Zeitgeschichte ausstellen in Österreich: Museen - Gedenkstätten - Ausstellungen 9783205791089, 9783205785316

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Zeitgeschichte ausstellen in Österreich: Museen - Gedenkstätten - Ausstellungen
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Dirk Rupnow · Heidemarie Uhl (Hg.)

Zeitgeschichte ausstellen in Österreich Museen – Gedenkstätten – Ausstellungen

B öh l au Ve r l ag Wi e n · Köl n · We i mar

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Gedruckt mit der Unterstützung durch  :



Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien

Amt der Vorarlberger Landesregierung

Amt der Niederösterreichischen Landesregierung

Amt der Oberösterreichischen Landesregierung

MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien Universität Innsbruck Vizerektorat für Forschung Amt der Burgenländischen Landesregierung Philosophisch-Historische Fakultät Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78531-6 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http    ://www.boehlau-verlag.com Umschlagabbildung: Original Wiener Schneekugel Manufaktur/Erwin Perzy III, Motiv „Wien 4“ (Steffl, Riesenrad, Gloriette und Donauturm) Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck    : Generaldruckeirei Szeged

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Inhalt

Dirk Rupnow · Heidemarie Uhl Einleitung 9 Hannes Leidinger · Verena Moritz Die Last der Historie. Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien und die Darstellung der Geschichte bis 1945 15 Richard Hufschmied „Ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit und sonstige Bestrittenheit oder Unbestrittenheit“ – Die (un)endliche Geschichte von Karl Renners ­Museum der Ersten und Zweiten Republik (1946–1998) 45 Bertrand Perz Die Ausstellungen in den KZ-Gedenkstätten Mauthausen, Gusen und Melk 87 Peter Larndorfer Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und seine Ausstellungen 117 Brigitte Bailer · Bertrand Perz · Heidemarie Uhl Die Österreichische Gedenkstätte im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Entstehungsgeschichte und Neukonzeption 151

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Inhalt

Regina Wonisch Zeitgeschichtliches im Technischen Museum Wien 175 Gerald Lamprecht Die österreichischen jüdischen Museen im zeitgeschichtlichen Kontext 213 Alexander Pollak Nenn sie nicht „Wehrmachtsausstellung“! Wenn Musealisierung von Zeitgeschichte etwas bewirken möchte 237 Karin Liebhart Menschen – Mythen – Meilensteine Die österreichische Millenniums-Länderausstellung 1996 255 Ulrike Felber Republikgeschichte im Parlament. Die Jubiläumsausstellung 2008 275 Monika Sommer Experiment und Leerstelle. Zur Musealisierung der Zeitgeschichte in den österreichischen Landesmuseen 313 Marie Magdalena Rest Das Zeitgeschichte Museum und der Gedenkstollen in Ebensee 337 Lucile Dreidemy „Aus der Geschichte lernen … und gegen die Rotfront kämpfen  !“ Das Dr. Engelbert Dollfuß-Museum in Texingtal, Niederösterreich 369

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Inhalt

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Jennifer Jordan Essen, Identität und Zeitgeschichte in österreichischen Ausstellungen 393 Dirk Rupnow Nation ohne Museum  ? Diskussionen, Konzepte und Projekte 417

Autor/innen 465

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Dirk Rupnow · Heidemarie Uhl

Einleitung

Seit über zehn Jahren wird in Österreich die Errichtung eines historischen Museums, meistens ausschließlich für die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, intensiv, wenn auch nur schubweise, vor allem aber äußerst leidenschaftlich und kontrovers diskutiert. Im Gegensatz zum deutschen Vergleichsbeispiel und den dortigen Debatten um ein „Deutsches Historisches Museum“ in Berlin und ein „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn in den 1980er-Jahren, die nebenher eine beachtenswerte wissenschaftliche Literatur zu museologischen Fragen und zur Geschichte von Museen hervorgebracht haben, hat sich die österreichische Diskussion bisher – jenseits der vorgelegten Konzepte – im Wesentlichen auf Zeitungskommentare und Polemiken sowie einige wenige verstreut veröffentlichte Aufsätze beschränkt und kaum nachhaltige Überlegungen über die Musealisierung von Zeitgeschichte in Österreich bzw. von österreichischer Zeitgeschichte und auch Geschichte im weiteren Sinne zutage gefördert. Darüber hinaus wurden Orte und Institutionen, die sich schon bislang der Ausstellung österreichischer Zeitgeschichte widmen, im Zuge der Diskussion nur wenig beachtet. Tatsächlich wird ja bereits über ganz Österreich verstreut in sehr verschiedenen Einrichtungen, auf sehr verschiedenen Ebenen und in sehr verschiedenen Kontexten österreichische Zeitgeschichte präsentiert  : in regionalen oder Landesmuseen und in thematisch orientierten Häusern  ; in großen Sonderausstellungen, teilweise anlässlich von Jubiläen, ebenso wie in Gedenkstätten und im Rahmen von Archiv- und Forschungsinstitutionen. Sogar außerhalb Österreichs wird österreichische Zeitgeschichte musealisiert und präsentiert. Jedes dieser Museums- und Ausstellungsprojekte pflegt ein eigenes Verständnis von österreichischer Zeitgeschichte und dementsprechend auch einen eigenen Zugang zu ihr. Der Fokus auf die österreichische Zeitgeschichte differiert ebenso wie die Methoden ihrer Vermittlung. Die verschiedenen Institutionen haben ihre je eigene Geschichte, die jeweilig involvierten Akteur/ innen unterschiedliche Interessen und Hintergründe. Der vorliegende Sammelband versucht, begleitend zu den weiterhin offenen, wenn auch derzeit scheinbar wieder erlahmten Debatten und Planungen für ein „Haus der Geschichte“, die ja im Frühjahr 2009 mit einem neuen

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von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen, allerdings bislang unveröffentlichten Detailkonzept einen weiteren Impuls hätte bekommen sollen, sowie parallel zur derzeitigen Neugestaltung der Österreich-Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau und zur Neugestaltung der KZGedenkstätte in Mauthausen ein offensichtliches Desiderat zu beheben  : Die Beiträge namhafter österreichischer Wissenschafter/innen, aber auch von Nachwuchsforscher/innen, alle ausgewiesene Spezialist/innen auf ihrem Feld, versuchen eine Recherche zur Musealisierung österreichischer Zeitgeschichte bzw. zur Musealisierung von Zeitgeschichte in Österreich  : ihres Status quo und ihrer Entwicklung, ihrer Themen und Darstellungsformen, ihrer Probleme und Blindstellen, ihrer Herausforderungen und Konfliktfelder. Mit der Analyse bisheriger und bestehender Ausstellungen sollen gleichzeitig grundsätzlich die Bedingungen und Möglichkeiten einer musealen Darstellung österreichischer Zeit-/Geschichte vor dem Hintergrund der komplexen Geschichte des Landes und dessen, was man österreichische Identität nennt, diskutiert werden. Das Ziel ist eine Bestandsaufnahme, die die vielfältigen Orte und Gelegenheiten der Ausstellung österreichischer Zeitgeschichte und ihre je eigene Geschichte sichtbar werden lässt. Sie hat den Charakter einer Recherche, da nicht nur kein vergleichbarer Überblick bisher existierte und überhaupt eine zusammenfassende Wahrnehmung solcher Institutionen und Ausstellungen fehlte, sondern auch für die einzelnen Einrichtungen bisher kaum Arbeiten vorlagen. Die hier versammelten Texte bieten somit in verschiedener Hinsicht einen originären Beitrag zur österreichischen Zeitgeschichtsforschung wie auch zur Museologie und versuchen, Forschungslücken auf beiden Feldern zu schließen. Der Band ergänzt jedoch nicht nur die innerösterreichischen Debatten, sondern ermöglicht auch eine Analyse und Verortung der österreichischen Museumslandschaft und Erinnerungskultur im Moment der Realisierung europäischer Museumsprojekte, von denen zumindest eines, das sogenannte „Haus der europäischen Geschichte“ in Brüssel, explizit auf entsprechende nationale Projekte Bezug nimmt bzw. solche nationalen Projekte einfordert. Neben zentralen Einrichtungen des Bundes werden vor allem zahlreiche regionale Beispiele untersucht, die die Bedeutung von Landeseinrichtungen und -projekten für eine gesamtösterreichische Erinnerungslandschaft aufzeigen, die keinesfalls auf große nationale Projekte in Wien reduziert werden kann und sollte. Ebenso wie die Erinnerung selbst sind auch Erinnerungskulturen sehr viel komplexer, vielschichtiger und vor allem fragmentierter,

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als es der Blick auf einzelne, herausgehobene Beispiele mit einem zentralen Anspruch oft sichtbar werden lässt. Der erste Beitrag von Hannes Leidinger und Verena Moritz widmet sich dem Heeresgeschichtlichen Museum in Wien. Es stellt nicht nur den ältesten eigentlichen Museumsbau der Stadt dar, sondern zudem den derzeit einzigen historischen, wenn auch heftig umstrittenen Anwärter auf den Titel eines österreichischen „Nationalmuseums“. Karl Renners Versuch, als erster Bundespräsident der Zweiten Republik ein Republikmuseum in der Hofburg zu etablieren, steht im Mittelpunkt des zweiten Aufsatzes. Richard Hufschmied schildert die Realisierung und schließlich das baldige Scheitern der aus nur wenigen Räumen in der Wiener Hofburg bestehenden Einrichtung. Bertrand Perz beschäftigt sich mit den Gedenkstätten in Mauthausen, Gusen und Melk. Mauthausen als größtes nationalsozialistisches Konzentrationslager auf dem Gebiet Österreichs ist zweifellos der zentrale historische Tatort für die Auseinandersetzung mit den Massenverbrechen des „Dritten Reiches“ im Land  ; Gusen, das zeitweise mehr Häftlinge und vor allem auch bedeutend mehr Opfer als Mauthausen zählte, sein lange Zeit eher vergessener Zwilling. Das Wiener Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, 1963 von Widerstandskämpfer/innen, Verfolgten und Wissenschaftler/innen gegründet, ist demgegenüber die wichtigste Dokumentations- und Forschungseinrichtung zunächst – wie der Name sagt – für den österreichischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, später aber auch darüber hinaus für das NS-System und seine Verbrechen in Österreich. Peter Larndorfer skizziert seine Geschichte und analysiert vor allem seine wechselnden Ausstellungen. Doch österreichische Geschichte wird nicht nur innerhalb Österreichs verhandelt. Die österreichische Länderausstellung in der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz in Polen, 1978 eröffnet und von der Republik Österreich verantwortet, bietet dafür ein Beispiel, das nicht zuletzt den transnationalen Charakter der NS-Verbrechen deutlich macht. Brigitte Bailer, Bertrand Perz und Heidemarie Uhl beschreiben die Geschichte der Ausstellung, deren Neueinrichtung in diesen Tagen geplant wird. Aspekte der österreichischen Zeitgeschichte finden sich jedoch nicht ausschließlich in historischen Museen im klassischen Sinne, Gedenkstätten oder entsprechenden Forschungseinrichtungen, sondern ebenso in thematischen Sammlungen dargestellt. So beleuchtet Regina Wonisch die Bedeutung von Zeitgeschichte im Technischen Museum in Wien, das die technologische Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung eines österreichischen Anteils

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zum Gegenstand hat. Vor allem aber die drei Jüdischen Museen – in Eisenstadt, gegründet 1972  ; in Hohenems, gegründet 1986/89  ; in Wien, gegründet 1987/88 – machen in ihren Dauer- und Wechselausstellungen immer wieder die Zeitgeschichte zum Thema. Gerald Lamprecht untersucht in seinem Beitrag die unterschiedlichen Orte und ihre jeweilige Bedeutung für die Musealisierung und Vermittlung von Zeitgeschichte in Österreich. Wie in Deutschland machte auch in Österreich die Wanderausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944 des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die 1995 in Wien und Innsbruck, 1996 in Klagenfurt und Linz, 1998 in Graz und Salzburg gezeigt wurde, beispielhaft deutlich, welchen Einfluss provokante Ausstellungen auf öffentliche Diskussionen und auf etablierte Geschichtsbilder (in diesem Fall den Mythos der „sauberen Wehrmacht“) und welche geschichtspolitische Bedeutung sie damit haben können. Alexander Pollak widmet sich dieser so genannten „Wehrmachtsausstellung“ wie auch ihrer weitgehend entschärften Nachfolgerin Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944, die 2002 in Wien zu sehen war. Eher staatstragend als provozierend waren hingegen die verschiedenen Jubiläumsausstellungen in den Jahren 1996 (996–1996 Ostarrichi – Österreich. Menschen – Mythen – Meilensteine in Neuhofen a.d. Ybbs und St. Pölten), 2005 („Österreich ist frei  !“ Der österreichische Staatsvertrag 1955 auf Schloss Schallaburg  ; Das neue Österreich. Die Ausstellung zum Staatsvertragsjubiläum 1955/2005 im Oberen Belvedere in Wien) und 2008 (Republik.Ausstellung 1918–2008 im Parlament in Wien) angelegt. Karin Liebhart und Ulrike Felber analysieren deren Blicke auf die österreichische Zeit-/Geschichte in ihren jeweiligen Kontexten. Wichtige Orte zur Musealisierung österreichischer Geschichte sind natürlich die neun Landesmuseen in den Bundesländern. Die ältesten unter ihnen – das Joanneum in Graz (1811) und das Ferdinandeum in Innsbruck (1823) – wurden zunächst als „Nationalmuseen“ für die jeweilige Region gegründet und als Universalmuseen eingerichtet. In ihrem Beitrag beleuchtet Monika Sommer ihre Bedeutung für die museale Darstellung von Zeitgeschichte in Österreich. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von dezentralen Orten in ganz Österreich, die sich mit Aspekten der Zeitgeschichte beschäftigen. Marie Magdalena Rest widmet sich dem Zeitgeschichte Museum und der KZ-Gedenkstätte in Ebensee, die die Geschichte des Salzkammergutes von 1918 bis 1955 thematisieren. Lucile Dreidemy beleuchtet das nur wenig bekannte Dr. Engel­bert Dollfuß-Museum im niederösterreichischen Texing, im Geburtshaus des Bundeskanzlers und Begründers des austrofaschistischen Ständestaats. Ein Beitrag über den Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim

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wäre in diesem Zusammenhang sinnvoll gewesen, konnte aber leider nicht eingeworben werden. Das Renaissanceschloss bei Linz war von 1940 bis 1944 eine der sechs Tötungsanstalten für die „Euthanasie“-Morde des NS-Systems und beherbergt heute eine Ausstellung über den Wert des Lebens sowie eine Gedenkstätte mit Informationen zur systematischen Ermordung der Patienten von Heil- und Pflegeanstalten im „Dritten Reich“. Neben der Geschichte und der Landschaft haben Essen und Trinken eine große Bedeutung für das österreichische Selbstbild wie auch für die Wahrnehmung Österreichs von außen. Jennifer Jordan analysiert daher vier Ausstellungen, die in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen Zusammenhängen diesen wichtigen Aspekt österreichischer Identität zum Thema gemacht haben  : Die Sinalco-Epoche. Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945 (Wien Museum, 2005), Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit (Wien Museum, 2007), Mahlzeit  ! (Oberösterreichische Landesausstellung 2009 in Stift Schlierbach) und Geschmackssache. Was Essen zum Genuss macht (Technisches Museum Wien, 2009). Abschließend widmet sich Dirk Rupnow in seinem Beitrag den langjährigen und noch andauernden Debatten um und den unterschiedlichen Konzepten für ein Museum österreichischer Geschichte bzw. Zeitgeschichte. Das Sujet für das Buchcover wurde uns freundlicherweise von Erwin Perzy III, der die um 1900 gegründete Original Wiener Schneekugel Manufaktur in der dritten Generation leitet, zur Verfügung gestellt  : Die Schneekugel mit dem Motiv „Wien 4“ zeigt den Stephansdom, die Gloriette im Schloßpark Schönbrunn, das Riesenrad im Prater und den Donauturm – sie ist bei Touristen besonders beliebt und wird fallweise bis nach Japan verkauft. Angesichts des verhandelten Themas und vor allem einiger Beiträge mag das Bild überraschen, als unangemessen und zu verspielt gelten. Es scheint überdies eine Fokussierung auf die Hauptstadt Wien zu reproduzieren, die immer wieder auch in den Debatten zur Musealisierung österreichischer Geschichte und Zeitgeschichte zutage tritt. Tatsächlich überlässt sich die Gestaltung ein Stück weit der Trouvaille. Gleichzeitig visualisiert die Glaskugel den Vorgang des Ausstellens und Repräsentierens, der im Mittelpunkt des Bandes steht, aber so schwer zu greifen ist. Eine Glaskugel, die ganz Österreich und seine Geschichte repräsentieren könnte, konnten wir leider nicht finden. Die hier verwendete mag daher ikonisch deutlich machen, wie schwer Österreich auszustellen ist, wie unmöglich es ist, das ganze Land und seine Geschichte in einen Raum und ein Projekt zu pressen, wie willkürlich letztlich jede Auswahl sein muss  : Wer bestimmt, was in die Glaskugel hineingehört  ? Wer bestimmt, wie

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Dirk Rupnow · Heidemarie Uhl

es gezeigt wird  ? Wer definiert die Grenzen dessen, was als Österreich und österreichische Geschichte oder Zeitgeschichte gilt und was nicht  ? Und darüber hinaus  : Wie nah sind wir immer der Gefahr, Klischees und vorgefertigten Urteilen zu erliegen und sie fortzuschreiben  ? Gloriette und Stephansdom scheinen nicht unmittelbar zur Zeitgeschichte zu gehören, auf die wir uns hier konzentrieren, aber gehören sie nicht auch zum Inventar unserer jüngsten Vergangenheit und unserer Gegenwart  ? Schließlich die vielleicht entscheidenste Frage, wenn es um Repräsentation geht  : Was wird nicht gezeigt und bleibt ausgeblendet, willentlich oder nicht  ? Dass dieser Band in einigermaßen kurzer Zeit realisiert werden konnte, ist einerseits den vielfältigen institutionellen Unterstützern – dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, dem Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, dem Nationalfonds der Republik Österreich, dem Vizerektorat für Forschung und der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Innsbruck, dem Amt der Vorarlberger Landesregierung, dem Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, dem Amt der Burgenländischen Landesregierung, dem Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, dem Magistrat der Stadt Wien – und andererseits dem Engagement von Dr. Ursula Huber und Dr. Peter Rauch vom Böhlau-Verlag zu danken. Den Autor/innen gebührt unser Dank für ihre Bereitschaft, in kurzer Zeit Originalarbeiten für dieses Buchprojekt zur Verfügung zu stellen. Dirk Rupnow · Heidemarie Uhl Innsbruck – Washington DC/Wien, im Juli 2010

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Hannes Leidinger · Verena Moritz

Die Last der Historie Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien und die Darstellung der Geschichte bis 1945

Zeughaus und Arsenal Aus der Geschichte lernen  : Das bedeutete für das habsburgische Herrscherhaus und seine Berater nach 1848, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen – gegen etwaige Unruhen und Rebellionen. Die Revolution hatte die kaiserliche Familie vor allem mit Unterstützung der Generalität unterdrückt. Auf deren Rücken errichtete der junge Kaiser Franz Joseph eine neoabsolutistische Herrschaft, die sich gegen Unmutsäußerungen der „Untertanen“ mit drakonischen Strafen, bürokratischen Hierarchien und militärischen Vorkehrungen zur Wehr setzte. Der Armee gestand man unter solchen Gesichtspunkten auch in Hinblick auf bauliche Konzepte für die Haupt- und Residenzstadt Wien beträchtlichen Handlungsspielraum zu  : An strategischen Punkten wurden Kasernenanlagen errichtet, wie die heute noch bestehende Roßauer Kaserne sowie die FranzJosephs-Kaserne, die um 1900 dem Stubenring-Viertel weichen musste. Auf der Anhöhe oberhalb des Schlosses Belvedere entstand zudem das neue Arsenal,1 von dem aus im Ernstfall die gesamt Stadt mit Artilleriefeuer zu bestreichen war.2 Letzten Anstoß für die diesbezüglichen Bauarbeiten gab die Erstürmung und Plünderung des Wiener Zeughauses am 7. Oktober 1848, in dem sich ein Teil der aktuellen Ausrüstung der Armee befand. Unter anderem auf Plänen beruhend, die in die Zeit von Kaiser Franz I. zurück reichten, entstand der

Der erste Teil des Artikels wurde von Hannes Leidinger verfasst, der zweite, beginnend mit dem Zwischentitel „Militärgeschichte im Wandel  ?“, von Verena Moritz. 1 Bestände, Depots, Werkstätten, Schau- und Verwaltungsräume im Arsenal firmieren erst nach 1945 unter dem Namen „Heeresgeschichtliches Museum“. 2 Christoph Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum Wien. Das Museum, die Repräsentationsräume, Salzburg 1981, 7.

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flächenmäßig größte Gebäudekomplex im Wien des 19. Jahrhunderts, eine Liegenschaft, die als Stützpunkt des Heeres zugleich der Waffenproduktion und der Repräsentation dienen sollte.3 Grund dafür waren nicht zuletzt die reichhaltigen historischen Sammlungen, die aus dem alten, im nordwestlichen Teil der inneren Stadt gelegenen Zeughaus in die neue Anlage gebracht wurden.4 Diese entstand auf Grundlage von Planungen der Architekten Ludwig Förster und Theophil Hansen. Die Überführung der Sammlungen, die ab 1856, nach Vollendung des Arsenals, stattfand, nutzte man für eine Neuerung  : Moderner Armeebedarf und Musealgut waren fortan getrennte Bereiche, die Aufstellung der Objekte aus vergangenen Epochen erfolgte nach damaligen wissenschaftlichen Gesichtspunkten.5 Dabei zeigte sich, dass die napoleonischen Kriege und die Revolutionsereignisse von 1848 ihre Spuren hinterlassen hatten. Lücken in den Beständen wurden festgestellt, ein Sachverhalt, der Franz Joseph dazu veranlasste, Exponate aus den Privatsammlungen des „Erzhauses“ in Schloss Laxenburg zur Verfügung zu stellen. In der Folge präsentierte sich die Schau im Arsenal als reine Sammlung von Trophäen und Kriegsgerät, deren Schwerpunkt die Harnische und Waffen der kaiserlichen Leibrüstkammer bildeten.6 Dieses für den öffentlichen Besuch seit 1869 freigegebene k. k. Hofwaffenmuseum bemühte sich unter seinem Vorstand, Quirin Leitner, habsburgisches von staatlichem Eigentum zu unterscheiden. Ersteres unterstellte man danach dem Oberstkämmereramt, letzteres dem Artilleriezeugdepot. Der verwaltungsmäßigen Trennung folgte schließlich eine räumliche. Von „allerhöchster Seite“ stammte die Anordnung, alle im Besitz der Herrscherdynastie befindlichen Waffen zusammenzufassen. Die Bestände gelangten als „kaiserliche Leibrüst- und Jagdkammer“ schließlich in das neu erbaute Museum am Ring, wo sie seit 1898 dem Publikum als Waffensammlung des Kunsthistorischen Museums offenstanden.7

3 Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien. Herausgegeben von der Direktion, Graz – Köln 1960, 9  ; Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum, 8 (wie Anm. 2). 4 Im Zeughaus verwahrt waren u. a. „Trophäen und Reliquien“, darunter Prunkharnische oder erbeutete Fahnen und Waffen. Vgl. Wilhelm Erben/Wilhelm John, Katalog des k.u.k. Heeresmuseums, Wien 1903, iii-vii. 5 Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum, 11 (wie Anm. 2). 6 Ebd., 12. 7 Ebd., 12f.

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Außenaufnahme des HGM (Foto  : HGM)

Die neue Sammlung Das bisherige k. k. Hofwaffenmuseum im Arsenal war damit Geschichte. Vornehmlich von Erzherzögen ventiliert, bemühte man sich dennoch, den großzügig und hauptsächlich im maurisch-byzantinischen Stil gestalteten Bau weiterhin auch für Repräsentationszwecke zu nutzen. Ein Kuratorium unter dem Vorsitz des Kronprinzen Rudolf wandte sich an die Truppe und an die Militäranstalten, an Private und Zivilstellen mit der Bitte um Materialien, welche die Geschichte der Habsburgerarmee seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges dokumentieren sollten.8 Das im Beisein Franz Josephs am 21. Mai 1891 eingeweihte k. u. k. Heeresmuseum erwarb schließlich durch die Bemühungen und Beschlüsse des Kuratoriums neben herausragenden Prunk-, Erinnerungs- und Beutestücken „historisch gewordene ältere“ Waffen, „bei den Regimentern außer Gebrauch kommende Fahnen und Standarten“ sowie „militärische Orden, Eh8 Das Heeresgeschichtliche Museum, 15 (wie Anm. 3).

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renzeichen und auf militärische Ereignisse Bezug nehmende Münzen und Medaillen“.9 Noch im Eröffnungsjahr 1891 übernahm es darüber hinaus die Kollektion von Artilleriemodellen und Munitionssorten des k. u. k. Technischen Militärkomitees. Ihre Einreihung in die allgemeinen Sammlungen war jedoch von Anfang an ausgeschlossen. Um das „gebotene Bild der Armeegeschichte von verwirrenden technischen Details freizuhalten“, wie Wilhelm Erben, Professor an der Universität Innsbruck, und Wilhelm John, Artillerieingenieur und Konservator, in ihrem 1903 publizierten Katalog des k. u. k. Heeresmuseums bemerkten, gelangten zahlreiche Bestände in Spezialsammlungen zur Ausstellung.10 Ein „Gewehrsaal“ präsentierte etwa „Hinterlader“, „in Österreich eingeführte und projektierte Handfeuerwaffen vom Ende des 18. Jahrhunderts“ beziehungsweise „Wallgewehre und fremdländische Gewehre des 19. Jahrhunderts“.11 Ein 1896 in die Museumsräume einbezogener „Artilleriesaal“ unterteilte sich in Objekte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und Schaustücke aus der ersten sowie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese „zu ebener Erde“ präsentierten Exponate wurden um „österreichische und fremdländische Geschützrohre“ vom 15. bis zum 19. Jahrhundert ergänzt, die, in zwei Reihen gegliedert, vor der Hauptfront des Museums, beiderseits des Eingangstores, unter freiem Himmel aufgestellt wurden.12 Das „Herzstück“ des Hauses als chronologische Schilderung herausragender militärischer Ereignisse befand und befindet sich jedoch im Obergeschoss. Hier sollte, so Erben und John, „ein zusammenhängendes Bild von der inneren Entwicklung und von der äußeren Geschichte des österreichischen Heeres“ gegeben werden.13 Zwei „Waffensäle“ standen dafür zur Verfügung, in denen unter anderem anhand von einzelnen Objekten, „Waffenbrettern“ und Schaukästen, von Rüstungen, Trophäen, Feuer-, Hieb- und Stichwaffen, Fahnen, Standarten, Ehrenzeichen und Gedenkstücken zunächst die Entwicklungen von 1618 bis 1788 und schließlich bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert dokumentiert wurden.14

  9 Ebd., 16ff. 10 Erben/John, Katalog des k.u.k. Heeresmuseums, 357 (wie Anm. 4). 11 Ebd., 358. 12 Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum, 14 (wie Anm. 2). 13 Erben/John, Katalog des k.u.k. Heeresmuseums, 81 (wie Anm. 4). 14 Das Heeresgeschichtliche Museum, 19 (wie Anm. 3)  ; Erben/John, Katalog des k.u.k. Heeresmuseums, 82–356 (wie Anm. 4).

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Konzeptionen Die künstlerische Qualität der Exponate oder eine „Visualisierung“ der historischen Geschehnisse hatten zunächst keine Priorität. „Überall ist für die Aufnahme der Objekte die Beziehung zur Geschichte des Heeres maßgebend, ihr Kunstwert kommt nur in zweiter Linie in Betracht“, hieß es 1903 bei Wilhelm Erben und Wilhelm John, während sich nun immerhin von Fortschritten bezüglich einer „Bilderausstellung“ berichten ließ.15 Zog man 1897 Pulttische „zum Auflegen von Bildern“ in Erwägung, so galt 1904 die Einrichtung eines eigenen Saales für Zeichnungen oder Gemälde „als vornehmste Aufgabe“.16 Der Zusammenhang zwischen künstlerischer Rekonstruktion und historischem Einzelexponat wurde hinsichtlich seines didaktischen Nutzens erkannt. Obwohl sich hierfür kein geeigneter Raum fand, stand bereits zuvor außer Frage, dass sich die Sammlungen im Arsenal keineswegs als „Zeughaus“ oder Rüstkammer präsentieren sollten. Kündete das k. k. Hofwaffenmuseum bis in die 1880er-Jahre „von der Wehrhaftigkeit und dem Kunstsinn“ der Habsburger, so stellte sich Kronprinz Rudolf das spätere k. u. k. Heeresmuseum als „Reichsanstalt vor“, die keinen separatistischen „Sonderbestrebungen Raum geben“ dürfe.17 Die Gestaltung und Ausschmückung des Hauses war von Anfang an auf ein „Nationalmuseum“ ausgerichtet. Damit lag man im Trend der Zeit. „Die gebildetsten europäischen Nationen haben ihr Nationalmuseum, nur wir Deutsche nicht, weil wir geschieden in Einzelstaaten sind“, klagte der „Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit“ 1853, während gleichzeitig für Abhilfe gesorgt wurde. Ein Jahr zuvor war das „Germanische Nationalmuseum Nürnberg“ entstanden, 1855 das „Bayerische Nationalmuseum München“.18 Das benachbarte Königreich der Wittelsbacher schuf dann auch ein Militärmuseum. Parallel dazu konnten die Proponenten des k. u. k. Heeresmuseums auf vergleichbare Initiativen in Preußen verweisen. Hinter dem Hohenzollernstaat als altem Rivalen der Donaumonarchie wollte man keinesfalls zurückstehen. Dieses Anliegen war ebenso unverkennbar wie der Wunsch, eine Institution zu gründen, die den „Staatsgedanken“ verkörpern und den „Volksstämmen gerecht werden“ sollte.19 15 Erben/John, Katalog des k.u.k. Heeresmuseums, xif. (wie Anm. 4). 16 Das Heeresgeschichtliche Museum, 18 (wie Anm. 3). 17 Ebd., 13 und 16. 18 Hildegard Katharina Vieregg, Museumswissenschaften. Eine Einführung, Paderborn 2006, 79. 19 Das Heeresgeschichtliche Museum, 14 (wie Anm. 3).

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Eine solche Programmatik rührte freilich an den zentralen Widersprüchen des Habsburgerreiches. Das „Ganze“ umschloss seine „Glieder“ nur mangelhaft. Heterogenität und Sonderbestrebungen manifestierten sich in ethnischen Spannungen und Separatismen, die das System des Dualismus nach dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn im Jahr 1867 verdeutlichten. Einem schwach ausgeprägten Reichspatriotismus standen Eigeninteressen der Völker gegenüber. In den Hauptstädten der Kronländer symbolisierten neu errichtete Museumsbauten regionale und nationale Aspirationen.20 Das schwankende Zentrum kämpfte unterdessen mit Konfliktpotenzialen der Modernisierung. Technische Innovation und Zukunftsängste, wirtschaftliche Instabilität und soziale Gegensätze gingen mit einer Stärkung von Feindbildern, mit dem Aufschwung antiliberaler und antisemitischer Strömungen einher. Ein brüchiger Demokratisierungsprozess schloss nach wie vor einen großen Teil der Bevölkerung aus. In Ungarn änderte sich daran nichts, in dem seit 1907 von der gesamten männlichen Bevölkerung gewählten Parlament der österreichischen Reichshälfte dominierten Zerstrittenheit und „völkische Gesinnung“. Krone und Regierung neigten indessen zur Anwendung des Notverordnungsparagraphen. Der Handlungsspielraum der „Volksvertretung“ blieb eingeschränkt. Den Ton gaben andere an  : die feudalkonservativen Grundbesitzer, der Adel, die Angehörigen der Hochbürokratie, die Militärs und eine dünne Schicht bürgerlicher Industrieller und Bankiers.21 Hofkreise verfügten weiterhin über einen beträchtlichen Aktionsradius, wobei sich der Ausgleich von 1867 als bedeutsam erwies  : Die Aufrechterhaltung der gemeinsamen Agenden Außenpolitik, Armee und Finanzen sowie die Anerkennung des Habsburgerherrschers als österreichischem Kaiser und König der magyarischen Reichshälfte machte den Regenten, die Dynastie und ihre Ratgeber potenziell bei allen strittigen Frage zur letzten Instanz und zum Angelpunkt der politischen Struktur.22 Die dynastische Idee musste daher in der Donaumonarchie das problematische nationale Prinzip fast zur Gänze ersetzen. Die Innenausstattung des

20 Marlies Raffler, Historische Museologie, in  : Friedrich Waidacher, Museologie – knapp gefasst, Wien – Köln – Weimar 2005, 272–307, 304f. 21 Hannes Leidinger, Welche Demokratie  ?, in  : ders./Verena Moritz, Die Republik Österreich 1918/2008. Überblick, Zwischenbilanz, Neubewertung, Wien 2008, 152–180, 155f. 22 Hannes Leidinger, Der innere Feind, in  : ders./Verena Moritz/Berndt Schippler, Das Schwarzbuch der Habsburger. Die unrühmliche Geschichte eines Herrschergeschlechtes, Wien – Frankfurt a.M. 2003, 199–226, 215f.

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Arsenals spiegelte diesen Sachverhalt wider. Gegen die Absicht der Künstler, das Haus Habsburg im Bildprogramm entsprechend zu würdigen und ein Denkmal des „allerhöchsten Kriegsherrn“ in der „Ruhmeshalle“ zentral zu positionieren, plädierte Franz Joseph allerdings persönlich dafür, der „gemeinsamen“ Armee mehr Platz einzuräumen. Die Ausschmückung des Vestibüls beziehungsweise der „Feldherrnhalle“, des Stiegenhauses und der Ruhmeshalle pries dann sowohl Streitmacht als auch Dynastie, wobei der Kaiser und das Standbild der „Austria“ gleichermaßen „Ehrenschutz“ gewährten.23 Unter dieser „Schirmherrschaft“ kamen die „Taten großer Männer“ zur Geltung, nahm ein Geschichtsverständnis Gestalt an, das dem „Monumentalen“ der „herausragenden Ereignisse“ den Vorzug gab und die Leistungen der „Fürsten und Feldherrn“ in den Mittelpunkt rückte. Eine auch international vorherrschende Inszenierung des Vergangenen, die sich den mittel- und langfristigen Tendenzen, Strukturen und Prozessen, mentalitäten-, kultur-, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen weitgehend verschloss, löste die militärischen Konfrontationen von ihrem Umfeld. Mitunter sogar ohne Bezugnahme zu politischen Entwicklungen, blieben Kriegsgerät und Schlachtenschilderung auch im k. u. k. Heeresmuseum Sammelstücke ohne Kontext und historische Erklärung.24 Das „Besondere, Bewahrenswerte und Erinnerungswürdige“ erhielt in seiner spezifischen österreichischen Lesart überdies explizit autoritär-antiaufklärerische Züge. Das Gedenken an die „Franzosenkriege“ und die Kämpfe von 1848/49 stellte das Kaiserhaus und dessen Truppenverbände an die Spitze der Revolutionsfeinde. Schautische beziehungsweise -kästen mit der „vollständigen Galauniform“ von und „Gedenkstücken und Ehrengaben“ für Feldmarschall Joseph Graf Radetzky versinnbildlichten diesen historischen Hintergrund.25 Noch deutlicher tritt er bei Feldzeugmeister Julius Freiherr von Haynau zutage, dessen Oberrock, Hut, Degen und Feldbinde als Exponate des zweiten Waffensaals ausgewählt wurden.26 Haynau hatte man nach der Niederschlagung des ungarischen „Aufstandes“ die Entscheidungsvollmacht bei 23 Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum, 12 und 23–28 (wie Anm. 2)  ; Das Heeresgeschichtliche Museum, 11 (wie Anm. 3). 24 Siehe dazu  : Hannes Leidinger, Historische Zeiten – Eine Einleitung, in  : Verena Moritz/Hannes Leidinger, Die Nacht des Kirpitschnikow. Eine andere Geschichte des Ersten Weltkrieges, München 2008, 13–35  ; Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum, 11, 23f. und 29–47 (wie Anm. 2). 25 Erben/John, Katalog des k.u.k. Heeresmuseums, 316f. und 319f. (wie Anm. 4). 26 Ebd., 277 und 280.

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den Militärgerichten übertragen. Für seine Unerbittlichkeit bekannt, zögerte er nicht, wie er selbst schrieb, „Hunderte mit ruhigem Gewissen erschießen zu lassen“.27 Von der Brutalität eines Befehlshabers, den auch die Nachwelt als „wahrlichen Schlächter“ in Erinnerung behielt28, war in der Präsentation des k. u. k. Heeresmuseums hingegen keine Rede. Vielmehr lobte der Katalog aus dem Jahr 1903 Haynaus Kampfbereitschaft, Initiativgeist und Loyalität gegenüber der Dynastie.29 Eine gewisse propagandistische Schlagseite offenbarte sich zudem bei der Darstellung der Feldzüge von 1866. Die Niederlage bei Königgrätz gegen Preußen verschwand hinter den letztlich politisch bedeutungslosen Erfolgen in Italien  : Die „Siege im Süden“ dokumentierten etwa „erbeutete italienische Fähnchen, Trommeln und Waffen“, Gedenkstücke und Uniformen von Erzherzog Albrecht sowie Säbel und Epauletten des Vizeadmirals Wilhelm von Tegetthoff. Zudem rief man mit Gedenkmünzen die „Triumphe“ Tegetthoffs und Albrechts bei Lissa und Custozza ins Gedächtnis, während „durchschossene Regimentsfahnen“ vom „Nordfeldzug“ ebenso wenig kommentiert wurden wie preußische Zündnadelgewehre des „Systems Dreyse“ aus den Jahren 1841 bis 1872.30

Der Erste Weltkrieg und die Folgen Im Sommer 1914 verzeichneten die Sammlungen im Arsenal zunächst einen gleichermaßen beachtenswerten wie makabren Zugewinn. Das Automobil, in dem Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Herzogin Sophie von Hohenberg am 28. Juni ermordet worden waren, wurde vom k. u. k. Kriegsministerium noch im Juli 1914 übergeben. Außerdem stellten die Kinder des Thronfolgers dessen blutdurchtränkte Uniform zur Verfügung.31 Einer sensationslüsternen Öffentlichkeit blieb der Blick auf die grausamen Details des weltgeschichtlichen Geschehens jedoch verwehrt. Das Museum wurde für den allgemeinen Besuch geschlossen, unter anderem auch deshalb,

27 Zit. nach István Deák, Die rechtmäßige Revolution. Lajos Kossuth und die Ungarn 1848–1849, Wien – Köln – Graz 1989, 277  ; vgl. Leidinger, Der innere Feind, 213 (wie Anm. 22). 28 Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 2005, 318. 29 Erben/John, Katalog des k.u.k. Heeresmuseums, 277f. (wie Anm. 4). 30 Ebd., 328, 348–351 und 369. 31 Das Heeresgeschichtliche Museum, 53 (wie Anm. 3).

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weil von den Kriegsschauplätzen zahlreiche Materialien zur weiteren Bearbeitung zuflossen. Die Direktion entwickelte daraufhin ein „stolzes und kühnes Programm“, das in vielerlei Hinsicht mit der bisherigen Geschichtsdarstellung brach  : Ein umfassendes Bild des Weltkrieges sollte geboten werden. Nicht mehr auf Trophäen und Erinnerungsstücke der Heerführer kam es nun an, sondern auf Sammlungsobjekte, die das Massenphänomen eines industrialisierten Kräftemessens „nach allen Seiten hin“ erfassten. „Die Entwicklung der Technik, der Medizin, die Einwirkungen des Krieges auf die Ernährung, auf die Volksgesundheit, auf die Kunst, die Heranbildung von Ersatzmitteln“ galt es unter anderem zu thematisieren.32 In der Realität erwies sich das groß angelegte Vorhaben jedoch als schwer durchführbar. Über die Herkunft der Gegenstände war man nur unzureichend informiert, die Fülle des Materials erschwerte eine sachgemäße Bearbeitung und Aufstellung.33 Als die Monarchie zusammenbrach und die Waffen ruhten, war an eine groß angelegte Schau erst recht nicht zu denken. Das ökonomische Elend führte in allen Museen der ehemaligen habsburgischen Hauptund Residenzstadt zu Geld- und Personalmangel. Bestände zu veräußern und damit die leeren Kassen zu füllen, zog die junge österreichische Republik zwar in Betracht. Die Resultate blieben aber hinter den Erwartungen zurück. Am Kunstmarkt fehlte es inmitten der „Umbruchskrise“ auch international an Interessenten.34 Während die Verantwortlichen sogar an die Auflösung des Heeresmuseums dachten und den Verkauf der Bestände an die Vereinigten Staaten von Amerika erwogen, wehrten sie parallel dazu Rückstellungsforderungen der Siegermächte und der Nachfolgestaaten der k. u. k. Monarchie ab.35 Verteidigte man solcherart den Besitzstand, etwa hinsichtlich der Trophäen aus den Epochen vor 1866, mit mehr oder minder großem Erfolg, so wurde 32 Ebd., 21. 33 Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum, 14 (wie Anm. 2). 34 Siehe in diesem Zusammenhang vor allem  : Herbert Posch, Umbruch und Kontinuität – Wiener Museen am Übergang von der Monarchie zur Ersten Republik und das Scheitern seiner Aneignung, in  : Gottfried Fliedl/Roswitha Muttenthaler/Herbert Posch (Hg.), Museumsraum – Museumszeit. Zur Geschichte des österreichischen Museums- und Ausstellungswesens, Wien 1992, 139–154. Bezüglich der finanziellen Schwierigkeiten ist zudem festzuhalten, dass die Konzentration der Kulturpolitik auf Musik und Theater weniger Platz für Museen und Ausstellungen ließ. Dazu  : Siegfried Mattl, Der kulturpolitische Kontext der Ersten Republik, in  : Herbert Posch/Gottfried Fliedl (Hg.), Politik der Präsentation. Museum und Ausstellung in Österreich 1918–1945, Wien 1996, 11–24, insbesondere 12ff. und 19. 35 Das Heeresgeschichtliche Museum, 22 (wie Anm. 3).

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in einem Einzelfall freiwillig auf ein bedeutendes Exponat verzichtet.36 Den „Koller“, also den Wams, den der Schwedenkönig Gustav II. Adolf 1632 in der Schlacht bei Lützen getragen hatte, erhielten die Skandinavier 1920 für ihre karitative Tätigkeit in der notleidenden Alpenrepublik.37 Das Kleidungsstück, das an die schweren Verwundungen und den Tod Gustav Adolfs bei Lützen erinnerte, fungierte als Geste des Dankes, die ihre Wirkung jedoch verfehlte. Sowohl österreichische als auch schwedische Printmedien widmeten sich in ihrer Berichterstattung anderen Tagesereignissen.38 Eine der Friedenssehnsucht geschuldete Grundstimmung hatte sich breitgemacht. Man stieß sich auch an den Symbolen des Militarismus  : Eine aufgebrachte Menge riss 1918 den verhassten Offizieren die Rangzeichen und Kriegsauszeichnungen von der Montur. In der sozialdemokratischen Presse fanden sich Pauschalverurteilungen der gesamten Armeeführung. Eine „Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzung“ ging daran, die Vorwürfe zu prüfen. Das Gremium, das sich vorwiegend aus erfahrenen Juristen und Vertretern unterschiedlicher Parteien zusammensetzte, hätte durchaus zu einer sachlichen Überprüfung der Anklagepunkte beitragen können. In ihrer Ehre verletzte Erzherzöge und Heereskommandanten ließen jedoch kein gutes Haar an der Institution. Dementsprechend schwierig gestaltete sich für die Ermittler die Aktenbeschaffung. Mitarbeiter der sich auflösenden, der sogenannten „liquidierenden“ k. u. k. Behörden zeigten sich wenig kooperativ. Hinzu traten Probleme mit den Nachbarländern, die einst teilweise oder zur Gänze dem Habsburgerreich angehört hatten.39 Das politische Klima änderte sich mit der Zurückdrängung der Sozialdemokratie und der „Beseitigung des revolutionären Schutts“, wie sich die Konservativen ausdrückten. Während die „Linke“ eine kritische Aufarbeitung der Geschichte erwartete, herrschte in den Amtsstuben der Republik eine „retrospektive Staatsräson“. Auch wenn es keinen Kaiser mehr gebe, 36 „Zahlreiche Abgaben“ waren nach Allmayer-Beck „nicht zu vermeiden“. Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum, 14f. (wie Anm. 2)  ; vgl. Das Heeresgeschichtliche Museum, 22 (wie Anm. 3). 37 Dazu insbesondere  : Renate Schreiber (Hg.), Es geschah in Wien. Erinnerungen von Elsa Björkman-Goldschmidt, Wien 2007. 38 Jenny Öhmann/Richard Hufschmied, „1920 der schwedischen Nation gewidmet“. Zur Geschichte des Kollers des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf, in  : Viribus unitis. Jahresbericht 2007 des Heeresgeschichtlichen Museums, Wien 2008, 35–52. 39 Hannes Leidinger, „Altlasten“, in  : ders./Verena Moritz, Die Republik Österreich 1918/2008. Überblick, Zwischenbilanz, Neubewertung, Wien 2008, 38–65, hier 45.

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hieß es hier, müsse man das Ansehen und die Würde der alten Monarchie hochhalten.40 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der innerhalb des Unterrichtsministeriums für Museen zuständige Kunsthistoriker Hans Tietze mit seinem Reformvorhaben, aus den Repräsentationsanstalten der Monarchie Zentren der republikanischen Volksbildung zu machen, scheiterte.41 Neben wirtschaftlichen und strukturell-organisatorischen Barrieren stand ihm ein Zeitgeist im Weg, in dem pazifistische Parolen zunehmend von Tendenzen der Remilitarisierung überlagert wurden. Kriegerdenkmäler huldigten den Soldatentugenden und dem „Opfertod fürs Vaterland“, die Trauer über die Gefallenen wich der Heroisierung des Kampfes. Über den Traumahorizont eines vierjährigen „Massenschlachtens“ entfaltete sich eine Erinnerungskultur, die die Schrecken des Krieges durch das „Wiederanknüpfen an eine glorreiche Vergangenheit“ kompensierte.42 Vieles blieb beim Alten.43 Hans Tietze quittierte Ende 1925 den Staatsdienst mit folgenden Worten  : Die „Tür ins Museum, die sich dem Volke auftat, wird wieder zugeschlagen, die Fenster werden verhängt, in muffelnder Atmosphäre wird vergraben, was der Stolz und das Selbstbewußtsein des ganzen Volkes hätte werden sollen. Mit dieser Zerstörung eines geistigen Nationaleigentums“, begründete Tietze seinen Schritt, „will ich nichts zu tun haben.“44 Dabei hätte gerade das im September 1921 den Besucherinnen und Besuchern wieder zugängliche Heeresmuseum durch die vorangegangene Sammeltätigkeit eine Vorstellung vom Grauen des Krieges vermitteln können. Tatsächlich überwogen in der 1923 eröffneten Kriegsbildergalerie Darstellungen, die „Beobachtungsstände, Unterkunftshütten, Unterstände, Gefangene und Flüchtlinge, Einquartierungen, Hilfsplätze und Verwundetentransporte“ zeigten.45 Das Haus im Arsenal, in dem auch ein schon 1917 begonnenes Relief mit dem Terrain der Isonzoschlachten verwahrt wurde, musste sich allerdings 40 Ebd. 41 Posch, Umbruch und Kontinuität, 139 (wie Anm. 34). 42 Thomas Reichl, „Den Toten zur Ehre …“ Die Gedenktafeln im Heeresgeschichtlichen Museum, in  : Viribus unitis. Jahresbericht 2002 des Heeresgeschichtlichen Museums, Wien 2003, 55–74, 62f. 43 Siehe dazu vor allem auch Sylvia Mattl-Wurm, Vom Scheitern der Moderne im Wiener Museumswesen, in  : Herbert Posch/Gottfried Fliedl (Hg.), Politik der Präsentation. Museum und Ausstellung in Österreich 1918–1945, Wien 1996, 143–166, insbesondere 143. 44 Zit. nach Posch, Umbruch und Kontinuität, 139 (wie Anm. 34). 45 Das Heeresgeschichtliche Museum, 22f. (wie Anm. 3).

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mit der Tatsache abfinden, dass sich das Weltkriegsgedenken nicht an einem Platz konzentrieren ließ. Ehemalige Kriegsgefangene gingen beispielsweise Ende der 1920er-Jahre daran, ein eigenes Museum in der Karl-SchweighoferGasse im sechsten Wiener Gemeindebezirk einzurichten, dessen Bestände erst nach 1938 ins Arsenal kamen.46 Der dortige Raummangel gestattete in den 1920er- und 1930er-Jahren lediglich, die Geschehnisse zwischen 1914 und 1918 ansatzweise zu verdeutlichen. Verwendung fanden Abzeichen, Kopfbedeckungen, Helme, Granaten, Teile von Fliegerbomben und ein „imposanter Mörser“, Figurinen, „in denen Uniform und Ausrüstung von Mannschaftspersonen auf kompletten Puppen mit Gesicht und Händen zu sehen waren“, sowie Zeichnungen, Aquarelle und Fotografien auf Drehbildständern und in Guckkästen.47 Immerhin ging man auf solche Weise neue Wege in der Museumsdidaktik. Nutzen wollte man sie dann vor allem im Kontext einer „ständestaatlichen Kultur- und Geschichtspolitik“, die einer „Mythisierung des AltÖsterreichischen“ gleichkam. Dem Programm des autoritär-faschistischen Staates entsprachen demnach die feierliche Einweihung des Heldendenkmales im Bereich des äußeren Burgtors 1934, die damit verbundene Lichtbilderausstellung „Von Front zu Front“ sowie die große „Kaiser Franz Joseph“-Schau in Schönbrunn 1935.48 An zentraler Stelle, in der Neuen Hofburg und nicht im Arsenal, dessen Lage „abseits vom Strom des reisenden und lokalen Publikums“ bereits im 19. Jahrhundert beklagt wurde, projektierte man dann auch ein „Weltkriegsmuseum“ im großen Stil. Im Stiegenhaus und in elf Sälen der Hofburg sollten „Schützen- und Laufgräben, Unterstände, Hilfs- und Verbandsplätze, Minenwerferstände und Telephonzentralen, Fels- und Eisstollen entstehen, Kriegsfürsorge, -industrie und -ersatzwesen behandelt sowie Brotkarten, Notgeld, Gefangenenarbeiten und natürlich Waffen beziehungsweise bildliche Darstellungen“ präsentiert werden.49 46 Hannes Leidinger, Die Sprache der Geschichte, in  : ders./Verena Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920, Wien – Köln – Weimar 2003, 69–129, 94 und 97f. 47 Das Heeresgeschichtliche Museum, 23f. (wie Anm. 3). 48 Irene Nierhaus, Erwartungshorizont. Ausstellungen als Gestaltungsmittel autoritärer Politik an Wiener Beispielen aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren, in  : Gottfried Fliedl/Roswitha Muttenthaler/Herbert Posch (Hg.), Museumsraum – Museumszeit. Zur Geschichte des österreichischen Museums- und Ausstellungswesens, Wien 1992, 155–167, 163. 49 Das Heeresgeschichtliche Museum, 24 (wie Anm. 3).

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Nationalsozialismus Pläne und Arbeiten für das gewaltige Vorhaben eines Weltkriegsmuseums fanden allerdings im Frühjahr 1938, mit der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich, ein jähes Ende. Alfred Mell, als Offizier zwischen 1914 und 1918 mit der Sammlung von Materialien für das Heeresmuseum befasst und dessen Direktor seit 1934, gehörte zu jenen, die den „Anschluss“ enthusiastisch begrüßten. Obwohl kein Mitglied der NSDAP, amtierte er in der Folge als General-Kustos des Hauses, das dem Chef der deutschen Heeresmuseen in Berlin unterstellt worden war und somit seine Eigenständigkeit verloren hatte.50 Als Konsequenz der nationalsozialistischen Gewaltpolitik gelangte in diesem Zeitraum Raubgut ins Arsenal. Die Wertsachen gehörten Personen, die aus rassischen Gründen verfolgt und enteignet worden waren.51 Weitere Bestände kamen von der deutschen Wehrmacht. Sie hatte Trophäen und Beute vom Westfeldzug mitgebracht. Dabei handelte es sich um insgesamt 143 Objekte. Hinzu kamen zusätzliche Gegenstände, die französische Truppen im 19. Jahrhundert der Habsburgerarmee abgenommen hatten und die nun von Paris nach Wien transportiert wurden. Den Gedanken des „Revanchismus“ symbolisierte solcherart ein militärischer „Fetischkult“, der zurückholen wollte, was einst verloren gegangen war, oder – wie im Fall von Geschützrohren – zumindest Ersatz für unwiederbringlich Vernichtetes verlangte.52 Ähnliches galt auch und gerade gegenüber Serbien beziehungsweise Jugoslawien. Ein 30,5 cm Mörser der k. u. k. Armee kehrte auf diese Weise „heim“ in die „Ostmark“. Dadurch sollte eine Lücke im Wiener Heeresmuseum ge50 Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum, 15 (wie Anm. 2)  ; Manfried Rauchensteiner, Phönix aus der Asche. Zerstörung und Wiederaufbau des Heeresgeschichtlichen Museums 1944 bis 1955. Begleitband zur Sonderausstellung des Heeresgeschichtlichen Museums 21. Juni bis 30. Oktober 2005, Wien 2005, 14, 25, 28. 51 Zu dieser Problematik  : Christoph Hatschek, Provenienzforschung und Restitution. Eine „neue“ Form der Vergangenheitsbewältigung, in  : Viribus unitis. Jahresbericht 2001 des Heeresgeschichtlichen Museums, Wien 2002, 54–65. Zur Restitution angemeldet wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auch ein Klavierflügel unbekannter Herkunft. Im Rahmen des 1998 eingeleiteten neuerlichen Restitutionsverfahrens sprach man im Übrigen die Empfehlung aus, sämtliche musealen Gegenstände den Erben von Alphonse de Rothschild auszuhändigen. Das Heeresgeschichtliche Museum leistete dem Ansinnen Folge. Zwei Standarten blieben als Geschenke der rechtmäßigen Besitzer allerdings im Haus. – Rauchensteiner, Phönix aus der Asche, 43 und 187 (wie Anm. 50). 52 Rauchensteiner, Phönix aus der Asche, 44 (wie Anm. 50).

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schlossen werden, dem die deutsche Wehrmacht zudem einige Dutzend Exponate aus dem Armeemuseum in Belgrad übergab.53 Während sich danach noch 165 Stücke russischen beziehungsweise sowjetischen Ursprungs „einfanden“, prägten die anfänglichen „Waffensiege“ des „Dritten Reiches“ auch die „Öffentlichkeitsarbeit“ im Arsenal. Verschiedene Sonderschauen dokumentierten die Kriegszüge.54 Noch während des Sommers 1944 widmete man sich im Obergeschoss des Museums dem „Kampfraum Südost“ und knüpfte damit immerhin symbolisch insbesondere an Bestrebungen von „Reichsstatthalter“ Arthur Seyss-Inquart an, die frühere k. k. Hauptund Residenzstadt als Stützpunkt der Donau- und Balkanpolitik des „Dritten Reiches“ zu nutzen.55 Obwohl auch die „Wiener Schiedssprüche“ zur Revision der ungarischen Grenzen in den Jahren 1938 und 1940 eine derartige Tendenz andeuteten, blockierten konkurrierende NS-Granden Seyss-Inquarts Ehrgeiz. „Reichsjugendführer“ Baldur von Schirach, ab 1940 „Reichsstatthalter“ und „Gauleiter“ von Wien, sonnte sich danach mit einer barocken Selbstinszenierung zwar gerne im kaiserlich-habsburgischen Glanz. Seine Förderung des Lokalkolorits und seine Aufwertung der Donau- und Kunstmetropole gegenüber der Hauptstadt Berlin zielte aber keineswegs auf ein Österreichbewusstsein, sondern kennzeichnete vielmehr die Konkurrenz unter den „Parteigenossen“ und eine tolerierte Rivalität unter den „deutschen Stämmen“.56 Schirachs Umfeld war indessen mit Fortdauer der Kampfhandlungen um den Eindruck einer vom näherrückenden Krieg unbeeindruckten Normalität bemüht. Auch die Sonderschau „Kampfraum Südost“ diente diesem Zweck. NS-Stellen und Wehrmachtsführung scheuten sich darüber hinaus lange, Kulturgüter abzutransportieren oder Museen komplett zu räumen. Bedrohungen einzugestehen, widersprach den Vorstellungen und der „Durchhaltementalität“ von Militärs und Gauleitung, obwohl parallel zur Organisation von Ausstellungen schließlich auch im Arsenal mit dem Abtransport nicht gezeigter Sammlungen begonnen wurde. An letztlich 15 Bergungsorten in Südmähren, Nieder- und Oberösterreich brachte man die Bestände unter. Ihre Verlagerung war noch keineswegs abgeschlossen, als US-Luftangriffe am 10. September

53 Ebd., 45. 54 Das Heeresgeschichtliche Museum, 25 (wie Anm. 3). 55 Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum, 15 (wie Anm. 2)  ; vgl. Das Heeresgeschichtliche Museum, 25 (wie Anm. 3). 56 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 2005, 365f.

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1944 das Heeresmuseum in eine Ruine verwandelten. Weitere Bombardierungen richteten am 11. Dezember 1944 und am 15. Jänner 1945 vergleichsweise kleinere Schäden an, bis das Gelände des Arsenals zu einem Hauptkampfgebiet in der „Schlacht um Wien“ wurde.57

Neuanfang und Traditionsbewusstsein Den Zerstörungen im Rahmen von Gefechten folgten Plünderungen durch Zivilisten und Soldaten, Einheimische und „Besatzer“.58 Rotarmisten fingen an, die wichtigsten Gewehre, Pistolen und Revolver, die seit dem 17. Jahrhundert in der kaiserlichen Armee eingeführt worden waren, für den Abtransport zu verladen. Auch die „in der Studiensammlung vorhandenen Säbel, Bajonette, Lanzen und andere Stangenwaffen“ sowie „1250 preußische und 1500 französische Säbel und Pallasche“ aus der Zeit Maria Theresias und aus der napoleonischen Epoche verschwanden. Alles in allem wurden mit sieben Lkw-Fuhren 16.000 Objekte fortgebracht. Gesuche von Alfred Mell „wegen Rückgabe der historischen Waffen“ führten trotz Entgegenkommens des sowjetischen Stadtkommandanten zu keinem Erfolg. Die Nachforschungen verliefen im Sand, das Museum erhielt nichts zurück.59 Als aufgrund der alliierten Zoneneinteilung das Arsenalgelände Großbritannien überantwortet wurde, verbesserte sich die Lage jedoch kaum. Englische Einheiten nahmen ihrerseits historisches Kriegsgerät in Besitz. Säbel, Degen, Gewehre und andere Exponate, darunter einige Stücke von Kaiser Franz Joseph, wurden abtransportiert. Zeitgleich gingen die Briten daran, Waffen unbrauchbar zu machen. Verschont blieben davon nicht einmal die historischen Geschütze. Durch die Sprengung der Rohre erlitten die Bestände weitere Verluste.60 Während man außerdem Beutestücke der deutschen Wehrmacht den Siegermächten übergab, berichtete man von den Bergungsorten und „Dependancen“, dass das „Verlagerungsgut schwerstens gelitten“ habe.61 Hinsichtlich

57 Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum, 16 (wie Anm. 2)  ; Rauchensteiner, Phönix aus der Asche 14–24 (wie Anm. 50). 58 Das Heeresgeschichtliche Museum, 26 (wie Anm. 3). 59 Rauchensteiner, Phönix aus der Asche, 25ff. (wie Anm. 50). 60 Ebd., 46f. 61 Das Heeresgeschichtliche Museum, 26f. (wie Anm. 3) ; Rauchensteiner, Phönix aus der Asche, 37 und 43ff. (wie Anm. 50).

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der weiteren Zukunft des Heeresmuseums war man andererseits jedoch bestrebt, die Bestände des Hauses als „immer noch bedeutend“ hervorzuheben. Eine Auflistung vom März 1951 nannte daher folgende zu konservierende und „museumsreif auszustattende“ Sammlungen  : 1.500 Fahnen, Standarten und Paukendecken, 2.500 gerahmte Bilder, 21.000 Aquarelle, Handzeichnungen, Stiche, Lithografien und einzelne Photos, 2.600 Objekte der Kriegsbildersammlung aus dem Ersten Weltkrieg, 18.000 Exponate aus der Fotoporträtsammlung, ungefähr 4.000 Medaillen, Orden und militärische Abzeichen, eine quantitativ noch nicht näher erfasste Anzahl von Skulpturen, Flugschriften, Plakaten und Notgeld, 2.500 Mäntel, Röcke, Westen, Hosen „und Ähnliches“, zirka 1.000 Kopfbedeckungen aller Art, 38 Paar Stiefel und Schuhe, rund 5.000 Objekte aus der Diapositivsammlung des Ersten Weltkriegs, Urkunden, Handschriften, Erinnerungsdokumente und „vieles andere“, Archivalien aus den Beständen der Artillerieabteilung des technischen Militärkomitées und der Abteilung 7 des Kriegsministeriums mit der historischen Tafelsammlung, 30 Rüstungen aus dem 17. sowie 170 Kürasse aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, 100 Helme, Morione und Sturmhauben, 1.420 Stangen und blanke Waffen, 650 Gewehre und Pistolen, „derzeit“ noch „unzugängliche“ und nicht näher zu beziffernde „Waffen wie Gewehre, MGs und sonstige Ausrüstungsstücke in sehr schlechtem Erhaltungszustand“, 338 „von den Alliierten gesprengte und kaum mehr museal verwertbare“ in- und ausländische Bronzerohre aus dem 15. bis 19. Jahrhundert, 1.800 „zum größten Teil erhaltene“ Objekte der Artilleriesammlung, 45 Geschützmodelle, 56 Richtmittel, in etwa 2.750 Gegenstände aus der Sammlung von Artilleriemunition, „zurzeit nicht fassbare“, aber „angeblich erhaltene“ Mannschaftsarbeiten sowie Bestände des „Plenny-Museums“ aus dem Ersten Weltkrieg.62 Abgesehen von der Frage, ob die Ausführungen und speziell die Zahlenangaben den Tatsachen entsprachen, sahen sich zuständige Stellen mit der Problematik konfrontiert, das Museum nach dem „Katastrophenzeitalter“ von 1914 bis 1945 neu auszurichten. In Diskussionen und ambitionierten Entwürfen sprach man von einem künftigen „Vaterländischen“ oder „Nationalmuseum“, entschied sich schließlich jedoch für die Bezeichnung „Heeresgeschichtliches Museum“, um vor allem den Siegermächten keinen Grund zur „Rekrimination“ zu geben.63 Darüber hinaus wurden die Sammlungen nicht bloß als „Bilderbuch der österreichischen Geschichte“ interpretiert, sondern auch als Beitrag zu dem Be62 Rauchensteiner, Phönix aus der Asche, 134ff. (wie Anm. 50). 63 Ebd., 41.

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mühen, „Achtung vor den einstigen Widersachern“ der Donaumonarchie „zu erwecken“, vor „anderen Völkern und ihren Leistungen“. Die Schaffung der „Vereinten Völker oder Staaten von Europa“ stand wenigstens rhetorisch im Mittelpunkt, wenn auch „gepaart mit Stolz auf die eigenen“ Werke.64 In letzterer Hinsicht bot sich nun etwa die Gelegenheit, der Geschichte der habsburgischen Seestreitmacht Beachtung zu schenken. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg waren der Museumsleitung entsprechende Objekte ausgehändigt worden. Nun, nach 1945, erklärte sich auch das Technische Museum bereit, „die auf die k. u. k. Kriegsmarine bezüglichen Bestände seiner Marinesammlung dem Heeresgeschichtlichen Museum zu übergeben“.65 Bei dessen Wiedereröffnung im Juni 1955 überwog angesichts derartiger Schwerpunktsetzungen ein längst nostalgisch verklärtes „Kakanien“. 66 Daran vermochte auch das Bemühen, die Besucherinnen und Besucher nicht bloß mit einer „Fülle von Flinten und Hellebarden“ zu konfrontieren, sondern „Kriegsgeschichte zu einem Spezialfall der allgemeinen politischen und der Kulturgeschichte zu machen und die interessanten Objekte in psychologisch geschickter Weise“ zu präsentieren,67 wenig zu ändern. Ungeachtet aller Neudeutungen und der Überzeugung des damaligen Direktors, „neben der Würdigung des österreichischen Soldatentums die historischen und heeresgeschichtlichen Zusammenhänge zeigen zu können“68, dominierte das Traditionsbewusstsein. Es manifestierte sich im Erscheinungsbild des Museums an sich  : Im Zuge der Bauarbeiten hatte man sich „am alten Haus“ orientiert, an Originalentwürfen und „unschwer“ zu restaurierenden Fresken.69 Waren damit aber zeitgemäße Interpretationen der Vergangenheit möglich  ? Gemessen am „Grauen des Krieges“, notierte selbst die Direktion 1960, „erweckt“ das Heeresgeschichtliche Museum „doch einen irreführenden Eindruck. Denn was sah und sieht man in ihm  ? Rüstungen und Erinnerungsstü64 Das Heeresgeschichtliche Museum, 27f. (wie Anm. 3). 65 Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum, 16f. (wie Anm. 2). 66 Die feierliche Wiedereröffnung des Museums fand im Beisein zahlreicher Prominenter statt. Fern blieb ihr allerdings der damalige Bundespräsident Theodor Körner. Gegenüber dem Bundesminister für Unterricht, Heinrich Drimmel, äußerte er in diesem Zusammenhang „gewisse Bedenken politischer Natur“, ohne diese allerdings näher zu erläutern. Körner hatte das Museum aber bereits vor der Widereröffnung besichtigt und sich positiv über dessen Neugestaltung geäußert. – Rauchensteiner, Phönix aus der Asche, 202 (wie Anm. 50). 67 Zit. nach Rauchensteiner, Phönix aus der Asche, 113 (wie Anm. 50). 68 Zit. nach Rauchensteiner, Phönix aus der Asche, 202 (wie Anm. 50). 69 Das Heeresgeschichtliche Museum, 27 (wie Anm. 3).

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cke aus dem Besitz von Feldherren und hohen Offizieren, Stücke aus der Türkenbeute, die meist nicht vom einfachen Mann stammen. Seine Waffen waren nicht so wertvoll, daß es sich gelohnt hätte, sie vom Schlachtfeld aufzuheben und in die Heimat zu schaffen.“70 Gebäude und Sammlungen des Arsenals ließen und lassen sich in seiner Gesamtheit als museales Objekt verstehen, das überkommene Herrschaftsstrukturen und antiquierte Geschichtsbilder verkörpert. Das enge historische Korsett setzte dem Geist der Innovation und Aktualisierung ebensolche Grenzen. Der Konservatismus der „langen“ 1950er-Jahre klammerte sich an ein „großes Erbe“. Hans Tietze hatte sich allerdings schon Mitte der 1920er-Jahre gefragt, was das „republikanische“ Publikum in den kaiserlichen Sammlungen eigentlich anderes finden sollte als „stets nur“ die „Repräsentation des Hofes“ in „allen ihren Facetten“, die „Selbstinszenierung“ abgesetzter Fürsten – und Sammlungsgegenstände, die „diesem Ziel“ und den daraus entstandenen Herrscherbauten „untergeordnet und angepasst waren“.71 Der Zweite Weltkrieg erwies sich unter anderem aus dieser Perspektive keineswegs als „Vater aller Dinge“, der, wenngleich gewaltsam, zynisch und vielfach ungewollt, Terrain für einen Neuanfang schaffen hätte können. Die Rückwärtsgewandtheit der beginnenden österreichischen Nationsbildung konstruierte und konservierte „das Alte“.72

Militärgeschichte im Wandel  ? Neue Betrachtungsweisen auf die Geschichte hatten es angesichts der oben skizzierten historischen Vorbedingungen schwer, sich Platz im Heeresgeschichtlichen Museum zu verschaffen. Davon abgesehen kamen Debatten über Selbstverständnis, Rolle, Aufgaben und Möglichkeiten der Militärgeschichte an sich nur langsam in Gang. Dieser Umstand wirkte sich freilich auch auf deren museale Darstellung aus  : Eine Infragestellung Jahrzehnte hindurch üblicher Präsentationen von Heer und Heeresgeschichte sowie Krieg und Kriegsgeschichte schien sich zwar in Anbetracht gesellschaftsrelevanter Kritik, die ihren Ursprung in der speziellen Situation nach dem Zweiten 70 Ebd., 21. 71 Posch, Umbruch und Kontinuität, 146 (wie Anm. 34). 72 Vgl. dazu Nietzsches Aussagen über den Umgang mit der Vergangenheit bei  : Ivo Frenzel, Friedrich Nietzsche, Reinbek bei Hamburg 1989, 67.

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Weltkrieg und schließlich in der Friedensbewegung hatte, aufzudrängen. Im Endeffekt lief die Konfrontation aber auf beiderseitige Ignoranz hinaus. Nichtsdestoweniger setzte im Bereich der wissenschaftlich orientierten Militärgeschichte ein Umdenken ein. In Deutschland, meinte der lange Jahre am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg tätige Professor für Neueste Geschichte Wolfram Wette, hätten sich die diesbezüglichen Untersuchungen zum Teil bereits seit den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts „kontinuierlich in Richtung einer historischen Friedensforschung entwickelt“.73 In Österreich, so der spätere Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums, Manfried Rauchensteiner 1985, gab es „Ende der Fünfziger- und auch noch Anfang der Sechzigerjahre keinen wirklichen Antimilitarismus. Er war nicht einmal auf den Hochschulen zu Hause. Wohl aber ist in der konsequenten Aussparung des Militärischen aus der historischen Überlieferung eine noch immer anhaltende Gegenbewegung gegen das Übermaß an jenem Militärischem und Militärgeschichtlichem zu sehen“, das in den Kriegsjahren, aber auch in den Jahren davor „geboten“ worden war.74 Aufseiten der Geschichtswissenschaft blieben „Berührungsängste“ in Hinblick auf eine Beschäftigung mit explizit militärgeschichtlichen Forschungsfeldern geraume Zeit bestehen. Üblicherweise wurden „Vor- und Nachgeschichte der Kriege […] ins Blickfeld genommen, nicht die Kriege selbst“.75 Erst in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ließ sich ein dann allerdings rasant wachsendes Interesse von Historikern und Historikerinnen an Themen konstatieren, die zuvor in erster Linie einem überschaubaren Kreis von Fachwissenschaftern überantwortet worden waren. Militärgeschichte wurde abseits bisher gültiger enger Definitionsrahmen diskutiert und thematisiert und rief Vertreter und Vertreterinnen der Sozial-, Alltagsoder Geschlechtergeschichte auf den Plan. Ergebnis war unter anderem eine „Militärgeschichte von unten“, die neben den Feldherren und Generälen den

73 Wolfram Wette, Militärgeschichte zwischen Wissenschaft und Politik, in  : Thomas Kühne/ Benjamin Ziemann (Hg.), Was ist Militärgeschichte  ?, Paderborn – München – Wien – Zürich 2000, 49–72, 67. 74 Manfried Rauchensteiner, Die Militärgeschichtsschreibung in Österreich nach 1945, in  : Militärgeschichte in Deutschland und Österreich vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bonn 1985, 134–161, 149. 75 Thomas Kühne/Benjamin Ziemann, Militärgeschichte in der Erweiterung. Konjunkturen, Interpretationen, Konzepte, in  : dies. (Hg.) Was ist Militärgeschichte  ?, Paderborn – München – Wien – Zürich 2000, 9–46, 11.

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„kleinen Mann“ in Gestalt des Soldaten entdeckte.76 Ohne die Anstöße der Alltagsgeschichte, „die in Verbindung mit dem ‚linguistic turn‘ sowie wissenssoziologischen und ethnologischen Rezeptionsangeboten zu den erfahrungsund kulturgeschichtlichen Erneuerungen der Geschichtswissenschaft im allgemeinen führten“, ist der „Aufschwung und Aufbruch der Militärgeschichte in den 1990er-Jahren“ allerdings „nicht denkbar.“77 Der „neuen Militärgeschichte“ in Österreich bescheinigen kritische Beobachter eine im Vergleich zu Deutschland aber eher geringe Bedeutung in der hiesigen Forschungslandschaft.78 Andererseits verweist etwa der deutsche Historiker Ralf Pröve darauf, dass es „in Österreich ausreichend vornehmlich jüngere Forscherinnen und Forscher“ gebe, die „sehr erfolgreich ‚neue Militärgeschichte‘ betreiben“.79 Ein im Jahr 2000 in Deutschland erschienener Sammelband mit dem Titel Was ist Militärgeschichte  ? wollte nicht nur neue Impulse zur methodischen und konzeptionellen Standortbestimmung geben, sondern auch nach den Ursachen für die nach 1945 lange Zeit gleichsam abseits der universitären Geschichtswissenschaften betriebene Militärgeschichte fragen. Die Herausgeber verweisen dabei unter anderem auf Aussagen des Historikers Omer Bartov, der meinte, dass Militärgeschichte „besonders seit Ende des Zweiten Weltkriegs in den Ruf eines etwas zweifelhaften Unternehmens geraten“ sei. Wer sich mit ihr befasse, so Bartov noch im Jahr 1995, werde „nicht selten als zweitrangiger Gelehrter abgetan, dem es mehr um die Schilderung historischer Schlachten als um seriöse historische Forschung zu tun“ sei.80 Militärgeschichte galt demnach als „unwissenschaftliches Residuum der Militärs, die aus vergangenen Kriegen lernen wollten, um künftige zu gewinnen, oder eines Publikums, das sich aus unverbesserlichen Militaristen in Gestalt kriegsverherrlichender Jugendlicher oder unbelehrbarer Kriegsveteranen“ rekrutiere.81 Dieses Urteil bestand und bestehe, so meinen Thomas Kühne und 76 Vgl. Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten. München 1992. 77 Kühne/Ziemann, Militärgeschichte in der Erweiterung, 15 (wie Anm. 75). 78 Vgl. Michael Hochedlinger, Kleine Quellenkunde zur Österreichischen Militärgeschichte 1800–1914 (Quelle  : , 20.1.2010), 5. 79 Ralf Pröve, Rez. Broucek/Peball  : Geschichte der österreichischen Militärhistoriographie, in  : H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews, Januar 2002 (, 25.1.2010). 80 Zit. nach Kühne/Ziemann, Militärgeschichte in der Erweiterung, 10 (wie Anm. 75). 81 Ebd., 11.

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Benjamin Ziemann, nicht ganz zu Unrecht. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf eine „Unzahl von üppigen Bildbänden über Waffen, Panzer und Kampfflugzeuge, von glorifizierenden Biografien großer Feldherren oder von – um militärische Leistungs- und menschliche Leidensfähigkeit kreisenden – Schlachtenbeschreibungen.“82 Auch Militärmuseen bedienen im Regelfall derartige Interessen. Imagekorrekturen lassen sich nicht ohne Weiteres durchführen beziehungsweise werden nur mit Verzögerungen rezipiert. Slogans, wonach der Krieg ins Museum gehöre, können nicht – wie sollten sie auch  ? – verhindern, dass ein einschlägig an Militärgeschichte interessiertes Segment seine eigenen spezifischen Motive für den Museumsbesuch mitbringt. Mit Blick auf das Heeresgeschichtliche Museum in Wien, das 2008 ca. 126.000 Besucherinnen und Besucher verzeichnete und dabei durchaus ein neues und jüngeres Publikum anzusprechen scheint, heißt es unter anderem  : „Zum Stammpublikum des Museums zählen natürlich jene sehr aktiven Laien, oft Sammler, die sich in erster Linie für die glänzenden Paraphernalien von Militär und Krieg – Uniformen, Waffen, Orden usw. – mit Schwerpunkt auf dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert interessieren. Zu einer Aufwertung dieser oft vorschnell als ‚Knopfologie‘ belächelten ‚Heereskunde‘ in Richtung einer breit und umfassend verstandenen militärischen Kulturgeschichte bzw. Realienkunde […] ist es leider nicht gekommen.“83

Davon abgesehen regen sich mittlerweile besorgte Stimmen, die die klassische militärhistorische Forschung bedroht sehen. Parallel dazu gerät eine von Kritikern als unzeitgemäß empfundene Ausstellung von Objekten zu Heer und Krieg immer wieder unter Rechtfertigungsdruck. Fallen diesem Druck, dem die Militärgeschichte mit all ihren Facetten ausgesetzt ist, also wesentliche Bereiche ihrer Forschung und ihrer konservatorischen Aufgaben zum Opfer  ? Neu sind diesbezügliche Bedenken jedenfalls nicht. Schon vor Jahrzehnten warnte etwa Oskar Regele, Offizier, Militärhistoriker und nach dem Zweiten Weltkrieg einige Jahre Leiter des Kriegsarchivs in Wien, vor einem Aussterben der Zunft. Spezifische militärhistorische Kenntnisse drohten seiner Ansicht nach verloren zu gehen.84 Heute werden mitunter ähnlich düstere 82 Ebd. 83 Hochedlinger, Kleine Quellenkunde, 3 (wie Anm. 78). 84 Rauchensteiner, Militärgeschichtsschreibung, 154 (wie Anm. 74).

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Prognosen erstellt. Von einer Marginalisierung ureigenster Kernbereiche militärhistorischer Forschung wie etwa der Operationsgeschichte ist die Rede. Am Ende dieser Entwicklung sei womöglich eine „Militärgeschichte ohne Krieg“ zu befürchten.85 Widersprochen wird dabei auch dem Konzept einer „zivilistischen“86 Militärgeschichtsforschung als Kontrapunkt zur amtlichmilitärischen87. Selbst eingeschränkte Zugeständnisse an den applikatorischen und traditionspflegerischen Zugang zum Fach seitens der militärhistorischen Forschung rufen Skepsis hervor. Nichtsdestoweniger scheint das Bekenntnis zu Interdisziplinarität und zum Beschreiten neuer Wege eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Allerdings sind auch in diesem Zusammenhang gewissermaßen traditionell favorisierte „Naheverhältnisse“ zu einigen speziellen Forschungsbereichen beziehungsweise bevorzugten „Heimaten“ auszumachen. „Nach älterem Verständnis“ bilde Militärgeschichte, so Rolf-Dieter Müller, Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr in Potsdam und Professor für Militärgeschichte an der HU Berlin, überdies „eine Unterabteilung der politischen Geschichte“.88 Zum Kernbereich einer solcherart politisch verstandenen Militärgeschichte zählen „Fragen nach dem Primat der Politik, der Stellung des Militärs in Staat und Gesellschaft sowie das Spannungsfeld von Kriegführung und Außenpolitik“.89 Auch Probleme und Methoden der Sozial­ geschichte und Soziologie seien aufzugreifen  : „Dazu gehören Probleme der 85 Vgl. Rolf-Dieter Müller, Militärgeschichte, Köln – Weimar – Wien 2009, 21, und weiters Sönke Neitzel, Militärgeschichte ohne Krieg  ? Eine Standortbestimmung der deutschen Militärgeschichtsschreibung über das Zeitalter der Weltkriege, in  : Hans-Christoph Kraus/Thomas Nicklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, 287–308. Dazu z.B. Michael Hochedlinger  : „Der sozialgeschichtlich inspirierten ‚neuen Militärgeschichte‘ wird vielfach der nicht ganz unberechtigte Vorwurf gemacht, sie blende das eigentliche Kernthema jeder Beschäftigung mit Krieg und Militär, die Schlachten und Kriegszüge, aus. In jüngerer Zeit erfährt daher auch die klassische ‚Kriegsgeschichte‘ im neuen Gewand der ‚Operationsgeschichte‘ etwas mehr Beachtung.“ – Hochedlinger, Kleine Quellenkunde, 14 (wie Anm. 78). 86 Vgl. die Einschätzung von Manfried Rauchensteiner, wonach „die österreichische Militärgeschichte seit 1945 eine zivile, eine rein zivile Wissenschaft geworden ist“. – Rauchensteiner, Militärgeschichtsschreibung, 158 (wie Anm. 74). 87 Vgl. Gerd Krumeich, Sine ira et studio  ? Ansichten einer wissenschaftlichen Militärgeschichte, in  : Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hg.), Was ist Militärgeschichte  ?, Paderborn – München – Wien – Zürich 2000, 91–102. 88 Müller, Militärgeschichte, 19 (wie Anm. 83). 89 Ebd.

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Militarisierung von Gesellschaften, abweichendes Verhalten wie Desertionen, Disziplinierungs- und Mobilisierungsbemühungen, Rekrutierung, Auswirkungen des Militärs auf Lokal- und Regionalgeschichte usw., die in ihren historischen Dimensionen“ analysiert werden müssen.90 Doch ist zu fragen, wie sich eine veränderte beziehungsweise erweiterte militärhistorische Forschung auf das Selbstverständnis militärhistorischer Museen auswirkt. Letztere reagieren schließlich durchaus auf bestimmte Erwartungshaltungen, auf öffentliche Diskurse, wissenschaftliche Impulse und Anregungen. Fehlen diese, so ergeben sich auch nur wenige Anhaltspunkte, um Bestehendes durch Neues zu ersetzen. Ob und in welcher Weise die Anbindung des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien an das Landesverteidigungsministerium in diesem Zusammenhang innovative Entwicklungen begünstigt hat beziehungsweise begünstigt, sei dahingestellt. Budgetäre Aspekte und räumliche Vorgaben, die es vor allem in Hinblick auf die Möglichkeiten für die Umsetzung neuer Ausstellungskonzepte zu berücksichtigen gilt, geben ihrerseits Grenzen vor. Im Heeresgeschichtlichen Museum etwa steht neben den Räumen der Dauerausstellung eine lediglich bescheidene Fläche für Sonderausstellungen zur Verfügung.

Neue Wege „Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte“ das Heeresgeschichtliche Museum „ohne durchschlagenden Erfolg, durch eine objektzentrierte Ästhetisierung die anachronistische Aura eines unkritischen k. u. k. Ruhmestempels abzustreifen“.91 Heute charakterisiert das Ministerium für Landsverteidigung, dem das Haus als Dienststelle nachgeordnet ist, das Museum auf seiner Internetseite so  : „Im Heeresgeschichtlichen Museum verschmelzen Militär- und Kriegsgeschichte, Technik und Naturwissenschaft, Kunst und Architektur zu einem einzigartigen Ganzen. Der älteste Museumsbau Wiens zeigt die Geschichte der Habsburgermonarchie vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1918 und das Schicksal Österreichs nach dem Zerfall der Monarchie bis 1945. Dabei stehen die Rolle des Heeres und die militärische Vergangenheit auf hoher See im Vordergrund.“92 90 Ebd. 91 Hochedlinger, Kleine Quellenkunde, 3 (wie Anm. 78). 92 , (19.2.2010).

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Davon abgesehen wird die Frage, wie und ob „Krieg auszustellen“ sei, kontroversiell diskutiert. Die diesbezüglich vorhandene Skepsis leitet freilich insgesamt zur Frage von der Sinnhaftigkeit einer „ausgestellten Geschichte“ über. Im Dickicht historischer und museologischer Debatten über die adäquate Darstellung der Vergangenheit, über das Zielpublikum und seine Bedürfnisse oder über die Gefahren politischer Instrumentalisierung sowie verzerrender Kategorisierung der „museumsgerechten“ Geschichte bleiben die Probleme einer Visualisierung der Komplexität von Geschichte und Geschichtsbetrachtung ungelöst. Bezugnehmend auf die in der sogenannten „Roadmap“ zum viel diskutierten „Haus der Geschichte“ formulierte Zielrichtung, meinte etwa der Zeithistoriker Siegfried Mattl  : „In einem kontrollierten Pluralismus sollen historiografische Angebote zur Deutung aktueller Probleme gemacht werden. Was könnte man daran kritisieren  ? Nichts, wenn man der naiven Meinung ist, die Vergangenheit sei durch die wissenschaftlichen Spezialisten zu ordnen, mit Sinn auszustatten und ästhetisch konsumierbar zu machen.“93 Sinnfragen, meint auch der deutsche Medien- und Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz, lassen sich „nicht mit Informationen beantworten“. Er sieht die Zukunft der Museen vielmehr als Orte „des Staunens“, als „Innovationsmaschine[n], die immer wieder neue Kontexte für alte Dinge“ arrangieren.94 Ein Museum könne, gibt Manfried Rauchensteiner, der ehemalige Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien, seinerseits zu bedenken, „die Wirklichkeit nur unzulänglich wiedergeben […]. Es sind immer nur Ausschnitte aus einer Wirklichkeit, die zu sehen sind, und man würde sämtliche Welten und Zeiten benötigen oder auch nur jeweils dicke Bücher statt drei Zeilen Text, um ein einziges Objekt in seinem Zusammenhang zu erklären. Doch mit dem Augenblick, da man ein Museum betritt, schafft man sich seine Wirklichkeit selbst.“95 Von 1992 bis 2005 leitete Manfried Rauchensteiner das Heeresgeschichtliche Museum, der sich „1975 als Spezialist für die napoleonischen Kriege für 93 Vgl. dazu auch Siegfried Mattl/Albert Müller, Remix in History. Weitere Minima moralia zur Debatte um Häuser der Toleranz und Zeitgeschichte, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 13 (2002) 1, 132–137, und Ulrike Felt, Statt Aufklärung … zur Problematik spezifischer Formen der Wissenschaftspopularisierung, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 13 (2002) 1, 138–142. 94 Norbert Bolz, Das Happy End der Geschichte, in  : Rosemarie Beier, Geschichtskultur in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M. – New York 2000, 53–69, 68. 95 Manfried Rauchensteiner, Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien, in  : Hans-Martin Hinz (Hg.), Der Krieg und seine Museen, Frankfurt a.M. – New York 1997, 57–72, 65.

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Österreichische Geschichte“ habilitierte und zu den führenden Zeithistorikern des Landes zählt.96 Seiner Meinung nach ist es die Aufgabe jedes militärhistorischen Museums, sich „mit Gewaltsamkeit“ auseinanderzusetzen „und die Zusammenhänge zwischen Politik und Gewalt deutlich“ zu machen. Es gehe darum, so Rauchensteiner 2007, „die Militarisierung und zeitweilige Brutalisierung einer Gesellschaft zu zeigen und die Frage anzuschließen, ob und wie man darüber hinwegkommt“.97 1993 hat er unter anderem ein umfassendes und als Standardwerk zu bezeichnendes Buch über Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg vorgelegt, das sein Bekenntnis zu einer in die Allgemeingeschichte einzubindenden Militärgeschichte unterstreicht.98 In der ersten Phase seiner Direktion wurde unter anderem eine entsprechende Adaption der dem Ersten Weltkrieg vorbehaltenen Schau vorgenommen. Auf spezielle Raumtexte hat man verzichtet, die Erläuterungen zu den präsentierten Exponaten sind äußerst knapp. Kurzbeschreibungen, welche den historischen Hintergrund schildern und einen groben Überblick über die in der Ausstellung zu sehenden Objekte enthalten, liegen jedoch in Form von Handouts in mehreren Sprachen auf. „Für die Darstellung des Ersten Weltkriegs“, erklärt Rauchensteiner, „galt als grundsätzliche Erfordernis, dass damit der Abschluss der altösterreichischen Epoche möglichst eindrucksvoll deutlich werden sollte“.99 Bevor man die beiden dem Ersten Weltkrieg vorbehaltenen Säle betritt, sind der sogenannte Franz-Joseph-Saal und ein Raum zu passieren, der dem Attentat von Sarajevo gewidmet ist. Letzterer wird vor allem von einem Objekt beherrscht  : dem Automobil, in dem Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie am 28. Juni 1914 ermordet wurden. Die Aufmerksamkeit der Besucherin und des Besuchers wird des Weiteren auf eine Vitrine gelenkt, in der die am Tag des Attentats von Franz Ferdinand getragene und infolge der Schussverletzung blutbefleckte Uniform des Thronfolgers zu sehen ist. In der Vitrine aufgestellt ist außerdem jene Chaiselongue, auf der Franz Ferdinand starb. Rauchensteiner ließ im Zuge der Neugestaltung des Saales die dort in der Zwi-

96 Hochedlinger, Kleine Quellenkunde, 4 (wie Anm. 78). 97 Manfried Rauchensteiner, Das Haus der Geschichte  : Die Würfel sind wieder im Becher, in  : Gedenkdienst 2/2007 (, 19.1.2010). 98 Vgl. Manfried Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz –Wien - Köln 1993. 99 Manfried Rauchensteiner, Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien, in  : Hans-Martin Hinz (Hg.), Der Krieg und seine Museen, Frankfurt a.M. – New York 1997, 57–72, 68.

