Fragmente im Östlandkessel Nr. 8 des Brandgrabes 622 von Kemnitz zutage kamen, liegt zunächst im Scharnier: Derlei vergleichbare lange Scharniere mit halbrunden Nietköpfen an der Achse sind in der Tat von größeren römischen Gegenständen aus getriebenem Bronzeblech mit Reliefdekor bekannt – nämlich von den Muskelpanzern römischer Kaiser, hoher Offiziere und Angehöriger der Prätorianerkohorte. Solche Muskelpanzer haben die Römer von der griechisch-hellenistischen Bewaffnung übernommen. Aus dem griechisch-etruskischen Bereich liegen auch eine ganze Reihe an Originalfunden vor (Robinson 1975, 147 ff.).

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Vermeule 1959/60, 82. Ein aus einem Bronzeblechstück herausgeschnittenes Reliefbild eines Greifen (aus dem britischen Kunsthandel) soll angeblich von einem Muskelpanzer stammen. Natürlich wären hier noch andere Dekorarten (Ritzung, Einlagen von Silber oder Niello) denkbar, da aber keine Originalfunde vorliegen, lässt sich dies nicht belegen.

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Allerdings gibt es – mit einer sehr unsicheren Ausnahme8 – bisher keinen einzigen Originalfund eines solchen Waffenstückes aus der römischen Kaiserzeit. Zahlreich dagegen sind – teilweise sehr detaillierte – Abbildungen und Darstellungen, etwa auf historischen Reliefs oder bei Panzerstatuen aus Metall oder Stein. Als Beispiele zeige ich drei Panzerstatuen aus den Vatikanischen Museen (Museo Gregoriano Profano), nämlich den Augustus von Primaporta, den älteren Drusus und einen Unbekannten sowie je einen Torso aus Merida und Boston (Abb. 4–10; die Aufnahmen stammen aus dem Forschungsarchiv für Antike Plastik am Arch. Institut der Universität zu Köln). Die Panzer, aus Bronzeblech getrieben, ahmen die männliche Muskulatur nach. Sie bestehen aus zwei Schalen, einem glatten Rückenteil und einem Vorderteil, das den Reliefschmuck trägt9. Dieses Vorderteil läuft in der Regel am unteren Bauchbereich halbrund aus. Daran sitzen dann, wie gelegentlich auf Darstellungen deutlich erkennbar, mit Scharnieren verbunden10, halbrunde, oft dekorierte Schuppen, die Pteryges11.Vorder- und Rückenteil der Panzer sind – wie die Darstellungen zeigen – an einer Seite (links oder rechts) durch mehrere Scharniere fest miteinander verbunden. Dabei kann man kürzere oder längere Scharniere auch gemischt, ohne feste Regel auf den Abbildungen erkennen. Der Verschluss erfolgte auf der anderen Seite, wahrscheinlich durch Scharniere mit entfernbaren Splinten. Unter dem Panzer wurde anscheinend ein Unterkleid aus Textilien und/oder Leder getragen, dessen Ärmel und Saum in fransenbesetzten Streifen ausläuft. Dies zeigen jedenfalls die meisten Panzerstatuen. In der römischen Zeit sind bei den Darstellungen die Träger von Muskelpanzern klar eingegrenzt: Neben Göttern, wie Mars, Jupiter, Jupiter Dolichenus etc., tragen nur Kaiser oder Feldherrn den Muskelpanzer. Dabei könnten Legionslegaten sowie senatorische und ritterliche Legionstribune als Träger mit eingeschlossen sein. Inwieweit aber auch Kommandeure von Hilfstruppen den Muskelpanzer trugen, ist nicht zu entscheiden. Bei Centurionen aber, kommt der Muskelpanzer, etwa auf Grabsteinen, kein einziges Mal vor, auch wenn hier, wie im Falle des Centurio Q. Sertorius Festus der Leg. XI Claudia

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Siehe die Darstellungen an Panzerstatuen bei Stemmer 1978: Taf. 1, I 1; Taf. 2, I 5; Taf. 11, II 2; Taf. 15, IIa 5; Taf. 21, III 10; Taf. 34,V 1.V 2; Taf. 35, V 2. V 3; Taf. 46, VI 1; Taf. 49, VII 1; Taf. 51, VII 5; Taf. 64, VIIa 1; Taf. 65,VIIa 2; Taf. 76, XI 3. Diskussion des Begriffes bei Stemmer 1978, 2 bes. Anm. 11.

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Pia Fidelis aus Verona (Robinson 1975, 156 Abb. 442 und 444), der Schuppenpanzer oder beim Centurio Favonius Facilis der Leg. XX aus Colchester (Robinson 1975, 166 Abb. 465) das Kettenhemd mit halbrundem Bauchabschluss äußerlich durchaus einem Muskelpanzer angenähert sind. Auch der Grabstein des Centurio M. Caelius der 18. Legion aus Xanten mit seinem reichen Ordensschmuck bildet nur scheinbar einen Muskelpanzer ohne Dekor ab12: Hier fehlen die typischen Pteryges und Schulterklappen, so dass das dargestellte Rüstungsstück eher ein Kettenhemd, wenn nicht gar nur ein Lederwams darstellt, das unter einem Panzer getragen wurde. Ansonsten scheinen – wie Darstellungen auf historischen Reliefs zeigen – auch Prätorianer bis zur Mitte des 2. Jhs. n. Chr. bei besonderen Anlässen Muskelpanzer getragen zu haben (Robinson 1975, 147). Die Panzerstatuen sind zwar von Vermeule und Stemmer monographisch bearbeitet worden, doch sind sie hier fast immer frontal abgebildet, so dass man eventuell vorhandene Darstellungen von Scharnieren gar nicht erkennen kann. Dagegen sind die Bildinhalte auf den bis zur severischen Zeit meist reich dekorierten Panzern intensiv analysiert worden. Auf den publizierten Reliefblechen von Kemnitz sind, wie schon Geisler richtig ausgeführt hat, Taten des Hercules dargestellt. Der Halbgott hatte ja bekanntlich zwölf solcher Heldentaten zu vollbringen (Boschert 1996; Brommer 1979; Jongste 1992): Seine Herausforderungen waren: 1) Nemeischer Löwe, 2) Lernäische Hydra, 3) Erymanthischer Eber, 4) Kerynitische Hischkuh, 5) Stymphalische Vögel, 6) Stall des Augias in Elis, 7) Kretischer Stier, 8) Thrakische Rosse, 9) Amazonen, 10) Geryones, 11) Kerberos, 12) Äpfel der Hesperiden. Von den zwölf Taten des Hercules sind in den erhaltenen Blechen von Kemnitz die dritte, die vierte und die neunte dargestellt. So kann man durchaus annehmen, dass ursprünglich mehrere oder gar alle zwölf Taten den Panzer schmückten, die restlichen Darstellungen aber entweder zerstört sind, oder – wie Geisler ausdrücklich anmerkt – noch im zusammengefalteten und nicht restaurierten Kettenhemd stecken. Was nun die erhaltenen Reste aus Grab 622 von Kemnitz angeht, so könnte man sie sich folgendermaßen auf einem Muskelpanzer verteilt vorstellen: Der noch ca. 50 cm lange und ca. 8 cm breite Blechstreifen mit dem Scharnier könnte in seinem längeren Abschnitt vom glatten, unverzierten

Rückenteil stammen, nur der kürzere stammt dann von einer unverzierten Partie des Vorderteils. Die vielfältige Faltung dieses Fragments ergab sich aus der Notwendigkeit, das lange Blech im Bronzegefäß zu deponieren. Die verzierten Teile stammen von einem Dekor, das ursprünglich alle 12 Taten des Hercules darstellte; wie sie angeordnet waren, weiß man nicht. Nach der Sichtung der Panzerstatuen wäre z. B. eine kreisförmige Anordnung um ein zentrales Mittelmotiv denkbar. Die sog. Gürtelöse (Geisler 1973, Abb. 6c) findet zwar keine Entsprechungen auf Panzerstatuen, doch wäre hier immerhin eine Funktion beim Panzerverschluss auf der anderen Seite der Scharniere oder bei der Befestigung der Schulterklappen denkbar. Darstellungen von Muskelpanzern mit mehreren oder gar allen zwölf Taten des Hercules gibt es auf Panzerstatuen bisher nicht, jedenfalls nicht in den bereits zitierten Standardwerken von Vermeule und Stemmer, nur einmal taucht eine der Taten (die erste) im Randbereich auf einer ansonsten reich dekorierten Panzerstatue auf, einmal nur die (wahrscheinliche) Darstellung des Hercules13. Dagegen erscheint bei Reliefdekor auf Paraderüstungen der römischen Kavallerie Herkules öfters auf, allerdings nicht im Zusammenhang mit der Darstellung eines speziellen Abenteuers (Garbsch 1978, 29 ff.). Auch wenn man auf Panzerstatuen bisher eine vergleichbare Darstellung aller Taten des Hercules nicht repräsentiert hat, so ist dies kein Grund, dass es solche Darstellungen auf Originalrüstungen nicht gegeben haben kann. Zum einen muss man hier auf die teilweise beträchtlichen Unterschiede zwischen der Darstellung römischer Bewaffnung in der Kunst und dem zeitgleichen Originalmaterial hinweisen (Robinson 1975, 149; Waurick 1983, 265 ff.). Zum anderen sind uns selbst bei bildlichen Darstellungen, vom Originalmaterial gar nicht zu reden, nur relativ wenige Stücke erhalten, welche sicherlich nur einen Ausschnitt aus dem ursprünglich vorhandenen Bildrepertoire überliefern. Gesetzt den Fall, die Hypothese stimmt, in den Bronzeblechfragmenten des Grabes 622 von Kemnitz die Überreste eines dekorierten römischen Muskelpanzers zu sehen, ergeben sich m. E. noch weitere, präzisere Möglichkeiten einer Zuordnung. Wenn man sich nicht einfach mit der Interpretation zufrieden gibt, dass das Reliefdekor mit den 12 Taten des Hercules ganz allgemein auf militärische Tugenden Bezug nimmt und deshalb gut zur Zier eines Offizierspanzers

Vgl. nur die Abbildungen bei Horn 1987, 17 Abb. 3 (Zeichnung von 1638); 43 Abb. 23 (Foto). Hercules im Löwenkampf, wohl hadrianisches Fragment aus Attika:

Vermeule 1959/60, 34; Stemmer 1978, 11 bes. Anm. 40; Vielleicht Hercules auf einer Panzerstatue des Traian aus Ostia: Stemmer 1978, 15 (Nr. I 10).