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schenkriegszeit angebrachten schwarzen Vorhänge entfernen und setzte damit der solcherart im Museum fortbestandenen „Staatstrauer“ ein Ende.100 Die in zwei weiteren Räumen folgende Ausstellung zum Ersten Weltkrieg wird gleichsam erwartungsgemäß dominiert von Uniformen, Waffen aller Art und Größe, darunter zahlreiche Geschütze und ein Doppeldecker-Flugzeug, sowie einigen Gemälden mit kriegsspezifischen Sujets. Fotografien werden nur wenige gezeigt.101 Jene Exponate, die den ereignisgeschichtlichen Hintergrund verdeutlichen, beziehen sich im Wesentlichen auf die verschiedenen Kriegsschauplätze, d. h. auf den Verlauf des Krieges an den verschiedenen Fronten. Besondere Aufmerksamkeit wird unter anderem den 12 Isonzoschlachten geschenkt. Im zweiten Saal sind es vor allem wuchtiges Kriegsgerät und Panzerkuppeln, die die Blicke der Besucherin und des Besuchers auf sich ziehen. Unterstrichen werden auf diese Weise die fortschreitende Technisierung und die Vernichtungskraft des „anonymen Massenkrieges“. Anhand einiger ausgewählter Objekte thematisiert werden außerdem die Situation im Hinterland sowie das Kriegsgefangenen-, Verwundeten- und Begräbniswesen. Entsprechende Verweise finden sich auch auf internationale Zusammenhänge, so etwa auf den Kriegseintritt der USA oder die Auswirkungen der russischen Revolutionen von 1917 auf den Kriegsverlauf. Vorhanden ist überdies ein Monitor, der einen Dokumentarfilm über den Ersten Weltkrieg zeigt. Die in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre erfolgte Gestaltung der Säle ist bis heute im Wesentlichen unverändert geblieben. Schon deshalb und freilich unter Berücksichtigung der vorhandenen räumlichen Kapazitäten ist nicht überraschend, dass einzelne Themen, die teilweise erst in den letzten Jahren in den Fokus wissenschaftlicher Forschung geraten sind, unterrepräsentiert sind oder fehlen (Desertion, Militärjustiz, Kriegsverbrechen, Frauen im Krieg, Kriegspropaganda usw.). Diesbezügliche Defizite werden zum Teil im Rahmen museums­ pädagogischer Angebote sowie in Form von Sonderausstellungen ausgeglichen. Eine fortwährende Adaption der Dauerausstellungen wird aus unterschiedlichen Gründen für nicht durchführbar oder aber auch für nicht sinnvoll erachtet.102 100 Ebd., 67. 101 Die Fotos „korrespondieren jedoch mit dem dritten Element dieses Bereichs, nämlich der künstlerischen Verarbeitung des Krieges. Die Qualität der Gemälde ist dabei herausragend, da eine Reihe der bedeutendsten Künstler Österreichs das Erlebnis des Krieges in großartiger und erschüttender Weise festgehalten haben. Das Gemälde von Albin Egger Lienz ‚Den Namenlosen‘ nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein.“ – Ebd., 68. 102 Vgl. das Interview mit Kurator Mag. Peter Enne in  : Manfred Kislinger/Christina Springer/ Dietmar Rust, Das Heeresgeschichtliche Museum (HGM). Darstellung österreichischer Ge-

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Saal „Erster Weltkrieg“ (Foto  : HGM)

Während die Präsentation von Objekten zur Geschichte des Ersten Weltkriegs gewissermaßen selbstverständlich in den Zuständigkeitsbereich eines Heeresgeschichtlichen Museums gehört, erscheint die Beschäftigung mit Österreichs Geschichte in der Zwischenkriegszeit nur bedingt in das Profil des Museums zu passen. Die 1998 eröffnete permanente Ausstellung unter dem Motto Republik und Diktatur  : Österreich 1918 bis 1945 entspricht jedoch einmal mehr der Überzeugung des damaligen Direktors, wonach Militärgeschichte als Teil der allgemeinen Geschichte zu verstehen sei. Als wissenschaftliche Berater fungierte daher auch eine Reihe von Historikern mit unterschiedlichen Spezialgebieten.103 Der Saal unterscheidet sich in seiner Architektur wesentlich von den übrigen, traditionell gestalteten Räumlichkeiten des Museums und wirkt verschichte und Identität, Seminararbeit, verfasst im Rahmen der im SoSe 2009 von Mag. Dr. Hannes Leidinger am Institut für Geschichte der Universität Wien abgehaltenen Lehrveranstaltung Zeitgeschichte als Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 20–22. 103 Genannt werden  : Univ.-Prof. Dr. Ernst Bruckmüller, Univ.-Prof. Dr. Ernst Hanisch, Univ.Prof. Dr. Lothar Höbelt und Dr. Wolfgang Maderthaner.

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gleichsweise nüchtern. Mangels entsprechender Hinweise im Raum selbst vermag sich das Konzept zur Präsentation einer Unzahl von Exponaten dem im Bereich der österreichischen Geschichte wenig Vorwissen mitbringenden Besucher kaum zu erschließen. Zur freien Entnahme vorhandene Saalzettel sowie die Texte des Audioguides vermögen jedoch Abhilfe zu schaffen. Die dem Konzept zufolge in zwölf Kapitel (für 1918–1938  : Das Parlament, Der Zug, Die Grenze, Die Barrikade, Die Wachhütte, Der Ballhausplatz  ; für 1938–1945  : Der Heldenplatz, Die Straße, Das Schlachtfeld, Das KZ, Die Stellung, Die Ruine) angeordneten Geschehnisse sind an bestimmte Vitrinengruppen gebunden. Deren Aufstellung wiederum vermittelt eher den Eindruck von Kontinuität als von historischen Brüchen, wobei in erster Linie der Chronologie als „Ordnungsmuster“ vertraut und auf Anleitungen zur Interpretation weitgehend verzichtet wird. Optisch scheinen bei alldem Uniformen, Uniformteile, Orden und Waffen vorzuherrschen, wobei eine Reihe von Gemälden – darunter die Porträts der Bundeskanzler und Bundespräsidenten der Zwischenkriegsjahre – der Dominanz dieser Objekte entgegenwirkt. Darüber hinaus besitzen einzelne Exponate, die mit besonders dramatischen Daten der österreichischen Geschichte in Verbindung stehen, an sich eine spezielle Aussagekraft mit suggestiver Wirkung. Dieser Befund mag auf das „Gewehr von Schattendorf “ ebenso zutreffen wie auf das Sterbesofa von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß. Die Darstellung des Zweiten Weltkriegs wird über weite Strecken durch das Zeigen militärischer Ausrüstungsgegenstände bestritten. Zentrales Objekt ist dabei das in der Saalmitte platzierte Leichtflugzeug „Fieseler Storch“. Ungeachtet dessen beziehen einige Exponate etwa auch Themen wie die Wiederherstellung der österreichischen Staatlichkeit (z. B. ein Faksimilie der „Moskauer Deklaration“) bis hin zur alliierten Militärverwaltung mit ein. Präsentiert werden überdies Exponate zu den Themen Widerstand, Konzentrationslager oder Zwangsarbeit. Auf künstlerischer Ebene nähert man sich außerdem den Schrecken der Kampfhandlungen. Hier ist auf eine in drei Vitrinen ausgestellte Objektgruppe mit Installationen von C. Stenvert zu verweisen, die den Titel Stalingrad oder die Rentabilitätsrechnung des Tyrannenmordes trägt. Ergänzt wird die Schau von zwei größeren halbrunden Nischen, in denen Dokumentarfilme zur österreichischen Geschichte von 1918–1938 und über den Zweiten Weltkrieg zu sehen sind. Die Objekte der Ausstellung Republik und Diktatur wirken wie Requisiten eines Stückes, dessen Text nicht vorgegeben ist. Der Schau ist ein gleichsam

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Die Last der Historie

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Saal „Republik und Diktatur“ (Foto  : HGM)

illustrativer Charakter zu attestieren, durch den die vielen problematischen Aspekte der österreichischen Zwischenkriegszeit bis zum „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland und die daraus sowie aus den folgenden Jahren bis Kriegsende abzuleitenden entsprechenden Schwerpunktsetzungen zugunsten eines chronologischen Faktennarrativs mit stets evidenten Querverbindungen zu militärhistorischen Aspekten tendenziell aufgelöst werden. Im Abschnitt, der dem Zweiten Weltkrieg gewidmet ist, treten Letztere freilich in den Vordergrund. Zahlreiche Sonderausstellungen greifen allerdings spezielle Detailfragen heraus und bieten sich als vertiefende Ergänzung an. Bei alldem sind freilich jene Stimmen zu berücksichtigen, die dem „Medium Ausstellung“ per se „seine vorgeblich narrative Unschuld“ absprechen  : Denn jede „Ausstellungserzählung, jede Darstellungsweise spiegelt gesellschaftliche Selbstkonzeptionen und wissenschaftliche Positionen wider – ob dies nun dominante Bilder und Erzählungen oder Versuche von ‚Gegenmodellen‘ zu herkömmlichen Präsentationen sind. Dabei sind Ausstellungen nicht lediglich Repräsentationen von Diskursen, sondern selbst Teil eines bedeutungskonstituierenden Prozesses, ohne jedoch in der Re-

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gel die Bedeutungen, die sie konstruieren, mitzureflektieren und als solche auszuweisen“.104 Republik und Diktatur ist die erste österreichische Dauerausstellung, die sich der Geschichte von 1918 bis 1945 umfassend angenommen und versucht hat, das Defizit einer musealen Aufbereitung österreichischer Zeitgeschichte auszugleichen. In Anbetracht jahrzehntelanger Ausklammerung dieses Teils der österreichischen Vergangenheit und einer vielfach erst in den Neunzigerjahren begonnenen tiefer gehenden Beschäftigung mit ihren „dunklen“ und „dunkelsten“ Kapiteln seitens der Geschichtswissenschaft, ist Republik und Diktatur bedeutende Wegmarke für eine populär aufbereitete Geschichtsbetrachtung, die so lange ohne Themen wie den Bürgerkrieg 1934, den „Ständestaat“ sowie den Nationalsozialismus und seine Verbrechen ausgekommen war. Die Frage nach Wahrnehmung und Beurteilung des mit der Ausstellung generierten „Geschichtskonstruktes“, seiner etwaigen Deutungsabsichten und offerierten Assoziationen zog und zieht unterschiedliche Antworten nach sich. Seit der Eröffnung der Schau im Herbst 1998 wurde, so Manfried Rauchensteiner, „nicht nur über Details des Gezeigten gesprochen und immer wieder auch erregt diskutiert. Noch vor drei Jahren“, schrieb er 2007, „lautete eine Empfehlung des Verteidigungsministeriums gänzlich unumwunden  : Der Saal soll wieder geschlossen werden. Sollen sich doch andere mit der Zeit des Nationalsozialismus abmühen.“105

104 Heidrun Zettelbauer, Das Identitätsbegehren nach musealer Repräsentation, in  : Martin Wassermair/Katharina Wegan (Hg.), rebranding images. Ein streitbares Lesebuch zur Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Österreich, Innsbruck – Wien – Bozen 2006, 147– 160, 151. 105 Rauchensteiner, Das Haus der Geschichte (wie Anm. 93).

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„Ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit und ­sonstige Bestrittenheit oder Unbestrittenheit“ Die (un)endliche Geschichte von Karl Renners Museum der Ersten und Zweiten Republik (1946–1998)

Ende April 2008 – nach einer etwa 10-jährigen Vorgeschichte – beschloss die Bundesregierung im Rahmen einer Ministerratssitzung, ein Museumsberatungsunternehmen mit der Detailplanung für ein „Haus der Geschichte Österreich“, in dem primär der Zeitraum von 1918 bis zur Gegenwart zu präsentieren sei, zu beauftragen. „Professionelle Museumsentwickler“ sollten sowohl potenzielle Standorte evaluieren als auch inhaltliche und museumsdidaktische Konzepte erstellen. Damit war die seit Jahren geführte Diskussion um die Errichtung eines Museums zur österreichischen Geschichte um eine weitere Facette reicher.1 Die Planungen und Diskussionen um ein derartiges Projekt sind allerdings nicht neu. Kein Geringerer als der erste Bundespräsident der Zweiten Republik, Dr. Karl Renner, plante bereits 1946 in der Hofburg, und zwar genau über den Räumlichkeiten der Präsidentschaftskanzlei im Leopoldinischen Trakt, Schauräume für ein Museum der Ersten und Zweiten Republik einrichten zu lassen. Obwohl die Geschichte dieser Einrichtung von der Initiative Renners im Jahre 1946 bis zumindest 1973 anhand von Aktenmaterial von einem damaligen Akteur, dem Sekretär der Kommission zur Errichtung Der Autor ist Mag. Gabriele Stöger, einer ehemaligen Mitarbeiterin des Kunsthistorischen Museums und des Museums Österreichischer Kultur in Eisenstadt, und Mag. Johannes Weiss, dem Archivar des Kunsthistorischen Museums, zu großem Dank verpflichtet  : Stöger erklärte sich bereit, ihre Unterlagen an das Archiv des Kunsthistorischen Museums abzugeben  ; Weiss inventarisierte diese Archivalien sehr kurzfristig und ermöglichte dem Verfasser so einen schnellen und unkomplizierten Zugang. 1 Richard Hufschmied, „Ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit und sonstige Bestrittenheit oder Unbestrittenheit“ – Dr. Karl Renner und die unendliche Geschichte eines Museums der Ersten und Zweiten Republik, in  : Oliver Rathkolb/Richard Hufschmied (Hg.), Mehrfach gewendet. Eine historisch-künstlerische Collage der Schlüsseljahre 1918/38/45/55 und 95. Begleitbroschüre zur gleichnamigen Schau am 26.10.2008 in der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei, 47.

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des Museums, Dr. Erwin M. Auer, grundlegend aufgearbeitet wurde, ist sie Fachkreisen wie auch einer breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt.2

I. 1946  : Renners „aphoristisches“ Museumskonzept – Themen und Inhalte Die Initiative zur Schaffung eines Museums zur Geschichte Österreichs ab 1918 ging von Bundespräsident Renner selbst aus. In einem Schreiben vom 11. November 1946 an Bundeskanzler Dipl.-Ing. Leopold Figl legte er seine Überlegungen zur Schaffung „historischer Schauräume in der Hofburg“ dar.3 Eingangs ging Renner auf die Übersiedlung der Präsidentschaftskanzlei im Jahre 1946 von der ehemaligen Geheimen Hofkanzlei, dem Palais Kaunitz und heutigen Bundeskanzleramt, in den Leopoldinischen Trakt der Hofburg ein. Renner persönlich hatte es als schmählich empfunden, dass das tschechoslowakische Staatsoberhaupt in der Prager und das ungarische in der Budapester Burg residierten, hingegen das „österreichische Staatsoberhaupt“ in dem durch Bombentreffer in Mitleidenschaft gezogenen Gebäude „schlechter behaust war, als die Direktion irgend einer halbwegs bedeutenden Aktiengesellschaft“.4 Er meinte, dass ein entsprechender Amtssitz auch ein Staatsgefühl ausdrücke, „und die Bürger des Staates werden immer geneigt sein, ihre Staatslenker nicht höher zu taxieren, als diese sich selbst einschätzen“. Des Weiteren ging der Bundespräsident in seinem Brief auf das zukünftige Museum ein, dass er in Räumen über der Präsidentschaftskanzlei anzusiedeln gedachte.5 Für Renner war klar, dass sich der zeitliche Bogen der Schau von 1918, der Gründung der Republik Deutsch-Österreich, bis zumindest 1945, dem Kriegsende und dem Entstehen der Zweiten Republik, spannen müsse  :6 2 Erwin M. Auer, Ein „Museum der Ersten und Zweiten Republik Österreichs“. Dr. Karl Renners Plan und erster Versuch, in  : Wiener Geschichtsblätter 38 (1983) 2, 53–80. 3 In den Akten scheint in der Anfangszeit des Museums oft die Bezeichnung „historische Schauräume in der Hofburg“ bzw. „beim Herrn Bundespräsidenten“ auf. 4 Eine Abschrift des Briefes findet sich in folgendem Akt  : Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA)/ Archiv der Republik (AdR), Bundesministerium für Unterricht (BMU), Kt. 30, Sammelmappe (SaMa) 193, Betreff  : Museum der Ersten und Zweiten Republik, Zl. 2687-II–6/1947, Renner an Figl, 11.11.1946. Im Folgenden wird dieser Bestand des Museums der Ersten und Zweiten Republik verkürzt zitiert als  : ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193. 5 Die Räume, die Renner im Auge hatte, wurden damals noch von der Polizei als Depot genutzt und sollten umgehend als Schauräume reserviert werden. 6 Renner formulierte dies in dem Brief vom 11.11.1946 zweimal wie folgt  : „Die geschicht­lichen

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„A) Ich denke zunächst an drei Säle  : den Saal der ersten Republik, den Saal der Katastrophe (Annexion, Weltkrieg) und den Saal der Wiedererhebung. In jeden der Säle sollen zunächst ein oder mehrere grössere Gemälde die markantesten Vorgänge festhalten. Für Saal I würde ich vorschlagen  : die Konstituierung (im n.ö. Landtagsaal) der provisorischen Nationalversammlung 1918  ; – der Bericht über St. Germain in der Nationalversammlung  ; – allenfalls die ergreifende Abschiedszene der übrigen Deutschen aus dem alten Österreich. Für Saal II  : in einem Grossraum sind Staatsbürger aller Klassen und Berufe versammelt und hören den Rundfunk  ; Bericht Schuschniggs vom Ende der Republik. (Tiefe Trauer, Empörung, abseits eine Gruppe typischer Verräter von damals)  ; Befreiung  : Am Quai Vormarsch befreundeter Truppen. Unterstützt von österreichischen Widerstandsgruppen. Jenseits des Kanals sieht man die weichenden SS-Truppen  ; Allenfalls das KZ-Mauthausen. Für Saal III  : Die Konstituierung der provisorischen Regierung in der Wenzgasse  ; – die Länderkonferenz, die den Zusammenschluß erklärt. Es ist hoch an der Zeit, für diese Aufgaben an namhafte Historienmaler Kunstaufträge zu vergeben, solange noch die Beteiligten leben oder Photos von ihnen zu haben sind. Das gilt insbesondere für die folgenden Aufgaben. B) Für Saal I und III sind Ölgemälde aller Staatspräsidenten und Staatskanzler – ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit und sonstige Bestrittenheit oder Unbestrittenheit anzubringen (jedes bescheidene Städtchen sorgt für das Gedenken ihrer Bürgermeister). – Die Parlamentspräsidenten werden im Nationalrat unterzubringen sein. Neben diesen lebensgrossen Bildern sind die hervorragendsten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Kopf- oder Brustbild zu zeigen. C) Im Saal II sollen der zweite Weltkrieg und die Zerstörungen, die er mit sich brachte, festgehalten werden, ferner alle bedeutenden öffentlichen Gebäude vor und nach dem erlittenen Schaden, Bilder zerstörter Städte, Bahnhöfe etc. Ferner die Bilder der alliierten Kommandanten und museale Gegenstände, die diesen Krieg betreffen. D) Im Saal der ersten Republik sollen Bilder und Diagramme der um die Wende der ersten Republik geleisteten Friedensarbeit untergebracht werden. Im Saal II soll ein Helden- und Opferbuch aufgelegt werden. Tatsachen der Begründung der ersten Republik, ihr tragisches Schicksal, die Schaffung der zweiten Republik sind für unser Land bedeutungsvolle Ereignisse, die für unsere Nachkommen festzuhalten sich geziemt.“ Und  : „Die zweimalige Neugründung unseres Staates wird für alle immerdar von dauernder Bedeutung und eine wertvolle Erinnerung sein.“

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Im Saal III werden Industrie, Handel, Gewerbe, Landwirtschaft, Bergbau, Wissenschaft und Kunst in Hinkunft das Denkwürdige der Zeit aus ihrem Tätigkeitsbericht auszustellen haben.“

Ob Renner sich bei seinen Ausführungen hatte beraten lassen, ist dem Brief nicht zu entnehmen. Es ist durchaus anzunehmen, dass er selbst und alleine der Schöpfer des ersten Konzeptes für das Museum war. In seinen Ausführungen wird man den ursprünglichen, im September 1919 aber durch die Alliierten und assoziierten Mächte in St-Germain verbotenen Namen der Ersten Republik „Deutsch-Österreich“ vergeblich suchen. Die für die Erste Republik – und wohl auch die Zweite – prägenden Ereignisse von 1927, die Toten von Schattendorf im Jänner, der Brand des Justizpalastes und die Opfer im Juli, sowie jene von 1934, nämlich der Bürgerkrieg im Februar, die Installation der ständestaatlichen Verfassung und damit das Ende der Demokratie im Mai, die Ermordung des Bundeskanzlers Dr. Engelbert Dollfuß und der nationalsozialistische Putschversuch im Juni, sollten offenbar nicht thematisiert werden. Die von Renner vorgesehene Ausstellung von Fotos kriegszerstörter Gebäude ist währenddessen wohl als Manifestation der so genannten Opferthese zu verstehen. Als Schaustücke sah Renner unter anderem Gemälde der Bundespräsidenten und -kanzler „ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit und sonstige Bestrittenheit und Unbestrittenheit“ vor – etwa die Darstellung von Schober, Dollfuß und Schuschnigg. Die Bilder sollten jedoch nicht nur an Personen, sondern auch an die „markantesten Vorgänge“ in der österreichischen Geschichte erinnern sowie – neben Politikern – die „hervorragendsten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ zeigen. Darüber hinaus dachte das Staatsoberhaupt an Fotos, Diagramme und Objekte zur Visualisierung der Themen und Inhalte. Auch sah er eine Einbindung der Bundesländer vor. Für die Gestaltung strebte Renner eine Lösung „im Stile unserer Zeit“ an. Renner selbst verstand seine Ausführungen als „aphoristisch“, die seiner Meinung nach von Fachleuten unter Zuziehung von Vertretern der Präsidentschaftskanzlei noch eingehender zu prüfen wären. Darüber hinaus hoffte er auf baldige Realisierung der ersten Schritte seiner Vorschläge.7

7 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 2687-II–6/1947, Renner an Figl, 11.11.1946.

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II. 1946–1969  : Die Entwicklung von Renners „Lieblingsschöpfung“ Bereits am 21. November 1946 befasste sich der Ministerrat mit dem Brief Renners, der von Bundeskanzler Figl der versammelten Ministerriege verlesen wurde. Figl verwies darauf, dass im Land Niederösterreich – im Gegensatz zur Gesamtrepublik – von jedem Landeshauptmann und Landtagspräsidenten ein Brustbild angefertigt werde. Er kritisierte das Fehlen eines entsprechenden Raumes mit den Bildern der Bundespräsidenten und begrüßte auch die beabsichtige Darstellung historischer Ereignisse. Insgesamt stufte er Renners Ausführungen als „sehr wertvoll“ ein. Die Kostenfrage, so Figl, werde allerdings entscheidend sein. Der Bundesminister für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, Dr. Peter Krauland, machte sich Sorgen um seine Beamten, die noch vor Kurzem „wie Küniglhasen“ beisammengesessen seien. Für Krauland galt es als wahrscheinlich, dass seinem Ressort Kanzleiflächen in der Hofburg für die Schaffung der Schauräume wieder entzogen würden. Die Idee Renners an sich befand er jedoch für gut und bemerkte, dass „in jedem Rathaus die Bürgermeister bildlich festgehalten sind.“ Hinsichtlich der Finanzierung hatte Vizekanzler Dr. Adolf Schärf einen Einfall  : Der Verkaufserlös einer zu schaffenden Wohltätigkeitsmarke solle dem Museum zugutekommen. Abschließend wurde Dr. Felix Hurdes, der Bundesminister für Unterricht, mit der Umsetzung der Pläne beauftragt.8 Im Ministerium bekam der Leiter der Sektion II, Sektionschef Dr. Edwin Zellwecker, die Aufgaben („Anträge an Künstler, Sicherstellung der Mittel usw.“) zugewiesen.9 Seine erste Handlung in dieser Angelegenheit bestand in der Bildung einer Kommission, „in der sowohl die in Betracht kommenden Zentralstellen und Ämter, mehrere Leiter von Wiener Museen und Kunsthochschulen wie auch die führenden Persönlichkeiten der Künstlervereinigungen vertreten sein sollen“.10 Der Bundespräsident wurde laufend über die Entwicklung der Arbeiten informiert. Er nahm die Einleitung der Vorarbeiten „mit lebhafter Befriedigung“ zur Kenntnis.11

  8 Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jerábek (Hg.), Protokolle des Ministerrates der Zweiten Republik, Kabinett Leopold Figl I, Bd. 4  : 21. November bis 11. Februar 1947, Wien 2006, 7.   9 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 42785-II–4/1946, Hurdes an Zellecker, 22.11.1946. 10 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 42785-II–4/1946, Schreiben an diverse Bundesdienststellen mit der Bitte um Nennung eines Vertreters für die Kommission, 3.1.1947. 11 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 42785-II–4/1946, Präsidentschaftskanzlei an BMU, 27.1.1947.

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Bereits am 4. April 1947 waren alle Mitglieder der „Kommission zur Schaffung historischer Schauräume in der Hofburg“ bestimmt.12 Diese wurden von Zellwecker zu einer ersten Besprechung für den 5. Mai 1947 in den Sitzungssaal des Bundesministeriums für Unterricht eingeladen.13 Zur ersten Besprechung war schließlich auch der Großteil der Herren erschienen. Lediglich Ministerialrat Dr. Karl Wisoko-Meytsky und Professor Karl Stemolak ließen sich entschuldigen. Sektionschef Dipl.-Ing. Rudolf Schober wurde durch Dipl.-Ing. Paul Neumann vertreten und Dr. Fritz Novotny von einem seiner Kollegen von der Österreichischen Galerie, Dozent Dr. Fritz Balke.14 Ein Vertreter des Bundeskanzleramtes, Sektionschef Dr. Chaloupka, der ursprünglich nicht vorgesehen war, gesellte sich ebenfalls zur Runde.15 Nach dem Verlesen des Briefes des Bundespräsidenten vom 11. November 1946 erläuterte Kabinettsdirektor Klastersky die in Frage kommenden Räume.16 Anschließend bildete 12 Es handelte sich dabei um folgende Männer unter dem Vorsitz von Edwin Zellwecker  : für die Präsidentschaftskanzlei Kabinettsdirektor Dr. Wilhelm Klastersky und Kabinettssekretär Dr. Roderich Walter  ; für das BM für Handel und Wiederaufbau Sektionschef Dipl.-Ing. Rudolf Schober  ; für das BM für Finanzen MR Dr. Friedrich Krieger  ; für das BM für Unterricht MR Dr. Karl Wisiko-Meytsky und MR Dr. Konrad Thomasberger  ; für die Burghauptmannschaft Burghauptmann Dipl.-Ing. Paul Neumann  ; daneben HR Dr. Alfred Stix, der Leitende Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen  ; HR Dr. August Löhr, der Direktor des Kunsthistorischen Museums  ; Dr. Otto Demus, der Leiter des Bundesdenkmalamtes  ; HR Dr. Richard Ernst, der Direktor des Staatlichen Kunstgewerbemuseums  ; Architekt Max Fellerer, der Direktor der Hochschule für angewandte Kunst  ; Professor Robin C. Andersen, der Rektor der Akademie der bildenden Künste  ; Dr. Fritz Novotny von der Österreichischen Galerie  ; Professor Karl Stemolak, der Präsident der Berufsvereinigung der bildenden Künstler Österreichs und der Secession  ; Professor Karl M. May, der Präsident des Künstlerhauses bzw. der Gesellschaft der bildenden Künstler Wiens. 13 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 1772-II–4/1947, Einladung von Dr. Zellecker zur ersten Kommissionssitzung vom 4.4.1947. 14 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 2687-II–6/1947, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Schaffung historischer Schauräume in der Hofburg am 5.5.1947 um 11 Uhr im kleinen Sitzungssaal des BMU. 15 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 2442-II–4/1947, BKA an BMU, 19.4.1947. 16 Folgende Räume im zweiten Stock des Leopoldinischen Traktes der Hofburg wurden in Betracht gezogen  : „ein kleiner Vorraum, daran anschliessend mit der Front gegen den Heldenplatz 3 grosse zweifenstrige Räume und 1 kleines Zimmer, mit der Front gegen den inneren Burghof 1 grosser Saal (Marmorsaal), 1 Kabinett und 1 grosser Raum.“ Die Installation von Heizkörpern und die Verglasung der Fenster waren zum Zeitpunkt der ersten Sitzung der Kommission bereits in die Wege geleitet. Vgl. ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 2687II–6/1947, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Schaffung historischer Schauräume in der Hofburg am 5.5.1947 um 11 Uhr im kleinen Sitzungssaal des BMU.

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die versammelte Runde nach Vorschlag des Vorsitzenden Zellwecker vier Unterkommissionen  : Kommission 1, Ausgestaltung der Räume  : Demus (Leiter), Klastersky, Ernst, Neumann und Fellerer  ; Kommission 2a, Inneneinrichtung/Bilder  : Stix (Leiter), Andersen, May, Stemolak, Wisiko-Meytsky und ein nicht genannter Vertreter der Österreichischen Galerie  ; Kommission 2b, Inneneinrichtung/museale Objekte  : Loehr (Leitung), Ernst, Demus, Thomasberger und ein nicht genannter Vertreter des Bundeskanzleramts  ; Kommission 3, Finanzielle Bedeckung  : Zellwecker (Leitung), Krieger, Neumann und abermals ein nicht genannter Vertreter des Bundeskanzleramts.17 Schließlich kam die Kommission zu dem Schluss, dass die von Renner gewünschte Einbindung der Länder so lange zu verschieben sei, bis das Museum in der Hofburg konkrete Formen angenommen habe. Die Herren begaben sich daraufhin vom Minoritenplatz in die Hofburg und besichtigten die Räume, was zu einem „zufriedenstellenden Ergebnis“ führte. Der Leiter des Bundesdenkmalamtes, Demus, stellte fest, dass der Marmorsaal aus denkmalpflegerischen Gründen nicht verändert werden dürfe, hingegen an den übrigen Räumen Veränderungen vorgenommen werden könnten, da es sich bei dem Wand-, Decken und Türenschmuck um eine Nachahmung aus dem 19. Jahrhundert handle.18 Ab nun tagten die Kommissionen in unregelmäßigen Abständen. Die Unterkommission 2a etwa am 9. Juni 1947. Dabei sagten die Präsidenten der Secession, Karl Stemolak, und des Künstlerhauses, Karl M. May, zu, „eine Liste von besonders geeigneten Künstlern“ für die Schaffung der Historienbilder und Porträts vorzulegen. Die Präsidentschaftskanzlei hatte offenbar die Aufgabe übernommen, die zu porträtierenden Personen sowie „wiederzugebende Szenen“ aus der Geschichte Österreichs zu nennen. Der Leiter der staatlichen Kunstsammlungen, Alfred Stix, bemerkte jedoch unmissverständlich, dass 17 Nach der Versendung des Protokolls monierte die Präsidentschaftskanzlei, dass bloß in die Unterkommission 1 ein Vertreter dieser Dienststelle berufen worden war und forderte einen Vertreter auch in den übrigen drei Unterkommissionen. Vgl. ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 23801-II–6/1947, Präsidentschaftskanzlei an BMU, 24.5.1947. 18 Ebd. Die Unterkommission 1 hielt diese Beurteilung in erweiterter Form schriftlich fest. So empfahl sie etwa, „die neubarocken Öfen zu bergen und anderweitig zu verwenden“. Vgl. ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 28524-II–6/1947, Schriftliche Äußerung der Kommission 1 für die Schaffung von Schauräumen im Leopoldinischen Trakt der Hofburg, 5.5.1947.

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„Historienbilder in naturalistischer Form […] von unserer modernen Kunst wohl nicht geschaffen werden, weil sie in absolutem Gegensatz zu ihr sind“.19 Auch die Finanzen wurden diskutiert und die kommenden unterschiedlichen Ausgaben verschiedenen Bedeckungskonten zugeordnet.20 Am 18. November 1947, etwas weniger als ein Jahr nach Renners Brief an Figl, trafen sich die Angehörigen aller drei Unterkommissionen zu ihrer zweiten gemeinsamen Sitzung.21 Eingangs referierte der Sitzungsvorsitzende, Dr. Konrad Thomasberger, kurz über die Finanzlage und Demus erläuterte die Raumsituation.22 Anschließend präsentierte der Leiter der Kommission 2a, Alfred Stix, den Stand der Dinge bei der „Herstellung neuer Kunstwerke“. Die Spezialisten hatten entschieden, einen Wettebewerb auszuschreiben, „da bekanntlich Historienmaler derzeit in Österreich kaum zu finden sind“. Man dachte primär an die Darstellung nachfolgend aufgelisteter Ereignisse  : „1.) Ausrufung der ersten Republik, 2.) Sitzung des Nationalrates bei der Beschlussfassung des Friedensvertrages von St. Germain. 3.) Konstituierung der provisorischen Staatsregierung im Jahre 1945.“ Diese sollten als großformatige Wandgemälde ausgeführt werden. Die Bilder und Plastiken der Bundespräsidenten und Bundeskanzler der Ersten und Zweiten Republik, einschließlich markanter Persönlichkeiten „wie Jodok Fink, Hauser, Dinghofer und Kunschak“, sollten hingegen als Porträts „normalen Formats“ gehalten werden. Einem Vorschlag von Demus folgend, wurde das Bundesdenkmalamt beauftragt, „eine Suchaktion nach vorhandenen geeigneten Bildern und Plastiken [zu starten], von denen einzelne eventuell auch kopiert oder von 19 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 28524-II–6/1947, Stix an Zellwecker, 10.6.1947. 20 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 29810-II–6/1947, BMF an BMU, 12.8.1947. Nach den Verhandlungen über den Bundesvoranschlag 1948 ergab sich folgende Situation  : Die Kosten der zu bestellenden Skizzen glaubte man bei „Kap. 13, Tit. 6 Kunstförderungsbeiträge“, die für innere Einrichtungen (Vitrinen usw.) bei „Kap. 13, Tit. 3 Musealwesen, a.o. Aufwand“, und jene für die anzukaufenden Museumsobjekte bei „Kap. 13, Tit. 3 Musealwesen, Post 23 Anschaffungen, Herstellungen und Ausgestaltungen der Sammlungen“ verrechnen zu können. Hinsichtlich der Kredite für die Instandsetzung der Schauräume wurde empfohlen, mit dem BM für Handel und Wiederaufbau ein Einvernehmen herzustellen. 21 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 67740-II–6/1947, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Schaffung historischer Schauräume in der Hofburg am 18.11.1947. 22 Anders als noch im Schreiben der Unterkommission 1, Ausgestaltung der Räume, vom 5.5.1947 trat hier Demus für einen Verbleib der Öfen in den Schauräumen ein („Die Oefen sind in dem früheren Zustand wieder herzustellen, […].“). Darüber hinaus sah er vor, dass die Wände aller Räume, ausgenommen der Marmorsaal, makuliert und anschließend mit beiger Farbe gestrichen werden.

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noch lebenden Künstlern noch einmal gemalt werden könnten“. Ähnlich dem Vorschlag des Vizekanzlers in der Ministerratssitzung am 21. November 1946 sprach sich nun May für die Ausgabe einer Briefmarke aus. Auch der Leiter der Unterkommission 3 „Musealobjekte“, Löhr, berichtete über konkrete Ergebnisse. Demnach sah man „Objekte persönlicher wie sachlicher Natur“ vor. Darunter verstanden die Spezialisten Bilder, Plastiken und Medaillen von Staatsmännern der Ersten und Zweiten Republik, wichtige Aktenstücke und Handschriften wie Briefe, Texte und Partituren der Bundeshymnen, Originale der Bundeswappen und Siegel, Münzen und Banknoten, Geldzeichen, Briefmarken, Orden und Ehrenzeichen, aber auch Publikationen bedeutender Persönlichkeiten. Falls kein Original zu bekommen sei, sollten gute Reproduktionen ausgestellt werden. Es wurde vereinbart, die Schaustücke bei der Nationalbibliothek, den verschiedenen Behörden und Institutionen durch Anfragen für das Museum sicherzustellen. Die definitive Auswahl unterlag der Unterkommission 3. Ein abschließender Vorschlag von Löhr, eine große Karte von Österreich („Vielleicht in Gobelin-Arbeit“) zu zeigen, fand allgemeinen Beifall.23 Im Großen und Ganzen beendeten die Unterkommissionen 1 („Ausgestaltung der Räume“) und 3 („Finanzielle Bedeckung“) mit dieser Sitzung ihre Arbeiten.24 Die Vorstellungen über die Bespielung der vorgesehenen Räume nahmen detaillierte Formen an. Konkret wurde man in einem Ansuchen an verschiedene Institutionen (Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Staatsarchiv des Inneren, Post- und Telegraphendirektion, Nationalbank, Hauptmünzamt und Österreichische Nationalbibliothek), die um Bereitstellung von Objekten bis Ende Februar 1948 gebeten wurden. Im Wesentlichen hielt man sich bei diesen Anfragen an die Vorgaben Löhrs.25 Die Antworten ließen nicht lange auf sich 23 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 67740-II–6/1947, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Schaffung historischer Schauräume in der Hofburg am 18.11.1947. 24 Auer, Museum, 56 (wie Anm. 2). 25 Nachfolgende Objekte wurden angefordert. „1.) Originale od. Nachbildungen der Bundesverfassung und der wichtigsten Staatsverträge  ; 2.) Originale od. Nachbildungen der Entwürfe für die Staatswappen  ; Originale od. Nachbildungen (Faksimilereproduktionen) der Dichtungen, Kompositionen und Originaldrucke der Bundeshymnen  ; 4.) Originalentwürfe der Drucke der verschiedenen Briefmarkenserien der 1.u.2.R.Oe. 5.) Originalentwürfe und Musterexemplare der einzelnen Banknoten, die in der 1.u.2.R.Oe. ausgegeben wurden, in Geltung standen, bzw. stehen. 6.) Die Münzen der 1.u.2.R.Oe. in Entwürfen und Musterstücken samt den dazugehörigen Prägestempeln. 7.) Porträts jener Staatsmänner (wie Bundespräsidenten, der Präsidenten der Nationalversammlung und jeweilige Regierungsmitglieder), die auf die Geschicke

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warten. Am detailreichsten fiel jene der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) aus, die genaue Informationen (Autograph des Textes und der Musik) über die drei Bundeshymnen der Republik lieferte.26 Einige Dienststellen wie die Oesterreichische Nationalbank und die Generaldirektion für die Post und Telegraphenverwaltung bedauerten, dass keine Originalentwürfe von Banknoten bzw. Briefmarken verliehen werden könnten, stellten jedoch weniger rare Objekte kooperationsbereit zur Verfügung.27 Die Idee Renners entwickelte sich und er selbst nahm daran regen Anteil. Auch besichtigte er mehrmals die baulichen Maßnahmen in den für das Museum vorgesehenen Räumen im zweiten Stock und ließ sich von seinem Kabinettsdirektor Klastersky über die Fortschritte berichten.28 Die dritte Sitzung der Kommission fand wiederum unter dem Vorsitz von Thomasberger am 8. April 1949 statt. Bei dieser Gelegenheit schien im Kopf des Protokolls zum ersten Mal die Bezeichnung „Museum der Ersten und Zweiten Republik“ auf.29 Primär wurde der Fortgang der Beschaffung von Museumsobjekten, vor allem von Gemälden, aber auch Büsten der Bundespräsidenten, Kanzler und Vizekanzler besprochen. Abschließend regte Thomasberger an, einen „jüngeren Musealbeamten“ zu beauftragen, die Beschlüsse der Kommission – im Einvernehmen mit der Präsidentschaftskanzlei und dem BMU – umzusetzen. Als geeignete Person für diese Funktion wurde der Kustos am Kunsthistorischen Museum, Dr. Erwin M. Auer, ausgewählt.30 Auer sagte nach kurzer Bedenkzeit zu, erbat aber die Abstellung einer Schreibkraft, die von der Präsidentschaftskanzlei bewilligt wurde. Darüber hinaus wurde Auer ein Raum zur Nutzung als Archiv und Büro zur Verfügung gestellt. In weiterer Folge wurden Kuverts und der 1.u.2.R.Oe. Einfluss genommen haben. 8.) Bücher, Broschüren und Zeitschriften sowie Zeitungsartikel solcher Staatsmänner.“ Vgl. ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 67740II–6/1947, Entwurf eines Ansuchens, undatiert. 26 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 11198-II–6/1948, ÖNB an BMU, 13.2.1948. 27 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 82101-II–6/1947, Österreichische Nationalbank an BMU, 22.12.1947. Ebd., Zl. 9186/1948, Generaldirektion für die Post und Telegraphenverwaltung an BMU (Abschrift), 20.1.1948. 28 Auer, Museum, 58 (wie Anm. 2). 29 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 21982-II/1947, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Schaffung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 8.4.1949. Für Auer liegt es nahe, dass die Umbenennung über Wunsch oder zumindest Zustimmung Renners erfolgte. Siehe hierzu  : Auer, Museum, Fn. 19 (wie Anm. 2). 30 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 21982-II/1947, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Schaffung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 8.4.1949.

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Schreibbögen mit der Aufschrift „Bundesministerium für Unterricht/Kommission zur Errichtung des Museums der Ersten und Zweiten Republik“ gedruckt. In einem ersten Gespräch mit Klastersky erfuhr Auer, dass Renner einem raschen Aufbau des Museums „besondere Bedeutung“ beimesse. Renner sah vor, so Klastersky, das Museum nicht nur für Staatsbesuche und Diplomaten, sondern wochentags auch für Schulklassen und an Sonn- und Feiertagen für Erwachsene zu öffnen. Anschließend besuchte Auer in Begleitung seiner neuen Schreibkraft die Museumsräume. Das Sekretariat nahm Mitte Juli 1949 seine Arbeit auf und die ersten Gemälde wurden im Archiv/Büroraum gesammelt.31 Im Rahmen der nächsten Sitzung am 3. Juni 1949, unter dem Vorsitz von Ministerialrat Dr. Wisiko-Meytsky, wurde Auer als künftiger Sekretär der Kommission vorgestellt und mit der Protokollführung beauftragt. Zu Beginn der Sitzung besuchten die Teilnehmer die Museumsräume und besichtigten die bereits vorhandenen Objekte. Das Hauptthema waren die anzufertigenden Gemälde von Politikern oder, wenn diese bereits existierten, deren Entlehnung für das Museum. Es wurde in Betracht gezogen, Gemälde, die nicht oder schwer zu bekommen waren, kopieren zu lassen, wie jenes des Bundeskanzlers Dr. Johannes Schober, dessen Porträt sich im Besitz seines Neffen befand. Auch grundlegende Fragen der Präsentation von Themen und Inhalten wurden besprochen. Die Diskussion, ob Landschaftsbilder in das Museum passen, endete mit dem Entschluss, „dass z. B. ein Bild der Großglocknerstrasse im Zusammenhang mit der Darstellung besonderer Leistungen der Republik sehr wohl gezeigt werden könne“. Thomasberger warf darüber hinaus die Frage auf, ob Karikaturen als Schauobjekte herangezogen werden sollten. Man verständigte sich darauf, dass wenige Auswahlexemplare – als Zeitdokumente verstanden – die Ausstellung durchaus beleben könnten. Klastersky brachte eine weitere Objektgattung ins Spiel  : „Plakate als Charakteristika einzelner Epochen.“ Im Hinblick auf die Wahrnehmung der Museumsgründung in der Öffentlichkeit und die Suche nach Ausstellungsmaterial schlug der Rektor der Akademie der bildenden Künste, Professor Ludwig Christian Martin, vor, mit Zeitungsanzeigen darauf aufmerksam zu machen. Auer wurde mit einem Entwurf beauftragt. Aus „politischen Gründen“ sollte dabei jegliche Nennung von Namen vermieden werden. Offenbar hatte man Sorge, dass die Erwähnung der einen oder anderen politischen Persönlichkeit eine Vereinnahmung oder eine Diffamierung der Museumsidee mit sich bringe.32 31 Auer, Museum, 60–61 (wie Anm. 2). 32 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, ohne Zl., Protokoll der Besprechung der Kommission

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In der darauffolgenden Sitzung am 25. November 1949 unter dem Vorsitz von Dr. Thomasberger wurden die Aufgaben des Kommissionssekretärs im Einzelnen festgelegt.33 Erwähnenswert ist eine Bemerkung Klasterskys, „dass es sich bei der Erstaufstellung des gegenständlichen Museums in den Räumen der Präsidentschaftskanzlei nur um einen Anfang, gleichsam eine Urzelle handeln könne, aus der sich im weiteren Zeitablaufe ein wesentlich grösseres Museum in anderen Räumen entwickeln werde. Diese grössere und fernere Gestaltung des Museums der Ersten und Zweiten Republik stünde zwar jetzt nicht zur Debatte, jedoch müsse in Zukunft auch dafür archivmässig Material gesammelt werden.“34 Demnach war also an eine Weiterführung und Ausweitung gedacht. Auer forderte dementsprechend in der Sitzung die Schaffung eines eigenen Archivs. Erneut sprachen die Teilnehmer über neu zu schaffende und bereits fertiggestellte Objekte, wie etwa das Gemälde des Künstlers Heinrich Krause von Altbundespräsident Miklas. Auch die Räume selbst kamen zur Sprache. Beleuchtungs- und Sicherheitsfragen konnten erfolgreich geregelt werden. Die ursprünglich geplante Gehrichtung der Besucherinnen und Besucher durch die Räume musste allerdings – aufgrund eines störenden Verlaufs der Heizungsrohre – geändert werden. In die Pult- und Tischvitrinenfrage war Bewegung gekommen. Rektor Fellerer von der Akademie für angewandte Kunst legte die von der Klasse Architekt Witzmann angefertigten Entwürfe vor, die auf Zustimmung stießen. Für den ersten Raum gab es bereits eine Bespielungsskizze. Neben drei Gemälden und einer Büste waren drei Vitrinen mit dem „Zerfall der Monarchie“, dem „Werden der Republik“ und mit „Staatspräsident Seitz“ vorgesehen. Bemerkenswert ist, dass der Untergang der Habsburgermonarchie, anders noch als in Renners Grundkonzept, nun Berücksichtigung gefunden hatte. Darüber hinaus war geplant, jeden Bundespräsidenten in einer eigenen Vitrine mittels „Akten im Originalen und Photokopien, Medaillen, Geldzeichen, Büchern, zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 3.6.1949. Die Anzeige konnte in den einschlägigen Presseerzeugnissen allerdings nicht gefunden werden. 33 Auers Tätigkeiten waren  : „a) Erledigung der Aufträge der Kommission, b) eigene wissenschaftliche Vorarbeiten, Sichten des in Frage kommenden Materials, c) Führung des Schriftwechsels, d) archivmäßige Verwaltung des gesammelten Ausstellungsmaterials[,] e) praktische Vorbereitung der Ausstellung und des Kataloges.“ 34 Auer gibt an, dass diese Ausführungen direkt auf Renner zurückgehen. Vgl. Auer, Museum, 62 (wie Anm. 2).

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Photographien und Bildstatistiken“ darzustellen. Konkret besprachen die Teilnehmer die Inhalte der Vitrinen von Seitz und Hainisch. Des Weiteren legte Auer das bereits gesammelte Material für die Vitrinen mit den Themen „Bundeshymne“, „Medaillen österreichischer Politiker“ und „österreichische Nobelpreisträger“ vor, die auf Zustimmung stießen.35 Es war vorgesehen, neben den Wissenschaftlern auch österreichische „Musiker, Dichter und Künstler der Ersten Republik“ zu berücksichtigen.36 Rund sieben Monate später, am 9. Juni 1950, fand die nächste Sitzung statt. Erfreulicherweise hatte das Bundesmobiliendepot zwei Stilluster zur Verfügung gestellt, die bereits im Marmorsaal und im zweitnächsten Raum installiert wurden. Die Mödlinger Bundesfachschule hatte Holzmuster für die Vitrinen vorgelegt, wobei die Wahl auf einen mittleren Braunton fiel, da er „sowohl in Stilräumen als auch in modernen Räumen gefällig wirke“. Natürlich befassten sich die Teilnehmer mit der Objektsituation. Unter anderem bemerkte der Vorsitzende, „dass aus der Reihe der Kanzlerbilder noch die des verstorbenen Bundeskanzlers Dr. Johannes Schober und des noch lebenden Dr. Ernst Streeruwitz fehlen“. Da keine Ölporträts der Kanzler Dr. Michael Mayr, Dr. Rudolf Ramek und Dr. Engelbert Dollfuß aufgefunden werden konnten, hatte man „Großphotographien“ dieser Persönlichkeiten beschafft. Abschließend wurde festgelegt, in der Folge einen kleineren Arbeitsausschuss einzuberufen, da zu den Sitzungen der Gesamtkommission nicht immer alle Vertreter erscheinen konnten. Abgeschlossen wurde die Sitzung mit einem Rundgang durch die Museumsräume.37 Die erste Besprechung des neu eingerichteten Arbeitsausschusses am 21. November 1951 unter dem Vorsitz des BMU-Sektionschefs Dr. Josef Musil

35 Der 1933 mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnete Dr. Erwin Schrödinger war um Objekte befragt worden und äußerte daraufhin Bedenken wegen seiner Berücksichtigung, die Klas­ tersky mit einem Schreiben zerstreuen wollte. In der nächsten Sitzung der Kommission am 9.6.1950 kam zur Sprache, dass Schrödinger seine Bedenken zurückgezogen hatte. 36 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 76463-II–6/1949, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 25.11.1949. 37 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 27796-II–6/1950, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 9.6.1950. Für den Arbeitsausschuss sah man folgende Teilnehmer vor  : MR Dr. Thomasberger (Vorsitzender, BMU), Kabinettsdirektor Klastersky (Österr. Präsidentschaftskanzlei), Oberstaatskonservator Dr. Hainisch (BDA), Kustos Dr. Auer (Vertreter der Museen) und ein nicht genannter Vertreter der Künstlervereinigungen.

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wurde mit dem Wunsch des Bundespräsidenten nach einem rascheren Fortgang der Arbeiten für das Museum eingeleitet. Die Vorarbeiten sollten bis zum Ende seiner Amtsperiode im Dezember 1951 so weit gediehen sein, „dass die Fülle des gesammelten Materials den Bestand des Museums für die Zukunft sichere“. Etwas mehr als einen Monat später, nachdem die Botschaft Renners in der Sitzung kundgetan worden war, am 31. Dezember 1950, verstarb das Staatsoberhaupt unerwartet.38 Dr. Karl Renner, der das Museum der Ersten und Zweiten Republik als seine „Lieblingsschöpfung“ bezeichnet hatte, war zum Zeitpunkt der nächsten Sitzung des Arbeitsausschusses am 13. Februar 1951 unter dem Vorsitz Dr. Nikolaus Frceks vom BMU schon nicht mehr unter den Lebenden.39 Bundeskanzler Leopold Figl, der nach Renners Tod verfassungsgemäß die Funktion des Bundespräsidenten ausübte, war bereits von Klastersky über den Stand der Dinge informiert worden. Figl hatte ihm gegenüber erklärt, „dass die Arbeiten an diesem Museum in den Intentionen des verstorbenen Bundespräsidenten und in gleicher Intensität weiterzuführen“ wären. Figl vertrat den Standpunkt, dass auch der Bund – gleich den Ländern und Gemeinden – über eine „repräsentative Erinnerungsstätte“ verfügen sollte. Richtungweisend für die zukünftigen Arbeiten war jedoch vor allem der in dieser Sitzung von Klastersky geäußerte Wunsch, bis Ende Mai bzw. Anfang Juni 1951 einen Raum des Museums vollständig einzurichten. Dem bis dahin gewählten neuen Bundespräsidenten könne dann das fertige Zimmer gezeigt werden. Voraussetzung dafür war die rechtzeitige Fertigstellung der beiden noch fehlenden Vitrinen sowie des Sockels zur Büste des Präsidenten Hauser, gefertigt von der Bundesgewerbeschule in Mödling. Auch Frau Seitz müsse die vorgesehenen Schaustücke für die Vitrine des Altbürgermeisters Seitz übergeben. Schließlich wäre noch Professor Baszel mit den Beschriftungen und der Gestaltung der Schauräume zu betrauen.40 Die nächste Sitzung am 12. April 1951 unter dem Vorsitz Nikolaus Frceks wurde primär dafür genutzt, die Fortschritte hinsichtlich der Ausstattung der Museumsräumlichkeiten zu besprechen, um den ersten Raum des Museums

38 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 75625-II–6/1950, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 21.11.1950. 39 Auer, Museum, 65 (wie Anm. 2). 40 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 8520-II–6/1951, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 13.2.1951.

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Museum der Ersten und Zweiten Republik, Raum I  : auf der rechten Seite das Gemälde von Max Frey, Ausrufung der 1. Republik am 30. Oktober 1918 vom Balkon des Landhauses in Wien, darunter die Vitrine 1. Links von der Tür das Gemälde von Ludwig Wieden, Karl Seitz, darunter die Vitrine 2. Links davon das Bild von Rudolf Konopa, Ausrufung der Republik vor dem ­Parlament (Foto  : Österreichische Präsidentschaftskanzlei)

zum angesetzten Termin fertigstellen zu können. Der Kommissionssekretär wurde beauftragt, das eingelangte Anbot des Malers Professor Baszel, der sich für die Ausstellungsarchitektur und -grafik beworben hatte, gemeinsam mit dem Präsidenten May zu prüfen.41 Auer legte in dieser Sitzung den vollständig ausgearbeiteten Entwurf samt allen Beschriftungen für den ersten Museumsraum vor, der einstimmig genehmigt wurde. Demnach sah die Bespielung des Raumes I wie folgt aus  : Unter dem Gemälde Die Ausrufung der 1. Republik am 30. Oktober 1918 vom Balkon des Landhauses in Wien von Max Frey war die Vitrine „Zerfall der Monarchie“ vorgesehen. Der Text in der Vitrine lau41 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 19323-II–6/1951, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 12.4.1951. Die Bedeckung des veranschlagten Honorars für Baszel beantragte Auer am 18.4.1951, das BMU bewilligte es am 24.4.1951. Siehe den Schriftverkehr hierzu  : ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 19864-II–6/1951.

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tete  : „Die Völker der österreichisch-ungarischen Monarchie schufen sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1918 eigene Vertretungskörper als Grundlage selbstständiger Staatenbildung.“ Fünf Telegrammstreifen mit Hinweisen zur Gründung der Nachfolgestaaten visualisierten diese Ereignisse.42 Ein Flachrelief der österreichisch-ungarischen Monarchie zeigte die wirtschaftlichen Gegebenheiten und die Nachfolgestaaten. Eine Kopie der Abdankungsurkunde Kaiser Karls war ebenfalls für diesen Schaukasten vorgesehen. 43 Das Porträt Karl Seitz’ von Ludwig Wieden stimmte auf die darunterliegende Vitrine ein, in der Schaustücke zum Werdegang und den Leistungen von Karl Seitz als Wiener Bürgermeister zu sehen sein sollten. Bei diesen handelte es sich um Fotos der Eltern und des Wiener Waisenhauses, in dem Seitz erzogen worden war. Des Weiteren wollte man ein Titelblatt des Programms der Jungen,44 eine Kopie der Verständigung der niederösterreichschen Statthalterei, dass Seitz zum Reichstagsabgeordneten gewählt worden war, sowie die Österreichische Verfassung von 1919 mit dem hervorgehobenen Paragraphen 8 ausstellen.45 Ein weiteres dazugehörendes Objekt war der Vitrine II zugeordnet  : ein Flachplan von Wien, auf dem die unter Seitz errichteten Wohnhausbauten, Bäder und Sportplätze eingezeichnet waren. An frei stehenden bzw. hängenden Objekten sind noch zwei Porträts (Dr. Franz Dinghofer von Hans Striegl und Dr. Karl Renner von Leo Perlberger), ein Aquarell (Ausrufung der Republik vor dem Parlament von Rudolf Konopa) und eine Büste (Johann Nepomuk Hauser 42 Die Texte der fünf Telegrammstreifen lauteten  : 1  : „Paris, 26. Oktober 1918. Der Tschecho­ slovakische Nationalrat proklamierte die Errichtung eines selbstständigen tschecho-slovakischen Staates.“ 2  : „Lemberg, 19. Oktober 1918  : In einer gestern hier abgehaltenen Versammlung fand die Konstituierung des ukrainischen Nationalrates statt.“ 3  : „Wien, 21. Oktober 1918. Im niederösterreichischen Landhaus zu Wien fand die konstituierende Sitzung der provisorischen Nationalversammlung Deutsch-Österreichs statt.“ 4  : „Prag, 28. Oktober 1918. Die tschecho-slovakische Republik wurde heute ausgerufen.“ 5  : „Agram, 29. Oktober 1918. In der heutigen Sitzung des Sabor konstituierte sich der kroatische Nationalrat der Slovenen, Kroaten und Serben als jugoslavisches Parlament.“ 5  : „Budapest, 16. November 1918. Unter Führung des Grafen Károly wurde die ungarische Republik ausgerufen.“ 43 Kaiser Karl I. trat genaugenommen nicht zurück, sondern verzichtete lediglich auf die Teilnahme an den Regierungsgeschäften. 44 Das Programm der Jungen war eine grundlegende Idee für ein Schulprogramm, die Seitz 1898 als Publikation vorlegte. 45 Dabei handelte es sich um eine Bestimmung, dass der erste Präsident des Nationalrates zugleich auch die Funktion eines Staatspräsidenten ausüben konnte, was Seitz – gemeinsam mit dem zweiten (Prälat Johann Hauser) und dritten (Franz Dinghofer) Präsidenten des Nationalrates – vom 30.10.1918 bis 14.3.1919 tat.

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von Franz S. Förster) zu nennen. Unter dem Gemälde von Perlberger war die Aufstellung der Vitrine III („Die ersten Hoheitsäusserungen der jungen Republik“) vorgesehen  : mit Kopien der ersten und letzten Seite des Waffenstillstandsvertrages vom 3. November 1918 und des Staatsprotokolls vom 31. Oktober 1918 (Antrag des Abgeordneten Wilhelm Miklas, als Staatsfarben Rot-Weiß-Rot festzusetzen), einer Staatsfarbenflagge in Stoff, Holz oder Keramik, dem österreichischen Staatswappen aus dem Jahre 1919 in Holz, Keramik oder Kupfer, dem Notenblatt der ersten Hymne samt Autograph des Textes, verfasst von Renner im Jahre 1919, und der Demobilisierungsanordnung vom 18. November 1918.46 Erfreulicherweise konnten die Arbeiten termingerecht abgeschlossen werden. Der Entwurf von Auer wurde bis auf wenige kleine Änderungen übernommen. Die Teilnehmer der Sitzung des Arbeitsausschusses am 7. Juni 1951 unter dem Vorsitz von Frcek urteilten schließlich im Rahmen einer Besichtigung des „als Musterbeispiel endgültig fertiggestellten“ Raumes I positiv  : „Nach einhelligem Urteil wurde der Typus des an sich neuartigen historischen Gegenwartsmuseums ideenmässig und volksbildnerisch als gelungen bezeichnet. Auch die einfache und gerade deshalb würdig wirkende formale Gestaltung, die sich mit modernen Objekten und Ausstellungsbehelfen den historischen Räu­men unauffällig einfügt, fand volle Billigung. Der Kommissionssekretär wurde beauftragt, Prof. Baszel für die gelungene formale und termingerechte Gestaltung des Raumes den Dank der Kommission zu übermitteln.“47

Mit der Fertigstellung des Raumes I war die Idee Renners zumindest teilweise realisiert worden. Engagiert trieben vor allem Kabinettsdirektor Wilhelm Klastersky und Kommissionssekretär Auer die Arbeiten weiter voran. Das neue Staatsoberhaupt, Bundespräsident Dr. h. c. Theodor Körner, hatte zumindest bis zum 18. Oktober 1951 aufgrund seines großen Arbeitspensums keine Zeit gefunden, das Museum zu besichtigen, so Klastersky in der Besprechung des Arbeits-

46 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 22-KMR (Kommission zur Errichtung des Museums der Ersten und Zweiten Republik)/1951, Auer an Frcek, 4.4.1951. Dem Brief liegt der Entwurf einer Objektliste samt allen Beschriftungen von Auer bei. 47 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 29116-II–6/1951, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 7.6.1951.

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ausschusses am selben Tag, erneut unter dem Vorsitz von Frcek. Körner unterstützte aber das Projekt und erteilte den Auftrag, „die Arbeit in gleicher Art und Weise wie bisher weiterzuführen“.48 Der Kabinettsdirektor berichtete über ein erstes Leihansuchen der Österreichischen Liga der Vereinten Nationen, die für die Ausstellung Die Vereinten Nationen und Österreich, vom 23. Oktober bis 4. November 1951 im Museum für angewandte Kunst, Gustinus Ambrosis Büste Karl Renners erbeten hatte. Dem Leihantrag wurde zugestimmt. Neben der konkreten Objektbeschaffung kam auch zur Sprache, dass die Fertigstellung der drei weiteren Räume ins Auge zu fassen wäre.49 Aus dem Jahre 1951 stammt eine grobe Themenaufteilung aller Museumsräume samt konkreten Objekten  : „Vorraum (Warteraum und Garderobe). Raum I  : ‚Errichtung der Ersten Republik‘  ; bereits bis auf das Porträt Dr. Sylvesters fertiggestellt. – Raum II  : ‚1919 bis 1927‘  ; Landesbeiträge Kärnten und Niederösterreich  ; vier Vitrinen  ; Porträts  : Adler, Bauer Fink, Hanusch, Mayr, Reumann, Tandler. – Raum III  : ‚1927 bis 1931‘  ; Landesbeiträge Burgenland, Oberösterreich und Steiermark  ; Präsidentenvitrine Dr. Hainisch  ; fünf weitere Vitrinen  ; Porträts  : Buchinger, Buresch, Frank, Hainisch, Ramek, Schober, Seipel. – Raum IV  : ‚1931 bis 1934‘  ; Landesbeiträge Salzburg und Tirol  ; Präsidentenvitrine Miklas  ; drei weitere Vitrinen  ; Porträts  : Breisky, Ender, Miklas, Rehrl (Büste), Schürff, Streeruwitz, Vaugoin. – Raum V  : ‚1934 bis 1938‘  ; Landesbeiträge Vorarlberg und Wien  ; drei Vitrinen  ; Porträts  : Dollfuß, Fey, Hülgerth, Kunschak, Schlegel, Schmitz, Starhemberg. – Raum VI  : ‚Das Ende der Ersten Republik und die Folgen‘  ; vier Vitrinen  ; Porträt  : Schuschnigg  ; vier Großphotos. Marmorsaal (VII)  : ‚Entstehen der Zweiten Republik‘  ; Renner-Büste, zwei flache Doppelvitrinen.“50

Bedauerlicherweise sind keine Bereichs- oder Objektbeschriftungen für die Räume II bis VII überliefert, da wohl so weit nicht vorgearbeitet worden war. Denn just in der Darstellung der Zeit von 1934–1938 oder auch jener von

48 Im Programmentwurf für die Gesamtkommissionssitzung am 5.5. ist vermerkt, der „Bundespräsident Dr. Theodor Körner hat Musterraum besichtigt“. Siehe hierzu  : ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 91564-II–6/1952, Einladung zur Kommissionsbesprechung am 5.12.1952. 49 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 71444-II–6/1951, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 18.10.1951. 50 Auer, Museum, 68 (wie Anm. 2).

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Gustinus Ambrosi, Karl Renner, Bronze (Foto  : Heeresgeschichtliches Museum)

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Personen wie Dollfuß, Fey, Starhemberg und Schuschnigg lägen spannende Aspekte. In der sechsten Arbeitssitzung unter dem Vorsitzenden Dr. Nikolaus Frcek am 25. Februar 1952 spielte neben der fast schon zur Routine gewordenen Beschaffungssituation von Objekten auch die Finanzierung für das Jahr 1952 eine Rolle. Frcek bedauerte, mitteilen zu müssen, dass statt der beantragten 60.000 lediglich 40.000 Schilling bewilligt worden seien. Auer wies darauf hin, dass mit dieser Summe kaum das vorgesehene Ziel, nämlich die Fertigstellung dreier weiterer Räume, erreicht werden könne. Aber immerhin legte Auer die erste Grundbeschreibung für das Inventar des Museums der Ersten und Zweiten Republik vor.51 Bei der nächsten Sitzung am 28. Mai 1952 präsentierte Auer das in mehr als 50 Stunden fertiggestellte vollständige Inventar.52 Eine beim Weiterausbau entstandene Verzögerung argumentierte er mit dem Umzug der Bundesgewerbeschule Mödling, die die erste Tranche der Vitrinen hergestellt hatte.53 Am 5. Dezember 1952 tagte nach rund zweieinhalb Jahren erstmals wieder die Gesamtkommission. Der Vorsitzende war Frcek vom Bundesministerium für Unterricht. Die Zusammenkunft wurde mit einer Besichtigung der bautechnisch fast vollendeten Räume begonnen. Die Anwesenden beurteilten die durch den Architekten Stiel von der Akademie für angewandte Kunst entworfenen Vitrinen und Sockel als „formschön und museal brauchbar“. Die Kommission begutachtete daraufhin die bis dahin gesammelten Büsten und Bilder und ließ sich von Auer durch den ersten fertig gestellten Raum füh51 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 41908-II–6/1952, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 25.2.1952. 52 Das Inventar des Museums war gegliedert in die Schaugegenstände, Fotografien und Archivalien (PA), die Ausstellungsbehelfe wie etwa Vitrinen, Sockel, Bilderrahmen (AB) und die Leihgaben (DP). Diese wichtige Bestandsdokumentation wurde, laut Auer, „laufend weitergeführt“. Siehe hierzu  : Auer, Museum, 70 (wie Anm. 2). Im Kunsthistorischen Museum (KHM)/Archiv, Bestand II 455, sind zwei unterschiedliche Listen vorhanden. In diesen sind die Objekte auch in die Aufteilung Auers (PA, AB, DP) gegliedert. Die ältere Ausfertigung, die zahlreiche handschriftliche Vermerke aufweist, könnte die von Auer angelegte sein. Die zweifellos jüngere Liste wurde für die Übernahme durch das Heeresgeschichtliche Museum herangezogen. In diesem Inventar sind auch 27 Objekte ohne Inventarnummer angeführt. Die Inventare sind nicht mit dem Protokollbuch (KHM/Archiv, Bestand XX 203), einem Ein- und Ausgangsbuch, zu verwechseln. Die Erfassung des Verbleibs aller Objekte ist ausständig. 53 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 59766-II–6/1952, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 28.5.1952.

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ren. Frcek informierte die Anwesenden über die Fortschritte der Museumsarbeit seit der letzten Gesamtkommissionssitzung Mitte 1950 und unterstrich die Leistungen des Arbeitsausschusses. Klastersky berichtete als Vertreter der Präsidentschaftskanzlei kurz über die Intention des Museums und seine Entwicklung. Er gab an, dass er in absehbarer Zeit aus dem aktiven Dienst scheiden werde und dankte allen Mitgliedern der Kommission für die Unterstützung bei der Verwirklichung der Idee Bundespräsident Renners. Frcek lobte Klastersky anschließend für seine unermüdliche Arbeit, die für ihn wohl mehr „eine Herzensangelegenheit“ als ein dienstlicher Auftrag gewesen sei. Auer hoffte, die Eröffnung des Museums im Jahre 1954 durchführen zu können. Dr. Ignaz Schlosser von der Österreichischen Galerie bemerkte, dass das Museum „einen zu ‚flächigen‘ Eindruck machen werde, wenn man an die Bilder und den geplanten Vitrineninhalt denke“, und schlug daher eine vermehrte Ausstellung von Büsten und plastischen Gegenständen vor. Auch die Frage nach dem künftigen Träger des Museums wurde aufgeworfen, die noch Jahrzehnte später bei den Nachfolgeprojekten diskutiert werden sollte. Eine Antwort darauf wollte man bis zur nächsten Sitzung finden.54 Im Protokoll der nächsten Sitzung des Arbeitsausschusses am 23. April 1953 unter dem Vorsitz von Frcek findet sich darauf allerdings kein Hinweis. Es war die letzte Sitzung, an der Klastersky als aktiver Beamter teilnahm. Er teilte mit, dass er dem Museum weiterhin gerne beratend zur Verfügung stehe. Darüber hinaus berichtete er über den Erwerb der Dollfuß-Totenmaske, die über das Innenministerium von der Bundespolizeidirektion übernommen worden war. Er mahnte zur Einhaltung des Grundsatzes, „den Dr. Renner über die überparteiliche Führung des Museums aufgestellt habe“. Sein Nachfolger als Kabinettsdirektor in der Präsidentschaftskanzlei, Sektionschef Dr. Alexander Toldt, der anwesend war, versprach, dass er seine Kräfte gerne in den Dienst des Vermächtnisses von Renner stellen werde. Frcek würdigte nochmals die herausragenden Leistungen Klasterskys und dankte ihm für die Widmung seines Porträts von May. 1953, so Frcek, stünden dem Museum erneut öS 40.000 zur Verfügung.55

54 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 95819-II–6/1952, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 5.12.1952. 55 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 44179-II–6/1953, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 23.4.1953.

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Die für 24. November 1953 einberufene Sitzung des Arbeitsausschusses sollte die letzte sein. Der Vorsitzende Dr. Nikolaus Frcek stellte zur Diskussion, ob nicht auch Persönlichkeiten der Zweiten Republik mittels Gemälden und Büsten darzustellen wären und verwies auf Bundespräsident Körner sowie die Bundeskanzler Figl und Raab und Vizekanzler Schärf. Dem Vorschlag wurde zugestimmt und als erstes Porträt das von Körner in „Aussicht genommen“. Klastersky, der als Pensionist teilnahm, gab zu bedenken, dass aber auch für Persönlichkeiten der Ersten Republik Porträts oder Büsten fehlten. Er nannte die Staatssekretäre Ferdinand Hanusch und Dr. Otto Bauer, den Landeshauptmann von Tirol Dr. Franz Stumpf, den mehrmaligen Minister Dr. Richard Schmitz, den Minister Dr. Viktor Kienböck und den Kärntner Landeshauptmann Ludwig Hülgerth. Man vereinbarte, die Porträts von Bauer und Hanusch noch 1953 in Auftrag zu geben. Erneut besuchte man die Museumsräume und inspizierte die bereits vorhandenen Objekte.56 Der Kommissionssekretär beschäftigte sich weiterhin mit der Erweiterung der Sammlungen, doch die energische Unterstützung seitens des BMU erlahmte zur Gänze, als Frcek die Sektion „Volkserziehung“ im Ministerium übernahm. Sein Nachfolger, Ministerialsekretär Dr. Erwin Thalhammer, brachte dem Republikmuseum zwar Sympathie entgegen, konnte sich allerdings nicht wie seine Vorgänger Thomasberger und Frcek durchsetzen. Mit dem Tod von Bundespräsident Körner verlor das Museum einen weiteren potenten Unterstützer. Sein Nachfolger, Dr. Adolf Schärf, erklärte nach einer Besichtigung der Ausstellungsräume, er sei von dieser „Sammlung politischer Porträts nicht eingenommen.“ Daraufhin entspann sich zwischen den Vertretern der Präsidentschaftskanzlei eine Diskussion, wer der Träger sei. Diese Frage konnte erneut nicht geklärt werden. Auer sollte an den bisher gefassten Beschlüssen der Kommission weiterarbeiten. Es wurde ihm aber klargemacht, dass er zu sparen hätte. Weitere Sitzungen kamen aufgrund der Ablehnung der „zuständigen Stellen“ nicht zustande.57 Als letztes Objekt wurde im Jahre 1960 die Totenmaske der Dichterin und Schöpferin des Textes der Österreichischen Bundeshymne, Paula von Preradovic, der Sammlung mit der Inventarnummer 43 einverleibt. 58 Im Sommer 56 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 85525-II–6/1953, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 24.11.1953. 57 Auer, Museum, 74–76 (wie Anm. 2). 58 Auer, Museum, 76 (wie Anm. 2).

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1968 wurden die Theodor-Körner-Büste von Ambrosi sowie zwei unterschiedliche Klassen des Kärntner Kreuzes für die Sonderausstellung Geschichte der österreichischen Streitkräfte in den vergangenen 50 Jahren an das Heeresgeschichtliche Museum (HGM) verliehen.59 Damals dachte wohl niemand daran, dass wesentliche Teile des Republikmuseums kurz vor der Jahrtausendwende im HGM ein neues zu Hause finden sollten. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1971 kümmerte sich Oberoffizial Maria Bruckner, die dem Kommissionssekretär als Schreibkraft zugeteilt gewesen war, um die regelmäßige Lüftung der Räume sowie um eine jährliche Reinigung.60

III. Exkurs  : Objektbeschaffungen Die Beschaffung der Objekte verlief höchst unterschiedlich. Zahlreiche Gegenstände fanden als Widmungen Eingang in die Sammlung. Renner selbst stellte kurz vor seinem Tod zwei Gemälde als Dauerleihgabe zur Verfügung. Es handelte sich hierbei um Renners Porträt aus dem Jahre 1919 sowie ein Bild Dr. Viktor Adlers.61 Nach Renners Ableben wurde die beiden Dauerleihgaben, gemäß seiner Verfügung, dem Museum gewidmet.62 Auch die Zeichnung des Kabinettsdirektors Klastersky durch den Präsidenten May kam als Schenkung in den Bestand des Museums. Damit sollte „für die kommenden Generationen das Bild eines treuen und aufrechten Beamten“ bewahrt werden.63 Die Suche nach einem Porträt des Bundeskanzlers Dr. Engelbert Dollfuß gestaltete sich schwierig, da angenommen wurde, dass die im Staatsbesitz befindlichen Dollfuß-Bilder und -Büsten „während der Gewaltherrschaft zwischen 1938 und 1945“ vernichtet worden waren. Ein Gemälde in Privatbesitz wurde schließlich ausfindig gemacht. Da der Künstler Tom Dreger bereits 59 Siehe hierzu den Schriftverkehr zwischen dem Direktor des HGM, HR Dr. Johann AllmayerBeck, und dem Kommissionssekretär des Museums der 1. und 2. Republik, Dr. Erwin M. Auer, in  : KHM/Archiv, Bestand II 451. Das Kärntner Kreuz wurde für Verdienste bzw. Tapferkeit im Rahmen des sogenannten Kärntner Abwehrkampfes 1918/19 verliehen. 60 Auer, Museum, 76 (wie Anm. 2). 61 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 75037-II–6/1950, Widmung zweier Bilder durch Renner. 62 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 25410/1951, Klastersky an Frcek, 18.5.1951. 63 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 41874-II–6/1953, Widmung an das Museum. ÖStA/ AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 44179-II–6/1953, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 23.4.1953.

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verstorben war, wurde die Genehmigung zum Anfertigen einer Kopie von der Witwe, Henriette Dreger, eingeholt. Der Präsident der Gesellschaft der bildenden Künste, Karl M. May, schlug zwei Maler, Paul Meissner und Robert Streit, für die Kopiearbeiten vor. Der Bundesminister für Unterricht wählte schließlich Streit aus.64 Das BMU ersuchte ihn, die Urheberschaft Tom Dregers durch Beifügung des Vermerks „Nach dem Original von Tom Dreger“ auszuweisen.65 Dieser Hinweis ist heute auf dem Gemälde, das mittlerweile im Heeresgeschichtlichen Museum ausgestellt ist, nicht zu sehen, da er durch den Rahmen verdeckt ist.66 Grundsätzlich erfolgte die Auftragsvergabe an die Künstler durch das BMU.67 Für das Historienbild Die Ausrufung der 1. Republik am 30. Oktober 1918 vom Balkon des Landhauses in Wien wurde eigens ein Wettbewerb ausgeschrieben. Die Künstler wurden von der Gesellschaft der bildenden Künste Wiens und der Berufsvereinigung der bildenden Künste namhaft gemacht. Darunter waren drei sogenannte Minderbelastete (Eisenmenger, Holzinger und Meissner), die nicht zu dem Wettbewerb eingeladen wurden.68 Die Jury, die sich aus Kommissionsmitgliedern zusammensetzte, begutachtete die eingelangten Entwürfe der Künstler Harald Reiterer, Max Frey, Lois Pregartbauer, Franz Elsner und Erwin Dom Osen am 16. Juli 1948.69 Als Sieger des Wettbewerbes wurde schließlich der akademische Maler Max Frey deklariert. 70 Mit der künstlerischen Ausführung des Gemäldes von Frey waren die Angehörigen der Kommission allerdings unzufrieden. Zumindest die in der ersten Reihe 64 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 80379-II–6/1950, Kopie eines Dollfuß-Porträts. 65 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 4257-II–6/1951, BMU an Streit (Abschrift), 27.1.1951. 66 Der durch den Rahmen verdeckte Hinweis befindet sich auf der Kopie – vom Betrachter gesehen – rechts oben und lautet wie folgt  : „r. streit/kopie nach dem original von tom dreger/1934“. 67 Siehe hierzu etwa  : ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 28979-II–6/1959, Bronzebüste des Bundespräsidenten Renner von Gustinus Ambrosi. 68 ÖStA/AdR, BMU, Kt., SaMa 193, Zl. 1885-II–6/1948. 69 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 43572-II–6/1948, Einladung zur Jurysitzung am 16.7.1948. 70 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 78959, Auftragserteilung an den Maler Max Frey, 1.10.1948. Offensichtlich kamen die Entwürfe von Frey und Elsner in die engere Wahl und der Bundespräsident selbst fällte die Entscheidung  : Museum Österreichischer Kultur Eisenstadt (Hg.), Bausteine der Republik Österreich. Ausstellungskatalog, Eisenstadt 1988, Objektbeschreibungsteil, 26. Interessant ist, dass der Bundespräsident als Zeitzeuge die Gründung der Republik am 30.10.1918 (und nicht am 12.11.1918) ansetzte oder zumindest nicht beanstandete.

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Robert Streit nach Tom Dreger, Engelbert Dollfuß, Öl/Leinwand (Foto  : Heeresgeschichtliches Museum)

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Max Frey, Die Ausrufung der 1. Republik am 30. Oktober 1918 vom Balkon des Landhauses in Wien, Öl/Leinwand (Foto  : Heeresgeschichtliches Museum)

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stehenden Personen sollten „Porträtähnlichkeit“ erhalten. Die dargestellten Fahnen schienen zu grell. Darüber hinaus wollten die Kommissionsmitglieder die Aufschrift und das Wappen auf dem Gemälde entfernt wissen.71 Nach einer Besprechung zwischen Klastersky und Frey erklärte sich der Maler bereit, „die grellen Fahnenfarben so weit abzuschwächen, dass sie nicht so stark von der Mittelgruppe auf dem Landhausbalkon ablenken, und die Köpfe einiger Hauptbeteiligter auf dem Balkon nochmals zu übergehen“.72 Bei dem Gemälde von Frey handelt es sich um das einzige, das von Renners Idee, markante Ereignisse in Großgemälden darzustellen, realisiert wurde. Auch das 1950 bei Sebastian Humer in Auftrag gegebene Porträt des damals noch lebenden Altbundeskanzlers und -landeshauptmanns Otto Ender gefiel der Kommission nicht und wurde dem Maler kurzerhand auf dem Postwege unter Entfall des Honorars zurückgesandt. 73 Schließlich wurde Albert Janesch mit der Anfertigung beauftragt.74

IV. Der Beitrag der Bundesländer Wie bereits ausgeführt, dachte schon der Initiator Renner an eine Beteiligung der Bundesländer.75 In welcher Form diese geschehen könne, war im Jahr 1947 noch nicht entschieden. Es wurde zunächst an der Realisierung der Schauräume in der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei gearbeitet, so dass die von Renner geplante Einbindung der Bundesländer verschoben wurde.76 Rund eineinhalb Jahre später, im November 1949, einigte man sich im Rahmen einer Kommissionsbesprechung, dass jedes Bundesland – auf ei-

71 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, ohne Zl., Protokoll der Besprechung der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 3.6.1949. 72 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 27796-II–6/1950, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 9.6.1950. 73 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 19100-II–6/1951, Porträt des Altbundeskanzlers Ender. 74 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 24227-II–6/1951, Porträt des Altbundeskanzlers Ender. 75 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 2687-II–6/1947, Renner an Figl, 11.11.1946. 76 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 2687-II–6/1947, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Schaffung historischer Schauräume in der Hofburg am 5.5.1947 um 11 Uhr im kleinen Sitzungssaal des BMU.

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gene Kosten – eine Vitrine zu befüllen hätte. Dargestellt werden sollten „die Leistungen des betreffenden Bundeslandes oder ein Ereignis aus dessen Geschichte“. Bei ersten Verhandlungen mit den Landeshauptleuten kristallisierten sich bereits konkrete Themen und Objekte heraus  : „Burgenland  : Oedenburger Abstimmung und Landnahme  ; Kärnten  : Abwehrkampf und Abstimmung (Porträt des Vizekanzlers FML a.D. Hülgerth)  ; Oberösterreich  : Schallerbach, das Thermalbad Oesterreichs und Mitteleuropas. – Martinskirche (Büste des Landeshauptmannes Hauser […], Porträt des Landeshauptmannes Dr. Schlegel […])  ; Salzburg  : Festspiele – Glocknerstrasse (Porträt des Landeshauptmannes Dr. Rehrl)  ; Steiermark  : Volksbildungswerk St. Martin  ; Tirol  : Südtirol (Porträt des Landeshauptmannes Dr. Stumpf )  ; Vorarlberg  : Wasserkraftwerke – erster Stromexport Oesterreichs.“

Mit Niederösterreich konnte noch keine Einigung erzielt werden. Man stimmte darüber ein, dass „die Wohnbauten Wiens“ nicht noch einmal gezeigt werden müssten, da sie bereits in der Vitrine des Staatspräsidenten Seitz berücksichtigt wurden. Auer wurde beauftragt, auf einer Dienstreise durch die Landeshauptstädte die Beiträge der Bundesländer für deren Vitrinen der Zeit 1918 bis 1938 zu konkretisieren. Professor Baszel von der Akademie für angewandte Kunst wurde mit einer einheitlichen Gestaltung (Beschriftungen etc.) der Ländervitrinen beauftragt.77 Er hatte bereits Raum I in grafischer Hinsicht ausgeführt. In weiterer Folge kam es zu Besprechungen Auers mit den Landeshauptleuten, den Verantwortlichen der Landesregierungen und den Spitzen der Landesarchive und -museen. Burgenland

Im Burgenland verliefen die ersten Besprechungen in Eisenstadt gemäß den bereits stattgefundenen Absprachen mit den Landeshauptleuten. Materialen zur „Ödenburger Abstimmung und die Landnahme“ wurden begutachtet. Dabei tauchte ein weiteres Thema auf  : der Neusiedler See.78 Darüber hinaus 77 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 76463-II–6/1949, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 25.11.1949. 78 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 56-KMR/1950, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 19.12.1950 (Burgenland).

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dachte man an die Realisierung eines Ölgemäldes über die „Rückkehr“ des Burgenlandes zu Österreich sowie an ein Relief mit Städten und Burgen. Auer betonte, dass die Vitrine ausschließlich auf die Geschichte des Landes von 1918 bis 1938 eingehen solle.79 Einige Monate später dachte man hinsichtlich der Bildthemen an die jeweils erste Sitzung der Landesregierung und des Landtages anstelle des ursprünglich vorgesehenen Gemäldes, das die „Rückkehr“ des Burgenlandes zu Österreich zeigen sollte.80 Letztendlich einigte sich die burgenländische Landesregierung auf das Bildthema „Die erste Landesregierungssitzung“ und das Vitrinenthema „Heimkehr zu Österreich“.81 Im Zuge einer Dienstreise nach Eisenstadt im Juli 1953 besichtigte Auer das gleich zweifach angefertigte Gemälde von der ersten Sitzung der Burgenländischen Landesregierung im Jahre 1922, das bei R. H. Keppel in Auftrag gegeben worden war. Eines der Gemälde war für das Republikmuseum, das andere für die Landesregierung vorgesehen. Das für das Wiener Museum vorgesehene Objekt wurde an Auer übergeben.82 Kärnten

Kärnten hatte bereits 1949 einige Objekte wie Lebensmittelkarten und die dazugehörenden Aufrufe an das Museum geliefert. 83 Die darüber hinaus vorgeschlagenen Themen „Wörther See“ und „Kärnten als Fremden- oder Verkehrsland oder als Industrieland“ mussten zurückgestellt werden, da sie 79 ÖSTA, AdR, BMU, Karton 30, SaMa 193, Zl. 2-KMR/1951, Auer an Prof. Dr. Karl Homma, Direktor des burgenländischen Landesarchivs, 18.1.1951. 80 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 2-KMR/1951, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 13.4.1951 (Burgenland). Intensive Überzeugungsarbeit leistete Auer nach dem Vorschlag des Leiters des Landesmuseums, Adalbert Riedl, „in erster Linie Trachtenbilder, handgeschriebene oder gedruckte Volkslieder und Volkstänze“ zu zeigen. Dem Hinweis Auers, dass diese Dinge keineswegs zwischen 1918 und 1938 entstanden waren, entgegnete Riedl, dass sich das Publikum im Landesmuseum schon immer an den „schönen Trachtenbildern“ erfreut hätte. Auer wies schließlich darauf hin, dass das Republikmuseum historisch und keinesfalls volkskundlich ausgerichtet sei. 81 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 29116-II–6/1951, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 7.6.1951. 82 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 22-KMR/1952, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 31.7.1953 (Burgenland). 83 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 77398-II–6/1949, Amt der Kärntner Landesregierung an BMU, 6.12.1949.

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sich auf die Zeit nach 1945 bezogen. Eine Einigung konnte mit dem Thema „Kärntner Abstimmung“ vom 10. Oktober 1920 erzielt werden. Auer wollte jedoch bloß die bei der Abstimmung verwendeten Stimmzettel zeigen. Die Flugblätter aus der Zeit des Abwehrkampfes hielt er „wegen ihres aggressiven Inhaltes aus aussenpolitischen Gründen“ für nicht geeignet. Letztendlich kam er mit den Vertretern des Landes Kärnten überein, in der Vitrine nur die Abstimmung, nicht aber den Abwehrkampf zu zeigen.84 Niederösterreich

Mit Niederösterreich konnte bis zum November 1949 keine Einigung erzielt werden.85 Im Mai 1952 berichtete Auer jedoch, dass die Gestaltung der Vitrine „bereits sehr weit gediehen“ sei.86 Konkrete Themen gehen aus den Unterlagen allerdings nicht hervor. Oberösterreich

Vom Land Oberösterreich war der Ort Schallerbach als zentrales Thema vorgesehen. Der Landeshauptmann Heinrich Gleißner gab gegenüber Auer diplomatisch zu verstehen, bei der Ausgestaltung der Vitrine vermeiden zu wollen, andere österreichische Kurorte durch unnötige Superlative oder Vergleiche zu kompromittieren. Ursprünglich war in Schallerbach während des Ersten Weltkrieges eine Ölförderungsanlage für militärische Zwecke eingerichtet worden. Schließlich aber, als bei einer Bohrung im November 1918 auf eine Schwefelquelle gestoßen wurde, ging daraus „ein Bad zur Heilung von Kriegswunden“ hervor.87 Letztendlich einigte Auer sich mit den Verantwortlichen über konkrete Inhalte (Geschichte, Genealogie und Bedeutung von Schallerbach für Österreich). Es wurde auch an eine „bildliche Symboldarstellung“ gedacht, und 84 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 1-KMR/1951, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 22.–27.1.1951 (Kärnten, Steiermark). 85 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 76463-II–6/1949, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 25.11.1949. 86 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 59766-II–6/1952, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 28.5.1952. 87 Am 16. November 1918 stieß man bei einer Bohrung auf die heute noch genutzte Schwefelquelle und bescherte so dem Dorf eine allmähliche Wandlung zum Kurbetrieb.