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geeignet sei, so bietet sich hier noch ein konkreterer Bezug an: Sucht man in der 2. Hälfte des 2. Jhs. n. Chr., als der Panzer von Kemnitz in den Boden kam, eine historisch überlieferte Persönlichkeit mit besonderer Affinität zu Hercules, so wird man schnell fündig. Marcus Aurelius Commodus, der 161 n. Chr. geborene Sohn, Mitregent (177–180) und von 180–192 n. Chr. Nachfolger des Kaisers Marc Aurel (161–180 n. Chr.), hatte in der Tat eine besondere Beziehung zu dem Halbgott, die schließlich so weit ging, dass er sich selbst als Hercules Romanus auf Münzen, Büsten und Statuen darstellen ließ14. Somit wäre ein Bezug des Muskelpanzers von Kemnitz mit seinen Hercules-Darstellungen zu Commodus möglich. Natürlich soll dies nicht bedeuten, dass in dem Muskelpanzer aus dem Grab 622 von Kemnitz nun möglicherweise das persönliche Eigentum des Commodus zu sehen sei. Es scheint aber immerhin möglich zu sein, dass hier der Auftraggeber bei der Gestaltung dieses sicherlich individuell gefertigten Rüstungsstückes durchaus die Intention hatte, seinen Panzer nicht nur mit einem allgemein zum militärischen Ambiente passenden Dekor zu versehen, sondern damit auch gleichzeitig seine Nähe zum Kronprinzen bzw. ab 180 n. Chr. zum Kaiser hervorzuheben. Zwar betont Stemmer, dass „die meisten Panzerreliefs eo ipso keine besondere Verbindung mit einem bestimmten Kaiser oder einer anderen Persönlichkeit seiner Zeit gestatten“ (Stemmer 1978, 152), doch gibt es, wie das Beispiel des Augustus von Prima Porta lehrt (Vermeule 1959/60, 34), solche Panzerdekore mit konkreten Bezügen auf jeden Fall. So wird z. B. auch eine Szene aus der Aeneassage auf dem Panzer einer bronzenen Panzerstatue des Hadrian konkret auf dessen jüdischen Krieg bezogen15. Dabei könnte man etwa an einen ritterlichen oder senatorischen Militärtribunen oder einen sonstigen höheren Offizier aus dem persönlichen Umfeld des Herrschers, aber auch an einen Prätorianer denken. Eine weitere Überlegung sei noch erlaubt: Da die gewichtigsten römisch-germanischen Auseinandersetzungen während der Regierungszeit des Commodus als Mitregent und Alleinherrscher bekanntlich die Markomannenkriege von 166–183 n. Chr. (vgl. Dietz 1994, 7 ff.) darstellten, könnte man bei diesem Rüstungsstück, bei dessen Herstellungszeit die Nähe zu diesen Kriegen gesichert ist, auch mit der Möglichkeit rechnen, dass hier konkret der Kriegsschauplatz vorliegt, wo der unbe-

kannte höhere Offizier oder der Soldat der cohors praetoria das Pech hatte, seinen kostbaren Körperpanzer zu verlieren. Somit könnte das Stück mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vom mittleren Donauraum nach Brandenburg gekommen sein. Natürlich sieht man es dem Panzer von Kemnitz nicht an, wie er konkret vom römischen Imperium tief ins Barbaricum gelangte, als Handelsware jedenfalls wohl kaum. Man wird wohl der Annahme den Vorzug geben, dass der Muskelpanzer als germanisches Beutegut zu betrachten ist, welches in einem für die Römer unglücklichen Gefecht den Besitzer wechselte. Natürlich wäre es nun spannend, weiter zu erfahren, wie dieser Besitzwechsel konkret vor sich gegangen ist. Aber hier gibt es zu viele Möglichkeiten: Hat z. B. der Krieger von Kemnitz einen römischen Offizier, der das kostbare Rüstungsstück trug, selbst im Kampf getötet und dieses dann als Trophäe und Beute heimgebracht oder hat er den Panzer nur bei der Verteilung von Beute aus geplündertem, römischem Gepäck erhalten? Sicher ist nur, dass er den Muskelpanzer für so wichtig und prestigeträchtig hielt, dass er ihn aus seiner wahrscheinlich umfangreicheren Waffenkollektion auswählte, um ihn bei seiner Reise nach Wallhall mitzunehmen, obwohl er schon als Körperpanzerung ein Kettenhemd ins Grab gelegt bekam. Mit all diesen Fragen aber werden schnell die Grenzen der vertretbaren Interpretationsmöglichkeiten erreicht. Die meisten Überlegungen über das Schicksal des Kemnitzer Muskelpanzers können sich nicht mehr auf wissenschaftlich fundierte Quellen und Denkmodelle berufen, ein Überwechseln von der wissenschaftlichen Theorie zum Genre des historischen Romans ist hier ziemlich fließend. So werden die meisten Fragen über das Schicksal dieses seltenen Rüstungsstückes wohl ungelöst bleiben und der römische Muskelpanzer von Kemnitz kann nur außerhalb des strengen Rahmens der zulässigen Methoden unseres Faches weiterhin zum Spekulieren anregen.

Vgl. die Inschrift des Hercules Romanus vom Dezember 192 (ILS 400); Münzen mit Herculesdarstellung ab 183 (RIC III, 358); Münzen mit Darstellung des Commodus als Hercules ab 192 (RIC III,

362); Zur Identifikation mit Hercules siehe Historia Augusta Commodus 8, 5; Cass. Dio 72, 15, 5. Statue aus Tel Shalem (Israel), vgl. Geyer 1989, 197 f. Taf. 24, 2.

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Abb. 1: Vergoldetes Bronzeblech mit Scharniergelenk (Geisler 1973, Abb. 6a). Abb. 2: Getriebene vergoldete Bronzebleche mit Darstellungen aus dem Herculesmythos: a) Hercules mit dem erymanthischen Eber über der Schulter bei der Rückkehr von seiner dritten Arbeit für den König Eurystheus, der aus einem Gefäß heraus abwehrend die Hände hebt, b) Hercules beim Fang der Hirschkuh, die er am Geweih (!) hält und mit dem Knie niederdrückt, seine vierte Arbeit und c) der Kampf mit der Amazonenkönigin zu Pferd, die er gerade vom Pferd herunterzieht, seine neunte Arbeit (Geisler 1973, Abb. 7a–c). Abb. 3: Bronzener, rechteckiger Bügel, vielleicht zum Muskelpanzer gehörig (Geisler 1973, Abb. 6c).

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Abb. 4: Vatikanische Museen (Museo Gregoriano Profano): Augustus von Primaporta (Forschungsarchiv für Antike Plastik am Arch. Inst. der Univ. zu Köln).

Abb. 5: Vatikanische Museen (Museo Gregoriano Profano): Augustus von Primaporta – Detail (Forschungsarchiv für Antike Plastik am Arch. Inst. der Univ. zu Köln).

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Abb. 6: Vatikanische Museen (Museo Gregoriano Profano): Panzerstatue des älteren Drusus (Forschungsarchiv für Antike Plastik am Arch. Inst. der Univ. zu Köln).

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Abb. 7: Vatikanische Museen (Museo Gregoriano Profano): Panzerstatue eines Unbekannten (Forschungsarchiv für Antike Plastik am Arch. Inst. der Univ. zu Köln).

Abb. 8: Vatikanische Museen (Museo Gregoriano Profano): Panzerstatue eines Unbekannten – Scharniere im Detail (Forschungsarchiv für Antike Plastik am Arch. Inst. der Univ. zu Köln).

Bemerkungen zu Grab 622 von Kemnitz, Kreis Potsdam in Brandenburg

Abb. 9: Merida: Torso einer Panzerstatue (Forschungsarchiv für Antike Plastik am Arch. Inst. der Univ. zu Köln).

Abb. 10: Boston: Torso einer Panzerstatue (Forschungsarchiv für Antike Plastik am Arch. Inst. der Univ. zu Köln).

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Marcianopolis als Anziehungspunkt für Ostgermanen (Goten) vom 3. bis zum 5. Jahrhundert

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Marcianopolis als Anziehungspunkt für Ostgermanen (Goten) vom 3. bis zum 5. Jahrhundert Anna Haralambieva Im Herbst des Jahres 1898 begann H. Hartl, Geologieprofessor an der Wiener Universität, mit den ersten archäologischen Ausgrabungen in den Ruinen der römischen Stadt Marcianopolis, des heutigen Devnja. Bald darauf konnten der nordwestliche sowie der südwestliche Eckturm und ein Teil der südlichen Stadtmauer freigelegt werden. Leider wurden die Ausgrabungsergebnisse damals nicht publiziert. Lediglich der von H. Hartl gezeichnete erste Plan der Festungsanlagen ist später in die Publikation von E. Kalinka (1906, 359–360) aufgenommen worden (Abb. 1). Bekanntlich hatte Kaiser Trajan (98–117) Ulpia Marcianopolis nach dem Zweiten Dakerkrieg an den Quellen des heutigen Devnjaflusses gegründet. Die Stadt wurde nach Marciana, der Schwester des Kaisers, benannt und dem Stadtnamen das kaiserliche Nomen gentile hinzugefügt. Das erste uns bisher bekannte Zeugnis stellt eine Steininschrift dar, die in der nordafrikanischen Provinz Numidia gefunden wurde. In der Inschrift wird ein Veteran der Legio III Augusta genannt, der aus Marcianopolis stammte und in den letzten Jahren der Regierungszeit von Kaiser Hadrian (117–138) sowie unter seinem Nachfolger Antoninus Pius (138–161) gedient und sich danach in Nordafrika niedergelassen hatte (Gerov 1980, 289–292). Die Stadt gehörte seit ihrer Gründung bis in die Jahre 187–193 zur Provinz Thrakien. In den ersten Regierungsjahren des Kaisers Septimius Severus (193–197) wurde sie der Provinz Moesia Inferior (secunda) zugeschlagen. Die Münzprägung setzte in der Zeit des Commodus (180–192) ein und endete unter Philippus Arabs (224–248) (Angelov 1999, 8–9). Marcianopolis war durch eine steinerne Festungsmauer mit einer Länge von ca. 3500 m und vierzehn Türmen bewehrt. Neben den archäologischen Zeugnissen bietet uns die Darstellung auf einer Münzemission eine gewisse Vorstellung vom Aussehen der Befestigungsanlage. Ihre Errichtung dürfte mit der intensiven Festungsbautätigkeit in

Thrakien und Niedermösien nach dem Kostobokeneinfall von 170 in Verbindung stehen und demnach hauptsächlich unter den Kaisern Marcus Aurelius (161–180), Commodus (180–192) und Septimius Severus (193–211) erfolgt sein. Die von der Festungsmauer eingeschlossene Siedlungsfläche beläuft sich auf 70 ha. Die zahlreichen Karstquellen, die in der Nähe gelegenen Kalksteinbrüche, der fruchtbare Boden des Umlandes und die verkehrsgünstige Lage am Knotenpunkt der von der Donau und vom Schwarzen Meer kommenden Straßen spielten bei der Wahl des Siedlungsplatzes eine wesentliche Rolle. Reste der Pflasterung der nach Odessos führenden Route wurden östlich der Stadtmauer gefunden.Von hier stammen auch zwei Meilensteine. Der erste Meilenstein mit einer griechischen Inschrift wurde von der Polis zu Ehren der Kaiser Valerian I. (253–260) und Gallienus (253–268), der zweite mit einer lateinischen Inschrift für Gordianus III. (238–244) errichtet. Ein weiterer Meilenstein mit lateinischer Inschrift ist an der Ausfallstraße nach Noviodunum gefunden worden. Diese nennt Kaiser Theodosius I. (379–395) und seinen Sohn Arcadius (383– 408). Schon bei der Gründung von Marcianopolis wurde ein Teil der Chora von Odessos der neuen Polis zugeschlagen. In der Folgezeit dürfte sich das Territorium weiter vergrößert haben, zumal der Stadt in den Kämpfen mit den Barbaren eine wachsende Bedeutung zukam. Besonders einige antike Autoren wie Dexippos, Ammianus Marcellinus, Zosimus und Iordanes berichten uns anschaulich von den vielfältigen Bedrohungen, denen Niedermösien seit der Mitte des 3. Jhs. ausgesetzt war. Unter der Führung von Argathius und Gunthericus erreichten die Goten, die vom attischen Schriftsteller Dexippos als Skythen bezeichnet worden sind, zusammen mit den Vandalen, Herulern, Taifalen, Astingern, Peukinern, Karpen u. a. Marcianopolis. Die Stadt wurde zwar damals belagert, konnte jedoch nicht eingenommen werden (Gerov 1980, 299–302). Hervorzuheben ist dabei die Initiative des

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Abb. 1: Plan der Festungsanlage in Marcianopolis von H. Hartl (nach Kalinka 1906).