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zwar an eine Verbindung eines Bohrturmes mit einer Quelle und zerbrochenen Krücken. Diese Grafik sollte den Gedanken „vom kriegsfördernden Ölbohrturm zum Kriegsschäden lindernden Heilbad“ unterstreichen.88 Salzburg

Die Salzburger Verantwortlichen konfrontierten Auer mit Themen wie „Glocknerstrasse“, „Salzbergbau Hallein“, „Ausbau der Salzburger Wasserkräfte“, „Festspiele“, „Fremdenverkehr“ und „Bundeskanzler Dr. Ramek“. Die Wahl fiel schließlich auf die Salzburger Festspiele, die Großglockner-Hochalpenstraße und den Landeshauptmann Dr. Rehrl, der mit einer Büste dargestellt werden sollte.89 Nicht ganz ein Jahr später besichtigte Auer das im Rohbau fertiggestellte Modell des Salzburger Festspielhauses von Walter Leidenfrost. Das Objekt bot die Möglichkeit, Teile des Dachs abzunehmen und in die Räume hineinzublicken.90 Steiermark

Die Gesprächspartner Auers in der Steiermark konnten bei seinem Besuch noch keine ausgearbeiteten Vorschläge präsentieren, da man von der Annahme ausging, „dass durch den Tod des Herrn Bundespräsidenten Dr. Karl Renner die Angelegenheit der Ländervitrine Steiermark wenigstens vorübergehend nicht bearbeitet zu werden brauche und ruhen könne“. Spontan wurden dann folgende Themen genannt  : „das steirische Eisen“, „Stolzalpe“, „Packstrasse“, „Steirische Wasserkraftwerke“ und „das bäuerliche Volksbildungswesen in der Steiermark“.91 Die steiermärkische Landesregierung beschloss in einer Sitzung am 1. März 1951 die Präsentation der von 1936 bis 1939 erbauten Packstraße.92 88 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 33-KMR/1950, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 20.–24.6.1950 (Oberösterreich). 89 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 47-KMR/1951, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 11.–19.11.1951 (Salzburg, Tirol und Vorarlberg). 90 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 32-KMR/1952, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 5.–12.10.1952 (Salzburg, Tirol und Vorarlberg). 91 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 1-KMR/1951, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 22.–27.1.1951 (Kärnten, Steiermark). 92 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 14551-II–6/1951, Amt der Steiermärkischen Landesregierung an BMU, 12.3.1951.

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Tirol

In Tirol wurde Auer mit den Ereignissen um Südtirol konfrontiert. Dieser Landesteil war durch den Vertrag von St-Germain Italien zugesprochen worden. Auer verwies auf die außenpolitischen Schwierigkeiten, die eine Visualisierung des Konflikts mit sich bringen würde und auch darauf, dass die Frage um Südtirol zwischen 1918 und 1938 „eher als Verlust, denn als positiver und aufbauender Anteil des Landes Tirols zur ersten Republik zu werten wäre“. Darüber hinaus wurden das „Achenseewerk“, die „erste Seilbahn Österreichs in Tirol“, die „Elektrifizierung der Bundesbahnen“, die „Entwicklung Tirols zum Wintersportland“, der „Fremdenverkehr“ und das „bäuerliche Fortbildungsschulwesen“ als mögliche Vitrineninhalte genannt. Der Landeshauptmann von Tirol, Alois Grauss, verteidigte das Thema „Südtirol“ und gab zu verstehen, dass „die Hauptsorge Tirols während der ersten Republik der Überwindung der Schwierigkeiten galt, die der Verlust Südtirols“ mit sich gebracht habe. Grauss war sich jedoch auch der möglichen außenpolitischen Schwierigkeiten dieses Themas bewusst. Auer schlug vor, die Zerreißung Tirols in drei Teile durch den Friedensvertrag und die „Überwindung der daraus entstandenen Schwierigkeiten durch wirtschaftliche Leistungen“ zu zeigen. Der Landeshauptmann sagte daraufhin einen Beschluss der Landesregierung für das Jahr 1951 zu.93 Ein knappes Jahr später besuchte Auer abermals in Sachen Republikmuseum Innsbruck und musste bei seinen Gesprächen erfahren, dass die Landesregierung zwar noch 1951 einen grundsätzlichen Beschluss über eine Beteiligung gefasst, aber sonst offensichtlich nichts weiter unternommen hatte. Erst eine Vorsprache bei Landesamtsdirektor Erwin Stoll konnte Licht in die Angelegenheit bringen. Noch 1951 hatte die Landesregierung eine Rundfrage bei diversen Dienststellen und Institutionen im Hinblick auf die Inhalte der TirolVitrine durchgeführt. Daraufhin verlangte die Bauernkammer eine Darstellung der ersten genossenschaftlichen Zuchtställe für Rinder. Die Handelskammer wiederum wollte das Kunstgewerbe (Trachten und Keramik) betont wissen. Nach längeren und lebhaft geführten Diskussionen konnten zwei Vitrinenthemen gefunden werden  : „a) Verlust der Landeseinheit. b) Tirol als Mittelpunkt des Skisports und des Winterfremdenverkehrs in Österreich bis 1938“. Hinsichtlich der Porträts ging Tirol einen Sonderweg, da statt der ansonsten üb93 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 47-KMR/1951, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 11.–19.11.1951 (Salzburg, Tirol und Vorarlberg).

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lichen Landeshauptleute der Maler Albin Egger-Lienz vorgeschlagen wurde. Gedacht war an eine Reproduktion eines Selbstporträts von Egger-Lienz, einer Rötelzeichnung, die sich in Familienbesitz befand und als unverkäuflich galt.94 Vorarlberg

Die Vorarlberger bereiteten für Auer folgende Themen vor  : die „Illwerke“, die „Vorarlberger Kraftwerke“, der „erste Kraftstromexport Österreichs“, die „Textilindustrie“, die „größte Wildbachverbauung Österreichs“, der „Fremdenverkehr“, die „Abtrennung Vorarlbergs von Tirol 1918“ und „Lebendige Vorarlberger Volkstrachten“. Für ein Porträt wurde als überragende Persönlichkeit Altlandeshauptmann und -bundeskanzler Dr. Otto Ender genannt. Da ein Zentralthema fehlte, schlug Auer die Behandlung mehrerer Themen in einer Doppelvitrine vor.95 Erst rund ein Jahr später, im Oktober 1952, definierten die Verantwortlichen in Bregenz die Inhalte  : „a) Gewinnung der Landeshoheit, b) E-Werke und erster österreichischer Stromexport bis 1938, c) Entwicklung der Textilindustrie bis 1938, d) allenfalls Winterfremdenverkehr (Zürs)“. Zugleich bedauerte man, dass das Republikmuseum schon von sich aus Bildnisse von Ender und Jodok Fink anfertigen hatte lassen. Überlegt wurde, ob nicht die Illwerke oder die Textilindustrie die Kosten der Landesvitrine übernehmen könnten.96 Wien

Die Vitrine der Bundeshauptstadt kam lediglich in der Kommissionssitzung vom November 1949 zur Sprache. Man wollte offenbar auf eine eigene Darstellung von Wien verzichten, da im Schaukasten, der Seitz gewidmet war, die Wohnbauten Wiens bereits thematisiert worden waren.97 94 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 32-KMR/1952, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 5.–12.10.1952 (Salzburg, Tirol und Vorarlberg). 95 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 47-KMR/1951, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 11.–19.11.1951 (Salzburg, Tirol und Vorarlberg). 96 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 32-KMR/1952, Auer  : Bericht über die Dienstreise vom 5.–12.10.1952 (Salzburg, Tirol und Vorarlberg). 97 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 76463-II–6/1949, Protokoll der Besprechung der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 25.11.1949.

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Die Gestaltung der Ländervitrinen von Burgenland, Niederösterreich, Kärnten, Steiermark und Salzburg war bis 1952 und 1953 weit fortgeschritten beziehungsweise die Beiträge sogar in der Präsidentschaftskanzlei eingelangt.98 Ein Blick in die Inventarlisten zeigt, dass unter anderem das Modell des Salzburger Festspielhauses, das Relief der Packstraße und das Gemälde von R. H. Keppel „1. Sitzung der burgenländischen Landesregierung in Sauerbrunn“ als Länderbeiträge der Sammlung des Republikmuseums einverleibt wurden.99 Zu einer Aufstellung der Ländervitrinen kam es freilich nicht mehr.

V. 1969–1998  : Eine Sammlung, mehrere Schirmherrschaften und Herbergen Im Jahre 1969 wurden die Bestände des Museums laut der letzten Eintragung im Protokollbuch „Bundesministerium für Unterricht, Kommission zur Errichtung des Museums der Ersten und Zweiten Republik“ an die LudwigBoltzmann-Gesellschaft zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung übergeben.100 Ob dies die gesamten Bestände oder nur einen Teil betraf, ist unklar. Aktenmäßig definitiv greifbar ist jedoch die Übernahme der Objekte am 24. Juli 1972 durch den Geschäftsführer der Boltzmann-Gesellschaft, Dr. Josef Bandion.101 Der ehemalige Kommissionssekretär, Erwin M. Auer, hatte   98 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 59766-II–6/1952, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 28.5.1952. ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 85525-II– 6/1953, Protokoll der Besprechung des Arbeitsausschusses der Kommission zur Errichtung des Museums der 1. und 2. Republik in der Präsidentschaftskanzlei am 24.11.1953.   99 KHM/Archiv, Bestand XX 455, Inventarlisten. 100 KHM/Archiv, Bestand XX 203, Protokollbuch des Museums der Ersten und Zweiten Republik, geführt von 1949–1969, letzter Eintrag vom 10.6.1969  : Leihgaben an die Ludwig Boltzmann-Gesellschaft zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich, Übergabe – Übernahmebescheinigung. Die Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft, 1960 gegründet, ist eine private Trägerorganisation für Forschungseinrichtungen in Österreich. Sie finanziert sich aus öffentlichen und privaten Mitteln. Ihre Institute befassen sich mit medizinischen, geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen. 101 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 353.450-III/2/1972, Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (BMWF), Übernahmebestätigung, 24.7.1973. Eine Inventarliste liegt diesem Akt bedauerlicherweise nicht bei. Aus der Bestätigung geht hervor, dass sich damals drei Gemälde, darstellend Theodor Körner, Bad Schallerbach und die Packstraße, und fünf Vitrinen in der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei befanden.

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mittlerweile Karriere gemacht und war zu diesem Zeitpunkt bereits der erste Direktor des Kunsthistorischen Museums, das bis dahin die Bestände verwaltete. Er bestätigte die Übergabe am 25. Juli 1972.102 Die Boltzmann-Gesellschaft wurde seitens des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung (BMWF) mit der „Verwaltung, Ergänzung und wissenschaftlichen Auswertung der Museal- und Archivgegenstände“ des Museums der Ersten und Zweiten Republik betraut. Die Museumsräume wurden belassen und ein Mietvertrag zwischen der Boltzmann-Gesellschaft und der Burghauptmannschaft geschlossen.103 Der Sitz der von Bandion geführten Boltzmann-Gesellschaft lag wie die Ausstellungsräume im zweiten Stock des Leopoldinischen Traktes der Hofburg.104 Vermutlich ergab sich allein aus der räumlichen Nähe die Übergabe an die Boltzmann-Gesellschaft. Der neue Verwalter der Objekte scheint seinen Aufgaben laut BMWF jedoch kaum nachgekommen zu sein. Eine „Ergänzung“ der Bestände wurde praktisch nicht vorgenommen. Aktenmäßig fassbar ist lediglich die leihweise Übernahme des Gemäldes von Sergius Pauser, auf dem Karl Seitz dargestellt ist. Der Besitzer des Kunstwerks, die Wiener Städtische Versicherungsanstalt, überließ das Gemälde dem Museum der Ersten und Zweiten Republik, vertreten durch die Boltzmann-Gesellschaft, am 7. November 1974. Als die Gesellschaft im Jahre 1987 vom zweiten Stock des Leopoldinischen Traktes in das Mezzanin übersiedelte, war dort nur Platz für den Bürobetrieb, nicht aber für die Bestände des Museums.105 Das vorher erwähnte Gemälde von Pauser verlieh die Wiener Städtische Versicherungsanstalt weiter an die Ludwig-Boltz­ mann-Gesellschaft, allerdings nicht für „die Zwecke des Museums.“106 Offenbar wusste man nicht, wie es mit dieser Sammlung weitergehen sollte. Der zuständige Sektionschef im BMWF, Dr. Johann Marte, verfügte am 29. Ap102 ÖStA/AdR, BMU, Kt. 30, SaMa 193, Zl. 353.450-III/2/1972, Auer an Obermann, BMWF, 25.7.1972. 103 Auer, Museum, 76–76. (wie Anm. 2). 104 KHM/Archiv, Bestand XX 203, Protokollbuch des Museums der Ersten und Zweiten Republik, geführt von 1949–1969, Zaruba, Boltzmann-Gesellschaft, an Wiener Städtische Versicherungsanstalt, 18.4.1987. Das Schreiben befindet sich als loses Schriftstück zwischen dem Deckel und dem ersten Blatt des Protokollbuches. 105 Ebd. Darin bittet Zaruba um Verlängerung der Leihe des Gemäldes. 106 KHM/Archiv, Bestand XX 2803, Protokollbuch des Museums der Ersten und Zweiten Republik, geführt von 1949–1969, Wiener Städtische Wechselseitige Versicherungsanstalt (Geyer und Teichmeister) an Ludwig Boltzmann-Gesellschaft, 1.6.1987. Das Schreiben befindet sich als loses Schriftstück zwischen dem Deckel und dem ersten Blatt des Protokollbuches.

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ril 1987 eine Übergabe „zur Verwahrung“ an die Präsidentschaftskanzlei bis zu jenem Zeitpunkt, an dem eine Entscheidung über die weitere Unterbringung der Objekte fallen werde.107 Schließlich übernahm die Präsidentschaftskanzlei, vertreten durch Ministerialrat Schedewy, am 12. Juni 1987 die Schaustücke.108 Zugleich hatte Marte am 29. April 1987 Dr. Gerda Mraz, der Geschäftsführerin des in Eisenstadt reaktivierten „Museums Österreichischer Kultur“ (MÖK), die Bestände angeboten. Als Grund gab er an, dass das Republikmuseum dem Raumbedarf der Präsidentschaftskanzlei weichen müsse.109 Mraz sagte zu und die Sammlungen des Museums der Ersten und Zweiten Republik wurden im Sommer 1987 aus der Hofburg nach Eisenstadt überführt.110 Der Bestand umfasste „31 Ölbilder, 3 Büsten und div. anderes Material“. Ein Teil der Gemälde wurde im Auftrag des MÖK ab dem 23. November 1987 restauriert.111 Der Grund dafür waren die Vorbereitungen zur Sonderausstellung Bausteine der Republik Österreich, die im März 1988 eröffnet wurde. Den Grundstock bildeten ausgewählte Objekte des Museums der Ersten und Zweiten Republik.112 Doch auch diese Herberge für die Objekte sollte nach rund sieben Jahren unerwartet ihre Pforten schließen. Als in Eisenstadt eine Fachhochschule für internationale Wirtschaftsfragen angesiedelt werden sollte, fehlte dafür der notwendige Raum. Auf Betreiben des damaligen Bürgermeisters der burgen107 KHM/Archiv, Bestand II 453, Marte an Ludwig Boltzmann-Gesellschaft, 28.4.1987. 108 Ebd., maschinen- und handschriftlicher Vermerk, 12.6.1987. 109 KHM/Archiv, Bestand II 452, Marte an Mraz, 29.4.1987. Ein ursprünglich dem Schreiben beiliegendes Objektverzeichnis ist nicht vorhanden. 110 Gerda Mraz, Vorwort, in  : Bausteine der Republik Österreich, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des MÖK, Eisenstadt 1988, 5. Wann genau die Überführung stattfand, kann nicht gesagt werden. Im Protokoll der ordentlichen Generalversammlung des Vereins Museum Österreichischer Kultur vom 18.8.1987 ist vermerkt, „daß durch die Vermittlung von Sektionschef Dr. Marte es gelungen sei, die Bestände des Republik-Museums aus der Präsidentschaftskanzlei von Wien nach Eisenstadt zu transportieren. Sie umfassen 31 Ölbilder, 3 Bronzebüsten und diverses anderes Material.“ Das heißt, dass der Transport zwischen der Übergabe durch die Österreichische Präsidentschaftskanzlei am 29. April und der Generalversammlung des Vereins Museum Österreichischer Kultur am 18. August 1987 erfolgt sein muss. Siehe hierzu  : KHM/Archiv, Bestand II 453, Stöger  : Aktenvermerk, 18.6.1997. Gleichlautendes auch in  : KHM, Archiv/Bestand II 453, Stöger, KHM, an Hopf, BMWF, 19.6.1997. In der Folge wird ausschließlich der Aktenvermerk vom 18.6.1987 zitiert. 111 KHM/Archiv, Bestand II 453, Stöger  : Aktenvermerk, 18.6.1997. 112 Mraz, Vorwort, in  : Bausteine, 5 (wie Anm. 110). Siehe hierzu den nachfolgenden Beitrag von Mraz, der auf dem Artikel von Auer basiert  : Mraz, Gibt es ein Republik-Museum  ?, in  : Bausteine, 60–62 (wie Anm. 110). Siehe hierzu auch  : KHM, Archiv, Bestand II 452, Mraz an Leser, Ludwig Boltzmann-Institut für neuere Österreichische Geschichte, 7.12.1987.

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ländischen Landeshauptstadt, Ing. Alois Schwarz, bekam die Fachhochschule einen Raum im Museumsgebäude zur Verfügung gestellt. Offenbar versuchten die Vertreter des BMWF zu Beginn, eine Beeinträchtigung oder gar eine Einschränkung des Museumsbetriebes noch zu verhindern.113 Doch das Blatt sollte sich bald zuungunsten des MÖK wenden. Der Abteilungsleiter „Museen und Sammlungen des Bundes“ im BMWF, Ministerialrat Dr. Rudolf Wran, sprach sich schließlich dafür aus, der ins Leben gerufenen Fachhochschule den gesamten ersten Stock für das Wintersemester 1994/95 zur Nutzung zu überlassen, was auch geschah.114 Damit waren die Tage des Mitte der 1980erJahre reaktivierten MÖK, dessen Gründung auf das Jahr 1946 zurückgeht, gezählt. Es schloss seine Pforten am 27. November 1994.115 Es war der Tag, an dem die Sonderausstellung Lücken in der Geschichte. Deutsche, Juden, Tschechen 1890–1938 zu Ende ging.116 Die Räumung des MÖK erfolgte unter großem Zeitdruck. Erschwerend war auch die prekäre Personalsituation. Gerda Mraz war inzwischen zur Leiterin der Porträtsammlung und des Bildarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek bestellt worden. Das führte dazu, dass in der letzten Räumungsphase nur zwei ganztägig Bedienstete sowie eine Halbtagskraft des Bundes zur Verfügung standen. Die eigentlichen Überführungen in den Auslagerungsort, das Bundesdepot Siegendorf, eine ehemalige Zuckerfabrik im Burgenland, erfolgte vom 24. Januar bis zum 1. Februar 1995. Das Gebäude in der Joseph-Haydn-Gasse 1 wurde schließlich am 6. Februar 1995 „besenrein“ übergeben. Ein Großteil der KHM-Leihgaben war bereits im August 1994 wieder nach Wien überstellt worden. Die eigentlichen MÖK-Sammlungen, einschließlich der Objekte des Museums der Ersten und Zweiten Republik, wurden im dritten Stock des Bundesdepots auf einer Fläche von rund 200 m2, die dem Österreichischen Museum für Volkskunde zugewiesen worden waren, eingelagert. 113 Evelyn Dawid, Zu wos brauchen mir denn eine Kultur …  ? Wie und auf wessen Kosten Eisenstadt europareif wird, in  : Der Standard, 9.11.1994. Der Artikel ist archiviert in  : KHM/Archiv, Bestand II 453. Der durch das Museum genutzte Gebäudekomplex in der Joseph-HaydnGasse 1 lag in Besitz des Bundes. 114 KHM/Archiv, Bestand II 453, Wran an Schwarz, 3.3.1994. Dieses Schreiben erging seitens des BMWF in dessen Eigenschaft als Mitglied des Vereins Museum Österreichischer Kultur. Das BMWF war damals sowohl für Museen als auch für Fachhochschulen zuständig. 115 Dawid, Kultur (wie Anm. 113). 116 KHM/Archiv, Bestand II 453, Stöger  : Bericht über die Räumung des Museums Österreichischer Kultur, Gebäude Haydngasse 1, 7000 Eisenstadt, vom Dezember 1994 bis 6.2.1995, 10.2.1995.

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Da in einer Besprechung am 11. Januar 1995 im Rathaus in Eisenstadt von Sektionschef Wran die Weisung erging, mit der Depotfläche möglichst sparsam umzugehen, erfolgte eine enge Aufstellung.117 Mit großem Engagement betrieb Mag. Gabriele Stöger die Umsiedlung der Objekte. Sie machte auch pflichtbewusst auf Missstände aufmerksam, etwa darauf, dass „für eine stückweise Kontrolle der Bestände mit den Inventaren unter diesem Termindruck und der knappen Personalsituation aber beim besten Willen keine Zeit“ sei und sie daher die Vollständigkeit der Bestände nicht garantieren könne.118 Mehr als eineinhalb Jahre später zeigte eine Bundesdienststelle wieder Interesse an den Objekten des Museums. Die Präsidentschaftskanzlei suchte im Oktober 1996 bei der Kulturverwaltung der burgenländischen Landesregierung um vier Leihgaben an.119 Verwiesen wurde sie schließlich an den Generaldirektor des KHM, Hofrat Dr. Wilfried Seipel, in der Annahme, dass der Verein MÖK nur Leihnehmer der Exponate des Republikmuseums sei, das KHM hingegen deren Besitzer. Seipel erkundigte sich und bekam die Auskunft, dass die Boltzmann-Gesellschaft der Besitzer und damit verfügungsberechtigt sei.120 Gabriele Stöger versuchte damals für das KHM Licht in die unklaren Besitzverhältnisse zu bringen. Sie nahm Kontakt mit Mitarbeitern der Boltzmann-Gesellschaft auf. Deren Generalsekretär Dr. Zaruba gab an, die Gesellschaft habe mit dem Republikmuseum nichts mehr zu tun, da 1987 „alles an BMWF, Dr. Marte, zurückgegangen“ sei. Einen interessanten Hinweis gab eine Sekretärin, Frau Fröhlich, die darauf verwies, dass 1987 Bestände nicht nur nach Eisenstadt, sondern Teile auch an drei andere Einrichtungen (Wirtschaftsmuseum, Arbeitermuseum, Renner-Museum) überführt worden seien. Stöger besuchte daraufhin das Archiv der Landesregierung in Eisenstadt, da dorthin die Akten des MÖK gebracht worden waren. Detaillierte Übergabelisten oder Leihverträge konnte sie allerdings nicht finden. Sie kam 117 Ebd. Dem Bericht liegt auch ein Stellplan der Depotfläche in Siegendorf bei, in der auch der genaue Lagerungsort der „Bestände Republikmuseum“ vermerkt ist. 118 KHM/Archiv, Bestand II 453, Stöger  : Bericht über die Bestände und das Inventar des MÖK, Lagerung in Siegendorf, 10.2.1995. Das Schreiben erging an den Leiter der Kulturverwaltung der Landesregierung des Burgenlandes, HR Hans Schmid, sowie die Träger des Bundes und der Stadt des MÖK. 119 Es handelte sich dabei um folgende Gemälde  : Karl Renner (Perlberger), Die Ausrufung der 1. Republik am 30. Oktober 1918 vom Balkon des Landhauses in Wien (Frey), Niederösterreichischer Landtagssitzungssaal (Ruzicka) und Adolf Schärf (Strohhofer). 120 Bei wem sich Seipel erkundigte, geht aus dem unter Anm. 121 zitierten Schriftstück nicht hervor.

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zu dem – wohl korrekten – Schluss, dass der Besitzer der Sammlung des Republikmuseums die Republik Österreich sei.121 Die Frage, wer verfügungsberechtigt sei und Leihverträge abwickeln dürfe, konnte jedoch nicht geklärt werden. Seipel informierte den Verwaltungsdirektor der Präsidentschaftskanzlei über die vorgenommenen Recherchen.122 Schließlich bearbeitete Stöger vom KHM die Leihverträge und Hopf vom Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten (BMUKA) unterschrieb diese für den Leihgeber. Allerdings konnten nur zwei der ursprünglich vier angesuchten Leihgaben der Präsidentschaftskanzlei im Juli 1997 aufgefunden und überlassen werden.123 Offensichtlich hatte man sich darauf geeinigt, dass die Verfügungsberechtigung durch das BMUKA wahrzunehmen sei. 1998 wurde – vorerst – das letzte Kapitel in der Geschichte von Renners Republikmuseum aufgeschlagen. Der Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums, Hofrat Univ.-Prof. Dr. Manfried Rauchensteiner, bemühte sich mit Erfolg bei Sektionsleiter Dr. Rudolf Wran im BMUKA um die Sammlungen.124 Der Transport von Siegendorf nach Wien wurde schließlich am 16. April 1998 durch Lastkraftwagen des Österreichischen Bundesheeres durchgeführt. Stöger übergab im Bundesdepot Siegendorf die Bestände des Museums der Ersten und Zweiten Republik im Auftrag des BMUKA an das dem Bundesministerium für Landesverteidigung zugehörige HGM.125 Nach genauer Sichtung der Bestände im HGM musste festgestellt werden, dass acht Objekte laut Inventarliste fehlten, darunter die Totenmasken von Karl Renner, Engel-

121 KHM/Archiv, Bestand II 452, KHM an BMUKA, 19.6.1997. 122 KHM/Archiv, Bestand II 451, Seipel an Prassa, 30.4.1998 [sic  !]. Das Schreiben wurde offensichtlich mit 1998 falsch datiert, richtig ist vielmehr der 30.4.1997, wie ein handschriftlicher Vermerk („abgesch. 6.5.’97“) auf dem Brief beweist. 123 KHM/Archiv, Bestand II 451, KHM an Präsidentschaftskanzlei, 3.7.1997. Von den ursprünglich vier angefragten Gemälden konnten nur zwei – Karl Renner (Perlberger) und Dr. Adolf Schärf (Strohhofer) – verliehen werden. Die anderen beiden –Ausrufung der Republik 1918 (Frey) und Niederösterreichischer Landtagssitzungssaal (O. Ruzicka) – waren bei einer Sichtung der Bestände in Siegendorf durch Stöger am 28.5.1997 nicht vorhanden. Stöger vermutete das Gemälde Frey – aufgrund einer Telefonnotiz – bei der Niederösterreichischen Kulturabteilung. Siehe hierzu  : KHM, Archiv, Bestand II 452, KHM an BMUKA, 19.6.1997. 124 Heeresgeschichtliches Museum (HGM), Direktionsarchiv (DionsA), Rauchensteiner an Seipel, 26.3.1998. Rauchensteiner bittet darin Seipel um die Abstellung und Unterstützung von Gabriele Stöger für die Abholung in Siegendorf. Alle in diesem Aufsatz zitierten Akten des HGM finden sich auch in  : KHM/Archiv, Bestand II 451. 125 KHM/Archiv, Bestand II 453, Stöger  : Notizen zum MÖK, 20.12.2001.

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bert Dollfuß und Paula von Preradovic.126 Der Zustand der Gemälde und Objekte wurde seitens der Spezialisten des HGM als gut bis sehr gut eingestuft. Was die juristische Seite betraf, so vertrat Rauchensteiner die Position, dass „eine auch rechtlich haltbare Form zu suchen sein [werde], die das Heeresgeschichtliche Museum mit der Verwahrung, der Restaurierung, wissenschaftlichen Erschließung und Präsentation der Sammlung beauftragt“.127 Ein wesentlicher Teil der Sammlungen des Republikmuseums wurde in die am 29. September 1998 eröffnete Dauerausstellung Republik und Diktatur des Heeresgeschichtlichen Museums integriert, die bis heute zu sehen ist.128 Zu einer kurzfristigen Heimkehr von einigen Objekten des Museums der Ersten und Zweiten Republik in die Hofburg kam es im Zuge der Ausstellung Mehrfach gewendet. Eine historisch-künstlerische Collage der Schlüsseljahre 1918/38/45/55 und 95 am 26. Oktober 2008, am Tag der offenen Tür, in der Präsidentschaftskanzlei.129

V. Schlussbemerkung Karl Renner brachte seine Idee für ein Museum der Ersten und Zweiten Republik in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu Papier. Damals gehörte Gewalt – in Form von Überfällen, Einbrüchen, Diebstählen, Vergewaltigungen und Selbstjustiz – zum Alltag. Es ging für die Bevölkerung und die zahlreichen Flüchtlinge und Vertriebenen in Österreich in dieser Zeit um das nackte Überleben.130 Was bewegte Renner zu einem solchen Schritt  ? Sicherlich ist seine Initiative auch in126 HGM, DionsA, Rauchensteiner an Stöger, 29.4.1998. Folgende acht Objekte wurden als nicht übernommen gemeldet  : „9) Dr. Karl Renner (L. Perlberger)/14) Dr. Michael Mayr (K. Zeileissen)/35) NÖ Landtagssitzungssaal (Ruzicka)/3) Totenmaske, Gips, Dr. Karl Renner (G. Ambrosi)/21) Reliefplakette, Gips, Dr. h.c. Körner (O. Tressler)/30) Totenmaske Dr. Engelbert Dollfuss/43) Totenmaske Paula v. Preradovic/44) Relief Packstraße“. Die Zahlen vor den jeweiligen Objekten geben die Inventarnummern an. 127 Ebd. Eine endgültige rechtliche Regelung konnte jedoch bisher nicht gefunden werden. 128 HGM, DionsA, Rauchensteiner an Seipel, 26.3.1998. 129 Die Kuratoren Oliver Rathkolb und Richard Hufschmied richteten auf Einladung der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei eine Schau für den Nationalfeiertag am 26. Oktober 2008 aus, in der auch einige Originalobjekte des Republikmuseums präsentiert wurden. Vgl. Thomas Trenkler, Karl Renners Lieblingsschöpfung, in  : Der Standard, 7.11.2008  ; Simon Kravagna, „Wenn ich Präsident wäre …“, in  : Kurier, 27.10.2008. 130 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, 447.

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direkt im Lichte der Aktivitäten im Rahmen des Jubiläums 950 Jahre Österreich zu sehen, das durch verschiedene Veranstaltungen, darunter auch Ausstellungen, im Jahre 1946 feierlich begangen wurde, um ein österreichisches Staatsund Kulturbewusstsein zu stärken.131 Seitdem entwickelte sich „eher ein realistisch-resignatives als ein begeistert-emphatisches Österreichbewußtsein“.132 Denkbar ist, dass Renner – bewusst oder unbewusst – nach der staatlichen Einheit mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich von 1938 bis 1945 mit seinem Museum der Ersten und Zweiten Republik eine „österreichische Identität“ zu stärken gedachte oder diese gar neu schöpfen wollte. Nationale Gedächtnisorte wie der Stephansdom lagen in Trümmern. Die von Renner vorgesehene Präsentation von Fotos bedeutender Gebäude vor und nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg in einem „Saal der Katastrophe“ fügt sich in das sich damals bereits verfestigende Narrativ vom „ersten Opfer HitlerDeutschlands“ ein, das sich auf die Moskauer Deklaration von 1943 stützen konnte und in die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 aufgenommen wurde. Mit den dramatischen Fotos wollte Renner offenbar die Opferrolle Österreichs Identität stiftend inszenieren.133 Daneben sind einige der Bundesländer-Themen, wie etwa der Fremdenverkehr, ein wesentlicher Bestandteil der österreichischen Nachkriegsidentität.134 Die Salzburger Festspiele repräsentieren das Selbstverständnis als Kulturnation.135 Die Objekte zur Packund der Großglocknerstraße spielen nicht nur das Thema Fremdenverkehr an, sondern verweisen auch auf die Natur, die ebenfalls zu einem wesentlichen Bezugspunkt für eine österreichische Identität geworden ist.136 Auffallend ist, dass das Museum mit großer Energie von einigen wenigen Personen betrieben wurde, letztendlich aber lediglich ein Torso blieb, der öf-

131 Stefan Spevak, Das Jubiläum „950 Jahre Österreich“. Eine Aktion zur Stärkung eines österreichischen Staats- und Kulturbewußtseins im Jahre 1946 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 36), Wien – München 2003. 132 Hannes Stekl, Öffentliche Gedenktage und gesellschaftliche Identitäten, in  : Emil Brix/ Hannes Stekl (Hg.), Der Kampf um das Gedächtnis  : Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien – Köln – Weimar 1997, 108. 133 Siehe zur Täter- und Opferthematik  : Heidemarie Uhl, Vergessen und Erinnern der NSVergangenheit in der Zweiten Republik, in  : Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Verfreundete Nachbarn. Deutschland – Österreich. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung in Bonn und Leipzig, Bonn 2005, 184–197. 134 Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Wien 2005, 53. 135 Ebd., 46. 136 Ebd., 53.

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fentlich nicht zugänglich war. Unter der Schirmherrschaft des Boltzmann-Ins­ tituts gab es offenbar keine Weiterentwicklung im Sinne der Vorgaben. Wiederum war es dem Engagement einiger weniger Personen zu verdanken, dass die Bestände nach der Schließung des MÖK möglichst fachgerecht im Bundesdepot in Siegendorf gelagert wurden. Beim Studium der Akten gewinnt man oft den Eindruck, als wären die Bediensteten „alleine gelassen“ worden. Vielleicht deshalb, weil es sich nicht um eine hochwertige Kunstsammlung, sondern um eine ereignisgeschichtlich orientierte Ausstellung handelte  ? In die im September 1998 eröffnete Dauerausstellung Republik und Diktatur des Heeresgeschichtlichen Museums wurden zahlreiche Objekte des Museums der Ersten und Zweiten Republik integriert. Sie ist immerhin die erste groß dimensionierte und permanent gezeigte museale Repräsentation der österreichischen Zeitgeschichte von 1918 bis 1945. Manfried Rauchensteiner verließ damit den bis dahin gültigen Weg des Heeresgeschichtlichen Museums, Ereignisgeschichte über die militärische Ebene zu präsentieren.137 Republik und Diktatur ist auch als ein Beitrag zu den teilweise hitzig geführten Debatten um ein „österreichisches Nationalmuseum“ zu verstehen. Rauchensteiner verstand nicht zuletzt mit Blick auf die übernommenen Bestände des Museums der Ersten und Zweiten Republik das Heeresgeschichtliche Museum als „eine Art Nationalmuseum“.138 Ebenso wie Dr. Alfred Mell, einer seiner Vorgänger, der bereits 1946 den Namen „Österreichisches Nationalmuseum“ für das HGM vorgeschlagen hatte.139 Ob „Nationalmuseum“, „Haus der Geschichte“, „Zeitgeschichte-“ oder „Republikmuseum“ – Name und Standort sind sekundär. Ob eine derartige Einrichtung überhaupt, und falls ja, im Sinne Renners „ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit und sonstige Bestrittenheit oder Unbestrittenheit“ realisiert werden wird, steht auf einem anderen Blatt.

137 Siehe hierzu seinen aufschlussreichen Beitrag  : Manfried Rauchensteiner, Nation ohne Museum – Museum ohne Nation, in  : Moritz Csáky/Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses  : Bibliotheken, Museen, Archive, Wien 2000, 67–87. 138 HGM, DionsA, Rauchensteiner an Stöger, 6.5.1998. Dort heißt es  : „Ich würde es mir daher auch gerne zur Aufgabe machen, diese Sammlung [des Republikmuseums  ; Anm. d. Verf.] fortzusetzen und damit auch den Stellenwert des Heeresgeschichtlichen Museums als eine Art Nationalmuseum zu untermauern.“ 139 Richard Hufschmied, Die unmittelbaren Nachkriegspläne zum Wiener Arsenal und dem Heeresgeschichtlichen Museum, in  : Viribus Unitis, Jahresbericht des Heeresgeschichtlichen Museums 2003, Wien 2004, 51–60, hier 58.

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Die Ausstellungen in den KZ-Gedenkstätten ­Mauthausen, Gusen und Melk

Über die Ausstellungen in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen zu schreiben heißt, derzeit den Blick in die Vergangenheit und gleichzeitig in eine – zum Teil noch offene – Zukunft zu richten. Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen befindet sich in einem Prozess der Neugestaltung, die seit 1970 bestehende Hauptausstellung zur Geschichte des KZ Mauthausen sowie die 1982 eröffnete ergänzende Ausstellung Österreicher in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, beide im ehemaligen „neuen Reviergebäude“ des Häftlingslagers untergebracht, sind mit Juli 2010 – 40 Jahre nach Eröffnung der ersten historischen Ausstellung – für das Publikum geschlossen. Spätestens 2012 werden auch die derzeitigen temporären Ausstellungsmodule im Besucherzentrum zur Nachgeschichte der Gedenkstätte und zu den Krematorien von Mauthausen abgebaut. Im Jahr 2012 sollen, so die Neugestaltungspläne der für Mauthausen zuständigen Abteilung IV/7 im Innenministerium (BMI), nach einer kompletten baulichen Adaption des Reviergebäudes an ihre Stelle im Erdgeschoss eine neue Überblicksausstellung zur Geschichte des KZ Mauthausen sowie im Kellergeschoss eine vertiefende Ausstellung zum Thema „Massenvernichtung“ folgen. Weiters wird ein gestalteter Außenrundgang mit mehreren Informationsplattformen in kurzer Form über die Geschichte des Lagers erzählen. Den neuen Ausstellungen im Reviergebäude werden weitere vertiefende Ausstellungen – zur Lager-SS, zu den Häftlingen und zur Zwangsarbeit sowie eine Ausstellung zur Nachgeschichte des Lagers – folgen. Diese sollen zwischen 2012 und 2018 realisiert werden.1 Der folgende Beitrag beschäftigt sich vor allem mit Genese und Konzeption der bisherigen Ausstellungen in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.2 Da1 Vgl. Mauthausen Memorial neu gestalten. Rahmenkonzept für die Neugestaltung der KZGedenkstätte Mauthausen, hg. v. Bundesministerium für Inneres, Abt. IV/7, Wien 2009. 2 Eine ausführliche Darstellung der Entstehung der Hauptausstellungen findet sich in Bertrand Perz, Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck – Wien – Bozen 2006.

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rüber hinaus wird auch auf die Dauerausstellungen in den der Republik unterstehenden Gedenkstätten in Melk und Gusen eingegangen werden.

Mauthausen als Friedhof und Denkmal Was mit dem im Mai 1945 von der US-Armee befreiten Konzentrationslager Mauthausen geschehen sollte, war in den ersten Nachkriegsmonaten völlig offen. Daran änderte auch die temporäre Nutzung des Lagergeländes durch das sowjetische Militär, nachdem Mauthausen durch die Zonenregelung ab Sommer 1945 in die sowjetische Besatzungszone fiel, nur wenig  : Das ehemalige KZ stand, im Unterschied zu vielen anderen großen Konzentrationslagern, die für unterschiedlichste Zwecke nachgenutzt wurden, die meiste Zeit zwischen 1946 und Sommer 1947 leer. Die Bemühungen Überlebender, das ehemalige Lager zu einer Gedenkstätte zu entwickeln, führten nach längeren Verhandlungen zwischen den österreichischen Behörden und der sowjetischen Besatzungsmacht zu einer klaren Weichenstellung. Der sowjetische Hochkommissar übergab im Juni 1947 das Lager in Mauthausen in einem feierlichen Akt der Republik Österreich mit der Verpflichtung, dort eine „würdige“ Gedenkstätte zu errichten. Bis 1949 etablierte die Republik daraufhin auf dem Lagergelände eine staatliche Gedenkstätte, die damit zu den ganz frühen staatlichen KZ-Gedenkstätten in Europa zu zählen ist. Bei den Zugangsweisen zu diesem Ort spielte von den vier wesentlichen Elementen, die KZ-Gedenkstätten heute definieren – historischer Überrest, Friedhof, Denkmal und zeitgeschichtliche Ausstellung – letzteres bis 1949 kaum eine entscheidende Rolle. Für die US-amerikanischen Befreier stellte das Lager vor allem einen Tatort nationalsozialistischer Verbrechen dar, die es zu ahnden galt. Die Versorgung der Befreiten musste ebenso sichergestellt werden wie die Bestattung der in den Tagen der Befreiung noch zu Tausen­ den verstorbenen Häftlinge in neu angelegten Friedhöfen. In den Augen vieler befreiter Häftlinge war es jedoch vor allem ein Ort des Leidens und Sterbens, an den die Erinnerung durch ein Denkmal und durch die Pflege der Friedhöfe wachgehalten werden müsse, als Verpflichtung gegenüber den Toten. In den ersten Bekenntnissen der Überlebenden war von einem Denkmal überhaupt nur in Form eines gemeinsamen Versprechens der Gestaltung einer neuen Welt die Rede, in der so etwas nie wieder geschehen dürfe. 3 3 Zum sog. Mauthausen-Schwur vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 42 f. (wie Anm. 2).

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Hinsichtlich der Gestaltung konkreter Denkmäler bestand zunächst offensichtlich weitgehend Konsens darüber, dass die Überreste des Lagers die spezifische Qualität des Ortes besser zu repräsentieren imstande waren als nachträglich errichtete Denkmäler. Den Überresten – Relikten einer überwundenen Zeit – wurde damit, wenn man so will, der Status von Reliquien zugestanden.4 Für die österreichische Regierung wiederum war es vor allem eine Verpflichtung gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht. Mit der Ausgestaltung der Gedenkstätte selbst verbanden sich vor allem auch außenpolitische Interessen der Darstellung Österreichs als Opfer im Sinne der Moskauer Deklaration. Die zwischen 1947 und 1949 durchgeführte Transformation des Lagers in eine Gedenkstätte und damit der Umgang mit den baulichen Überresten war sowohl an den denkmalpolitischen Vorstellungen des Staates wie der Opferverbände orientiert. Die konkreten Schritte der Transformation in eine Gedenkstätte waren allerdings stark durch die Frage nach zu erwartenden Erhaltungskosten für die Überreste des Lagers geprägt. Um diese möglichst gering zu halten und finanzielle Mittel für die Einrichtung der Gedenkstätte zu lukrieren, wurden durch die verantwortlichen staatlichen Stellen fast alle Baracken und noch vorhandene technische Einrichtungen, so sie nicht davor schon von der anwohnenden Bevölkerung oder von der sowjetischen Besatzungsmacht entfernt worden waren, demontiert und verkauft. Die sich in einem Mauthausen-Komitee organisierenden ehemaligen österreichischen Häftlinge stimmten diesem weitgehenden Abriss des Lagers zu, da er ihren erinnerungspolitischen Vorstellungen entgegenkam  : Sie versuchten, der KZ-Haft einen martyrologischen Sinn abzugewinnen und zu betonen, sie hätten nicht umsonst gelitten, sondern für eine Sache oder Überzeugung – politisch oder religiös, für Frieden und Freiheit oder für Österreich. Die Gedenkstätte sollte dementsprechend in erster Linie die zentralen Leidensstationen präsentieren, alle nicht in diese Konzeption passenden Lagerobjekte wurden als nicht besonders geschichtswürdig und damit erhaltungswürdig angesehen. Der großflächige Abriss konnte die symbolische Bedeutung der verbliebenen Baulichkeiten nur erhöhen, eine Strategie der Minimierung der Relikte zur Maximierung von Sinn4 Vgl. ebd., 77–101  ; Volkhard Knigge, Vom Reden und Schweigen der Steine. Zu Denkmalen auf dem Gelände ehemaliger nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager, in  : Sigrid Weigel/Birgit R. Erdle (Hg.), Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich 1996, 193–234.

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stiftung, wie Volkhard Knigge es für den Umgang mit den Überresten des KZ Buchenwald konstatiert hat.5 Nach der Eröffnung der Gedenkstätte 1949 erlahmte das staatliche Interesse an Mauthausen, nicht zuletzt wegen negativer Reaktionen in den österreichischen Medien. Die Kritik reichte von der Meinung, dass das KZ Mauthausen als „unösterreichisch“, „landfremd“ und nicht zur eigenen Kultur gehörend nicht „konserviert“ werden solle über die Forderung nach einer sinnvolleren Verwendung der Gebäude bis hin zur Infragestellung der Art der Renovierung, die das ehemalige Lager in einen „sanatorienhaften“ Zustand versetzen würde. Die Reintegration der Nationalsozialisten und der Kalte Krieg machten die Gedenkstätte zu einem weitgehend marginalisierten Ort, der in der Ikonografie des Wiederaufbaus keinen Platz hatte und von der Gedenkkultur der Krieger- und Gefallenendenkmäler in den Hintergrund gedrängt wurde. Mauthausen blieb in dieser Zeit – nach dem Auseinanderbrechen des überparteilichen Opferverbandes in parteigebundene Organisationen 1948 – vor allem ein Anliegen des kommunistischen KZ-Verbandes, der seinen Einfluss über die Internationalisierung seines Anliegens durch großes Engagement bei der Gründung eines Internationalen Mauthausen-Komitees (IMK) 1953 zu behaupten versuchte. Hatte die Gedenkstätte Mauthausen in Österreich in dieser Zeit im gesellschaftlichen Diskurs nur eine geringe Bedeutung, so gilt das nicht für die internationale Rezeption. Angestoßen durch die Errichtung eines französischen Denkmals 1949, entstand ab Mitte der 1950er-Jahre auf Initiative aus den verschiedenen Ländern, aus denen KZ-Häftlinge gekommen waren, eine große Ansammlung nationaler Denkmäler. Dieser Denkmalpark kann als Ausdruck der Konkurrenz zwischen Ost und West, als eine Leistungsschau auf neutralisiertem Boden gelesen werden. Die Nationalstaaten vertrauten weniger dem Symbolgehalt der historischen Überreste als dem nationalen Großdenkmal als gebautem Ausdruck ihrer Wiedererstehung nach der völligen Infragestellung durch den Nationalsozialismus, wobei die jeweiligen in Mauthausen zu beklagenden Opfer im Sinne eines politischen Totenkults in diese Nationserzählung integriert wurden.6

5 Vgl. Knigge, Vom Reden und Schweigen der Steine, 200 ff. (wie Anm. 4). 6 Vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 169–187 (wie Anm. 2)  ; Hildegard Schmid/Nikolaj Dobrowolskij, Kunst, die einem Kollektiv entspricht … Der internationale Denkmalhain in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2007.

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Die Lesbarkeit des Überrestes  : Erste Überlegungen zu einer historischen Ausstellung Dass der Überrest nicht für sich selbst spricht, aber auch das nachträgliche Denkmal in Bezug auf die Vermittlung der Realität des Lagers defizitär war, war den ehemaligen Häftlingen, die sich für die Errichtung der Gedenkstätte engagiert hatten, klar. Von Anfang an verband sich mit der Gedenkstättenwerdung die Forderung nach einer entsprechenden Textierung. Die Vorschläge reichten von einer einfachen Bezeichnung der Orte und Objekte bis zur umfassenden historischen Kommentierung, von erklärenden und erläuternden Texten bis zur Einrichtung einer historischen Ausstellung. Erste Überlegungen zu einer Ausgestaltung des Lagers mit erklärenden Texten und Bildern waren schon 1947 anlässlich der Übergabe an die Republik angestellt worden, auch war ein kurzer historischer Wegweiser zu den Feierlichkeiten publiziert worden. Konzepte der historischen Erläuterungen wurden aber im Zuge der Errichtung der Gedenkstätte bis 1949 nicht umgesetzt.7 Erst die von vielen Seiten nach Einrichtung der Gedenkstätte gestellte kritische Frage, wie deren nun so sauberes Erscheinungsbild mit dem Geschehen im KZ in Bezug gesetzt werden könnte,8 belebte die Diskussion über die möglichen Formen einer historischen Erläuterung, wobei unklar blieb, wer eigentlich als Publikum angesprochen werden sollte – eine Frage, die angesichts der Haltung der österreichischen Gesellschaft zum Nationalsozialismus wohl nicht zufällig offenbleiben musste. Trotz der politisch schwierigen Situation versuchte der KZ-Verband, die Ausgestaltung der Gedenkstätte Mauthausen voranzutreiben. 1949 gaben die österreichischen Überlebenden Josef Kohl und Hans Maršálek einen ausführlicheren „Wegweiser“ durch das ehemalige Lager heraus, der die Informationslücke ein Stück schließen sollte.9 Bewegung in die Frage der Ausgestaltung der Gedenkstätte kam vor allem durch die Aktivitäten nichtösterreichischer Institutionen wie die an die Bundesregierung adressierte scharfe Kritik des sowjetischen Hochkommissars an der Gestaltung der Gedenkstätte. Diese habe „das

7 In Memoriam Mauthausen. Zur Erinnerung aus Anlass der feierlichen Übergabe des KZ Mauthausen durch das Oberkommando der sowjetischen Besatzungstruppen an die österreichische Bundesregierung am 20. Juni 1947, o.O., o.J. 8 Vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 111–118 (wie Anm. 2). 9 Josef Kohl/Hans Maršálek, Das war Mauthausen, hg. v. Mauthausen-Komitee des Bundesverbandes der österr. KZ-ler, Häftlinge und politisch Verfolgten, Wien o.J. [1949].

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Lager Mauthausen aus einem Andenken an die Hitlerischen Grausamkeiten in eine Anstalt von nahezu parademäßigem Aussehen, die eher einem Erholungsheim als einer Hitlerischen Todesfabrik ähnlich ist“, verwandelt. Bundeskanzler Figl, selbst Überlebender des KZ Mauthausen, wies diese Kritik zwar dezidiert zurück, stellte aber in Aussicht, erläuternde Tafeln an einzelnen Objekten des Lagers anzubringen, die den Zweck dieser Stätten erläutern und an die Leiden der Häftlinge erinnern sollten.10 Im Mai 1950 bekräftige der KZ-Verband auf seinem zweiten Bundesdelegiertentag in Linz die Forderung nach einer entsprechenden „Ausgestaltung des KZ Mauthausen“.11 Der einstimmig angenommene Antrag des Wiener Mauthausen-Komitees – das in enger Verbindung mit dem KZ-Verband stand – setzte sich kritisch mit den Instandsetzungsarbeiten im Zuge der Einrichtung der Gedenkstätte auseinander. Man fühle sich in ein Erholungsheim versetzt, so die ganz in Anlehnung an die Sowjets geäußerte Kritik an der „Beschönigung“ des Lagers. Um derartige Fehleindrücke zu verhindern, müssten nun die Überreste für die Besucher lesbar gemacht werden und „mit allen Mitteln auf eine entsprechende Ausgestaltung“ gedrängt werden.12 Die Vorschläge, adressiert an das für die Gedenkstätte zuständige Land Oberösterreich, stellten ein detailliertes Konzept für eine historische Ausstellung dar. In den Häftlingsbaracken, aber auch in der Gaskammer, beim Block 20 oder im Häftlingsbad sollten Originalfotos aus der NS-Zeit, insbesondere „Leichenberge und Hingerichtete“ mit entsprechender Beschriftung sowie „eindrucksvolle Statistiken“ wie z. B. Belegungszahl der Baracken, Nahrungsmittelrationen in Kalorien, tägliche Todeszahlen des Lagers oder eines „Blocks“ zusammen mit „eindrucksvollen Schilderungen“ des Lagerlebens angebracht werden. Im Block 20 waren eine detaillierte Darstellung seiner Funktion sowie besondere Hinweise auf den Ausbruch der sowjetischen Häftlinge und die dadurch ausgelöste Großfahndung unter Beteiligung der Bevölkerung („Mühlviertler Hasenjagd“) vorgesehen. Weiters wurde gefordert, dass Tafeln „an allen erinnerungswürdigen Stellen“ wie der Todesstiege oder der Hinrichtungsstätte angebracht werden, eine der leer stehenden Baracken sollte zu einem „Kino- und Vortragsraum (Art Dokumentararchiv)“ ausgestaltet wer10 Vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 121ff. (wie Anm. 2). 11 Vgl. Beschlüsse des zweiten Bundesdelegiertentages des Bundesverbandes der österreichischen KZler, Häftlinge und politisch Verfolgten vom 6.5.1950, hg. v. Bundesverband, o.O., o.J. (Kopie im Besitz des Verfassers). 12 Ebd.

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den. Auffällig an diesen frühen Vorschlägen ist vor allem die Rolle, die der Kunst zugewiesen wurde  : Sie sollte das als bildlich kaum darstellbar erachtete Häftlingserleben durch realistische Darstellungen vermitteln. Künstler sollten aufgefordert werden, Bilder anzufertigen, die das „Leben und Morden im Lager“ verständlich machen sollten.13 Landeshauptmann Heinrich Gleißner (ÖVP) nahm Mitte 1950 Verhandlungen mit den drei oberösterreichischen Opferverbänden über die konkrete Umsetzung dieser Vorschläge auf, nachdem das Land Oberösterreich 1949 offiziell die Zuständigkeit für die Gedenkstätte Mauthausen im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung übernommen hatte.14 Gleißners durchgehende politische Linie, die Aufspaltung in parteigebundene Opferverbände ein Stück weit aufzuheben und sogar die Zusammenarbeit mit den Kommunisten fortzuführen, kam nicht nur in diesen Verhandlungen zum Ausdruck, sondern auch in der Einbeziehung des kommunistisch dominierten Wiener Mauthausen-Komitees bei den notwendigen Vorarbeiten. Den gemeinsamen Nenner sah Gleißner in der Einigung auf die Opferthese, das Wiener Mauthausen-Komitee wurde ersucht, bei der Ausgestaltung „eine Form zu suchen, in welcher eindeutig manifestiert wird […], daß das österreichische Volk an den Grausamkeiten des faschistischen Regimes keinen Anteil hatte“. 15 Gleißners grundsätzliche Unterstützung der Forderungen des KZ-Verbandes fand in den Ministerien in Wien keine ungeteilte Zustimmung. Forderungen nach einem Kino wie auch einem großen Gedenkstein im „Russenlager“ konnten mit Verweis auf hohe Kosten zwar zurückgestellt werden, bei den vergleichsweise geringen Ausgaben für eine Textierung kam man aber in Argumentationsnöte. „Es dürfte“, wie man im Finanzministerium festhielt, „aus politischen Erwägungen nicht zu vermeiden sein, zumindest den mit geringen Mitteln realisierbaren Vorschlägen des KZ-Verbandes näherzutreten.“16 Die Zusammenarbeit zwischen dem konservativen Landeshauptmann und dem kommunistischen KZ-Verband sollte allerdings rasch scheitern. Bei einer Sitzung aller parteinahen Opferverbände und des Landes Oberösterreich im 13 Ebd. 14 Ausführlich zu den gesamten Verhandlungen vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 123–130 (wie Anm. 2). 15 Niederschrift über die Besprechung in Angelegenheit Ausgestaltung des KZ-Lagers Mauthausen, 12.7.1950, Archiv der Abteilung IV/7 im Bundesministerium des Innern (Archiv des Mauthausen-Museums = AMM) 36.043–9/50, GeZl. 101.687–9/50. 16 Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik (ÖStA/AdR), BMF 3400–2/50, GeZl. 78732– 2/50.

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Innenministerium beanspruchten Vertreter des Wiener Mauthausen-Komitees (und Mitglieder des KZ-Verbandes) für sich ein Deutungsmonopol und sprachen den oberösterreichischen Opferverbänden jede Berechtigung zur inhaltlichen Mitsprache ab. Untermauert wurde dies durch ein nun auf 20 Seiten ausgeweitetes Detailkonzept für die historische Kommentierung der Gedenkstätte.17 Nach diesem Konzept sollten schriftliche, bildliche und statistische Darstellungen bei den einzelnen historischen Stätten des Lagers angebracht werden, „um den Besuchern die unmenschlichen Bedingungen des Lagerlebens im KZ Mauthausen zeigen zu können“. Um einen möglichst nachhaltigen Eindruck bei den BesucherInnen zu erzeugen, war daran gedacht, die Baracke 6 in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen. Die Stube B der Baracke 1 war als Ausstellungsraum mit Vitrinen konzipiert, in denen Gegenstände, Statistiken, Berichte und Niederschriften gezeigt werden sollten. Ehemalige Häftlinge sollten künstlerisch gestaltete Wandtafeln mit Szenen des Häftlingslebens beisteuern. Die 1948/49 eingerichtete Kapelle in der Wäschereibaracke sollte mit einer kleinen Orgel versehen, Wegweiser sollten mehrsprachig gedruckt und kostenlos verteilt werden. Die Beschriftungstexte selbst enthielten Beschreibungen der jeweiligen Objekte und Orte des Lagers, kombiniert mit detaillierten Schilderungen von Grausamkeiten aus der Perspektive der ehemaligen politischen Häftlinge. Landeshauptmann Gleißner sprach sich nun nicht nur dezidiert gegen die Vorschläge aus, sondern kündigte als Folge der Sitzung jede Zusammenarbeit mit dem Wiener Mauthausen-Komitee auf  : Nachdem man sich größte Mühe gegeben habe, dessen Wünsche umzusetzen, werde die Landesregierung als Verwaltungsorgan des Bundes künftig nur noch vom Innenministerium ergehende Aufträge zur Ausgestaltung des ehemaligen KZ-Lagers Mauthausen ausführen.18 Dass der KPÖ-nahe KZ-Verband bzw. das mit ihm verbundene Wiener Mauthausen-Komitee den Bruch mit Gleißner herbeiführte, der in Bezug auf Mauthausen die einzig verbliebene relevante Unterstützung aus einem anderen politischen Lager bot, hatte wohl mit ideologischen Zuspitzungen im Kalten Krieg zu tun. Denn so sehr der Landeshauptmann auf eine Integration der politischen Lager mit der Opferthese als gemeinsamen Nenner setzte – eine Integrationspolitik, die übrigens auch vor den ehemaligen Nationalsozialisten 17 Ausführlich bei Perz, KZ-Gedenkstätte, 125ff. (wie Anm. 2). 18 Amt der oö. Landesregierung an BMI, 8.6.1951, AMM 52.874–9/51, GeZl. 91.315–9/51.

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nicht haltmachte19 – und folglich jeglicher nicht konsensfähigen Geschichtsdarstellung ablehnend gegenüberstand, so sehr war man auf kommunistischer Seite geneigt, die historische Darstellung den eigenen politischen Erfordernissen und Absichten unterzuordnen und auf dieser zu beharren. So unterwarf sich etwa auch Hans Maršálek Anfang der 1950er-Jahre noch ganz der von der kommunistischen Partei geforderten Geschichtserzählung, die eine angebliche Selbstbefreiung der Häftlinge gegenüber der tatsächlichen Befreiung durch amerikanische Truppen behauptete.20 Die weiteren Verhandlungen über historische Erläuterungen waren durch den Konflikt schwer beeinträchtigt. Im August 1952 vom KZ-Verband übermittelte, abgeänderte Textvorschläge fanden nicht die Zustimmung Gleißners, der vor allem monierte, dass die Texte „immer noch allzusehr die an und für sich verständlichen Ressentiments der seinerzeitigen KZ-Häftlinge widerspiegeln“. Gleißner forderte nach wie vor eine Darstellung, die nicht nur den Staat, sondern auch die Gesellschaft als Opfer des Nationalsozialismus auswies. Es sei „an geeigneter Stelle darauf hinzuweisen, daß an diesen Geschehnissen der weitaus größte Teil des österreichischen Volkes keine Schuld trägt, und daß es in Österreich niemals zu solchen furchtbaren Verirrungen gekommen wäre, wenn es in den tragischen Märztagen des Jahres 1938 nicht ohne Unterstützung und Schutz des Auslandes geblieben wäre.“

Nach einer weiteren Überarbeitung im Innenministerium konnte letztlich eine Einigung erzielt werden.21 Die dreisprachigen Texte (Deutsch, Französisch, Russisch) spiegelten den komplizierten Aushandlungsprozess wieder. Historische Erläuterungen fanden sich vor allem als Beleg des Häftlingsleidens. Die ökonomischen Verflechtungen des Konzentrationslagers sowie die gesamte Täterseite wurden weitestgehend ausgeblendet. Hinzu kam, dass sich die Beschriftungstafeln vor allem an den verbliebenen historischen Überres19 Zur Haltung Gleißners in der Entnazifizierungsfrage vgl. Walter Schuster, Politische Restauration und Entnazifizierungspolitik in Oberösterreich, in  : ders./Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004. 20 Hans Maršálek  : Mauthausen mahnt  ! Kampf hinter Stacheldraht. Tatsachen, Dokumente und Berichte über das größte Hitlersche Vernichtungslager in Österreich. Mauthausen, hg. v. Komitee des Bundesverbandes der Österreichischen KZ-ler, Häftlinge und Politisch Verfolgten, Wien 1950  ; vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 127f. (wie Anm. 2). 21 Vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 129f. (wie Anm. 2).

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ten orientierten, eingeschränkt auf das gegenüber dem KZ-Areal und dem SS-Lager- und Interessensbereich zwischen St. Georgen an der Gusen und Mauthausen kleine Gedenkstättenareal, und schon deshalb viele Themen, vor allem auch die Einbindung des Lagers in sein Umfeld, kaum angesprochen wurden. Trotzdem können diese historischen Erläuterungen des Geländes und der Überreste des Lagers als Vorform einer historischen Ausstellung gesehen werden. Das Beschriftungssystem war ein wesentlicher Schritt dahin, für KZ-Verband wie IMK blieb das Ziel jedoch die Einrichtung eines zeitgeschichtlichen Museums mit einer umfassenden historischen Ausstellung.

Jugenderziehung und „nation building“  : Die Realisierung einer historischen Ausstellung in den 1960er-Jahren Waren in den 1940er- und 1950er-Jahren die Forderungen von Opferverbänden nach einer Ausstellung vor allem mit der Tatsache begründet worden, dass die Überreste allein in ihrer renovierten Form einen falschen Eindruck von der historischen Realität des Lagers vermitteln würden, so trat ab Ende der 1950er-Jahre ein neues Argument für die Notwendigkeit einer historischen Ausstellung hinzu  : die Erziehung einer Jugendgeneration, die aus eigenem Erleben keine Kenntnisse mehr über die Zeit des Nationalsozialismus hatte. Erstmals wurde mit „der Jugend“ ein konkreter Adressat für einen Gedenkstättenbesuch benannt. Gleichzeitig wurde der inhaltliche Fokus auf die Geschichte des Widerstandes gelegt. Aber weder der kommunistisch dominierte KZ-Verband noch das Internationale Mauthausen-Komitee, das auch als Sprachrohr des KZ-Verbandes fungierte, waren politisch, organisatorisch und finanziell in der Lage, von sich aus eine Ausstellung in Mauthausen zu realisieren. Möglich wurde die Errichtung einer historischen Ausstellung nur durch die Annäherung der Interessen von Republik und IMK bzw. KZ-Verband in der Frage der Jugenderziehung sowie beim Thema Widerstand. Seit Anfang der 1960er-Jahre wurde – in Österreich wie in der Bundesrepublik Deutschland – auf breiter Ebene im Bereich der schulischen Bildung intensiv die Frage von Defiziten in der Jugenderziehung im Hinblick auf die historische und politische Bildung über den Nationalsozialismus diskutiert. In Österreich ging dies einher mit einem Interesse für die Stärkung eines österreichischen Nationsbewusstseins, die unter dem Vorzeichen von Österreich als dem ersten Opfer des NS-Staates erfolgen sollte. Zeitgeschichte, die sich in den 1960er-Jahren als wissenschaftliches Fach zu etablieren begann, sollte

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als Unterrichtsfach Abhilfe schaffen und diesen politischen Auftrag des „nation building“ erfüllen, indem der Fokus auf das Thema des (österreichischen) Wider­stands gelegt wurde. Das konkrete Interesse der Regierung an einer historischen Ausstellung in Mauthausen muss im Zusammenhang mit den 1965 bevorstehenden 20-Jahrfeiern der Wiedererrichtung der Republik gesehen werden. Die Regierung hatte im Februar 1962 ein „Ministerkomitee für die Herausgabe einer geschichtlichen Darstellung über den Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung im Sinne der Moskauer Deklaration“ gebildet. Der Historiker Ludwig Jedlicka, der zu dieser Zeit als Dozent bereits die Gründung eines schließlich 1966 geschaffenen, ersten universitären Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien betrieb, wurde gemeinsam mit Friedrich Heer mit der Leitung eines entsprechenden Forschungsprojektes beauftragt. Bis 1965 sollte eine Dokumentation mit dem Titel Die österreichische Widerstandsbewegung 1938 bis 1945 erarbeitet werden. Die Bundesregierung wollte als Herausgeber fungieren.22 Eine historische Ausstellung in der Gedenkstätte Mauthausen, wie sie vom IMK an die Bundesregierung als Projekt herangetragen wurde, die den Widerstand im Konzentrationslager allgemein und insbesondere den Widerstand österreichischer KZ-Häftlinge als Beitrag zur Befreiung Österreichs zum Thema hatte, passte in das Gesamtkonzept dieser Geschichtsdarstellung, wie sie 1965 präsentiert werden sollte, und traf sich zudem mit den Interessen der ehemaligen kommunistischen Häftlinge an der Darstellung ihres Widerstands. Gleichzeitig war das Thema „Konzentrationslager“ in der Öffentlichkeit durch internationale Ereignisse – der Eichmann-Prozess in Jerusalem und der Frankfurter Auschwitz-Prozess erregten großes mediales Interesse – präsenter geworden. Voraussetzung für das Engagement der Republik für die Ausstellung war die – vor dem Hintergrund einer weltweiten Entspannungsphase – ansatzweise Wiedervereinigung der seit 1947/48 entlang der parteipolitischen Grenzen gespaltenen Opferverbände in einer Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen im Jahr 1964 nach dem Vorbild der kurz zuvor erfolgten Gründung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes.23 Mit

22 Gerhard Oberkofler, Das Regierungsprojekt einer Dokumentation über den Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung, Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft (2003) Nr. 3, . Das Projekt, in das auch eine Reihe anderer HistorikerInnen mit einbezogen wurde, scheiterte letztlich wegen des Endes der Großen Koalition 1966. 23 Vgl. Winfried R. Garscha, Das Archiv des DÖW, in  : Bewahren – Erforschen – Vermitteln. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, hg. v. DÖW, Wien 2008, 9–21.

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dieser überparteilichen Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen (ÖLGM) hatte die Regierung nun eine Ansprechpartnerin, der sie die Gestaltung der Ausstellung zu übertragen bereit war. Die Vorschläge für die Gestaltung des „Museum“ genannten Ausstellungsprojekts kamen zwar vom IMK, offiziell hatte dieses aber auf entscheidende Mitsprache bei der Gestaltung der historischen Ausstellung verzichtet. Bis Mitte 1964 waren die positiv verlaufenden Gespräche mit dem Innenministerium über das Museumsvorhaben des IMK so weit gediehen, dass Innenminister Franz Olah (SPÖ) am 14. Juli 1964 einen entsprechenden Antrag im Ministerrat einbringen konnte, der der neu gegründeten ÖLGM eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der historischen Ausstellung einräumte. 24 In dem vom IMK vorgeschlagenen Museum sollte, so Olah in seinem Vortrag für den Ministerrat, „nach Ansicht des Internationalen Mauthausenkomitees jenes Material zur Schau gestellt werden, das über die Errichtung des ehemaligen KZ-Lagers Mauthausen, die Einrichtung desselben, die Lebensbedingungen der Häftlinge, das Leiden und Sterben der Angehaltenen und schließlich über die Befreiung der Überlebenden dieses Lagers im Jahre 1945 Aufschluß“

gebe.25 Das Museum sollte durch die „Lagergemeinschaft der ehemaligen Deportierten von Mauthausen in Österreich im Einvernehmen mit und nach den Direktiven der österreichischen Behörden“ gestaltet, die Kosten von der Republik Österreich getragen werden. Vorgesehen waren weiters Ausstellungsräume für einzelne Staaten, deren Angehörige in Mauthausen interniert gewesen waren. Die Kosten dafür sollten von den einzelnen Nationen bzw. deren Lagergemeinschaften bestritten werden. Als Räume für die allgemeine historische Ausstellung wurde die ehemalige Küchenbaracke, für mögliche Ausstellungen anderer Nationen das Reviergebäude vorgeschlagen. 26 Wegen großer Bauschäden in der Küchenbaracke entschied man sich schließlich jedoch, die Hauptausstellung im Reviergebäude unterzubringen. Das Konzept

24 Vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 221ff. (wie Anm. 2). 25 BMI Olah, Vortrag für den Ministerrat betr. Öffentliches Denkmal Mauthausen, Einrichtung eines Museums, vom 25.6.1964, AMM V 1/1g  ; Regierung beschließt Mauthausenmuseum, in  : Volksstimme, 15.7.1964. 26 BMI Olah, Vortrag für den Ministerrat betr. Öffentliches Denkmal Mauthausen, Einrichtung eines Museums, vom 25.6.1964, AMM V 1/1g.

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nationaler Ausstellungen, wie es etwa in der Gedenkstätte Auschwitz realisiert worden ist, kam in Mauthausen nicht zustande. Um die notwendigen Mittel für das Museum abschätzen zu können, wurden seitens des Innenministeriums die Kosten für bereits vorhandene Ausstellungen vergleichbarer ausländischer KZ-Gedenkstätten wie Dachau, Auschwitz oder Natzweiler-Struthof sowie von verschiedenen Gedenkstätten der Widerstandskämpfer in der ČSSR und der Gedenkstätte Port de Breendonk in Belgien ermittelt. Als konkretes Vorbild für das Museum diente die Gedenkstätte Dachau. Für das Museum in Mauthausen wurde mit einem Kostenaufwand von 2 bis höchstens 3 Millionen Schilling gerechnet.27 Das Innenministerium sollte ehestens mit der Erstellung eines konkreten Projektes sowie mit der Sammlung des notwendigen Materials beginnen. Als Koordinator für das Museumsvorhaben, das zunächst vor allem die Sammlung und Sicherstellung von Dokumenten und Objekten erforderte, wurde trotz seiner Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei der bei der Wiener Polizei tätige Hans Maršálek ab 1. September 1964 durch das BMI beauftragt und vom Dienst freigestellt. Da infolge der späten Herausbildung einer österreichischen Zeitgeschichtsforschung der Prozess der Ausgestaltung Mauthausens weitgehend abseits der akademischen Geschichtswissenschaft stattfand, war Maršálek wohl die einzige Person, die für die Realisierung des Projektes infrage kam.28 Die optimistischen Erwartungen von Lagergemeinschaft und Regierung, das Museum bereits 1965 eröffnen zu können, sollten sich allerdings nicht erfüllen. Die Lagergemeinschaft konnte Ende 1964 nur eine – nicht angenommene – vage Einladung an Bundeskanzler Klaus für die Gedenkveranstaltung 1965 aussprechen, im Falle des rechtzeitigen Abschlusses der Vorarbeiten die Grundsteinlegung des Museums an diesem Tage durchzuführen. 29 Die Recherche 27 Ebd., bis dahin hatte die Republik Österreich ca. 7 Millionen Schilling für die Gedenkstätte Mauthausen aufgewendet. 28 Maršálek nahm damit eine Schlüsselstellung im Organisationsgeflecht der KZ-Gedenkstätte Mauthausen ein  : als Schriftführer der parteiübergreifenden Österreichischen Lagergemeinschaft, als Kassier des Internationalen Mauthausen-Komitees und als dem Innenministerium für die Ausstellung dienstzugeteilter Beamter der Bundespolizeidirektion Wien. Zu seiner Bio­grafie vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 270 (wie Anm. 2). Mit der vom 1966 neu gegründeten Institut für Zeitgeschichte betreuten Dissertation von Gisela Rabitsch, Konzentrationslager in Österreich 1938 bis 1945. Überblick und Geschehen, Diss. phil. Wien 1967, die auch auf die Sammlung von Maršálek zugreifen konnte, lag erstmals eine umfassende wissenschaftliche deutschsprachige Studie zu Mauthausen vor. 29 Vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 224 (wie Anm. 2).

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nach Materialien erwies sich als äußerst zeitaufwendig. Maršálek unternahm zahlreiche Auslandsreisen in west- und osteuropäische Länder mit großem Erfolg, wobei es ihm aufgrund seiner Reputation aus der Zeit des Lagers und seiner guten Beziehungen zu ehemaligen Mauthausen-Häftlingen, die mittlerweile vielfach hohe und höchste Regierungsämter bekleideten, gelang, politisch motivierte Zurückhaltung bei der Sammlung von Materialien von vornherein gering zu halten. Bis 1967 konnte die Sammlung so weit abgeschlossen werden, dass eine Umsetzung in eine Ausstellung möglich war. Maršálek hatte bis zu diesem Zeitpunkt auch ein inhaltliches Szenarium entwickelt. Für die Ausgestaltung des Museums wurde der Wiener Maler und Grafiker Hans Escher30 engagiert, der u. a. mehrere Ausstellungen für die Stadt Wien und 1965 eine Wanderausstellung über die österreichische Widerstandsbewegung für das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes gestaltet hatte  ; mit den architektonischen Arbeiten wurde die Linzer Architektin Irmgard Nobl beauftragt.31 Die voranschreitende Realisierung des Museums veranlasste das IMK, nun noch einmal mehr Mitsprache bei der inhaltlichen Gestaltung des Museums einzufordern, was aber vom Innenministerium strikt abgelehnt wurde. Man verwies auf die Mitarbeit des IMK-Mitglieds Maršálek und die ÖLGM.32 Im November 1967 ermächtigte der Ministerrat das Bundesministerium für Inneres, die für die Einrichtung eines Museums im Öffentlichen Denkmal Mauthausen notwendigen Aufträge zu erteilen. Das Museum sollte sich über das Erdgeschoss und den Keller erstrecken und mit Nebenräumen eine Gesamtfläche von 1.043 m2 umfassen. Die Ausstellung sollte „eine zeitgeschichtliche Einführung (Terrorakte der Nationalsozialisten in Österreich, Machtergreifung im Jahre 1938 etc.), eine Übersicht über die Konzentrationslager in ‚Großdeutschland‘ und eine Darstellung des Lagers Mauthausen von der Gründung bis zur Befreiung, einschließlich der Schilderung von Einzelschicksalen“ 30 Zur Biografie von Escher vgl. International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945. Volume II/Part 1  : A-K. The Arts, Sciences, and Literature, hg. v. Herbert A. Strauss/Werner Röder, München – New York – London – Paris 1983, 271. 31 Zur Wanderausstellung des DÖW vgl. Peter Larndorfer, Gedächtnis und Musealisierung. Die Inszenierung von Gedächtnis am Beispiel der Ausstellung „Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945“ im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1978–2005, Dipl. phil. Wien 2009, 111ff. 32 Vgl. Perz, Die KZ-Gedenkstätte, 226f. (wie Anm. 2).

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Entwurf für eine Ausstellungstafel zur SS in Mauthausen (Tafel 98) mit Korrekturvermerken (Quelle  : AMM, Fotoarchiv)

umfassen. In der Baracke 6 sollten einige Schauräume die Wohnverhältnisse der Häftlinge verdeutlichen. Der Ministerrat genehmigte für die Instandsetzung und Adaptierung der Gebäude einen Betrag von 3.269.000 Schilling, wobei die Kosten für die Einrichtung des Museums selbst darin noch nicht enthalten waren. Mit den notwendigen baulichen Maßnahmen sollte möglichst noch im selben Jahr begonnen werden, die Bau- und Einrichtungsarbeiten sollten sich aber bis 1969 hinziehen. Bis zur Eröffnung im Mai 1970 wurden insgesamt 4,5 Millionen Schilling für das Projekt aufgewendet.33 Die Ausstellung umfasste über 130 Tafeln und Vitrinen, die die von Maršálek gesammelten bildlichen und schriftlichen Quellen sowie Originalobjekte wie etwa Häftlingskleidung präsentierten. Wo keine Originalobjekte für das Museum beschafft werden konnten, wurden Rekonstruktionen aus33 Ebd., 227f.

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gestellt, wie etwa der für Prügelstrafen verwendete „Bock“, dessen Original sich in der Gedenkstätte Theresienstadt/Terezin befand. Inhaltliche Kommentierungen und Zusatzinformationen wurden eher zurückhaltend eingesetzt, offensichtlich sollten die Quellen in der Ausstellung für sich selbst sprechen. Die Themenschwerpunkte, nach denen die Ausstellung gegliedert war, reichten von topografischen Informationen über die politischen Hintergründe des „Anschlusses“ und die Einrichtung des Lagers über Themen wie Häftlinge, Bevölkerung und lokale Behörden, Medizin im Lager, Massenmorde, Bewachung und Verwaltung, Kunst und Widerstand bis hin zur Befreiung. Eindeutig dominierten die Themen Häftlinge sowie Befreiung und Widerstand. Inhaltlich bestätigte die aus Sicht der ehemaligen politischen Häftlinge konzipierte Ausstellung im Wesentlichen die schon bei der Einrichtung der Gedenkstätte 1949 im Vordergrund stehenden Aussagen. Die österreichische Perspektive auf die Geschichte des Lagers stand im Vordergrund, was besonders an der unterschiedlichen Gewichtung in der Präsentation der verschiedenen Häftlingskategorien und -nationalitäten deutlich wird. Betont wurde die „Opfer“-Rolle Österreichs gegenüber seiner „Täter“-Rolle. Generell dominierte die Ausstellung eine dichotomische entdifferenzierte Gegenüberstellung des Bildes von den brutalen Tätern und von den Opfern als einer widerständigen Solidargemeinschaft. Ausgenommen wurden auf der Opferseite die kriminell kategorisierten Häftlinge, die weitgehend als Werkzeuge der SS dargestellt wurden, sowie jüdische Häftlinge, Frauen und Kinder, die allesamt in einem passiven „schicksalhaften“ Kontext gezeigt wurden. Die Unterbringung der Ausstellung im sogenannten „Neuen Revier“ ermöglichte den Gestaltern eine sehr spezifische Verknüpfung von zeitgeschichtlicher Information und Relikten des Lagers, die auf wechselweise Verstärkung der Effekte angelegt war. Die Wegführung durch die Ausstellung war so konzipiert, dass die BesucherInnen am Ende der Ausstellung in den Bereich der Krematorien und der Gaskammer gelangten, letztere sogar durchschreiten mussten und dann im Hinrichtungsraum ankamen, wollten sie nicht den ganzen Weg durch die Ausstellung zurückgehen. Erst nach Begehung dieses Bereichs konnte das Gebäude wieder verlassen werden. Die nicht zuletzt auf Einfühlung und Schockwirkung zielende Präsentation der Tötungseinrichtung sollte wohl den Wahrheitsgehalt der zuvor präsentierten historischen Informationen unterstreichen, gleichzeitig konnte dieser Bereich nicht ohne vorherige Vorbereitung und historische Interpretation durch die Ausstellung betreten werden.

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Vitrine mit Zyklon-B-Dosen in der 1970 eröffneten Ausstellung (Quelle  : AMM, Fotoarchiv)

War die Ausstellung weitgehend in der Ära des konservativen Bundeskanzlers Josef Klaus entstanden, so fiel die Eröffnung nun in den Beginn der Kanzlerschaft Bruno Kreiskys, dessen sozialdemokratische Minderheitsregierung zwei Wochen vor der Eröffnung der Ausstellung, die am 3. Mai 1970 stattfand, angelobt worden war. Kreisky hielt seine Gedenkansprache am Appellplatz, die – dem Anspruch der Sozialdemokratie auf Gestaltung der Zukunft entsprechend – nach vorne blickte und dabei im Hinblick auf die Museumseröffnung in optimistischer Erwartung die Funktion von Zeitgeschichte für die Gestaltung der Gesellschaft betonte. „Die Geschichte und insbesondere die Zeitgeschichte“, so das in den Medien hervorgehobene Diktum, „muß uns klüger machen für ein anderes Mal.“34 Als sozialdemokratischer Vertreter der österreichischen Lagergemeinschaft betonte Alfred Migsch bei der Eröffnung des Museums, dass bald die letzten überlebenden Zeugen tot sein würden und deshalb die Errichtung dieses Mu34 Mahnung für eine weniger grausame Zeit, in  : Die Presse, 4.5.1970  ; Kreisky  : Vernichtung darf keine Kategorie der Politik mehr sein, in  : A.Z., 5.5.1970.

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seums ein Hauptanliegen der Lagergemeinschaft gewesen sei. Er machte damit deutlich, dass das Museum so etwas wie das Vermächtnis der politischen Häftlinge repräsentiere und Mauthausen in naher Zukunft nur mehr Teil des kulturellen Gedächtnisses sein würde – eine Entwicklung, die allerdings erst in den 1990er-Jahren tatsächlich in der Gedenkstätte spürbar wurde. Mit der Einrichtung eines zeitgeschichtlichen Museums, das auch Teile der Überreste des Lagers integrierte, sollten die Funktionen der Gedenkstätte als Friedhof und Denkmal gegenüber dem Lernort an Bedeutung verlieren. Die historischen Überreste selbst waren nun nicht mehr nur Denkmal, sondern in Bezug auf die Ausstellung Großexponate geworden. Als Museum beherbergte die Gedenkstätte Mauthausen für lange Zeit die einzige Dauerausstellung zur Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich. Die Ausstellung war Voraussetzung dafür, dass vor dem Hintergrund sozialdemokratischer Bildungspolitik die Gedenkstätte bis Mitte der 1980er-Jahre zum zentralen Ort der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in Österreich werden konnte.35 Entsprechend ihrer Bedeutung wurde die Ausstellung 1981 grafisch überarbeitet und inhaltlich ergänzt. Die Gestaltung übernahm nun das Wiener Atelier Furherr, das auch für das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands tätig und für die Grafik der 1978 in der Gedenkstätte Auschwitz eröffneten Österreichischen Gedenkstätte zuständig war.36

Weitere historische Ausstellungen in Mauthausen Das rasant steigende öffentliche Interesse an Mauthausen bewog die Lagergemeinschaft Anfang der 1980er-Jahre, sich für den Ausbau der Funktion der Gedenkstätte als zeitgeschichtliches Museum zu engagieren. So wurde 1981 die vorhandene historische Ausstellung ergänzt, in Teilen überarbeitet und grafisch neu gestaltet. Die Möglichkeiten für Veränderungen waren aber beschränkt. Da die Lagergemeinschaft Mauthausen mit erheblichem finanziellen Aufwand eine Reihe von „Selbstbetreuungs-Informationsschriften“ publiziert hatte, deren Verweissystem auf die Ausstellung bezogen war, wäre ihr durch 35 Ausführlich dazu Perz, KZ-Gedenkstätte, 235–241 (wie Anm. 2). 36 Brigitte Bailer/Bertrand Perz/Heidemarie Uhl, Neugestaltung der Österreichischen Gedenkstätte im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Projektendbericht Juni 2008, .

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Cover des zur Ausstellung Österreicher in nationalsozialistischen Konzentrationslagern e­rschienenen Wegweiser durch die ständige Ausstellung, herausgegeben von der Österreichischen ­Lagergemeinschaft Mauthausen, Wien o.J.

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eine komplette Neustrukturierung ein großer finanzieller Schaden entstanden.37 Seit 1980 wurde an der Einrichtung einer zweiten Ausstellung im „Neuen Reviergebäude“ gearbeitet. Das in den 1960er-Jahren verfolgte Konzept, dieses Gebäude auch anderen Staaten für nationale Ausstellungen zur Verfügung zu stellen, wurde nun allerdings auf den Kopf gestellt. In Umkehrung des ursprünglichen Konzepts nationaler Ergänzungsausstellungen wurde eine zusätzliche Ausstellung mit dem Titel Österreicher in nationalsozialistischen Konzentrationslagern eröffnet, die – wenige Jahre vor der Diskussion um Kurt Waldheim – Österreicher nur auf der Opferseite in den NS-Konzentrationslagern verortete. Das Thema der von Hans Maršálek koordinierten und am 15. September 1982 durch den damaligen Bundesminister für Inneres Erwin Lanc eröffneten neuen Ausstellung war nun nicht die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Deportierten aus anderen Ländern in Mauthausen, sondern das Schicksal von ÖsterreicherInnen in anderen nationalsozialistischen Konzentrationslagern.38 Die thematische Auswahl war allerdings nicht stringent. Neben Dachau, Buchenwald, Sachsenhausen, Ravensbrück und Auschwitz wurde entgegen dem Titel der Ausstellung auch das Ghetto Theresienstadt behandelt. Andere Konzentrationslager, wie Flossenbürg, oder andere Ghettos in Osteuropa, etwa in Łódź, wohin ebenfalls große Deportationstransporte mit 5000 österreichischen Jüdinnen und Juden gegangen und darüber hinaus 5000 burgenländische Roma deportiert worden waren, finden sich in der Ausstellung jedoch nicht.39 Stand hinter dem Konzept, eine Ausstellung der Geschichte der Konzentrationslager rein aus österreichischer Perspektive zu gestalten, sicher auch ein verständliches persönliches Motiv des damaligen Leiters der Gedenkstätte und ehemaligen Häftlings Kurt Hacker, der als Österreicher nicht in Mauthausen, sondern in Auschwitz inhaftiert gewesen war, so bedeutete diese Entscheidung doch eine noch stärkere Betonung einer österreichischen Perspektive in der Gedenkstätte und eine Fortschreibung der Opferthese. Die

37 Interview Kurt Hacker, 21.1.1991, zit. nach Gottfried Fliedl/Florian Freund/Eduard Fuchs/ Bertrand Perz, Gutachten über die zukünftige Entwicklung der Gedenkstätte Mauthausen, Wien 1991, 32f. 38 Österreicher in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Wegweiser durch die ständige Ausstellung, Öffentliches Denkmalmuseum Mauthausen, hg. von der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen, Wien o.J. 39 Vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 240f. (wie Anm. 2).

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Chance, Mauthausen im Rahmen einer Gesamtgeschichte der Konzentrationslager darzustellen, wurde durch die Österreich-Fixierung nicht genützt. Im Vergleich mit der historischen Ausstellung über das Lager Mauthausen aus dem Jahr 1970 scheint die neue Ausstellung in der Geschichtsvermittlung der Gedenkstätte keine große Wirkung entfaltet zu haben, was wohl auch an der Entwicklung der österreichischen Geschichtsdebatten in den 1980er-Jahren lag. Das zentrale Narrativ dieser Ausstellung – Österreicher und Österreicherinnen in ganz Europa als Opfer des Nationalsozialismus – stand in einem krassen Gegensatz zur damals durch die Kandidatur Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten ausgelösten Debatte um die Frage der österreichischen Beteiligung an der nationalsozialistischen Besatzungs- und Genozidpolitik im besetzten Europa  : Sie warf für die historischen Ausstellungen in der Gedenkstätte die Frage nach dem „Täterort“ Mauthausen auf, blieb in der Ausstellung jedoch weitestgehend ausgeblendet. Insoweit bot sie auch keine Antworten auf die in dieser Zeit gesellschaftlich relevanten Fragen. Gebrochen wurde mit der Fixierung auf die österreichischen Opfer nationalsozialistischer Politik erst mit der Etablierung einer weiteren Ausstellung anlässlich des 60. Jahrestages der Einrichtung des Konzentrationslagers Mauthausen. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes richtete 1998 unter Einbindung der universitären Forschung in der ehemaligen Küchenbaracke eine Ausstellung zum Jahr 1938 ein, die auch die Involvierung der österreichischen Gesellschaft in den Nationalsozialismus thematisierte.40

Die Debatte um Mauthausen in den 1990er-Jahren Der geringe Stellenwert, den die österreichische Geschichtswissenschaft der Forschung über Konzentrationslager generell und speziell der Erforschung der Geschichte des KZ Mauthausen und seiner Außenlager in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zumaß, hatte nicht nur zur Folge, dass sich die Geschichtsdarstellung in Mauthausen fast ausschließlich den Bemühungen von Überlebenden verdankte, sondern auch den Effekt, dass die Geschichtsdeutung lange Zeit ausschließlich den organisierten Opferverbänden vorbehalten blieb. Die 40 1938. NS-Herrschaft in Österreich. Texte und Bilder zu der gleichnamigen Ausstellung, hg. v. Bundesministerium für Inneres und dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Auswahl und Zusammenstellung  : Brigitte Bailer/Elisabeth Klamper/Wolfgang Neugebauer, Wien 1998. Die Ausstellung ist heute nicht mehr zugänglich.