Philosophen Maximus, der die Verteidigung so erfolgreich geleitet hatte, dass die Goten schließlich abziehen mussten. Hinzu kommt, dass die Goten nicht über Belagerungsmaschinen verfügten und auch darin verständlicherweise überhaupt nicht geschult waren. Auch wissen wir von den antiken Autoren, dass vermögende Einwohner der Stadt ein Lösegeld zahlten, was immerhin für einen gewissen Wohlstand während der ersten Hälfte des 3. Jhs. spricht. Zwei Jahre später gelang es dann allerdings den Goten und Karpen unter Kniva die Stadt entweder im Herbst des Jahres 250 oder im Sommer 251 einzunehmen und zu brandschatzen. Wahrscheinlich ist auf dieses Ereignis der große Hort von 100.000 Denaren zu beziehen (Musmov 1931, 263–265). Dieser wurde im Jahre 1929 gefunden und enthält Emissionen von 44 Kaisern aus der Zeit vom 1. bis zum 3. Jh. Auch in den Jahren 254, 255, 257 und 258 griffen die Barbaren wiederholt Marcianopolis an, wenngleich ihr eigentliches Ziel eher Thrakien und die südlichen Nachbarprovinzen waren. Als die Goten zusammen mit den Gepiden, Herulern, Bastarnen und anderen Völkerschaften zehn Jahre später mit einer Mannschaftsstärke von insgesamt 320.000 Mann von neuem versuchten, die Stadt einzunehmen, erlitten sie jedoch eine Niederlage, zumal die Festungsmauern offenbar neu errichtet worden waren. Bis zum Ende des 3. Jhs. verfügen wir nur über spärliche Nachrichten in Bezug auf Marcianopolis und seine weitere Umgebung. Bei der administrativen Neugliederung des Imperium Romanum unter Kaiser Diocletian (284–305) wurde Marcianopolis Hauptstadt der nun vom territorialen Umfang her wesentlich verkleinerten Provinz Moesia Inferior, die seitdem mit fünf weiteren Provinzen zur neu gegründeten Diözese Thrakien gehörte. Besonders nach der Gründung von Konstantinopel im Jahre 330 wuchs die Bedeutung von Marcianopolis. Wie aus der Notitia Dignitatum hervorgeht, existierten damals in dieser Stadt Werkstätten für Schilde und Waffen (Wolfram 1979, 37–41). Da Marcianopolis an der kürzesten Verbindungsstrecke zwischen dem Donaulimes und der Hauptstadt Konstantinopel lag, haben sich hier häufig Feldherren und sogar Kaiser aufgehalten. So besuchte Konstantin der Große (306–337) im Jahre 332 zusammen mit seinem Sohn Constan-

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tius I., der hier als Befehlshaber der Truppen gegen die Barbaren agierte, die Stadt. Unter Valens (364–378) besaß Marcianopolis als Aufenthaltsort des Kaisers sogar zeitweilig die Funktion einer Hauptstadt für den Ostteil des Imperiums, da von hier aus die Kämpfe im Ersten Gotenkrieg (366–367) organisiert wurden. Im Jahre 369 unternahm Valens einen misslungenen Feldzug gegen die Westgoten unter der Führung des Athanarich, wobei der Kaiser gezwungen war, sich nach Marcianopolis zurückzuziehen. Nach dem Zeugnis der Chronisten war die Stadt damals die größte und reichste in der Diözese Thrakien (Wolfram 1979, 68–71). Im Jahre 376 gestattete Kaiser Valens den Westgoten unter Führung von Fritigern, sich in den Provinzen Moesia Inferior und Scythia Minor anzusiedeln. Ausgebeutet von der römischen Militäradministration griffen die hungernden Goten zu den Waffen. In einem Gefecht 9 Meilen vor Marcianopolis wurden die Römer von den Aufständischen geschlagen. Ein Teil der Besiegten unter der Führung des Comes Lupicinus brachte sich hinter den Festungsmauern der Stadt in Sicherheit. Archäologische Hinweise auf die Anwesenheit von Goten in der Stadt während des 3. Jhs. sind sehr spärlich. Die 1975 durchgeführten Rettungsgrabungen beim Bau der Autobahn Sofia – Varna ermöglichten die Freilegung eines soliden steinernen Bauwerkes, in das ein Kalksteinblock mit einem Teil einer griechischen Inschrift eingemauert war (Minčev/Georgiev 1979, 111–112). Die Inschrift bezeugt die Errichtung eines großen öffentlichen Gebäudes aus der Zeit des Kaisers Antoninus Pius (138–161). Der Block wurde wohl frühestens im letzten Jahrzehnt des 2. oder in der ersten Hälfte des 3. Jhs. in jenem Gebäude, das allgemein als Gebäude A bezeichnet wird, sekundär verbaut. Die vermutliche Zerstörung und der Brand dieses Bauwerkes sind in die Zeit des Goteneinfalls um die Mitte des 3. Jhs. zu datieren. Diesen Zeitansatz bestätigt auch ein großer Keramikfund (Minčev/Georgiev 1979, 101–105). Verhältnismäßig mehr archäologische Hinweise besitzen wir von den Ereignissen im letzten Drittel des 4. und Anfang des 5. Jhs. Die 1975 untersuchten Gebäude N 1 und N 2 an der östlichen Festungsmauer weisen Steinfundamente in Lehmbettung auf und hatten einen Oberbau, der aus einer Holzkonstruktion mit Lehmziegelfüllung bestand. Vor dem Eingang des Gebäudes N 1 wurde in einem Stoffbeutel ein Schatz von 908 Münzen der Kaiser Constantius I. (337–361),Theodosius I. (379–395) und Arcadius (395–408) gefunden. Daneben lag eine Amphora des Typus „spathea“. Diese Zeugnisse sowie zahlreiche Keramikfragmente weisen auf eine Nutzung des Baues in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. hin. Der bei den Ausgrabungen konstatierte Brand hat sich

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nicht später als im ersten Jahrzehnt des 5. Jhs., als die Stadt von den Westgoten erobert wurde, ereignet. Das neu errichtete Gebäude N 2 hat nur kurze Zeit, bis etwa zur Mitte des 5. Jhs. existiert. Wahrscheinlich stammen die beiden, durch Brand beschädigten Silberblechfibeln (Abb. 2) (Haralambieva 1988, 77–78), die bei der Aushebung eines Grabens im südöstlichen Teil der römischen Stadt gefunden wurden, aus dieser späteren Schicht mit Brandspuren. Man hat sie zusammen mit Stücken verkohlter Balken auf den Steinplatten einer antiken Straße entdeckt, die von diesem Graben geschnitten worden ist. Sie gehören zu den wenigen Fibeln, die entsprechend der gotischen Tradition paarweise getragen wurden. Gleichzeitig können die beiden Silberblechfibeln als Argument für die Anwesenheit von Goten in der Stadt dienen. Die römischen Herrscher haben gotische Ansiedlungen in den Gebieten südlich der unteren Donau während der letzten Jahrzehnte des 4. Jhs. nur etappenweise gestattet. Wahrscheinlich hat zu jener Zeit eine dort eingeheiratete Westgotin diesen Trachtschmuck getragen. Die Fibeln gehören zum gleichen Typus wie die Exemplare aus Lom, Laa a. d. Taja, Mad, Kolut (Backa) und Smolin (Tejral 1973, 29). Die mitteleuropäischen Beispiele werden in das erste Drittel des 5. Jhs. datiert. Die Fibeln aus Marcianopolis wurden nicht später als im ersten Jahrzehnt des 5. Jhs. in der Stadt getragen. Möglicherweise entstanden sie in Marcianopolis selbst, wo ja Werkstätten für Waffen und Metallerzeugnisse existierten. Diese Fibeln unterscheiden sich grundlegend von römischen, waren gewiss sehr wertvoll und wurden insofern wohl längere Zeit getragen. Vermutlich waren sie an den Schultern einer Frau befestigt gewesen, die vor einem Brand im ersten Jahrzehnt des 5. Jhs. geflohen war. Ein Paar goldene Ohrringe mit Polyederkörbchen und Almandineinlagen (Abb. 3) sind im Grab einer Frau entweder in den nördlichen oder östlichen Nekropolen von Marcianopolis entdeckt worden (Bierbrauer 1975, 168, Taf. 86, 2. 4). Auch diese fein gearbeiteten Schmuckstücke stammen von einer gotischen Frau. Die Ohrringe dieses Typus besitzen ein Verbreitungsgebiet, das sich von der Krim bis nach Spanien erstreckt, und können als Zeugnisse ostgermanischer Migration nach Europa gelten (Horedt 1979, 243– 247).Trotzdem handelt es sich dabei um Schmuckstücke, die von römischen Juwelieren in Werkstätten des östlichen Kaiserreiches hergestellt wurden. Wie die meisten Erzeugnisse aus Edelmetall sind sie als Familienschatz von Generation zu Generation vererbt worden, besaßen eine längere Laufzeit und bezeugen ebenso wie die oben genannten Silberblechfibeln die Existenz von Goten in Marcianopolis.

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Die Ostgoten unter Theoderich Amala hatten ihr Augenmerk ebenfalls auf diese befestigte und blühende Stadt gerichtet, zumal dort und in der Umgebung stammesverwandte Ostgermanen siedelten. Gerade die Ostgoten, genauer gesagt ihre Frauen, lassen sich hier speziell durch ihren Schmuck nachweisen. Aus zwei Gräbern der städtischen Nekropolen konnte ein Paar gegossener Silberfibeln (Abb. 4, 5) und die Fußplatte eines dritten vergoldeten Silberexemplars mit Nielloverzierung (Abb. 6) geborgen werden (Haralambieva 1992, 142–143). Die Zierelemente der drei Fibeln sind von Funden auf der Krim und in Mitteleuropa bekannt. Genaue Analogien können jedoch nicht angeführt werden. Dies dürfte dafür sprechen, dass die in Marcianopolis gefundenen Beispiele auch dort hergestellt worden sind, von den Ostgoten des Theoderich stammen könnten und damit als erste Nachahmungen von ostgotischen Originalen zu betrachten wären. Einige Veränderungen in der Komposition ihrer Zierelemente und die meisterhafte Ausarbeitung sprechen für die Erfindungsgabe und Fähigkeit der lokalen Meister. Entlehnt wurden dabei die Fibelornamente der Typen Aquileia – Udine – Planis und von einigen Vorlagen von der Krim, die ostgermanische Stammesverwandte in Pannonien und später in Italien getragen haben. Zweifellos sind im Verlauf der gotischen Migration während der letzten Jahrzehnte des 5. Jhs. einige Volksteile – und speziell solche der Ostgoten – im Gebiet von Marcianopolis geblieben. Diese Stadt ist die einzige in der Provinz Moesia Inferior, aus der verhältnismäßig viele archäologische Funde ostgermanischer Siedler geborgen wurden bzw. solche, die mit ihnen verbunden werden können. Die Anzahl der Zeugnisse ostgermanischen Ursprungs aus Almus (Lom), Oescus (Dorf Gigen), Novae (Svistov) am südlichen Donauufer ist dagegen geringer. Bekanntlich gehörten den schriftlichen Quellen zufolge die ostgermanischen Söldner zu den bevorzugten Soldaten der oströmischen Truppen. Viele der in den Militärdienst aufgenommenen Goten erreichten hohe Dienstchargen und somit einflussreiche Stellungen am Kaiserhof in Konstantinopel. Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass sich Marcianopolis von einem Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum der Diözese Thrakien in ein militärisch-politisches Zentrum verwandelte, sobald sich eine Gefahr von Angriffen und Ansiedlungen ostgermanischer und anderer barbarischer Stämme in diesem Bereich des Ostreiches abzeichnete.

Abb. 2a, 2b: Ein Exemplar des Silberblechfibelpaares aus Marcianopolis vor und nach der Konservierung, Regionalmuseum in Varna, Inv. Nr. N II 6129, M 1:2. Abb. 3: Ein Paar goldene Ohrringe aus einem Frauengrab von einer der Nekropolen in Marcianopolis, Regionalmuseum in Varna, Inv. Nr. N II 590, M 1:1. Abb. 4–5: Bügelfibelpaar, in Silber gegossen, aus einem Frauengrab von einer der Nekropolen in Marcianopolis, Regionalmuseum in Varna. Abb. 4: Inv. Nr. N III 466, M 1:2; Abb. 5: Inv. Nr. N III 467 mit abgebrochenem Fußplattenende, M 1:2. Abb. 6: Fußplatte einer silbervergoldeten Bügelfibel aus einem Frauengrab von einer der Nekropolen in Marcianopolis, Regionalmuseum in Varna, Inv. Nr. N III 468, nicht maßstabsgetreu, L= 2,6 cm.