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Entwicklung der internationalen KZ-Forschung in den 1980er-Jahren, aber auch die konkreten Forschungen zu Mauthausen und seinen Außenlagern legten vor dem Hintergrund der steigenden Bedeutung Mauthausens in der Geschichtsvermittlung über den Nationalsozialismus für die Wissenschaft die Frage nahe, welche historischen Inhalte die Gedenkstätte Mauthausen als ganzes und speziell die dort befindlichen zeitgeschichtlichen Ausstellungen vermittelten. Darüber hinaus warf die in den 1980er-Jahren aufkommende Forschung über die Außenlager, die deutlich machte, dass die Mehrzahl der verstorbenen Häftlinge von Mauthausen nicht im Hauptlager, sondern in den Lagern außerhalb ums Leben gekommen waren, ganz generell die Frage auf, inwieweit eine Fixierung des Gedenkens auf Mauthausen dieser Tatsache gerecht werden konnte. Die Frage, welche Geschichtsbilder KZ-Gedenkstätten transportieren und – damit verknüpft – wer für die Geschichtsdeutung an diesen Orten zuständig ist, war ganz unmittelbar mit den politischen Entwicklungen Ende der 1980er-Jahre verbunden. Die politischen Umwälzungen in Europa seit 1989, die das Ende der Nachkriegsordnung bedeuteten, führten international zu einer breiten Debatte über die Repräsentation von Geschichte in Gedenkstätten und ihre Nutzung für staatliche Symbolpolitik, die auch vor der Gedenkstätte Mauthausen nicht haltmachte. Neben politischen Veränderungen war für die Diskussion maßgeblich, dass das altersbedingte Ausscheiden der ehemaligen Häftlinge aus der Erinnerungsarbeit für eine jüngere Generation die Frage des möglichen Umgangs mit der Geschichte des Nationalsozialismus in einer Zukunft ohne persönliche Zeugenschaft der Überlebenden aufwarf, an der sich jede Vergangenheitserzählung bis dahin hatte messen lassen. Vor diesem Hintergrund sollte sich in den 1990er-Jahren eine geschichtspolitische Debatte über die Gedenkstätte Mauthausen entwickeln, die um organisatorische, pädagogische, museologische und wissenschaftliche Fragen kreiste, wobei die Ausstellungsinhalte und die Forderung nach einer Neukonzeption der Ausstellungen eine wichtige Rolle spielten.41 Letztlich führte dieser zeitweise nur zäh und langsam voranschreitende Prozess der Reform zur Entwicklung jenes rezenten Neugestaltungskonzeptes, das derzeit unter der Leitung des Innenministeriums umgesetzt wird.42 41 Vgl. dazu Perz, Die KZ-Gedenkstätte, 250–253 (wie Anm. 2). 42 Vgl. Barbara Schätz, Die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, in  : Dachauer Hefte 25 (2009), 255–273.

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Ausstellungen im „neuen Besucherzentrum“ Als erstes wesentliches und sichtbares Zeichen der nach dem Jahr 2000 vom Bundesministerium für Inneres ins Leben gerufenen Reforminitiative entstand das neue Besucherzentrum in der Gedenkstätte Mauthausen, dessen Notwendigkeit aus Forderungen nach Entflechtung der verschiedenen Funktionen der Gedenkstätte wie auch aus didaktischen, musealen und verwaltungstechnischen Erfordernissen abgeleitet wurde.43 Der Bau war nicht unumstritten  : Vertreter der Lagergemeinschaft und die Initiative „Mauthausen-Aktiv“ favorisierten stattdessen eine Jugendbegegnungsstätte.44 Das ab 2002 gegenüber dem Eingang im ehemaligen SS-Garagenhof errichtete Besucherzentrum wurde im Mai 2003 mit der Ausstellung Das Gedächtnis von Mauthausen eröffnet. Die Ausstellung präsentierte in vier Modulen rezente Forschungsarbeiten, die sehr deutlich den Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis anzeigen und erstmals auch die österreichzentrierte Sichtweise auf die Gedenkstätte verlassen. Das Modul „Geschichte der KZ-Gedenkstätte Mauthausen“ setzte sich mit der Nachgeschichte des Lagers auseinander, das Modul „Objekte erzählen Geschichte“ präsentierte erstmals in der Gedenkstätte Theresienstadt/Terezin aufbewahrte Artefakte aus dem KZ Mauthausen, darunter Teile eines Krematoriumofens und technische Einrichtungen der Gaskammer, das Modul „Mauthausen erzählen“ präsentierte zwanzig Videointerviews mit Überlebenden aus dem Mauthausen Survivors Documentation Project, das Modul „Memorial Landscape – Denkmal- und Erinnerungslandschaft Mauthausen“ rekonstruierte anhand der Überschneidung historischer und aktueller Luftaufnahmen die Topografie des Lagersystems von Mauthausen und Gusen.45 Die Ausstel43 Vgl. Herwig Mayer/Leonhard Weingartner/Michael Neuhauser, KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Architektonisches Grundkonzept, Wien 3.7.2001 (Kopie im Besitz des Verf.). Vgl. Das Gedächtnis von Mauthausen, hg. v. Bundesministerium für Inneres. Konzeption und Redaktion  : Bertrand Perz/Christine Schindler/Christian Sturminger/Mario Wimmer, Wien 2004, 6. 44 Vgl. Reforminitiative KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Endbericht (Koordination  : Andreas Baumgartner/Pius Strobl/Wolf Szymanski/Heinz Zimper), Wien 2001, 12f., 24f.; Rudolf Kropf/Herta Neiß, Historisches Gutachten über den Standort der geplanten Europäischen Jugendbegegnungsstätte in Mauthausen, Linz, 15.3.2000 (Kopie im Besitz des Verf.). Die 1987 von katholischen, sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Proponenten gegründete Vereinigung „Mauthausen Aktiv“, heute Mauthausen Komitee Österreich, hat sich insbesondere die Fortführung der Anliegen der Lagergemeinschaft zum Ziel gesetzt. 45 Siehe den Ausstellungskatalog  : Das Gedächtnis von Mauthausen (wie Anm. 43).

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lung, die ursprünglich nur für kurze Zeit gezeigt werden sollte, ist in Teilen bis heute zu besichtigen, soweit nicht für Veranstaltungen und temporäre Ausstellungen Platz benötigt wird. Von den temporär gezeigten Ausstellungen ist längerfristig nur die Ausstellung Die Krematorien von Mauthausen zu besichtigen, die als komplementäre Ausstellung zu der Ausstellung Techniker der ‚Endlösung‘. Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz im Auftrag des BMI entwickelt wurde.46 Spätestens 2012 wird diese Ausstellung durch ihre inhaltliche Integration in die neue, vertiefende Ausstellung zur Massenvernichtung im KZ Mauthausen geschlossen sein.

Ausstellungen in Gusen und ehemaligen Außenlagern Die frühe Entscheidung, das ehemalige KZ Mauthausen in eine staatliche Gedenkstätte zu verwandeln und das Gedenken an diesem Ort zu zentralisieren, trug nicht unwesentlich dazu bei, dass das Zweiglager Gusen sowie das Netz von Außenlagern, in dem im Herbst 1944 ungefähr die sechsfache Zahl an Häftlingen inhaftiert war als in Mauthausen selbst, in Österreich lange Zeit weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt war. Die zum Teil vorhandenen Denkmäler und Gedenkstätten hatten kaum größere Resonanz hervorgerufen und wurden fast ausschließlich von Überlebenden und Angehörigen der Opfer besucht.47 Seit den 1980er-Jahren hat sich der Umgang mit den Orten der ehemaligen Außenlager jedoch entscheidend geändert. Träger von Initiativen für Denkmalerrichtungen wie historische Aufklärung waren nun nicht mehr in erster Linie (meist ausländische) Überlebende, sondern lokale Gruppen einer jüngeren Generation, die sich kritisch mit der Geschichte des Nationalsozialismus vor Ort auseinandersetzen wollten. Diese Entwicklung korrespondierte zum einen mit veränderten Sichtweisen auf die NS-Geschichte Österreichs, aber auch mit einem in dieser Zeit

46 Vgl. Bertrand Perz/Christian Dürr/Ralf Lechner/Robert Vorberg, Die Krematorien von Mauthausen. Katalog zur Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, hrsg. vom BM für Inneres, Wien 2008  ; dies., Die Krematorien von Mauthausen, KZ-Gedenkstätte Mauthausen 2008 – Mauthausen Memorial. Forschung – Dokumentation – Information, Wien 2009, 12–23  ; Annegret Schüle, Die Ausstellung „Techniker der ‚Endlösung‘. Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz“ in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, in  : ebd., 24–31. 47 Vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 195–198 (wie Anm. 2).

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wachsenden Interesse an regionaler und Alltagsgeschichte und einer „Geschichte von unten“. Nicht zuletzt hat auch die KZ-Forschung in den 1980erJahren den Blick erstmals auf die Geschichte der Außenlager gerichtet und seitdem das Wissen über die Lager selbst und ihre Genese in Zusammenhang mit Kriegswirtschaft und NS-Arbeitskräftepolitik ganz erheblich erweitert. Heute sind an den Orten der neben Mauthausen auf österreichischem Gebiet größten Lager (Gusen, Melk und Ebensee) neben Denkmälern auch historische Ausstellungen über die jeweilige Geschichte zu besichtigen. Die erste derartige Ausstellung wurde im früheren Krematorium des KZ Melk eingerichtet, das seit 1962 als „Öffentliches Denkmal“ der Republik an die Geschehnisse im Außenlager Melk erinnert, aber – am Rande der Stadt Melk gelegen – von der regionalen Bevölkerung sowie vom dem bekannten Kloster geschuldeten Tourismus wenig wahrgenommen wurde. Verschiedene ausländische Opferverbände errichteten in der Folge bei der Gedenkstätte in Melk Gedenktafeln und -steine. Die grundlegende wissenschaftliche Erforschung der Geschichte des Lagers und des direkten Zusammenhangs mit der Zwangsarbeit für den Rüstungskonzern Steyr-Daimler-Puch in den 1980er-Jahren machte deutlich, dass zwar eine Gedenkstätte bestand, man dort aber kaum etwas über die historischen Vorgänge erfahren konnte.48 Dies führte zu einer Initiative für die Einrichtung einer kleinen Dauerausstellung über die Geschichte des Lagers in den Räumlichkeiten des ehemaligen Krematoriums.49 Von der Republik finanziert und von einzelnen Firmen unterstützt, wurde sie 1992 durch Innenminister Franz Löschnak eröffnet. Erstmals war damit in Österreich außerhalb der KZ-Gedenkstätte Mauthausen eine historische Ausstellung zur Geschichte eines Außenlagers zu besichtigen. In den für die Ausstellung genutzten Räumen des ehemaligen Krematoriums werden in thematisch-chronologischer Anordnung die politischen und ökonomischen Voraussetzungen geschildert, die zur Zwangsarbeit von KZHäftlingen bei der sogenannten unterirdischen Verlagerung der Rüstungsindustrie und in der Folge auch zur Errichtung der Stollenanlage „Quarz“ zwischen Loosdorf und Melk geführt haben  : die Einrichtung des Konzentrationslagers Melk, Herkunft und das Leben der Häftlinge und ihr – lebensbedrohender – Alltag, ihre Arbeit beim Bau der unterirdischen Fabrik, schließlich 48 Vgl. Bertrand Perz, Projekt Quarz. Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk, Wien 1991. 49 Die Ausstellung wurde vom Autor gemeinsam mit Gottfried Fliedl kuratiert, für Grafik und Architektur waren Sigrid Augeneder und Klaus Tatto verantwortlich.

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die Evakuierung des Lagers in das KZ Mauthausen und das Außenlager Ebensee und die dort erfolgte Befreiung sowie Formen der Aufarbeitung. Anhand einiger völlig gegensätzlicher Lebensläufe wird zu verdeutlichen versucht, wie die Zeit „danach“ erlebt und „verarbeitet“ wurde und wie unterschiedlich die Schicksale von Tätern und Opfern sein konnten. Die Dokumentation stützt sich wesentlich auf schriftliche Quellen und Fotografien und einen Kommentar, der so sparsam gehalten wurde, wie es angesichts des Mangels an authentischen Materialien möglich war. Der größte Raum des ehemaligen Krematoriums, der den Verbrennungsofen beherbergt, wurde seit der Errichtung der Gedenkstätte als Ort der persönlichen und kollektiven Erinnerung genutzt und daher von Ausstellungsinstallationen frei gehalten.50 Aus der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte des KZ Ebensee in den 1980er-Jahren51 und den Bemühungen eines regionalen Geschichtsvereins, die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen vor Ort voranzubringen, entstand auch dort eine historische Ausstellung über die Geschichte des Lagers, die 1997 eröffnet wurde. Da das Denkmal und der KZ-Friedhof Ebensee über keine Räumlichkeiten verfügten, wurde als Ausstellungsort einer der ehemaligen von Häftlingen errichteten Produktionsstollen gewählt, der ohne größeren baulichen Aufwand für eine Ausstellung geeignet schien. Die regionale Initiative führte in der Folge auch zur Einrichtung des „Zeitgeschichte Museum Ebensee“, das die Gedenkstätte mit betreut und die Geschichte dieses Lagers gleichzeitig in den größeren Kontext der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts stellt.52 Als bislang letztes ehemaliges Lager erhielt Gusen eine historische Ausstellung. Erinnerung und Wissen um das von 1940 bis 1945 bestehende KZ Gusen – mehr ein Doppellager von Mauthausen als ein typisches Außenlager –, in dem lange Zeit mehr Häftlinge festgehalten wurden als im Hauptlager Mauthausen selbst, waren in Österreich sehr gering. Ursache dafür war nicht zuletzt die völlig andere Nachnutzung des KZ-Geländes und der örtlichen 50 Vgl. Gottfried Fliedl/Bertrand Perz, Konzentrationslager Melk. Begleitbroschüre zur ständigen Ausstellung in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Melk, Wien 1992. 51 Mit der Studie von Florian Freund, Arbeitslager Zement. Das Konzentrationslager Ebensee und die Raketenrüstung, Wien 1989, lag erstmals eine umfassende Gesamtgeschichte des Lagers vor, die neben der Entwicklung des Lagers vor allem auch die ökonomischen und militärischen Hintergründe ausleuchtete, die zu seiner Errichtung geführt hatten. 52 Die Ausstellung im Stollen wurde vom Büro für Angewandte Geschichte Wien (Bernhard Denkinger/Ulrike Felber) in Zusammenarbeit mit Florian Freund eingerichtet, vgl. Konzentrationslager Ebensee/Ebensee concentration camp, Wien 1997.

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Steinbrüche nach 1945. Während in Mauthausen eine große staatliche Gedenkstätte entstand, wurde in Gusen weiter Granit abgebaut und auf dem Lagergelände um 1960 eine Wohnsiedlung errichtet. Auch die Errichtung des von der berühmten italienischen Architektengruppe BBPR entworfenen, äußerst bemerkenswerten Memorials Gusen in den 1960er-Jahren auf Initiative und Kosten ausländischer Opferverbände konnte daran lange Zeit nichts ändern, die Dominanz der nahen KZ-Gedenkstätte Mauthausen blieb ungebrochen.53 Dazu beigetragen hat auch das weitgehende Fehlen größerer historischer deutschsprachiger Darstellungen über das Lager.54 Die Situation änderte sich erst in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre. Möglich geworden war dies vor allem durch eine lokale Initiative in St. Georgen an der Gusen, die sich aus dem Arbeitskreis für Heimat-, Denkmal- und Geschichtspflege vor Ort entwickelt und über eine eigene Internet-Homepage rasch international vernetzt hatte.55 Anliegen der Initiative war und ist es, das Geschehen in den Konzentrationslagern Gusen I bis III öffentlich stärker bekannt zu machen und aus der Dominanz der Fixierung der Erinnerungskultur auf die Gedenkstätte Mauthausen zu lösen. Die gestiegene Aufmerksamkeit für Gusen hatte zur Folge, dass das Innenministerium anlässlich der Befreiungsfeierlichkeiten in Gusen im Mai 1997 das Memorial in seine Obhut nahm. Nach 2000 gelang es, ein aus prominenten Persönlichkeiten zusammengesetztes „Personenkomitee Gusen“ für die Einrichtung eines Besucherzentrums zu gewinnen. Dieses wurde 2004 im Auftrag des Innenministeriums nach archäologischen Voruntersuchungen in unmittelbarer Nachbarschaft zum Memorial auf dem Gelände des früheren Krematoriums errichtet.56 Der Bau des Besucherzentrums auf ehemaligem Lagergelände führte zur Einbindung der 53 Zur konfliktreichen Nachgeschichte des KZ Gusen vgl. Perz, KZ-Gedenkstätte, 199–207 (wie Anm. 2)  ; Christian Dürr, Konzentrationslager Gusen. Ehemaliges Zweiglager des KZ Mauthausen und erinnerungspolitisches Konfliktfeld, in  : KZ-Gedenkstätte Mauthausen – Mauthausen Memorial 2007. Forschung – Dokumentation – Information, Wien 2008, 36–41. 54 Die rege Publikationstätigkeit zu Gusen vor allem in Polen wurde in Österreich nicht wahrgenommen  ; eine in den 1970er-Jahren erschienene umfangreiche Monografie wurde erst 2007 übersetzt  ; vgl. Stanislaw Dobosiewicz, Vernichtungslager Gusen (Mauthausen-Studien. Schriftenreihe der KZ Gedenkstätte Mauthausen 5), Wien 1977. 55 . 56 Architekten  : Herwig Mayer und Karl Peyrer-Heimstätt. Zum Bau des Besucherzentrums vgl. die vom BMI herausgegebene Broschüre  : KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Memorial Gusen. Besucherzentrum, Wien 2004.

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von den Archäologen freigelegten Überreste.57 Das Besucherzentrum wurde über dem historischen Gelände auf mehreren Stahlstützen errichtet, durch eine rechteckige Öffnung im Boden des Gebäudes wird der Blick auf die da­ runter liegenden Ausgrabungen ermöglicht. Eine vom BMI in Auftrag gegebene und von Christian Dürr, Ralf Lechner und Stefan Wolfinger kuratierte Dauerausstellung mit dem Titel Das Konzentrationslager Gusen 1939–1945. Spuren – Fragmente – Rekonstruktionen, vom Autor wissenschaftlich und konzeptionell beraten und von Bernhard Denkinger gestaltet, informiert nun seit 2005 erstmals ausführlich über die Geschichte des Lagers.58 Den Ausstellungsmachern ging es darum, wie der Titel zum Ausdruck bringt, auf Spuren zu verweisen, die das Lager hinterlassen hat, und deren fragmentarischen Charakter zu betonen. Inhaltlich wurde versucht, eine Gesamtgeschichte des Lagers zu präsentieren, was aber durch die relativ kleine Fläche des Besucherzentrums von vornherein nur in sehr beschränktem Ausmaß möglich war. Die Schwerpunkte der Ausstellung hat Christian Dürr zusammengefasst  : „Die archäologischen Ausgrabungen der Baracken- und Lagerstraßenfundamente bilden den thematischen Ausgangspunkt, an den eine topografische Verortung des ehemaligen Lagers anschließt. Fotografien des SS-Erkennungsdienstes dokumentieren die Phase des Lageraufbaus und werden zugleich mit Fotos vom gegenwärtigen Zustand noch erhaltener Gebäude kontrastiert. Darauf folgend wird die Entwicklung der Zwangsgesellschaft der Häftlinge vor dem Hintergrund des Funktionswandels des Konzentrationslagers Gusen zwischen 1939 und 1945 beleuchtet. Damit in Zusammenhang steht wiederum die Darstellung der Veränderungen des Arbeitseinsatzes der Häftlinge und der jeweils dahinter stehenden wirtschaftlichen und politischen Interessen. Ein weiterer Ausstellungsteil geht auf die Rolle Gusens als ‚Todeslager‘ und die verschiedenen Formen der Massenvernichtung der Häftlinge ein. Eine mit ‚Flut der Bilder‘ betitelte Sequenz widmet sich schließlich der Befreiung des Lagers aus Sicht der Befreier sowie den Umständen und Bedingungen, unter denen die Informationen vom Lager an eine breite Öffentlichkeit gelangten. Der Ausstellungsfilm ‚Erinnerungen an Gusen/Remembering Gusen‘ präsen57 Martin Krenn, Bericht zur Archäologischen Untersuchung im KZ Gusen, in  : KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Memorial Gusen – Besucherzentrum, Wien 2004, 16–19. 58 Zur Ausstellung vgl. die entsprechende vom BMI gestaltete Webseite .

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tiert – sozusagen quer zu diesen verschiedenen thematischen Zugängen – die Sicht von Überlebenden auf bestimmte als einschneidend empfundene Aspekte des Lagerlebens.“59

Nach Melk und Ebensee besteht damit nun eine dritte historische Dauerausstellung über ein Konzentrationslager außerhalb von Mauthausen. Aktuelle – zum Teil über den Verein Mauthausen-Komitee vernetzte, aber auch durch die Gedenkstättenabteilung im BMI unterstützte – Aktivitäten lokaler Initiativen an den Standorten ehemaliger Außenlager, aber auch die mittlerweile rege Forschungstätigkeit zu Außenlagern lassen es absehbar erscheinen, dass weitere wissenschaftsbasierte regionale Ausstellungen folgen werden.60

Ausblick Die künftigen Ausstellungen in Mauthausen können zu einem Zeitpunkt, an dem die konkreten Konzepte und Gestaltungsvorstellungen noch nicht feststehen, nur sehr allgemein beschrieben werden. Sicher ist, dass die Überblicks­ ausstellung zur Geschichte des KZ Mauthausen 1938–1945 im Erdgeschoss des Nordwestflügels des Reviergebäudes untergebracht werden wird. Aus der ursprünglichen Nutzung als Krankenstation resultierte eine dreiteilige Raumstruktur, in der ein langer Mittelgang zahlreiche kleine Krankenzimmer erschloss, die allerdings durch die baulichen Eingriffe seit den 1960er-Jahren für die heute dort befindlichen Ausstellungen weitgehend zerstört wurde. Zentraler Zweck der Ausstellung zur Lagergeschichte ist – auf Basis des seit den 1960er-Jahren erheblich erweiterten Wissensstandes – die Vermittlung eines Überblicks über die Gesamtgeschichte des KZ-Systems Mauthausen in einer kompakten Form. „Mauthausen“ wird dabei als Lagersystem verstanden, bestehend aus dem Doppellager Mauthausen/Gusen und dem Netz an Außenlagern, das selbst wiederum als Teil des Gesamtsystems nationalsozialistischer Konzentrationslager zu sehen ist. Die Ausstellung wird einerseits durch vier zeitliche Phasen, andererseits durch drei Erzählebenen bzw. -pers59 Dürr, Konzentrationslager Gusen, 40 (wie Anm. 53). 60 Einen guten Einblick in die gegenwärtige Situation bietet der Jahresbericht der Gedenkstättenabteilung im BMI  : KZ-Gedenkstätte Mauthausen – Mauthausen Memorial 2009. Forschung – Dokumentation – Information, Wien 2010.

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pektiven strukturiert werden  : erstens die Rahmenbedingungen (Mauthausen als Teil des KZ-Systems), zweitens die konkreten historischen Ereignisse in Mauthausen und drittens die (Erfahrungs-)Geschichte der Häftlinge. Die zweite bis 2012 geplante vertiefende Ausstellung Massenvernichtung im Konzentrationslager Mauthausen soll in einem Teil des Kellergeschosses im Nordwestflügel des Reviergebäudes untergebracht werden, an das sich das Raumensemble des Krematoriums und Tötungsbereichs anschließt. Die zentrale Zielsetzung dieser Ausstellung ist die inhaltliche Vorbereitung auf den Besuch des Krematoriums- und Tötungsbereichs, der von der überwiegenden Zahl der BesucherInnen der Gedenkstätte angesteuert wird. Die Grundidee der Ausstellung ist eine „Archäologie“ des Massenmords. Sie wird, von den heute noch vorhandenen baulichen Überresten der Krematorien und der Tötungseinrichtungen sowie noch existierenden Artefakten ausgehend, die Geschichte des Mordens und Sterbens im KZ Mauthausen erzählen und sich dabei auch der Sicherung dieser Spuren nach 1945, ihrer Umformung, Musealisierung, Sakralisierung und Leugnung widmen. Dabei sollen revisionistische Geschichtsdeutungen aufgegriffen und dekonstruiert werden, die die Tötungseinrichtungen in Mauthausen zu einem zentralen Argument ihrer Leugnungsstrategien gemacht haben. Mauthausen wird mit der jetzt angelaufenen Neukonzeption, bei der den Ausstellungen eine zentrale Bedeutung zukommt, als eine der letzten KZGedenkstätten in Europa einer kompletten Neugestaltung unterzogen. Bei aller möglichen Kritik an der so spät einsetzenden Reform birgt dieses Faktum auch eine Chance in sich, bisher gemachte Erfahrung aus anderen KZ-Gedenkstätten in Europa produktiv einzubeziehen. Das lässt darauf hoffen, dass die neuen zeitgeschichtlichen Ausstellungen in Mauthausen dazu beitragen, dass das Interesse an der notwendigen Auseinandersetzung mit dem Großverbrechen des 20. Jahrhunderts auf längere Zeit bestehen bleibt.

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Das Dokumentationsarchiv des österreichischen ­Widerstandes und seine Ausstellungen

Im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) befindet sich bis heute die einzige Dauerausstellung, welche die Zeit des Nationalsozialismus in Österreich thematisiert.1 Die erste öffentliche Präsentation der Arbeit des DÖW wurde bereits 1965, zwei Jahre nach der Gründung des Archivs, erstellt. In den darauffolgenden Jahren konzipierte das DÖW verschiedene Ausstellungen, die im Archiv selbst gezeigt wurden oder als Wanderausstellungen innerhalb und außerhalb Österreichs zu sehen waren. Eine zentrale Rolle in der Vermittlung von Zeitgeschichte spielte vor allem die 1978 eröffnete Dauerausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945, die bis 2005 in der Bürgerstube des Alten Rathauses, also unter den Räumlichkeiten des Archivs, zu sehen war. Im Mai 1978 kündigen die vom DÖW herausgegebenen Mitteilungen mit Vorfreude und Stolz deren bevorstehende Eröffnung an  : „Eine großzügige Unterstützung des Sozialministeriums ermöglichte uns eine völlige Neugestaltung in den Räumen der ehemaligen Bürgerstube des Alten Rathauses, die für Führungen weitaus bessere Möglichkeiten bieten. Die Ausstellung wurde wesentlich erweitert und inhaltlich und didaktisch verbessert.“2



Dieser Beitrag basiert auf der Diplomarbeit des Autors  : Peter Larndorfer, Gedächtnis und Musealisierung. Die Inszenierung von Gedächtnis am Beispiel der Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1978–2005, Dipl. phil. Wien 2009. 1 Es gibt zwar mittlerweile eine Installation zur Geschichte der Ersten Republik und NSHerrschaft in Österreich im Wiener Heeresgeschichtlichen Museum, doch behandelt diese vorrangig militärhistorische Aspekte und kann nicht als eigenständige Ausstellung betrachtet werden. Außerdem ist in diesem Zusammenhang die Dauerausstellung in der Gedenkstätte Mauthausen zu nennen. Diese stellt jedoch verständlicherweise die Geschichte des KZ Mauthausen in den Vordergrund und ist somit keine Ausstellung zur NS-Herrschaft in Österreich in einem breiteren Sinn. 2 DÖW-Ausstellung vor Eröffnung, in  : Mitteilungen 35 (1978), hg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, 1.

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Bei der Eröffnung der Ausstellung waren zahlreiche Ehrengäste anwesend, die Festreden hielten Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg, Sozialminister Gerhard Weissenberg und die Vizebürgermeisterin von Wien, Gertrude Fröhlich-Sandner. Das DÖW präsentierte eine Ausstellung, in der sich nicht nur das immense Anwachsen der Archivbestände in den 15 Jahren des Bestehens der Institution, sondern auch deren Verbundenheit mit ehemaligen WiderstandskämpferInnen aller politischen Lager widerspiegelte. Viele von ihnen stellten persönliche Erinnerungsstücke an Zeiten der Verfolgung und Gefangenschaft zwischen 1934 und 1938 bzw. während der Zeit der NS-Herrschaft in Österreich zur Verfügung. Die Vorstellung vom Widerstand als „Fundament der Zweiten Republik“ war ein prägendes Element der neuen Ausstellung, die für die nächsten 28 Jahre im Alten Rathaus zu sehen war. In dieser Zeit hat sich nicht nur das Verständnis von Ausstellungsgestaltung und -didaktik verändert, auch die Inhalte der Ausstellung haben nach der Erosion des „österreichischen Gedächtnisses“ rund um die Waldheim-Debatte an Bedeutung verloren. „1978 waren die MitarbeiterInnen des DÖW zu Recht stolz auf die schöne neue Ausstellung […]. Zur Wende zum 21. Jahrhundert hingegen wirkte die Ausstellung architektonisch, didaktisch und inhaltlich nicht mehr zeitgemäß“,3 beschreibt die Leiterin des DÖW, Brigitte Bailer, den Bedeutungsverlust der Ausstellung. Mit der Planung der Neugestaltung wurde 2003 begonnen, Ende 2004 sicherte die Stadt Wien dem DÖW die Finanzierung der neuen Ausstellung als „nachhaltigen Beitrag“ zum Gedankenjahr 2005 zu. Die Inhalte wurden von MitarbeiterInnen des DÖW und einigen externen ExpertInnen erarbeitet. In der 2005 eröffneten Ausstellung, die im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin keinen Titel trägt, spiegeln sich die Veränderungen im „österreichischen Gedächtnis“, das veränderte Selbstverständnis des DÖW und der aktuelle Forschungsstand wider. Was Katrin Pieper über das „Memory Museum“4 schreibt, gilt wohl auch für die verschiedenen ständigen Ausstellungen des DÖW  : Sie entstanden 3 Brigitte Bailer-Galanda, Die neue ständige Ausstellung des DÖW im Alten Rathaus, in  : Doku­ mentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Jahrbuch 2006, Wien 2006, 113– 123, 114. 4 Katrin Pieper verwendet diesen Begriff, um die Doppelfunktion vieler zeitgeschichtlicher Museen zu beschreiben. Diese seien zum einen „Orte der Erinnerung an eine bestimmte Gewaltgeschichte – Genozid, Krieg, Vertreibung – und Orte des Totengedenkens. Zum anderen haben die Institutionen den Anspruch, mittels Adaption der (fremden) Vergangenheit eine Bewusstseinsbasis für aktuelle gesellschaftliche und politische Probleme zu schaffen, auf der

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„aufgrund der Motivation bestimmter Interessengruppen, die die Erinnerung an Ereignisse einer Gewaltgeschichte und an ihre Opfer in ein öffentliches Bewusstsein befördern wollen. Die partikularen Initiativ- und Trägergruppen setzen sich für die Repräsentation und Sichtbarmachung einer Geschichte ein, weil sie sich mit ihr identifizieren […].“5 Um die Frage nach der „Interessengruppe“ hinter den Ausstellungen des DÖW zu beantworten, ist eine genauere Betrachtung der ausstellenden Organisation notwendig.6

I. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes wurde im Frühling 1963 von einem Kreis ehemaliger WiderstandskämpferInnen, KZHäftlingen, aus dem Exil Zurückgekehrter und einer Gruppe junger HistorikerInnen gegründet. Unter der Leitung des aus dem englischen Exil zurückgekehrten Historikers Herbert Steiner nahm das DÖW als Verein die Arbeit zur Erforschung und Dokumentation des österreichischen Widerstandes auf.7 Wie viele andere Institutionen, die sich mit Zeitgeschichte auseinandersetzen, hat auch das DÖW das Ziel, aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit „eine Bewusstseinsbasis für aktuelle gesellschaftliche und politische Probleme zu schaffen, auf der Handlungsmaximen und Werte formuliert werden“.8 So heißt es in der Gründungserklärung des DÖW  : „Das Archiv soll vor allem durch dokumentarische Beweise der zeitgeschichtlichen Erziehung der Jugend dienen. Sie soll mit den schrecklichen Folgen des

Handlungsmaximen und Werte formuliert werden.“ Katrin Pieper, Die Musealisierung des Holo­caust. Das Jüdische Museum Berlin und das U.S. Holocaust Memorial Museum in Washing­ton D.C. Ein Vergleich, Köln – Weimar – Wien 2006, 24. 5 Ebd., 26. 6 Da bislang noch keine umfassende Geschichte des DÖW vorliegt, greife ich auf von der Institution herausgegebene Jubiläumsschriften und Beiträge von RepräsentantInnen des DÖW in verschiedenen Sammelbänden zurück. 7 Vgl. Brigitte Bailer-Galanda/Wolfgang Neugebauer, Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), 40 Jahre Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1963–2003, Wien 2003, 26. 8 Omer Bartov, Chambers of Horror. Holocaust Museums in Israel and the United States, in  : Israel Studies 2 (1997) 2, 66–87, 71, zitiert nach  : Pieper, Musealisierung, 24 (wie Anm. 4).

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Verlustes der Unabhängigkeit und Freiheit Österreichs sowie mit dem heldenhaften Kampf der Widerstandskämpfer bekannt gemacht werden.“9

Der Gründung des DÖW gingen Vorarbeiten seit dem Jahr 1961 voraus. Dem maßgeblichen Initiator Herbert Steiner gelang es, ein kleines Arbeitsteam aus ehemaligen WiderstandskämpferInnen und jungen HistorikerInnen um sich zu sammeln. Die vielleicht noch größere Leistung Steiners war jedoch die Einigung der drei Opferverbände (jene der KPÖ, der ÖVP und der SPÖ) unter dem gemeinsamen Dach des DÖW. Diese parteienübergreifende Zusammenarbeit ist bis heute einer der Grundpfeiler des Selbstverständnisses des DÖW, wie etwa die Beschreibung der Zusammensetzung des DÖW-Kuratoriums in einer Jubiläumsschrift zum 40-jährigen Bestehen zeigt  : „Seit 1963 gehören dem Vorstand des DÖW Repräsentanten der drei Opferverbände (ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten, Bund Sozialdemokratischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus, KZ-Verband) ebenso an wie jene der Israelitischen Kultusgemeinde, der katholischen Kirche und der Wissenschaft. Die fruchtbringende Kooperation von ehemaligen Aktivisten der Revolutionären Sozialisten und Funktionären der Vaterländischen Front wurde primär durch die alle Gruppen einigende antinationalsozialistische Grundhaltung sowie durch die gemeinsame Überzeugung von der Notwendigkeit, Unmenschlichkeit und Rassismus in Zukunft verhindern zu wollen, ermöglicht.“10

Auch wenn die Kooperation der unterschiedlichen Opferverbände unter dem Dach des DÖW eine gemeinsame Arbeitsgrundlage schuf, haben diese ihre Differenzen – was etwa die Bedeutung des „Ständestaates“ betrifft – sicherlich nicht völlig ausgeräumt. Das Narrativ zur Entstehung des DÖW weist hier eine gewisse Parallele zu einem zentralen Gründungsmythos der Zweiten Republik auf  : Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Erfahrung der „Lagerstraße“, des geteilten Leides während der NS-Zeit, hätten sich die unterschiedlichen politischen Lager einigen können, um auf Basis eines antifaschistischen Grundkonsenses „fruchtbringend“ zusammenzuarbeiten. In den ersten Jahren seiner Existenz war die Hauptaufgabe des DÖW der Aufbau einer archivalischen Basis zur Erforschung und Dokumentation des   9 Grundsatzerklärung des DÖW, zitiert nach Bailer-Galanda/Neugebauer, Dokumentationsarchiv, 29 (wie Anm. 7). 10 Bailer-Galanda/Neugebauer, Dokumentationsarchiv, 30 (wie Anm. 7).

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österreichischen Widerstandes, also die Sammlung und Archivierung verschiedenster Dokumente  : Gerichts- und Gestapoakten, Fotos, Flugblätter, Briefe, Polizeiprotokolle, Berichte usw. Diese wurden meist von den Opferverbänden, vor allem vom KZ-Verband, aber auch von Privatpersonen zur Verfügung gestellt. Dazu kamen auch immer wieder Schenkungen von Privatpersonen und Kopien wichtiger Dokumente aus anderen Archiven im In- und Ausland. 1965 konnte das DÖW mit der Reihe Monographien zur Zeitgeschichte die ersten Publikationen herausgeben. Die 16 Bände behandeln Teilbereiche der Geschichte von Widerstand und Verfolgung in der NS-Zeit in Österreich. Außerdem entstanden in den ersten Jahren seines Bestehens im Umfeld des DÖW „[i]n manchen uns heute selbstverständlichen Forschungsfeldern tatsächliche Pionierarbeiten. Zu erwähnen sind hier beispielsweise die Arbeit von Jonny Moser zur Judenverfolgung in Österreich aus dem Jahr 1966 und die Veröffentlichung von Selma Steinmetz zu ‚Österreichs Zigeuner im NS-Staat‘ aus demselben Jahr.“11

Der Aufbau des Archivs geschah „unter dem Zwang des Unter-Beweis-Stellens des Widerstandes gegenüber gehässigen Anfechtungen“.12 So bezeichnete etwa Richard Nimmerrichter (alias „Staberl“) noch 1971 in der KronenZeitung das DÖW in seiner Kolumne als „Dokumentationsarchiv eines in Wirklichkeit doch niemals existenten Widerstandes“.13 Gleichzeitig galten in der stark von „Ehemaligen“ geprägten Gesellschaft der 1960er-Jahre Widerstandskämpfer als „Landesverräter“ und „Kameradenmörder“14. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass die erste große Publikation des DÖW ein mehrbändiges Werk über Widerstand und Verfolgung in den österreichischen Bundesländern war. Das Erscheinen der ersten drei Bände aus der Reihe Widerstand und Verfolgung 1934–1945 im Jahr 1975 markiert einen neuen Ab11 Brigitte Bailer-Galanda, Einleitung, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Bewahren, erforschen, vermitteln. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2008, 7f., hier 7. 12 Wolfgang Neugebauer, Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik  : DÖW, Widerstandsforschung und Antifaschismus, in  : Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt am Main – New York 1994, 557–572, hier 558. 13 Kronen Zeitung, 21.3.1971, zitiert nach  : Neugebauer, Spannungsfeld, 557 (wie Anm. 12). 14 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945, Wien 2008, 9–15.

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schnitt in der Arbeit des DÖW. In den ersten zehn Jahren seines Bestehens sei das DÖW „über seinen ursprünglichen Aufgabenbereich, nämlich der zeitgeschichtlichen Erziehung der Jugend zu dienen, weit hinausgewachsen“, es sei „zu einer im österreichischen und im internationalen Maßstab bekannten und vielfach benützten Stelle wissenschaftlicher Forschung geworden“.15 Neben der ursprünglichen zentralen Aufgabe des DÖW, der Erforschung und Dokumentation des Widerstandes, etablierten sich nach und nach neue Schwerpunkte in der wissenschaftlichen Arbeit des Archivs. So führten die persönlichen Lebensgeschichten vieler MitarbeiterInnen zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Exil, die in die Publikation der Reihe Österreicher im Exil 1934–1945 mündete. Auch die Dokumentation des Beitrages von ÖsterreicherInnen aufseiten der Republik während des Spanischen Bürgerkrieges wurde von ZeitzeugInnen vorangetrieben. Ein weiterer Forschungsbereich, der bis heute im DÖW einen hohen Stellenwert hat, ist die Auseinandersetzung mit aktuellem Rechtsextremismus. 1979 wurde mit Rechtsextremismus in Österreich nach 1945 die erste umfassende Darstellung der rechtsextremen Szene in Österreich herausgegeben, 1993 wurde das Standardwerk Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus publiziert. In den 1980er-Jahren begann das DÖW unter dem Titel Erzählte Geschichte ein OralHistory-Projekt, das sich zum Ziel setzte, „Widerstand und Verfolgung aus der Perspektive der Betroffenen darzustellen, den alltäglichen Lebenszusammenhang, die menschlichen Probleme, die Emotionen, die Handlungsmotivationen und das spätere Schicksal der Verfolgten und deren Verarbeitung der Vergangenheit zu erfassen“.16 Die mittlerweile digitalisierte Sammlung umfasst heute mehr als 900 von unterschiedlichen ExpertInnen geführte Interviews.17 Die Diskussionen, die vor allem mit dem Bekanntwerden der Vergangenheit des Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim entbrannten, ließen auch das DÖW nicht unberührt. Die Waldheim-Debatte hatte „nicht nur dem offiziellen Geschichtsbild der Opferthese die Legitimität entzogen […], sondern auch dem Gedächtnisort Widerstand“.18 Im Zuge der Transformation des 15 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Festschrift 10 Jahre Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1972, 23. 16 Bailer-Galanda/Neugebauer, Dokumentationsarchiv, 45 (wie Anm. 7). 17 Christine Schindler, Erzählte Geschichte, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Bewahren, erforschen, vermitteln. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2008, 81–90, hier 86. 18 Heidemarie Uhl, Der ‚österreichische Freiheitskampf ‘. Zur Transformation und zum Verblassen eines Gedächtnisortes, in  : Helmut Kramer/Karin Liebhart/Friedrich Stadler (Hg.)  : Öster-

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„österreichischen Gedächtnisses“ wurde das DÖW erstmals mit Kritik von linker, antifaschistischer Seite konfrontiert. Das DÖW und der dokumentierte Widerstand dienten, so manche KritikerInnen, als Alibi und Imagepflege Österreichs im Ausland. Österreich brauche eher ein Dokumentationsarchiv der Mittäterschaft oder des Nationalsozialismus als eines des Widerstandes, lautete der Tenor in der kritischen Linken. Außerdem wurde die Rolle des DÖW bei der Inszenierung des Widerstandes als eigener Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung im Sinne der „Moskauer Deklaration“ kritisch hinterfragt.19 Der damalige Leiter des DÖW, Wolfgang Neugebauer, gab in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass in dieser Diskussion „die zweifellos vorhandenen Defizite und Versäumnisse der gesamten österreichischen Zeitgeschichte dem DÖW zur Last gelegt [wurden], das als kleines Institut mit beschränkter Aufgabenstellung nicht die gesamte Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich aufarbeiten“

konnte.20 Im Lauf der 1980er-Jahre, parallel zu den Umbrüchen im „österreichischen Gedächtnis“, weitete das DÖW sein Forschungsfeld auf Bereiche aus, denen die österreichische Zeitgeschichteforschung bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. So wurde „der Erkenntnis, daß die Juden mit Abstand die größte Opfergruppe sind und daß der Holocaust als industriell organisierter Massenmord ein singuläres Verbrechen ist“,21 seit den 1980er-Jahren verstärkt Rechnung getragen. Aus diesem Verständnis heraus entwickelte sich das Projekt Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer 22 zu einem wichtigen Arbeitsschwerpunkt des DÖW. Die Ergebnisse dieses sich ab 1991 über zehn Jahre erstreckenden Forschungsprojektes sind heute auf der Homepage des DÖW über eine Datenbank abrufbar. Im Jahr 2002 weitete das DÖW das Projekt aus und begann gemeinsam mit dem Karl von Vogelsang-Institut ein Projekt zur Namentlichen Erfassung der Opfer politischer Verfolgung in Ösreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand. In memoriam Felix Kreissler, Wien – Berlin 2006, 303–311, hier 304. 19 Neugebauer, Spannungsfeld, 561 (wie Anm. 12). 20 Ebd. 21 Ebd., 560. 22 Vgl. Florian Freund/Hans Safrian, Vertreibung und Ermordung. Zum Schicksal der österreichischen Juden 1938–1945. Das Projekt ‚Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer‘, Wien 1991.

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terreich von 11. März 1938–8. Mai 1945. Im Rahmen dieses Projektes wurde umfangreiches Aktenmaterial zur Verfolgung von ÖsterreicherInnen durch die Gestapo von WissenschafterInnen aus dem DÖW aufbereitet und öffentlich zugänglich gemacht.23 Weitere Bereiche, die seit den 1990er-Jahren ins Blickfeld der WissenschaftlerInnen im und im Umfeld des DÖW geraten sind, beziehen sich auf Fragen der Haltung der Zweiten Republik gegenüber den Opfern des NS-Regimes,24 das Thema der Erinnerungs- und Denkmalkultur,25 die Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Justiz und ihrer Opfer26 und die Erforschung des juristischen Umgangs mit NS-Tätern in der Nachkriegszeit.27 Zu einem wichtigen Schwerpunkt der Arbeit im DÖW wurde auch die Beschäftigung mit nationalsozialistischen Medizinverbrechen.28 Seit 2002 betreut das DÖW in einem Pavillon des Otto-Wagner-Spitals eine Ausstellung unter dem Titel Der Krieg gegen die „Minderwertigen“, die 2007/08 mit Unterstützung der Stadt Wien und des Nationalfonds überarbeitet werden konnte.29 Das DÖW ist, obwohl es eine nicht-staatliche Forschungseinrichtung ist, in vielerlei Hinsicht öffentlich verankert, der Institution wird immer wieder eine staatstragende Funktion zugeschrieben. Dem Kuratorium des DÖW gehörten von Anfang an Abgeordnete zum Nationalrat, MinisterInnen, Staatssekretäre und Landtagsabgeordnete der Gründungsparteien der Zweiten Republik (ÖVP, SPÖ und KPÖ), in und außer Dienst, an. Ein Blick auf die zuvor be23 Vgl. , 1.2.2010. 24 Brigitte Bailer-Galanda, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993. 25 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Gedenken und Mahnen in Wien 1934–1945. Gedenkstätten zu Widerstand und Verfolgung, Exil und Befreiung. Eine Dokumentation, Wien 1998. 26 Vgl. Wolfgang From/Wolfgang Neugebauer/Ursula Schwarz, Die Kooperationsprojekte der Universität Marburg und des DÖW zur NS-Justiz, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Jahrbuch 2007, Wien 2007, 161–176. 27 Vgl. Claudia Kuretsidis-Haider/Winfried R. Garscha, Die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Bewahren, erforschen, vermitteln. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2008, 171–178. 28 Vgl. Wolfgang Neugebauer/Herwig Czech/Peter Schwarz, Die Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen und der Beitrag des DÖW, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.)  : Bewahren, erforschen, vermitteln. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien 2008, 109–124. 29 Vgl. ebd., 116–117.

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schriebenen großen Projekte des DÖW zeigt, dass ein großer Teil davon von öffentlichen Körperschaften (mit)finanziert wurde, vor allem von der Stadt Wien, vom Wissenschaftsministerium, dem Sozialministerium und vom Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus. In den ersten 20 Jahren seines Bestehens war die Finanzierung der Arbeit des DÖW gänzlich von Förderungen durch öffentliche Körperschaften abhängig. Erst im Lauf des Jahres 1983 wurde das DÖW auf Initiative der damaligen Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg durch die Gründung einer Stiftung auf eine gesicherte finanzielle Basis gestellt.30 Nicht nur die Zusammensetzung der Gremien des DÖW und die größtenteils öffentliche Finanzierung lassen auf eine öffentliche Verankerung des DÖW schließen, auch zahlreiche Äußerungen von österreichischen WürdenträgerInnen zeichnen dieses Bild. So nutzte Bundespräsident Kirchschläger seine Rede auf der Jahreshauptversammlung des DÖW 1986, um „namens der Republik Österreich [s]einen Dank auszusprechen und öffentlich festzustellen, daß dem DÖW eine echte staatstragende und den Frieden und die Demokratie bewahrende Funktion in unserer Republik zukommt“.31 Auch in seiner Selbstdarstellung beruft sich das DÖW immer wieder auf die ihm zugeschriebene staatstragende Funktion. So sieht das DÖW in seinem Jahrbuch 1993 seine Hauptaufgaben selbst „in der Aufklärung über Nationalsozialismus und Rechtsextremismus bzw. Neonazismus, aber auch in der Förderung eines demokratischen Österreichbewußtseins“.32 In der Festschrift zum 10-jährigen Bestehen des DÖW 1973 wird als Aufgabe noch die Korrektur des ÖsterreichBildes im Ausland benannt  : „Lange Zeit galten die Jahre 1938–1945 in Österreich und im Ausland als eine Periode nationaler Passivität oder gar ausschließlich nationalsozialistischer Aktivität. Man hatte die Bilder von Massenversammlungen vor Augen, in denen Hitler von Österreichern jubelnd begrüßt wurde. Man dachte an Österreicher, die sich führend bei den Judenverfolgungen und bei den Vergehen gegen die 30 Die Stiftung Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes wird von der Stadt Wien, dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und vom Verein DÖW getragen. Vgl. Bailer-Galanda/Neugebauer, Dokumentationsarchiv, 36 (wie Anm. 7). 31 Rudolf Kirchschläger als Bundespräsident in seiner Rede bei der DÖW-Generalversammlung 1986, zitiert nach  : Brigitte Bailer-Galanda/Wolfgang Neugebauer, Dreißig Jahre Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (1963–1993), in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Jahrbuch 1993, Wien 1993, 6–35, 33. 32 Ebd, 25.

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Menschlichkeit in Mauthausen, Treblinka und Auschwitz betätigt hatten. Aber man wußte nichts oder nur wenig von den Kämpfen und Opfern österreichischer Widerstandskämpfer aus allen Lagern, Sozialisten, Kommunisten, Katholiken, bürgerlichen Patrioten und Legitimisten. Man hatte auch keine Kenntnis von den vielen Wehrmachtsangehörigen, die an den Fronten im Osten und Westen gegen den Nationalsozialismus und seinen sinnlosen Krieg aufgetreten sind, ebensowenig oder nichts über die Gruppen österreichischer Partisanen in Tirol, Südkärnten und der Steiermark. Es muß mit als ein Verdienst des DÖW angesehen werden, dieses Dunkel gelichtet und die Breite des österreichischen Widerstandes im Rahmen der gesamteuropäischen Resistance aufgezeigt zu haben.“33

30 Jahre später, in einem Projektantrag des DÖW aus dem Jahr 2003, lässt sich diese Auffassung immer noch erkennen. Die Erfahrungen der Zeit der Erosion der Opferthese schlagen sich jedoch in einer vorsichtigeren Formulierung und einer differenzierteren Haltung gegenüber der Rolle der ÖsterreicherInnen während der NS-Zeit nieder  : „Die Frage, wie viele und welche Österreicherinnen und Österreicher dem NSRegime zum Opfer fielen, ist keineswegs nur von wissenschaftlich-historischem Interesse. Die Anzahl der Opfer politischer, rassistischer und sonstiger NS-Verfolgung ist von enormer Bedeutung für die Gesamteinschätzung des Verhaltens der Österreicherinnen und Österreicher in der Zeit des Nationalsozialismus und damit auch für das Selbstverständnis Österreichs in der Nachkriegszeit und heute.“34

Trotz der Debatte um das Verhältnis zwischen DÖW und österreichischer Opferthese genießt das Archiv unter WissenschaftlerInnen in Österreich und international den Ruf einer „Begegnungsstätte der Generationen“, wo Verfolgte und WiderstandskämpferInnen jungen WissenschaftlerInnen ihre Erfahrungen und Erlebnisse vermitteln.35 Eine ganze Generation österreichischer

33 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Festschrift, 25 (wie Anm. 15). 34 Projektantrag Namentliche Erfassung der Opfer politischer Verfolgung in Österreich von 11. März 1938 – 8. Mai 1945. Zitiert nach  : Brigitte Bailer-Galanda/Gerhard Ungar, Die namentliche Erfassung von Opfern des Nationalsozialismus, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Bewahren, erforschen, vermitteln. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2008, 91–108, hier 105. 35 Vgl. Neugebauer, Spannungsfeld, 561 (wie Anm. 12).

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Zeitgeschichte-ForscherInnen wurde durch das DÖW mitgeprägt. Bis heute stellt das Dokumentationsarchiv für HistorikerInnen und zeitgeschichtlich Interessierte aus der ganzen Welt die erste Anlaufstation in Wien für einschlägige Forschungsarbeiten dar und gilt vielen als „eine Art Zuhause des ‚anderen Österreich‘“.36 Der deutsche Historiker Wolfgang Benz brachte die Rolle des DÖW in der österreichischen Gedächtnislandschaft in seinem Beitrag zur Jubiläumsschrift zum 40jährigen Bestehen des Archivs auf den Punkt, als er es als „Gegenwelt des Opernballs“ beschrieb. Das DÖW sei „wissenschaftliche Anstalt und moralische Instanz zugleich“ und als solches „ein international so renommiertes wie bei nationalistischen Kleingeistern abgelehntes Element der politischen Kultur des Landes“.37

II. Die frühen Ausstellungen des DÖW Bevor die Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 eröffnet wurde, erarbeitete das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes einige zum Teil sehr ähnliche Ausstellungen. So entwarf das DÖW 1965 eine Wanderausstellung über den „österreichischen Freiheitskampf “, die zunächst in österreichischen Schulen und Kasernen und später auch im Ausland gezeigt wurde. Die Ausstellung bestand aus 20 Bildtafeln und wurde zuerst im Hof des Wiener Stadtschulrates gezeigt, „wo sie von vielen Hunderten Schülern und Lehrern besichtigt wurden. Die Tafeln, von denen zehn Kopien zur Verfügung standen, wanderten von Ort zu Ort, in Jugendheime, in Schulen und Kasernen in allen Bundesländern. Das Gäs­tebuch, das im Stadtschulrat auflag, enthält neben Worten der Anerkennung auch solche feindseliger Ablehnung, aus denen die Notwendigkeit dieser breit ausgelegten Erziehungsarbeit erkennbar ist.“38

Diese Ausstellung wurde um 16 Schautafeln erweitert und

36 Schindler, Geschichte, 81 (wie Anm. 17). 37 Wolfgang Benz, Gegenwelt des Opernballs. Wissenschaftliches Institut und moralische Instanz, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), 40 Jahre Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1963–2003, Wien 2003, 6–9, hier 6. 38 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Festschrift, 17 (wie Anm. 15).

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„ins Ausland gebracht, nach Jugoslawien, in die ČSSR, nach Israel, in die UdSSR, nach Holland, Bulgarien und Belgien. […] Es war der erste Versuch, das ‚Andere Österreich‘ zu zeigen, an die Österreicher zu erinnern, die unter härtesten Bedingungen, inmitten einer verhetzten Umwelt und im Schatten der Guillotine gegen die NS-Herrschaft und den Krieg gekämpft haben.“39

Eine ähnliche Ausstellung unter dem Titel Österreich im Widerstand gegen den Faschismus wurde am 11. März 1968, 30 Jahre nach dem „Anschluss“, wieder im Hof des Wiener Stadtschulrates eröffnet.40 Schon am Titel dieser leider kaum dokumentierten Ausstellung zeigt sich, dass ihre Stoßrichtung ähnlich war wie die der zehn Jahre später im DÖW eröffneten Exposition. Die erste ständige Ausstellung in den Räumen des DÖW wurde am 5. Dezember 1969 eröffnet. Sie war im ersten Stock des Alten Rathauses untergebracht, also in den Räumlichkeiten des Archivs selbst. Bei der Finanzierung wurde das DÖW durch die Stadt Wien, das Unterrichtsministerium und durch die Arbeitsgemeinschaft der Opferverbände unterstützt. In der Festschrift zum 10-jährigen Bestehen des DÖW wird diese Ausstellung wie folgt beschrieben  : „Die Ausstellungstafeln an den Wänden führen den Betrachter durch die Geschichte Österreichs, angefangen von der Gründung der Ersten Republik, den Krisenjahren und den Kämpfen der Jahre 1934–1938, über den Einbruch des Nationalsozialismus in Österreich, den Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den KZ’s, den Verfolgungen der Juden, der Slowenen, Südtiroler und Zigeuner, zum Hauptthema  : dem Widerstandskampf in Österreich und in der Emigration bis zu den Tagen der Befreiung und der Errichtung der Zweiten Republik. Auf zwei Tafeln am oberen Ende des Raumes werden Bilder vom internationalen Widerstand und vom Zweiten Weltkrieg mit seinen hohen Verlustziffern gezeigt. Die Glasvitrinen in der Mitte des Museumsraumes beherbergen die verschiedenartigsten Objekte, die in jahrelanger, zäher Sucharbeit erworben werden konnten  : kleine und kleinste Gegenstände, die kennzeichnend sind für das NS-Regime, die ein Stück dieser leidvollen, hart durchkämpften Vergangenheit widerspiegeln. Da hängt neben der Uniform eines österreichischen Freiheitskämpfers in Jugoslawien das blaue KZ-Gewand mit dem roten Winkel. Das internationale Kleidungsstück für Männer und Frauen in Hitlers Todesmühlen. Da liegt neben einem Ziegelstein vom Krematorium des Vernichtungslagers 39 Ebd., 19. 40 Ebd., 17.

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Die erste ständige Ausstellung im DÖW wurde im Jahr 1969 eröffnet. (Foto  : DÖW)

Auschwitz das Radiogerät, das sich die KZler in Dachau mit Hilfe von heimlich zusammengetragenen Flugzeugteilen gebastelt haben, um in ihrer totalen Abgeschlossenheit Kontakt mit der übrigen Welt aufnehmen zu können. In einer Glasvitrine im Korridor findet der Besucher unter anderen Gefängnisrequisiten eine auf dünnem Tuch abgeschriebene und mit einem Wäschepaket hinausgeschmuggelte Anklageschrift und das ergreifende Tagebuch des im Alter von 22 Jahren hingerichteten Favoritner Elektromechanikers Franz Reingruber. Bruno Sokoll, der Betreuer der Ausstellung, konnte seit der Eröffnung im Dezember 1969 9300 Besucher registrieren. Unter anderem besichtigten Gruppen von Polizei- und Gendarmerieschulen aus Wien und den Bundesländern, die Lehrlinge der Gemeinde Wien und zahlreiche Schulklassen unsere Ausstellung, allein um den Nationalfeiertag 1972 waren es rund 2000 Schüler.“41

In dieser Beschreibung finden sich bereits zahlreiche Parallelen zur Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945  : Die Themenauswahl, Schwerpunktsetzungen und der inhaltliche Aufbau scheinen nahezu deckungsgleich gewesen zu sein und die meisten der im Text beschriebenen Objekte waren auch in der 1978 eröffneten Ausstellung zu sehen. Eine Ana41 Ebd., 12.

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lyse dieser Ausstellung ist leider mangels genauer Dokumentation nicht mehr möglich. Aus dem zuvor zitierten Text lässt sich jedoch ableiten, dass auch Funktion und Zielgruppe der Ausstellung ähnlich war wie die der Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945  : Der Hinweis auf den besonders starken BesucherInnenandrang „um den Nationalfeiertag“ zeigt, dass sie als eine „offizielle“ zeitgeschichtliche Ausstellung präsentiert und ihr Besuch als Teil staatsbürgerlicher Bildung verstanden wurde. Am 4. Dezember 1972 wurde in der Bürgerstube des Alten Rathauses zusammen mit dem Bezirksmuseum Innere Stadt eine neue Bearbeitung der Ausstellung unter dem Titel Nationalsozialismus. Versprechen und Wirklichkeit eröffnet. In dieser Ausstellung, als „neue große Leistungsschau“ des DÖW beworben, wurden „auf 40 Tafeln […] Plakate, Dokumente, Bücher, Flugblätter und Flugschriften gezeigt“.42 An der Gestaltung waren mit Herbert Exenberger, Wolfgang Neugebauer und Fritz Vogl bereits einige Personen beteiligt, die auch bei der Entwicklung der Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 von großer Bedeutung sein sollten. Die Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 wurde am 1. Juni 1978 im Erdgeschoss des Alten Rathauses eröffnet. Im Zusammenhang mit dieser Eröffnung sei eine weitere Ausstellung erwähnt, die im März desselben Jahres in der Gedenkstätte Auschwitz eröffnet wurde. Im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau gibt es bis heute sogenannte Länderausstellungen, die auf Initiative ehemaliger Häftlinge aus den verschiedensten Ländern, die Mitglieder im Internationalen Auschwitz-Komitee waren bzw. sind, entstanden sind und in erster Linie das Schicksal der nach Auschwitz deportierten StaatsbürgerInnen thematisieren. Die österreichische Ausstellung wurde beinahe vom gleichen Personenkreis gestaltet wie jene im DÖW und steht bis heute unter dem Titel Österreich – Das erste Opfer des Nationalsozialismus – was verständlicherweise immer wieder zu Irritationen führt.43 Sie wurde im Auftrag der Republik Österreich konzipiert und weist in den Themenschwerpunkten und der Ikonografie zahlreiche Parallelen zur damaligen Ausstellung im DÖW auf.

42 Ebd., 22. 43 Vgl. Peter Larndorfer, „Das erste Opfer“. Auschwitz-Birkenau  : Eine Ausstellung aus einer anderen Zeit, in  : malmoe 47 (2009), 24. Vgl. , 1.1.2010.

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III. Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 Im Zentrum des vorliegenden Beitrages steht die Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945, erstens weil sie jene Ausstellung des DÖW ist, die am längsten zu sehen war, zweitens, weil sie im Gegensatz zu den Ausstellungen davor fotografisch relativ gut dokumentiert ist.44 Die Analyse soll davon ausgehen, was in der Ausstellung zu sehen ist. Zwar gibt es im DÖW durchaus Quellen zur Entstehung der Ausstellung, doch sind diese größtenteils schwer einzuordnen, weil weder klar ist, wer etwa wann die vorhandenen Konzeptionen geschrieben hat und auf welche Ausstellung sie sich beziehen. Die Analyse soll aber klar über eine bloße Beschreibung und Nacherzählung hinausgehen. Die Ausstellung soll als „Produkt geschichtspolitischer Aktivitäten“ und Ausdruck „aktuelle[r] Interessen und gruppenspezifische[r] Erinnerungs- und Sinnbedürfnisse einer Gesellschaft“ analysiert werden, denn (zeit-)geschichtliche Ausstellungen „zeigen bei ihrer Initiierung, während der Realisierung und nach der Eröffnung an, welche geschichtspolitischen Debatten geführt werden und welche Geschichtsbilder jeweils dominieren“.45 Insofern soll die Ausstellung Der Öster­reichische Freiheitskampf 1934–1945 vor dem Hintergrund des „kollektiven Gedächtnisses“ in Österreich betrachtet und die Frage gestellt werden, wie sie sich zu den zentralen Narrativen dieses „österreichischen Gedächtnisses“ positioniert. 1. Gestaltung und Aufbau

Die Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 war von 1978 bis 2005 in der sogenannten Bürgerstube des Alten Rathauses Wien zu sehen, die zwei Räume umfasst  :46 Der vorgelagerte, kleinere Raum dient der Vorstellung des DÖW, außerdem erfüllt er die Funktion eines Raumes zum Gedenken an jene, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus ums Leben kamen.47 44 Zitate aus dem Ausstellungstext stehen kursiv unter Anführungszeichen. Begriffe wie „Faschismus“ oder „Arbeiterbewegung“ sind im Bedeutungszusammenhang der Ausstellung zu verstehen. 45 Pieper, Musealisierung, 26 (wie Anm. 4). 46 Die folgende Beschreibung und Analyse der Ausstellung ist aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit im Präsens gehalten. 47 Diese Funktion eines Gedenkraumes für den Widerstand wird noch in höherem Maße von der vom DÖW betreuten Gedenkstätte Salztorgasse erfüllt. Es handelt sich dabei um einen

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Im zweiten, größeren Raum ist die Ausstellung selbst untergebracht. Das verbindende Element zwischen beiden Räumen ist eine Schautafel mit dem Titel der Ausstellung, einer Grußbotschaft des Bundespräsidenten Kirchschläger und den Namen der GestalterInnen der Ausstellung. Die Ausstellung selbst besteht aus 36 Schautafeln, die an den Wänden des Ausstellungsraumes und in einer U-förmigen Anordnung im Raum aufgestellt sind, in der Mitte des Raumes befindet sich eine Säule, die von einer Glasvitrine umgeben ist. Die Schautafeln sind mit braunem Filz bespannt, der obere Teil beinhaltet meist Fotos und Dokumente, die mit einer Bildunterschrift versehen sind. Unter den Schautafeln stehen kurze zusammenfassende Erklärungstexte. Den Schautafeln vorgelagert sind Glasvitrinen mit Objekten und Originaldokumenten. Die Kommunikation der Ausstellung funktioniert eher text- als objektorientiert  : Die Originalobjekte und -dokumente in den darunterliegenden Vitrinen stehen nicht im Zentrum der Präsentation, sie sollen eher die durch Texte und Bilder konstruierten Narrative untermauern oder beweisen.48 Gleichzeitig dominieren historische Fotos den Ersteindruck der Ausstellung. Das historische Foto besitzt als Ausstellungsobjekt eine hohe Autorität. Aleida Assmann nennt das Foto das „wichtigste[n] Medium der Erinnerung“, das gleichsam „als fortwährender Abdruck eines vergangenen Augenblicks“49 wahrgenommen wird. Jedoch, führt Assmann weiter aus, spricht das Foto nicht, es benötigt einen rahmenden Erzähltext. Diese Kombination aus hoher Authentizität und Bedarf der Kontextualisierung kann problematisch sein, wenn Fotos, wie in der vorliegenden Ausstellung, als visuelle Argumente eingesetzt werden. Der Umgang mit Objekten in der Ausstellung scheint wenig durchdacht zu sein. Oft passen die Objekte nicht zum Inhalt der Schautafeln, vor denen sie ausgestellt sind, oft werden in einer Vitrine Objekte vermischt, die aus völlig unterschiedlichen Zusammenhängen stammen. So wird etwa in einer Vitrine zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Betrieben ein Objekt gezeigt, das 1935 in einem Gefängnis angefertigt wurde.50 Insgesamt säkularen Weiheraum im Leopold-Figl-Hof (Salztorgasse 6), der auf dem Areal des einstigen Hotels Metropol (Sitz der Gestapo-Leitstelle Wien 1938–1945) errichtet wurde. 48 Vgl. Jana Scholze, Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld 2004, 26. 49 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, 221. 50 „Spielkarten, die von Maria Emhart und Rosa Jochmann im Landesgericht Wien 1935 angefertigt wurden.“

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wirkt die Gestaltung der Ausstellung vor allem überladen, weil die kurzen, prägnanten Texte mit einer Vielzahl oft ungeordneter Fotos und Objekte illustriert werden. Gleichzeitig wirkt sie jedoch nüchtern, fast karg, was wohl auch mit dem unspektakulären Lichteinsatz und der generell dunklen Gestaltung der Schautafeln zu erklären ist. Diese nüchterne Kargheit beherrscht vor allem den ersten, vorgelagerten Raum und unterstreicht dessen Charakter als Gedenkraum. Sicherlich haben auch die finanzielle Situation des DÖW, die wohl keine aufwendigen Inszenierungen zugelassen hätte, und der relativ geringe Stellenwert von Ausstellungsdesign Mitte der 1970er-Jahre eine Rolle bei der Gestaltung gespielt. Die Ausstellung folgt einer chronologisch strukturierten Storyline vom Ende des Habsburgerreiches 1918 bis zur Befreiung Österreichs 1945, wobei den drei abschließenden Tafeln unter dem Motto „Wehret den Anfängen  !“ eine besondere Rolle zukommt. Die Ausstellung beginnt auf der rechten Außenwand mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, der vorgesehene Weg ist durch gelbe Pfeile am Boden markiert. Es folgen die Tafeln zur Ersten Republik und zum Februar 1934. Gegenüber erläutern zwei Tafeln für die Ausstellung grundlegende Zusammenhänge und Begriffe („Nationalismus – Rassismus“  ; „Entstehung und Funktion des Faschismus“). In der rechten hinteren Ecke behandeln zwei Tafeln den „Anschluss“, gegenüber befindet sich eine Tafel zur „Verfolgung der Juden“, weiters eine Eckvitrine zur Shoa. Auf der hinteren Wand werden der politische Terror, das KZ Mauthausen und der Beginn des Krieges dargestellt, gegenüber (bekannte) ÖsterreicherInnen im Exil gezeigt. In der linken hinteren Ecke beginnt mit dem internationalen Widerstand die umfangreiche Darstellung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in all seinen Formen und politischen Ausrichtungen. In einer weiteren Eckvitrine werden „Österreicher im Spanischen Bürgerkrieg“ thematisiert. Auf der linken Außenwand werden der sozialistische und kommunistische Widerstand thematisiert, gegenüber jener von „Betriebsgruppen“ und von „kleinere[n] Gruppen der Arbeiterbewegung“. Die Beschreibung geht im Inneren der U-förmigen Anordnung mit Tafeln zu konservativem und individuellem Widerstand, Widerstand in Konzentrationslagern und von nationalen Minderheiten und PartisanInnen weiter, in der Folge werden die Befreiung Österreichs durch die Alliierten und der militärische Widerstand thematisiert. In der Mitte des Raumes befindet sich eine Vitrine mit Originalobjekten  : Die KZ-Kluft von Rosa Jochmann, ein Schrank mit Geheimfächern zum Verstecken verbotenen Materials und die Uniform und Waffe eines Mitgliedes des „Österreichischen Freiheitsbataillons“ in Slowenien. Den Abschluss der Aus-

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stellung bilden drei Tafeln rechts neben dem Ausgang zu „neofaschistischen“ Bewegungen der 1970er-Jahre und eine Tafel unter dem Titel „Wehret den Anfängen  !“. 2. Inhalt und zentrale Narrative

a) Titel der Ausstellung Schon im Titel der Ausstellung spiegelt sich eine grundlegende geschichtspolitische Perspektive der AusstellungsmacherInnen wider  : Im Widerspruch zur Grußbotschaft des Bundespräsidenten, die auf einer Tafel beim Eingang zu finden ist und die als Ausdruck eines offiziellen „österreichischen“ Geschichtsbildes gelten kann,51 wird die Periode des „österreichischen Freiheitskampfes“ nicht nur auf die Jahre 1938 bis 1945 bezogen, sondern auf die Jahre 1934 bis 1938 ausgedehnt. Ein so klarer Widerspruch zum Titel zeigt, wie umstritten dieses Geschichtsbild war. Bedenkt man jedoch, dass hinter der Ausstellung und dem DÖW überhaupt (1978 noch mehr als heute) ehemalige WiderstandskämpferInnen standen, so ergibt sich eine mögliche Erklärung für die Wahl des Zeitraums „1934–1945“ als Periode des „österreichischen Freiheitskampf[es]“  : Für viele WiderstandskämpferInnen begann der „Freiheitskampf “ tatsächlich mit den Kämpfen um den 12. Februar 1934, ihre Geschichte der Verfolgung beginnt bereits 1934. Außerdem muss in diesem Zusammenhang auch das sozialdemokratisch geprägte gesellschaftspolitische Klima, das 1978 in Österreich vorherrschend war, beachtet werden. Angesichts der Vorherrschaft der Sozialdemokratie im Österreich der 1970er-Jahre und der tendenziellen Dominanz der Linken unter den (ehemaligen) WiderstandskämpferInnen ist es also wenig verwunderlich, dass sich im Titel der Ausstellung die Sichtweise jener widerspiegelt, deren „Freiheitskampf “ bereits 1934 begann. Gleichzeitig lässt der Titel (im Sinne der Überparteilichkeit des DÖW) auch einen gewissen Interpretationsspielraum offen  : Die Ausdehnung des „Österreichischen Freiheitskampfes“ auf die Jahre 1934–1938 könnte auch als Einschließen des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes in diesen Kampf verstan-

51 „Der Nationalsozialismus war zwar imstande, für sieben Jahre Österreich von der Landkarte zu löschen, die Liebe der Österreicher zu ihrem Land zu beseitigen, war er jedoch nicht fähig. Tausende bezahlten ihr Bekenntnis zu Österreich, zu Freiheit und Demokratie mit Verfolgung und Haft, viele von ihnen auch mit dem Leben. Die Erinnerung an den österreichischen Freiheitskampf der Jahre 1938 bis 1945 hochzuhalten ist nicht nur eine Ehrenpflicht, aus ihr kann auch Kraft und Mut zur Bewältigung der Zukunft erwachsen.“

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den werden, auch wenn die Behandlung der Zeit zwischen 1934 und 1938 in der Ausstellung diese Lesart keineswegs nahelegt. b) „Politische Auseinandersetzungen der Ersten Republik“ Ein zentraler Ausgangspunkt für das Geschichtsbild der Ausstellung ist der Begriff des „Faschismus“, der immer wieder aufgegriffen wird. Mit dem Begriff des „Faschismus“ wird nicht nur die NS-Herrschaft 1938–1945, sondern auch der „autoritäre Ständestaat“, das austrofaschistische Regime von 1934–1938 erfasst. Dieser Periode wird in der Ausstellung relativ viel Raum gegeben, auch wenn das Schweigen über die Jahre zwischen 1933/34 und 1938 zweifelsohne zum Konsens der Zweiten Republik gehört.52 Außerdem muss bedacht werden, dass die Ausstellung aus einer „fruchtbringende[n] Kooperation von ehemaligen Aktivisten der Revolutionären Sozialisten und Funktionären der Vaterländischen Front“53 entstand. Zwischen den höchst unterschiedlichen Positionen dieser beiden Gruppen zu Bedeutung und Rolle des „autoritären Ständestaates“ musste also eine konsensfähige Darstellung ausverhandelt werden. Die These, dass sich bei der „Ausverhandlung“ der Ausstellung ein tendenziell sozialistisch/kommunistisch geprägtes Geschichtsbild durchsetzen konnte, lässt sich am ersten Abschnitt der Darstellung der Ersten Republik sehr gut nachvollziehen  : Zwar werden eindeutig politisch konnotierte Bezeichnungen wie „Austrofaschismus“ kaum verwendet,54 doch wird eine klar sozialdemokratische Perspektive eingenommen. Der Ausgangspunkt für die Eskalation der Gewalt in der Ersten Republik wird dem bürgerlichen Lager zugeschrieben, während die Sozialdemokratie darin nur das letzte Mittel gesehen hätte  : Die „bürgerliche Seite“ habe „private Militärformationen“ gegründet, „die Sozialdemokratie antwortet mit der Gründung des ‚Republikanischen Schutzbundes‘“  ; im „bürgerlichen Lager“ haben sich „antidemokratische Tendenzen“ durchgesetzt, die Sozialdemokratie sei „vor einem entschiedenen Kampf um die Verteidigung der Demokratie zurück[geschreckt]“. Am deutlichsten zeigt sich diese Tendenz bei der Gegenüberstellung zweier wörtlicher Zitate zweier zentraler Persönlichkeiten der großen politischen Lager der Ersten Republik  : Bundeskanzler Seipel ruft zu einer „Entscheidungsschlacht mit 52 Vgl. Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Wien 2005, 401–404. 53 Bailer-Galanda/Neugebauer, Dokumentationsarchiv, 30 (wie Anm. 7). 54 Das Wort „austrofaschistisch“ kommt einmal, relativ versteckt, in einer Bildunterschrift vor.

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den Feinden Jesus Christus“ auf, Otto Bauer will alles tun, „was eine friedliche Lösung auf dem Boden der Demokratie möglich macht.“ Die Ziele der Sozialdemokratie beziehungsweise der „Arbeiterbewegung“ werden in diesem Teil der Ausstellung durchwegs positiv, ihr bewaffneter Kampf als heroischer Akt dargestellt. Eine „starke Arbeiterbewegung“ habe nach der Gründung der Republik „vorbildliche Sozialgesetze“ durchgesetzt, am 12. Februar 1934 haben „die Schutzbündler […] zur Verteidigung der Freiheit zu den Waffen“ gegriffen. Der Text zur Erklärung des 12. Februar 1934 endet pathetisch  : „Die Februarkämpfe sind ein leuchtendes Fanal für den Widerstand gegen den Faschismus in Europa.“ Drei sozialdemokratische Opfer der Kämpfe im Februar 1934 – Koloman Wallisch, Georg Weissel und Karl Münichreiter – werden namentlich genannt und auf der Schautafel abgebildet. In diesem Zusammenhang wird das Regime Dollfuß klar mit dem Begriff „Faschismus“ in Verbindung gebracht. Auch wenn in der Ausstellung die Verwendung des Reizwortes „Austrofaschismus“ weitgehend vermieden wird, so wird an mehreren Punkten klar ein Naheverhältnis zwischen konservativen Gruppierungen und dem Faschismus beschrieben  : Im Ausstellungstext ist von den „faschistischen Heimwehren“ die Rede, die „wachsende Abhängigkeit vom faschistischen Italien“ wird betont. Außerdem werden die Ziele der Christlich-Sozialen Partei unter Dollfuß als „antidemokratisch“ bezeichnet. Wichtig ist dabei, dass diese ideologische Ausrichtung in erster Linie einem Flügel der Christlich-Sozialen Partei zugeschrieben wird, der sich nach dem Justizpalastbrand mehr und mehr durchgesetzt habe. Diese Darstellung einer Spaltung der Christlich-Sozialen Partei hat es wohl den ehemaligen WiderstandskämpferInnen des konservativen Lagers im DÖW erleichtert, den Grundtenor dieses Ausstellungsteils zu akzeptieren und sich selbst in der Nachfolge der den „antidemokratische[n] Kräfte[n]“ gegenübergestellten „versöhnlichen Kräfte“ zu sehen. c) Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Grundlage der Zweiten Republik Während in der Zeit von 1918–1938 noch die Gegenüberstellung der (tendenziell demokratischen, fortschrittlichen, friedlichen) „Arbeiterbewegung“ und der (tendenziell antidemokratischen, ‚autoritären‘) „bürgerlichen Seite“ vorherrscht, wird ab dem „Anschluss“ das Bild eines alle politischen Richtungen umfassenden, antinazistischen Österreich-Patriotismus gezeichnet, der auch durch Verfolgung, Gewalt, Vertreibung und Mord nicht zu brechen

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Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in allen politischen Schattierungen war das zentrale Thema der Ausstellung Der österreichische Freiheitskampf 1934–1945. (Foto  : Heidemarie Uhl)

war. Ab hier steht der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in all seinen Aspekten und politischen Ausrichtungen im Zentrum der Ausstellung. Als gemeinsamer Nenner der unterschiedlichen Widerstandsgruppen wird dabei das Bekenntnis zu einem freien Österreich angenommen, wenn etwa betont wird, dass der „Patriotismus […] charakteristisch für den kommunistischen Widerstand“ gewesen sei. Die Verbindung von Patriotismus und Widerstand ist eine wesentliche Argumentationsstrategie der Ausstellung, um dem „österreichischen Gedächtnis“ den Widerstand als „Fundament der 2. Republik“55 neu einzuschreiben. In diesem Zusammenhang muss vorausgeschickt werden, dass das „österreichische Gedächtnis“, wie jedes „nationale Gedächtnis“, kein statisches, von einer Regierung oder öffentlichen 55 Das Fundament der 2. Republik  !, in  : Der neue Mahnruf 6 (1978), hg. v. Bundesverband österreichischer Antifaschisten, WiderstandskämpferInnen und Opfer des Faschismus, 1. In den Zeitungen der anderen Opferverbände finden sich ähnliche Bezeichnungen für den Widerstand als Grundlage der Zweiten Republik.

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Institutionen verordnetes Geschichtsbild ist, sondern „ein immer wieder neu sich zusammensetzendes, für seine Gegenwart bestimmtes Projekt, dessen Konstruktionscharakter [es] offenzulegen“56 gilt. Die Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 verfolgt jedoch weniger das Ziel der Dekonstruktion des „österreichischen Gedächtnisses“, sondern möchte es verändern, ihm neue Narrative einschreiben. Um dies zu erreichen, greift die Ausstellung hegemoniale Narrative auf und verbindet sie mit denen der WiderstandskämpferInnen. Die grundlegende Argumentationsrichtung zielt dabei darauf ab, den Widerstand als mehrfache Basis der Zweiten Republik darzustellen. So wird er erstens als Basis der politischen Kultur der Zweiten Republik gezeigt. Die geteilte Verfolgungserfahrung und GegnerInnenschaft zum Nationalsozialismus habe die politischen Lager geeint und sei so als „Geist der Lagerstraße“ zum Ausgangspunkt für das sozialpartnerschaftliche Miteinander der Zweiten Republik geworden.57 Zweitens wird der Widerstand mit der als Kopie ausgestellten Moskauer Deklaration in Verbindung gebracht. In diesem Dokument weisen die Alliierten darauf hin, dass sie in der Frage der Behandlung Österreichs nach dem Krieg berücksichtigen werden, wie viel ÖsterreicherInnen zu ihrer Befreiung vom Nationalsozialismus beigetragen haben werden. In der Interaktion mit diesem Exponat wird der breit dargestellte Widerstand zu einer Grundbedingung für die Entstehung der Zweiten Republik. Drittens werden – vor allem gegen Ende der Ausstellung – die Verdienste des Widerstandes um die Befreiung Österreichs gewürdigt und hervorgehoben, dass die „von den Nazis anbefohlenen Zerstörungen“, etwa „die Sprengung der Hochöfen in Donawitz“, verhindert worden seien. Die Basis für den wirtschaftlichen Aufstieg Österreichs nach 1945 sei also schon vom Widerstand gelegt worden. Nicht zuletzt sei auch das Ansehen Österreichs im Ausland ein Verdienst der WiderstandskämpferInnen, die in verschiedenen Armeen der Alliierten und europäischen Widerstandsgruppen kämpften, die sich in 56 Clemens Wischermann, Geschichte als Wissen, Gedächtnis oder Erinnerung  ?, in  : ders. (Hg.), Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1996, 55–85, hier 68. 57 Die ausstellende Institution beschreibt sich auch selbst als Produkt dieser dem Widerstand entsprungenen Gemeinsamkeit  : „Getragen von jenem ‚Geist der Lagerstraße‘, der die einst verfeindeten politischen Lager Österreichs zusammenführte, wurde im DÖW eine fruchtbare Zusammenarbeit gepflogen, welche von den Veränderungen der innenpolitischen Szene seit 1963 unbeeinflußt blieb.“ Vgl. Wolfgang Neugebauer, Zwanzig Jahre Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (1963–1983), in  : Helmut Konrad/ders. (Hg.), Arbeiterbewegung – Faschismus – Nationalbewußtsein, Wien 1983, 405–416, hier 415.

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Spanien freiwillig am Kampf „gegen das weitere Vordringen des Faschismus in Europa“ beteiligten und deren Leistungen von verschiedenen Regierungen und internationalen Institutionen ausgezeichnet wurden. Auf der letzten Tafel des chronologischen Abrisses wird der Widerstand konsequenterweise als politischer Grundkonsens der Zweiten Republik dargestellt  : „ÖVP, SPÖ und KPÖ sowie der Österreichische Gewerkschaftsbund nehmen das Bekenntnis zum Widerstand in ihre Grundsatzerklärungen auf.“ Im Sinne dieser Argumentation wird auch versucht, die WiderstandskämpferInnen als Ikonen, als HeldInnen des neuen Österreich zu inszenieren. So werden einige der die Darstellung des Widerstandes prägenden Porträtfotos im Eingangsbereich als Postkarten verkauft,58 eine große Tafel in diesem Raum zeigt ca. 130 Fotos unter dem Titel „Sie starben für Österreich …“. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der aus unterschiedlichsten Motiven geleistet wurde, wird also per se als Österreich-patriotischer Akt interpretiert. Objekte, die mit bekannten Persönlichkeiten des Widerstandes in Zusammenhang stehen, erhalten einen besonderen Platz in der Ausstellung – etwa die KZ-Kluft Rosa Jochmanns, die in einer Vitrine in der Mitte des Raumes ausgestellt wird. Das Ziel, die WiderstandskämpferInnen als „österreichische HeldInnen“ darzustellen, kommt auch in der bereits 1965 vom DÖW herausgegebenen Broschüre „Nach 20 Jahren – Helden wieder modern“ zum Ausdruck, in der die „Helden des Widerstandes“ in einer Reihe mit „österreichischen Helden“ wie Andreas Hofer den ehemaligen Wehrmachtssoldaten gegenübergestellt werden.59 Verstärkt wird die Verbindung von Widerstand und Patriotismus auch durch die Verwendung nationaler Symbole als Symbole des Widerstandes  : So wird auf einem ausgestellten Flugblatt einer Widerstandsgruppe in Tirol dazu aufgerufen, „nicht weiße Fahnen […], sondern rot-weiß-rote“ zu hissen, auch rot-weiß-rote „Armbinden von Widerstandskämpfern“ finden sich in der Ausstellung.

58 Zum Verkauf angeboten wird eine Serie von 20 der bekannteren WiderstandskämpferInnen (bzw. Opfer von Verfolgung) aus unterschiedlichen politischen Richtungen, etwa Helene Kafka (Schwester Restituta), Sidonie Adlersburg, Franz Jägerstätter und Käthe Leichter. 59 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Nach 20 Jahren – Helden wieder modern  ?, Wien 1965, 17  : „Wo ist das Bild des Kämpfers für Österreich in den Jahren 1938 bis 1945  ? Täglich bieten sich dir die Bilder von ‚Helden‘ an  : ordengeschmückte Frontsoldaten. Sie können nicht die Ehre für sich in Anspruch nehmen, für Österreich gekämpft zu haben. Wer in diesen Jahren für Österreich kämpfte, wurde nicht mit Hitlerorden geschmückt. Er riskierte täglich und stündlich Freiheit und Leben.“

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d) Antisemitismus und Holocaust Antisemitismus und die Verfolgung und Vernichtung von Juden und Jüdinnen werden in der Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 auf einer Tafel („Verfolgung der Juden“) behandelt, die Shoa in einer Eckvitrine ohne Titel. Durch die Positionierung des Antisemitismus neben den Tafeln zu Faschismus, Nationalismus und Rassismus nimmt dieser zwar eine Position als zentrales Element der NS-Ideologie ein, gleichzeitig geht die Thematisierung des Antisemitismus kaum über jene zwei Tafeln hinaus. Dadurch wirkt die Darstellung des Antisemitismus vom Rest der Ausstellung isoliert – auf den anderen Schautafeln, etwa auf jener zum „Anschluss“, ist Antisemitismus kein Thema. Im Erklärungstext unter der Tafel werden „die Juden“ als „Haupt­leid­tragen­ de[n] der NS-Rassenpolitik“ beschrieben und es wird auf die „traditionellen christlichen Vorurteile“ hingewiesen, auf denen der NS-Antisemitismus aufgebaut habe. Weiters wird im Text auf die „Rassengesetze“ hingewiesen, durch die „die jüdische Bevölkerung diskriminiert, aus dem Berufsleben ausgeschaltet und sowohl vom Regime als auch von NS-Anhängern enteignet (‚Arisierungen‘)“ wurde. Pogrome hätten viele Juden und Jüdinnen zur Auswanderung genötigt, im Jänner 1942 folgte der Beschluss der „‚Endlösung der Judenfrage‘“ und ein „systematische[r] Völkermord“. Bemerkenswert an dieser Schautafel ist, dass, obwohl wie im Rest der Ausstellung Täter (und Täterinnen60) nicht beim Namen genannt werden, die Täterschaft nicht völlig externalisiert wird. Zwar bleibt die Beteiligung der Bevölkerung an antisemitischer Gewalt und Enteignung der jüdischen Bevölkerung im Text unausgesprochen, dennoch wird aus dem Zusammenspiel von Bildern und Text klar, dass es nicht nur eine kleine Gruppe fanatischer Nazis war, die Gewalt ausgeübt und von der Verfolgung profitiert hat. So wird bei der Darstellung der „Anschlusspogrome“ die Beteiligung der Bevölkerung an antisemitischer Gewalt sichtbar, vor allem bei einem Foto der sogenannten „Reibpartien“, bei denen Juden und Jüdinnen die Straßen von politischen Parolen des Vorgängerregimes reinigen mussten. Auch das Foto einer brennenden Synagoge vom 9. November 1938 zeigt zahlreiche Schaulustige. Auf die Rolle der „einfachen“ Bevölkerung bei der Ausgrenzung der Juden und Jüdinnen wird jedoch nicht explizit hinge60 Meist ist in diesem Zusammenhang nur von „Tätern“ die Rede – doch es gab auch Österreicherinnen, die in NS-Verbrechen verwickelt waren, wie etwa die Oberaufseherin des Frauenlagers in Auschwitz, Maria Mandl.