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Literaturverzeichnis Angelov 1999 A. Angelov, Marcianopolis (Varna 1999). Bierbrauer 1975 V. Bierbrauer, Die ostgotischen Grab- und Schatzfunde in Italien. Bibl. degli Studi medievali 7 (Spoleto 1975). Gerov 1980 B. V. Gerov, Marcianopolis im Lichte der historischen Angaben und der archäologischen, epigraphischen und numismatischen Materialien und Forschungen. In: B.V. Gerov (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der römischen Provinzen Moesien und Thrakien. Gesammelte Aufsätze. Band 1 (Amsterdam 1980) 289–311. Haralambieva 1988 A. Haralambieva, Zwei gotischen Fibeln aus dem 5. Jh. aus Marcianopolis. Bull. Mus. Nat.Varna 24 (39), 1988, 77–78. Haralambieva 1992 A. Haralambieva, Zwei gotische Fibeln aus dem Grab Nr. 14 der westlichen Nekropole von Odessos. Bull. Mus. Nat. Varna 28 (43), 1992, 141–143.

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Der römisch-byzantinische Import des 6.–7. Jahrhunderts als ethnischer Indikator der siebenbürgischen Romanen

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Der römisch-byzantinische Import des 6.–7. Jahrhunderts als ethnischer Indikator der siebenbürgischen Romanen Radu Harhoiu Während einer Forschungsreise durch Rumänien in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts bemerkte Prof. R. Hachmann beim Abendessen in einem Restaurant in der Stadt Arad an der ungarisch-rumänischen Grenze, dass die Leute wie im Westen gekleidet wären und meinte danach: „Eigentlich ist dies der germanische Import im freien Rumänien“. Dieses scheinbare Paradox soll anhand des spätvölkerwanderungszeitlichen Importes erläutert werden. Anders gefragt:Wie sehr kann der Import zur archäologischen Identifikation der siebenbürgischen Romanen des 6. und 7. Jhs. beitragen? Es erweist sich dabei als notwendig einen wenn auch nur kurzen Überblick über den Import der frühen Völkerwanderungszeit zu geben (Abb. 1) (Harhoiu 1998). In der Struktur des Importes der frühen Völkerwanderungszeit nimmt das wertvolle byzantinische Tafelgeschirr einen vorrangigen Platz ein. Hier sind die Gefäße aus dem Prunkgrab von Conceşti (Kat. Nr. 6) aus der Moldau, aus dem Schatzfund von Pietroasa (Kat. Nr. 14) in der Großen Walachei oder die Silberkannen aus dem ersten Prunkgrab von Apahida (Kat. Nr. 2a) in Siebenbürgen aus der ersten oder zweiten Hälfte des 5. Jhs. zu nennen. Wir kennen auch kostbare Schmuckensembles, die zusammen mit Gürtelzubehör oder Schuhgarnituren vergesellschaftet sind. Als Importgut kann auch das prächtige Pferdegeschirr aus dem zweiten Prunkgrab von Apahida, das in die 2. Hälfte des 5. Jhs. datiert, betrachtet werden (Kat. Nr. 2b). Diese wertvollen goldenen, im polychromen Stil verzierten Pretiosen sind ein bedeutender Indikator der sozialen Oberschicht. Sie sind aber nicht ethnisch bindend, sondern veranschaulichen nur einen sozialen Vorgang. Dagegen können andere Kostbarkeiten, wie z. B. der mit getriebenen Goldblechen geschmückte Holzsattel aus Conceşti, die Fibeln, die Fibeltracht und die Runeninschrift in Pietroasa oder die Waffen aus dem ersten Prunk-

grab von Apahida für eine ethnische Zuweisung herangezogen werden. Durch diese Funde wird eine erste und zwar soziale Dimension des Importes manchmal auch mit ethnischem Aussagewert fassbar. Die imitatio der Friedenstracht der römischen Kaiser in Pietroasa oder Şimleu Silvaniei (Kat. Nr. 19a2) und der weiblichen byzantinischen Hoftracht im Schatzfund von Someşeni (Kat. Nr. 18) weist auf eine zweite, geistige Dimension des Importes mit spirituellem Wert hin, nämlich auf die Tendenz der barbarischen Oberschicht Gepflogenheiten der spätrömisch-byzantinischen Aristokratie zu übernehmen und sich in die oberen Strukturen des spätrömischen Reiches zu integrieren. In diese Dimension gehören auch verschiedene, mit frühchristlichen Motiven verzierte Pretiosen, wie die Zwiebelknopffibel und die Fingerringe aus dem ersten Grabfund von Apahida oder das beeindruckende Pektorale aus dem Schatzfund von Someşeni. Sie sind aber nur materielle Anzeichen der Propaganda des spätrömischen, seit dem Ausgang des 4. Jhs. offiziell christlichen Reiches. Über die Religiosität ihrer Träger sind sie nicht einwandfrei aussagekräftig. Die Kostbarkeiten der frühen Völkerwanderungszeit weisen auch auf eine technologische Dimension hin. Denn nicht nur das Importgut selbst, sondern auch technologische Verfahren wurden übernommen. Auf die bedeutende Rolle der spätrömischen Kunstindustrie bei der Ausbildung der Kunst der Völkerwanderungszeit wies schon Alois Riegl (1901) hin. Z. B. wurden die Fibeln aus dem Schatzfund von Pietroasa von barbarischen Goldschmieden hergestellt, die die technologischen Kenntnisse der spätrömischen Goldschmiedekunst meisterhaft beherrschten. Andererseits offenbaren die riesigen Mengen an Solidi zusammen mit der Zwiebelknopffibel oder dem Gürtelzubehör aus den beiden Apahidagräbern sowie die wertvolle

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Abb. 1: Allgemeiner Überblick über den Import der frühen Völkerwanderungszeit.