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wiesen, im Text ist bloß davon die Rede, dass die Bevölkerung „systematisch gegen die Juden aufgehetzt“ worden sei. Rechts neben der Schautafel zur „Verfolgung der Juden“ befindet sich eine Eckvitrine, die die Vernichtung der Juden und Jüdinnen thematisiert. Dieser Teil der Ausstellung ist der einzige, der keinen Titel trägt. Die Positionierung des Themas in einer Eckvitrine macht es in der Wahrnehmung zu einem Randoder Nischenthema. Die zweite Eckvitrine ist den „Österreicher[n] im Spanischen Bürgerkrieg“ gewidmet – dieses Thema nimmt also in dieser Ausstellung gleich viel Raum ein wie die Vernichtung der Juden und Jüdinnen Europas. Die Vitrine wird dominiert von Objekten und Bildern, Text kommt nur auf den Bildbeschriftungen vor. Die Kontextualisierung der Fotos erfolgt sehr vage, es ist oft nicht klar, was auf dem Foto genau zu sehen ist. So werden unter der gemeinsamen Bildunterschrift „Juden im Ghetto“ sechs Bilder gezeigt, die – von einer Ausnahme abgesehen – nicht kontextualisiert werden. Diese Bilder zeigen einen Kontrollposten vor einem Ghetto, junge (jüdische  ?) Männer auf einem Lastwagen, die aus dem Ghetto oder ins Ghetto transportiert werden, eine ältere Frau mit dem gelben Stern, einen Wachposten (an der Grenze eines Ghettos  ?) und einen scheinbar verletzten Bettler. Das einzige Foto mit Bildunterschrift zeigt eine Szene aus dem „Warschauer Ghettoaufstand“ als „Ausdruck jüdischen Widerstandswillens“. Auf der rechten Seite thematisieren Fotos den antisemitischen Massenmord der Nazis. Ein Foto zeigt eine Selektion im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, ein weiteres eine Mordaktion der berüchtigten „Einsatzgruppen“ an der Ostfront, ein weiteres zeigt symbolhaft eine große Anhäufung von Brillen, wie sie im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau zu sehen ist. In der Mitte ist eines jener berühmten Fotos zu sehen, das ein Häftling des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau gemacht hat und das die Verbrennung von Leichen unter freiem Himmel zeigt.61 Der Untertitel bezieht sich nicht nur auf den Inhalt des Fotos, sondern erklärt auch die Bedeutung dieses Abschnittes für die Ausstellung  : „Verbrennung von Leichen von vergasten Juden. 65.000 österreichische Juden verlieren ihr Leben in Ghettos und Konzentrationslagern.“ Es geht im Kontext der Ausstellung also weniger um die Thematisierung des Holocaust, sondern um die Ermordung der österreichischen Juden und Jüdinnen. Auch die Objekte in dieser Vitrine sind auffällig  : Ausgestellt wird Menschenhaar, das aus dem Staatlichen Museum AuschwitzBirkenau stammt, genau wie zwei leere Zyklon B-Dosen, „deren Inhalt zur Ermordung von Menschen verwendet wurde“. Außerdem beinhaltet die Vitrine 61 Vgl. Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007.

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ein „Mauerstück des gesprengten Krematoriums im KZ-Auschwitz-Birkenau“, „Münzen aus dem Ghetto Litzmannstadt“ und eine „beschlagnahmte Geldbörse aus dem KZ Auschwitz“. Diese Originalobjekte, die im Zusammenhang mit dem Holocaust stehen, spielen in der Ausstellung also eine große Rolle. Zu diesem Thema werden die einzigen Objekte gezeigt, die von einer anderen Institution, dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, zur Verfügung gestellt wurden. Grundsätzlich scheint hier das Bedürfnis zu bestehen, materielle Beweise zu liefern und die „Aura“ des Originalobjektes einzusetzen. e) „Wehret den Anfängen  !“ Das DÖW versteht die zeitgeschichtliche Aufklärung, vor allem von Jugendlichen, bereits seit seiner Gründung als eine seiner zentralen Aufgaben. Dabei spielt die Ausstellung als „Aushängeschild“ des DÖW, als öffentlich inszeniertes Archivmaterial mit Bedeutung und Funktion, eine entscheidende Rolle  : Sie richtet einen klaren Appell an die BesucherInnen, der am Ende unter dem klassischen antifaschistischen Slogan „Wehret den Anfängen  !“ subsumiert wird. Damit entspricht der an die BesucherInnen gerichtete Appell der zentralen Forderung der KZ-Überlebenden und WiderstandskämpferInnen, die bei Gedenkveranstaltungen, in antifaschistischen Publikationen, in Reden zu bestimmten Jahrestagen usw. immer wieder artikuliert wird  : Das Geschehene dürfe nicht vergessen werden, damit es sich nicht wiederhole. Die Forderung der WiderstandskämpferInnen, niemals zu vergessen und den Anfängen zu wehren, ist von Anfang an mit weiteren politischen Forderungen verbunden und stellt Bezüge zur Gegenwart her. Im Sinne des von Katrin Pieper beschriebenen „Memory Museums“ versucht das DÖW am Ende seiner Ausstellung „[d]urch die Betonung der individuellen Gestaltungsmöglichkeit von ‚Geschichte‘ und in Form konkreter Gegenwartsbezüge […] ein Problembewusstsein bei den Besuchern zu begründen“.62 Die Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 zeigt am Ende einige aktuelle Beispiele für „Rechtsradikalismus und Neofaschismus in Österreich“  : Darauf werden verschiedene Organisationen aus dem rechtsextremen Spektrum genannt, etwa die in den 1970er-Jahren aktive Nationaldemokratische Partei, die deutschnationalen Burschenschaften oder der Österreichische Turnerbund. Außerdem wird mit den Auseinandersetzungen um zweisprachige Ortstafeln in Kärnten ein (schon damals) sehr aktuelles politisches Thema aufgegriffen. Dieser Tafel 62 Pieper, Musealisierung, 24f. (wie Anm. 4).

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steht antagonistisch jene unter dem Titel „Wehret den Anfängen  !“ gegenüber, auf der mit konkreten Beispielen dazu aufgerufen wird, dem „Faschismus […] konsequent entgegen[zu]treten“  : antifaschistische Schweigemärsche, Solidaritätsdemonstrationen (mit den SlowenInnen in Kärnten) und Gedenkstättenbesuche (Schulklasse in Mauthausen). Vor allem aber wird die Arbeit des DÖW in diesem Zusammenhang dargestellt  : So zeigt ein Foto Bundespräsident Kirchschläger beim Besuch der Ausstellung des DÖW, ein weiteres zeigt ihn bei der Entgegennahme der ersten Bände aus der Reihe „Widerstand und Verfolgung“. Außerdem sind die Deckblätter zahlreicher Publikationen von KZ-Überlebenden und WissenschafterInnen aus dem DÖW ausgestellt. Auf diesen die Ausstellung abschließenden Tafeln werden die BesucherInnen zum Handeln aufgefordert und der Anspruch geltend gemacht, „mittels Adaption der […] Vergangenheit eine Bewusstseinsbasis für aktuelle gesellschaftliche und politische Probleme zu schaffen, auf der Handlungsmaximen und Werte formuliert werden“.63 Dabei wird der Besuch der Ausstellung bereits als Teil dieses Handelns dargestellt – doch „Gegeninformation allein reicht nicht aus“. Die BesucherInnen sollen also die in der Ausstellung gewonnen Erkenntnisse praktisch umsetzen, in dem sie sich an antifaschistischen Aktionen (wie sie auf der Tafel dargestellt werden) beteiligen. In der Vitrine unter diesen Tafeln wird – unter anderem – der Umgang der Zweiten Republik mit der NSZeit thematisiert. So wird das Gesetzesblatt mit dem NS-Verbotsgesetz gezeigt, daneben ein Foto und ein Protokoll des Hauptkriegsverbrecherprozesses in Nürnberg als Symbol für die Verfolgung der TäterInnen. Ein Auszug aus dem Opferfürsorgegesetz symbolisiert die „Entschädigung“ der Opfer. Diese Verknüpfung antifaschistischer Aktion mit Gesetzen der Republik Österreich und auch die Bilder hoher Vertreter der Republik bei Gedenkveranstaltungen im DÖW stellen erneut die Verbindung zwischen Österreich und dem Widerstand her und unterstreichen den „antifaschistischen Grundkonsens“ der Zweiten Republik. Diese immer wieder hergestellte Verbindung zu konsensualen Narrativen des „österreichischen Gedächtnisses“ ist wohl notwendig, weil „[h]istorische Museen und Ausstellungen […] nur dann eine neue Moral konstituieren können, wenn sie in ihren Aussagen anschlußfähig sind an wenigstens näherungsweise entsprechende moralische Orientierungen der Besucher[Innen]“.64 63 Ebd., 24. Pieper verweist in diesem Zusammenhang auf Omer Bartov, Chambers of Horror. Holocaust Museums in Israel and the United States, in  : Israel Studies 2 (1997) 2, 66–87. 64 Rosemarie Baier de Haan, Erinnerte Geschichte – Inszenierte Geschichte, Frankfurt am Main 2005, 240.

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Die Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 betreibt also in mehrfacher Hinsicht eine Instrumentalisierung von Geschichte. Dem Begriff „Instrumentalisierung von Geschichte“ haftet ein gewisser Beigeschmack des Missbrauches an, doch erweckt diese Kritik den Anschein, „als gäbe es eine reine, zweckfreie Beschäftigung mit der Vergangenheit“.65 Vielmehr ist die öffentliche Auseinandersetzung mit Geschichte immer mit politischen, nationalen oder religiösen Absichten verknüpft. Diese politischen Absichten weisen in der Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945, in einer Ausstellung, die als „Statement“ der ehemaligen WiderstandskämpferInnen gelten kann, in zwei Richtungen  : Einerseits suchen sie den Anschluss an hegemoniale, Österreich-patriotische Diskurse, um diese mit den eigenen Narrativen zu verbinden, andererseits verweisen sie auf emanzipatorische Grundsätze der ArbeiterInnenbewegung. Dieser Bezug entspricht nicht nur dem politischen Anspruch vieler ehemaliger WiderstandskämpferInnen und der GestalterInnen der Ausstellung – er verweist auch auf geschichtspolitische Diskurse aus der Zeit der Gestaltung der Ausstellung. Sie kann dementsprechend als „ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Verbrechen“ gelesen werden  : „Sie reflektier[t] die Anteilnahme mit den Opfern und die Verantwortung gegenüber der Geschichte.“66

IV. Die neue Ausstellung im DÖW Wie eingangs erwähnt war die Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 nach der Transformation des „österreichischen Gedächtnisses“ in vielerlei Hinsicht nicht mehr zeitgemäß. Ein wesentliches Problem war die Diskrepanz zwischen ihrem Anspruch als Selbstdarstellung der ehemaligen WiderstandskämpferInnen einerseits und ihrer Rolle als einzige Dauerausstellung über die Zeit des Nationalsozialismus in Österreich andererseits. So nahm der Widerstand etwa zwei Drittel der gesamten Ausstellungsfläche ein, während die Frage nach österreichischer Mittäterschaft nie gestellt wurde. Dadurch wurde ein nach Waldheim nicht mehr tragbares Bild von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus repräsentiert. Auch die Darstellung des „Anschlusses“ als militärische Aggression und eine Opferzusammenstel65 Matthias Hass, Gestaltetes Gedenken. Yad Vashem, das United States Holocaust Museum und die Stiftung Topographie des Terrors, Frankfurt a.M. 2002, 375. 66 Ebd., 9.

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lung am Ende der Ausstellung, in der von den WiderstandskämpferInnen über österreichische Juden und Jüdinnen bis hin zu gefallenen Wehrmachtssoldaten und zivilen Kriegsopfern alle kollektiv zu Opfern erklärt werden, suggerieren dieses Bild. Diese Darstellung von Österreich als Opfer widersprach ab den 1990er-Jahren der aktuellen zeitgeschichtlichen Forschung und konnte nur noch irritieren oder als Beispiel für eine Lesart österreichischer Zeitgeschichte dienen, die ihre Deutungsmacht verloren hatte.67 Aus der Sicht jener, die die Ausstellung konzipierten, ist diese widerstandszentrierte Darstellungsweise mit klarem Opferfokus jedoch nachvollziehbar  : Zweck des DÖW war in erster Linie die Dokumentation des Widerstandes, außerdem war aus Sicht der ehemaligen WiderstandskämpferInnen „der Opfermythos eben kein Mythos, sondern eine persönliche, real gelebte Erfahrung“.68 Außerdem bedeutete das Angebot einer Identifikation als Opfer etwa an ehemalige Wehrmachtssoldaten auch eine Aufforderung, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren und sich zu Demokratie und Rechtsstaat zu bekennen. All diese Aufgaben – die Dokumentation des Widerstandes und das Einschreiben des Gedächtnisses der WiderstandskämpferInnen in ein „österreichisches Gedächtnis“ – muss die neue Ausstellung nicht mehr erfüllen. Sie wählt einen viel breiteren Zugang und versucht, den aktuellen Stand der Forschung darzustellen. Analog zur Ausweitung des Forschungsgegenstandes in den letzten Jahrzehnten wurde auch der Ausstellungsraum um ca. ein Drittel erweitert. Außerdem kam es zu einer tiefgreifenden Themenverschiebung  : Während manche Themen an Bedeutung verlieren oder fast ganz verschwinden, werden andere in der neuen Ausstellung verstärkt behandelt oder sind neu dazugekommen. Während in der alten Ausstellung der Widerstand nahezu zwei Drittel der Ausstellungsfläche einnahm, ist er in der neuen Ausstellung ein gleichberechtigtes Thema unter vielen anderen. Ist der Zeit zwischen 1918 und 1938, vor allem dem „Ständestaat“, in der alten Ausstellung noch einiges an Raum gewidmet, so wird das Thema in der neuen Ausstellung nur kurz (und politisch viel zurückhaltender) am Anfang der Ausstellung thematisiert. Der vorsichtige Umgang der GestalterInnen mit der Zeit des „Austrofaschismus“ zeigt, dass bezüglich dieses Themas offensichtlich immer noch keine Einigkeit zwischen den beiden großen politischen Lagern Österreichs 67 Als solches wurde sie in den letzten Jahren ihrer Existenz von jungen MitarbeiterInnen des DÖW in Führungen auch präsentiert. 68 Ernst Hanisch, Opfer/Täter/Mythos. Verschlungene Erzählungen über die NS-Vergangenheit in Österreich, in  : Zeitgeschichte 6 (2006) 4, 318–327, hier 320.

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besteht. Durch die knappe Darstellung sollten wohl geschichtspolitische Konflikte, die in Zusammenhang damit immer wieder auftreten, vermieden werden. Das Thema „Spanischer Bürgerkrieg“, dem in der alten Ausstellung noch eine eigene Vitrine gewidmet war, ist in der „neuen“ nur noch ein Unterthema auf der Schautafel zu ÖsterreicherInnen im Exil. Andere Themen gewinnen an Bedeutung, vor allem jenes der Verfolgung. In der alten Ausstellung wurde mit Fokus auf die Geschichten der politischen GegnerInnen des Nationalsozialismus relativ unscharf zwischen Widerstand und Verfolgung getrennt und Verfolgung unabhängig von politischen Überzeugungen eher nebenbei behandelt. In der neuen hingegen wird vor allem die Verfolgung von Juden und Jüdinnen zu einem zentralen Thema. Dabei werden nicht nur die Opfer von Antisemitismus, Pogromen, Deportation und Vernichtung thematisiert, sondern auch einzelne Täter exemplarisch gezeigt und namentlich genannt. Auch die Begeisterung großer Teile der Bevölkerung für den Nationalsozialismus wird dargestellt, etwa durch ein großflächiges Foto der Kundgebung am Heldenplatz am 15. März 1938. In diesen Bildern und thematischen Schwerpunkten spiegelt sich die Verschiebung im „österreichischen Gedächtnis“ – vom Opfermythos zum Bekenntnis zur Mittäterschaft – wider. Auch andere Gruppen, die nicht wegen ihrer politischen Überzeugung verfolgt wurden, werden in der neuen Ausstellung des DÖW im Vergleich zur alten verstärkt gezeigt. So wurde etwa die Verfolgung von Roma und Sinti bis 2005 nur am Rande unter der Überschrift „Widerstand der nationalen Minderheiten“ thematisiert, seit der Neugestaltung ist sie als eigenes Thema vertreten. Auch die Verfolgung der SlowenInnen in Kärnten wird in der neuen Ausstellung nicht einfach unter Widerstand subsumiert, sondern als eigenes Thema gezeigt. Die Verfolgung Homosexueller, die in der neuen Ausstellung selbstverständlich thematisiert wird, wurde in der alten noch verschwiegen. Die Schautafeln zu Verbrechen der NS-Medizin, zu Zwangsarbeit und Fragen des Umgangs mit der NS-Zeit und den Opfern des Nationalsozialismus in der Zweiten Republik zeigen neue Schwerpunkte der Forschungsarbeit des DÖW. „Diese umfassende inhaltliche Konzeption“, so die Leiterin des DÖW Brigitte Bailer im Vorwort des Katalogs zur Ausstellung, „verhindert einen präzise zutreffenden Titel der Ausstellung […]. Jede mögliche knappe Bezeichnung greift zu kurz und blendet wesentliche Aspekte aus.“69 Gleichzeitig spiegelt 69 Brigitte Bailer-Galanda, Einleitung, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Katalog zur permanenten Ausstellung, Wien, 2006, 8f., hier 8.

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Die 2005 eröffnete, neue Ausstellung des DÖW präsentiert sich sachlich und nüchtern. (Foto  : Pez Hejduk/DÖW)

sich in der Titellosigkeit der neuen Ausstellung auch der Verlust einer eindeutigen politischen Botschaft wider, wie sie die alte Ausstellung namens der WiderstandskämpferInnen vertrat. Bezeichnend dafür ist die Verschiebung der Bedeutung des aktuellen Rechtsextremismus und seiner Position innerhalb der beiden Ausstellungen. In der alten Ausstellung wurde das Thema auf drei unübersehbaren Schautafeln neben dem Ausgang behandelt und mit einem politischen Appell verbunden. In der neuen hingegen wurde die Schautafel zum Rechtsextremismus in den hintersten Winkel des Raumes verschoben. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich die neue Ausstellung von den ursprünglichen Anliegen der ehemaligen WiderstandskämpferInnen – den Widerstand und seine Bedeutung als Grundlage der Zweiten Republik zu betonen und zum Kampf gegen neuen Faschismus aufzurufen – entfernt hat und in ihrer Darstellung sachlicher geworden ist. Diese Beobachtung schlägt sich auf einer ästhetischen Ebene nieder  : Während die ältere Ausstellung durch ihre pathetische Bildsprache und die damit verbundene Heroisie-

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rung der WiderstandskämpferInnen wie eine Gedenkstätte des Widerstandes wirkt, erscheint die neue nüchtern, fast distanziert. Die helle Ausgestaltung der Ausstellungsräume unter der Verwendung von Sichtbeton und Glas vermittelt Transparenz, wissenschaftliche Distanz und Objektivität. In Zusammenhang mit dieser Feststellung muss jedoch beachtet werden, dass die neue Ausstellung unter völlig veränderten Bedingungen entstanden ist. Heute erscheint es nicht mehr notwendig, den Widerstand gegen antikommunistische Diffamierungen zu verteidigen und WiderstandskämpferInnen als österreichische HeldInnen zu installieren. Vielmehr stellt sich – und auch das schlägt sich in der neuen Ausstellung nieder – die Frage nach österreichischen Tätern und Täterinnen. Sicher hat auch ein Generationswechsel innerhalb des DÖW, der eine Verschiebung von der Gruppe der ZeitzeugInnen zu ZeithistorikerInnen mit sich brachte, zu einem distanzierteren Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich geführt. Doch, so Brigitte Bailer im Vorwort des Ausstellungskataloges, „[a]uch wenn sich die Ausstellung den Themen sehr sachlich und nüchtern nähert, die AusstellungsgestalterInnen fühlen sich dem Andenken an die Opfer der Verfolgung sowie dem Respekt vor den Leistungen der Frauen und Männer des Widerstandes zutiefst verpflichtet“.70 Dieser Respekt zeigt sich auch in einem Bericht zur Eröffnung der neuen Ausstellung in den „Mitteilungen“ des DÖW  : „Einer der Ausstellungsschwerpunkte ist der Widerstand gegen das NS-Regime in allen seinen Aspekten  : Dieser wurde von SozialistInnen, KommunistInnen, Christlich-Konservativen, MonarchistInnen, Angehörigen der katholischen Kirche, ZeugInnen Jehovas, Kärntner SlowenInnen, Wiener TschechInnen aus politischen Gründen im engeren Sinn getragen, war aber auch religiös motiviert oder erfolgte einfach aus Mitmenschlichkeit. […] Jede Opposition gegen die NS-Herrschaft ist angesichts des nationalsozialistischen Terrorapparates zu würdigen.“71

Trotz dieser Betonung der Verbundenheit mit dem Widerstand, die wohl aus der Entstehungsgeschichte des DÖW entspringt, ist es offensichtlich, dass der Widerstand in der neuen Ausstellung nicht mehr jene zentrale Position ein70 Ebd. 71 DÖW. Neues Museum und Veranstaltungszentrum, in  : Mitteilungen 174 (2005), hg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, 2.

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Das Dokumentationsarchiv des österreichischen ­Widerstandes und seine Ausstellungen

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nimmt, die er in der alten innehatte. Aus einer Ausstellung über den Öster­ rei­chischen Freiheitskampf 1934–1945, einer Ausstellung, der ehemaligen WiderstandskämpferInnen, wurde eine Ausstellung, deren Themenvielfalt keinen präzisen, programmatischen Titel erlaubt, eine Ausstellung, die mehr der Information als dem Gedenken und der Sinnstiftung gewidmet ist.

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Die Österreichische Gedenkstätte im Staatlichen ­Museum Auschwitz-Birkenau Entstehungsgeschichte und Neukonzeption

Den Auftakt zur österreichischen Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau bildet ein eindrucksvolles großformatiges Bild, das den „Anschluss“ als militärische Okkupation visualisiert. Das Eingangsszenario wird durch das titelgebende Motto der Ausstellung (als Wandtext in Deutsch und Polnisch wiedergegeben) unmissverständlich als Leitmotiv postuliert  : „11. März 1938  : Österreich – Erstes Opfer des Nationalsozialismus“. In den letzten Jahren wurde diese Inschrift regelmäßig mit einem Fragezeichen versehen, ebenso regelmäßig wurde das Fragezeichen wieder übermalt.1 Die Österreichische Gedenkstätte2 war am 19. März 1978 aus Anlass der 40-jährigen Wiederkehr des „Anschlusses“ bzw. – wie es im Gedenkbuch heißt – „der Besetzung“3 Österreichs durch das nationalsozialistische Deutsche Reich eröffnet worden. In den Jahrzehnten seit der Entstehung der Ausstellung haben in Österreich selbst – ebenso wie in vielen anderen europäischen Staaten und nach 1989 auch in den Ländern des ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereichs – tief greifende Diskussionen zum tradierten Geschichtsbild und teilweise eine inhaltliche Neupositionierung stattgefunden. Als Auslöser zu nennen sind vor allem die im Jahr 1986 einsetzende Debatte um die Kriegsvergangenheit Kurt Waldheims und das Gedenkjahr 1938/88, beide Ereignisse waren begleitet von zahlreichen kritischen zeitgeschichtlichen Arbeiten zur Frage der Involvierung von Österreicherinnen und Österreichern in den Nationalsozialismus bzw. des Umgangs der Zweiten Republik mit dieser Vergangenheit. Kritik

1 Für diesen Hinweis und entsprechende fotografische Dokumentationen danken die AutorInnen Peter Larndorfer und weiteren österreichischen Gedenkdienern im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. 2 So der offizielle Titel, vgl. Ernst Ackermann u.a. (Hg.), Österreichische Gedenkstätte Museum Auschwitz, Wien 1978. 3 Ebd., o.S.

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richtete sich vor allem auf die These von Österreich als „erstem Opfer“ des nationalsozialistischen Deutschen Reichs.4 Im Zuge dieser Debatten wurde die Opferthese auf offizieller Ebene durch ein Bekenntnis zur Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus abgelöst – das heutige Österreich bekennt sich zur „Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben“, wie Bundeskanzler Franz Vranitzky 1991 vor dem Nationalrat erklärte.5 Vor dem Hintergrund der Erosion des nationalen Opfermythos geriet in den letzten Jahren auch die Ausstellung im Staatlichen Museum AuschwitzBirkenau zunehmend in Diskussion – handelt es sich doch um die offizielle historische Selbstdarstellung der Republik Österreich an jenem Ort, der zum Symbol für den Holocaust/die Shoah als singulärem Menschheitsverbrechen geworden ist. Kritik kam vor allem auch von österreichischen BesucherInnen (darunter viele Schulgruppen), die sich mit dem dort vertretenen Geschichtsbild nicht mehr identifizieren konnten.6 Aber auch das österreichische Generalkonsulat in Kraków wies wiederholt darauf hin, dass die österreichische Ausstellung – insbesondere vor dem Hintergrund der sukzessiven Neugestaltung von nationalen Ausstellungen in der Gedenkstätte – zunehmend als problematisch wahrgenommen werde. Nicht zuletzt wurde die Ausstellung durch

4 Zu den Transformationen des österreichischen Gedächtnisses vgl. exemplarisch  : Bertrand Perz, Österreich, in  : Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, 150–162  ; Heidemarie Uhl, From Victim Myth to Co-Responsibility Thesis  : Nazi-Rule, World War II, and the Holocaust in Austrian Memory, in  : Richard Ned Lebow/Wulf Kansteiner/Claudio Fogu (Hg.), The Politics of Memory in Postwar Europe, Durham – London 2006, 40–72. 5 Zit. n. Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 13), Frankfurt a.M. – New York 1994, 575f. Erst dieses Einbekenntnis ermöglichte die Beauftragung der Österreichischen Historikerkommission, deren 1998 bis 2003 durchgeführte umfassende Forschungen in 49 Bänden veröffentlicht wurden. Siehe . 6 Bereits Anfang der 1980er-Jahre übte der österreichische Politikwissenschaftler Andreas Maislinger heftige Kritik an der Darstellung Österreichs als erstes Opfer in der Ausstellung. Maislinger bekam vom österreichischen Bundespräsidenten mitgeteilt, dass er als junger Österreicher in Auschwitz nichts zu sühnen hätte. Maislinger gründete in der Folge den Österreichischen Gedenkdienst, vgl. Andreas Maislinger, „Den Nationalsozialisten in die Hände getrieben“. Zur Geschichtspolitik der SPÖ von 1970 bis 2000, in  : Europäische Rundschau 29 (2001) 3, 81–95.

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Auftakt zur Österreichischen Gedenkstätte (Foto  : Peter Larndorfer, Projekt „Neugestaltung der Österreichischen Gedenkstätte im Staatlichen ­Museum Auschwitz-Birkenau“, Nationalfonds der Republik Österreich)

die Ergebnisse einer intensivierten zeitgeschichtlichen Forschung infrage gestellt  : Ihre historische Darstellung wird weder der Geschichte der NS-Herrschaft in Österreich gerecht, zu der seither zahlreiche Forschungen vorgelegt wurden, noch der komplexen Realität des Lagers selbst. Vor allem die Frage nach der Mittäterschaft von Österreicherinnen und Österreichern an den Verbrechen von Auschwitz blieb in Übereinstimmung mit der 1978 vorherrschenden Sichtweise auf die Geschichte Österreichs 1938–1945 ausgeblendet. Der Perspektivenwechsel von nationalen Opfer- und Widerstandsnarrativen zur Frage nach der jeweiligen gesellschaftlichen Mitverantwortung für die NS-Verbrechen und insbesondere für den Holocaust beschränkt sich aber nicht auf Österreich – das Zerbrechen der Nachkriegsmythen bildet eine transnationale Signatur europäischer Erinnerung im ausgehenden 20. Jahrhundert. Diese Entwicklung und ebenso die Akzentverschiebung im Hinblick auf das KZ Auschwitz-Birkenau, das zunehmend als zentraler Ort der Vernichtung der europäischen Juden wahrgenommen wurde, bildet den Hintergrund für die Neugestaltung nahezu aller nationalen Gedenkausstellungen in den letzten Jahren.

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Zu Jahresende 2004, als sich ein großes internationales Interesse an den Feierlichkeiten zur 60. Wiederkehr der Befreiung des Lagers am 27. Jänner 2005 abzuzeichnen begann, formierte sich eine Initiative zur Neugestaltung der Österreichischen Gedenkstätte.7 Angesichts der zunehmenden Kritik an der überholten Darstellung Österreichs im Nationalsozialismus, aber auch der Tatsache, dass zahlreiche andere nationale Ausstellungen bereits neu gestaltet wurden bzw. sich in Umgestaltung befanden, erschien die Realisierung einer neuen österreichischen Ausstellung mehr als überfällig. Als ein erster Schritt wurde – mit Unterstützung der österreichischen Generalkonsulin in Kraków, Hermine Poppeller, und des Österreichischen Nationalfonds – am 15. November 2005 ein Banner im Eingangsbereich der Ausstellung angebracht, mit dem darauf hingewiesen wird, dass die Darstellung als „erstes Opfer des Nationalsozialismus“ nicht mehr dem Geschichtsbild des heutigen Österreich entspricht. 2006 wurde eine Projektgruppe, bestehend aus den HistorikerInnnen Brigitte Bailer (Leiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes), Bertrand Perz (Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien) und Heidemarie Uhl (Österreichische Akademie der Wissenschaften) gebildet, die das Ziel hatte, die Österreichische Gedenkstätte im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau wissenschaftlich zu dokumentieren, einer kritischen Analyse zu unterziehen und konzeptionelle Überlegungen für eine Neugestaltung zu erarbeiten. Der Bericht des vom Nationalfonds geförderten Projekts wurde im Juni 2008 veröffentlicht.8 Am 28. Juli 2009 wurde die Neugestaltung der Ausstellung im Ministerrat beschlossen, die Finanzierung erfolgt auf Basis einer Kooperation der Bundesministerien für europäische und internationale Angelegenheiten, für Unterricht, Kunst und Kultur, für Wissenschaft und Forschung, für Wirtschaft, Familie und Jugend sowie des Bundeskanzleramts, weiters durch den Nationalfonds der Republik Österreich – der die Projektkoordination innehat – und den Zukunftsfonds. Im Herbst 2009 wurde ein wissenschaftlicher Beirat eingerichtet, zum Vorsitzenden wurde Wolfgang Neugebauer, der langjährige Leiter des Dokumen7 Die Initiative „Neugestaltung der Österreichischen Gedenkstätte im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau“ hat sich im Rahmen der österreichischen Delegation bei der ITF Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research () gebildet, die Koordination übernahm Hannah Lessing, Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus. 8 Brigitte Bailer/Bertrand Perz/Heidemarie Uhl, Neugestaltung der Österreichischen Gedenkstätte im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Projektendbericht, Wien 2008, verfügbar auf . Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Projektendbericht.

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tationsarchivs des österreichischen Widerstandes, gewählt. Im Frühjahr 2010 konstituierte sich der gesellschaftliche Beirat aus VertreterInnen von Opferverbänden, Religionsgemeinschaften und aller Parlamentsfraktionen.9 Ein von Brigitte Bailer, Bertrand Perz und Heidemarie Uhl im Auftrag des Nationalfonds erarbeitetes „Grobkonzept“, in dem die inhaltlichen und gestalterischen Leitlinien sowie die strukturellen Rahmenbedingungen der Neugestaltung dargelegt werden, wurde im April 2010 vorgelegt.

1. Zur Geschichte der nationalen Ausstellungen im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau Das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau wurde am 2. Juni 1947 aufgrund eines Gesetzes des polnischen Parlaments mit dem Ziel gegründet, an das „Martyrium der polnischen Nation und anderer Nationen“ an diesem Ort zu erinnern. Insbesondere wurde seitens des polnischen Staates Auschwitz als Symbol der polnischen Unbeugsamkeit gegen die Bestrebungen NS-Deutschlands aufgefasst, die nationale und kulturelle Identität Polens zu brechen.10 Die Darstellung von Auschwitz als nationalem Symbol – des „Martyriums“ und „Kampfes“ der Polen – stand von Anfang an in Konkurrenz zur transnationalen symbolischen Funktion von Auschwitz als Ort der Vernichtung der europäischen Juden. Die Gedenkstätte umfasst die erhalten gebliebenen Teile der Lager Auschwitz I und Auschwitz II-Birkenau. Die mit dem Gründungsgesetz festgelegte Fokussierung auf die (polnische und andere) Nationen machte das Lager Auschwitz I zum dominierenden Ort der Repräsentation von Vergangenheit, während das mit der Massenvernichtung von Juden, Sinti und Roma verbundene Lager Auschwitz-Birkenau lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle spielte.11 Bereits 1947 wurde auf dem Gelände des ehemaligen KZ Auschwitz I die erste historische Ausstellung eröffnet und 1950 erweitert. 1955 erfolgte eine   9 Vgl. APA-OTS-Presseaussendung 25.11.2009  : Wissenschaftlicher Beirat für Neugestaltung der Österreich-Gedenkstätte in Auschwitz-Birkenau gebildet, , 17.5.2010. 10 Vgl. Krystyna Oleksy, Das Staatliche Museum Auschwitz – ausgewählte Probleme aus Geschichte und Gegenwart, in  : Detlev Hoffmann (Hg.), Der Angriff der Gegenwart auf die Vergangenheit. Denkmale auf dem Gelände ehemaliger Konzentrationslager (Loccumer Protokolle 5/96), Rehburg-Loccum 1996, 133–142. 11 Vgl. Debórah Dwork/Robert Jan van Pelt, Auschwitz 1270 to the Present, New York – London 1996, 364.

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Neugestaltung der Ausstellung, die in Teilen bis heute besteht.12 Schon in den ersten, 1946 von ehemaligen Häftlingen entwickelten Plänen für ein Museum waren kleine nationale Gedenkräume bzw. Ausstellungen in den ehemaligen Häftlingsblocks im Lager Auschwitz I vorgeschlagen worden, die allerdings zunächst nicht realisiert wurden.13 National konnotierte Formen der Totenehrung waren an verschiedenen Orten ehemaliger Konzentrationslager von Anfang an eine dominante Form der Erinnerungskultur, sie entsprachen traditionellen und nobilitierten Formen, können aber zugleich auch als Wunsch nach Rekonstruktion des durch den Zweiten Weltkrieg infrage gestellten Nationalstaats gesehen werden.14 Sie bauten auch auf der Erfahrung von Häftlingen auf, die von der SS u. a. entlang nationaler Herkunft kategorisiert, gekennzeichnet und unterschiedlich behandelt wurden. Mit der Errichtung eines säkularen Weiheraums mit Gedenkbereichen für jede der Häftlingsnationen, freilich mit Österreich im Zentrum und von Österreich gewidmet, zählte die 1949 eingerichtete staatliche Gedenkstätte Mauthausen wohl zu den ersten KZ-Gedenkstätten, die eine entlang nationalstaatlichen Vorstellungen orientierte Erinnerungskultur etablierten. Allerdings sollte sich dieser Zugang in Mauthausen auf das Gedenken beschränken. Die in Mauthausen in den 1960er-Jahren im Zuge der Einrichtung einer historischen Ausstellung geplanten Ausstellungsräume für einzelne Nationen wurden nicht realisiert.15 Ein ähnlicher Gedächtnisbau wie der Weiheraum in Mauthausen wurde 1951 auf dem Leiten in der Nähe des KZ Dachau errichtet.16 Die in der KZ12 Vgl. Isabelle Engelhardt, A Topography of Memory. Representations of the Holocaust at Dachau and Buchenwald in Comparison with Auschwitz, Yad Vashem and Washington, DC, Brüssel 2002, 164. 13 Vgl. Teresa Zbrzeska, Mit der Geschichte zu Millionen Menschen, in  : Pro Memoria. Informationsbulletin des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau Nr. 7, Juli 1997, 111. 14 Vgl. Insa Eschebach (Hg.), Ravensbrück. Der Zellenbau. Geschichte und Gedenken, Berlin 2008, 74. 15 Der seit den 1950er-Jahren in Mauthausen etablierte Denkmalpark verstärkte diese Tendenz noch. Mit der Anfang der 1980er-Jahre genau in den für die nationalen Ausstellungen vorgesehenen Räumen eingerichteten Ausstellung Österreicher in nationalsozialistischen Konzentrationslagern wurde das ursprüngliche Konzept auf den Kopf gestellt, vgl. Bertrand Perz, Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck – Wien – Bozen 2006, 98, 226, 240. 16 Vgl. Harold Marcuse, Legacies of Dachau. The Uses and Abuses of a Concentration Camp, 1933–2001, Cambridge 2001, 189–198  ; Kathrin Hoffmann-Curtius, Denkmäler für das KZ Dachau, in  : Hoffmann, Der Angriff der Gegenwart auf die Vergangenheit, 31–76.

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Gedenkstätte Ravensbrück in der DDR zeitgleich zu Auschwitz geschaffenen nationalen Gedenkräume gingen dagegen so wie in Auschwitz von einer Gestaltung durch die jeweiligen Nationen, zum Teil durch nationale Häftlingsverbände, aus. In diesem Zusammenhang wurde 1959 der erste österreichische Gedenkraum in Ravensbrück durch die Österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück gestaltet.17 Eine fast idente Konzeption verfolgte die 1961 eröffnete Gedenkstätte Sachsenhausen mit ihrem „Museum des antifaschistischen Freiheitskampfes der europäischen Völker“.18 In Auschwitz griff das Internationale Auschwitz-Komitee (IAK) in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre die schon 1946 vorhandenen Vorschläge für nationale Gedenkräume/Ausstellungen, die von den Häftlingsnationen selbst gestaltet werden sollten, wieder auf.19 Bei einer dreitägigen Arbeitstagung in Auschwitz beschloss das IAK 1957, den internationalen Charakter der Gedenkstätte stärker zu betonen. Die einzelnen Ländergruppen wurden eingeladen, einzelne Räume nach den Gesichtspunkten ihres Landes zu gestalten.20 Formuliertes Ziel war, das Wissen um die NS-Besatzung jener Länder, aus denen Bürger und Bürgerinnen nach Auschwitz deportiert worden waren, zu verbreitern. Der Zusammenhang zwischen Besatzungspolitik und dem Lager Auschwitz sollte deutlich gemacht werden, ebenso ging es um Vermittlung von Wissen über das Schicksal der Deportierten des jeweiligen Landes. Weiters sollte ein besonderer Akzent auf die jeweilige Widerstandsbewegung gelegt werden. 17 Der österreichische Gedenkraum in Ravensbrück wurde 1986 in Zusammenarbeit mit dem DÖW neu gestaltet, so wie in Auschwitz war auch hier das Atelier Furherr für die Grafik zuständig. Vgl. Helga Amesberger/Kerstin Lercher, Lebendiges Gedächtnis. Die Geschichte der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück, Wien 2008, 60–67  ; Eschebach, Ravensbrück. Der Zellenbau, 150f. (wie Anm. 14). Wie Eschebach – im Gegensatz zu Amesberger/Lercher – kritisch anmerkt, folgt auch diese Ausstellung einem „ambivalenzfreien“ klaren Freund-Feind-Schema, Differenzen innerhalb der österreichischen Häftlingsgruppe werden ebenso nicht thematisiert wie die österreichische Involvierung in den Nationalsozialismus. Die Erfahrung des gemeinsamen Leidens solle, so die Botschaft der Ausstellung, die „Auferstehung“ Österreichs ermöglicht haben, eine Denkfigur aus der christlichen Religionsgeschichte  : „Durch Dunkel zum Licht“. 18 Vgl. Susanne zur Nieden, Das Museum der antifaschistischen Freiheitskämpfer der europäischen Völker, in  : Günter Morsch (Hg.), Von der Erinnerung zum Monument. Die Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen, Berlin 1996, 255–263. 19 Das zweite zentrale Anliegen des 1952 gegründeten IAK war die Idee eines Wettbewerbs für die Errichtung eines zentralen internationalen Denkmals in Birkenau. 20 Auschwitz darf nie vergessen werden  !, in  : Der neue Mahnruf, Nr. 2, Februar 1957, 3.

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Mit den Begriffen Besatzung und Widerstand war eine mögliche österreichische Ausstellung von vornherein inhaltlich dominant auf seine Opferrolle fixiert, was dem Selbstverständnis des Staates als von NS-Deutschland besetztes Land und der in der Moskauer Deklaration ausgesprochenen Wider­ stands­erwartung durchaus entsprach. Seitens der Gedenkstätte Auschwitz wurden für die nationalen Ausstellungen detaillierte Richtlinien erarbeitet  : – die Ausstellungen bedurften einer vertraglichen Vereinbarung mit dem polnischen Ministerium für Kultur und Kunst  ; – die Szenarien der Ausstellungen sollten von den jeweiligen Organisatoren ohne Mitsprache der Gedenkstätte erarbeitet werden, soweit es nicht die allgemeine Konzeption betraf  ; – die Ausstellungen durften die „patriotischen, nationalen oder rassischen Gefühle nicht verunglimpfen“  ; – die Ausstellungen sollten das NS-Regime verurteilen und die Menschen zum Kampf für den Frieden aufrufen (ein kommunistisches, auf den Kalten Krieg bezogenes Leitthema jener Jahre, das sich u. a. auf die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland bezog). Die Gedenkstätte stellte für die Ausstellungen die Räumlichkeiten zur Verfügung, die Kosten waren aber in vollem Umfang durch das jeweilige Land zu tragen. Hinsichtlich der architektonischen Gestaltung ließ die Gedenkstätte den Ausstellungsmachern maximale Freiheit. Nur das äußere Erscheinungsbild der für die nationalen Ausstellungen vorgesehenen ehemaligen Häftlingsblocks im KZ Auschwitz I durfte nicht verändert werden, im Inneren war ein völliger Umbau und damit eine völlige Veränderung der historischen Bausubs­ tanz möglich.21 Die ersten nationalen Ausstellungen waren jene der Staaten des damaligen „Ostblocks“  : Die erste wurde 1960 durch die Tschechoslowakei im Block 16 eröffnet. Im selben Jahr richtete Ungarn einen Raum im Erdgeschoss von Block 13 ein. 1961 folgten Ausstellungen der UdSSR und DDR. Bis in die 1980erJahre kamen weitere dazu. Da die Ausstellungen zum Teil auf den jeweils aktuellen politischen Kontext Bezug nahmen, mussten sie immer wieder überarbeitet werden.22 So wurden bereits 1970 die Ausstellungen von Ungarn und der 21 Zbrzeska, Mit der Geschichte, 111 (wie Anm. 13). 22 Engelhardt, A Topography, 164 (wie Anm. 12).

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DDR einer Revision unterzogen bzw. völlig neu gestaltet. In die Reihe der nationalen Ausstellungen fügt sich auch die Österreichische Gedenkstätte ein, die 1978 aus Anlass der 40-jährigen Wiederkehr des „Anschlusses“ eröffnet wurde. Während von den aus dem NS-Staat hervorgegangenen Staaten die DDR und Österreich eigene Ausstellungen im ehemaligen Lager Auschwitz etablierten, sollte die Bundesrepublik Deutschland durch keine eigene Ausstellung vertreten sein. Die DDR-Ausstellung mit dem Titel Die deutsche antifaschistische Widerstandsbewegung 1933–1945 beanspruchte einen Gesamtblick auf Deutschland, gleichzeitig wurde die Bundesrepublik in dieser Ausstellung entsprechend der DDR-Propaganda als militaristisch, antisemitisch und weiterhin anfällig für den Faschismus angeklagt.23 An der Initiierung, Konzeption und Gestaltung der nationalen Ausstellungen waren in der Regel ehemalige Häftlinge bzw. bestimmte Gruppen ehemaliger Häftlinge maßgeblich beteiligt. Zentrales Merkmal derartiger Ausstellungen war, wie Insa Eschebach am Beispiel Ravensbrück deutlich macht, „die Verbindung von Ansätzen einer geschichtlichen Dokumentation mit der Absicht der Ehrung und Würdigung der Dargestellten, in diesem Fall  : der Ehrung und Würdigung der jeweiligen nationalen Häftlingsgruppe“.24 Im Mittelpunkt dieser Ausstellungen stand – so auch in der Gedenkstätte Auschwitz – das Leiden und Sterben der Häftlinge, das weitgehend unter martyrologischen (politischen wie religiösen) Vorzeichen dargestellt wurde.25 Dementsprechend verbanden sich in den nationalen Pavillons, wie die Ausstellungen in den offiziellen Führern der Gedenkstätte genannt wurden, historische Information, Gedenken und Sinnstiftung mit dem Zweck des „nation building“.26 Ab Ende der 1980er-Jahre kam das Konzept der nationalen Ausstellungen zunehmend unter Kritik. „Many of the barracks“, so Mark Kulansky, „have turned into national pavillons, each displaying the suffering of its country, some in brutal documentary style, others seeming almost artsy, Auschwitz has become a kind of World’s Fair of genocide.“27 23 Ebd. Die DDR-Ausstellung wurde 1989 geschlossen, eine neue deutsche Ausstellung ist bis jetzt nicht vorhanden. Vgl. Zbrzeska, Mit der Geschichte, 112 (wie Anm. 13). 24 Vgl. Insa Eschebach, Die nationalen Gedenkräume in der Gedenkstätte Ravensbrück, in  : dies., Ravensbrück. Der Zellenbau, 74f. (wie Anm. 14). 25 Auch die 1968 eröffnete Ausstellung über die jüdischen Opfer im besetzten Europa betont im Titel das Märtyrertum und den Kampf. 26 Vgl. Kazimierz Smolen, Auschwitz 1940–1945. Ein Gang durch das Museum, Katowice 1978. 27 Mark Kulansky, Visiting Auschwitz, in  : Harper’s Magazine, 1994, 36, zit. n. Engelhardt, A Topography, 165 (wie Anm. 12).

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Mit der Neukonzeption der gesamten Gedenkstätte infolge der politischen Veränderungen in Europa und der damit einhergehenden Erosion nationaler Geschichtsmythen bzw. vor dem Hintergrund des Missbrauchs von Gedenkstätten für staatliche Symbolpolitiken wurde auch in der Gedenkstätte Auschwitz die Frage der Berechtigung der nationalen Ausstellungen und ihre mögliche Neukonzeption diskutiert. Die Gedenkstätte legte grundlegend fest, dass die Nationalausstellungen künftig als Ergänzung der allgemeinen Ausstellungen, nicht aber als deren Wiederholung fungieren sollten.28 Die neuen Ausstellungen sollen den jeweiligen nationalen Kontext der Verfolgung erklären, die Vorgeschichte der Deportationen nach Auschwitz, weiters soll das Schicksal der deportierten Personen bzw. Personengruppen aus dem jeweiligen Land dargestellt werden. Beginnend mit der neu geschaffenen Ausstellung der Sinti und Roma 2001 wurden auch nationale Gedenkstätten von den jeweiligen Ländern einer Neugestaltung unterzogen. Im Jahr 2002 wurden die tschechische und die slowakische Ausstellung neu eröffnet, 2004 folgte die Neueröffnung der ungarischen Ausstellung, die niederländische und die französische wurden im Jahr 2005 neu gestaltet und zuletzt die belgische Ausstellung im Jahr 2006. Die jugoslawische Ausstellung wurde 2009 geschlossen, an der Neugestaltung einer ständigen russischen Ausstellung wird seit längerer Zeit gearbeitet. Die Frage der deutschen Ausstellung ist nach Schließung der alten DDR-Ausstellung nach wie vor offen. Damit befinden sich nur noch die italienische, die israelische und die österreichische Ausstellung in ihrem Originalzustand.

2. Die Entstehung der Österreichischen Gedenkstätte Die Österreichische Gedenkstätte in Auschwitz, am 19. März 1978 durch Justizminister Dr. Christian Broda eröffnet,29 wurde vergleichsweise spät errichtet. Konkrete Planungen für einen österreichischen Gedenkraum waren allerdings bereits zum Zeitpunkt der Einrichtung der Gedenkstätte Auschwitz 1947 erfolgt. Der Bildhauer und Kommunist Fritz Cremer, der in den ersten Jahren nach dem Krieg in Wien wirkte und von 1946 bis 1950 die Bildhauerabteilung der Akademie der Künste leitete, entwarf 1947 für diesen Raum 28 Zbrzeska, Mit der Geschichte, 113 (wie Anm. 13). 29 Ernst Ackermann, Eröffnung der österreichischen Gedenkstätte in Auschwitz am 19. März 1978, in  : Die Gemeinde, 12.4.1978, 5.

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die Bronzeplastik der Figur des „Freiheitskämpfers“. Nachdem das Konzept nationaler Gedenkräume aber erst 1957 durch das Internationale AuschwitzKomitee wieder aufgegriffen wurde, kam es zu keiner Ausführung und Aufstellung der Cremer’schen Plastik.30 Dass die Österreich-Ausstellung in Auschwitz erst 20 Jahre nach den Beschlüssen des IAK zustande kam, lag nicht zuletzt an der nur zögerlichen Wahrnehmung von Auschwitz in der österreichischen Öffentlichkeit trotz des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt 1963–1965. Eine wesentliche Rolle für die schwierige und langwierige Umsetzung der Beschlüsse des IAK durch die österreichischen Auschwitzhäftlinge dürften aber die Konflikte zwischen KPÖ und Hermann Langbein gespielt haben. Langbein, als Mitglied der Kampfgruppe Auschwitz auch international hoch angesehen und nicht zuletzt deshalb zum Sekretär des kommunistisch dominierten Internationalen Auschwitz-Komitees bestellt, wurde 1958 infolge seines Protestes gegen den Geheimprozess gegen Imre Nagy aus der KPÖ ausgeschlossen.31 Die KPÖ veranlasste in der Folge die Entlassung Langbeins als Redakteur der Zeitschrift ihres Opferverbandes, Der Neue Mahnruf, und betrieb systematisch Langbeins berufliche wie politische Isolierung, wozu auch die Zustimmung des polnischen Ministerpräsidenten Cyrankiewicz, ebenfalls Mitglied der Kampfgruppe Auschwitz und persönlicher Freund Langbeins, zur Absetzung als IAK-Sekretär zählte.32 Langbein wurde in der Folge der Austritt aus der österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz nahegelegt, nach Langbeins Aussage mit der Begründung, er gefährde die Beziehungen des Verbandes zu Polen.33 Die im März 1958 ins Leben gerufene 30 Eine an diesen Entwurf angelehnte Figur Cremers (Der befreite Mensch) wurde beim Denkmal für die Opfer des Faschismus am Wiener Zentralfriedhof realisiert, vgl. Fritz Cremer, Leben. Werke. Schriften. Meinungen, gesammelt und dargestellt v. Diether Schmidt, Dresden 1972, 59  ; Karl Klambauer, Österreichische Gedenkkultur zu Widerstand und Krieg. Denkmäler und Gedächtnisorte in Wien 1945–1986, Innsbruck – Wien – Bozen 2006, 36  ; Gerd Brüne, Pathos und Sozialismus. Studien zum plastischen Werk Fritz Cremers (1906–1933), Weimar 2005, 57–61. 31 Vgl. Anton Pelinka, Langbein und die KPÖ, in  : Anton Pelinka/Erika Weinzierl (Hg.), Hermann Langbein – Zum 80. Geburtstag. Festschrift, Wien 1993, 36ff. 32 Nach Josef Meisel waren er und Heinrich Dürmayer nach Polen gereist, um Langbeins Absetzung zu erreichen. Schreiben Österreichische Lagergemeinschaft Auschwitz/Josef Meisel an Präsident des IAK/Dr. Goldstein, Februar 1990, Unterlagen der Lagergemeinschaft Auschwitz im DÖW. Vgl. Anton Pelinka, Ein Gespräch mit Hermann Langbein, in  : Pelinka/Weinzierl, Hermann Langbein, 97ff. (wie Anm. 31)  ; vgl. zur Person Meisel  : Josef Meisel, Erinnerungen eines ausgeschlossenen Kommunisten 1945–1970, Wien 1986. 33 Vgl. Pelinka, Ein Gespräch mit Hermann Langbein, 109f. (wie Anm. 32).

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Österreichische Lagergemeinschaft Auschwitz war zwar überparteilich konzipiert, stand aber deutlich unter kommunistischem Einfluss.34 Langbein beschäftigte sich weiterhin intensiv mit dem Thema Auschwitz, zunächst vor allem als Mitinitiator, Zeuge und Prozessbeobachter beim Frankfurter Auschwitzprozess, danach vor allem als Autor des Werkes Menschen in Auschwitz, das Langbein international bekannt machen sollte. In Österreich fanden die seit 1948 entlang der Parteilinien organisierten politischen Opferverbände infolge des Kalten Kriegs und innenpolitischer Spannungen erst 1968 durch die Gründung der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Verbände und Widerstandskämpfer Österreichs zu einer offiziellen Zusammenarbeit. Diese institutionalisierte Kooperation ermöglichte es der Lagergemeinschaft schließlich in den 1970er-Jahren, bei der Bundesregierung erfolgreich auf Realisierung einer österreichischen Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz zu drängen. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits viele andere Staaten entsprechende Gedenkräume eingerichtet. Für Österreich war ein Raum reserviert  : das Erdgeschoss von Block 17. Auch gab es zu diesem Zeitpunkt bereits in mehreren anderen ausländischen KZ-Gedenkstätten auf Österreich bezogene Erinnerungszeichen.35 Wesentlich für die Realisierung des Ausstellungsprojektes war zudem der Polen-Besuch von Bundeskanzler Bruno Kreisky im Juni 1973, an dessen Beginn ein Besuch der Gedenkstätte Auschwitz – u. a. in Begleitung des wenig später aufgrund seiner SS-Vergangenheit kritisierten FPÖ-Obmanns Friedrich Peter – stand. Medienberichte über den Besuch informierten über das Projekt einer österreichischen Gedenkstätte, die auf Betreiben der Lagergemeinschaft Auschwitz nun eingerichtet werden solle.36 34 Einige Hinweise zur Gründung bei Barbara Pilz, Gründung der österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz, in  : Auschwitz Information, 74. Ausgabe, März 2007, 7. Wie weit die Überparteilichkeit der Lagergemeinschaft tatsächlich reichte, ist nicht ganz geklärt. Diese Überparteilichkeit beanspruchten auch der de facto kommunistische KZ-Verband wie die Lagergemeinschaft Ravensbrück. Allerdings fiel die offizielle Gründung bereits in eine Phase, in der der Hauptinitiator Langbein mit der KPÖ in Konflikt geraten war. Eine tatsächlich überparteiliche Lagergemeinschaft wurde 1964 mit der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen geschaffen, vgl. Perz, Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen, 219ff. (wie Anm. 15). 35 Vgl. Erich Fein, Die Steine reden. Gedenkstätten des österreichischen Freiheitskampfes – Mahnmale für die Opfer des Faschismus. Eine Dokumentation, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Verbände und Widerstandskämpfer Österreichs, Wien 1975. 36 Vgl. Polnische Baufirmen nach Österreich  ?, in  : Arbeiterzeitung, 26.6.1973. Die Wichtigkeit von Kreiskys Polenbesuch für die Ausstellung betont auch der Ausstellungsgrafiker Ernst Furherr. Interview mit Ernst Furherr durch Brigitte Bailer und Bertrand Perz, Wien, 27.2.2008.

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Der Auschwitz-Überlebende Ernst Toch richtete 1973 anlässlich des 15. Jahrestages der Gründung der Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz einen Appell an Österreich, die Gestaltung der österreichischen Gedenk­ räume in Auschwitz als „nationalen Auftrag“ anzusehen, „der erfüllt werden muß, solange es noch Zeugen gibt“. Insbesondere wandte er sich an die Vertreter der Bundesregierung und der Stadt Wien, dieses Projekt zu unterstützen und dafür ein Kuratorium zu bilden, um die entsprechenden Vorarbeiten zu leisten.37 Im Rahmen einer Gedenkstunde zum 30. Jahrestag der Befreiung des Lagers Auschwitz 1975, bei der auch Friedrich Heer sprach und der Bundespräsident anwesend war, appellierte Ernst Toch neuerlich für die Einrichtung des für Österreich reservierten Gedenkraums in Auschwitz  : „Sie alle haben auf ihren Plätzen einen bescheidenen Prospekt gefunden, mit dem, wir, die ehemaligen Auschwitzhäftlinge, sie [sic !] aufrufen, sich an einem Unternehmen zu beteiligen, beziehungsweise dieses zu unterstützen. […] In diesen ehemaligen Häftlingsunterkünften des Konzentrationslagers Auschwitz I sind Räumlichkeiten als Gedenkstätten vorgesehen für jene Nationen, deren Angehörige als Häftlinge in Auschwitz lebten und starben. Nun 30 Jahre, nach dem sich durch den Kampf der Sowjet-Armeen die Tore des Lagers öffneten, stehen die österreichischen Gedenkräume noch leer, und zeigen nur abbröckelndes Mauerwerk und blinde Fensterscheiben. Wir, die Überlebenden von Auschwitz in Österreich, haben in fast zwanzigjährigen Bemühungen viele Vorarbeiten geleistet, aber wir waren leider nicht in der Lage, stellvertretend für die ganze österreichische Nation dieses Werk zu realisieren. Wir bitten nun Sie […] durch Abgabe der Unterstützungserklärung, Ihre Hilfe für die Zukunft zuzusagen.“38

Die Bemühungen der Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz blieben nicht ohne Erfolg. Die Bundesregierung übernahm mit über 5 Millionen Schilling den größten Teil an den Gesamtkosten der Einrichtung der Gedenkstätte, daneben beteiligten sich maßgeblich die Stadt Wien, aber auch die anderen

37 Ernst Toch, Ansprache aus Anlaß des fünfzehnten Jahrestages der Gründung der Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz, in  : Die Gemeinde, 17.9.1973, 13. Neben der Rede druckte Die Gemeinde auch eine ausführliche Grußbotschaft von Bundespräsident Jonas an die Lagergemeinschaft ab. 38 Programm der Gedenkstunde zum 30. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, 24.1.1975, DÖW IIIb Auschwitz. Die Festrede mit dem Titel Auschwitz heute hielt Friedrich Heer (abgedruckt in  : Der neue Mahnruf, Nr. 2, 1975).

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Bundesländer, der Arbeiterkammertag, der Österreichische Gewerkschaftsbund und andere öffentliche Stellen. Darüber hinaus wurden Mitgliedsbeiträge der Lagergemeinschaft für die Errichtung der Gedenkstätte verwendet. Zur Durchführung des Projekts wurde eine eigene „Österreichische Arbeitsgemeinschaft Museum Auschwitz“ gebildet, deren Vorstandsmitglieder allesamt Überlebende des Lagers bzw. Mitglieder der Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz waren.39 Die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe spiegelte die weitgehende Annäherung der parteinahen Opferverbände wider  ; die Mitgliedschaft Hermann Langbeins machte deutlich, dass die scharfen Gegensätze der 1950er-Jahre ein Stück weit überwunden waren. Allerdings war Langbein für Polen nach wie vor eine unerwünschte Person, wobei seine vehemente Kritik an der antisemitischen Welle, die Polen Ende der 1960er-Jahre erfasst hatte, wohl mit eine Rolle spielte.40 Die wissenschaftliche Gestaltung erfolgte in enger Kooperation des Vorstands der Arbeitsgemeinschaft mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), vertreten u. a. durch dessen späteren Leiter, Wolfgang Neugebauer.41 Die Arbeitsgemeinschaft traf sich regelmäßig zu Sitzungen und erarbeitete so systematisch die Inhalte der Ausstellung. Für die Ausstellungsgestaltung war ursprünglich Ernst Toch vorgesehen, der sich um die Realisierung des Projektes intensiv bemüht hatte. Die Lagergemeinschaft

39 Dem Vorstand der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft Museum Auschwitz gehörten an  : Ernst Ackermann, Alfred Billmaier (Kassier), Franz Danimann (Schriftführer), Kurt Hacker (Vorsitzender-Stellvertreter), Siegfried Hirsch, Hermann Langbein (Vorsitzender-Stellvertreter), Antonia Lehr, Josef Meisel, Erna Musik (Vorsitzende), Kurt Schmied, Anna Sussmann, Heinrich Sussmann, vgl. Ackermann, Österreichische Gedenkstätte Museum Auschwitz, o.S. (wie Anm. 2). 40 Allerdings sollten die Nachwirkungen des Konfliktes noch einmal anlässlich der Eröffnung der Österreichischen Gedenkstätte deutlich werden. Die polnischen Grenzbeamten weigerten sich zunächst, Langbein die Einreise zu gestatten. Erst als die übrigen Delegationsmitglieder, darunter der Vorsitzende der Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz, androhten, ebenfalls nicht zur Eröffnung zu fahren und den als Eröffnungsredner vorgesehenen Minister Broda davon zu verständigen, genehmigten die polnischen Behörden die Einreise Langbeins. Vgl. Österreichische Gedenkstätte in Auschwitz, in  : Jüdische Rundschau, Nr. 13, 30.3.1978, 21  ; Sehr real, dieser Sozialismus, in  : offensiv links, 13.4.1978  ; Pelinka, Ein Gespräch mit Hermann Langbein, 109f. (wie Anm. 32). 41 Verantwortlich für die wissenschaftliche Gestaltung waren Hermann Dworczak, Elfriede Frank, Wolfgang Neugebauer, Martin Pollak, Christa Span, Selma Steinmetz und die Vorstandsmitglieder der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft Museum Auschwitz, vgl. Ackermann, Österreichische Gedenkstätte Museum Auschwitz, o.S. (wie Anm. 2).

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entschied sich dann aber für eine stärkere Professionalisierung und beauftragte den ehemaligen Emigranten Architekt Ing. Robert Kanfer, der bereits für die IKG Wien gearbeitet hatte und viel Erfahrung im Bereich von Ausstellungen besaß. Den Kontakt zu Kanfer stellte der Auschwitz-Überlebende Kurt Hacker her. Kanfer wiederum gewann den Grafiker Ernst Furherr für das Projekt, mit dem er schon länger zusammengearbeitet hatte.42 Die Österreichische Gedenkstätte war – wie schon ihre programmatische Namensgebung deutlich macht – von Anfang an nicht nur als reine zeitgeschichtliche Ausstellung konzipiert, sondern wie andere nationale Gedenkräume in KZ-Gedenkstätten als Kombination von Gedenkort und historischer Ausstellung. Für die Funktion als Gedenkort schuf der Künstler und Auschwitz-Überlebende Prof. Heinrich Sussmann (1904–1986) fünf Glasfenster, die in expressionistischer Weise auf die mit Auschwitz verbundenen Verbrechen verweisen. Die Motive der Glasfenster lauten  : „Von Rauch und Flammen geschwängerter Himmel“, „In Flammen betender Jude“, „Gaskammer“, „Schreiende Not“, „Das bittere Ende“.43 Sussmann setzte mit diesen Fenstern auch ganz persönlich seinem in Auschwitz ermordeten Sohn ein Denkmal. Nachdem mit der Österreichischen Gedenkstätte in Auschwitz die erste österreichische Dauerausstellung zum Thema NS-Verbrechen für das Ausland geschaffen wurde,44 stellte sich die Frage der Wahrnehmung dieser Ausstellung durch die österreichische Gesellschaft. Vor dem Transport der Ausstellungselemente in die Gedenkstätte Auschwitz wurden diese in Wien der Öffentlichkeit präsentiert. Entwürfe, Pläne und Modelle des Architekten Robert Kanfer und des Ausstellungsgrafikers Ernst Furherr wurden gemeinsam mit den Glasfenstern von Heinrich Sussmann vom 27. Januar, also dem Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau, bis zum 5. Februar 1978 im Säulen42 Kanfer gestaltete u.a. Ausstellungen im Bereich von Messen. Furherr war auch für das DÖW tätig und Anfang der 1980er-Jahre für die Gedenkstätte Mauthausen, so bei der Überarbeitung der seit 1970 bestehenden historischen Ausstellung sowie bei der Ausstellung Österreicher in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, vgl. Ackermann, Österreichische Gedenkstätte Museum Auschwitz (wie Anm. 2)  ; Interview mit Ing. Robert Kanfer durch Brigitte Bailer und Bertrand Perz, Wien, 24.1.2008  ; Interview mit Ernst Furherr durch Brigitte Bailer und Bertrand Perz, Wien, 27.2.2008. 43 Ackermann, Österreichische Gedenkstätte Museum Auschwitz, o.S. (wie Anm. 2)  ; „Aus Glasfenstern leuchtet Leid“, in  : Arbeiterzeitung, 27.1.1978. Die Glasfenster wurden von Carl Geylings Erben ausgeführt. 44 Im Inland bestand bereits seit 1970 die Ausstellung in der Gedenkstätte Mauthausen, das DÖW hatte damals bereits eine kleine Dauerausstellung im heutigen Vorraum eingerichtet.

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hof des Museums für angewandte Kunst präsentiert. Mit der Übernahme des Ehrenschutzes durch Bundeskanzler Bruno Kreisky und der Eröffnung der 10-tägigen Ausstellung durch Bundespräsident Rudolf Kirchschläger und Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg demonstrierte die Republik augenfällig ihr großes Interesse an diesem Projekt.45 Die Eröffnung der Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz erfolgte am 19. März 1978 durch Justizminister Christian Broda. Er nahm die Eröffnungsrede zum Anlass, in aller Ausführlichkeit die offizielle österreichische Position des „ersten Opfers“ NS-Deutschlands zum Ausdruck zu bringen und den österreichischen Widerstand – bezogen auf das KZ Auschwitz – hervorzuheben. Der 13. März 1938 sei die „Geburtsstunde des neuen Österreich“. Broda hob zwar hervor, dass Auschwitz ein Bestandteil der österreichischen Geschichte sei, dies bezog sich allerdings ausschließlich auf die Opfer und vor allem auf den Widerstand, die Täterseite wurde völlig ausgespart  : „Der Tod in Auschwitz und das Überleben, das gemeinsame menschliche Schicksal und die Hilfsbereitschaft, der österreichische Patriotismus und die internationale Solidarität, der antifaschistische Widerstand und der Kampf um die Freiheit – sie alle gehören zur nationalen Geschichte Österreichs so wie zur Geschichte so vieler Völker.“

In diesem Sinne sei die nun eröffnete Gedächtnisstätte „ein österreichisches Nationaldenkmal“.46

3. Zur Gestaltung und zum Inhalt der Ausstellung Die minimalen Vorgaben der Gedenkstätte hinsichtlich der architektonischen Gestaltung – nur das äußere Erscheinungsbild des Blocks musste unverändert erhalten bleiben – gestatteten dem Architekten weitgehende Freiheit in der Konzeption der Ausstellung. Dass das Gedenken zu dieser Zeit in den Augen der Ausstellungsmacher sich nicht am Erhalt des historischen Überrests festmachte, darauf verweist die Arbeit Kanfers deutlich. So ließ er die gesamte, 45 Ackermann, Österreichische Gedenkstätte Museum Auschwitz, o.S. (wie Anm. 2). 46 Rede von Bundesminister für Justiz Dr. Broda in Vertretung von Bundeskanzler Dr. Kreisky, gehalten am 19. März 1978 bei der Übergabe der österreichischen Gedächtnisstätte im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz, Schnittarchiv DÖW, Mappen Auschwitz.

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noch aus der Zeit des Lagers stammende originale Bausubstanz im Inneren des Erdgeschosses des Blocks 17 abreißen. Das bei dieser Entkernung gewonnene Ziegelmaterial wurde von Kanfer in der Folge als Gestaltungselement für die gesamte Ausstellung verwendet. Die als rohe Ziegelwände gestalteten Wandflächen der Ausstellungsräume nahmen den äußeren Eindruck der Häftlingsunterkünfte im Lager Auschwitz I auf. Diese Wiederverwendung des Materials war nicht neu. Bei vielen ehemaligen Lagern waren die Materialien von abgebrochenen Bauten beim Bau von Denkmälern herangezogen worden, die damit die Bauten der Unterdrücker in Gedenk- und Siegeszeichen der Opfer transformierten. Kanfers architektonische Gestaltung ging davon aus, nicht nur einen Rahmen für den Inhalt zu bieten, sondern als „symbolische Aussage“ zu fungieren. Dem Entwurf lag der Gedanke zugrunde, „eine starke Aussage durch strenge architektonische Gestaltung, eindrucksvolle Grafik und Dokumentarfotos zu erreichen“. So wurde der Fußboden im Eingangsbereich als Rampe ausgebildet, „um den Besucher das Erschwerende dieses Leidensweges empfinden zu lassen“. Als Grundelement wurden stilisierte Betonsteher, mit Stacheldraht bespannt, verwendet, da sie „als Symbol für alle Konzentrationslager gelten“. Vor die Ausstellungstafeln gestellt, versetzen sie die BetrachterInnen in die Perspektive der Häftlinge. Sussmanns Glasfenster wiederum wurden in eine schwarze Wand eingelassen, die auf die Erschießungswand beim Block 11 direkt Bezug nahm.47 Architektur, Ikonografie und Textierung der Österreichischen Gedenkstätte entsprechen – ähnlich wie in der ebenfalls 1978 eröffneten und 2005 abgebauten bzw. gänzlich neu gestalteten ständigen Ausstellung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes48 – dem in den 1970er-Jahren noch vorherrschenden Geschichtsbild im Zeichen der Opferthese. Österreich bewegt sich dabei durchaus im Kontext europäischer Geschichtspolitiken, die – ausgenommen die Bundesrepublik Deutschland – bis in die 1980er-Jahre von den politischen Nachkriegsmythen geprägt waren  : Das eigene Volk wurde darin als unschuldiges Opfer äußerer Gewalt dargestellt, der Widerstand im Sinne nationaler bzw. politischer Sinnstiftung interpretiert.49 47 Ebd. 48 Vgl. Peter Larndorfer  : Gedächtnis und Musealisierung. Die Inszenierung von Gedächtnis am Beispiel der Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1978–2005, Dipl. phil. Wien 2009. 49 Zur Transformation des europäischen Gedächtnisses vgl. Tony Judt, Die Vergangenheit ist ein

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Bereits der Eingangsbereich verweist programmatisch auf die ­Definition Österreichs als „erstes Opfer“ der Hitlerschen Aggressionspolitik im Sinne der Moskauer Deklaration von 1943  : Neben einem überdimensionalen Bild, auf dem Militärstiefel über die Landkarte Österreichs marschieren (ein Sujet, das schon in den 1950er-Jahren durch Heinrich Sussmann entworfen worden war), ist zu lesen  : „11. März 1938  : Österreich – Erstes Opfer des Nationalsozialismus“.50 War in der Debatte um die thematische Gliederung der Ausstellung hier noch vermerkt worden, dass „nicht übergangen werden darf, wie viele Österreicher die Besetzung durch die Nationalsozialisten begrüßt hatten“51, so wurde in der Realisierung auf eine Differenzierung des Opfer-Status verzichtet. Das Szenario des Eingangsbereichs eröffnet den interpretativen Rahmen für den Ablauf der Ausstellung, die sich in folgende Bereiche gliedert  : – Vorgeschichte der Okkupation Österreichs 1918–1938, – Einsetzen des Terrors 1938, – Österreicher im Kampf gegen Franco, – Österreicher in Auschwitz, – Österreicher im Widerstand, – Österreich ist wieder frei. Die Opferthese als inhaltliches und gestalterisches Leitmotiv war in den ersten Konzepten für die Ausstellung noch wesentlich deutlicher ausgefallen, so fanden sich Bereichstitel wie „Hitler marschiert ein – Österreich in Ketten“ oder „Österreich setzt sich zur Wehr“.52 Diese Terminologie macht deutlich, dass mit der Ausstellung an die „antifaschistischen“ Leitprojekte staatlicher

anderes Land. Politische Mythen im Nachkriegseuropa, in  : Transit 6/1993, 87–120  ; Tony Judt, Epilog  : Erinnerungen aus dem Totenhaus. Ein Versuch über das moderne europäische Gedächtnis, in  : ders., Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München – Wien 2006, 931–966. 50 So zeigt ein von Heinrich Sussmann 1954 entworfenes Plakat für das Internationale Buchenwaldtreffen am 11. April 1954 mit dem Titel „Niemals wieder  !“ einen Militärstiefel mit Hakenkreuzmuster auf der Schuhsohle, der – aus Richtung Deutschland kommend –, auf das Rot-Weiss-Rot eingefärbte Österreich tritt, vgl. Nie wieder Faschismus. Antifaschistische Widerstandsbewegung von gestern und heute im Spiegel der Plakate, hrsg. von der FIR, Wien 1973. 51 Diskussionsgrundlage zur generellen Linie, nach der die Österreich-Räume im Museum von Auschwitz ausgestaltet werden sollten, 5.4.1977, Atelier Furherr, Unterlagen zur Ausstellung. 52 Auschwitz-Gedenkstätte, Arbeitskonzept, 25.4.1977, Atelier Furherr, Unterlagen zur Ausstellung.

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Grundriss und Gliederung der Themenbereiche (aus  : Österreichische Gedenkstätte Museum ­Auschwitz, hg. v. Ernst Ackermann u.a., Wien 1978)

Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit angeschlossen wurde, an die Ausstellung Niemals vergessen  ! (Wien, Künstlerhaus, 1946)53 und das amtliche Rot-Weiß-Rot-Buch (1946).54 Vergleichweise breiten Raum widmet die Ausstellung der Vorgeschichte des „Anschlusses“, wobei bereits vor 1938 der „antifaschistische“ Einsatz von Österreichern unterstrichen wurde, z. B. im Rahmen des Spanischen Bürgerkrieges und des Widerstandes gegen den „autoritären Ständestaat“ 1934–1938. Hinsichtlich der NS-Zeit im Allgemeinen und Auschwitz im Besonderen lag der Fokus der Ausstellung auf dem Widerstand, vor allem jenem, den ÖsterreicherInnen im Lager geleistet haben.

53 Vgl. Wolfgang Kos, Die Schau mit dem Hammer. Zur Planung, Ideologie und Gestaltung der antifaschistischen Ausstellung „Niemals vergessen  !“, in  : ders., Eigenheim Österreich. Zu Politik, Kultur und Alltag nach 1945, Wien 1994, 7–58. 54 Rot-Weiß-Rot-Buch. Gerechtigkeit für Österreich  ! Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation Österreichs. Nach amtlichen Quellen, 1. Teil, Wien 1946.

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In der Darstellung des Häftlingswiderstandes kommen genderspezifische Rollenmuster zum Tragen  : Männliche Häftlinge werden als Kämpfer (Kampfgruppe Auschwitz), weibliche Häftlinge vorwiegend im Kontext des Helfens und der Fürsorge (Schwester Maria Stromberger oder Ella Lingens) gezeigt.55 Auf die zentrale Funktion von Auschwitz als Vernichtungsstätte für Jüdinnen und Juden sowie für Roma und Sinti wird in der Ausstellung zwar eingegangen, sie bildet aber – wie bereits aus der räumlichen Strukturierung hervorgeht – kein zentrales Thema. Für die jüdischen Opfer gibt es als Gedenkelement eine in die Wand eingelassene Vitrine, die das Ewige Licht (ner tadim) enthält, umrahmt mit Taletim, im Vordergrund ein halb verbranntes Gebetbuch in ungarischer und hebräischer Sprache. Seitens der IKG, die mit Kultusvorsteher Ernst Ackermann im Vorstand der „Österreichischen Arbeitsgemeinschaft Museum Auschwitz“ prominent vertreten war, ist diesbezüglich keine Kritik an der Ausstellung bzw. Einflussnahme zu verzeichnen. Öffentliche Kritik wurde allerdings im Zuge der Ausstellungseröffnung an der Instrumentalisierung von Auschwitz für die polnische Geschichts­ politik und an der Ausklammerung der jüdischen Opfer geübt. So kritisierte Ackermann in einem Bericht über die Eröffnung der Österreichischen Gedenkstätte vehement die Nichterwähnung der Juden als Opfergruppe durch den polnischen Justizminister Jerzy Bafia, der in seiner Eröffnungsrede zwar einen Überblick über die Zahl der Toten des KZ Auschwitz gegeben hatte, dabei aber nur von den Opfernationen sprach. Demgegenüber positiv hervorgehoben wurde die Rede von Justizminister Broda, der „als erster Staatsmann im Nachkriegspolen die großen Opfer, die das jüdische Volk […] erbracht hat“, betont habe.56 Die Arbeitsgemeinschaft hatte in ihren Planungen auch die Überlegung angestellt, die Namen sämtlicher österreichischer Auschwitz-Opfer im letzten Raum der Ausstellung festzuhalten. Davon wurde aber abgesehen, da die Erstellung einer vollständigen Liste als nicht realisierbar angesehen wurde und man mit möglichen Beschwerden von BesucherInnen rechnete.57 55 Es sei aber darauf hingewiesen, dass insgesamt im österreichischen Widerstand jene Frauen, die die Grenzen der traditionellen Frauenrolle im Widerstand durchbrachen, die Ausnahme geblieben waren, wie bislang unpublizierte, für einen Vortrag angestellte Untersuchungen durch Brigitte Bailer gezeigt haben. Derzeit ist zu diesem Thema eine Dissertation von Cathrin Hermann in Arbeit. 56 Ernst Ackermann, Eröffnung der österreichischen Gedenkstätte in Auschwitz am 19. März 1978, in  : Die Gemeinde, 12.4.1978, 5  ; Siegfried Diamant, Österreichische Gedenkstätte in Auschwitz, in  : Jüdische Rundschau Nr.13, 30.3.1978, 21. 57 Näher ausgearbeiteter Vorschlag für die Gestaltung der Österreich gewidmeten Gedenkräume

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Themenbereich „Widerstand der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung“ (Foto  : Peter Larndorfer, Projekt „Neugestaltung der Österreichischen Gedenkstätte im Staatlichen ­Museum Auschwitz-Birkenau“, Nationalfonds der Republik Österreich)

Das in der Ausstellung fast alles überlagernde Bild des Widerstandes sollte wohl nochmals die Opferthese einerseits, den vor diesem Hintergrund geführten „Kampf “ des nationalen Kollektivs gegen die nationalsozialistischen Besatzer andererseits unterstreichen. Fragen von Mittäterschaft und Kollaboration wurden zwar in fast allen nationalen Ausstellungen der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre in der Gedenkstätte Auschwitz nicht gestellt, diese Konzeption erweist sich allerdings gerade im Fall der Österreichischen Gedenkstätte aus heutiger Sicht als besonders problematisch. Die Frage nach Österreichern und Österreicherinnen in der Lager-SS oder unter den in Auschwitz tätigen ZivilistInnen, nach Beteiligung an Planung, Aufbau und Betrieb der Mordmaschinerie Auschwitz-Birkenau oder nach der Beteiligung an Deportationen in dieses Vernichtungslager findet keinen Niederschlag in der Österreichischen im Museum von Auschwitz – aufgrund der Diskussion im Vorstand am 20. Mai 1977, Atelier Furherr, Unterlagen zur Ausstellung.

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Gedenkstätte. Zwar war den Proponenten der Ausstellung wie Hermann Langbein selbstverständlich bewusst, dass Österreicher und Österreicherinnen in Auschwitz auch auf der Täterseite zu finden waren, die Intention der Ausstellung lag aber eindeutig darin, insbesondere für die österreichische Jugend eine Identifikationsmöglichkeit mit dem Widerstand zu eröffnen.58 Hier mag aber auch die Haltung ehemaliger Häftlinge mit eine Rolle gespielt haben, die sich mit der staatlichen Opferthese identifizierten und darin – aus ihrer Perspektive durchaus zu Recht – die lange ausgebliebene offizielle Anerkennung für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus sahen. Später räumte Hermann Langbein selbst ein, dass diese Konzeption der Ausstellung problematisch war  : „[…] da wurde der österreichische Gedenkraum in Auschwitz eröffnet, an dem wir gearbeitet haben, wo wir übrigens Fehler gemacht haben  : Das ist nur der Widerstand, Widerstand, Widerstand – aber dass es Österreicher gab, die in entscheidenden Funktionen in Auschwitz in der SS tätig waren, kommt nicht vor. Das müsste repariert werden, das habe ich schon besprochen in der Lagergemeinschaft und ich hoffe, es wird durchgesetzt.“59

Für Wolfgang Neugebauer ist das Unterbleiben von Kritik an der Ausstellung eine Folge der Fokussierung auf den österreichischen Widerstand in den 1970er-Jahren  : „Nicht nur das offizielle Österreich vertrat die ‚Opfertheorie‘  ; auch das Interesse der ehemaligen Verfolgten konzentrierte sich naturgemäß auf die Dokumentation des Widerstands und der Verfolgungsmaßnahmen  ; das Aufzeigen des Beitrags der WiderstandskämpferInnnen zur Befreiung und zur Wiedererrichtung der Republik Österreich war für diese Generation ein wichtigeres Anliegen als Täterforschung. Als wir 1977/78 gemeinsam mit den ehemaligen Häftlingen die österreichische Gedenkstätte in Auschwitz gestalteten, wurde nahezu ausschließlich das Schicksal der Häftlinge, unter Betonung des Widerstandes, dokumentiert  ; die österreichischen Auschwitz-Täter waren kein Thema. Selbstkritisch ist aus heutiger Sicht festzustellen, dass durch diese Aus58 Siehe den diesbezüglich aufschlussreichen Text von Hermann Langbein, Auschwitz und die junge Generation. Eine Widmungsseite der Wiener Arbeiterkammer, in  : Arbeiterzeitung, 11.4.1965. 59 Pelinka, Ein Gespräch mit Hermann Langbein, 109 (wie Anm. 32).

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klammerung eine Verzerrung der Realität im Sinne einer Schönfärbung der Österreicher erfolgte. Dass diese Gedenkstätte – Modelle und Pläne wurden zuvor im Museum für angewandte Kunst in Wien präsentiert – damals uneingeschränkten Beifall fand und Kritik erst viel später einsetzte, charakterisiert das österreichische Selbstverständnis in der Zeit vor der Waldheim-Diskussion.“60

4. Auf dem Weg zur Neugestaltung Im post-Waldheim-Österreich entspricht diese Haltung nicht mehr dem gesellschaftlichen Konsens, sie steht auch im Widerspruch zu den Ergebnissen der zeitgeschichtlichen Forschung. Diese Diskrepanz führte zu dem oben erwähnten ersten Schritt der Distanzierung  : Im November 2005 wurde unmittelbar vor der Inschrift „11. März 1938  : Österreich – Erstes Opfer des Nationalsozialismus“ ein Banner mit folgendem Text aufgestellt  : „Die Österreichische Gedenkstätte im ehemaligen KZ Auschwitz wurde im März 1978, 40 Jahre nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich eröffnet. Ihre Darstellung der Jahre 1938 bis 1945 entspricht einer aus heutiger Sicht zu einseitigen Sichtweise, die Österreich nur als ‚erstes Opfer‘ der gewaltsamen Expansionspolitik des NS-Gewaltregimes zeigt, hingegen die Beteiligung von zahlreichen Österreichern an NS-Verbrechen und insbesondere am Holocaust ausblendet. Dieses Geschichtsbild entspricht nicht mehr dem historischen Selbstverständnis des heutigen Österreich  : Das Bekenntnis zur einer moralischen Mitverantwortung für die Beteiligung zahlreicher Österreicher an nationalsozialistischen Verbrechen hat zu einer viel differenzierteren Sicht der historischen Ereignisse geführt. Dies zeigt sich auch an den in den letzten zehn Jahren verstärkten Bemühungen der Republik Österreich, die dunklen Zeiten seiner Geschichte ernsthaft aufzuarbeiten. Mit der veränderten Sichtweise auf die österreichische NS-Vergangenheit verbindet sich eine neue Gedächtniskultur, in deren Zentrum die Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes und insbesondere des Holocaust wie auch anderer Opfer des Nationalsozialismus steht. 60 Referat anlässlich der Enquete Rassismus und Vergangenheitsbewältigung in Südafrika und Österreich – ein Vergleich  ? im österreichischen Parlament, Wien, 31. Mai 2000, , 19.5.2010.

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Dieser Perspektivenwechsel im Umgang mit der NS-Vergangenheit soll in einer Neugestaltung der Österreichischen Gedenkstätte zum Ausdruck gebracht werden, die derzeit konzipiert wird.“61

Dementsprechend gehen auch die „Überlegungen und Empfehlungen“ zur Neugestaltung der Österreichischen Gedenkstätte im Bericht von Brigitte Bailer, Bertrand Perz und Heidemarie Uhl von einer „besonderen Herausforderung“ aus  : „An diesem Ort ist nicht allein der Opfer zu gedenken und der Widerstand zu würdigen, sondern hier müssen auch die österreichischen Täter thematisiert werden  : dies nicht nur in Reaktion auf die Kritik an der Ausstellung, die ja vor allem auch von österreichischen BesucherInnen und verantwortlichen Stellen (Generalkonsulat in Kraków) erfolgte. Gerade an diesem Ort sollte ein Zeichen gesetzt werden, dass die Republik Österreich sich nicht mehr als ‚erstes Opfer‘ des Nationalsozialismus sieht, sondern sich der Mitverantwortung von Österreicherinnen und Österreichern für die Verbrechen des Nationalsozialismus bewusst ist. Die Neugestaltung der österreichischen Ausstellung erfolgt damit unter wesentlich anderen Rahmenbedingungen als jene anderer Nationen, und auch die Aufmerksamkeit für das Geschichtsbild, das Österreich an diesem Ort präsentiert, wird erwartungsgemäß weitaus höher sein.“62

Mit dem eingangs erwähnten Ministerratsbeschluss vom Juli 2009 ist der erste substanzielle Schritt zur Neugestaltung der Österreichischen Gedenkstätte erfolgt. Wie diese Herausforderung im Prozess der inhaltlichen und gestalterischen bzw. der musealen Umsetzung aufgegriffen und umgesetzt wird, werden die weiteren Schritte der Realisierung zeigen. Die Aufmerksamkeit der internationalen wie auch der österreichischen Öffentlichkeit wird dem Projekt gewiss sein – handelt es sich doch um die einzige offizielle Ausstellung der Republik Österreich über die Zeit des Nationalsozialismus im Ausland, und dies an einem Ort, der in den letzten Jahrzehnten zum Synonym für den „Zivilisationsbruch“ geworden ist. ÖsterreicherInnen sind der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz-Birkenau zum Opfer gefallen, aber es waren auch ÖsterreicherInnen, die an der Planung und Durchführung der NS-Vernichtungspolitik maßgeblich beteiligt waren. Dieser Ambivalenz gilt es in der neuen Ausstellung Rechnung zu tragen. 61 Zit. n. Bailer/Perz/Uhl, Neugestaltung, 64 (wie Anm. 8). 62 Ebd., 41.

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Regina Wonisch

Zeitgeschichtliches im Technischen Museum Wien

Technikgenese und Technikeinsatz sind gesellschaftliche Prozesse, die in einer unmittelbaren Wechselbeziehung zu politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen stehen. Technologien werden aufgrund gesellschaftlicher Interessen, Notwendigkeiten oder Problemstellungen entwickelt und haben oftmals gravierende Auswirkungen auf das soziale Leben. Wie bei allen Innovationen sind die Folgeerscheinungen neuer Technologien nicht immer vorhersehbar. Sie können zur Erleichterung von Arbeitsvorgängen führen ebenso wie zu Mehrbelastungen, können vor Gefahren schützen, aber auch mit Risiken verbunden sein, oder aber auch, wie im Falle der industriellen Revolution, das gesamte soziale Gefüge von Gesellschaften weit über nationale Grenzen hinaus verändern. Insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmen technologische Errungenschaften immer stärker das gesellschaftliche Leben, so dass Technikgeschichte als ein bestimmender Faktor des Zeitgeschehens zu betrachten ist. Da jedoch die immer komplexer werdenden Technologien nur noch für spezialisierte ExpertInnen nachvollziehbar sind, bestimmen vielfältige Bilder und Vorstellungen die populären Diskurse zwischen Technikgläubigkeit und Technikkritik. So evident das dialektische Verhältnis von Technik und Gesellschaft ist, so offensichtlich die bestehenden wechselseitigen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen sind, es entspricht einer musealen Tradition, den Blick auf die technologischen Entwicklungen und Verfahren zu konzentrieren und die damit verbundenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen weitgehend auszublenden. Dem Denken der Moderne entsprechend, versuchten die Wissensordnungen des 19. Jahrhunderts, die Wissensgebiete scharf zu trennen, „genuin“ natur- und kulturwissenschaftliche Denkweisen zu etablieren und andere Formen der Weltaneignung gegenüber den als wissenschaftlich definierten abzuwerten.1 Diesem Schema folgten auch die modernen Museen  : Sie wurden im Unterschied zu den als 1 Olaf Hartung, Museen des Industrialismus. Formen bürgerlicher Geschichtskultur am Beispiel des Bayerischen Verkehrsmuseums und des Deutschen Bergbaumuseums, Köln – Wien 2007, 20.