Der römisch-byzantinische Import des 6.–7. Jahrhunderts als ethnischer Indikator der siebenbürgischen Romanen

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15, Schnallen mit Riemenschlaufe:Taf. 1, 8) oder Fibeln (mit umgeschlagenem Fuß) wie auch kleine Kreuze (Taf. 2, 15) etc. eingeführt. Der Solidi-Strom scheint sich zu verringern, ein gewisser Anstieg an Bronzemünzen ist festzustellen (Abb. 7–8) – ein Zeichen des nun allgemein mittelwertigen Güteraustausches. Zu dieser Zeit ist der Prunk des frühvölkerwanderungszeitlichen Importes nur noch sehr schwach fassbar. Neu ist nun der Kopfschmuck, allem voran Ohrringe (Taf. 1, 1–3), von denen nur wenige an den Luxus der imponierenden Pretiosen der frühen Völkerwanderungszeit erinnern (z. B. ein goldener Ohrring mit pyramidenförmigem Anhänger vom Typ Szentendre aus einem unbekannten siebenbürgischen Zufallsfund, Taf. 1, 2). Neu ist auch die große Zahl der importierten frühchristlichen Öllampen, deren Verbreitungsgebiet vornehmlich in der Nähe römischer Städte in Westsiebenbürgen liegt (Taf. 2, � � 1–14). � � � � Die in der späten Völkerwanderungszeit festgestellten Veränderungen haben zu einer veränderten Ausdruckskraft des ������������������������������������������������������������������������� Abb. 2: Vergleich zwischen dem Import der frühen und Importes geführt. Die Oberschicht dieser Zeit ist besonders späten Völkerwanderungszeit. bescheiden und nur in frühawarischen Zusammenhängen nachweisbar. Die Solidi dürften weiterhin auf die diplomatiSchuhgarnitur oder das kostbare Pferdegeschirr aus dem schen Beziehungen der gepidischen und frühawarischen zweiten Prunkgrab von Apahida eine bedeutende politische Machtstruktur zum byzantinischen Reich hinweisen. Die Dimension des Importes, denn solche Pretiosen sind nur im nach byzantinischen Vorbildern hergestellten Schmuck- und Rahmen von diplomatischen Beziehungen denkbar, im Fall Trachtstücke wie auch die Keramik heben wieder die techder Aphaidagräber nach den schriftlichen Quellen (Iord. nologische Dimension des Importes hervor. Auf die geistige Get. 264) wahrscheinlich zwischen einer gepidischen Dimension weisen frühchristliche (vornehmlich Öllampen) Machtstruktur und dem Oströmischen Reich. oder mit christlichen Zeichen versehene Funde (z. B. SchnalDie kostbaren Importgüter der frühen Völkerwandelen vom Sucidava Typ) hin. Es wäre aber übertrieben darin rungszeit veranschaulichen somit eine soziale, spirituelle, mehr als materielle Anzeichen der Propaganda des byzantinipolitische und technologische Dimension des Importes. Für schen christlichen Staates zu sehen. Der gewöhnliche, mittelsich allein sind sie im Bezug auf die Ethnizität ihrer Trägewertige Güteraustausch dominiert eigentlich das Bild. rInnen nicht besonders aussagekräftig. Bei diesem Forschungsstand stellt sich weiter die Frage, In der Struktur des Importes der späten Völkerwandeinwiefern und ob überhaupt die oben angesprochenen Dirungszeit in Siebenbürgen lassen sich bedeutende Verändemensionen im Rahmen des in ,den wieder entdeckten Teirungen beobachten (Abb. 2). Qualitätsvolles byzantinisches len der toten Kultur‘ erfassten Importes für das archäologiTafelgeschirr, kostbarer Hals- und Handschmuck, Gürtelzusche Bild der Romanen Siebenbürgens des 6.–7. Jahrhunbehör oder Pferdegeschirr werden nicht mehr importiert. derts herangezogen werden können. Dagegen wurden weiterhin, jetzt vornehmlich bronzene Dieser Bevölkerung wurde immer eine besondere Aufbyzantinische Schnallen in reicher Typenauswahl (Typ Sucimerksamkeit geschenkt. Sie wird in der Literatur unter verdava:Taf. 1, 5,Typ Nagyharsány:Taf. 1, 11,Typ Syrakus:Taf. 1, schiedenen Namen erwähnt1. Ich möchte hier nicht ihre � ���������

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Romanische Elemente: Horedt 1971, 207 f.; Gaiu 1992, 124. – Einheimische Bevölkerung: Horedt 1956, 146; ders. 1958a, 53; ders. 1960, 707; Nestor 1962, 1432; ders. 1964, 403; ders. 1969, 6; Comşa 1968, 362 f.; Székely 1970, 133; ders. 1971, 309; Popescu 1974, 211 (bodenständige); Diaconu 1979, 551; Rusu 1980, 148;

Stoicovici/Blăjan 1982, 65; Gaiu 1994, 52. – Einheimische dakorömische Bevölkerung: Nestor 1970, 103. – Einheimisches Element: Székely 1974/75, 46. – Romanische Bevölkerung: Daicoviciu 1943, 210; Giurescu/Giurescu 1972, 155; Comşa 1973, 316; Horedt 1973, 138 (bäuerliche romanische); ders. 1977, 265; ders.

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Abb. 3: Indikatoren der ethnischen Zuweisungen: Aw: Awaren; BzImp: Byzantinischer Import; FB>: viel handgemachte Keramik; KSGR: graue, raue Keramik auf der schnell rotierenden Töpferscheibe; KSGF: scheibengedrehte, graue, feine Keramik auf der schnell rotierenden Töpferscheibe; KSBR: braun-rötliche Keramik auf der schnell rotierenden Töpferscheibe; KS: viel handgemachte Keramik; KSGR: graue, raue Keramik auf der schnell rotierenden Töpferscheibe; KSGF: scheibengedrehte, graue, feine Keramik auf der schnell rotierenden Töpferscheibe; KSBR: braun-rötliche Keramik auf der schnell rotierenden Töpferscheibe; KS