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Sammelsurium betrachteten Kunst- und Wunderkammern, die unterschiedliche Objektklassen vereinten, nach Disziplinen differenziert. Die neuen Erkenntnisse auf den Gebieten der Botanik, Zoologie, Physiologie und Medizin riefen enthusiastische Vorstellungen über die Möglichkeiten der naturwissenschaftlichen Forschungen hervor. Auf diese Weise wurde die Popularisierung der Wissenschaften zu einem wichtigen Element des Fortschrittsglaubens. Im deutschen Sprachraum, in dem ein idealistisch überhöhter Bildungsbegriff vorherrschend war, stießen die angewandten Wissenschaften, insbesondere die Ingenieurwissenschaften, ungeachtet der enormen Leistungen im Zuge der Industrialisierung, im Unterschied zu den Naturwissenschaften bei weiten Teilen der traditionellen Eliten auf wenig Anerkennung. Die Antinomie zwischen Kultur und Zivilisation verhinderte die Integration der Technik als Kultur gestaltende Macht. Als entscheidende Faktoren für die geringere Durchsetzungskraft können auch die im Vergleich zu England und Frankreich verspätete Industrialisierung und die damit zusammenhängende politische Schwäche des Wirtschaftsbürgertums angeführt werden. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der „verzögerten“ Etablierung der technischen Museen Anfang des 20. Jahrhunderts wider. Zudem bedeuteten die populären (Kunst-) Gewerbemuseen eine Konkurrenz, da dort ebenfalls Produktfertigungsprozesse zum Thema gemacht wurden.2 Im 1903 gegründeten „Deutschen Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik“ in München galt es daher nicht nur, die technologischen Errungenschaften dem Publikum näherzubringen, sondern vor allem die Protagonisten der technischen Entwicklungen in einer Ruhmeshalle zu würdigen. Gefeiert wurde die Geburt der Innovation aus dem Geist des jeweiligen genialen Naturwissenschaftlers, obwohl der Transfer von naturwissenschaftlich generiertem Wissen zur angewandten Technik kaum so geradlinig verlief. Dies hatte zur Folge, dass Technikgeschichte zu einer von kongenialen Forscherpersönlichkeiten getragenen teleologischen Fortschrittserzählung wurde. Man orientierte sich am historischen Paradigma der Geschichtswissenschaften, um die Technikgeschichte in der evolutionären Geistesgeschichte zu verankern und ihr damit zu Anerkennung zu verhelfen. In diesem Sinne versuchten sich technische Museen von Anfang an in der Geschichte zu positionieren. Das Deutsche Museum in München diente als Vorbild für das 1909 gegründete „Technische Museum für Industrie und Gewerbe“ in Wien.3 2 Ebd., 48f. 3 Ebd.

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1. Das Bürgertum setzt sich ein Denkmal Anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Regierungsantrittes Kaiser Franz Josephs I. im Jahr 1908 wurde beschlossen, in Wien ein „Technisches Museum für Industrie und Gewerbe“ zu errichten. Die Initiative dazu ging im Wesentlichen von Wilhelm Exner, einem Universitätsprofessor an der Technischen Hochschule, aus, der die Idee eines solchen Museums seit der Wiener Weltausstellung 1873 verfolgte. Im Rahmen der Weltausstellung organisierte Exner die „Additionelle Ausstellung der Gewerbe und Erfindungen Österreichs“, die den Anteil Österreichs an der technologischen Entwicklung darstellen sollte. Geplant war, die Objekte dieser Ausstellung als Grundstock für ein neu zu gründendes Technisches Museum heranzuziehen, doch die schlechte finanzielle Lage Österreichs, nicht zuletzt infolge des Börsenkrachs 1873, ließ eine Realisierung zunächst nicht zu. Als der Niederösterreichische Gewerbeverein im Jahr 1890 die Idee erneut aufgriff, wurde der Beschluss für die Gründung eines „Museums der Geschichte der österreichischen Arbeit“ gefasst. Aber auch dieses Vorhaben scheiterte an Finanzierungsproblemen, so dass die bereits zusammengetragenen Objekte dem Technologischen Gewerbemuseum übergeben wurden. Auf Initiative von Wilhelm Exner wurden schließlich die Bestände des Technologischen Gewerbemuseums, des Österreichischen Eisenbahnmuseums, des Postmuseums und des Gewerbehygienischen Museums zum „Technischen Museum für Industrie und Gewerbe“ vereinigt, wobei das kurz zuvor gegründete Deutsche Museum in München einen wesentlichen Anstoß gab. Die unterschiedlichen Entstehungsgeschichten spiegeln sich allerdings in den Bezeichnungen wider  : Während das österreichische Museum den Anschluss an die Gewerbemuseen suchte, betonte das deutsche Technikmuseum den nationalen Charakter.4 In den Leitlinien für das Technische Museum wurde zum Ausdruck gebracht, dass es die technologischen Leistungen veranschaulichen, den technischen Fortschritt fördern und eine Lehranstalt für die Bevölkerung sein soll. Es ging also nicht nur um den Blick in die Vergangenheit, sondern auch darum, einen Beitrag zu den aktuellen technologischen Entwicklungen zu leisten. In diesem Anspruch auf Vorbildwirkung besteht eine Übereinstimmung mit der ursprünglichen utilitaristischen Zielsetzung der Gewerbe- und Indus4 Zur Geschichte vgl. Wilhelm Exner, Das Technische Museum für Industrie und Gewerbe in Wien, Wien 1908  ; Helmut Lackner/Katharina Jesswein/Gabriele Zuna-Kratky (Hg.), 100 Jahre Technisches Museum, Wien 2009.

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triemuseen. Sie wollten exemplarisch-vorbildliche, gleichsam ewig gültige Produkte sowie den aktuellen Stand der Produktionsentwicklung vorführen – mit dem Ziel, die Qualität der gewerblichen und industriellen Produktion zu steigern und zur Bildung des Geschmacks beizutragen. Allerdings hatten die Technikmuseen ebenso wie die Gewerbemuseen mit dem Problem zu kämpfen, dass ihre Ausstellungen mit der Dynamik des technologischen Fortschritts nicht mithalten konnten. Dass das Museum aber nicht nur der Bildung, sondern auch der Repräsentation dienen sollte, zeigte sich in der Diskussion der Standortfrage. Der Bauplatz auf den Spitzackergründen unweit des Schlosses Schönbrunn stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung. Es wurden Stimmen laut, dass das Museum einen Platz möglichst nahe der Inneren Stadt, am besten in unmittelbarer Nähe der Technischen Hochschule finden sollte. Diese beiden Aspekte, Manifestation des Fortschritts und Repräsentationsfunktion, kamen bereits in der Museumsarchitektur zum Ausdruck. Als der Architekt Emil Förster, der eine Vorstudie zum Bebauungsplan erstellt hatte, überraschend starb, wurde ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben. Die Jury entschied sich für den Entwurf von Hans Schneider, da er dem ursprünglichen Plan am ähnlichsten war – hatte dieser doch den Idealvorstellungen Wilhelm Exners genau entsprochen  : ein Bauwerk, geprägt von historisierenden und modernen Elementen. Die mit allegorischen Figurengruppen und Reliefs besetzte monumentale Fassade bedeutete eine Referenz an die repräsentativen Museumsbauten des 19. Jahrhunderts, die Eisenbeton- und Stahlkonstruktionen des Baukörpers entsprachen der modernen Industriearchitektur, wie sie in Bahnhöfen, Fabriken und Ausstellungshallen Anwendung fand. Aus Kostengründen wurde allerdings nur der repräsentative Mittelbau fertig gestellt, die vorgesehenen Seitenteile kamen nicht zur Ausführung. Die ästhetische Anordnung der Objekte wurde der Innengestaltung des Jugendstilgebäudes angepasst, so dass ein homogenes Gesamtbild entstand. Die Architektur des Hauses offenbart eine innere Dramaturgie, die sich auch auf die aktuelle Gestaltung auswirkt.5 Das repräsentative Museumsgebäude ist architektonischer Ausdruck des optimistischen Fortschrittsdenkens des frühen 20. Jahrhunderts und unterscheidet sich damit von jenen Industriemuseen, die seit den 1980er-Jahren in stillgelegten Industrieanlagen, den sichtbarsten Zeichen des Niedergangs der

5 Zit. n. Veronika Mauler, Ausstellungsinszenierung am Beispiel des Technischen Museums Wien, Wien 2008, 45.

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modernen Industrieproduktion, eingerichtet wurden.6 Das Museumsgebäude ist keine leere Hülle, es bestimmt die Wahrnehmung der Ausstellung entscheidend mit und kann auch Aufschluss über die Hintergründe und Intentionen geben, die der Institution zugrunde liegen. In seiner baulichen Manifestation ist das Technische Museum Ausdruck bürgerlicher Selbstdarstellung und Zeugnis eines spezifischen Technik- und Wissenschaftsverständnisses. Der Fortschrittsgedanke lag aber auch der Anordnung der Objekte zugrunde. Wilhelm Exner entwickelte in Anlehnung an die Ausstellungskonzeption der Pariser Weltausstellung 1867 ein Idealschema, wonach die Sammlungsbereiche nach Antriebsenergien in drei Entwicklungsstufen – bezeichnet als Altertum, Mittelalter und Neuzeit – eingeteilt werden sollten. Die erste Periode umfasste die Antriebskraft von Menschen, Tieren und Naturphänomenen, die zweite Wärmemotoren wie Dampfmaschinen und die dritte elektrisch angetriebene Maschinen. Dahinter stand ein lineares Geschichtsbild, die Entwicklung von einer primitiven Vergangenheit in eine technisch beherrschte Gegenwart und Zukunft. Ein am Plan rot markierter Weg führte durch die einzelnen historischen Epochen, wobei innerhalb eines Zeitabschnitts mehrere Sammlungsbereiche durchschritten werden konnten. Folgte man hingegen dem blau markierten Weg, so bewegte man sich innerhalb eines Sammlungsbereichs und bekam einen Überblick über die drei historischen Entwicklungsstufen. Dieses Konzept konnte jedoch nur ansatzweise im Ostflügel des Gebäudes umgesetzt werden, da im Westflügel das Eisenbahnmuseum untergebracht und die Mittelhalle für die großen Maschinen vorgesehen war.7 Die museale Darstellung vermittelte einen rein affirmativen Zugang zur Technikgeschichte und der Naturbeherrschung durch den Menschen. So wie in Kunstmuseen den Künstlern gehuldigt wurde, sollte hier ein Raum für die Welt der Erfinder und Konstrukteure geschaffen werden – eine männlich bestimmte Welt, geprägt von Fortschrittsoptimismus und der Vorstellung, die Welt gestalten zu können. Trotz erschwerter Bedingungen infolge des Ersten Weltkrieges konnten die ersten Bereiche installiert und das Museum 1918 formlos eröffnet werden. Unter den ersten Ausstellungsteilen befanden sich

6 Helmut Lackner, Voraussetzungen und Ergebnisse der Neueinrichtung des Technischen Museums Wien. Die Museumslandschaft im Spannungsfeld zwischen Technikmuseum und Science Center, in  : Karl Stocker/Heimo Müller (Hg.), Design bestimmt das Bewußtsein (museum zum quadrat 16), Wien 2003, 53–76, hier 60. 7 Mauler, Ausstellungsinszenierung am Beispiel des Technischen Museums Wien, 48 (wie Anm. 5).

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auch nachgebildete Werkstätten wie eine Sensenschmiede, eine Gravier- und Silberschmiedwerkstätte und die Einrichtung des Schaubergwerks. Es sollten nicht nur Einzelobjekte, sondern Objektreihen gezeigt werden, so dass Arbeitsprozesse veranschaulicht werden konnten. Hierin manifestierte sich die ursprüngliche Idee eines Museums der Geschichte der Arbeit und die Nähe zu den Gewerbemuseen, die durch die Zusammenlegung der unterschiedlichen Sammlungen begründet ist.8 Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Technischen Museums 20099 wurde die Geschichte des Hauses im Rahmen einer Intervention in die Schausammlung thematisiert. Die Geschichte der Institution könnte aber Teil einer permanenten Präsentation sein. Denn in den aktuellen Museumsdebatten wird nicht nur die Neuverhandlung musealer Repräsentationen eingefordert, es geht auch darum, Museen zu Orten der Reflexion über Geschichte und ihre Darstellung – insbesondere auch jener des eigenen Hauses – zu machen.10

2. Die Wiedereröffnung des Technischen Museums Seit der Erstaufstellung 191811 hatte sich die Konzeption des Museums bis in die 1980er-Jahre nicht wesentlich verändert. Erst die Ausschüttung der Museumsmilliarde, mit der die Politik auf die Museumskrise reagierte, ermöglichte dem Technischen Museum im Zeitraum von 1992–1999 die Generalsanierung des Gebäudes und die Neuaufstellung der Schausammlung, die letztendlich unter der Interimsdirektion von Peter Donhauser erfolgte.12 Der 1993 als Direktor ans Haus berufene Kunsthistoriker Thomas Werner definierte nicht zuletzt aufgrund seines geisteswissenschaftlichen Hintergrunds Technikgeschichte als Teil der Kulturgeschichte, plädierte folgerichtig für eine Einbet  8 Ebd., 45.   9 Am 20. Juni 1909 legte Kaiser Franz Josef den Grundstein für das Museumsgebäude in der Mariahilfer Straße. 10 Heidemarie Uhl, Umstritten  : Häuser der Geschichte, , 25.4.2010. 11 Das Museum wurde am 6. Mai 1918 eröffnet, die Bespielung des gesamten Hauses erfolgte allerdings aufgrund von Personal- und Finanzknappheit erst in den folgenden zwei Jahrzehnten. 12 Die Neuaufstellung wurde unter Peter Rebernik begonnen, 1993 wurde er von Thomas Werner abgelöst, dessen Vertragsverhältnis schließlich 1997 aufgrund eines Eklats (Beamtenbeleidigung) vorzeitig beendet wurde. Zum Interimsdirektor wurde der Kurator Peter Donhauser bestellt.

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tung der über Objekte kommunizierten Aussagen in einen gesamtgeschichtlichen Kontext und vollzog auf diese Weise eine Abkehr von der Darstellung der Technik als Sachsystem. Zudem vertrat er eine technikkritische Haltung – keine leichte Position in einem Technischen Museum.13 Doch ein klares Konzept14 lag bis zum Ende seiner Amtszeit 1997 nicht vor.15 Im Unterschied zu seinem Vorgänger Peter Rebernik lehnte er das Konzept der Science Center mit der Begründung ab, dass in diesen die Funktionalität von Technik zumeist ohne jegliche historische und gesellschaftspolitische Kontextualisierung veranschaulicht würde.16 Die vor und während des Umbaus geführten Diskussionen um die gleichzeitige Eröffnung aller sechs Sammlungsbereiche17 mit einer für das ganze Haus entwickelten Konzeption und Umsetzung, einer einheitlichen Ausstellungsästhetik und Vermittlungssprache erwies sich als nicht realisierbar. Da aus diesem Grund die einzelnen Abteilungen für die Präsentation ihrer Sammlungsbereiche zuständig waren, ergibt sich die ungewöhnliche Heterogenität der einzelnen Dauerausstellungsteile. Bei der Wiedereröffnung 1999 waren Schausammlungen zu folgenden Themenschwerpunkten zu sehen  : „Schwerindustrie“, „Verkehr“, „Musikinstrumente“ und die interaktiv und experimentell ausgerichtete Abteilung „Natur und Erkenntnis“. Kurze Zeit später wurde auch die Ausstellung des Sammlungsbereichs „Energie“ eröffnet. Die übrigen Abteilungen „medien.welten“, „Alltag – eine Gebrauchsanweisung“, „Massenware Luxusgut“18, „Lok.Erlebnis“, „Abenteuer Forschung“ folg-

13 Vgl. Peter Donhauser, Umbruch und Aufbruch, in  : Helmut Lackner/Katharina Jesswein/Gabriele Zuna-Kratky (Hg.), 100 Jahre Technisches Museum, Wien 2009, 326–356, hier 343. 14 Im Erdgeschoss war die Schwerindustrie und Energie vorgesehen. Die Flächenzuordnungen im ersten und zweiten Obergeschoss blieben unverändert. Auf den Galerien sollten Industrial Design, Techniken zur Visualisierung des Unsichtbaren, Netzwerke und die Technisierung der Natur gezeigt werden. 15 Thomas Werner wurde 1997 wegen einer unqualifizierten Äußerung gegenüber einem Beamten entlassen. 16 Thomas Werner (Hg.), Technisches Museum Wien. Projekt, Weg, Ziel, Wien 1996, 34. 17 1. Technisch-naturwissenschaftliche Grundlagen, 2. Informations- und Kommunikationstechnik, 3. Montanistik, Maschinenbau und Elektrotechnik, 4. Handwerkliche und industrielle Produktionstechnik, 5. Verkehrswesen, 6. Bau-, Alltags- und Umwelttechnik. 18 Hinter diesem Titel verbirgt sich die Sammlung, die unter der Bezeichnung „k. k. Nationalfabriksproduktenkabinett“ von Kaiser Franz I. 1807 als Leistungsschau und Ansporn für das damalige Gewerbe gegründet wurde. Die Ausstellung wird 2011 geschlossen, da sie von Anfang an auf eine mittlere Laufzeit begrenzt war.

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ten sukzessive.19 Die Unterschiedlichkeit ergibt sich zudem daraus, dass sich der Prozess der Wiedereinrichtung fast über ein Jahrzehnt erstreckte und sich unterdessen auch die musealen Formensprachen veränderten. Daher können die exemplarischen Beispiele niemals Auskunft über das gesamte Haus geben, sondern müssen immer an den Kontext der jeweiligen Abteilungen rückgebunden werden. Die Krise der Moderne führte zwar dazu, die Dichotomie von Kultur und Natur aufzuweichen, doch auch hier ist eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ festzustellen, unterschiedliche Ansätze bestehen nebeneinander. Zur Zeit der Wiedereröffnung des Technischen Museums gab es jedenfalls bereits Ausstellungen, die versuchten, die Grenzen der Disziplinen durchlässiger zu machen.20 Für Direktor Thomas Werner bestand die Grundintention eines technischen Museums darin, die Verbindung zwischen Mensch, Technik und Natur zu verdeutlichen  : „Wenn wir davon ausgehen, dass Technik, die ja allemal auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, d. h. also die Natur imitiert, […] das wesentliche Bindeglied zwischen Mensch und Natur ist, so sollte sie auch als solches, nämlich als Bindeglied dargestellt werden.“21 Daher bildete für ihn der Bereich zur Technisierung der Lebensräume, in dem die Auswirkungen der Technik auf Mensch (Körper, Wohnung, Stadt) und Natur in einer vernetzten Situation aufgezeigt werden, die Synopse aller Abteilungen.22 Aber auch der Leiter des Sammlungsbereichs „Schwerindustrie“, Helmut Lackner, formulierte in diese Richtung  : „Das Museum erzählt mit seinen Ausstellungen Geschichten. Dabei bediente es sich der Methoden der Geschichtswissenschaften, die die historische Überlieferung ordnen, selektieren und in angemessener Form und Sprache […] präsentieren.“23 Grundsätzlich könnten im Technischen Museum überall, wo über die rein technologischen Prozesse, die Erklärung von technischen Geräten und Apparaturen hinaus erzählt wird, zeitgeschichtlich relevante Perspektiven zum Tragen kommen. Im Folgenden 19 Lackner, Voraussetzungen und Ergebnisse der Neueinrichtung des Technischen Museums Wien, 66 (wie Anm. 6). 20 Beispielsweise Sonne, Mond und Sterne. Kultur und Natur der Energie, Ausstellung von 13. Mai bis 13. September 1999 in der Kokerei der Zeche Zollverein in Essen, vgl. Gottfried Korff/Ulrich Bohrsdorf, Sonne, Mond und Sterne. Kultur und Natur der Energie, in  : Gottfried Korff (Hg.)  : Museumsdinge. Deponieren – Exponieren. Köln – Weimar – Wien 2002, 181–187. 21 Werner, Technisches Museum Wien, 34 (wie Anm. 16). 22 Ebd. 23 Lackner, Voraussetzungen und Ergebnisse der Neueinrichtung des Technischen Museums Wien, 64f. (wie Anm. 6).

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werden unterschiedliche Beispiele herausgegriffen, wo (zeit-)geschichtliche Narrative im Museum präsent sind. Aber auch im Umgang mit den technischen Objekten selbst und der Präsentationsweise von Technikgeschichte werden auf der metakommunikativen Ebene24 Aussagen darüber getroffen, welches Technik- und Wissenschaftsverständnis der Institution zugrunde liegt. Selbst wenn kein expliziter Bezug zu konkreten historischen Ereignissen und Entwicklungen hergestellt wird, ist die rein systemimmanente Technikpräsentation ein wesentlicher zeithistorischer Faktor. 2.1 Technikbilder  ?

Abgesehen von der Museumsarchitektur ist beim Betreten eines Museums der erste Raum, der erste Eindruck, den man von einer Institution gewinnt, insofern von besonderer Bedeutung, als dieser die weitere Wahrnehmung maßgeblich beeinflusst. Die sichtbarste bauliche Veränderung, die im Rahmen der Generalsanierung vorgenommen wurde, ist der halb versenkte Glasvorbau, der nun den Eingangsbereich bildet. Dies hat zur Folge, dass die BesucherInnen einen steilen Stiegenaufgang überwinden müssen, um in die zentrale Mittelhalle hinauf zu gelangen. Dies entspricht, wenngleich der Stiegenaufgang nicht sehr aufwändig gestaltet ist, der klassischen Eingangssituation der repräsentativen Museumsbauten des 19. Jahrhunderts. In derselben Tradition steht die zentrale Eingangshalle, die in anderen Kontexten oftmals als Ruhmeshalle oder Repräsentationsort genutzt wurde, im Technischen Museum war sie den Kraftmaschinen des 19. Jahrhunderts gewidmet. Symbolisch hoch besetzt, war die Bespielung – so Direktor Donhauser – eine große Herausforderung. Das erste Objekt, das die BesucherInnen in der aktuellen Aufstellung zu sehen bekommen, ist eine Dampfmaschine, sozusagen die treibende Kraft der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Eine technische Innovation, die nicht nur die Produktionsweise und das Transportwesen, sondern das gesamte gesellschaftliche Gefüge veränderte. Auch bei der Eröffnung des Technischen Museums 1918 war an dieser Stelle eine Dampfmaschine, umgeben von ähnlichen Maschinen, zu sehen. Bei der Wiedereröffnung 1999 war die Dampfmaschine in der zentralen Mittelhalle allerdings von sehr unterschiedlichen Objekten umgeben – zu sehen waren eine Dampflokomotive, ein Flugapparat (Ettrich-Taube), ein 24 Jana Scholze, Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld 2004, 35f.

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Nachrichtensatellit, ein Fernsehregieplatz, ein Computertomograph und eine interaktive Installation, bei der die BesucherInnen mit einem computergenerierten Wesen in Kontakt treten konnten.25 Im Unterschied zu 1918, wo die Technikeuphorie in repräsentativen Großobjekten ihren Ausdruck fand, war das Ziel der Neuaufstellung – so der aktuelle Museumsführer – die Entwicklung von der Industrie- zur Informationsgesellschaft zu veranschaulichen, um so „die unterschiedlichen Technikbilder der beiden Eröffnungsperioden (1918 und 1999)“ einander gegenüberzustellen.26 Neue Objekte sind hinzugekommen, doch die Erzählung blieb letztlich die gleiche  : Der Fortschrittsgedanke wurde durch die Gegenüberstellung von gusseisernen Kraftmaschinen aus dem 19. Jahrhundert versus Kommunikationsgeräten versinnbildlicht. Die programmatische Behauptung, die „Technikbilder“ von 1918 mit jenen von 1999 zu konfrontieren, wurde nicht eingelöst, wie der Historiker Siegfried Mattl kritisierte  : „Das suggeriert die Vorstellung, im neuen TMW auf selbstreflexive Präsentationseinheiten zu treffen, die uns unterrichten, wie man im Zeitverlauf Technik überhaupt und sinnvoll repräsentieren zu können glaubte, Technik als Sys­ tem, wohlgemerkt, nicht das technische Ding. Und das wäre allerhand und vielversprechend.“27

Seit der Einbringung der Lokomotiven 200828 wird die Mittelhalle nun vom Bereich „Lok.erlebnis“ dominiert, damit ist das Konzept der Gegenüberstellung obsolet geworden. Der „Sachzwang“, dass die Großobjekte nur im Erdgeschoss gezeigt werden können, befördert es, dass im Eingangsbereich nach wie vor beeindruckende, aus heutiger Sicht vielleicht bereits exotische Maschinen und Verkehrsmittel zu sehen sind. Damit wird zum einen den Ingenieursleistungen gehuldigt, zum anderen werden – etwa durch „Ajax“, der ältesten erhaltenen Lokomotive auf dem Kontinent – nostalgische Gefühle geweckt. Durch die spektakuläre Anhebung der Glaskuppeln der überdachten Innenhöfe wurde nicht nur neuer Ausstellungsraum gewonnen, es entstanden

25 Gabriele Zuna-Kratky (Hg.), Technisches Museum Wien (Prestel Museumsführer), München 22005, 20f. 26 Ebd. 27 Siegfried Mattl, Das neueröffnete Technische Museum Wien, in  : ÖZG 11 (2000) 2, 139–143, hier 140. 28 Das geplante Verkehrsmuseum konnte nicht umgesetzt werden.

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Die Mittelhalle bei der Wiedereröffnung des Technischen Museums 1999 (Foto  : Technisches Museum Wien)

auch neue Sichtachsen, die vor allem den Großobjekten in der Mittelhalle zugutekamen.29 Durch die Dominanz der Lokomotiven wurde dieser Effekt allerdings wieder etwas zurückgenommen. Zu sehen sind Maschinen, aber nicht die dahinterstehenden Mechanismen, die gesellschaftlichen Systeme, die technologische Entwicklungen befördern. Auf diesen Zusammenhang verweist Mattl, wenn er den Begriff der Maschine weiter fasst, ihn gleichsam in Maschinerie transformiert  : „Die größte Maschine, die je erfunden wurde, dürfte wohl der Staat, diese Territorialisierungsmaschine (Felix Guttari), gewesen sein. Auch sie ist nach wie vor im Technischen Museum präsent, unübersehbar, und dennoch gerade durch ihre Abwesenheit auffallend. Nach wie vor gibt es die übergeordnete Narration, die davon spricht, dass es um das eigene Kollektiv geht  : um österrei29 Mattl, Das neueröffnete Technische Museum Wien, 139 (wie Anm. 27).

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chische Erfindungen und Erfinder, um nationale Ressourcen, um landeseigene Meisterleistungen.“30

Dem hält er entgegen, ob sich nicht aus den Sackgassen, den Ungleichzeitigkeiten, dem Scheitern mehr für ein Verständnis von Technik gewinnen ließe als mit den Typenscheinen.31 Im an die Mittelhalle angrenzenden Westflügel entspricht der dort ausgestellte Bereich zur Schwerindustrie – entgegen den programmatischen Erklärungen nach technischen Kriterien wie Rohstoffgewinnung, Metallerzeugung und Metallverarbeitung gegliedert – im Wesentlichen dem „klassischen“ Konzept eines Technikmuseums. Im Bereich „Energie“ im Ostflügel erfolgt die Darstellung der Entwicklung der Energieträger nach einer chronologischen Gliederung – mechanische Künste, Kraftstationen, Netzwerke –, wobei die Fortschrittserzählung auf der visuellen Ebene allerdings insofern zurückgenommen wird, als alle drei Bereiche von einem großen leeren Platz in der Mitte, der so genannten „Besucherarena“, aus zu betreten sind, so dass die BesucherInnen im wahrsten Sinne des Wortes einen Zugang wählen können und nicht automatisch der chronologischen Struktur folgen müssen. Die inhaltlichen Schwerpunkte liegen bei den technischen Entwicklungen im Hinblick auf die Bereitstellung, Verteilung und Nutzung der jeweiligen Energieform, wobei insbesondere bei der Frage der Energienutzung sozialgeschichtliche Aspekte einfließen können. „Welt der Erfinder und Konstrukteure“32 hieß noch Anfang der 1980erJahre eine Selbstdarstellung des Technischen Museums im Untertitel. Diese „Meister-Erzählung“ ist in der Neuaufstellung zwar insofern zurückgenommen worden, als nicht die genialen Persönlichkeiten im Mittelpunkt stehen, aber die Fortschrittserzählung ist durch die Art der Präsentation, die auf der auratischen Wirkung der technischen Objekte aufbaut, weitgehend erhalten geblieben. Alle weiteren, vielleicht gegenläufigen Erzählungen, wie etwa die Irrwege oder die gesellschaftlichen Folgen technologischer Entwicklungen, müssen gegen die Setzung, die in der Mittelhalle vorgenommen wird, ankämpfen.

30 Ebd., 143. 31 Ebd. 32 Das Technische Museum für Industrie und Gewerbe in Wien (Hg.), Das Technische Museum in Wien. Die Welt der Erfinder und Konstrukteure, Salzburg – Wien 1982.

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2.2 Technikmythos der Nachkriegszeit

Die Schausammlung des Bereichs „Schwerindustrie“ – wird im Museumsführer ausgeführt – gliedert sich in Bergbau, Metallerzeugung und -verarbeitung, wobei die funktionalen Zusammenhänge im Vordergrund stehen. Breiter Raum wird dem „Leitsektor Stahl“ gewidmet, wobei im Anschluss an die zentrale Installation der Großobjekte die Auseinandersetzung mit dem ökonomischen und sozialen Kontext der Schwerindustrie im 20. Jahrhundert folgt. Grundsätzlich ist der Bereich „der Tradition und internationalen Positionierung“ des Museums vornehmlich nach technischen Kriterien unterteilt, während sich politische, ökonomische und soziale Aspekte an mehreren ausgewählten Stellen auf der Ebene der Unterthemen finden.33 Das erste Exponat, das den BesucherInnen unmittelbar ins Auge fällt, wenn sie den Bereich der Schwerindustrie betreten, ist ein Objekt, das vor allem durch die Größe und das massive Erscheinungsbild die Aufmerksamkeit auf sich zieht  : ein riesiger Metalltiegel (inklusive Schrottschure, Schlackenpfanne, vier Kokillen, Stahlblock) aus dem Stahlwerk Linz, das Leitobjekt der Abteilung. Dieser visuelle Eindruck, dem man sich kaum entziehen kann, vermag Bewunderung, Staunen und Neugier, aber auch das Gefühl der eigenen Kleinheit auslösen. Rund um den Tiegel ist eine Rampe angebracht, so dass sich die BesucherInnen in greifbare Nähe zu dem Objekt begeben können. Es gibt im Grunde an dem Metalltiegel in der Detailansicht nicht viel zu sehen, es ist vielmehr der Prozess, der in ihm stattgefunden hat, die Entwicklung des weltberühmten LD-Verfahrens, der seinen besonderen Stellenwert begründet. Die Rampe dient also im Prinzip nicht dazu, Informationen zu vermitteln, sondern Nähe zum Objekt herzustellen und ihm zusätzliche Bedeutung zu verleihen. Am Ende der Rampe befindet sich ein kleiner Glaskobel, der einer „Brücke“ ähnelt, von der aus die Produktion überwacht werden kann. Darin kann man sich an zwei PC-Stationen über das LD-Verfahren informieren. Es gibt aber auch schriftliches Informationsmaterial, worin die drei zentralen Botschaften vermittelt werden, die immer wieder auftauchen  : die Erklärung des technischen Verfahrens, die Auszeichnung des Stahlwerkes Linz als Pionier-Betrieb und die weltweite Bedeutung der Innovation. Im Objekttext heißt es  : „Am 27. November 1952 ging das erste LD-Stahlwerk der Welt in Linz mit dem Tiegel Nr. 2 in Betrieb. Nach einigen Versuchen gelang es, in einem feu33 Zuna-Kratky, Technisches Museum Wien, 48f. (wie Anm. 25).

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erfest ausgemauerten Tiegel durch Aufblasen von Sauerstoff flüssiges Roheisen in Stahl umzuwandeln. […] Heute werden zwei Drittel der Weltstahlerzeugung nach dem LD-Verfahren (Linz-Donawitz-Verfahren) erschmolzen.“

Zu sehen ist allerdings Tiegel Nr. 1, der am 21. Jänner 1953 die erste Charge lieferte. Die konkreten Datumsangaben sind eigentlich für die meisten BesucherInnen irrelevant. Eine mögliche Intention könnte sein, dass auf diese Weise zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass es sich um ein historisches Ereignis handelte. Das in den 1940er-Jahren entwickelte LD- oder SauerstoffBlasstahl-Verfahren, das erstmals 1952 in der VOEST Linz in Betrieb genommen wurde, gilt als eine der bedeutendsten Erfindungen, die im 20. Jahrhundert zumindest von Österreich ihren Ausgang genommen haben. Dass erbitterte wissenschaftliche Diskussionen und Auseinandersetzungen um die Patentrechte die Entwicklungsgeschichte des LD-Verfahrens begleiteten, davon erfahren die BesucherInnen nichts. Neben dem „Leitobjekt“ sind zwei Modelle zu sehen  : Das eine zeigt das LD-Stahlwerk 1 der VOEST-ALPINE Stahl AG in Linz, das von 1952 bis 1977 in Betrieb war, das zweite die „Hermann Göring-Werke“. Ein relativ ausführlicher Text informiert darüber, dass Hermann Göring im „Dritten Reich“ im Rahmen des Vierjahresplans die Eisen- und Stahlerzeugung für die Rüstungsindustrie ankurbeln sollte, um das Deutsche Reich von Auslandsimporten, aber auch von den Privatunternehmen im Ruhrgebiet unabhängig zu machen. Unerwähnt bleibt allerdings, dass Hermann Göring auch für die Gründung der Gestapo und die Einrichtung der ersten Konzentrationslager verantwortlich sowie maßgeblich an den Planungen zur „Endlösung der Judenfrage“ beteiligt war. Diese Hintergrundinformationen haben zwar nicht unmittelbar mit dem Stahlwerk zu tun, aber sie würden den Zusammenhang zwischen Aufrüstung und Ausbeutung der Arbeitskraft von KZ-Häftlingen und ZwangsarbeiterInnen, wie er ja auch in den „Hermann Göring-Werken“ gegeben war, verdeutlichen. Über das Hüttenwerk, das von der Reichswerke AG in Linz aufgrund des günstigen Standorts (Donau, Erzberg) erbaut und nach den Idealvorstellungen der Ingenieure am Reißbrett entworfen wurde, erfahren die BesucherInnen folgendes  : „Die Produktionshallen waren dem Stofffluss entsprechend im Uhrzeigersinn angeordnet, mit dem Verwaltungsgebäude im Zentrum. Darüber hinaus standen auf dem Gelände zahlreiche Barackenlager und zwei Außenlager des

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Der LD-Tiegel in der Schausammlung „Schwerindustrie“ (Foto  : Technisches Museum Wien)

Konzentrationslagers Mauthausen. Zwei große Luftschutzbunker existieren bis heute.“

Die Barackenlager und Luftschutzbunker werden gleichsam in einem Atemzug mit den besonders rational angeordneten Produktionshallen genannt, so als ob es sich dabei um Gebäude wie andere auch handelt. In derselben lapidaren Weise werden die Zwangsarbeiter erwähnt  : „Während des Krieges kamen im Linzer Werk Tausende Zwangsarbeiter zum Einsatz. Für deren Unterbringung wurden zwei Außenlager des Konzentrati-

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onslagers Mauthausen errichtet, Linz I und Linz III. Letzteres befand sich in Kleinmünchen, direkt im Überschwemmungsgebiet der Traun.“

Tatsächlich besteht ein Zusammenhang zwischen der möglichst „rationellen Nutzung“ von Ressourcen und der Aneignung unter Zwang – seien es Betriebe wie die Österreichische Alpine Montangesellschaft zur Bereitstellung des Eisenerzes oder die Arbeitskraft von Tausenden ZwangsarbeiterInnen, wobei zwischen ausländischen ZivilarbeiterInnen, Kriegsgefangenen und KZHäftlingen zu unterscheiden wäre, da diese je nach Status, Herkunft und Geschlecht unter sehr unterschiedlichen Bedingungen arbeiten mussten – doch dies sollte explizit gemacht werden. In dem Bemühen um möglichst sachliche technikbezogene Informationen wird die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft bis hin zur Vernichtung durch Arbeit unter dem NS-Regime trotz Thematisierung unsichtbar gemacht. An den Hermann Göring-Werken könnte anschaulich gezeigt werden, wie sehr Politik, Wirtschaft und Technik in einem Wechselverhältnis zueinander stehen  : die Errichtung eines Staatskonzerns, in dem mit modernsten Technologien und unter brutalster Ausbeutung von Arbeitskraft Kriegsvorbereitungen getroffen wurden. Auf diese Weise konnten in der NS-Zeit alle Betriebe, die in die Rüstungsindustrie eingebunden waren, einen ungeheuren Modernisierungsschub verzeichnen. Neben dem LD-Tiegel sind Dreiecksständer mit Bildtext-Tafeln ohne klar erkennbare Ordnung positioniert, deren Inhalte einen großen thematischen und zeitlichen Bogen schlagen  : von der Weltwirtschaftskrise in der Ersten Republik bis zur Stahlkrise in den 1980er-Jahren. Dabei werden allerdings alle Fragestellungen äußerst kurz angerissen, oftmals steht nur ein Exponat, etwa ein Plakat, paradigmatisch für ein Themenfeld wie die Weltwirtschaftskrise. Die Tafel zur Weltwirtschaftskrise beinhaltet einen Aufruf der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), dass sich Arbeiter, Bauern und Gewerbetreibende verbünden sollen, um ein Arbeitsbeschaffungsprogramm durchsetzen zu können. Dazu ist folgender Text zu lesen  : „Auf die Weltwirtschaftskrise 1929 folgten politische Instabilität und Massenarbeitslosigkeit. Der von Kommunisten und Sozialdemokraten geführte Kampf um Arbeit und Demokratie eskalierte im Februar 1934 und mündete in den Ständestaat. Die Alpine Montangesellschaft, deren Führung Heimwehrverbände und Nationalsozialisten unterstützte, war von der Krise besonders betroffen.“

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Aus dieser Formulierung könnte man schließen, dass der von den Kommunisten und Sozialdemokraten geführte Kampf um Arbeit und Demokratie der auslösende Faktor für die Etablierung des Ständestaats war. Zu diesem Zeitpunkt, als die Auseinandersetzung in den Bürgerkrieg mündete, waren das Parlament und der Verfassungsgerichtshof von der Christlichsozialen Partei, wenig später in Vaterländische Front umbenannt, bereits ausgeschaltet und die wesentlichen Voraussetzungen für das autoritäre Regime geschaffen. Dieser Eindruck entsteht allerdings nicht nur durch die Verkürzung, sondern auch die formale Textgestaltung. Durch Formulierungen wie „auf die Weltwirtschaftskrise folgt“ oder „der Kampf führt“ werden Akteure wie etwa die Christlichsoziale Partei ausgeblendet, so dass historische Entwicklungen unmotiviert oder zwangsläufig erscheinen. Werden allerdings Akteure genannt, dann gewinnen diese wie die Sozialdemokraten und Kommunisten umso mehr an Gewicht. Da das Bild der Kommunisten nicht zuletzt durch den Sowjetkommunismus in Misskredit geraten ist, könnte der Kampf um Demokratie und Arbeit auch einen negativen Beigeschmack bekommen. Im Text beim Modell der „Hermann Göring-Werke“ wird am Schluss bereits darauf verwiesen, wie der Betrieb schließlich zu einem österreichischen Unternehmen wurde. Als deutsches Eigentum von den alliierten USA beschlagnahmt, ging die neu gegründete VOEST (Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke) 1946 aufgrund des sogenannten Ersten Verstaatlichungsgesetzes in das Eigentum der Republik Österreich über. Eine der Bild-Texttafeln thematisiert den Umstand, dass die mit Marshall-Plan-Hilfe aufgebaute Stahlindustrie die österreichische Wirtschaft der Nachkriegszeit nachhaltig beeinflusste. Visualisiert wird die Auslandshilfe mit einem Plakat, auf dem zu lesen ist  : „ERP Beitrag im Marshall-Plan … und deine Produktion für ein unabhängiges Österreich.“ Unterlegt ist dieser Slogan mit einem Bild, das einen blonden, muskulösen Stahlarbeiter mit nacktem Oberkörper zeigt, der einen Hammer schwingt. Im Hintergrund ist eine Stadt mit einer ausgedehnten Industrieanlage, wahrscheinlich Linz, angedeutet. Und von oben legt sich wie ein Schleier die rot-weiß-rote Fahne über die Stadt, wobei der weiße Streifen wie ein Lichtstrahl auf das glühende Stahlstück fällt, das gerade bearbeitet wird. Auf diese Weise wird das heroisch inszenierte Bild des Industriearbeiters in eine pathetische Stimmung eingebettet. Das Plakat spiegelt ein Stimmungsbild der 1950er-Jahre wider, doch indem es ungebrochen im Museum präsentiert wird, kann es erneut seine Wirkung entfalten. Die herausragende Stellung der Hochofenarbeiter in der unmittelbaren Nachkriegszeit kommt auf einer weiteren Tafel zur Sprache. Im Text zu ei-

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ner Fotoserie über die Hochofenarbeiter aus den 1950er-Jahren wird darauf verwiesen, dass diese ebenso wie die Bergleute als die Protagonisten des Wiederaufbaus galten. Ausdruck dieses neuen Selbstbewusstseins ist auch die Bilderserie, die die VOEST Anfang der 1950er-Jahre in Auftrag gegeben hat. Der Künstler Karl Schwetz sollte den Produktionsprozess in der Hütte Linz ins Bild setzen. Eines der Bilder ist in dem Glasverbau am Ende der Rampe zu sehen, wo sich die BesucherInnen über das LD-Verfahren informieren können. Der Aufschwung der Industrie, der sich in Betrieben wie der VOEST oder dem Wasserkraftwerk Kaprun manifestierte, war nicht nur aus technologischer und wirtschaftlicher Sicht von Bedeutung, er begründete auch ein neues „gesellschaftliches Selbstbewusstsein“, das in dem Gefühl gipfelte  : „Wir sind wieder wer  !“. An dieser Stelle würde es sich anbieten, näher auf die Funktion der verstaatlichten Industrie als Wirtschaftsmotor einzugehen, denn die verstaatlichten Betriebe trugen wesentlich zum Wiederaufbau und zur Konsolidierung bei, indem sie billige Rohstoffe für die Privatindustrie bereitstellten. Ohne diese Information bleibt die Tafel, die die Stahlkrise und das Ende der verstaatlichten Industrie zum Thema macht, entkontextualisiert. Gezeigt wird ein Titelbild der Zeitschrift profil mit der Schlagzeile „VOEST  : Zusperren  ? Einsperren  ?“. Im Objekttext wird darauf verwiesen, dass Milliardenverluste zur Entlassung des Vorstandes führten und dass damit der Rückzug der Parteipolitik aus der verstaatlichten Industrie begann. Auf diese Weise werden Verstaatlichung, Parteipolitik und Verluste in einen unmittelbaren kausalen Bezug gesetzt. Insgesamt nehmen sich die Text-Bildtafeln neben dem LD-Tiegel so verschwindend klein aus, dass sie in der Wahrnehmung des Publikums leicht untergehen können. Doch nicht nur auf der visuellen, auch auf der inhaltlichen Ebene können die Informationen der Komplexität der historischen Zusammenhänge nicht gerecht werden. An dieser Stelle zeigt sich sehr deutlich, dass die politischen, ökonomischen und sozialen Dimensionen der vermittelten Technologien tatsächlich auf die Unterkapitel beschränkt bleiben. Gerade anhand der Geschichte der VOEST-Alpine könnte die Verflechtung von Technologie, Wirtschaft und Politik in vielfältiger Weise verdeutlicht werden. Es werden zwar einige wesentliche Aspekte angesprochen, allerdings so verkürzt, dass die BesucherInnen einiges an Vorwissen mitbringen müssen, um sie in ein historisches Bezugsfeld einordnen zu können.

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2.3 Technologiekritik – Ökologie

In der Abteilung „Energie“ im Bereich „Zeit der Netzwerke“ wird eine weitere „Ikone“ der Technikgeschichte thematisiert, das Wasserkraftwerk Kaprun. Dabei handelt es sich um eine Meisterleistung der Ingenieurkunst, die in der historischen Überlieferung eine ähnliche Funktion eingenommen hat wie das LD-Verfahren. Vermittelt wird die Geschichte des Kraftwerkbaus auf einer Bild-Texttafel, die vom visuellen Eindruck nicht so wirkmächtig sein kann wie der originale LD-Tiegel. Es gibt keinen Blickfang, wie etwa ein Modell oder Filmausschnitte, um die Aufmerksamkeit der BesucherInnen auf dieses so zentrale Thema zu lenken. Auch hier wird ein thematischer Bogen von der Ersten zur Zweiten Republik geschlagen. Der ausführliche Text informiert darüber, dass die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) Berlin 1929 Pläne für ein großes Wasserkraftwerk in den Tauern, das Strom nach Deutschland liefern sollte, entwickelte. Aufgrund finanzieller und technischer Probleme konnte das Vorhaben allerdings nicht verwirklicht werden. Nach dem „Anschluss“ 1938 wurde mit dem Bau einer kleineren Variante begonnen, wobei Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene den Großteil der Bauarbeiten verrichteten. 1944 konnte das Kraftwerk nur provisorisch in Betrieb genommen werden. Nach dem Krieg unterstützte die amerikanische Besatzungsmacht den Weiterbau – jetzt wurden die gewaltigen Staumauern errichtet, viele Kilometer Stollen gegraben. Die Finanzierung erfolgte aus ERP-Mitteln im Rahmen des Marshallplans. 1952 ging die Hauptstufe, 1955 die Oberstufe ans Netz. Im Text wird aber auch explizit auf den in den 1950er-Jahren entstandenen nationalen Mythos um das Kraftwerk Kaprun verwiesen. Kaprun – so die Ausführungen – wurde nicht nur zum Symbol des österreichischen Wiederaufbaus, der gewaltige Eingriff in die Natur eignete sich auch als Roman- und Filmhandlung, wo tapfere Männer einen heldenhaften Kampf gegen die Tücken des Hochgebirges führen. Durch die verklärte Rückschau wird der Blick auf die Entstehungsgeschichte, die bis in die NS-Zeit reicht, verstellt. Interessant ist vor allem, wie die beiden technologischen Errungenschaften, das LD-Verfahren und das Kraftwerk Kaprun, ungeachtet der historischen Voraussetzungen – maßgeblich entwickelt in der NS-Zeit und von ausländischem Kapital finanziert in der Nachkriegszeit –, völlig ungebrochen zu österreichischen Leistungen in den nationalen Erzählungen werden konnten, die wahrscheinlich in keinem Schulbuch fehlen. Im Hinblick auf die Technikwahrnehmung ließe sich dieses Thema weiterverfolgen, etwa bis zu den Auseinandersetzungen um das Wasserkraftwerk Hainburg. Die Wechselwir-

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kungen zwischen technologischen Errungenschaften und staatlichem Einfluss kommen insbesondere dort zum Tragen, wo es um die Energieversorgung geht. Welche Probleme auftreten können, wenn eine Kommune in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Privatwirtschaft steht, wird beim Thema Gasversorgung aufgegriffen. Denn seit Mitte des 19. Jahrhunderts war die Stadt Wien insbesondere auf die Gaslieferungen der „Imperial Continental Gas Association“ angewiesen. Der Energiekonzern war so mächtig, dass er der Stadtverwaltung die Lieferbedingungen diktieren konnte. Um 1900 beschloss die Stadt Wien daher, nach Auslaufen der Verträge mit der „Imperial Continental Gas Association“ die Gasversorgung selbst zu übernehmen und ließ das Großgaswerk in Simmering errichten. Die Gasometer waren bis 1986 in Betrieb und wurden dann zu einem Wohn-, Geschäfts- und Freizeitviertel umgebaut. Auch beim Thema Erdöl werden nicht nur die technologischen Fortschritte in der Energiegewinnung oder -versorgung, sondern auch die Folgewirkungen dieser Entwicklungen explizit gemacht. Unter dem Titel „Zuviel privat – zu wenig Staat“ wird sehr anschaulich an der Erdölgewinnung in Galizien gezeigt, zu welchen Auswüchsen es kommen kann, wenn die mineralischen Rohstoffe als Privateigentum des jeweiligen Grundbesitzers definiert werden. So entstanden auf engstem Raum unzählige Förderstellen. Als Ende des 19. Jahrhunderts neue Technologien, das kanadische Bohrverfahren, dazu führten, dass die Fördermengen stiegen, zeigten sich die Schwächen des Systems – das Überangebot an Erdöl führte zum Preisverfall. Die Unternehmer, die zuvor jeden Einfluss des Staates abgelehnt hatten, riefen nun nach dessen Unterstützung. Es wurden staatliche Beihilfen gewährt, doch auch mit diesen konnte die negative Entwicklung nicht aufgehalten werden. Auffallend ist, dass hier zu einer Fragestellung, die nach wie vor von höchster Aktualität ist und äußerst kontrovers diskutiert wird, auch klar Stellung bezogen wird. Bereits im Titel verstecken sich die Kuratoren nicht hinter einer Scheinobjektivität. Die Erdölgewinnung wird aber auch unter einer gegenwärtigen Perspektive betrachtet, wobei sich die Frage nach der Verfügungsmacht insbesondere in Zeiten der Ressourcenknappheit unter globalen Vorzeichen stellt. Unter dem Titel „Wem gehört das Öl  ?“ wird der Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftsfaktor Erdöl und den politischen Krisenherden aufgezeigt. Die großen multinationalen Konzerne – so der Text – erwirtschaften Umsätze, die dem Bruttosozialprodukt mancher Staaten entsprechen. Da die Industrienationen von der billigen Bereitstellung von Erdöl abhängig sind, ist die politische und militärische Einflussnahme auf die Produktionsländer groß. Als Beispiel wird der zweite Golfkrieg (1990/91) angeführt, der der Wahrung energiewirt-

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schaftlicher Interessen der westlichen Industrieländer diente. Damit wird ein Thema, das auf den ersten Blick sehr weit von Österreich entfernt scheint, auf subtile Weise wieder zurück in die Wohnzimmer und damit in die Verantwortung geholt. Aber auch die Energiebereitstellung und -verteilung ist aufgrund der begrenzten Erdölvorkommen nicht unproblematisch. Der Text verweist auf den Umstand, dass Erdöl zum Hauptenergieträger geworden ist, was zur Folge hat, dass eine weltweite Versorgung garantiert werden muss. Da aber nicht alle Gebiete mit Pipelines zu erreichen sind, bedarf es unter anderem riesiger Hochseetanker für den Transport. Der Blick wird allerdings nicht nur auf die Tanker, die zu den größten beweglichen technischen Objekten zählen, sondern auch auf die ökologischen Folgen gerichtet. Denn abgesehen von den Tankerunfällen gelangen allein durch das Waschen der Schiffe große Mengen von Erdöl ins Meer, denn die Sicherheitsbestimmungen für die Tanker und die Auflagen für die Reinigung werden oft umgangen. Und da die Giftstoffe in die Nahrungskette gelangen können, sind nicht nur Meereslebewesen, sondern potenziell alle Menschen davon betroffen. Es werden die Schäden für das Ökosystem ebenso beschrieben wie die technischen Möglichkeiten, die Verunreinigungen einzudämmen. Anhand derartiger Beispiele könnte das aufgrund zunehmender Problemlagen gesteigerte Umweltbewusstsein, das nicht nur mit technologiekritischen Haltungen, sondern auch neuen politischen und sozialen Bewegungen einhergeht, vertieft werden. Die in diesem Bereich angesprochenen Themenstellungen zeigen, dass sich viele Fragen in Bezug auf technologische Innovationen und deren Auswirkungen nicht auf eine nationale Perspektive beschränken lassen. Eine Energieform, bei der die globalen Zusammenhänge besonders deutlich werden, ist die Kernkraft, die zunächst als Ausweg aus der Energiekrise betrachtet wurde. Spätestens – so der Ausstellungstext – der „Super-Gau“ von Tschernobyl habe gezeigt, dass die Folgeerscheinungen von Reaktorunfällen nicht an nationalen Grenzen haltmachen. In einer detaillierten Chronologie wird die Kernkraftnutzung in Österreich von der Errichtung des Forschungsreaktors Seibersdorf über die Volksabstimmung zum Atomkraftwerk Zwentendorf bis zum endgültigen Aus für die friedliche Nutzung der Kernenergie dargestellt, wobei sowohl die Entwicklung der Anti-AKW-Bewegung seit den ersten Protesten 1970 als auch die Positionen der Befürworter der Kernkraftnutzung nachgezeichnet werden. Dabei wird nachvollziehbar, dass die Auseinandersetzung nicht nur von technologischen oder ökologischen Argumen-

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tationen getragen war, sondern dass auch massive parteipolitische Interessen im Spiel waren. Ausgespart blieb allerdings, wie eng die Abstimmung über das Atomkraftwerk in Zwentendorf mit dem damaligen Bundeskanzler Bruno Kreisky, der das Gewicht seiner Person in die Waagschale warf, verknüpft war. Das negative Abstimmungsergebnis bei der Volksabstimmung 1978 war auch ein Votum gegen Bruno Kreisky. Obwohl der Bereich „Energie“ grundsätzlich nach technischen Kriterien geordnet ist, wird hier auch technikkritischen und ökologischen Aspekten Raum gegeben und so einer ungebrochenen Fortschrittserzählung entgegengewirkt.

3. Im Mittelpunkt der Mensch – Technik und ihr Gebrauch Im Zuge der Neuaufstellung wurde die Abteilung „Bau-, Alltags- und Umwelttechnik“ personell und institutionell besser verankert, so dass das Konzept zur Technisierung der Lebensräume (Körper, Wohnraum, Stadt, Natur) weiterentwickelt werden konnte. Mit dieser Schwerpunktsetzung nahm das Technische Museum Wien innerhalb der traditionellen Technikmuseen eine Vorreiterrolle ein.34 Kontraproduktiv wäre es allerdings, wenn die Stärkung des Bereichs zur Folge hätte, dass die gesellschaftlichen Dimensionen von Technologieentwicklungen und -anwendungen in diese Abteilung ausgelagert werden, denn diese Fragestellungen müssten grundsätzlich in jedem Bereich mitreflektiert werden. An jenen Stellen, an denen der Blick über die rein technologischen Vorgänge und Verfahren hinaus gerichtet wird, zeigt sich, dass die Verflechtungen mit Politik, Wirtschaft und Ökologie oftmals ohnedies auf der Hand liegen. Die Abteilung „Bau-, Alltags- und Umwelttechnik“ eröffnete 2005 ihre Sammlungspräsentation unter dem Titel „Alltag – eine Gebrauchsanweisung“. „Der Titel der Ausstellung deutet schon an, dass im Folgenden ironisch gespielt wird, nämlich mit Technikformaten, mit Sehnsüchten, vor allem aber mit Zuordnungen. Der Alltag – wenn man ihn doch bewältigen könnte, wie und 34 Lisa Noggler, Storyline zwischen Erwartung und Umsetzbarkeit am Beispiel der permanenten Ausstellung „Alltag – eine Gebrauchsanweisung“ im Technischen Museum Wien, in  : Charlotte Martinz-Turek/Monika Sommer-Sieghart (Hg.), Storyline. Narrationen im Museum (Ausstellungstheorie&Praxis 2), Wien 2009, 155–170, hier 158f.

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durch eine Technik, am liebsten nach Anweisung. Die Ironie des Titels soll auf die Möglichkeit eines wilden Denkens vorbereiten“,

führt Susanne Wernsing aus, die als freiberufliche Ausstellungskuratorin für die Konzeption verantwortlich war.35 Einen spielerischen Zugang, ja Ironie in die Institution Museum, insbesondere ein technisches Museum einzubringen, das in der Regel Wissenschaftlichkeit, Objektivität und Exaktheit vorgibt, ist ein außergewöhnlicher Ansatz. Der Titel bereitet vor allem insofern auf die Ausstellung vor, als auch dort an vielen Stellen auf den ersten Blick nicht zusammengehörige Dinge miteinander kombiniert werden. Zudem zeigt er an, dass es nicht nur um den Gebrauch von Technik geht, sondern auch um den Diskurs, eben die Anweisungen und Vorstellungen, die damit verbunden sind. Führt man sich allerdings tatsächlich eine Gebrauchsanweisung vor Augen, so weckt diese „eindimensionale“ Textsorte, die dazu dient, die Funktionalität eines Produkts zu beschreiben – allzu oft schlecht formuliert und unverständlich – auch negative Assoziationen. Das „wilde Denken“ – jenseits der Definition von Claude Lévi-Strauss36 – sieht die Kuratorin vor allem darin, dass durch das Ausstellungskonzept jenes technische Ordnungssystem, das der Sammlungsstruktur und den Repräsentationen des Museums über sehr lange Zeit eingeschrieben war und nach wie vor ist, auseinandergenommen und nach neuen Kriterien zusammengesetzt wird. Durch diesen Akt der Dekonstruktion wird deutlich, dass es sich bei der „traditionellen“, nach technischen Prinzipien erfolgenden Ordnung (z. B. Verarbeitung von Rohstoffen, Fertigungstechniken oder Energieträger) eben um nur eine mögliche Form, also eine Setzung, handelt. Gleichzeitig relativiert sich dadurch auch der von der Kuratorin gewählte Zugang. Dass jede (An-)Ordnung der Objekte unter bestimmten Prämissen hergestellt ist, sollte dadurch bewusst gemacht werden, dass die BesucherInnen, wenn sie die Ausstellung von den beiden Seiteneingängen betreten, am Beginn eine Depotsituation passieren müssen. Denn es sind die KuratorInnen, die aus ungeordneten Objektansammlungen unterschiedliche Narrationen erzeugen. Im Eingangstext heißt es dazu  : 35 Susanne Wernsing, Zwischen Mensch und Material  : Technisches Handeln als Ausdruck des „Immateriellen“ in der Ausstellung „Alltag – eine Gebrauchsanweisung“, in  : Rosemarie Beier de Haan/Marie-Paule Jungblut (Hg.), Das Ausstellen und das Immaterielle (Beiträge der 1. Museologischen Studientage Neumünster, Luxemburg 2006), München 2007, 36–49, hier 38. 36 Vgl. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1968.

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„Die Sammlungen werden für ihre Bearbeitung und für Ausstellungszwecke immer wieder neuen Fragestellungen unterworfen. Während zum Beispiel ‚Alltagstechnik‘ früher den mechanischen oder elektrischen Sammlungszweigen zugeordnet war, sind die Objekte hier unter der Frage des Gebrauchs zusammengestellt und präsentiert.“

Auch BesucherInnen, die den mittleren Ausstellungszugang wählen, sind anfangs mit Unsicherheiten konfrontiert. Objekte, die in keinem thematischen Zusammenhang stehen, laden das Publikum dazu ein, selbst deren Bedeutung zu entschlüsseln. In einer darauf folgenden Videoinstallation mit dem Titel „Das Leben der Dinge“ geht es um Sammlungsobjekte, die im Museum noch nicht erfasst worden sind. Die Geschichte der jeweiligen Objekte ist umstritten, ihr Stellenwert noch nicht festgelegt. In Interviews bieten Menschen, die nur wenig über die Objekte wissen, ihre Bedeutungszuweisungen an. Auf diese Weise sollen Erzählungen, die sich auf die materielle Überlieferung stützen und ihre Legitimität daraus beziehen, hinterfragbar werden. Der inhaltliche Schwerpunkt der Schausammlung liegt auf jenen Veränderungen, die in Zusammenhang mit einem technischen Strukturwandel der Moderne stehen  : Rationalisierung, Elektrifizierung und Hygienisierung der Lebenswelt. Dabei werden die wissenschaftlichen und technologischen Innovationen mit den sozioökonomischen und politischen Rahmenbedingungen in Beziehung gesetzt. Vor allem soll nachvollziehbar werden, wie wissenschaftliche und technologische Innovationen unterschiedliche Wissensgebiete und Lebensbereiche durchdringen können. Als Herangehensweise wählte die Kuratorin die „diskurstheoretisch begründete Kulturgeschichte“.37 Im Mittelpunkt des Interesses steht nicht nur die Frage nach dem Gebrauch von Technik, sondern auch welche wissenschaftlichen Diskurse und Popularisierungsbemühungen sich um eine technologische Innovation anlagern  : „Wie vermittelt sich eine Technik, wie wird gesprochen und gehandelt, welche Bilder und Artefakte entstehen  ?“38 Da die Diskursebene von zentraler Bedeutung ist, werden hier im Unterschied zu den anderen Abteilungen dreidimensionale Objekte, Abbildungen, Fotografien und Filmausschnitte grundsätzlich gleichwertig behandelt.

37 Wernsing, Zwischen Mensch und Material, 38 (wie Anm. 35). 38 Ebd.

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Dass der Gebrauch von Technik, also die Handlungsebene, im Blickpunkt steht, manifestiert sich darin, dass die acht Unterkapitel mit Verb-Kombinationen, wie etwa „messen/ordnen“, betitelt sind. Das Ordnungsprinzip orientiert sich also nicht am Artefakt oder am technischen Verfahren, sondern am menschlichen Subjekt. Der einleitende Bereich „wünschen/vorstellen“ spielt ironisch mit Wünschen und Visionen, die mit technischen Errungenschaften verbunden sind, wobei die Beispiele in einem thematischen Bezug zu den nachfolgenden Ausstellungssequenzen stehen  : dem Bedürfnis nach Sicherheit, nach perfektem Funktionieren, nach Automatisierung. Jedem Aspekt ist ein kleiner runder Raum in Form einer begehbaren „Gedankenblase“ gewidmet. Rund um die vier Gedankenblasen aus gelbem Kunststoff besteht viel Freiraum zum Flanieren und zur Entwicklung eigener Gedankengebäude. Im Bereich „messen/ordnen“ wird gezeigt, wie auf der Grundlage von „technisch objektivierbaren“ Vermessungen die Systematisierung von Wissen, Körpern, Räumen und Bewegungen erfolgte. Es entwickelte sich ein breiter Rationalisierungsdiskurs, der von anthropologischen Vermessungen über Körper- und Bewegungsvermessungen zur Arbeitserleichterung, aber auch zur Differenzierung und Hierarchisierung von sozialen Gruppen bis hin zum rationalisierten Massenwohnbau und der Stadtplanung reichte. Das Thema „ersetzen/hinzufügen“ widmet sich dem technisch erweiterten menschlichen Körper. Dies kann dadurch erfolgen, dass technische Geräte und Vorrichtungen menschliche Körperfunktionen übernehmen, um einen Verlust oder eine Behinderung auszugleichen, wie etwa Körperprothesen, Brillen, Hörgeräte. Allerdings sind auch dem funktionsfähigen Körper Grenzen gesetzt, die durch technische Apparaturen wie Nachtsichtgeräte erweitert werden können. Die Basis für diese technischen Möglichkeiten ist die genaue Kenntnis des Körpers und seiner Funktion, wie sie erst durch das fragmentierte Körperbild durch die anatomische Sektion und die Durchleuchtung möglich geworden ist. Im Bereich „versorgen/konsumieren“ bildet die Entwicklung von Gas- und Stromnetzen den thematischen Ausgangspunkt. Gezeigt wird, wie die propagierte Stromeuphorie den anfangs aus finanziellen und versorgungstechnischen Gründen sehr beschränkten Zugang zu dieser neuen Energiequelle überlagerte. Die Elektrifizierung des Haushalts wird um die „Elektrifizierung des Körpers“, als Behandlungsmethode und Unfallursache, erweitert. Den Kernpunkt des Bereichs „antreiben/bewegen“ bildet die Veränderung der Arbeitsvorgänge im elektrifizierten Haushalt, die sich vor allem in der Verlage-

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rung von der körperlichen Anstrengung zum einfachen Knopfdruck manifestierte. Die Waschmaschine löste das mühselige Wäschereiben und Spülen ab, setzte aber auch neue Reinlichkeitsstandards, da es nun sehr viel leichter war, die Wäsche sauber zu halten. Unter dem Begriffspaar „beleuchten/sichtbar machen“ wird die Geschichte der künstlichen Beleuchtung und der Entwicklung von Beleuchtungskörpern mit dem Aspekt der Lichtwahrnehmung verbunden. Im städtischen Kontext bedeuteten die neuen Lichtquellen mehr Sicherheit, Komfort, aber auch Kontrolle. Erweitert wird das Thema der Beleuchtungseuphorie durch das Begehren, Einblick in den Körper zu gewinnen, was schließlich im Durchleuchten des menschlichen Körpers etwa mit Röntgenstrahlen möglich wurde. Der Bereich „schützen/überwachen“ visualisiert unterschiedliche Schutzund Sicherheitsdiskurse. Ausgehend von der wissenschaftlichen Erforschung von Staub und Krankheitserregern werden die Bemühungen um Hygiene in der Stadt, am Arbeitsplatz und im Haushalt thematisiert. Die Hygienebewegung hatte allerdings nicht nur eine Erhöhung der Lebensqualität durch eine geringere Staub- und Schmutzbelastung zur Folge  : Die Kehrseite der Medaille waren rigide Disziplinierungs- und Überwachungsprozesse, wie es im anleitenden Zitat des Ausstellungsbereichs zum Ausdruck kommt  : „Hygiene erscheint daher als das beste Beispiel für die Mikrophysik der Macht  : eine Rezeptsammlung der Normalisierung zum Hausgebrauch, eine Anleitung zur Selbstunterwerfung. […] Schlug die medizinische Aufforderung zur Sauberkeit nicht in bürgerliche Moral um  ?“ Doch es geht nicht nur um das „Abschließen“ von Oberflächen wie das Asphaltieren der Straßen und Bodenbeläge in den Wohnungen, sondern auch um die Sicherheit, die Schlösser und Schlüssel versprechen. Im Bereich „entsorgen/verbergen“ werden technische Praktiken im Umgang mit Fäkalien, Abfall und Abwässern im Haushalt und im öffentlichen Raum im Lauf der Geschichte gezeigt. Dabei soll deutlich werden, dass es nicht nur um die Beseitigung und die Wiederverwertung, sondern auch um das Verbergen von Abfallprodukten geht, denn Hygienediskurse, Schamgrenzen und Ordnungsbedürfnisse bestimmten die technischen Entwicklungen entscheidend mit. Die Bereichsbezeichnung durch Verben zeigt zwar an, dass es sich um den Umgang mit Technik handelt, aber die zu Paaren geordneten Begriffe beziehen sich in unterschiedlicher Weise aufeinander, so dass das dahinter stehende äußerst elaborierte Konzept für die BesucherInnen nicht leicht zu entschlüsseln ist. Es kann sich um einen ähnlichen Aspekt im selben Bereich (sei

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es der Körper oder die Haushaltstechnik) wie bei „ersetzen/hinzufügen“ oder „antreiben/bewegen“, aber auch um ein ähnliches Prinzip in einem anderen Feld wie bei „beleuchten/sichtbar machen“ (Raumbeleuchtung und Durchleuchtung des Körpers) handeln. Bei „konsumieren/versorgen“ und „messen/ ordnen“ stehen die unterschiedlichen Inhalte in einem unmittelbaren Zusammenhang (Versorgen als Voraussetzung für das Konsumieren, Messungen als Grundlage für bestimmte Ordnungsprinzipien), bei „schützen/überwachen“ geht es um zwei Seiten desselben Diskurses. Diese Form der Analogiebildung beschränkt sich nicht nur auf die je konkreten Subkapitel, manche Aspekte tauchen in einem anderen Kontext wieder auf. So bildet das technisch fragmentierte Körperbild die Schnittstelle der Bereiche Vermessungs-, Beleuchtungs- und Prothesentechnik, Vernetzung als technische Strategie verbindet die Versorgungs-, Entsorgungs- und Reinigungstechniken. Dass es in der Ausstellung vor allem um die Veranschaulichung übergreifender Prinzipien geht – seien es Diskurse, Technologien oder Phänomene –, die unterschiedliche Lebensräume beherrschen, sollte sich auch in der Struktur der Ausstellung widerspiegeln.39 Der Rationalisierungsdiskurs wird also aus dem eng gefassten industriellen Kontext herausgelöst und als „Rationalisierungskultur“ dargestellt, indem die Unterwerfung von Körpern, Bewegungen und Räumen unter ein wissenschaftliches System gezeigt wird. So wie die Arbeitsvorgänge in den Fabriken in Bezug auf den Kraft- und Zeitaufwand optimiert werden sollten, galt es, die Küchenarbeit durch platzökonomische Einrichtungen und technische Geräte möglichst effizient zu gestalten. Der Bevölkerungsdichte in den Städten suchte man durch den Massenwohnbau und die Stadtplanung zu begegnen. Darin liegen Stärke und Schwäche der Ausstellung zugleich  : Einerseits wird der Blick für übergreifende Zusammenhänge geschärft, andererseits verwischt der Begriff „Rationalisierungskultur“ die jeweils konkreten Interessen, die wirtschaftlichen und politischen Akteure treten in den Hintergrund. Ein ähnliches Problem entsteht durch die Art und Weise wie „der Mensch“ in den Mittelpunkt gestellt wird. „Technische Geräte sind nicht nur Instrumente zur Vereinfachung des Lebens. Im Gebrauch gelten sie selbst als Akteure, die auf Handlungen, Denkmuster 39 Ebd., 39f. Vgl. auch Peter Payer/Lisa Noggler-Gürtler, Alltag – eine Gebrauchsanweisung, in  : Helmut Lackner/Katharina Jesswein/Gabriele Zuna-Kratky (Hg.), 100 Jahre Technisches Museum, Wien 2009, 379–381, hier 380f.

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und Strukturen wirken. Die Technikgeschichte fragt heute nicht allein nach der Entwicklung eines Produktes oder Verfahrens, sie beschreibt Formen und Auswirkungen von Technisierung auf Mensch und Gesellschaft. In der Ausstellung ist vom Verhältnis zwischen Mensch und Technik die Rede“,

heißt es im Einleitungstext „Technisches Handeln – eine Gebrauchsanweisung“ am Beginn der Ausstellung. Die Betonung des Fokus „Mensch und Technik“ soll explizit machen, dass der Schwerpunkt der Ausstellung auf dem Gebrauch und den Auswirkungen von Technologien liegt – nicht zuletzt auf den vielfältigen Formen, wie sich Technik und Naturwissenschaften des menschlichen Körpers bemächtigen. Doch die Rede vom „Menschen“ lässt die gesellschaftlichen und sozialen Differenzierungen leicht in den Hintergrund treten. Eine Ausstellungseinheit, in der die soziale Differenzierung allerdings sehr klar zum Ausdruck gebracht wird, befindet sich im Bereich „versorgen/konsumieren“. In einer Vitrine werden Geräte, die in den 1920er-Jahren höchstens in einem gutbürgerlichen Haushalt anzutreffen waren, jenen gegenübergestellt, die vom Großteil der Bevölkerung verwendet wurden. Die Konkurrenz zwischen den Energieträgern Strom und Gas spielte für letztere keine Rolle, waren sie doch weitgehend auf Kohle, Holz und Petroleum angewiesen. In Grafiken wird die Einkommensentwicklung mit der Preisentwicklung elektrischer Haushaltsgeräte in Bezug gesetzt. Hier wird also nicht nur im Text, sondern auch auf der visuellen Ebene, durch die Anordnung der Objekte, die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ veranschaulicht. Auf diese Weise wird deutlich, von welchen Faktoren es abhängt, bei welchen Menschen welche Technologien überhaupt ankommen können. Denn eine flächendeckende Stromversorgung konnte erst ermöglicht werden, nachdem diese Aufgabe von der öffentlichen Hand übernommen worden war. Die Haushaltstechnik wurde kostengünstig, als aufgrund von Kraftwerksbauten die Stromkapazitäten so hoch waren, dass Elektrogeräte massiv beworben wurden. Es war also nicht unbedingt die Sehnsucht nach Arbeitserleichterung, die in den 1950erJahren zur Technisierung der Haushalte führte. Im Folgenden soll der Bereich „messen/ordnen“ dahingehend näher betrachtet werden, welche zeitgeschichtlich relevanten Erzählungen er enthält und welcher Zugang zur Technik(-geschichte) vermittelt wird. Die Messtechnik strebte nach Objektivierung und Verfeinerung des eigenen Verfahrens, das zum Ausgangspunkt vielfältiger Normierungen wurde. Dass diese Normierungen, die sich durch ihre technische Generierung so gerne neutral und objek-

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Ansicht des Bereichs „Messen/Ordnen“ in der Schausammlung „Alltag – eine Gebrauchsanweisung“, 2010 (Foto  : Regina Wonisch)

tiv geben, alles anderes als das sind, wird als eine Kernaussage der Abteilung definiert.40 Die Ausstellungseinheit beginnt bei den Ordnungsstrukturen der modernen Großstadt, wobei ein Bogen von der Stadterweiterung Wiens Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre geschlagen wird. Vermittelt wird, dass das rasche Anwachsen der k. u. k. Reichshauptstadt, bedingt durch den Zuzug von MigrantInnen, den Ausbau der städtischen Infrastruktur nach administrativen, verkehrstechnischen und hygienischen Anforderungen erforderte. Insbesondere der Architekt Otto Wagner sprach sich dabei für zentrale Regulierungsmaßnahmen in Form geometrischer Raumfiguren aus, wobei er gerade Linien als Voraussetzung für den modernen Großstadtbau definierte. Gleichzeitig bedurfte es der Mittel zur systematischen Erfassung gesellschaftlicher Prozesse, um die wachsende Bevölkerung kontrollieren und administrieren zu 40 Wernsing, Zwischen Mensch und Material, 42 (wie Anm. 35).

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können, wie zum Beispiel Volkszählungen. Die Konzepte der Stadtplanung in den 1960er-Jahren unterlagen insofern dem Rationalisierungsdiskurs, als sie auf eine funktional entmischte Stadt, also getrennte Räume für Wohnungen und Arbeitsstätten sowie die verbindenden Verkehrsmittel, abzielten. Auf der Ebene des Wohnbaus manifestierte sich das Rationalisierungsprinzip vor allem in den Wohnblöcken, die in der Zwischenkriegszeit im Zuge des kommunalen Wohnbauprogramms der Gemeinde Wien unter der Devise eines gesunden und modernen Wohnens errichtet wurden. Die Wohnbauweise, die für möglichst viele sozial schwache Menschen leistbaren Wohnraum zur Verfügung stellen sollte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg unter veränderten Rahmenbedingungen fortgesetzt. Mit den Zeilenbausiedlungen, die in Fertigteilbauweise an der städtischen Peripherie entstanden, versuchte man unter ökonomischen Bedingungen die Wohnungsnot zu lindern. Im Bereich der Haushaltstechnik wurde die von der Architektin Margarethe Schütte-Lihotzky nach den Prinzipien der Rationalität, Sparsamkeit und Hygiene entworfene „Frankfurter Küche“ als Beispiel herangezogen. Aus arbeitstechnischen und ökonomischen Gründen sollte Küchenarbeit auf engstem Raum verrichtet werden. Und auch hier wird ein Bogen in die Nachkriegszeit geschlagen, in der die funktionale Arbeitsküche in den 1950er-Jahren in Form der Einbauküche weiterentwickelt und popularisiert wurde. Sie war stärker normiert und somit für die Serienproduktion geeignet, mit pflegeleichtem Kunststoff und technischen Geräten ausgestattet. Aber auch die Arbeitsvorgänge in der Küche selbst sollten durch ergonomische Studien rationeller gestaltet werden. Das Verfahren der Chronozyklografie schuf eine wesentliche Grundlage für die Darstellung der menschlichen Bewegungsabläufe. Doch es geht in diesem Ausstellungsbereich nicht um die unterschiedlichen Messtechniken selbst, sondern um das Zusammenwirken unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und gesellschaftlicher Institutionen, die aufgrund der jeweiligen Interessen die Verfahren der Standardisierung vorantrieben. Die technische Rasterung des menschlichen Körpers erfolgte nicht nur im Interesse der Ökonomie, sondern auch der Wissenschaft, insbesondere der Anthropologie. Der Wunsch nach einer umfassenden exemplarischen Bestandsaufnahme von unterschiedlichen Erscheinungsformen des menschlichen Körpers, wie er seit der Aufklärung bestand, hatte weitreichende Folgen. Einem Zirkelschluss ähnlich, produzierten die anthropologischen Messverfahren erst jene Wahrnehmungs- und Beurteilungskriterien, nach denen dann die Einteilungen vorgenommen wurden. Es galt, „Durchschnittstypen“ zu eruieren, um, von dieser „Schablone“ ausgehend, Differenzen feststellen zu können. Die Messdaten

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von Schädelformen, Augenfarben etc. dienten als Grundlage, um physische, psychische und soziale Typen zu generieren und in eine – wie auch immer definierte – hierarchische Ordnung zu bringen. Auf sehr anschauliche Weise wird in der Ausstellung herausgearbeitet, wie Normen produziert wurden, um „Abweichler“ nicht nur identifizieren, sondern auch ausgrenzen oder disziplinieren zu können. Im jeweiligen Interesse der Messenden – so der Ausstellungstext – wurden die Ergebnisse für die Pathologie, Kriminologie, Kolonialpolitik oder gar Eugenik vereinnahmt. Durch die Hierarchisierung stützte die Anthrometrie koloniale Machtverhältnisse ebenso wie gesellschaftliche Ausgrenzungen in den „eigenen“ Gesellschaften. Gezeigt wird aber nicht nur, wie die Vermessungstechniken in andere Wissensgebiete, wie etwa die Psychologie und Medizin, sondern auch in populäre Diskurse einsickerten. Ein Schwerpunkt liegt in der NS-Zeit, in der anthropologische Vermessungen zur Legitimierung der rassistischen Ideologie und in letzter Konsequenz der Vernichtungspolitik dienten. Neue technische Verfahrensweisen wie fotografische Vermessungstechniken ermöglichten die Ferninventarisierung menschlicher Körper, da die aus der Landvermessung adaptierte Stereofotografie aus flachen fotografischen Abzügen räumliche Körperbilder am Schreibtisch greifbar machte. Die enge Verbindung von Wissenschaft, Technik und Politik wird nicht zuletzt an Anthropologen wie Rudolf Pöch und Josef Wastl deutlich, die in Kooperation mit dem NS-Regime ihre Messungen auch in Kriegsgefangenenlagern und an festgenommenen Juden vornahmen. Die Zusammenhänge werden in einem Bereichstext klar auf den Punkt gebracht  : „Die Verbrechen des Nationalsozialismus, die historisch ohne Beispiel bleiben, wurden im Namen einer radikalen Rassenlehre verübt, in fataler Wechselwirkung spielten sich totalitärer Staat und Wissenschaft zu. Die Politik förderte und ideologisierte, die Anthropologie versuchte zu fundieren und ein schnelles Erfassungssystem für bevölkerungspolitische Maßnahmen bereitzustellen. […] Die vermessenden Wissenschaftler behaupteten stets, ihre Menschendaten würden sie gegen ihren Willen zu ausgrenzenden Schlüssen zwingen – während ihr Bildmaterial bereitwillig als Propaganda kursierte. […] Damit kulminierten überlieferte eugenische Tendenzen in den industriell organisierten Vernichtungslagern.“

Nur in der Verknüpfung der unterschiedlichen Kontexte werden die nichttechnischen Motive des Messens und Ordnens sichtbar. Die historische Per-

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spektive zielt nicht auf eine technologische Fortschrittserzählung, vielmehr sollen die Entwicklung von Erkenntnisinteressen und wissenschaftlichen Paradigmen in einen sozioökonomischen und politischen Kontext rückgebunden werden. Denn neue Fragestellungen entstehen nicht nur aus purer Neugier oder aus dem Wunsch, die Welt erklären zu wollen, sondern im Rahmen breiterer Diskurse und aus vielfältigen Interessenlagen. Damit unterscheidet sich dieser Bereich grundlegend von jenen Darstellungen, in denen Technik gleichsam als selbstreferenzielles System behandelt wird. Einschneidende Veränderungen im 20. Jahrhundert, die in Verbindung mit der Rationalisierung, Hygienisierung und Elektrifizierung stehen, werden auf äußerst komplexe Weise mit einander verknüpft, so dass sich tiefgreifende strukturelle Einsichten in die Dynamik von Modernisierungsprozessen gewinnen lassen. Die enorme Objektdichte der Ausstellung verstellt allerdings leicht den Blick auf die innovative Konzeption. Die Verbindungslinien und Verknüpfungen sind für die BesucherInnen ob der vielen Detailinformationen nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Da in der Alltagstechnik die technischen Geräte und Apparaturen allein aufgrund ihrer Größe nicht so dominant sind wie etwa in den Bereichen „Schwerindustrie“, „Energie“ oder „Verkehr“, ist es auf der formalen Ebene leichter, sozialhistorische Materialien zur Geltung zu bringen. Die Faszination imposanter Maschinen durch Materialien wie Fotos und Dokumente zu brechen und den Blick auf die diskursive Ebene zu lenken, ist sicherlich eine enorme Herausforderung. Die Frage, ob das Museum an der Materialität der Objekte und deren Dekontextualisierung scheitert, scheint sich in technischen Museen im Besonderen zu stellen. Die ursprüngliche Aufgabe des Museums war es, eine Kulturtechnik zu verallgemeinern, die auf Selbstkontrolle, Disziplin und der Distanzierung affektiver Einstellungen beruhte, indem das Museum die Gegenstände gegen ihre Kontexte isolierte und der registrierenden Beobachtung aussetzte.41 Obwohl der pictoral turn in verschiedenen Wissenschaftsfeldern auch die Auseinandersetzung mit wissenschaftlich-technischen Bildern nach sich zog, hat sich die Reflexion des medialen Eigenwerts von Bildern bei der musealen Vermittlung von Naturwissenschaft und Technik kaum etabliert. Im Vordergrund steht die Präsentation technischer Artefakte, wissenschaftlicher 41 Siegfried Mattl, Film versus Museum, in  : Hans-Christian Eberl, Julia Teresa Friehs, Güntner Kastner, Corinna Oesch, Herbert Posch, Karin Seifert (Hg.), Museum und Film (Museum zum Quadrat 13), Wien 2003, 51–73, hier 57f.

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Objekte oder Versuchsanordnungen. Den verwendeten Bildern und Modellen wird dagegen häufig nur ein untergeordneter Status beigemessen, sie dienen höchstens zur Erklärung von Sachverhalten. Dabei sind es genau die neuen bildgebenden Verfahren, die aus den wissenschaftlichen Laboren stammen, die in den Alltag eingeflossen sind und die Vorstellungen jener Technologien prägen. Anknüpfend an die alltäglichen visuellen Wahrnehmungen könnten Technikmuseen durch ihre Vermittlungsfunktion zwischen historischer Forschung und Wissenschaftspopularisierung einen wesentlichen Beitrag zur Bildkritik leisten. Dazu wäre es allerdings notwendig, den Eigenwert von Bildern als Instrumente der Wissensproduktion und Medien der Wissenschaftskommunikation anzuerkennen. Es ist jedoch problematisch, wenn die Wirkungsgeschichte technologischer Prozesse im Wesentlichen auf eine Abteilung beschränkt bleibt.42 Abgesehen von der sozialgeschichtlichen Rückbindung technischer Verfahren besteht jedenfalls eine besondere Leistung der Schausammlung „Alltag – eine Gebrauchsanweisung“ darin, den Nimbus der Objektivität und Rationalität, der den Naturwissenschaften und der Technik anhaftet, infrage zu stellen.

4. Tendenz – Public Understanding of Science Die Proklamation der Wissens- und Informationsgesellschaft impliziert die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft sowie Vergesellschaftung und Politisierung des Wissens. Mit der zunehmenden Komplexität (natur-)wissenschaftlicher Forschung vergrößerte sich jedoch die Kluft zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Zugleich etablierten sich Natur- und Technikwissenschaften als Instanzen mit zunehmend politischen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen. Die Museumslandschaft reagierte auf diese Entwicklung, indem neben den technischen Museen sogenannte Science Center entwickelt wurden, die anhand von Experimenten und selbsttätigem Lernen einen unmittelbaren Zugang zur Technik schaffen wollen. Das 1969 in San Francisco gegründete „Exploratorium“ gilt als erstes Science Center. Bis in die 1980er-Jahre beschränkte sich diese Entwicklung weitgehend auf den anglo-amerikanischen Raum, erst 42 Vgl. Jochen Henning, Wissensbilder und Bilderwissen in Wissenschaftsmuseen. Das Konzept der Ausstellung „Atombilder“, in  : Alexander Gall (Hg.), Konstruieren, Kommunizieren, Präsentieren. Bilder von Wissenschaft und Technik (Deutsches Museum, Abhandlungen und Berichte N.F. 23), Göttingen 2007, 435–460.

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dann entstanden auch in Deutschland derartige Einrichtungen, wie das „Phänomenta“ in Flensburg, das „Universum“ in Bremen, das „Spektrum“ im Berliner Technikmuseum oder das „Phäno“ in Wolfsburg, das schon mit seiner spektakulären Architektur zeigt, was Technik „kann“. Im Technischen Museum Wien stellte die 1999 eröffnete Abteilung „Natur und Erkenntnis“ einen Versuch dar, die beiden Konzepte der Technikvermittlung unter einem Dach zu verbinden. Dabei können die BesucherInnen im Bereich „Phänomene und Experimente“ anhand von Demonstrationsobjekten selbst den Dingen auf den Grund gehen, gilt doch das Experiment als eine der wichtigsten naturwissenschaftlich-technischen Forschungsmethoden. Diesem Verfahren ist vor allem jene Beweiskraft inhärent, die den Mythos der Exaktheit der Naturwissenschaften begründet. Im Bereich „Konzepte und Konsequenzen“ geht es darum, die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Wissensproduktion darzustellen, wie im einleitenden Text ausgeführt wird  : „Wie kann man aus der Natur Erkenntnisse gewinnen  ? Die Interpretation von Phänomenen durch Philosophie und Mythologie sind die ältesten Versuche. Erst die Methoden der Naturwissenschaften erzielten wiederholt überprüfbare Ergebnisse, die nachhaltig Denken und Handeln veränderten. Heute besitzen sie globale Bedeutung. Die Grundlagenforschung, die Wirtschaft, die Medizin und leider auch die Waffentechnik nutzen sie intensiv. Den Naturwissenschaften kommt daher eine besondere Verantwortung zu.“43

Jenseits der Museen und Science Center sind viele Initiativen entstanden, die sich für ein Public Understanding of Science einsetzen. Die Popularisierung von (Natur)Wissenschaft und Technik ist allerdings nicht nur als eine Maßnahme des Empowerments zu verstehen. Dahin gehende Bemühungen müssen auch in Zusammenhang mit den in diesem Bereich auftretenden Krisen und der Technikkritik gesehen werden. Es geht nicht nur um die Popularisierung von Wissen, sondern um eine positive Einstellung zu Wissenschaft und Technik. Im Grunde geht auch die neue Abteilung „Abenteuer Forschung“ in eine ähnliche Richtung. In Kooperation mit dem Wissenschaftsfonds entstanden, reagiert sie – auch wenn der Blick teilweise in die Vergangenheit gerichtet wird – auf die Forderung, dass Museen auf aktuelle Fragestellungen und Forschungsergebnisse Bezug nehmen sollen. Viele der historischen Schaustücke 43 Zuna-Kratky, Technisches Museum Wien, 28 (wie Anm. 25).

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im Technischen Museum sind Zeugnisse herausragender technischer Entwicklungen. Die Abteilung „Abenteuer Forschung“ zielt darauf ab, das Publikum für die Bedeutung der Grundlagenforschung als Voraussetzung für technische Innovationen zu sensibilisieren  : „Unser Leben verändert sich ständig und meist sind es neue Erkenntnisse und Entdeckungen, die unseren Alltag beeinflussen. Diese Veränderungen verdanken wir Menschen, die anders denken, Neues ausprobieren und Gebiete erforschen, die vor ihnen niemand betreten hat  : GrundlagenforscherInnen lassen sich mit Neugierde, Ausdauer und Mut auf ein Abenteuer ein, dessen Ende oft ungewiss ist und setzen so wesentliche Impulse für den Fortschritt.“ 44

Fragestellungen, wie Wissenschaft und Technologien gesellschaftlich wirksam werden, sind tatsächlich von höchster Aktualität. Im Unterschied zur Abteilung „Alltag – eine Gebrauchsanweisung“, in der technische Verfahrensweisen und Geräte in einem konkreten historischen Kontext verankert werden, sind hier (Natur-)Wissenschaft und Technik als selbstreferenzielle Systeme dargestellt. Die fatale Fehlbewertung der Wissenschaftsgenese als linearer und konsistenter Prozess vergrößert im Grunde die Kluft und führt letztlich zu einer Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaft.45 Modulartig konzipiert soll hier anhand von einzelnen Themen (Batterie, Röntgenstrahlung, Verschlüsselungsmaschine Enigma, Bionik, Cochlea Implantat, Spieltheorie) veranschaulicht werden, wie Grundlagenforschung „funktioniert“, wie aus der Beobachtung von Naturphänomenen, aus Neugierde der ForscherInnen oder als Antwort auf konkrete Problemstellungen neue Erkenntnisse entstehen. So erfährt das Publikum, dass sich unser Wissen über den elektrischen Strom Galvanis zufälliger Beobachtung zuckender Froschschenkel verdankt oder dass die ebenfalls zufällige Entdeckung der Röntgenstrahlen die Medizin revolutionierte. So interessant die einzelnen Kapitel aufbereitet sein mögen, grundlegende Fragen wären aber auch  : Was wird vom wem als Fortschritt definiert  ? Und wie wirkt er sich auf unser aller Leben

44 Text zur Abteilung „Abenteuer Forschung“ auf der Website des Technischen Museums, . 45 Marc-Denis Weitze/Wolf Andreas Liebert, Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft – Probleme, Ideen und künftige Forschungsfelder, in  : Wolf-Andreas Liebert (Hg.), Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft  ? Wissenskulturen in sprachlicher Interaktion, Bielefeld 2006, 7–18, hier 8f.

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aus  ? Die Einführung des Fließbandes kann unter der Prämisse der Massenproduktion als Fortschritt für die Fertigungstechnik betrachtet werden. Für viele Unternehmen bedeutete diese Innovation eine ungeheure Profitmaximierung, doch eine Reihe kleinerer Gewerbebetriebe büßte aufgrund der Konkurrenz ihre Existenz ein. Und ob die ArbeiterInnen an den Fließbändern die monotone und körperlich höchst beanspruchende Tätigkeit auch als Fortschritt betrachtet haben, ist fraglich. Die billigere Massenware ließ breitere Schichten an einer vielfältigeren Palette an Konsumgütern teilhaben. Gleichzeitig führte der Massenkonsum zu einer stetigen Verknappung an Ressourcen und produzierte eine enorme Menge an Abfallprodukten, die zu einer immer größeren Umweltbelastung führten. Der Gestus der Ermächtigung, mit dem viele Initiativen Wissenschaft und Technik einer breiteren Öffentlichkeit nahebringen möchten, bestätigt jedoch zugleich deren besonderen gesellschaftlichen Status. Indem das Interesse an den „Wundern der Technik“ geweckt, Spannung und Spaß erzeugt werden, tragen technische Museen und Science Center jedoch mehr zur Befriedung des Konflikts zwischen Wissenschaft und Gesellschaft bei. Wollten sie hingegen Partizipationsmöglichkeiten eröffnen, müssten sie die BesucherInnen befähigen, Zusammenhänge erkennen und hinterfragen zu können.46 Obwohl die Wissensvermittlung heute visualisierter denn je ist, besteht eine Kluft zwischen dem Reichtum visueller Erfahrungen und der Fähigkeit, diese auch einordnen und analysieren zu können. Im Zeitalter der fortschreitenden Medialisierung mögen Ausstellungen zwar in gewisser Weise antiquiert anmuten, doch ein Vorteil des Mediums Ausstellung liegt in der weniger vorstrukturierten Rezeptionssituation von Ausstellungen, in denen das Publikum zwar mit einer Vielfalt an visuellen Eindrücken konfrontiert, aber keiner „Bilderflut“, die kaum Raum zur Reflexion lässt, ausgesetzt ist. Gerade die Statik des Mediums Ausstellung ist es, die einen zweiten, einen nachträglichen, einen reflektierenden Blick ermöglicht. Die visuelle Medien(kompetenz), die sich das Publikum bei der Ausstellungsrezeption durch das Zerlegen und immer wieder neue Zusammensetzen von Bildern und Narrativen aneignet, könnte auch für die Rezeption anderer Medien hilfreich sein. Eben darin besteht – nach Michael Fehr – eine besondere 46 Vgl. Silke Bellanger, Zwischen Nähe und Distanz. Vermittlung von Wissenschaft und Technik in Science Centers, in  : Jutta Allmendiger (Hg.), Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig, Opladen 2003, 915–927.

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Chance für die Weiterentwicklung der Museumsidee und die Rehabilitation der altehrwürdigen Häuser in der Mediengesellschaft  : indem sie nicht länger als Wissensspeicher, sondern als Orte konzipiert werden, an denen die Bedingungen der Herstellung von vorhandenem Wissen dargestellt werden, als Räume, die die Fiktionen, derer wir zur Orientierung in der Welt bedürfen, als solche präsentieren.47 Unter diesen Vorzeichen gewinnen Repräsentationsformen, in denen gebrochene Technikbilder oder strukturelle gesellschaftliche Zusammenhänge veranschaulicht werden, an Bedeutung für die Auseinandersetzung mit zeithistorischen Phänomenen.

47 Michael Fehr, Kunst – Museum – Utopie. Fünf Thesen, , 25.4.2010.

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Massenmord, Antisemitismus, Shoah sowie die Aufklärung darüber und die Prävention im Sinne eines „Nie wieder  !“ bilden die Folie, vor der die Entstehung und Bedeutung jüdischer Museen in Österreich seit 1945 zu sehen ist.1 Kurt Schubert und Jonny Moser hielten dies exemplarisch im Begleitband zu ihrer Ausstellung Der gelbe Stern in Österreich, die seit 1977 im damals noch nicht fertig renovierten Wertheimerhaus des Österreichischen Jüdischen Museums in Eisenstadt gezeigt wurde, fest  : „Die Ausstellung ‚Der gelbe Stern in Österreich‘ versucht die Geschicke und die Geschichte der österreichischen Juden im 20. Jahrhundert in einer anschaulichen Form einem breiteren Publikum – im besonderen aber den jungen Österreichern – darzubieten. Die Ausstellung und die diesem Kataloge folgende historische Darlegung sollen vor Augen führen, wie der Antisemitismus die Katastrophe der österreichischen Juden 1938 bis 1945 vorbereitete, zum Massenmord führte, und welche Lehren aus dem schrecklichen Geschehen zu ziehen sind, um nie wieder Menschen derart zu behandeln.“2

Die Zeit des Nationalsozialismus und ihre Folgen für die österreichische Nachkriegsgesellschaft stehen somit vorrangig im Zentrum einer Analyse der Bedeutung jüdischer Museen für die österreichische Zeitgeschichtsforschung sowie der Vermittlung von Zeitgeschichte für eine breitere Öffentlichkeit. Vieles in jüdischen Museen und auch ihre verschlungenen Entstehungsgeschichten kreisen um die Präsenz oder Absenz, die subkutane Anwesenheit der Shoah und den öffentlichen Umgang mit ihr in der österreichischen Gesellschaft. Noch weiter gefasst sind jüdische Museen letztlich Ergebnisse einer gesamtgesellschaftlichen, vor allem nichtjüdischen Auseinandersetzung 1 Kurt Schubert, Die Geschichte des österreichischen Judentums, Wien – Köln – Weimar 2008, 134. 2 Jonny Moser/Kurt Schubert, Vorbemerkung, in  : Der gelbe Stern in Österreich. Katalog und Einführung zu einer Dokumentation (Studia Judaica Austriaca V), Eisenstadt 1977, 3.

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mit dem Nationalsozialismus und der Judenverfolgung  ; sie sind damit als Institutionen per se geschichtspolitische Interventionen in die österreichische Zeitgeschichte und in die Museumslandschaft. Sie greifen in hegemoniale Diskurse ein, die den kollektiven Opferstatus Österreichs bzw. der Österreicher behaupten. Diese Diskurse, die jüdische Opfer ausklammerten oder negierten, prägten lange Zeit große Teile der österreichischen Museumslandschaft wie auch maßgeblich die universitäre und auch außeruniversitäre wissenschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und Kultur.3 Interventionen sind jüdische Museen auch deshalb, weil deren Protagonisten mit ihrer Gründung und der damit verbundenen steten Bezugnahme auf die NS-Zeit, auf Antisemitismus und Judenverfolgung einen Wandel des vorherrschenden Geschichtsbildes beabsichtigten. Ihre Gründungen – wie auch jene der universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen für jüdische Geschichte und Kultur – gingen mit einer Transformation des österreichischen historischen Bewusstseins einher. Jüdische Museen und Forschungseinrichtungen zu jüdischen Studien sind in diesem Kontext somit einerseits Ergebnisse des Wandels und andererseits auch Akteure desselben. Sie stellen zudem Eingriffe in dominante Geschichtsnarrative dar, indem sie abseits der Erinnerung an und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah die Darstellung jüdischer und vor allem österreichisch-jüdischer Beziehungsgeschichte zum Inhalt ihrer Arbeiten machen. Sie behandeln nicht nur innerjüdische und religiöse Themen auf Basis von jüdischen Quellen oder Objekten, sondern zumeist auch Aspekte der nichtjüdisch-jüdischen Beziehungsgeschichte und treten auf diese Art und Weise im historischen und gesellschaftlichen Ausverhandlungsprozess über die Stellung und Rolle von Jüdinnen und Juden in der österreichischen Geschichte und Zeitgeschichte auf. 3 Während in der 1946 im Künstlerhaus in Wien präsentierten Ausstellung Niemals vergessen  ! ein eigener Abschnitt – im Begleitband sind es 3 Seiten von rund 200 – dem Themenkomplex der Judenvernichtung gewidmet worden war, betitelte die Österreichische Nationalbibliothek 1953 eine Schau mit hebräischen Handschriften aus Deutschland mit Buchkunst des Morgenlandes. War somit 1946 jüdische Geschichte noch Teil, wenn auch geringer, der österreichischen/ europäischen Geschichte und Kultur, so war dies 1953 nicht mehr der Fall. Dieser Wandel entspricht jedoch auch weitgehend dem Wandel des österreichischen historischen Bewusstseins jener Zeit. Vgl. „Niemals vergessen  !“ Ein Buch der Anklage, Mahnung und Verpflichtung, Wien 1946, 60ff.; Bernhard Purin, Jüdische Geschichte und Kultur in Österreichischen Museen und Ausstellungen. Eine Bibliographie, in  : Wiener Jahrbuch für Jüdische Geschichte, Kultur & Museumswesen 1 (1994/95), 161–185, hier 162.

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Darüber hinaus vereinen jüdische Museen durch ihre von anderen Museen abweichenden Charakteristiken ein ganzes Bündel an Aufgaben in sich bzw. werden Erwartungen an sie herangetragen, die nicht zuletzt auch durch die jeweiligen Trägergruppen bestimmt sind. Daher muss eine Analyse jüdischer Museen und deren Bedeutung für die österreichische Zeitgeschichte auf verschiedenen Ebenen und unter heterogenen Gesichtspunkten erfolgen  : Neben den jeweiligen Entstehungskontexten müssen zunächst die Akteur/innen ihrer Gründung sowie ihre jeweiligen Betreiber ebenso in den Blick genommen werden wie die vorrangigen Rezipient/innen und Adressat/innen. Daraus ergibt sich weiters die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen in Bezug auf die Zeit vor 1938 und die NS-Zeit wie auch die jeweiligen identitären und gesellschaftspolitischen Bedeutungen der Museen. Schließlich muss sich die Analyse den konkreten Inhalten und Narrativen der Ausstellungen widmen und letztlich auch Veranstaltungen in den Blick nehmen, mit denen der begrenzte Raum des Museums verlassen wird.4

Jüdische Museen und die Transformationen des historischen Bewusstseins Die Erfahrungen des Nationalsozialismus, das Bemühen, den Status des „Jüdischen“ als des „Anderen“ aufzulösen, und eine tiefe Verwurzelung im christlich-jüdischen Dialog waren die Motivationen für Kurt Schubert, sich nach der Etablierung des Instituts für Judaistik an der Universität Wien 1966 der Gründung eines jüdischen Museums zuzuwenden.5 Denn, so Kurt Schubert, „durch das Institut konnte und kann eine soziale Kenntnis jüdischer Kultur vermittelt werden, aber die Breitenwirkung bleibt natürlich begrenzt. So bemühte ich mich schon Ende der 60er-Jahre um die Gründung eines jüdischen Museums in Eisenstadt, wo das ehemalige jüdische Viertel noch verhältnismäßig gut intakt war. Außerdem wurde der jüdische Friedhof in der Nazizeit nicht

4 Eine Analyse der Bedeutung jüdischer Museen für die Zeitgeschichte kann jedoch nicht alle Ausstellungen und Veranstaltungen beinhalten, weshalb ich mich hier auf eine Auswahl beschränke. 5 Kurt Schubert (1923–2007), studierte ab 1941 an der Universität Wien Orientalistik, unterrichtete ab 1945 am Institut für Orientalistik Hebräisch und begründete 1966 das Institut für Judaistik an der Universität Wien, vgl. , 18.7.2010.

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geschändet und im altehrwürdigen Wertheimerhaus befand sich eine ebenfalls nicht geschändete Synagoge. Somit gab es für mich keinen würdigeren Ort für ein jüdisches Museum als das Wertheimerhaus in Eisenstadt.“6

Schubert verfolgte mit der Gründung des Trägervereines „Österreichisches Jüdisches Museum in Eisenstadt“ im Jahr 1972 die Weiterführung seiner Arbeit am Institut für Judaistik für ein breites Publikum. Diese war bestimmt von der Überzeugung, dass nur „eine echte Kenntnis des Judentums die beste und wirksamste Waffe gegen den Antisemitismus sein“ könne.7 Die „Vermeidung antisemitischer Vorurteile bei Nichtjuden durch Kenntnis der tragenden Elemente jüdischer Kultur und Stärkung der eigenen Identität der Juden durch ein Selbstverständnis, das mehr von kultureller Selbstachtung als vom Antisemitismus her geprägt ist“, definierte er als die Kernaufgaben des Instituts und somit auch des Museums.8 Die beiden Aspekte der Aufklärung über das Judentum und der Abwehr des Antisemitismus spiegeln sich denn auch im Österreichischen Jüdischen Museum in Eisenstadt, einem der ersten jüdischen Museen im deutschsprachigen Raum nach 1945, und seinen Ausstellungen wider. Durch die Ausrichtung der seit 1992 bestehenden Dauerausstellung auf das jüdische Jahr, die Feste, Riten und Gebräuche sowie durch seine Gründungsgeschichte weicht es – ähnlich dem Institut für Judaistik – von allen übrigen jüdischen Museen und Forschungseinrichtungen ab. Am Anfang seiner Gründung stand das durch die Beobachtung von Antisemitismus und Judenverfolgung geprägte und christlich motivierte Engagement Kurt Schuberts und seiner Mitstreiter für eine breite Aufklärung über das Judentum im Dienste des „Nie wieder  !“. Zur Realisierung dieser Idee wurde schließlich ein passendes Gebäude gesucht und im Wertheimerhaus mit seiner nicht zerstörten Synagoge und dem jüdischen Friedhof von Eisenstadt gefunden.9 Alle weiteren wissenschaftlichen wie auch musealen Einrichtungen im Kontext der jüdischen Kultur und Geschichte in Österreich (und in Deutschland) stehen im Gegensatz zu Eisenstadt in unmittelbarer Beziehung zur er-

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Schubert, Geschichte des österreichischen Judentums, 133 (wie Anm. 1). Ebd., 129. Ebd., 133. Zum Friedhof vgl. Johannes Reiss, Hier in der heiligen jüdischen Gemeinde Eisenstadt, Eisenstadt 1995.

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innerungspolitischen Wende der 1980er-Jahre.10 So wurde beispielsweise 1988 in Graz an der Karl-Franzens-Universität in Erinnerung an die vertriebenen jüdischen Studierenden und Lehrenden der nach dem letzten Grazer Rabbiner und Universitätsdozenten benannte David-Herzog-Fonds gegründet, der auch als Vorläufer für das 2000 gegründete David-Herzog-Centrum (seit 2002 Centrum für Jüdische Studien) zu sehen ist.11 Ebenfalls 1988 wurde in St. Pölten das Institut für die Geschichte der Juden in Österreich (seit 2008 Institut für jüdische Geschichte Österreichs) gegründet.12 1991 folgte das Jüdische Museum Hohenems13 und 1990/93 das Jüdische Museum der Stadt Wien.14 Und als jüngste akademische Einrichtung wurde schließlich 2004 das Zentrum für jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg eingerichtet.15 All diese Institutsgründungen sind neben ihrer thematischen Fokussierung auf jüdische Kultur und Geschichte vor allem durch ihre enge Verknüpfung mit dem Wandel des österreichischen Geschichtsbewusstseins und des Umgangs mit dem Nationalsozialismus gekennzeichnet. So weist Klaus Lohrmann bezüglich der Gründung des Instituts für die Geschichte der Juden in Österreich darauf hin, dass dem gesamten Vorgang eine neue gesellschaftspolitische Situation zugrunde lag  : „Infolge der Waldheim-Debatte wurde zunehmend die Rolle Österreichs als Täternation der Shoah diskutiert. Die scharfen kontroversen Diskurse und deren kritischer Reflex fanden auch im Ausland ein gewaltiges Echo. Die Gründung eines Instituts zur Erforschung der jüdischen Geschichte Österreichs schien wohl ein angemessener Beitrag, politisches Umdenken zu demonstrieren.“16 10 Vgl. Cilly Kugelmann, Jüdische Museen in Deutschland. Versuch einer Standortbestimmung, in  : Akademie der Künste (Hg.), Denkmale und kulturelles Gedächtnis nach der Ost-WestKonfrontation, Berlin 2000, 239–249, hier 238. 11 Vgl. , 27.6.2010)  ; , 27.6.2010. 12 Vgl. , 3.2.2010. 13 Vgl. , 3.2.2010. 14 Vgl. , 3.2.2010. Das Museum wurde 1990 mit einer Ausstellung in provisorischen Räumen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien eröffnet, erst 1993 übersiedelte es in das Palais Eskeles, vgl. , 5.2.2010. 15 Gerhard Bodendorfer, Ein Forschungsinstitut für „Jüdische Kulturgeschichte“ in Salzburg, in  : Klaus Hödl (Hg.), Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 4), Innsbruck – Wien – München – Bozen 2003, 51–72. 16 Vgl. Klaus Lohrmann, Erinnerungen zur Vorgeschichte der Gründung des Instituts, in  : Juden in Mitteleuropa (2008), 18–21, hier 20.

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Lohrmann, 1988 Gründungsdirektor des Instituts in St. Pölten, bezog seine eigene Idee zur Einrichtung eines Forschungsinstituts aus seiner Beschäftigung mit der Ausstellung 1000 Jahre Österreichisches Judentum, mit der das neu renovierte Wertheimerhaus des Österreichischen Jüdischen Museums in Eisenstadt 1982 eröffnet wurde.17 War bei Schubert dessen Engagement für ein „Nie wieder  !“ und die christlich-jüdische Verständigung ausschlaggebend für die Museumsgründung, so war für Lohrmann die im Zuge der Recherchen für die Ausstellung in Eisenstadt offenkundig werdende Erkenntnis, dass vor allem die mittelalterliche österreichisch-jüdische Geschichte trotz umfangreichen archivalischen Materials bislang noch kaum bearbeitet worden war, das Motiv für die Initiierung eines Forschungsinstituts. Doch es dauerte schließlich von 1982 bis 1988 und bedurfte des Wandels der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, bis dieser Plan tatsächlich realisiert werden konnte. Symbolträchtig wurde als Standort für das neu gegründete Institut die alte, renovierte Synagoge von St. Pölten gewählt.18 Weitaus weniger aufgeladen, aber dennoch in Beziehung zum geschichtspolitischen Transformationsprozess kann die Gründung des Jüdischen Museums in Hohenems verstanden werden. Ausgangspunkt war in diesem Fall eine seit den 1970er-Jahren geführte lokale Debatte um die Frage der Erhaltung der historischen Bausubstanz des ehemaligen jüdischen Viertels in der Vorarlberger Kleinstadt.19 Auch hier war die Gründung des Jüdischen Museums im ehemaligen Haus der Familie Rosenthal im Jahr 1991, so dessen Gründungsdirektorin Eva Grabherr, „Ausdruck einer Veränderung des offiziellen Geschichtsbewusstseins der Stadt  : Die jüdische Vergangenheit ist von einer marginalen Fußnote der offiziellen städtischen Geschichte, der man sich lange nur ungern und oft von außen gezwungen erinnert hat, zu einem Hauptthema geworden, von dem man sich Besonderheit und städtisches Profil verspricht.“20 17 Klaus Lohrmann (Hg.), 1000 Jahre Österreichisches Judentum, Kat. Eisenstadt 1982. 18 , 22.6.2010. 19 Vgl. u.a. Johannes Inama/Jüdisches Museum Hohenems (Hg.), Ein Viertel Stadt. Zur Frage des Umgangs mit dem ehemaligen jüdischen Viertel in Hohenems (Schriften des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und des Jüdischen Museums Hohenems 2), Inns­ bruck – Wien 1997  ; Johannes Inama/Hanno Loewy (Hg.), „… an illussion | wohl eine Illusion“  ? The History and Presence of the Hohenems Synagogue. Geschichte und Gegenwart der Synagoge Hohenems, Hohenems 2004. 20 Vgl. Eva Grabherr, „Erinnerung ist Erinnerung an etwas Vergessenes.“ Die Wiederentdeckung

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Villa Heimann-Rosenthal in Hohenems, Sitz des Jüdischen Museums (Foto  : Dietmar Walser/Jüdisches Museum Hohenems)

Ebenfalls in die Mitte der 1980er-Jahre fallen die ersten Bemühungen um das Jüdische Museum Wien, dessen Gründung während der Waldheim-Krise beschlossen und anlässlich der Eröffnung der Ausstellung Vienna 1900 – Art, Architecture and Design im Juli 1986 in New York von Bürgermeister Helmut Zilk offiziell angekündigt wurde. 1990 wurde es als „Jüdisches Museum der Stadt Wien“ mit der Eröffnung der ersten Ausstellung realisiert.21 Auch abseits der politischen Willensbekundung zur Museumsgründung auf dem Höhepunkt der außenpolitischen Krise durch die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten treten in diesem Fall Aspekte der Erinnerungskultur und -politik mehrfach zutage. Einzelne Elemente der Dauerausstellung wie vor allem auch die Sammlungen des Museums verweisen auf die Bedeutung der Erinnerung im Kontext jüdischer Museen. In einem Beitrag zum 20-jährigen Bestehen des Jüdischen Museums Wien hielt Direktor Karl Albrecht-Weinberger fest  : der jüdischen Geschichte in einer Kleinstadt der österreichischen Provinz, in  : Wiener Jahrbuch für jüdische Geschichte, Kultur und Museumswesen 2 (1995/96), 57–77, hier 57. 21 Vgl. u.a. , 25.6.2010.

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„Das Hauptgebäude des Museums in der Dorotheergasse – ehemals ein kleines Stadtpalais, heute nach früheren Besitzern Palais Eskeles benannt, ist dem gedächtnis- und gedankenvollen Erinnern gewidmet  : Beim Eingang hat der Salzburger Künstler Josef Schwaiger in einer Rauminstallation die schimmernde Widmungs- und Gedenkinschrift des Jüdischen Museums gestaltet, im Auditorium folgen die ‚Installation der Erinnerung‘ der New Yorker Künstlerin Nancy Spero und die dem Andenken an seine Eltern und Geschwister gewidmete Judaica-Sammlung von Max Berger. Die überwältigende Fülle an Gegenständen im riesigen Glaskubus des Schaudepots erinnert daran, dass all dies – nach Raub und Brandschatzung, sodann Verlagerung in verschiedene Museen, Depots, auch Verstecke und schließlich Rückstellung – auf geradezu wunderbare Weise in dieser neuen Zusammenstellung überlebte.“22

Nimmt man zudem noch die „Außenstelle“ des Museums am Judenplatz hinzu, so verstärkt sich der Erinnerungskontext nochmals  : „Das Jüdische Museum Wien ist ein Ort des Gedenkens und des Wissens, ein kulturhistorisches Museum, das sich mit der Geschichte der Juden Wiens im Beziehungsgeflecht der österreichischen Geschichte durchaus im Blickwinkel europäischer Dimensionen befasst. Das unüberwindliche Faktum der Shoah macht dieses Haus zu einem Ort des Gedächtnisses. Die Institution versteht sich aber nicht als ein Holocaust-Museum, das entsprechende Ausstellungen veranstaltet und die Verfolgung zu einem Hauptthema macht.“23

Und auch wenn sich das Wiener Jüdische Museum nicht als Holocaust-Museum versteht, so ist es nach Eigendefinition in der Widmungs- und Gedenk­ inschrift eben oder vor allem doch auch ein Denkmal. „Es ist ein Denkmal für Millionen österreichische Juden, die über Jahrhunderte in dieser, ihrer Heimat gelebt und gewirkt haben. Ohne ihre hervorragenden Leistungen in allen Bereichen wäre Österreich nicht zu dem geworden, was es war und ist  ;

22 Karl Albrecht-Weinberger. 20 Jahre Jüdisches Museum Wien. Gedanken über ein „anderes“ Museum in Wien, in  : Wiener Jahrbuch für Jüdische Geschichte, Kultur und Museumswesen 9 (2010), 4–7, hier 5. 23 Ebd.

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für Hunderttausende österreichische Juden, die im Laufe der Geschichte aus ihrer Heimat vertrieben worden sind  ; für Zehntausende österreichische Juden, die zu verschiedenen Zeiten – zuletzt in den schrecklichen Jahren 1938 bis 1945 – wegen ihres Judentums ermordet wurden  ; für Tausende österreichische Juden, die sich auch nach 1945 wieder in Wien niedergelassen haben und einen wesentlichen Anteil am kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung dieser Stadt und dieses Landes hatten und haben – und auch in Zukunft haben mögen.“24

Jüdische Museen und Forschungseinrichtungen nach 1945 – Brüche und Kontinuitäten Trotz unterschiedlicher Gründungsgeschichten wie auch divergierender inhaltlicher Ausrichtungen in den Dauer- und Wechselausstellungen weisen die jüdischen Museen in Eisenstadt, Hohenems und Wien im Hinblick auf ihr gesellschafts- und geschichtspolitisches Profil Überschneidungen auf. Ihre Entstehung ist jeweils eng verbunden mit „Vergangenheitsbewältigung“ und ihren Transformationen. Darüber hinaus unternehmen alle Jüdischen Museen wie auch die thematisch eng mit ihnen verbundenen Forschungseinrichtungen parallel zu den sich wandelnden gesellschafts- und geschichtspolitischen Rahmenbedingungen den Versuch der Integration jüdischer Geschichte in die allgemeine (Landes-)Geschichte sowie den öffentlichen Repräsentationsraum. Dabei ist festzuhalten, dass es vor allem um die Frage des „Wie“ der Darstellung von Judentum und jüdischer Geschichte im Kontext der allgemeinen Geschichte geht. Ein „Wie“ der Darstellung, das eng an die Frage des „Wie“ in der Erinnerungsarbeit und an die Wandlungen jüdisch-nichtjüdischer Beziehungsgeschichte nach 1945 gekoppelt ist. Die Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und ihre Institutionalisierung im Österreich der Zweiten Republik steht in enger Verbindung mit dem Prozess der sogenannten „Vergangenheitsbewältigung“ der nichtjüdischen „Täter“- und „Mitläufer“-Gesellschaft. Dieser Konnex verweist zudem darauf, dass es sich nicht nur um eine neue „Mode“ der Geschichtsschreibung handelte, sondern in erster Linie um ein konkretes Politikum, wie dies Monika Richarz in Bezug auf die (Zeit-)Geschichtsschreibung etwa auch für die BRD und DDR konstatierte  : 24 , 25.6.2010.

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„Gleichzeitig aber ist klar, daß es sich hier [bei der Vielzahl an Publikationen zur jüdischen Geschichte] um mehr – oder um weniger – als Geschichtsschreibung handelt, nämlich um ein Politikum. Die Autoren sind politisch motiviert, und ihre Werke haben politische Funktion. Viele der 1988 erschienenen Bücher wurden finanziert von den Kommunen und mit einem Vorwort des Bürgermeisters versehen. Nach der kompletten Pensionierung der Altnazis war die Zeit gekommen, in der auch Stadtverwaltungen die Nützlichkeit solcher Forschungen erkannten – wenn nicht als politische Trauerarbeit, dann als Alibi.“25

Ähnliches konstatiert Jutta Held in Bezug auf jüdische Museen. Sie stellt fest, dass seit den 1970er-Jahren der Einzug der gesellschafts- und wissenschaftskritischen Diskussionen in die Museen diese veränderten. Im Zeichen der postmodernen Dezentrierung und Dezentralisierung wurden neue Museumstypen erfunden, deren Gründung einherging mit dem Bemühen der Kommunen, die Entindustrialisierung durch eine Kulturalisierung der Städte zu kompensieren. „Die Gründung der jüdischen Museen, die vermehrt seit den Achtzigerjahren erfolgte, ist in diesem historischen Rahmen zu sehen. Die Ethnisierung der Bevölkerung, die entsprechende Neuorientierungen in der kommunalen und nationalen Kulturpolitik auslöste, die Umstrukturierung der Städte, waren wichtige Voraussetzungen“26 für die Gründung von unterschiedlichen, einzelnen Bevölkerungsgruppen der Migrationsgesellschaft gewidmeten Museen. Im Fall der jüdischen Museen sind jedoch einzelne Besonderheiten zu berücksichtigen. So vor allem die „lange gemeinsame Geschichte, die zu intensiven kulturellen Austauschbeziehungen geführt hat“, wie auch die Shoah, die „diese (nie konfliktfreien) Beziehungen abrupt beendete und deren lastende Geschichte trotz aller mentalen Anstrengungen und diskursiven Erklärungsstrategien nicht zu ‚normalisieren‘ ist“.27 Dem ist freilich hinzuzufügen, dass die Zäsur des nationalsozialistischen Völkermordes nicht nur die jüdisch-nichtjüdische Beziehungsgeschichte seit der Emanzipationszeit beendete, sondern in weiterer Folge auch konkrete Auswirkungen auf die Frage der Trägerschaft der institutionalisierten wissenschaftlichen und musealen Beschäftigung mit jüdischer Geschichte wie 25 Monika Richarz, Luftaufnahme – oder die Schwierigkeiten der Heimatforscher mit der jüdischen Geschichte, in  : Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart (1991), 27–33, hier 8, 28. 26 Jutta Held, Jüdische Kunst im 20. Jahrhundert und die Konzeptionen der Museen. Zur Einführung, in  : Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 6 (2004), 9–17, hier 12. 27 Ebd., 13.

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auch der jeweiligen Rezipient/innengruppe hatte. Damit ist auch ein grundlegender Wandel der identitätspolitischen Dimensionen jüdischer Museen verbunden. Diesen Bedeutungs- und identitätspolitischen Wandel thematisieren Michael Brenner und Stefan Rohrbacher beispielhaft im Titel ihres Buches Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust.28 Denn nach 1945 könne mit Blick auf Europa nicht weiter von der im 19. Jahrhundert von jüdischen Wissenschaftlern entwickelten und zur Blüte gebrachten „Wissenschaft des Judentums“ gesprochen werden. Vielmehr etablierte sich in Deutschland und Österreich sehr zögerlich ab den 1950er- und 1960er-Jahren eine neue, vor allem von nichtjüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern getragene „Wissenschaft vom Judentum“, die zumeist die Fachbezeichnung „Judaistik“ trug und sich häufig an den Modellen der christlichen Theologie orientierte.29 Mit Blick auf die Geschichte der Wiener Judaistik, die ihre Vorläufer im Institut für Orientalistik hat, ist zudem festzustellen, dass Kontinuitätslinien nicht nur in die Zeit vor 1938, sondern auch in die NS-Zeit vorhanden sind, denn „die Grundlagen für den Aufbau einer aufklärerischen, philosemitischen Judaistik nach dem Holocaust waren in Wien mit der Ausbildung von Studenten unter anderen Vorzeichen bereits vor 1945 gelegt worden, so dass man wohl zu Recht von einer Kontinuität, wenn auch einer verschobenen, sprechen kann  : sie ist entnazifiziert und demokratisch geläutert.“30

Ähnliche Verschiebungen sind auch im Bereich der jüdischen Museen festzustellen. So entstanden jüdische Museen am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Bewusstsein der jüdischen Gemeinden heraus, dass im Zuge der Akkulturations- und Assimilationsprozesse jüdische Eigenständigkeit gefährdet sei. Die Angst vor dem Verlust jüdischer religiöser und kultureller Identität führte, ausgehend von der jüdischen Volkskunde, letztlich zur Errichtung und Etablierung jüdischer Museen. Denn „ein Weg, sich zu vergewissern, wer man sei,

28 Michael Brenner/Stefan Rohrbacher (Hg.) Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000. 29 Vgl. Kugelmann, Jüdische Museen in Deutschland, 240 (wie Anm. 10). 30 Dirk Rupnow, Brüche und Kontinuitäten. Von der NS-Judenforschung zur Nachkriegsjudaistik, in  : Mitchell Ash/Wolfram Niess/Ramon Pils (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, 79–110, hier 108.

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war das Sammeln von Objekten aus der jüdischen Kultur und Geschichte“.31 Ziel war es, durch das Sammeln von Ritualgegenständen und den Aufbau von Judaika-Sammlungen, vermeintlich gefährdete jüdische Traditionen zu bewahren und an die Jugend weiterzugeben  : „Die systematische Erforschung und Dokumentation der eigenen Traditionen in jüdischen Museen vor 1933 belegt den Wandel und Verlust solcher Traditionen ebenso wie den Bedarf an Selbstbildern, die diese Geschichte der Juden im Kontext allgemeiner Zivilisationsgeschichte und der zeitgenössischen ästhetischen und wissenschaftlichen Diskurse ansiedelten. Sammlungen, Ausstellungen und Museen sollten die Eigenart jüdischer Kultur zeigen, und damit aufrufen zur Traditionsbesinnung. Und sie sollten deutsche Nichtjuden über Wert und Leistung jüdischer Kultur aufklären und damit beitragen zur öffentlichen Verständigung über die Geschichte der jüdischen Minderheit, deren Bedrohung durch antisemitische Angriffe in der Öffentlichkeit“32

stetig zunahm. Mit denselben Intentionen, die Sabine Offe für den ganzen deutschsprachigen Raum am Ende des 19. Jahrhunderts konstatierte, wurde nach zweijährigen Vorarbeiten der „Gesellschaft für Sammlung und Konservierung von Kunst- und historischen Denkmälern des Judentums (Museumsgesellschaft)“ 1895 auch das Wiener Jüdische Museum von einer Gruppe wohlsituierter und akkulturierter Wiener Juden gegründet.33 Diese erste jüdische Museumsgründung in Europa hatte zumindest drei Zielrichtungen  : Den Kampf gegen den Antisemitismus, das Interesse am historischen Judentum und die Einschreibung in das gesellschaftliche Gedächtnis.34 Von Relevanz ist in diesem Zusammenhang, dass die Gründung des Museums in jener Zeit erfolgte, als die Auseinandersetzungen um die Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Wiener Bürgermeister ihren Höhepunkt erreicht hatten. Bei den jüdischen Eliten Wiens führten diese Kontroversen zu der Einsicht, dass das bis zumindest in 31 Jens Hoppe, Jüdische Geschichte und Kultur in Museen. Zur nichtjüdischen Museologie des Jüdischen in Deutschland, Münster – New York – München – Berlin 2002, 310. 32 Sabine Offe, Was (nicht) zu sehen ist. Über Jüdische Museen in Deutschland heute, in  : Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 6 (2004), 19–36, hier 21. 33 Vgl. Klaus Hödl, Wiener Juden – jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 9), Innsbruck – Wien – Bozen 2006, 71. 34 Ebd., 72–77.

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die 1880er-Jahre uneingeschränkt geltende Assimilations- und Akkulturationsnarrativ zu hinterfragen und eine Rückbesinnung auf jüdische Identität notwendig sei. Ein Mittel dieser Rückbesinnung und Neupositionierung war die Gründung des Wiener Jüdischen Museums, das nicht nur die Welt des Sakralen durch Judaika ausstellte, sondern auch Aspekte jüdischen Alltags (z. B. „Die gute Stube“) in die Ausstellung integrierte. Von Bedeutung ist dabei, dass das Wiener Museum mit seiner umfangreichen Sammlung für ein vorrangig jüdisches Publikum errichtet worden war und auch von diesem besucht wurde. Die Intention der Einschreibung jüdischer Kultur und Geschichte in das kulturelle Gedächtnis, die letztlich auch nennenswerte nichtjüdische Besucherzahlen benötigt hätte, konnte trotz ihrer Anlage in der Ausstellung nur ungenügend in die Realität umgesetzt werden. Mit der Vertreibung und Ermordung der Wiener/österreichischen jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten, dem Raub ihres Vermögens und der Zerstörung ihrer kulturellen Einrichtungen wurde auch das Wiener Jüdische Museum geschlossen  : Der Museumsverein wurde aufgelöst, die Sammlung „arisiert“ und auf unterschiedliche Einrichtungen verteilt. Einzelne Teilbestände überdauerten die NS-Zeit in der Obhut der Israelitischen Kultusgemeinde oder wurden nach 1945 an diese restituiert. Die IKG stellte 1992 schließlich ihre Sammlung dem Jüdischen Museum Wien als Dauerleihgabe zur Verfügung, womit eine Kontinuität in die Zeit vor der Shoah gegeben ist. Allerdings ist diese eine gebrochene/verschobene Kontinuität, denn sowohl die Trägerschaft des Museums, seine Intentionen als auch seine vorrangigen Rezipient/innengruppen wandelten sich  : Waren es bis 1938 Mitglieder der jüdischen Gemeinde, so sind es in der Zweiten Republik in der Regel die Kommunen oder entsprechende Museumsgesellschaften, in denen die öffentliche Hand vorherrschend ist, wobei die jeweiligen Kultusgemeinden mit Sitzen in den Beiräten oder Trägervereinen vertreten sind. Auch richten sich die jüdischen Museen im Gegensatz zu jenen in den USA nicht mehr an ein vorrangig jüdisches Publikum, sondern vor allem an ein nichtjüdisches. Jüdische Museen haben damit nach 1945 vor allem mit nichtjüdischen Identitätspolitiken zu tun. Ein Umstand, an dem sich auch die jeweiligen Ausstellungen orientieren.35 Dieser gebrochenen/verschobenen Kontinuität als ein Charakteristikum jüdischer Museen nach 1945 trägt das Jüdische Museum Wien durch die In35 Sabine Offe, Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich, Berlin – Wien 2000, 96f.

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stallation des Schaudepots Rechnung. Dieses Depot als Aufbewahrungsort der Sammlungen des Museums beinhaltet mehrheitlich Judaika, Sakralgegenstände aus den ehemaligen Wiener Synagogen, aus Bethäusern, privaten Haushalten und dem alten Jüdischen Museum. Diese Gegenstände, die ab 1938 von den Nationalsozialisten aus ihrem ursprünglichen Nutzungskontext herausgerissen und zum Teil (etwa in der Reichspogromnacht) beschädigt wurden, überdauerten die NS-Zeit an unterschiedlichen Orten. Nach 1945 gelangten sie auf verschiedenen Wegen in die Sammlung der IKG Wien oder die Sammlung Max Berger und somit letztlich in das Jüdische Museum Wien. Dort werden sie gemeinsam mit Ankäufen und Schenkungen sowie den Überresten der Sammlung des alten Jüdischen Museums im Schaudepot in Form eines Mahnmales den Besucher/innen dargeboten, wobei im Wesentlichen auf die Geschichte der Sammlung und Sammlungsgegenstände fokussiert wird – auf eine Geschichte der gewaltsamen Säkularisierung der Objekte, des Verlusts, der Zerstörung und des Raubes, die bis in die Gegenwart wirkt. Im Raumtext des Schaudepots wird diese Intention den Besucher/innen folgendermaßen dargelegt  : „Von der blühenden Gemeinde zur Zerstörung. Hunderte Schofarhörner, Torakronen, Toravorhänge, Chanukkaleuchter, Kidduschbecher, Sederteller und Krüge. Handgetriebene Silber- und Goldschmiedearbeit neben maschinengefertigter Dutzendware. Das Schaudepot ist kein Ausstellungsraum im eigentlichen Sinn. Es bietet den Besuchern die seltene Gelegenheit, die gesamten Bestände des Museums einzusehen. Die große Fülle an Objekten verweist auf die ehemals blühende jüdische Gemeinde in dieser Stadt. Die meisten der hier gezeigten Gegenstände sind eine Dauerleihgabe der Israelitischen Kultusgemeinde. Sie wurden nicht gesammelt, sondern 1938 und in den Folgejahren brutal aus ihrem alltäglichen Zusammenhang gerissen  : aus Synagogen, Bethäusern, privaten Haushalten. Verkohlte Ritualobjekte berichten vom Novemberpogrom 1938, als die Nazis in Wien an die 50 Synagogen und 100 Bethäuser in Brand steckten oder verwüsteten.“ 36

Mit der Installation des Schaudepots thematisiert das Jüdische Museum Wien einen der zentralen Aspekte jüdischer Museen in Deutschland und Österreich nach 1945 wie auch ihre Einbettung in die Zeitgeschichte. Sabine Offe er36 Vgl. , 7.7.2010.

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Schaudepot des Jüdischen Museums Wien (Foto  : Jüdisches Museum der Stadt Wien)

weitert den Aspekt der gewaltsam verschobenen/gebrochenen Kontinuitäten schließlich von den Sammlungen auf die gesamte Institution jüdischer Museen in Deutschland und Österreich. In Bezug auf die nach 1945 hoch komplexen und brisanten Fragen, „ob Themen und Inhalte jüdischer Museen ‚jüdisch‘ seien“ oder „ob ihre Konzeption von Nichtjuden oder Juden entwickelt wird“ hält sie fest  : „Sie [die Fragen] konfrontieren mit der Ungeheuerlichkeit der gegenwärtigen Jüdischen Museen als einer Einrichtung, die die Geschichte der Ermordeten, das, was von Gegenständen, die ihnen gehörten, übrig blieb, dem Blick der Täternachkommen aussetzt, in Museen, deren Mehrzahl von Nichtjuden geplant und verwaltet werden.“37

37 Offe, Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen, 95f. (wie Anm. 35).

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Jüdische Museen – Erinnerung und Gedächtnis Aufgrund der Zerstörung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in Europa spielen Gedächtnis und Erinnerung für jüdische Museen eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu Holocaust-Museen und -Gedenkstätten steht die Shoah jedoch nicht im unmittelbaren Zentrum ihrer Arbeit. Dass Erinnerungsarbeit für die einzelnen jüdischen Museen jedoch hohe Relevanz besitzt, ist exemplarisch auf der Homepage des Jüdischen Museums in Hohenems festgehalten  : „Das Jüdische Museum Hohenems erinnert an die landjüdische Gemeinde Hohenems und deren vielfältige Beiträge zur Entwicklung Vorarlbergs und der umliegenden Regionen. Und es beschäftigt sich mit jüdischer Gegenwart in Europa, mit Diaspora und Migration. Dazwischen steht das Ende der Jüdischen Gemeinde von Hohenems, markiert durch die regionale NS-Geschichte, Vertreibung und Deportation, Antisemitismus und Holocaust. Entlang dieser Bruchlinien der regionalen und globalen Geschichte widmet es sich den Menschen und ihren Geschichten und pflegt Beziehungen zu den Nachkommen jüdischer Familien aus Hohenems in aller Welt.“38

Das Museum ist in diesem Verständnis Erinnerungsort und Akteur bei der Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses zugleich, wobei sich das Jüdische Museum in Hohenems mit diesen Grundsatzüberlegungen wie auch in der seit 2007 neu gestalteten Dauerausstellung nicht nur auf eine lokale/regionale historische Verortung beschränkt, sondern bemüht ist, die Geschichte über den Bruch des Nationalsozialismus hinweg bis in die Gegenwart darzustellen sowie europäische und internationale Bezugspunkte miteinzubeziehen. 39 Auch ist diese Arbeit nicht auf den Ort des Museums beschränkt, sondern wirkt über diesen weit hinaus, wie anhand unterschiedlicher Ausstellungsprojekte festgemacht werden kann.40 Der Bezug zur Gegenwart und zu zeitgeschichtlichen Fragen wird in Hohenems neben der Thematisierung von Vertreibung und Ermordung zwischen 1938 und 1945 vor allem durch einen Blick auf die jüdische Geschichte des 38 , 29.6.2010. 39 Zur Dauerausstellung vgl. , 18.6.2010  ; Hanno Loewy (Hg.), Heimat Diaspora. Das Jüdische Museum Hohenems, Hohenems 2008. 40 Vgl. Hanno Loewy/Peter Niedermair (Hg.), Hier. Gedächtnisorte in Vorarlberg 38–45, Hohenems 2008.

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Ortes nach 1945 (Hohenems als DP-Camp) und durch die Reflexion von Erinnerung und Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte nach 1945 hergestellt. Konkret werden dabei auch die Geschichte des eigenen Hauses und der Nachkommen ehemaliger Hohenemser Jüdinnen und Juden, die in Videointerviews über ihre Familie, Identität, Migration und die individuelle Bedeutung von Hohenems sprechen, behandelt.41 Die internationale Dimension ist dabei (abseits allgemeiner Globalisierungstendenzen) vor allem darauf zurückzuführen, dass die Nachkommen der ehemaligen Hohenemser Jüdinnen und Juden – wie auch jene der ehemaligen Wiener und Eisenstädter jüdischen Bevölkerung – nicht mehr vor Ort, sondern in verschiedensten europäischen und außereuropäischen Ländern leben. Für sie stellen die einzelnen jüdischen Museen ebenfalls Erinnerungsorte, aber auch Anlaufstellen in Fragen der Familiengeschichte dar. So werden nicht selten den einzelnen jüdischen Museen von Angehörigen ehemaliger Hohenemser oder Wiener Jüdinnen und Juden Gegenstände, Erinnerungstücke etc. für deren Sammlungen übergeben. Die Museen und ihre Sammlungen werden damit selbst zu „Archiven“ zeitgeschichtlicher Auseinandersetzung und Forschung. Sie sind nicht nur „passive“ Erinnerungsorte für ehemalige österreichische Jüdinnen und Juden und deren Angehörige, sondern sie treten selbst aktiv in den Prozess der Erinnerungsarbeit ein, in dem sie den Kontakt zu Überlebenden und deren Nachkommen suchen. Ein Vorgang, der sowohl in Hohenems wie auch exemplarisch an der „Schachtel der Erinnerungen“ des Jüdischen Museums Wien dargestellt werden kann.42 Als das Wiener Jüdische Museum 1992 den Bestand der IKG Wien in seine Sammlung übernahm, befand sich darunter ein Karton mit der Aufschrift  : „Dr. Franz und Anna Bial/am 27. Mai 1942 abtransportiert/3. Paket/Tochter Lilly Bial, geb. 1926/1939 nach England gefahren“.43 In der Schachtel befan41 Die Dauerausstellung in Hohenems erstreckt sich über zwei Stockwerke, wobei das Dachgeschoss der Geschichte von 1938 bis in die Gegenwart gewidmet ist. Im ersten Obergeschoss wird die jüdische Geschichte von Hohenemes von der Ansiedlung bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts dargestellt. 42 Ausgehend vom Jüdischen Museum in Hohenems wurden und werden einzelne Aspekte der jüdischen Geschichte von Tirol und Vorarlberg erforscht. So entsteht beispielsweise aktuell in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck eine Biografische Datenbank der jüdischen Bevölkerung in Tirol und Vorarlberg vor 1938. Datenbanken zu den jüdischen Grabsteinen am Friedhof in Hohenems sowie eine Dokumentation der Häuser des Jüdischen Viertels in Hohenems wurden bereits abgeschlossen. 43 Michaela Feuerstein-Prasser (Hg.), Jüdisches Museum Wien von A bis Z, München – Berlin – London – New York 2006, 42.

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den sich Erinnerungstücke (Fotos, Briefe, Postkarten, Filmprogramme, Klaviernoten, …), die die Eltern von Lilly Bial ihrer Tochter, die 1939 mit ­einem Kindertransport nach England entkommen konnte, nachsenden wollten. Allerdings verblieb die Schachtel in Wien und gelangte aus wahrscheinlich pragmatischen Gründen – Menschen, die deportiert wurden, hinterlegten immer wieder Gegenstände bei der IKG in der Hoffnung, dass diese zu einem späteren Zeitpunkt von Angehörigen abgeholt werden würden – in den „Einsammlungsbestand“ der IKG Wien und geriet dort nach 1945 in Vergessenheit. Das Jüdische Museum rückte diese Schachtel und ihren Inhalt schließlich „als alleiniges materielles Zeugnis einer zerstörten Familie in den Mittelpunkt der musealen Vermittlungsarbeit“.44 Aufgrund von Recherchen der Schweizer Autorin Katharina Geiser konnte schließlich im Jahr 2004 Lilly Bial ausfindig gemacht und ihr die Schachtel übergeben werden. Sie behielt sich einige Erinnerungstücke, übergab den Rest jedoch wieder dem Museum.45 Das Jüdische Museum Wien betrieb somit zum einen Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte, thematisierte Aspekte des Raubes und der Restitution und rückte zum anderen die Aspekte von individueller und kollektiver Erinnerung in das Zentrum seiner musealen Arbeit. Darüber hinaus thematisierte es die Problematiken seines musealen Erbes und verließ den Rahmen rein musealer Tätigkeit. Das Jüdische Museum Wien wurde so Akteur in Fragen zeitgeschichtlicher und gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit der NSVerfolgungsgeschichte und deren Aufarbeitung nach 1945.

Jüdische Museen – Erwartungen „Museen, alle Museen, sind kulturelle Institutionen, die an der Konstruktion und Deutung gesellschaftlicher Erfahrungen in der Öffentlichkeit beteiligt sind.“46 In diesem von Sabine Offe definierten Sinne sind Museen Teil der Öffentlichkeit, die „kulturelle Leistungen der Selbstdeutung, der symbolischen und sprachlichen Verständigung“ ermöglichen. Im speziellen Fall sind jüdische Museen damit Teil eines andauernden Prozesses der öffentlichen Verständigung über die Deutung der jüdisch-deutschen bzw. jüdisch-österreichischen 44 Ebd. 45 Felicitas Heimann-Jelinek, Anna, Franz und Lilly Bial, in  : Alexandra Reininghaus (Hg.), Recollecting. Raub und Restitution, Wien 2009, 129. 46 Sabine Offe, Was (nicht) zu sehen ist, 28 (wie Anm. 32).

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Gedenkraum am Ende der Dauerausstellung im Österreichischen Jüdischen Museum Eisenstadt. Ein solches Transparent (Reproduktion) war 1938 von den Nationalsozialisten über der Dorfstraße von Hornstein in der Nähe von Eisenstadt angebracht worden. (Foto  : Österreichisches Jüdisches Museum, Eisenstadt)

Geschichte und der NS-Verbrechen, aber auch der Selbstdeutung der jeweiligen Museumsbesucher/innen. Sie nehmen dadurch eine Sonderstellung in der Museumslandschaft ein, die gleichzeitig dazu führt, dass an sie besondere Erwartungen und Aufgaben herangetragen werden, die nicht selten mit gehobenen museums- und ausstellungsdidaktischen Ansprüchen verbunden sind. Dies kann an mehreren Ausstellungen, die sich mit Fragen des Antisemitismus beschäftigten, abgelesen werden.47 Der Kampf gegen den Antisemitismus, die 47 Vgl. u.a. Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.), Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen (eine Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien in der Volkshalle des Wiener Rathauses vom 27. April bis 31. Juli 1995), Wien 1995  ; Antijüdischer Nippes, populäre „Judenbilder“ und aktuelle Verschwörungstheorien. Die Sammlung Finkelstein im Kontext. Jüdisches Museum Hohenems, 16. Oktober 2005 bis 26. Februar 2006. Dazu auch Falk

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Aufklärung über Judentum wie auch Aspekte der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit mit Fokus auf die Verfolgung der Jüdinnen und Juden wurden und werden häufig im Verantwortungsbereich jüdischer Museen lokalisiert, wodurch sie letztlich mit ähnlichen Anforderungen wie Gedenkstätten konfrontiert sind  : Erinnerungs-, Lern- und Gedenkort in einem zu sein. Ein Umstand, dem in Eisenstadt sowohl durch das Gebäude als auch durch eine Installation zur „Fremdverwendung von jüdischen Grabsteinen“48 und einen Gedenkraum am Ende der Dauerausstellung Rechnung getragen wurde. Jüdische Museen befinden sich somit an der Nahtstelle von konventionellen Museen und Gedenkstätten. Die Implementierung von Gedenk- und Erinnerungszeichen in die Museen wie auch die jeweilige Geschichte der Museumsgebäude führen nicht selten zur Erwartungshaltung, dass ein Besuch eines jüdischen Museums ähnlich wie der einer Gedenkstätte gleichsam gegen Rassismus und Intoleranz immunisieren sollte. Jüdischen Museen wird die Aufgabe überantwortet, nicht nur aufzuklären und Wissen zu vermitteln, sondern gleichsam durch die „Aura“ des Ortes und der Objekte die Besucher/innen zu läutern. Eine Erwartungshaltung, die auch immer wieder im Zusammenhang mit Holocaust-Gedenkstätten formuliert wurde und wird.49 Sichtbar wird dies beispielsweise auch an einzelnen Besucherreaktionen auf die Ausstellung Jetzt ist er bös, der Tennenbaum. Die Zweite Republik und ihre Juden, die von April bis Juli 2005 im Jüdischen Museum Wien gezeigt wurde und sich mit der ambivalenten Haltung der nichtjüdischen gegenüber der jüdischen Bevölkerung nach 1945 beschäftigte. Im Gästebuch des Museums finden sich diese Erwartungshaltungen in Form von kurzen Einträgen, die vor allem die „kritischen“ und „unbequemen“ Dimensionen des Gezeigten in den Mittelpunkt rücken  : „Die Ausstellung vermittelt Geschichte und Wissen, unbequem, zum kritischen Nachdenken anregend.“ Wiesemann, Antijüdischer Nippes und „populäre Judenbilder“. Die Sammlung Finkelstein, Essen 2005  ; Hanno Loewy (Hg.), Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien, Essen 2005. 48 Die Installation zeigt Fragmente jüdischer Grabsteine, die wahrscheinlich vom jüngeren Friedhof in Eisenstadt stammen. Sie wurden im Frühjahr 1945 als Panzersperren und nach dem Krieg für den Bau einer Werkstätte verwendet, bevor sie durch einen Hinweis von Anrainern entdeckt wurden. 49 Vgl. Gerald Lamprecht, Der Gedenktag 5. Mai im Kontext österreichsicher Erinnerungspolitik, in  : Informationen zur Politischen Bildung 32/2010, 30–38.

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„Ich mag das Museum, weil es die Wahrheit zeigt und weil es still ist (13 Jahre).“ „Schön in Wien zu sein, aber mir ist ganz schlecht. Gut zu wissen, woher wir kommen, wenn’s auch schmerzt.“50

Allgemeine Ablehnung, verweigerte Restitution und Nichtanerkennung der jüdischen Opferschaft, durchgehend auch auf einer individuell-biografischen Ebene gezeigt, bildeten zentrale Aspekte der Ausstellung, die jedoch weder im anklagenden noch im wehleidigen oder gar Mitleid erheischenden Duktus inszeniert worden war. Vielmehr bevorzugten die Gestalter und Kurator/ innen eine weitgehend neutrale und sachliche Formensprache („Raumkunst der Zurückhaltung“51), die die Dokumente und komplexen Inhalte ins Zentrum rücken sollte. In das Konzept integriert waren weiters acht bekannte Kinderspiele, die für die Inhalte der Ausstellung adaptiert wurden und den Besucher/innen Perspektiven von Jüdinnen und Juden in der österreichischen Nachkriegsgesellschaft eröffnen sollten. Auch wenn die Schau seitens des Jüdischen Museums nicht als „kritischer Beitrag“ für das „Gedankenjahr“ 2005 konzipiert worden war, wurde sie als solcher rezipiert – ein Umstand, auf den die Besucherreaktionen verweisen, der jedoch vor allem den besonderen Erwartungshaltungen gegenüber jüdischen Museen geschuldet sein dürfte.52 Es sind dies Erwartungen kritischer, im dominierenden Diskurs nicht berücksichtigter Erzählungen  : Jüdische Museen sollen jene Geschichten erzählen, die andere Museen und Ausstellungen nicht zeigen wollen und/oder zeigen können – eine Aufgabenverteilung in der Museums- und Ausstellungslandschaft, die im Jahr 2005, abgesehen von einzelnen Ausnahmen, auch eindrucksvoll bestätigt wurde.53 Es sind dies Erwartungen, 50 Hannah Landsmann, Österreich ist, wenn es richtig weh tut. Reflexionen und Reaktionen zur Ausstellung „Jetzt ist er bös, der Tennenbaum. Die Zweite Republik und ihre Juden“ (20. April bis 4. Juli 2005. Jüdisches Museum Wien), in  : eforum zeitgeschichte 1/2005, , 28.6.2010. 51 Martin Kohlbauer, Inszenierung ohne Design. Gedanken zur Gestaltung der Ausstellung „Jetzt ist er bös, der Tennenbaum“, in  : Felicitas Heimann-Jelinek (Hg.), Jetzt ist er bös, der Tennenbaum. Die Zweite Republik und ihre Juden, Wien 2005, 12f. 52 Karl Albrecht-Weinberger, Ein „vatermörderisches Projekt“  ? Eine Ausstellung zum heuchlerischen Umgang von Österreichern mit der NS-Zeit, in  : Heimann-Jelinek, Jetzt ist er bös, der Tennenbaum, 7f., hier 8. 53 An dieser Stelle sei auf die Ausstellung „heiß umfehdet, wild umstritten …“. Geschichtsmythen in Rot-Weiß-Rot verwiesen, die von April bis Oktober 2005 im Museum der Stadt Villach gezeigt

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die vor allem von nichtjüdischer Seite an die Museen herangetragen werden und diesen damit erneut eine Sonderstellung zuweisen. Sie führen dazu, dass das „Jüdische“ noch immer als das „Andere“, nun eben in Form und Inhalt der jüdischen Museen wahrgenommen wird. Während jüdische Museen auf der einen Seite eine Integration jüdischer Geschichte und Kultur in das kulturelle Gedächtnis betreiben, verweist ihre Sonderstellung unter den öffentlichen Museen zugleich darauf, dass diese Integration wie auch eine Normalisierung der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungsgeschichte bislang nicht erfolgt ist. Im Zusammenhang mit diesen Erwartungen stehen auch die Bemühungen der Museen selbst, jüdische Geschichte und Kultur in der Gedächtnislandschaft Österreichs zu verorten sowie als Akteure in den Ausverhandlungsprozess der Darstellung jüdischer Geschichte einzugreifen. Auch in diesem Zusammenhang bleibt festzuhalten, dass sich die meisten Ausstellungen an ein nichtjüdisches Publikum richten und entweder – wie im Fall von Eisenstadt – grundsätzliche Informationen über jüdische Religion und Kultur anbieten oder – wie im Fall von Hohenems und Wien – an der grundsätzlicheren Frage des „Wie“ der Darstellung von Jüdinnen und Juden in der österreichischen bzw. lokalen/regionalen Geschichte arbeiten. Dabei geht es vor allem darum, jüdische Geschichte und Kultur, aber auch jüdisches Leben nicht außerhalb oder am Rand der Gesellschaft, sondern als integralen Bestandteil der österreichischen Gesellschaft darzustellen. Diese im Gegensatz zu lange Zeit hegemonialen Geschichtsbildern stehende Darstellung erfolgt in der Dauerausstellung in Hohenems für die Zeit vor 1938 ebenso wie im Hologramm von Felicitas Heimann-Jelinek und einzelnen Wechselausstellungen des Jüdischen Museums Wiens.54 Exemplarisch sei hier auf die Ausstellung Wien, Stadt der Juden. Die Welt der Tante Jolesch, die 2004 von Joachim Riedl kuratiert wurde, verwiesen.55 Riedl stellte dem Katalog programmatisch ein und von Lisa Rettl und Werner Koroschitz kuratiert wurde. Zum Jubiläumsjahr 2005 vgl. auch Rudolf de Cilla/Ruth Wodak (Hg.), Gedenken im „Gedankenjahr“. Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identitäten im Jubiläumsjahr 2005, Innsbruck – Wien – Bozen 2009. 54 „Jüdisches Wien – Eine Annäherung in 21 Hologrammen“ ist Bestandteil der Dauerausstellung des Jüdischen Museums Wien und beleuchtet anhand von 21 Hologrammen (dargestellt sind Fundstücke der jüdischen Geschichte Wiens) unterschiedliche Aspekte der Wiener jüdischen Geschichte „vom Getto bis zum Riesenrad“. Dabei zeigt sich dem Betrachter jedoch immer nur ein Teilaspekt, abhängig von dessen Standpunkt, womit die Instabilität von Geschichte und die Standortabhängigkeit der historischen Betrachtung thematisiert werden. 55 Die Ausstellung wurde von Joachim Riedl für das Jüdische Museum Wien kuratiert und war von 19. Mai 2004 bis zum 31. Oktober 2004 zu sehen.

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Zitat des Historikers Hans Tietze aus dessen 1933 erschienenen Buch Die Juden Wiens voran  : „Völker leben gegeneinander, füreinander, ineinander. Das Wiener Judentum ist vom Überfluß der schönsten und kulturell reichsten deutschen Stadt gewachsen  ; es hat hier die höchste Fruchtbarkeit entwickelt, die irgendeinem westlichen Judentum beschieden war. Es hat genommen und gegeben, zersetzt und geformt  ; es hat gelebt und leben geholfen, so daß es ein Teil von Wiens Vergangenheit und damit von Wiens Gegenwart geworden ist. Ohne Juden wäre Wien nicht, was es ist, wie ohne Wien ihr Dasein in den neueren Jahrhunderten seiner stolzesten Seite verlustig ginge. Kein Eingriff der Welt vermag diesen Lebensprozeß rückgängig zu machen.“56

Eine Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang erneut Eisenstadt dar, dessen Dauerausstellung sich vorrangig mit dem jüdischen Jahr, der Religion, den Festen und den Riten beschäftigt und die jüdisch-nichtjüdische Beziehungsgeschichte in einen „Gedenkraum“ auslagert sowie in der Installation „Fremdverwendung von jüdischen Grabsteinen“ thematisiert. Es geht somit um den Ausgrenzungs- und Vertreibungsaspekt und weniger um die Frage nach jüdisch-nichtjüdischem Miteinander und Austausch oder auch eines jüdischen Beitrages zur österreichischen bzw. burgenländischen Kultur.

Conclusio Es ist deutlich, dass jüdische Museen gleich auf mehreren Ebenen und unter verschiedenen Gesichtspunkten eine entscheidende Rolle bei der musealen Darstellung und Vermittlung österreichischer Zeitgeschichte spielen  : als Einrichtungen, die aufgrund ihrer Entstehungsgeschichten Ergebnisse und Antrieb eines Wandels des österreichischen historischen Bewusstseins sind  ; durch die von ihnen dargestellten und vermittelten Inhalte  ; und nicht zuletzt, weil ihre Existenz und konkrete Ausstellungs- und Museumsarbeit stets in Beziehung zur nationalsozialistischen Judenverfolgung und deren Aufarbeitung nach 1945 steht. Jüdische Museen sind zentrale Akteure im zeitgeschichtlichen und gedächtnispolitischen Diskurs der österreichischen Gesellschaft.

56 Joachim Riedl (Hg.), Wien, Stadt der Juden. Die Welt der Tante Jolesch, Wien 2004, 6.

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Nenn sie nicht „Wehrmachtsausstellung“! Wenn Musealisierung von Zeitgeschichte etwas bewirken möchte

Die Bundesheerschau am Wiener Heldenplatz ist ein Publikumsmagnet. Hunderttausende Menschen strömen jedes Jahr am österreichischen Nationalfeiertag zu den Kriegsgeräten, Ausstellungszelten und Vergnügungsattraktionen. Besonders viel Anklang finden die ausgestellten Zerstörungs- und Tötungsmaschinen. Doch das Bundesheer versucht sich nicht als Tötungsinstitution zu präsentieren, sondern als Verteidigerin der Demokratie, Beschützerin des Landes und als helfende Hand bei Naturkatastrophen und Auslandseinsätzen. Szenenwechsel zu einer anderen in Österreich gezeigten Schau. Zu sehen sind wieder Kriegsgeräte sowie uniformierte und nichtuniformierte Menschen. Doch weder die Geräte noch die Menschen sind greifbar. Man kann sie nicht berühren, nicht mit ihnen sprechen. Sie befinden sich in einer anderen Zeit, gebannt auf zweidimensionales Papier. Und dennoch ist das, was zur Schau gestellt wird, ganz nah, zwar nicht von Menschen angreifbar, aber in der Lage, Menschen anzugreifen, sie zu treffen. Auch diese Schau war ein Publikumserfolg. Täglich strömten Tausende Menschen zu ihr. In den Medien wurde die Schau „Wehrmachtsausstellung“ genannt, doch der Titel war irreführend. Im Gegensatz zur alljährlichen Veranstaltung am Heldenplatz, bei der das Österreichische Bundesheer sich selbst ausstellt, ging es nicht darum, eine Armee auszustellen oder zur Schau zu stellen. Es ging vielmehr darum, sie bloßzustellen. Die Ausstellung verurteilte die Führung der Armee Nazideutschlands und sie wehrte sich zudem gegen einen pauschalen Freispruch der einfachen Wehrmachtssoldaten. Mit anderen Worten  : Die „Wehrmachtsausstellung“ war von ihrem Inhalt her eine Wehrmachtsverbrechen-Ausstellung und von ihrer Funktion her eine Wehrmachtsanklage-Ausstellung. Und nachdem die Wehrmacht eine Masseninstitution war, in der große Teile der Gesellschaft vertreten waren, ging die Anklage weit über die Wehrmacht hinaus.1

Die in diesem Buchbeitrag vertretenen Ansichten sind ausschließlich jene des Autors und nicht jene der EU-Grundrechteagentur, für die er zum Zeitpunkt der Beitragsgestaltung tätig ist. 1 Rund 1,2 Millionen Österreicher dienten während des Zweiten Weltkriegs in der Wehrmacht.

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Das trifft zumindest für die erste Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht zu, die im Jahr 1995 das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Die 2002 lancierte Nachfolgeausstellung war wesentlich defensiver gestaltet, versuchte sich weg von einer Anklage zu bewegen. Im Folgenden möchte ich zuerst allgemein diskutieren, welche Möglichkeiten die Musealisierung von Zeitgeschichte bietet, um dann darauf einzugehen, welche Möglichkeiten die beiden Wehrmachtsverbrechen-Ausstellungen genützt und welche sie ungenutzt gelassen haben.

Einige Thesen zur Musealisierung von Zeitgeschichte Wozu gibt es Museen und Ausstellungen, die sich mit Geschichte beschäftigen  ? Zur Unterhaltung  ? Zur Bildung  ? Zur Reflexion  ? Doch was reflektieren  ? Das Gestern  ? Das Heute  ? Oder beides  ? Was ist Wissen wert, das sich auf die Vergangenheit beschränkt  ? Was sind politische Ereignisse der Vergangenheit ohne Berücksichtigung der politischen Situation im Hier und Heute  ? Was ist etwa der Holocaust ohne Betrachtung der Menschenrechte in der Gegenwart  ? Wer hat die Macht im Museum  ? Die Bilder  ? Die Texte  ? Die VermittlerInnen  ? Oder die BesucherInnen  ? Fängt ein Ausstellungsbesuch im Museum an  ? Und wo hört er auf  ? Kann man eine Ausstellung besucht haben, ohne jemals am Ausstellungsort gewesen zu sein  ? Ausgehend von diesen Fragen möchte ich im Folgenden sechs Kriterien diskutieren, die meiner Ansicht nach wirkungsvolle und sinnvolle Musealisierung ausmachen  : 1. Die Distanz zwischen Gestern und Heute auf ein Minimum verringern. 2. Das Lokale mit einbeziehen. 3. Fragen stellen, Geschichten erzählen – und ebendiese Geschichten hinterfragen. 4. Den BesucherInnen Macht geben. 5. Die Grenzen des Museums sprengen. 6. Musealisierung 2.0. Die Distanz zwischen Gestern und Heute auf ein Minimum verringern

Geschichte ist Zeitgeschichte, wenn sie lebendige Geschichte ist. Lebendig ist Geschichte, wenn die Menschen, die mit ihr konfrontiert werden, einen Bezug zwischen der Geschichte und ihrem Leben herstellen können. Wird

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Geschichte in einer Art und Weise musealisiert, dass zwischen dem, was dargestellt wird, und der Lebens- und Verständnisrealität der BetrachterInnen eine unüberbrückbare Distanz hergestellt wird, findet ein Prozess der Entzeitgeschichtlichung statt, unabhängig davon, wie weit oder wie nah das historische Ereignis zurückliegt. Etwas drastischer ausgedrückt  : Distanz zur betrachtenden Person macht Geschichte wirkungslos, sie verkommt zur reinen (guten oder schlechten) Unterhaltung. Nehmen wir als Beispiel die Geschichte der Ermordung von Millionen Juden durch das nationalsozialistische Regime und seine Gefolgsleute. Die Nazis haben monströse Verbrechen begangen, aber waren die Personen, die die Verbrechen ausgeführt haben, Monster (d. h. Menschen, die von ihrem Wesen und Denken ganz anders waren als wir „normalen“ Menschen)  ? Es hat unvorstellbare Gräueltaten gegeben, aber sind diese Gräueltaten deshalb unerklärbar  ? Hitler war eine zentrale Figur in dem diktatorischen nationalsozialistischen Regime, aber war der Holocaust das Werk eines einzelnen (dämonischen) Menschen  ? Ausgangspunkt und Entscheidungszentrum der Verbrechen war das Deutsche Reich, aber war die Ideologie, die den Taten zugrunde lag, wirklich nur in Deutschland und Österreich präsent  ? Der Holocaust ist ein Genozid, der in der Art und Weise, wie er durchgeführt wurde, einzigartig ist, aber ist er deshalb unvergleichbar mit anderen Genoziden  ? Monsterartige Menschen, dämonische Einzeltäter, Unerklärbarkeit, … Es gibt zig Wege, wie sich Distanz zum Holocaust herstellen ließe – und viele dieser Wege wurden in den vergangenen Jahrzehnten in der (Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch umgesetzt und praktiziert, sei es in der Schule, in den Tagesmedien, im Film oder im persönlichen Gespräch. Es gibt aber genauso viele Wege, diese Distanz aufzulösen und Nähe herzustellen, nicht nur in Form von emotionaler Betroffenheit, sondern auch eine Nähe in Sachen Reflexion und Analyse. Nähe produziert Anknüpfungsfähigkeit und schafft somit die Voraussetzung für Auseinandersetzung, aber Nähe birgt natürlich auch Gefahren, die bei der Musealisierung von Geschichte zu berücksichtigen sind. Nähe kann dazu verleiten, dass man es sich zu einfach macht mit Parallelisierungen und Vergleichen. Nähe birgt auch die Möglichkeit und Versuchung in sich, historische Ereignisse für gegenwärtige Interessen zu instrumentalisieren. Dennoch ist die Herstellung von Nähe unumgänglich und keines der mit Nähe verbundenen Risiken sollte als Vorwand benutzt werden, um aus anknüpfungsfähiger Geschichte historische Ereignisse zu machen, die vom Hier und Heute isoliert sind.

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Das Lokale mit einbeziehen

Wie angepasst sollen Ausstellungen sein  ? Wie viel Integrationsleistung ist notwendig, damit ihre Inhalte verstanden werden  ? Wie viel lokalen Bezug braucht es, damit ein Selbstbezug durch die BetrachterInnen möglich wird  ? Anknüpfend an die Forderung, die Distanz zwischen Gestern und Heute zu minimieren, gilt es auch, Verstehens- und Einordnungsdistanzen im Heute auf ein Minimum zu reduzieren. Das heißt, es gilt nicht nur eine historische Nähe herzustellen, sondern auch eine räumliche und alltagskulturelle Nähe. Je näher Ausstellungen und ihre Aufbereitung an ihre BesucherInnen herankommen, desto größer ist die Chance, dass sie mehr als nur interessant sein können. Die Möglichkeit, einen Bezug zur lokalen Lebenspraxis herzustellen, ist eine Grundvoraussetzung für das Hinterfragen der eigenen Status- und Handlungsposition in der Gesellschaft. Die Vermittlung von Wissen über Gesellschaften, die als fern oder fremd wahrgenommen werden, lässt die eigene Position unberührt, sofern es den AusstellungsbesucherInnen nicht ermöglicht wird, Verbindungslinien zur oder Parallelen in der als „eigene Gesellschaft“ empfundenen Umgebung zu erkennen. Fragen stellen, Geschichten erzählen – und ebendiese Geschichten hinterfragen

Die erste Frage, die sich eine zeitgeschichtliche Ausstellung stellen und offen diskutieren muss, ist die nach dem Warum der eigenen Existenz. Was will sie zeigen  ? Wen will sie ansprechen  ? Worüber will sie aufklären  ? Was hinterfragen  ? Und wie steht sie zu anderen Ausstellungen, die ähnliche Themen behandeln  ? Es ist erstaunlich, wie selten Musealisierungen diese grundlegenden Fragen hinsichtlich ihrer Ziele und der eigenen Verortung im Feld der Musealisierung behandeln. Die zweite Frage, die eine zeitgeschichtliche Ausstellung behandeln sollte, ist die der eigenen Entstehungsbedingungen. Welches Material wurde ­verwendet, welches nicht  ? Woher kommt das Material  ? Wie vertrauenswürdig ist es  ? Wessen Perspektive stellt es dar  ? Welche Fragen beantwortet es und welche lässt es offen  ? Jede Geschichte hat eine zweite Geschichte, nämlich die ihrer Quellen und oft kommt noch eine dritte Geschichte hinzu, nämlich die des Materials, das nicht als Quelle, sondern als Illustration historischer Epochen oder Ereignisse dient. Ausstellungen sind niemals etwas natürlich Gewachsenes, sondern immer etwas von Menschenhand Konstruiertes und Auswahlprozessen Unterworfenes. Das gilt es offenzulegen und zu diskutieren.

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Die dritte Frage, die es zu beantworten gilt, ist jene nach dem Narrativ der Ausstellung. Wo nimmt die Ausstellung ihren Anfang  ? Wo endet sie  ? Wer sind die HauptakteurInnen  ? Welche Ereignisstränge werden miteinander verknüpft, welche Fakten und Erzählungen miteinander verwoben  ? Welche Schauplätze werden beleuchtet, welche bleiben im Dunkeln  ? Welche erzählerischen Mittel werden eingesetzt, um die gewählten Abläufe und Zusammenhänge darzustellen  ? Welche Sprache, welche Rhetorik wird verwendet  ? Welche visuellen Elemente finden Eingang in die Darstellung  ? Sollte jede zeitgeschichtliche Ausstellung von A–Z didaktisiert sein  ? Kann eine Ausstellung auch als Mittel zur Anregung von Reflexion funktionieren, wenn unklar bleibt, warum und für wen sie gemacht ist, wenn sie keine Geschichten erzählt und wenn sie nichts über ihre Entstehungsbedingungen verrät  ? Die Antwort lautet  : ja. Doch es ist ein „Ja“ unter Vorbehalt. Eine Ausstellung, die Resultat oder Teil einer breiten öffentlichen Debatte ist oder die ein Thema behandelt, das in der Öffentlichkeit oder in Bildungsinstitutionen bereits gut aufbereitet wurde, braucht möglicherweise nicht allzu viel Aufwand rund um die Erklärung der eigenen Existenz zu betreiben. In den meisten Fällen jedoch muss sich eine Ausstellung den oben angesprochenen Fragen stellen, um kritisch und selbstkritisch bilden zu können, speziell wenn es um jüngere Generationen, um Kinder und Jugendliche, Schülerinnen und Schüler geht. Auf keinen Fall sollte eine Musealisierung, die sich mit Zeitgeschichte auseinandersetzt oder Zeitgeschichte schafft, darauf verzichten, ihre eigenen Entstehungsbedingungen zu thematisieren, denn einer Reflexion, die von einer Ausstellung angeregt wurde, die sich selbst nicht reflektiert, haftet ein Makel an. Zwar kann auch eine solche Reflexion produktiv sein, aber einige der dieser Reflexion zugrunde liegenden Fragen bleiben zwangsläufig offen. Den BesucherInnen Macht geben

Museen sind Orte der Macht. Neben der Hoffnung auf Befriedigung von nos­ talgischen Wiedererkennungs- und Selbstbestätigungswünschen erwarten wir uns von einem Museum vor allem, dass es uns Wissen anbietet, das wir nicht haben, beziehungsweise dass es uns Dinge zeigen kann, die wir noch nicht gesehen haben. Museen sind aber auch Orte der Macht, weil sie die Breite, Tiefe und Ausgestaltung von Themen definieren können. Es gibt viele Möglichkeiten, die Macht von Ausstellungen zu brechen. Man kann sie ignorieren, man kann ihr misstrauen, sie nicht an sich heranlassen, man kann Fragen stellen, nach Widersprüchen suchen, man kann eine Füh-

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rung in Anspruch nehmen. Doch wer sagt mir, dass die Vermittlerin nicht die Macht der Ausstellung stützt, anstatt sie zu brechen  ? Und wer bricht die Macht der Vermittlerin  ? BesucherInnen haben Macht, wenn sie verstehen, wenn sie wissen, wo entlangzugehen, wenn sie selbstständig Dinge miteinander in Verbindung setzen und Zusammenhänge erkennen können, wenn sie keine ExpertInnenhilfe brauchen, um Quellen eruieren und Illustrationen einordnen zu können. BesucherInnen haben Macht, wenn sie nicht auf VermittlerInnen angewiesen sind, weil die Ausstellung selbst bereits vermittelt. Dies ist kein Plädoyer für eine Abschaffung von Führungen, sondern eines für eine veränderte Form und Funktion von Führungen. Führungen sollten in einem Raum stattfinden, der Dialog fördert, anstatt einen erklärenden Monolog notwendig zu machen. Führungen sollten in die Tiefe gehen können, anstatt zuerst die Oberfläche beschreiben zu müssen. Bedeutet das, dass BesucherInnen eine Ausstellung mächtiger verlassen sollen, als wie sie sie betreten haben  ? Was die Macht zur Selbstaneignung von Wissen und Reflexionsprozessen betrifft, auf alle Fälle. Was die eigene Position in der Gesellschaft betrifft, nicht unbedingt – denn Ausstellungen sollen nicht nur sich so weit wie sinnvoll gegenüber den BesucherInnen entmachten, sie sollen auch dazu beitragen, dass die BesucherInnen einen Anstoß zur Selbstermächtigung erhalten, wo sie benachteiligt sind, und einen Anstoß zur Selbstentmachtung erhalten, wo sie in einer privilegierten Position sind. Die Grenzen des Museums sprengen

Eine Ausstellung wird meist als in sich geschlossener Raum gedacht. Aber ist sie das  ? Und muss sie das sein  ? Ist nicht in Wahrheit eine Musealisierung, die sich nur innerhalb der Grenzen eines Ausstellungsraumes bewegt, eine Musealisierung mit Handicap, eine Musealisierung mit beschränkter Wirkung  ? Im Idealfall beginnt ein Ausstellungsbesuch schon, lange bevor man die Ausstellungsräume betritt, und endet nicht mit dem Verlassen des Ortes der Musealisierung, sondern erst viel später, vielleicht sogar nie. Zwar liegt es keineswegs allein in den Händen der AusstellungsgestalterInnen, Vor- und Nachbereitung anzubieten, sondern auch in der Hand von Schulen, Medien und nicht zuletzt in der Hand der BesucherInnen selbst, dennoch kommt den KuratorInnen und OrganisatorInnen von zeitgeschichtlichen Ausstellungen entscheidende Bedeutung zu. Ihnen stehen vielfältige Medien zur Verfügung, die Vorabkommunikation mit den BesucherInnen zu forcieren und zur Auseinan-

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dersetzung mit dem Thema anzuregen und auch die Mittel bereitzustellen, die eine eigenständige Auseinandersetzung ermöglichen. Es gibt zwei Dimensionen der Vor- und Nachbereitung  : die eine bezieht sich auf die Informationsressourcen, die den potenziellen BesucherInnen zur Verfügung gestellt werden, um sich individuell oder in einer Gruppe mit der ausgestellten Thematik zu beschäftigen, die andere bezieht sich auf das Anregen von Diskussion und Reflexion im medialen und öffentlichen Raum. Diese zweite Dimension lässt sich auch als Dimension der öffentlichen Politisierung beschreiben, die einen Konflikt herstellt und damit Auseinandersetzung notwendig macht. Einer temporären Ausstellung wird es in der Regel eher gelingen, öffentlich zu politisieren, als einer permanenten. Das Auftauchen und wieder Verschwinden lässt sich leichter in die mediale Aufmerksamkeitslogik integrieren als eine kontinuierliche Präsenz. Dennoch könnte auch eine permanente Ausstellung ein Ort der öffentlichen politischen Intervention sein, etwa indem bestimmte Ausstellungsteile flexibel gestaltet werden und damit eine Reaktions- und Interventionsmöglichkeit in Bezug auf öffentliche Debatten integriert wird. Musealisierung 2.0

Musealisierung 2.0 steht für die notwendige Interaktivität von Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte. Denn wenn Zeitgeschichte, wie zuvor festgehalten, per Definition einen Bezug zum Heute aufweist, dann braucht es die vielfältigen Erfahrungen und Perspektiven der Menschen, die im Heute leben, um ein breites Spektrum an realen Bezügen abzudecken. Interaktivität bedeutet Kommunikation zwischen der „Basisausstellung“ und dem, was an Erfahrungen, Kritik und Vorschlägen hinzukommt. Ist ein „Museum Wikipedia“ denkbar, in dem den BesucherInnen, wenn schon nicht die Macht zur Erstgestaltung, so doch die Macht zur Umgestaltung verliehen wird  ? De facto würde das bedeuten, dass eine Ausstellung damit nicht nur zum Ziel haben sollte, die Grenzen des Museums zu sprengen, sondern auch die Grenzen innerhalb des Museums weitgehend zum Verschwinden zu bringen, quasi eine museale Implosion, die neue Gestaltungstore öffnet und auch eine Vielzahl an Fragen und Problemen aufwirft – nämlich genau jene Fragen und Probleme, die auch den gesellschaftlichen Alltag beherrschen und die von monologischen Ausstellungen nur allzu oft negiert oder verdrängt werden.

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Die beiden Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht – Beispiele für gelungene Musealisierung  ? Vorweg ein kurzer Rückblick auf Geschichte, Inhalt und Dramatik zweier Ausstellungen, von denen die erste zum Politikum werden wollte und schließlich ihr (vorläufiges) Ende darin fand, dass sie es wurde. Die erste Wehrmachtsverbrechen-Ausstellung

Als im März 1995 die Wanderausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945 in Hamburg eröffnet wurde, war das Thema „Wehrmacht und NS-Verbrechen“ sowohl in Deutschland als auch in Österreich kein gefestigter Tabubereich mehr. Die Fassade der „Unschuld“ und „Anständigkeit“ der Wehrmacht hatte in der medialen Wahrnehmung bereits deutliche Risse bekommen. Dennoch war das Bild von der „sauberen“ Wehrmacht noch immer ein in der Öffentlichkeit dominantes, die Erzählungen vom tragischen Untergang der 6. Armee in Stalingrad und dem Opfertum der Soldaten nahmen auch noch in den 1990er-Jahren einen breiten öffentlichen Raum ein, wurden noch immer als symbolhaft für den Zweiten Weltkrieg angesehen. Die Geschichten von den Weltkriegsschlachten und den Werten des Soldatentums waren bis auf wenige Ausnahmen ungebrochen. Angesichts der Dis­ tanz zwischen der von HistorikerInnen aufgearbeiteten Faktenlage und dem in privaten und öffentlichen Diskursen kursierenden Bild der Wehrmacht war auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch immer einiges an Spielraum für Konfrontation und Provokation vorhanden.2 Das inhaltliche und kommunikative Konzept der Ausstellung basierte auf dem Anspruch, die Beweisführung dafür anzutreten, dass die Wehrmacht mehr als nur punktuell in die nationalsozialistische Verbrechenspolitik involviert war. Die einleitenden Worte im Ausstellungskatalog bringen auch sehr deutlich eine weitere Intention der Ausstellung auf den Punkt, nämlich explizit der nach Kriegsende fabrizierten Legende von der „sauberen Wehrmacht“ entgegenzutreten  : „1945, kaum daß Nazi-Deutschland besiegt war, begannen die ehemaligen Generäle mit der Fabrikation einer Legende – der Legende von der ‚sauberen 2 Vgl. Alexander Pollak, Die Wehrmachtslegende in Österreich. Das Bild der Wehrmacht im Spiegel der österreichischen Presse nach 1945, Wien 2002.

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Die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ im Stadtkino Salzburg (7. 3.–13. 4. 1998), veranstaltet vom Verein „Erinnern  !“ (Foto  : Albert Lichtblau)

Wehrmacht‘. […] 1995, fünfzig Jahre später, ist es an der Zeit, sich von dieser Lüge endgültig zu verabschieden und die Realität eines großen Verbrechens zu akzeptieren.“3

Inhaltlich war die Ausstellung in drei Fallbeispiele strukturiert, die jeweils unterschiedliche Schauplätze des Zweiten Weltkriegs behandelten  : den „Partisanenkrieg in Serbien“, die „6. Armee auf dem Weg nach Stalingrad“ und die „Dreijährige Besatzung Weißrusslands“. Die AusstellungsbesucherInnen sollten durch die drei historischen Fallstudien mit der Entwicklung und dem Charakter des Vernichtungskriegs in drei Ereignisräumen konfrontiert werden. Unterschiedliche Themen- und Handlungsbereiche des Vernichtungskrieges, etwa die Ermordung der Juden, die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen, der Krieg gegen ZivilistInnen, wurden in die drei Ereignisräume eingebettet. Zu erwähnen ist auch, dass 3 Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1999, 7.

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mit der „6. Armee auf dem Weg nach Stalingrad“ ein stark symbolbehaftetes Thema angesprochen wurde. Die Betrachtung der 6. Armee als Teil des Vernichtungskrieges stand in direkter Opposition zu den bis zu diesem Zeitpunkt dominanten Erzählungen vom schicksalhaften „Opfergang der 6. Armee“. Im Anschluss an ihre Präsentation in Hamburg begab sich die Ausstellung auf Wanderschaft durch zahlreiche deutsche und österreichische Städte.4 Im Oktober 1995 traf sie an ihrem ersten österreichischen Ausstellungsort ein, in Wien. Doch noch bevor die Ausstellung in Wien gezeigt wurde, hatten bereits Teile der österreichischen Medien mit einer Diskussion über die Korrektheit und Zumutbarkeit der Ausstellung begonnen. Der Tenor der Medienbeiträge fiel teils interessiert und faktenorientiert, teils deutlich ablehnend aus, wie dies etwa in der Kronenzeitung der Fall war, die als Reaktion auf die Wehrmachtsverbrechenausstellung eine Serie über „Unsere Kriegsgefangenen in sowjetischen Lagern“ lancierte. Zu einer größeren Häufung an öffentlicher Aufmerksamkeit und medialer Berichterstattung kam es allerdings erst im Zuge der Ausstellungspräsentation in Wien. Ähnliches spielte sich hinsichtlich des Aufmerksamkeitszyklus auch an anderen Ausstellungsorten in Österreich ab. Dazu sind eine Reihe an Publikationen erschienen, die sich auch mit der öffentlichen Debatte auseinander gesetzt haben.5 Ein wichtiger Katalysator für die Öffentlichkeitswirksamkeit der Ausstellung waren die Proteste gegen sie. Einen Höhepunkt erreichten die Bekundungen für und wider die Ausstellung im Jahr 1997 rund um deren Eröffnung in München. Es kam zu politischen Kontroversen und sowohl Anti-Ausstellungs- als auch Anti-Nazi-Demonstrationen. Von diesem Punkt an war die Ausstellung ein Politikum – PolitikerInnen in Deutschland und zum Teil auch in Österreich kamen nicht umhin, Position zu beziehen. Im März 1997 kam es sogar zu einer eigens einberufenen aktuellen Stunde im deutschen Bundestag, in der über die Ausstellung debattiert wurde.

4 Die Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 wurde in 33 Städten in Deutschland und Österreich gezeigt. Laut Angaben des Hamburger Instituts für Sozialforschung haben ungefähr 800.000 Menschen die Ausstellung besucht. Die Nachfolgeausstellung wurde an 11 Orten in Deutschland sowie in Wien und Luxemburg gezeigt. Insgesamt sahen über 420.000 Menschen die Ausstellung. 5 Vgl. Ulf Brunnbauer (Hg.), Eiszeit der Erinnerung. Vom Vergessen der eigenen Schuld, Wien 1999  ; Helga Embacher (Hg.), Umkämpfte Erinnerung. Die Wehrmachtsausstellung in Salzburg, Salzburg 1999  ; Verein Zebra (Hg.), Nur Hinsehen macht frei. Vorträge, Kommentare, Analysen zur Ausstellung, Graz 1998.

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Die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ im Stadtkino Salzburg (7. 3.–13. 4. 1998), veranstaltet vom Verein „Erinnern  !“ (Foto  : Albert Lichtblau)

Im November 1999 – viereinhalb Jahre nach ihrer Eröffnung – kam das Aus für die Ausstellung. Der Ausstellungseigentümer Jan Philipp Reemtsma verhängte ein Moratorium über sie und setzte eine HistorikerInnenkommission zu deren Untersuchung ein. Grund dafür war der Druck öffentlicher Kritik an einigen falsch zugeordneten bzw. falsch untertitelten Fotos – in manchen Medien wurde diesbezüglich sogar von „Fälschungen“ gesprochen. Die zweite Wehrmachtsverbrechen-Ausstellung

Trotz eines weitgehend entlastenden HistorikerInnenberichtes Anfang November 2000, der den Aussagen der Ausstellung wissenschaftliche Korrektheit attestierte und nur eine geringe Anzahl an Fotos bzw. deren Bildunterschriften beanstandete, wurde vonseiten des Hamburger Instituts für Sozialforschung beschlossen, keine Überarbeitung bzw. Korrektur der bestehenden Ausstellung vorzunehmen. Stattdessen wurde die Erstellung eines neuen Ausstellungskonzepts in Auftrag gegeben. Ende November 2001 war es dann so weit, die neue Wehrmachtsverbrechen-Ausstellung mit dem nur leicht abgewan-

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delten Titel Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941– 1944 wurde in Berlin eröffnet. Das inhaltliche und vor allem das kommunikative Konzept hatten sich allerdings deutlich verändert.6 Die neue Ausstellung sollte eines auf keinen Fall sein  : angreifbar. Und sie sollte weniger anklagend und „provokativ“ sein als ihre Vorgängerin. Sie präsentierte sich nicht nur deutlich vergrößert, sondern auch neu strukturiert. Während die erste Wehrmachtsverbrechenausstellung stellvertretend für die Involvierung der Wehrmacht in Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit drei Fallbeispiele behandelte, war die neue Ausstellung in drei Räume und unterschiedliche Themenbereiche gegliedert. Zudem gab sich die neue Ausstellung selbstreflexiv und setzte sich mit der Problematik der Verwendung von historischen Bildquellen und der Frage der Beweiskraft von Bildmaterial auseinander. Der erste Raum der neuen Ausstellung behandelte die Frage von Krieg und (Völker-)Recht, die Beteiligung der Wehrmacht am Völkermord, die Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen sowie Repressalien gegen die Zivilbevölkerung und Geiselerschießungen durch die Wehrmacht. Im zweiten Raum wurden die Rolle der Wehrmacht bei Deportationen und bei Zwangsarbeit, der Partisanenkrieg sowie der „Ernährungskrieg“ (das Aushungern und Verhungern lassen von Kriegsgefangenen und von ganzen Dörfern und Städten und Regionen) behandelt. Der dritte Raum schließlich beschäftigte sich mit der Frage, welche Handlungsspielräume die einzelnen Wehrmachtsangehörigen hatten, und er thematisierte den Umgang mit Wehrmachtsverantwortlichen und Kriegsrückkehrern in der Nachkriegszeit. Zudem wurden die Kontroversen rund um die erste Wehrmachtsausstellung nachgezeichnet und kommentiert. Vom Tabubruch zur „Sachlichkeit“

Standen bei der ersten Ausstellung – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – noch die Fotos im Vordergrund, so bot die neue Wehrmachtsverbrechen-Ausstellung vor allem viel Lesestoff und erst in zweiter Linie Bilder und Originaldokumente als Betrachtungspunkte an. Darüber hinaus hatte sich der Einleitungstext deutlich geändert  : Keine Rede mehr von einer Lüge, von der 6 Siehe Alexander Pollak, Die Historisierung eines Tabubruchs. Von der umstrittenen Entmythologisierung des Wehrmachtsbildes zur versachlichten Dokumentation des Vernichtungskrieges, in  : Zeitgeschichte 29 (2002) 2, 56–64.

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Die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskriegs1941–1944“ im Semper-Depot in Wien (9. 4.–26. 5. 2002), veranstaltet von der Akademie der bildenden Künste Wien und Büro trafo.K (Filmstill  : Anja Salomonowitz)

es sich zu verabschieden gelte, stattdessen wurde nüchtern aufgelistet, welche Themenbereiche im Rahmen der Ausstellung behandelt und dokumentiert werden.7 Die neue Ausstellung beschränkte sich darauf, eine Dokumentation historischer Daten und Ereignisse anzubieten sowie historisches Quellenmaterial zu präsentieren. Die Ausstellung selbst enthielt somit – sieht man von zwei zentralen Erwähnungen ab  : nämlich des Völkerrechts und der Tatsache, dass es sich um „keinen Krieg im herkömmlichen Sinne“ gehandelt habe – keine Wahrnehmungsvorgabe mehr, sondern ließ den Diskussionskontext der ersten Ausstellung auf sich wirken.

7 Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944, Hamburg 2002, 9–14.

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Von Geschichten zu Dokumenten

Die unterschiedlichen kommunikativen Zugangsweisen der beiden Ausstellungen spiegelten sich auch deutlich im jeweiligen erzählerischen Aufbau wider. Während die erste Wehrmachtsverbrechen-Ausstellung mit dem „Partisanenkrieg in Serbien“, der „6. Armee auf dem Weg nach Stalingrad“ und der „Dreijährigen Besatzung Weißrußlands“ drei Geschichten erzählte, bildeten die im Zentrum der zweiten Ausstellung stehenden sechs Dimensionen der Beteiligung der Wehrmacht am Vernichtungskrieg – „Völkermord an den sowjetischen Juden“  ; „Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen“  ; „Ernährungskrieg“  ; „Deportationen von Zwangsarbeitern“  ; „Partisanenkrieg“  ; „Repressalien und Geiselerschießungen“ – eine wesentlich fragmentiertere Struktur. Lediglich in einem eigenen kleinen Raum, in dem eine Art Hörspiel zum Thema „Handlungsspielräume“ stattfand, wurde das Erzählen von „Geschichten“ als Vermittlungselement benutzt. Überraschenderweise wirkt die zweite Wehrmachtsverbrechen-Ausstellung, trotz ihrer Textfülle, an einigen Stellen unterinformierend. Dies traf vor allem auf jenen Ausstellungsbereich zu, der sich mit der Nachkriegszeit auseinandersetzte. Zudem fällt aus österreichischer Sicht auf, dass die Ausstellung kaum Österreichbezüge aufwies. Von der Gesellschaftskritik zur Selbstkritik

Was die neue von der alten Ausstellung ganz wesentlich unterschied, war, dass sie ihre eigenen Entstehungsbedingungen und Arbeitsmethoden reflektierte, dazu zählt auch, dass sie auf die erste Ausstellung implizit und auch explizit Bezug nahm. Ein impliziter Bezug wurde durch die Diskussion von Fotos als historische Quelle hergestellt  : „Die Fotografie ist für die historische Forschung eine noch wenig genutzte Quelle. Zu vielfältig scheinen die Probleme bei der Überprüfung von Authentizität und Wahrheitsgehalt zu sein. Gleichzeitig verstärken die fehlenden oder widersprüchlichen Angaben in den Archiven die bestehende Unsicherheit im Umgang mit bildlichen Quellen. Das methodische Handwerkszeug zur angemessenen Deutung von Fotos ist bisher kaum entwickelt.“8

8 Ebd., 106.

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Anhand konkreter Beispiele behandelte die zweite Ausstellung Fragen der Fotoüberlieferung in Archiven, der Authentizität von Bildmaterial, der Rekonstruktion von Bildsequenzen, der Bildbeschriftung und die Frage der generellen Kontexteinbettung von Fotografien in historiografischen Arbeiten. Beleuchtet wurden die Schwierigkeiten im historiografischen Umgang mit Bildmaterial. Gleichzeitig wurde aber der hohe Wert von Fotografien als historisches Quellenmaterial betont. Durch die Behandlung der „Bildfrage“ wurden zwei Funktionen erfüllt, zum einen die Abgrenzung zur ersten Ausstellung, nach dem Motto, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt habe, zum anderen aber gab es doch auch den Versuch, die falsche bzw. ungenaue Zuordnung der Fotos zu erklären und damit auch in einem gewissen Maße zu rechtfertigen. Über die Behandlung der „Bildfrage“ hinaus wurde die erste Wehrmachtsverbrechen-Ausstellung auch in einem eigenen Teil der neuen Ausstellung thematisiert. Unter dem Titel „Kontroversen über eine Ausstellung“ beleuchtete die zweite Ausstellung nicht nur die Geschichte der ersten Ausstellung als Teil ihrer eigenen Entstehungsgeschichte, sondern erklärte die erste Wehrmachtsausstellung auch zu einem historischen Objekt. Beide Wehrmachtsverbrechen-Ausstellungen erhoben den Anspruch, einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung zu leisten. Während dieser aufklärerische Anspruch bei der ersten Ausstellung mit dem expliziten Ankämpfen gegen einen gesellschaftlichen Tabubereich, eine „Lüge“, verbunden war, versuchte sich die zweite Ausstellung einerseits in der nüchternen Dokumentation der Involvierung der Wehrmacht in den Vernichtungskrieg und andererseits in pädagogischen („Handlungsspielräume“) und selbstreflexiven („Das Foto als historiografische Quelle“) Ansprüchen. Schlussbetrachtung In dem Aufeinanderfolgen der beiden Ausstellungen wurde ein Weg vom Tabubruch hin zu einer selbstreflexiven und weitgehend historisierten Ereignisbetrachtung vollzogen. Die erste Wehrmachtsverbrechen-Ausstellung hat Geschichten erzählt und Geschichte geschrieben, die zweite war eine Art Zugabe, eine Verlängerung, die zugleich eine Beruhigung, ein Ausklang war. Die erste Ausstellung hat Klärungs- und Erklärungsbedarf in der Gesellschaft geweckt, die zweite Wehrmachtsausstellung weckte durch ihren fragmentierten und didaktisch unausgegorenen Charakter Klärungs- und Erklärungsbedarf im Ausstellungsraum.

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Die öffentliche Diskussion

Eine kritische Ausstellung ist nur dann erfolgreich kritisch, wenn sie Widerstand hervorruft. Wenn sie ignoriert wird, war sie nicht mächtig genug. Und wenn sie allgemeines Wohlwollen und Wohlfühlen hervorruft, dann war sie nicht kritisch genug. Die erste Wehrmachtsverbrechen-Ausstellung hat von Anbeginn an die Grenzen des Museums gesprengt und nahm in dem Moment die meiste Dynamik auf, als sich massiver Widerstand gegen sie formierte, als Menschen auf die Straße gingen, um gegen sie zu demonstrieren, und als Politiker sich abschätzig über sie äußerten. Für Österreich bedeutete dies, dass das, was bei den vergangenheitspolitischen Debatten Mitte der 1980er-Jahre ein wichtiges Nebenthema war, nämlich der Einsatz des Wehrmachtsangehörigen Kurt Waldheim am Balkan, nunmehr in einer weniger personalisierten Form in das Zentrum der Ausei­ nandersetzung geriet. Die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht rüttelte damit massiv am Selbstverständnis der österreichischen Kameradschaftsbünde und deren vielerorts engen Banden zur lokalen und regionalen Politik.9 Die Kameradschaftsbünde waren in Österreich daher die treibenden Kräfte des Widerstands gegen die Ausstellung. Nähe

Durch die um sie entstandene öffentliche Diskussion sowie durch den Anspruch, einer noch immer bestehenden Lüge entgegenzutreten, war es der ersten Ausstellung gelungen, die Distanz zwischen dem nationalsozialistischen Gestern und den Aufarbeitungsproblemen heute auf ein Minimum zu verringern. Die zweite Ausstellung versuchte hingegen, wieder ein wenig Distanz herzustellen, indem sie die Elemente zurücknahm bzw. milderte, die das Potenzial hatten, Menschen anzugreifen oder zu berühren. Damit wurde erfolgreich einer weiteren Skandalisierung der Ausstellung entgegengearbeitet, aber damit wurde der Ausstellung auch viel von ihrem politisierenden Moment genommen.

9 Kameradschaftsbünde sind Vereine, in denen sich ehemalige Wehrmachtsangehörige und Soldaten des Bundesheeres zusammengeschlossen haben. Noch Anfang des 21. Jahrhunderts haben diese Bünde in Österreich bis zu 300.000 Mitglieder.

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Das Lokale erwandert

Durch ihren Charakter als Wanderausstellung und durch die öffentlichen Diskussionen, die sie an den jeweiligen Ausstellungsorten mit sich brachte, schaffte es vor allem die erste Ausstellung immer wieder, einen lokalen Debattenkontext zu erzeugen. Dieser fand unter anderem in einer Vielzahl an lokalen Veranstaltungen und politischen Auseinandersetzungen, aber auch in der Frage der Finanzierung der Übernahme der Ausstellung und der zur Verfügungstellung von Räumlichkeiten seinen Niederschlag. Neugier geweckt

Einer verbrecherischen Vergangenheit wird man dadurch gerecht, dass man sie in der Gegenwart zum einen ächtet, zum anderen aber auch analysiert und sich damit auseinandersetzt, wie und warum es dazu kommen konnte, welche ideologischen, sozialen, politischen Voraussetzungen den Weg in die Menschenrechtsverletzungs- und Verbrechenseskalation geebnet haben und was das mit unserer heutigen Gesellschaft zutun hat. Für viele, speziell junge Menschen, war die Wehrmacht ein Nichtthema, als die Wehrmachtsverbrechen-Ausstellungen – von öffentlicher Diskussion begleitet – durch Deutschland und Österreich tourten. Beide haben es, wenn auch in unterschiedlichem Maße, geschafft, Neugier für ein wichtiges Thema zu wecken – und das ist ein Verdienst, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann.

Dieser Artikel Am Ende einige Worte zu den Entstehungsbedingungen dieses Artikels. Ich habe beide Wehrmachtsverbrechen-Ausstellungen besucht. Die erste in Hamburg 1999, kurz vor ihrem endgültigen Ende, die zweite in Berlin im Januar 2002, kurz nach ihrer Eröffnung. Beide Besuche fanden im Rahmen eines Forschungsprojekts des von Ruth Wodak geleiteten und an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Forschungsschwerpunkts Diskurs, Politik, Identität statt. Das Projekt hieß Wie Geschichte gemacht wird und beschäftigte sich mit der Konstruktion von Erinnerungen an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg.10 10 Siehe Alexander Pollak/Hannes Heer/Walter Manoschek/Ruth Wodak, Wie Geschichte

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Darüber hinaus war ich Teil eines vom Verein Büro trafo.K geleiteten Teams, das die Vermittlungsarbeit in der zweiten WehrmachtsverbrechenAusstellung in Wien im April und Mai 2002 geleistet hat. Diese Vermittlungsarbeit war Ausgangs- und Ankerpunkt einer Studie über Geschichtsvermittlung an Jugendliche in historischen Ausstellungen.11

ge­macht wird. Zur Konstruktion von Erinnerungen an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg, Wien 2003. 11 Siehe Alexander Pollak/Renate Höllwart/Charlotte Martinz-Turek/Nora Sternfeld, In einer Wehrmachtsausstellung. Erfahrungen mit Geschichtsvermittlung, Wien 2004.

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Menschen – Mythen – Meilensteine Die österreichische Millenniums-Länderausstellung 1996

I. Zum erinnerungskulturellen Kontext der Ausstellung Historische Ausstellungen, insbesondere wenn sie anlässlich der Wiederkehr von für ein nationales Kollektiv als bedeutend angesehenen geschichtlichen Daten stattfinden, verweisen auf das politische Selbstverständnis und erinnerungskulturelle Paradigmen der jeweiligen Nation.1 Indem sie vergangene Ereignisse und Entwicklungslinien zu einer sinnstiftenden Erzählung kombinieren und bestimmte Interpretationen der Vergangenheit nahelegen, deuten sie nationale Gemeinschaft und konstruieren Identität.2 Dies gilt auch für Ausstellungskonzeptionen, die – wie die Österreichische Länderausstellung 1996 – beanspruchen, einen kritischen Blick auf die Geschichte zu werfen, historische Bruchlinien und Ambivalenzen ins Zentrum zu stellen und eine Reihe nationaler Mythologien in ihre Bestandteile zu „zerlegen“. Sie sind dennoch Medien offizieller Gedächtnisvermittlung und der Weitergabe von Erinnerung und verweisen damit auf eine nationale „Sozialgeschichte des Erinnerns“.3 Geschichtsausstellungen fungieren gewissermaßen als „Theater“ des Ge­ dächt­­­nisses,4 in dem Historiker/innen Regie führen und jene Ereignisse und 1 Der Begriff Erinnerungskultur wird mit Hockerts und Troebst als „nicht spezifisch wis­ senschaftliche(r) Gebrauch der Geschichte für die Öffentlichkeit“ verstanden, vgl. Hans Günther Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in  : Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Verletztes Gedächtnis, Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a.M. – New York 2002, 39–74, hier 41  ; Stefan Troebst, „Was für ein Teppich  ?“ Postkommunistische Erinnerungskulturen in Ost(mittel)europa, in  : Volkhard Knigge/Ulrich Maehlert (Hg.), Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln – Weimar – Wien 2005, 31–54, hier 32. 2 Cornelia Grosser/Sándor Kurtan/Karin Liebhart/Andreas Pribersky, Genug von Europa. Ein Reisejournal aus Ungarn und Österreich, Wien 2000, 200. 3 Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in  : Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991, 289– 304, hier 292f. 4 Vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985, sowie ders., Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1991.

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Entwicklungen auswählen, die sie inszenieren wollen.5 Auch die so genannte Millenniumsausstellung, die in ihrem Selbstverständnis keineswegs auf die Konstruktion staatlicher Kontinuitäten ausgerichtet war,6 legte – schon allein durch ihren repräsentativen Charakter als gemeinsame Ausstellung aller österreichischen Bundesländer – bestimmte Perspektiven auf eine als gemeinsam und sinnhaft imaginierte gesamtösterreichische Geschichte nahe. Die zum „1000jährigen Namenstag“ Österreichs im Jahr 1996 von einem Team um die beiden Historiker Ernst Bruckmüller und Peter Urbanitsch gestaltete Österreichische Länderausstellung 996–1996. ostarrîchi-österreich. Menschen – Mythen –Meilensteine war anfänglich als ein Teil einer staatstragenden Doppelinszenierung geplant gewesen. Der ursprüngliche Plan war, die Feierlichkeiten anlässlich zweier mythisierter Ursprungsdaten miteinander zu verknüpfen. Das 50-jährige Jubiläum der Befreiung Österreichs von der nationalsozialistischen Herrschaft und der Gründung der Zweiten Republik in der sogenannten „Stunde Null“ sollte mit jenem der 1000-jährigen Wiederkehr der erstmaligen Namensnennung „Ostarrîchi“ konzeptionell verbunden werden.7 Für das Vorhaben einer Verbindung von „Namenstag“ (996) und „Geburtstag“ (1945), die zueinander in keinerlei historischem Bezug stehen, zu einem Doppeljubiläum, wurde ein eigenes „Büro 95/96“ eingerichtet.8 Zusätzlich implementierte das Wissenschaftsministerium anlässlich der beiden Jubiläums- und Gedenkjahre 1995/1996 das Forschungsprogramm Grenzenloses Österreich. Dieses Programm sollte auf die veränderte politische Landschaft Europas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses reagieren. Die geopolitischen Entwicklungen hatten das vormals zwischen den beiden Blöcken gelegene, neutrale Österreich vor neue außenund identitätspolitische Herausforderungen gestellt. Vor diesem Hintergrund war die Auseinandersetzung mit bisherigen nationalen Identitätskonstruktionen, kollektiven Selbstbildern und Fremdbildern von Österreich Ziel des Programms.9

5 Vgl. Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, 290f. (wie Anm. 3). 6 Grosser/Kurtan/Liebhart/Pribersky, Genug von Europa, 200 (wie Anm. 2). 7 Susanne Breuss/Karin Liebhart/Andreas Pribersky, Inszenierungen. Stichwörter zu Österreich, Wien 1995, 188. 8 Grosser/Kurtan/Liebhart/Pribersky, Genug von Europa, 217 (wie Anm. 2). 9 Emil Brix/Ernst Brückmüller/Hannes Stekl, Einleitung, in  : dies. (Hg.), Memoria Austriae II. Bauten, Orte, Regionen, Wien 2005, 411–441, hier 431.

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Das Forschungsprogramm blieb letztlich die einzige Realisierung der anfänglich sehr ambitionierten und innovativen Pläne für ein Doppeljubiläum. Das vom „Büro 95/96“ ausgearbeitete Konzept einer programmatischen Zusammenschau beider Jubiläen unter dem Motto „AUFbrüche“ und mit dem Slogan „Österreich geht weiter“, hatte sich zum Ziel gesetzt, Perspektiven für einen reflektierten Zugang zu den geplanten Feierlichkeiten zu entwickeln. Verwirklicht wurde es nicht  : Auf die Idee, Brüche und Veränderungen in der österreichischen Geschichte ins Zentrum der Feierlichkeiten zu stellen, die Präsentation bekannter Österreich-Klischees zugunsten einer weiteren Modernisierung und Internationalisierung Österreichs zu vermeiden, vor allem auch Widersprüche und Defizite in der Auseinandersetzung mit österreichischer Geschichte zum Thema zu machen und in der kulturellen Selbstdarstellung vorrangig auf Neues und Kreatives zu setzen,10 reagierte die österreichische Bundesregierung letztlich wenig kooperativ. In der Haltung der Bundesregierung spiegelt sich der Stellenwert, den das Datums 1945 generell im kollektiven Gedächtnis der Österreicher/innen Mitte der 1990er-Jahre – und auch noch ein Jahrzehnt später – einnahm. Dass 1945 nicht wirklich als Jahr der Befreiung angesehen wurde und wird, darauf verweisen nicht nur empirische Erhebungen Mitte der 1990er-Jahre.11 Auch die Gestaltung des Jubiläumsjahres 2005 und die begleitenden Inszenierungen zeigten dies deutlich  :12 Im Zentrum österreichischen Erinnerns stand auch im Jahr 2005 nicht das Ende des Zweiten Weltkriegs und damit der nationalsozialistischen Herrschaft. Das offizielle Österreich interpretierte 2005 vor allem als Staatsvertragsjubiläum und setzte damit nicht 1945, sondern 1955 als magisches Datum und das Ende der Besatzungszeit als die Zäsur ins Zentrum des erinnerungspolitischen Diskurses, während im europäischen Rahmen vorrangig der Befreiung von der NS-Herrschaft gedacht wurde. 2005 wurde von der österreichischen Bundesregierung zwar als „Gedankenjahr“ ausgerufen, eröffnete aber keine sehr reflektierte Perspektive auf Repräsentationen österreichischer Identität nach 1945. Eine Analyse der inhaltlichen Gewichtung eines Großteils der Feierlichkeiten und gedächtnispolitischen Inszenierungen zeigt Rückgriffe auf altbekannte Klischees, Mythen 10 Büro 95/96 (Hg.), 1/1993, 5 und 11. 11 Vgl. Ruth Wodak/Rudolf de Cillia/Martin Reisigl/Karin Liebhart, The discursive construction of national identity, Basingstoke 2009. 12 Vgl. Georg Spitaler, Von der Normalitätsdebatte zur „Normalposition“ des Erinnerns  : Ein skizzierter Vergleich der Republiksfeiern 1995 und 2005, in  : Politix 20/2005, 12f.

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und Tabus, wie „Stunde Null“, Wiederaufbau, Opferrolle und Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik.13 Das offizielle Österreich feierte sich 2005 aber nicht nur mit großen Ausstellungsprojekten  :14 25 von Georg Springer und Wolfgang Lorenz gestaltete Interventionen im öffentlichen Raum sollten mediale Aufmerksamkeit erwecken, den Alltag zu Kriegsende und während der Besatzungszeit visualisieren und zum Nachdenken anregen.15 Diese 25 Peaces fokussierten auf das Leiden der Österreicher/innen an Kriegsfolgen und Besatzungszeit und auf das Jahr 1955, das mit dem Staatsvertrag diesem Leiden ein Ende setzte.16 Die NS-Zeit als Vorgeschichte zum Besatzungsjahrzehnt wurde mit Ausnahme eingemauerter Denkmäler am Wiener Heldenplatz und einer Fahne zum Gedenken an die NS-Opfer auf der Nationalbibliothek hingegen kaum thematisiert. Heidemarie Uhl verwies auf diese Differenz zwischen österreichischer und europäischer Erinnerungspolitik, die zeigt, dass im kollektiven Gedächtnis der Österreicher/innen 1945 im Schatten von 1955 steht, da vor allem dieses Jahr mit der eigentlichen Befreiung verbunden wurde und wird. Während in den meisten europäischen Staaten des Endes der nationalsozialistischen Herrschaft gedacht wurde, herrscht/e in Österreich über 1945 keine Einigkeit, weshalb dieses Datum durch den konsensorientierten historischen Bezugspunkt 1955 überschrieben wurde. In diesem Jahr konnten sich alle befreit fühlen, auch die in die nationale Nachkriegsgemeinschaft wieder voll integrierten, österreichischen Nationalsozialist/innen.17 Jedoch nicht allein dieses 13 Vgl. BKA (Hg.)  : Österreich 2005. Das Lesebuch zum Jubiläumsjahr mit Programmübersicht, St. Pölten – Salzburg 2004  ; The New Austria. The Exhibition to Commemorate the 50th Anniversary of the State Treaty 1955/2005. Upper Belvedere, 16 May to 1 November 2005. Kat. Wien 2005. 14 Vgl.   ;   ;   ; Stefan Karner/Gottfried Stangler (Hg.), Österreich ist frei. Der österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband Schallaburg 2005, Horn – Wien 2005. 15 Vgl. . 16 Vgl. dazu insbesondere den mobilen Staatsvertragsbalkon, der am 15. Mai 2005 in den neun österreichischen Landeshauptstädten vor je einem repräsentativen Bauwerk aufgestellt wurde und die Bevölkerung einlud, die an einem Kran befestigte Attrappe zu erklimmen und an Stelle Leopold Figls „Österreich ist frei  !“ zu rufen. Dies sollte „jener Generation, die den Krieg und den Wiederaufbau nicht erlebt hat, eine Möglichkeit zur Identifikation“ bieten. 17 Vgl. Heidemarie Uhl, Europäische Tendenzen, regionale Verwerfungen. Österreichisches Gedächtnis und das Jubiläumsjahr 2005, in  : Werner Koroschitz/Lisa Rettl (Hg.), „Heiss umfehdet, wild umstritten …“. Geschichtsmythen in Rot-Weiß-Rot. Katalog zur Sonderausstellung im Museum der Stadt Villach. 21. April–30. Oktober 2005, Klagenfurt/Celovec 2005, 21–26.

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prekäre österreichische Geschichts- und Zeitgeschichtsverständnis war wohl der Grund dafür, dass Mitte der 1990er-Jahre letztlich nur der 1000. Namenstag Österreichs als staatstragendes Projekt realisiert wurde. Dass ein weiteres, vielversprechendes, mittlerweile allerdings nahezu in Vergessenheit geratenes Vorhaben ebenfalls nicht realisiert wurde, hat eher mit einem Mangel an Weltoffenheit und Flexibilität österreichischer politischer Eliten zu tun. Mit dem 1996 zu feiernden 1000-jährigen Jubiläum der Namensnennung war auch die Ende der 1980er-Jahre konzipierte EXPO Wien/Budapest 1995 verbunden worden. Ungarn und Österreich planten noch zu Zeiten der Blockgrenzen für das Jahr 1995 auf der Basis gemeinsamer historischer Erfahrungen die kooperative Durchführung einer Weltausstellung unter dem Motto „Brücken in die Zukunft“ in den beiden Hauptstädten Budapest und Wien. Mit diesem Projekt sollte über den Eisernen Vorhang hinweg auf Basis der Zentraleuropa-Konzeption ein gemeinsamer Rahmen für zukunftsträchtige Ideen und ideologische Grenzen überschreitende europäische Perspektiven entwickelt werden. 1989 wurde die EXPO 95 an Budapest und Wien vergeben. Beide Partner planten damals auch, das EXPO-Projekt mit jeweils bevorstehenden „nationalen“ Jubiläen (1100 Jahre Ungarn 1995, 50 Jahre Zweite Republik Österreich 1995 und 1000 Jahre Österreich 1996) zu verknüpfen.18 Die Möglichkeit zur Selbstdarstellung im Rahmen der EXPO sollte vonseiten Österreichs vor allem im Millenniumsjahr weiter genützt werden, mit dem Ziel Zukunftsperspektiven zur Diskussion zu stellen. Bereits in der Planungsphase für die EXPO 95 wurden so auch Nachnutzungsmöglichkeiten mitgedacht.19 Aus all diesen Plänen wurde jedoch nichts, denn mit dem Ende der Blockgrenzen verlor nicht nur die Idee einer systemübergreifenden Partnerschaft ihre konzeptuelle Grundlage, vor allem verloren westliche Investoren ihr Interesse an dem Projekt EXPO 95.20 Das grenzüberschreitende Vorhaben scheiterte in Ungarn wegen schwerwiegender ökonomischer Probleme der jungen Demokratie und aufgrund mangelnder Finanzierbarkeit, in Österreich wegen des negativen Ausgangs einer Volksbefragung, die vor dem Hintergrund einer populistisch instrumentalisierten politischen Debatte über die befürchteten Nachteile des Projekts für die Wiener Bevölkerung abgehalten wurde. Ein Ersatzkonzept für die gescheiterten EXPO-Pläne der Twin-Cities Wien und Budapest sah auf österreichischer Seite darauf hin eine anlässlich des Millenni18 Grosser/Kurtan/Liebhart/Pribersky, Genug von Europa, 203, 205 (wie Anm. 2). 19 Ebd., 217. 20 Ebd., 206.

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ums gemeinsam mit Ungarn und der Slowakei abzuhaltende Weltausstellung „EXPO Donauraum“ in der niederösterreichischen Landeshauptstadt St. Pölten vor. Auch dieses Projekt wurde nicht realisiert.

II. 1000 Jahre Österreich Von all den für die Jubiläumsjahre 1995 und 1996 geplanten innovativen Konzepten blieb als einziges großes Projekt letztlich nur die Österreichische Länderausstellung 996–1996. ostarrîchi-österreich. Menschen – Mythen – Meilensteine übrig. Diese Bezugnahme auf ein Datum, das politisch auf den ersten Blick unverfänglich erscheint und sich damit als unproblematische Quelle von Identitätskonstruktionen und nationalen Geschichtserzählungen anbietet, hat Tradition in der Zweiten Republik. Das Jahr 996 als Referenz für nationale Selbstbeschreibung und als Ursprungsmythos der österreichischen Nation ermöglicht weit eher als das mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbundene Datum 1945 den Rückgriff auf positive Aspekte der österreichischen Geschichte und die tendenzielle Ausblendung unangenehmer Fragestellungen. Bereits 1946 fand die junge Zweite Republik im Datum 996 „einen historischen Anhaltspunkt für ihr neues Selbstbewusstsein“.21 Ostarrîchi, die älteste erhaltene Form des Namens „Österreich“, wurde in einer Urkunde Kaiser Ottos III. vom 1. November 996 für Bischof Gottschalk von Freising erstmals erwähnt. Die Urkunde belegt die Schenkung des Guts „Niuuanhova“ (Neuhofen an der Ybbs), „in regione vulgari vocabulo Ostarrîchi“ („eine Gegend, die volkssprachlich Ostarrîchi genannt wird“).22 Die Konstruktion einer Verbindung des demokratisch-republikanischen Österreich mit dem Jahr 996 erlaubte im Jahr 1946 eine mehrfache Distanzierung von nicht mehr opportunen Vergangenheiten  : Zum einen entwarf sie nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ein Gegenmodell zur deutschnationalen Interpretation österreichischer Identität, zum anderen ermöglichte sie eine symbolische Distanzierung von der habsburgischen Identität Österreichs vor 1918. Im Rahmen der Feierlichkeiten nach dem Motto „950 Jahre Ostarrîchi“ konnte eine jahrhundertelange Kontinuität eigenständiger österreichischer Identität inszeniert werden, die weder 21 Ernst Bruckmüller/Peter Urbanitsch, Österreichische Länderausstellung 996–1996. ostarrîchiösterreich. Menschen – Mythen – Meilensteine, Horn 1996, 1. 22 Vgl. Ernst Zöllner, Der Österreichbegriff. Formen und Wandlungen in der Geschichte, Wien 1988.

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Einband der Publikation zur Österreichischen Länderausstellung 1996 (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, N. F. 388, im Auftrag des Amtes der Niederösterreichischen Landesregierung/Kulturabteilung, Horn 1996)

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habsburgisch-dynastisch ausgerichtet noch in irgendeiner Form des Deutschnationalismus der Ersten Republik oder der Sympathie für den darauf folgenden Nationalsozialismus verdächtig war – eine Botschaft, die sich an die österreichische Bevölkerung ebenso wandte wie an die alliierten Besatzungsmächte. Als erste offizielle Feier der wiedererstandenen Republik Österreich richtete die damalige Bundesregierung eine Jubiläumsfeier in Neuhofen an der Ybbs aus, in deren Rahmen Bundeskanzler Leopold Figl einen OstarrîchiGedenkstein enthüllte. 23 Bundespräsident Karl Renner strich in seiner staats(nations)tragenden Rede anlässlich des Festaktes die Individualität der Österreicher/innen hervor und betonte mit dem Verweis auf das Beispiel der Schweiz und der dort lebenden deutschsprachigen Bevölkerung, dass die Sprachgemeinschaft mit den Deutschen kein Hindernis für das Bekenntnis zur österreichischen Nation sei.24 Zusätzlich signalisierte die symbolische Bezugnahme auf das kleine Kernland so kurz nach Wiedergewinnung der Eigenstaatlickeit auch eine neue Akzeptanz der Kleinstaatlichkeit durch die Zweite Republik im Gegensatz zur Ersten.25 Bis etwa Mitte der 1960er-Jahre wurde in politischen und populärwissenschaftlichen Publikationen immer wieder auf den Ostarrîchi-Mythos zurückgegriffen. Die Ostarrîchi-Urkunde hatte in den ersten beiden Jahrzehnten der Zweiten Republik fast den Status einer Gründungsurkunde Österreichs erlangt. Die Bezugnahme auf 996 bildete infolgedessen zu dieser Zeit auch einen fixen Bestandteil des schulischen Sozialisationsprogrammes für junge Österreicher/innen.26

III. Zielsetzung, Inhalte und Gestaltungsprinzipien der Österreichischen Länderausstellung 1996 Sechs Jahrzehnte nach den ersten offiziellen Feierlichkeiten anlässlich des Anniversariums der Namensnennung beschritten die Gestalter der „Millen23 Vgl. Gernot Heiß, Wie aus einem Landhandel eine Nation werden kann, in  : Büro 95/96 (Hg.), 2/1993, 22–26, hier 24  ; Peter A. Krobath, Feiersüchtige Indianer, in  : Büro 95/96 (Hg.), 2/1993, 32–37, 33f. 24 Ernst Bruckmüller interpretierte dies als eine symbolische Abkehr von „großdeutschen Phantasien“, vgl. Bruckmüller/Urbanitsch, Österreichische Länderausstellung 996–1996, 1f. (wie Anm. 21). 25 Grosser/Kurtan/Liebhart/Pribersky, Genug von Europa, 218 (wie Anm. 2). 26 Bruckmüller/Urbanitsch, Österreichische Länderausstellung 996–1996, 2 (wie Anm. 21).

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niumsausstellung“ einen anderen Weg. Die österreichische Länderausstellung 1996 kann keineswegs jenen beschriebenen Bemühungen zur Herstellung eines „abstrakte(n), überzeitlich gleiche(n) Österreich“27 zugeordnet werden. Österreich sei 1996 nicht mehr – wie noch 1946 – darauf angewiesen, seine Eigenständigkeit durch Bezugnahme auf ein weit zurückliegendes historisches Datum zu beweisen, betonte der Historiker Ernst Bruckmüller einleitend im Ausstellungskatalog  : „Sicher haben wir nicht mehr dieselben Motive wie 1946, wenn dieses Datums in Form einer Ausstellung gedacht wird.“28 Dass 1996 in Form einer repräsentativen Großausstellung gewürdigt wurde, ist jedoch ein Hinweis darauf, dass seitens des offiziellen Österreich der Bezugnahme auf 996 auch im zu Ende gehenden zweiten Jahrtausend und nach Jahrzehnten des Bestehens der Zweiten Republik noch Bedeutung für die Konstruktion österreichischer Identität beigemessen wurde. Hervorzuheben ist, dass es sich dabei um ein für die demokratisch verfasste Zweite Republik politisch völlig unbedeutendes Datum handelt. Auch Bruckmüller hält die Urkunde, die die erstmalige Namensnennung belegt, für „in der Tat wenig jubiläumsverdächtig“. Sie beziehe sich weder auf eine Staatsgründung noch auf eine Landnahme.29 Eine historische Kontinuität mit dem heutigen Österreich ist daraus sicher nicht ableitbar. Dementsprechend wurden in der Ausstellung Menschen – Mythen – Meilensteine Kontinuitäten lediglich über die Bedeutungsgeschichte des Namens sowie über Traditionen und Identitäten einzelner Bundesländer vermittelt.30 In Szene gesetzt wurden vom Ausstellungsteam hingegen vor allem die vielfältigen Bedeutungen von „Österreich“ sowie unterschiedliche österreichische Identitätsebenen, inklusive stereotyper Bilder und Klischees, „‚dunkle(r)‘ Seiten österreichischer Traditionen“ und Widersprüchlichkeiten.31 Die Ausstellungsgestalter erteilten aber gleichzeitig einer allzu kritischen Perspektive eine Absage, distanzierten sich von „österreichischer Selbstverkleinerung und Selbstzerstörung“ und sahen ein „(s)olides nationales Selbstbewusstsein ohne Minderwertigkeitsgefühle und ohne Überlegenheitsposen“ als unabdingbar für „Weltbürgerlichkeit, Toleranz und Anerkennung“. Als Ziel der Ausstellung definierten sie „eine kritisch-liebevolle Auseinandersetzung der 27 Ebd., 6. 28 Ebd., 2. 29 Ebd., 1. 30 Grosser/Kurtan/Liebhart/Pribersky, Genug von Europa, 219 (wie Anm. 2). 31 Bruckmüller/Urbanitsch, Österreichische Länderausstellung 996–1996, 3 (wie Anm. 21).

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Besucher mit ‚Österreich‘ – also weder eine undifferenzierte Identifikationsaufforderung noch eine Einladung zur Denunziation österreichischer Seinsweisen und ihrer Geschichte“.32 Die Österreichische Länderausstellung 1996, deren offizielle Bezeichnung auf den föderalistischen Aspekt österreichischer Identität verweist, wurde an zwei niederösterreichischen Orten realisiert  : in Neuhofen an der Ybbs und in der – zu diesem Zeitpunkt gerade 10 Jahre alten – Landeshauptstadt St. Pölten. Sie vermied damit die traditionelle Wien-Fixierung von Projekten zur Visualisierung und Musealisierung österreichischer Geschichte. In der Nähe der heutigen Marktgemeinde Neuhofen an der Ybbs war im Jahr 996 jene Urkunde unterzeichnet worden, in der erstmals der Name „ostar­rîchi“ erwähnt wurde. Neuhofen an der Ybbs und die Region Mostviertel, in der dieser Ort gelegen ist, bezeichnen sich aus diesem Grund auch als die „Wiege Österreichs“. In der touristischen Selbstdarstellung und Vermarktung des Ortes und seiner Umgebung wird diese Metapher, die die erstmalige Namensnennung mit dem Ursprung und der Geschichte der österreichischen Nation in Verbindung setzt, nicht nur rund um das Jahr 1996 und die Millenniumsausstellung besonders gerne verwendet. Eine Postkarte aus der Region illustriert dies besonders augenscheinlich  : Ein Windstoß weht Papierzettel mit den Namen hauptsächlich niederösterreichischer Orte aus der Wiege. An deren Rand sitzt ein Adler, der die Worte „Habemus Austria“ spricht, Kaiser Otto III. verkündet von seinem Thron herab „Ostarrichi natus est“, zwei mittelalterlich gekleideten (habsburgischen  ?) Frauenfiguren sind die Aussprüche „Tu felix Austria nube“ und „A.E.I.O.U.“ in den Mund gelegt. Im Bildhintergrund finden sich Mostbirnen tragende Obstbäume, ein Löwe (als Symbol für Richard Löwenherz) schleicht verärgert aus dem Bild und ein Hund namens EU beißt sich in den Schwanz. Trotz aller Ironie wird die Botschaft einer historischen Kontinuität friedlicher Menschen in idyllischer Landschaft, die lieber heiraten als Kriege führen, deutlich. Auf dieses identitätsstiftende Selbstbild Österreichs spielte auch der damalige Bundespräsident Thomas Klestil in seinem Vorwort zum Ausstellungskatalog der Österreichischen Länderausstellung an  : Die Geschichte Europas kenne unterschiedliche Formen der Nationswerdung – Kriege und Revolutionen, heroische Taten oder fromme Legenden. All dies gelte jedoch nicht für Österreich, so Klestil. Dessen Name sei erstmals „in einer rechtsbildenden Urkunde – also im Dokument einer Friedensordnung“ aufgeschienen. Klestil 32 Ebd.

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Postkarte aus dem Mostviertel aus dem Jahr 1996 (gedruckt von Kellner Verlagsges.m.b.H, A-2100 Korneuburg, und Produktion Rennhofer, ges. geschützt)

interpretierte dies als ein Indiz dafür, dass das österreichische Wesen über alle Jahrhunderte hinweg vom „Bedürfnis nach Gesetz und Ordnung geprägt“ und „früher wie heute durch Weltoffenheit und Vielschichtigkeit“ gekennzeichnet war.33 Implizit ist in dieser Beschreibung Österreichs bzw. des österreichischen Charakters nicht nur das bekannte österreichische Selbst- und Fremdbild einer „Insel der Seligen“ enthalten, sie legt auch eine ahistorisch-essentialistische Kontinuität eines österreichischen Volkscharakters bzw. einer österreichischen Mentalität nahe und widerspricht damit geradezu den Intentionen der Ausstellungsgestalter. Der Ausstellungsort Neuhofen an der Ybbs sollte vor allem den „Genius loci“ zum Ausdruck bringen. So erinnert die Architektur der für die Millenniumsausstellung durch Ernst Beneder neu gestalteten Ostarrîchi-Gedenkstätte, des sogenannten „Ostarrîchi-Kulturhofes“, in Form und Dimensionierung an die regionstypischen Vierkanthöfe. Trotz seiner Größe wirkt er aber „leicht 33 Ebd., vii.

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und durchsichtig.“34 Neben dem „Ostarrîchi-Kulturhof “ fungierte die gotische Pfarrkirche von Neuhofen an der Ybbs als zweiter lokaler Ausstellungsort. Im Neuhofener Ausstellungsteil wurde versucht, „neben der gesamtösterreichischen eine länderbezogene, regionale, ja auch lokale Perspektive“ zum Ausdruck zu bringen. Ausführlich thematisiert wurden die politischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklungen in Europa um das Jahr 1000, mit dem Ziel, die Ostarrîchi-Urkunde in einem größeren Umfeld zu kontextualisieren. Darüber hinaus waren historische Entwicklungen im Einflussbereich des Bischofs von Freising, die Entstehung der regionalen Kulturlandschaft, die Entwicklung des Österreich-Begriffs, Geschichte und Identitätskonstruktionen der österreichischen Länder und Konzepte von Heimat Schwerpunktthemen dieses Teils der Millenniumsausstellung. Ein weiterer Fokus war dem Zusammenhang zwischen katholischer Religion und kollektiver Identität gewidmet.35 Für die 1996 noch junge niederösterreichische Landeshauptstadt St. Pölten bot die Österreichische Länderausstellung die Chance, die repräsentativen Gebäude des eben erst erbauten neuen Regierungsviertels an der Traisen in Szene zu setzen. Der St. Pöltener Ausstellungsteil wurde in der von Hans Hollein gestalteten Sonderausstellungshalle für das künftige Landesmuseum umgesetzt, im Zentrum stand hier die Auseinandersetzung mit „Symbolen, Mythen, Stereotypen und Klischees“. Gleich im Eingangsbereich wurde dies unter anderem durch die Präsentation der Zeichenfolge AEIOU sowie eines Notenschlüssels als Synonym für die Musik der Wiener Klassik deutlich.36 Zu Beginn des Ausstellungsrundganges wurden die Besucher/innen zu einem „Flug über Österreich“ eingeladen, als Hommage der Ausstellungsgestalter an die landschaftlichen Qualitäten Österreichs, die einen wichtigen, wenn nicht überhaupt den wichtigsten Grund für österreichischen Nationalstolz liefern, wie regelmäßig durchgeführte Umfragen belegen. Die Inszenierung simulierte einen Ballonflug und erlaubte eine Vogelperspektive auf etwa 20 ausgewählte Landschaften und markante architektonische Sehenswürdigkeiten aus allen neun Bundesländern, die als Symbole der jeweiligen Länder wie

34 Ebd., 17. Die ehemalige Gedenkstätte wurde aktualisiert und ein neuer Bau, der zugleich Mehr­zweckgebäude mit Ausstellungs-, Seminar-, Club-, und Tourismusräumen sowie einem Festsaal für die Gemeinde darstellt, errichtet, vgl. . 35 Vgl. Bruckmüller/Urbanitsch, Österreichische Länderausstellung 996–1996, 17 (wie Anm. 21). 36 Ebd., 274.

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Österreichs insgesamt gelten können.37 Der Präsentation von Landschaft als österreichischem „Zentralsymbol“ folgten die sogenannten „sprechenden Bilder“ – Computeranimationen von Porträts ausgewählter, von den Kuratoren als „typisch“ bezeichneter österreichischer Persönlichkeiten. Jeder dieser Persönlichkeiten wurde jeweils ein Zitat zugeordnet.38 Dieser Präsentation von „Ikonen österreichischer Identität“ lag der Gedanke zugrunde, dass vorrangig nicht Erzählungen jenen Zusammenhang herstellen, „der einer Gemeinschaft, einem Volk zur Geschichte verhilft“, sondern vor allem Bilder „jene Einheit stiften, die die narrative Einbettung in den großen Fluß der Geschichte überhaupt erst ermöglichen“. Wenn man wissen wolle, „welchen Wahrheitsgehalt das österreichische ‚Mir san mir‘“ aufweise, dann verspreche „die Analyse dieser sprechenden Bilder einige Aufschlüsse“.39 Ausgewählt wurden Persönlichkeiten, deren Popularität entweder durch empirische Umfragen belegt werden konnte oder die von den Ausstellungsgestaltern auch ohne empirische Referenz als über lange Zeit populär und jedenfalls bedeutend definiert wurden. Unter ihnen waren Prinz Eugen als bedeutender Feldherr und zugleich Intellektueller, der sich am intriganten, wundergläubigen und von politischer Kurzsichtigkeit geprägten österreichischen Kaiserhof mit vernünftigen Positionen behaupten konnte  ; Maria Theresia als Verkörperung scharfer Gegensätze, die im österreichischen kollektiven Gedächtnis „zum Idealbild der milden, sympathischen Herrscherin“ stilisiert wurde  ; Wolfgang Amadeus Mozart, dessen Musik „in krassem Gegensatz zu den Bedingungen, unter denen sie entstand“ steht  ; und Andreas Hofer, die „Ikone des Tiroler Landesbewusstseins“. Erzherzog Johann verkörperte die aufklärerischen Ideen der Josephinischen Zeit und den Brückenschlag zwischen Bürgertum und Absolutismus  ; Johann Strauß Sohn hingegen „die Sehnsucht des Österreichers und vor allem des Wieners nach harmloser Walzerseligkeit“ nach der Niederschlagung der 1848er Revolution  ; Kaiser Franz Joseph I. schließlich stand symbolisch für den Habsburger-Mythos generell. Mit Bruno Kreisky wurden Österreichs internationale Bedeutung in den 1970er- und 1980er-Jahren sowie die erfolgreiche Demokratisierung der österreichischen Gesellschaft und der Höhepunkt der Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik integriert. Aber auch die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner war – als eine der wenigen Frauen – unter den sprechenden 37 Ebd., 375–378, hier vor allem 375, 378. 38 Ebd., 5. 39 Ebd., 379–386, hier vor allem 379, 386.

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Bildern vertreten, ebenso wie der Maler Egon Schiele oder der Psychoanalytiker Sigmund Freud. Letztere bezeichnete der Historiker Peter Melichar in seinem Beitrag zum Katalog der Ausstellung allerdings als „zu vielschichtig, um als Ikone österreichischer Identität instrumentalisiert zu werden“. Herbert von Karajan, der berühmte Dirigent, wurde als Vertreter jener Stars der post– 1945er Kunst- und Kulturszene in diese fiktive österreichische Galerie aufgenommen, deren Popularität im Gedächtnis der Zweiten Republik die in den 1930er-Jahren und vor allem 1938 emigrierten Künstler verdrängte. Karajans Mitgliedschaft in der NSDAP habe zudem „das kollektive schlechte Gewissen“ der Österreicher/innen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beruhigt, „sein Aufstieg in den Olymp der Kunst bedeutete gewissermaßen Absolution“, schrieb der Autor des Katalogbeitrages. Aus dem Bereich der Populärkultur und des Sports wurden der Radiound Fernsehstar Heinz Conrads als „Verkörperung des harmlosen Witzes“  ; die Nachrichtensprecherin, ÖBB-Stimme und spätere Mitwirkende der Fernsehserie „Kottan ermittelt“ Chris Lohner  ; die Schi-Legende Annemarie Moser-Pröll  ; der Fußballer Hans Krankl, dessen Name untrennbar mit dem legendären österreichischen Sieg im WM-Spiel gegen Deutschland im argentinischen Cordoba 1978 verbunden ist  ; und schließlich Niki Lauda, der weitgehend emotionslose, „kühl-berechnende Taktiker“ als österreichische Ikonen präsentiert. Insgesamt ergab diese Sammlung von Porträts und Zitaten eine bunte und recht witzige Mischung, die natürlich nicht repräsentativ sein konnte, wie die Ausstellungsgestalter selbst bemerkten. Die Auswahlprinzipien wurden jedenfalls nachvollziehbar argumentiert. Interessant wäre natürlich der Versuch gewesen, ein Gegenmodell zu dieser Inszenierung zu kreieren  : eine Sammlung sprechender Bilder, die gerade nicht die typischen, ikonischen Symbolfiguren österreichischer Identität zeigt und ihnen eine Stimme gibt  ; eine Auswahl jener Persönlichkeiten, die nicht so gerne gehört, aus dem Mainstream ausgegrenzt, marginalisiert, vertrieben oder ermordet wurden. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud wäre wohl in beiden Bildergalerien vertreten gewesen. In den zentralen Ausstellungsbereich zum Thema „Mythen, Bilder, Stereotypen“ gelangten die Besucher/innen in weiterer Folge dann durch eine „Allee der Symbole“. Diese stellte zum einen offizielle Symbole zur Schau, etwa den rot-weiss-roten Bindenschild  ; die in mehrfacher Weise interpretierbare Buchstabenkombination AEIOU  ; den kaiserlichen Doppeladler  ; die Chiffren „k. k.“ sowie „k. u. k“, die für Robert Musils Bezeichnung „Kakanien“ für das untergegangene habsburgische Österreich Pate gestanden hatten  ; das Wap-

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pen der Ersten Republik  ; das ständestaatliche Wappen  ; das Kruckenkreuz als Symbol der Vaterländischen Front  ; das nationalsozialistische Hakenkreuz  ; das Staatswappen der Zweiten Republik  ; die Logos von ÖBB und ORF. Gezeigt wurden in dieser Rubrik aber auch semi-offizielle Symbole, beispielsweise das Bild Kaiser Franz Josephs, Filme wie „Der Dritte Mann“ oder die Sissi-Trilogie, die Figur des Herrn Karl, Trachtenkleidung und Trachten-Accessoires. Andererseits präsentierte die „Allee der Symbole“ inoffizielle österreichische Symbole, unter anderem Gartenzwerge, Mozartkugeln, Mannerschnitten, Sachertorten, Wiener Schnitzel.40 Die Aneinanderreihung der einzelnen Symbole, die zueinander großteils wenig Bezug hatten, aus ganz unterschiedlichen Bereichen stammten und gerade durch ihre Vielfältigkeit und Heterogenität mehr auf Bruchlinien denn auf Kontinuitäten in der historischen Entwicklung verwiesen, enthielt inte­ ressanterweise keine Überraschungen, nichts Unerwartetes. Vielleicht wäre es den Versuch wert gewesen, das Ausstellungspublikum bei seinem Rundgang hin und wieder ein wenig zu irritieren und damit zum Nachdenken anzuregen. Den Kern des St. Pöltener Ausstellungsteils bildeten neun begriffliche Gegensatzpaare, die in ihrer Gesamtheit zu einer differenzierten Charakterisierung der vielfältigen Dimensionen „österreichischer“ Geschichte“ beitragen sollten. Geboten werden sollte dem Publikum „ein facettenreiches, buntes, vielfältiges, durchaus auch widersprüchliches Bild“ all dessen, „was mit dem Namen Österreich an Assoziationen, Geschichten, Zeichen, Symbolen und Erinnerungen verbunden ist“.41 Im Zentrum stand auch hier wieder die bereits in der Beschreibung des Ausstellungsteils in Neuhofen zum Ausdruck gekommene enge Verbindung zwischen Österreich und der katholischen Kirche, symbolisiert durch das Motto „Kreuz und Krone“ und visualisiert durch eine Darstellung der Spitze des Stephansdoms und ein Hologramm der österreichischen Kaiserkrone.42 Die von „gegensätzlichen, miteinander konkurrierenden oder korrespondierenden Österreich-Bildern“43 inspirierten, in Form trapezförmiger Nischen gestalteten acht Segmente dieses Ausstellungsraumes waren entlang von ausgewählten Begriffspaaren konzipiert, die jeweils prägende Facetten aus der 40 Ebd., 387–390. 41 Ebd., 6. 42 Ebd., 5. 43 Ebd.

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Geschichte Österreichs symbolisierten. Den Besucher/innen war es möglich, alle diese Begriffspaare und die ihnen jeweils zugeordneten Inszenierungen gleichzeitig zu erblicken. „Glaubensvielfalt – Glaubenseinheit“ thematisierte die Idee eines katholischen Österreich, deren Kehrseite die Unterdrückung anderer Religionen war. „Revolutionen – Absolutismen“ erzählte die Geschichte der Niederlage sämtlicher revolutionärer Bestrebungen in jenen Gebieten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils „Österreich“ waren. „Niederlagen – Reformen“ verwies auf den Umstand, dass Letztere immer durch Erstere erzwungen wurden, etwa im 19. Jahrhundert, vor allem aber 1918 und 1945. „Untertänig – Emanzipiert“ setzte sich mit dem ambivalenten Wunsch auseinander, Anerkennung „von oben“ zu erfahren und gleichzeitig Kritik an der Obrigkeit zu äußern. Ein besonders populäres und altgedientes Österreich-Klischee sprach das Begriffspaar „Phäakisch – Intellektuell“ an. Unter den 24 Intellektuellen, die jeweils unterschiedliche Tätigkeitsfelder repräsentierten, befanden sich auch elf Frauen, ein Umstand, der deswegen hervorzuheben ist, weil er keinesfalls als selbstverständlich gelten kann.44 Das auf die habsburgische Donaumonarchie bezogene Gegensatzpaar „Völkerverein – Völkerkerker“ spricht für sich selbst, dasselbe gilt wohl für „Bastion – Brücke“, das ein für die österreichische Identität in hohem Maße identitätsstiftendes Spannungsverhältnis thematisierte. In offiziellen Österreich-Inszenierungen kam und kommt die Brückenmetapher immer noch häufiger zur Anwendung als ihr Gegenbegriff, auch wenn dies – wie etwa im Zuge des Prozesses der Erweiterung der EU, in dem Österreich nicht wirklich die Brücke zu den mittelosteuropäischen Nachbarländern darstellte – der politischen Realität nicht entspricht. Das letzte Begriffspaar mit dem etwas merkwürdig anmutenden Titel „Leitbilder – Leidbilder“ war wirtschaftlichen und technischen Errungenschaften ebenso wie deren Kehrseiten gewidmet. Auf dem Weg durch die Ausstellung gelangten die Besucher/innen in weiterer Folge zur Installation „Die Insel der Seligen (Realitäten und Visionen)“, gefolgt von einer „Galerie von besonderen politischen und kulturellen Ereignissen“, symbolisiert in 35 „Meilensteinen“,45 die durch das Historikerteam ausgewählt wurden. Gegen Ende des St. Pöltener Ausstellungsteils durchschritten die Besucher/innen ein temporäres Archiv der österreichischen Staatsbildung, genannt „Österreich in Brief und Siegel“. Gezeigt wurden – teils in Kopie – Urkunden aus dem Österreichischen Staatsarchiv, darunter Staatsvertrag und 44 Ebd., 555. 45 Ebd., 5, 9.

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EU-Beitrittsvertrag, die den Weg der Zweiten Republik von der Wiedererlangung der Eigenstaatlichkeit nach Europa symbolisieren sollten.46 Abschließend wurden den Gästen noch Hörproben von „Reden über und Klänge(n) aus Österreich“ angeboten. Ausgehend von der These, dass die Zweite Republik „unverhältnismäßig viel Geschichte zu verwalten“ habe und deshalb „eine manische Beschäftigung mit den eigenen Befindlichkeiten“ zu beobachten sei, stellte Peter Melichar in seinem Katalogbeitrag ein Übermaß an Österreichbezogenheit fest. Zudem habe sich die Verdrängung prägender historischer Ereignisse und Entwicklungen aus unterschiedlichen Epochen (wie zum Beispiel die Vertreibung der Protestant/innen im Zuge der Gegenreformation, die nicht geführte Kriegsschulddebatte hinsichtlich des Ersten Weltkriegs, die Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen) insofern auf österreichische Identitätskonstruktionen ausgewirkt, als dass „ein kollektives Wir-Gefühl oft nur durch Katastrophen hervorgerufen wurde“. Auch das seit dem beginnenden 19. Jahrhundert und der Auflösung des Alten Reiches 1806 bestehende ambivalente Verhältnis zu Deutschland, das sich nach 1945 in ein besonderes Abgrenzungsbedürfnis transformierte, führte Melichar als eine Komponente des Mangels an konsolidierter österreichischer Identität an.47 Vor diesem Hintergrund wurde auch Franz Grillparzers berühmtes Loblied aus dem Drama König Ottokars Glück und Ende (1825) als eine der „Reden über Österreich“ ausgewählt. Melichar interpretierte die Verse als eine zumindest ambivalente Lobpreisung, denen stellenweise ein „ironischrebellischer Doppelsinn“ zu eigen sei, aus Gründen der Umgehung der Zensur vom Dichter sprachlich jedoch gut versteckt.48 Karl Kraus’ 1909 formulierte scharfe Kritik an der österreichischen Öffentlichkeit und der Rolle der Medien war ebenso Bestandteil dieses Ausstellungsteils wie Anton Wildgans’ Lobpreisung des österreichischen Menschen aus dem Jahr 1929, dessen Größe sich im Erdulden des Bösen, das immer von außen „mit naturhafter Gewalt“ über ihn hereinbreche, zeige.49 Als vierter Redeausschnitt wurde ein Auszug aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften präsentiert, der auf die Gründe für den Untergang der k. u. k. Monarchie Bezug nimmt. Es folgte eine Rede Heimito von Doderers, in der es um die Themen Annullierung und 46 Grosser/Kurtan/Liebhart/Pribersky, Genug von Europa, 219 (wie Anm. 2). 47 Bruckmüller/Urbanitsch, Österreichische Länderausstellung 996–1996, 727–736, hier vor allem 727 (wie Anm. 21). 48 Ebd., 727f. 49 Ebd., 729f.

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Wiederherstellung österreichischer Staatlichkeit sowie um eine von ihm als übernational bzw. ethnische Grenzen überschreitend bezeichnete österreichische Nationalität geht. Gerhard Fritsch war mit dem lyrischen Text Österreich (1965) vertreten.50 Thomas Bernhard, von dem Melichar schrieb, in dessen Werk könne „die Österreicherin und der Österreicher über sich in verdichteter Form mehr erfahren als sonst irgendwo in der Literatur seit 1960“, repräsentierte den Österreich-kritischen Diskurs ebenso wie Alois Brandstätter, dessen Rede Österreich (1980) an Grillparzers Loblied erinnert.51 Die Klänge aus Österreich versammelten schließlich die üblichen Verdächtigen, die bekannte(ste)n österreichischen Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Johann Strauß und Gustav Mahler, aber auch den Goiserer Viergesang als Repräsentanten der Volksmusik.52 Ein/e Vertreter/in des Genres Popmusik wurde in die Sammlung österreichischer Klänge nicht aufgenommen.

IV. Resümee Die öffentlichkeitswirksame Inszenierung von nationaler Geschichte und Kultur in repräsentativen Großausstellungen eröffnet kollektive Identitätsangebote. Die Omnipräsenz des Millenniums der erstmaligen Namensnennung kam rund um das Jahr 1996 dementsprechend nicht nur in der Österreichischen Länderausstellung selbst zum Ausdruck, sie wurde selbstverständlich auch von der Merchandising-Industrie genutzt. Im Museumsshop in Neuhofen an der Ybbs, aber auch in zahlreichen anderen österreichischen Geschäften wurden im Jahr 1996 Alltagsgegenstände und Gebrauchsartikel verkauft, die einen Bezug zu 996 herstellten. Insbesondere für den Bereich Tourismus eröffnete das Jubiläum „1000 Jahre Österreich“ zusätzliche Chancen zur Vermarktung österreichischer Geschichte. Ausstellungen und die Exponate, die sie den Besucher/innen präsentieren, Texte, eingesetzte Medien und die Architektur der Ausstellung selbst erzählen Geschichten, die die Thesen der Ausstellungsgestalter/innen für das Publikum nachvollziehbar machen. Insbesondere die zur Darstellung ausgewählten Originale dienen „als Relikte der Vergangenheit der Gegenwart 50 Ebd., 731–734. 51 Ebd., 734f. 52 Ebd., 736.

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Österreich-Quiz aus Anlass des Millenniums (Piatnik Nr. 6356  : „1000 Jahre Österreich. Austria-Quiz. Mehr als 1000 Fragen über Österreich  !“, Wiener Spielkartenfabrik Ferd. Piatnik & Söhne)

zur Spurensicherung“, wie der Architekt der Millenniumsausstellung Bengt Sprinzl in seinem Katalogbeitrag formulierte.53 Für die Frage, wer jeweils bestimmt, was in die Glaskugel namens österreichische Geschichte hineingehört, ist jedoch nicht nur die Auswahl der gezeigten Objekte aus dem Kanon des kulturellen Gedächtnisses von Interesse. Es geht vor allem um die Geschichten, die erzählt werden. Erst diese verweisen auf Inhalte des kulturellen Gedächtnisses der österreichischen Nation, vor allem aber auf deren gegenwärtige Re-Inszenierung und damit auf Muster österreichischer politischer Kultur. Inszenierungen von Geschichte für die Öffentlichkeit sind primär Indikatoren für aktuelle politische und gesellschaftliche Selbstbilder. So zeigen sich – nicht nur am Beispiel der Österreichischen Länderausstellung 1996, sondern auch am Beispiel zahlreicher anderer Projekte zur Darstellung österreichischer Geschichte – unter der Oberfläche des relativ jungen, gefestigten Österreichbewusstseins der Zweiten Republik häufig unscharfe österreichische Selbstbilder, die auf ältere, vorrepublikanische, zum Teil kulturnational definierte Bezugspunkte zurückgreifen und die in politischen, publizistischen 53 Ebd., 7.

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und alltagskulturellen sowie manchmal auch wissenschaftlichen Diskursen auffindbar sind.54 Zwar meint der Philosoph Konrad Paul Liessmann, der Sinn von Erinnerung sei ebenso wenig die Wahrheit wie derjenige von Mythen und Legenden, vielmehr liege er „in der […] Ausdeutung und Aneignung der Vergangenheit“.55 Die Gestalter der Österreichischen Länderausstellung 1996 würden sich aber wohl ein wenig anders positionieren, entsprechend ihrem Anspruch einer „vielfältige(n), teilweise liebevoll-kritische(n) und dialektische(n) Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der österreichischen Identität“ und österreichischen Geschichtsbildern. Erstaunlich ist, zumindest aus heutiger Perspektive, dass die europäische Ebene sowie Chancen und Problematiken, die sich aus dem kurz zuvor statt­gefundenen EU-Beitritt Österreichs am 1. Januar 1995 ergaben, in der Millen­niumsausstellung nicht ausreichend repräsentiert waren. Festgehalten werden kann aber gleichzeitig, dass die Sichtweise des Ausstellungsteams der Millenniumsausstellung auf die „österreichische“ Geschichte in vielen Aspekten um einiges reflektierter erscheint als die jener Historiker, die die vergleichbar repräsentative – wenn auch in ihrer historischen Spannweite selbstverständlich viel fokussiertere – Niederösterreichische Landesausstellung auf der Schallaburg im „Gedankenjahr“ 2005 mit dem Titel Österreich ist frei  ! konzipierten und umsetzten.56 Allein die Darstellung prägender Diskurslinien entlang historischer Entwicklungen in Form von Spannungsfeldern, Gegensätzen und Widersprüchen – wie im zentralen Bereich des St.  Pöltener Ausstellungsteils – mutet kritischer und zugleich produktiver und zum Weiterdenken anregender an als einiges, was etwa zehn Jahre später geplant und umgesetzt wurde.

54 Grosser/Kurtan/Liebhart/Pribersky, Genug von Europa, 220 (wie Anm. 2). 55 Konrad Paul Liessmann, Topoi. Konturen einer politischen Mythologie, in  : Emil Brix/Ernst Bruckmüller/Hannes Stekl (Hg.), Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten, Wien 2004, 194–218, hier 203. 56 . Ähnliches ließe sich über weitere Projekte im Rahmen der 2005er Feierlichkeiten, etwa die bereits erwähnten 25 peaces, sagen.

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Republikgeschichte im Parlament Die Jubiläumsausstellung 2008

Was im Jubiläumsjahr 2005 unter der schwarz-blauen Regierungskoalition nicht möglich war, eine von staatsoffiziellen Stellen ausgerichtete Ausstellung, ließ sich 2008 anlässlich der 90-jährigen Wiederkehr der Republikgründung unter einer neuen Regierungskonstellation verwirklichen  : eine Großausstellung, in der das offizielle Österreich Rückschau auf seine Vergangenheit im 20. Jahrhundert hielt. 2005 blieb es einem privaten Proponentenkomitee überlassen, eine Ausstellung zum Staatsvertragsgedenken zu veranstalten. Die schwarz-blaue Regierungskoalition trug zwar einen Teil der Kosten, legte den Akzent aber auf Geschichts-Events in Form der „25 Peaces“1 und signalisierte damit die Abkehr von der bis dahin zwischen SPÖ und ÖVP akkordierten staatsoffiziellen Vergangenheitsdramaturgie. Dieser geschichtspolitische Kurswechsel galt weniger der Haltung zur NS-Vergangenheit als der gesellschaftspolitischen Deutung der Republikgeschichte. Die Darstellung der Geschichte der Zweiten Republik als eine der gemeinsamen Erfolge der beiden Großparteien, wie sie in der von privater Seite organisierten Staatsvertragsausstellung im Belvedere letztlich präsentiert wurde,2 war unter schwarz-blauer Ägide nicht (mehr) konsensfähig. 2008 unterlagen die geschichtspolitischen Intentionen der österreichischen Regierung wieder großkoalitionären Harmoniebedürfnissen. Die Ausstellung im Parlament wurde von einem WissenschafterInnenteam unter der Leitung der Historiker Stefan Karner und Lorenz Mikoletzky kuratiert.3 Zahlreiche renommierte WissenschafterInnen waren beratend tätig. Die 1 Siehe die Website zum Jubiläum 2005  : , 17.3.2010. 2 Vgl. Ulrike Felber, Jubiläumsbilder. Drei Ausstellungen zum Staatsvertragsgedenken 2005, in  : ÖZG 17 (2006) 1, 65–90. 3 Stefan Karner, Univ.-Prof. Dr., ist stellvertretender Leiter des Instituts für Wirtschafts-, Sozialund Unternehmensgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiter des LudwigBoltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung  ; Lorenz Mikoletzky, Hon.-Prof. Dr., ist Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs  ; zum Ausstellungsteam vgl. , 17.3.2010.

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organisatorische Koordination lag beim Bundeskanzleramt. Als Projekt der beiden Regierungsparteien SPÖ und ÖVP erhob die „Republik.Ausstellung 1918–2008“ einen umfassenden Deutungsanspruch, der mit dem Parlament als historischem und hoch symbolischem Ort der Veranstaltung den Eindruck erweckte, durch die gesamte Volksvertretung autorisiert zu sein.4 Solcherart von einem vermeintlichen parlamentarischen Konsens getragen, schien die Ausstellung als ein Projekt österreichischer Nationalgeschichte legitimiert. Wie schon bei vorangegangenen zeitgeschichtlichen Ausstellungen wurde auch diesmal der Anspruch erhoben, die temporäre Repräsentation doch endlich in einem österreichischen „Haus der Geschichte“ zu institutionalisieren.5 Als Beginn einer Art föderalen Probelaufes für ein späteres nationales Republikmuseum könnten die (partielle) Übernahme der Ausstellung durch das Linzer Museum Nordico6 im Februar 2010 und im Anschluss daran voraussichtlich durch die Stadt Klagenfurt (mit jeweils landesspezifischen Ergänzungen) interpretiert werden. Ohne die Sinnhaftigkeit eines solchen Museumsprojektes diskutieren zu wollen,7 soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, auf welche Vergangenheits- bzw. Geschichtsnarrative8 und Identitätsangebote sich die Veranstalter der Republikausstellung 2008 verständigten. Selbst wenn Ausstel4 Nur wenigen dürfte bewusst gewesen sein, dass es sich um eine Ausstellung der Regierung und nicht um eine des Parlaments handelte. Sichtbar ist die Autorschaft der Ausstellung in dem zur Ausstellung erschienen Sammelband, in dem es Geleitworte der Bundesregierung, nicht aber der Parlamentspräsidentin gibt, vgl. Stefan Karner/Lorenz Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament, Innsbruck – Wien – ­Bozen 2008. 5 Im Sammelband zur Ausstellung bezeichnet der damalige Vizekanzler Wilhelm Molterer die Ausstellung als einen „Vorgriff auf ein ‚Haus der Geschichte‘“, Karner/Mikoletzky, Österreich, 11 (wie Anm. 4). Zur Debatte um das Haus der Geschichte in Zusammenhang mit den Jubliäumsausstellungen 2005 vgl. Martina Nußbaumer, „Haus der Geschichte“, Version 05-06, in  : Martin Wassermair/Katharina Wegan (Hg.), rebrandig images. Ein streitbares Lesebuch zur Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Österreich, Innsbruck – Wien – Bozen 2006, 197– 210. 6 Der Titel lautete in diesem Fall aber Der Rest ist Österreich. Geschichte der Republik, vgl. den zweisprachigen (deutsch, serbokroatisch) Folder zur Ausstellung  : , 19.3.2010. 7 Siehe dazu , 10.3.2010. 8 Zur Geschichts- und Vergangenheitspolitik vgl. Günther Sandner, Geschichts- und Vergangenheitspolitik, Hegemonie und Erinnerung. Zur Konzeption von Geschichts- und Vergangenheitspolitik, in  : ÖZP 30 (2001) 1, 5–17, sowie die Beiträge in  : Zeitgeschichte 33 (2006) 2.

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lungen in der Breitenwirkung nicht mit TV und Film konkurrieren können, so gelten sie wie diese kraft der Visualisierungen als besonders wirksam im „Kampf “ um Geschichtsdeutungen.9 Im Zusammenspiel von Bild, Text und Raum geben sie dem Sprechen über Geschichte konkrete Gestalt und präsentieren ein sinnlich erfahrbares, vermeintlich stabiles Bild der Vergangenheit.10 Auch wenn sich die Rezeption durch die AusstellungsbesucherInnen der Kontrolle der KuratorInnen entzieht und die Durchsetzung des Deutungsangebots nicht garantiert ist, so gewährleistete das spezifische institutionelle Setting der Republikausstellung 2008 – die Regierung als Ausstellungsveranstalterin, das Parlament als Ausstellungsort – eine mit doppelter Autorität des wissenschaftlichen Diskurses und der staatlichen Macht ausgestattete Erzählung über österreichische Geschichte. Im österreichischen Geschichtsdiskurs gab es seit den 1980er-Jahren mehrere Verschiebungen, die in erster Linie das Verhältnis Österreichs zur NS-Zeit betrafen. Das als „double speak“11 charakterisierte vergangenheitspolitische Paradigma von staatsoffizieller Opferthese einerseits und Gefallenengedenken sowie Leiddiskurs der Kriegsgeneration andererseits brach auf.12 Es wurde ab  9 Sandner, Hegemonie, 10 (wie Anm. 8). 10 Zur Funktionsweise von Ausstellungen und musealen Präsentationen siehe  : Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch, Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2006, insbesondere 13–68. 11 Anton Pelinka, Die geänderte Funktionalität von Vergangenheit und Vergangenheitspolitik. Das Ende der Konkordanzdemokratie und die Verschiebung der Feindbilder, in  : ÖZP 30 (2001) 1, 35–47. 12 Vergleiche etwa Heidemarie Uhl, Das „erste“ Opfer. Der österreichische Opfermythos und seine Transformation in der Zweiten Republik, in  : ÖZP 30 (2001) 1, 19–34  ; dies., Der „österreichische Freiheitskampf “. Zu den Transformationen und zum Verblassen eines Narrativs, in  : Helmut Kramer/Karin Liebhart/Friedrich Stadler (Hg.), Österreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand. In memoriam Felix Kreissler (Emigration – Exil – Kontinuität 6), Wien – Berlin 2006, 303–312  ; Gerhard Botz, Nachhall und Modifikationen (1997–2004). Rückblick auf die Waldheim-Kontroversen und deren Folgen, in  : ders./Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker (Studien zur historischen Sozialwissenschaft 13), Frankfurt a.M. – New York 22008, 639–635  ; Alexander Pollak, Vergangenheit und Reflexion. Konsens- und Streitlinien im Umgang mit der NS-Vergangenheit in Österreich, in  : Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, 326–246  ; Ernst Hanisch, Opfer/Täter/Mythos  : Verschlungene Erzählungen über die NS-Vergangenheit in Österreich, in  : Zeitgeschichte 33 (2006) 6, 318–327  ; Cornelius Lenguth, Externalisierung und Divergenz. Die Parteien und die österreichischen Vergangenheitsnarrative, in  : Zeitgeschichte 36 (2009) 4, 262–276.

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gelöst durch die Mitverantwortungsthese und ein kritisches Tätergedächtnis. Erstere wurde mit der von Thomas Klestil bei der Angelobung der schwarzblauen Regierung 2000 eingeforderten Präambel zur normativen Grundlage des offiziellen österreichischen Geschichtsverständnisses und erscheint heute als fixer Bestandteil eines neuen, selbstkritischen Vergangenheitsdiskurses in das „österreichische Gedächtnis“ integriert.13 Jüngst publizierte Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass trotz dieses Paradigmenwechsels die Wirkungsmächtigkeit der Opferthese nach wie vor nicht völlig gebrochen und dieses vergangenheitspolitische Erklärungsmodell in verschiedenen Zusammenhängen weiterhin relevant ist. Die über Jahrzehnte zentrale Rolle in der offiziellen Staatsnarration führte zu einer Verfestigung im kollektiven Gedächtnis.14 Auch die österreichische Identitätspolitik stützt sich, wie Johanna Gehmacher nachgewiesen hat, in ihrem historischen Narrativ noch immer auf die Opferthese.15 Es handelt sich um eine erweiterte, nicht nur auf die NS-Vergangenheit bezogene Opferthese. Prekäre Vergangenheiten, wie z. B. die Niederlage im Ersten Weltkrieg oder das Scheitern der Ersten Republik, wurden und werden ausgeblendet,16 externalisiert oder mittels eines „hybriden Leiddiskurs(es)“17 relativiert. Die Selbstviktimisierung (Verweise auf Kriegsopfer, Entbehrungen der Nachkriegs- und Wiederaufbaugenerationen) erlaubt – dem katholischen Moralschema des Schuld-durch-Leid-Tilgens entsprechend – eine Versöhnung mit der Mitverantwortungsthese und eine partielle Integration des selbstkritischen Tätergedächtnisses. Die Transformationen des österreichischen Gedächtnisses infolge der Waldheim-Affäre haben zu einer Heterogenisierung des staatsoffiziellen Geschichtsnarrativs geführt.18 Die Frage ist, welche Verfahren angewendet und in welche Beziehung zueinander diese di13 Uhl, Das „erste“ Opfer, 29 (wie Anm. 12), verweist auf die Infragestellung der Legitimität der Kritik an der „unbewältigten“ NS-Vergangenheit und das Entstehen einer „Täter-These“ als Umkehrung der Opferthese. 14 So auch in Zusammenhang mit den EU-Sanktionen, vgl. Siegfried Göllner, Die politischen Diskurse zu „Entnazifizierung“, „Causa Waldheim“ und „EU-Sanktionen“. Opfernarrative und Geschichtsbilder in Nationalratsdebatten, Hamburg 2009, 13, sowie Lenguth, Externalisierung, 264–267 (wie Anm. 12). 15 Johanna Gehmacher, „Ein kollektiver Erziehungsroman“ – Österreichische Identitätspolitik und die Lehren der Geschichte, in  : ÖZG 18 (2007) 4, 128–156. 16 Hanisch, Opfer, 319 (wie Anm. 12)  ; Göllner, Politische Diskurse, 22–25 (wie Anm. 14). 17 Lehnguth, Externalisierung, 265 (wie Anm. 12). 18 Gerhard Botz, Die „Waldheim-Affäre“ als Widerstreit kollektiver Erinnerungen, in  : Barbara Tóth/Hubertus Czernin (Hg.), 1986. Das Jahr, das Österreich veränderte, Wien 2006, 74–95. Lehnguth, Externalisierung, 266 (wie Anm. 12), spricht von einer „narrativen Melange“.

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vergierenden Teil-Gedächtnisse gesetzt werden, um ein heterogenes Narrativ in einer Ausstellung plausibel darzustellen.

Rückblende – Ausstellungen zum Staatsvertragsgedenken 2005 Drei Jahre vor der Republikausstellung 2008 feierte das offizielle Österreich ein „Gedenkjahr“/„Gedankenjahr“, in dessen Zentrum das Jubiläum der Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai 1955 stand. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich – folgt man dem Fetisch der runden Zahl – das Gedenken an die Wiedergewinnung der staatlichen Souveränität mit dem an die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft 1945 wie auch an den Beitritt zur Europäischen Union 1995 verknüpft. Im politischen Kontext der schwarz-blauen Koalition bildete das Mehrfachjubiläum eine Art Testfall in Hinblick auf die Repräsentation des mit der Waldheim-Affäre eingeleiteten geschichtspolitischen Paradigmenwechsels von der Opfer- zur Mitverantwortungsthese, auch durch ein breites Spektrum neuer Forschungsergebnisse zu dieser Periode österreichischer Zeitgeschichte. Zwei Großausstellungen zogen in diesem Jahr die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums auf sich  : die Ausstellung Das neue Österreich im Oberen Belvedere in Wien, dem historischen Ort der Staatsvertragsunterzeichnung, mit 310.000 und die Ausstellung Österreich ist frei  ! auf der niederösterreichischen Schallaburg mit 230.000 BesucherInnen. Die beiden Ausstellungen konkurrierten um den Rang, die „Staatsvertragsausstellung“ zu sein, eine auch parteipolitisch akzentuierte Rivalität um historische Deutungsmacht. Die Ausstellung der niederösterreichischen Landesregierung auf der Schallaburg, unter der wissenschaftlichen Leitung von Stefan Karner, fokussierte mit einer thematisch strukturierten Chronologie die Nachkriegsperiode bis zum Staatsvertrag 1955 und setzte auf ein ereignis- und alltagsgeschichtliches Konzept, das die Erfahrungen des „kleinen Mannes“ in die Erzählung einzubinden versuchte. Das Projekt im Oberen Belvedere machte den Staatsvertrag zum Angelpunkt einer Erzählung über „den Weg Österreichs im 20. Jahrhundert“ und gab sich mit exklusiven Objekten und Meisterwerken der Kunst ganz als Retrospektive der „großen Geschichte“. Es war, wie erwähnt, auf Initiative eines privaten Proponentenkomitees zustande gekommen und stand unter der Leitung des ehemaligen Direktors des Historischen Museums der Stadt Wien, Günter Düriegl.19 Beide Ausstellungen präsentierten sich als 19 Veranstalter der Ausstellung war das „Komitee Staatsvertragsausstellung 2005 in Wien“, die

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materialreiche Rückschauen, vermieden es jedoch, wichtige und kontroverse Themen zuzuspitzen. Das galt vor allem in Bezug auf die Frage des Umgangs mit der NS-Vergangenheit. Mit dem Eingeständnis von Verantwortung und Schuld gaben sie die staatsoffizielle Haltungsänderung seit den Reden von Bundeskanzler Franz Vranitzky im österreichischen Parlament und in der israelischen Knesseth wieder. Sie sparten jedoch nahezu alle aktuellen Bezüge aus, indem sie die NS-Vergangenheit als ein abgeschlossenes historisches Phänomen erscheinen ließen. Die Ausstellung auf der Schallaburg zeichnete einen Weg, der „beginnend mit einer sehr eingeschränkten Handlungsfähigkeit Österreichs, über zahlreicher werdende Lichtblicke (Aufbrüche) in die Zukunft bis hin zu einem freien, offenen Staat“20 führte. In teleologischer Ausrichtung auf den Endpunkt der Ausstellung, den Staatsvertrag, vermittelte sich mit Versatzstücken szenisch dargestellter historischer Realität und atmosphärischen Raumstimmungen ein Nacherleben der Nachkriegszeit. Der Opfer des Nationalsozialismus wurde in dieser Ausstellung auf unterschiedliche Weise gedacht  : In einer vor dem Eingang platzierten und damit vom Erzählstrang der Ausstellung abgetrennten Koje wurde mit geschlechtslosen, auf die „Unzahl“ der NS-Opfer verweisenden Menschen-Icons ein undifferenziertes Gedenken an „die Vielen“ zelebriert. In einer Art „Weiheraum“ der Ausstellung vorangestellt, verkürzte sich die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus auf ein Totengedenken. Das Schicksal der Überlebenden und der Umgang der Zweiten Republik mit „ihren Juden“21 waren hier nicht angesprochen. Durch die „Exterritorialisierung“ des Opfergedenkens wurde ein Bruch inszeniert, der den Blick auf Kontinuitäten verstellte. Letztere wurden im eigentlichen Ausstellungsparcours zwar nicht verschwiegen, aber durch eine Darstellung relativiert, die ÖsterreicherInnen in erster Linie als Opfer und WiderstandskämpferInnen ins Bild setzte. Die TäterInnengeschichte, hier ebenfalls räumlich deutlich abgegrenzt, lag abseits des Hauptweges der Ausstellung, einer Geschichte von Leid und Entbehrungen, die aus dem drastisch, mit Bombenlärm und Gefallenengräbern inszenierten

Finanzierung erfolgte durch das Bundeskanzleramt Österreich, Wien Kultur, BAWAG-PSKGruppe, OeNB, Siemens, Telekom Austria, Verbund, Wiener Städtische und private Spenden, vgl. Das neue Österreich. Die Ausstellung zum Staatsvertragsjubiläum 1955/2005, hg. v. Günter Düriegl und Gerbert Frodl, Wien 2005. 20 Presseinformation vom 15.4.2005. 21 Diesem Thema war die ebenfalls 2005 veranstaltete Ausstellung Jetzt ist er bös, der Tennenbaum. Die Zweite Republik und ihre Juden im Jüdischen Museum der Stadt Wien gewidmet.

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Dunkel des Krieges zu dem als Verdienst österreichischen Überlebenswillens und Verhandlungsgeschicks zelebrierten Staatsvertrag führte. Die Ausstellung im Belvedere versprach, Österreichs Geschichte im 20. Jahrhundert im Sinne einer „Erfolgsgeschichte Österreichs mit all ihren Brüchen“22 zu erzählen. Mit einleitenden, auf „typisch Österreichisches“ verweisenden Zitaten machte sie österreichische Identität zum Bezugsfeld der Erzählung. Drei Geschichtsspuren – eine thematische „Exponatespur“, eine „Kunstspur“ und eine rot-weiß-rote „Fahnenspur“ als „Träger für Informationen und als Oberfläche für audiovisuelle Medien“ – führten durch die Ausstellung, unterbrochen durch frei im Raum positionierte, bestimmten Bereichen zugeordnete „Schlüsselobjekte“. In der gestalterischen Umsetzung23 litt das Konzept parallel verlaufender Geschichtsspuren durch die räumlich dominante „Fahnenspur“, die die Bezüge zwischen den an den Wänden verlaufenden Exponate- und Kunstspuren mehr verstellte als dass sie zu dem intendierten Perspektivenwechsel einlud. Auf der Exponatespur waren die von jeweils eigenen KuratorInnenteams konzipierten elf thematischen Sequenzen der Ausstellung weitgehend beziehungslos aneinandergereiht, verbunden nur durch die Präsentationsform in einer Art durchgängigem Schaufester. Eine Sonderstellung nahm der Bereich „NS-Herrschaft in Österreich“ ein. Die rot-weiß-rote Fahnenspur verschwand symbolisch unter den Tritten marschierender Soldaten, einer Projektion eines Ausschnitts aus dem NS-Propagandafilm „Triumph des Willens“. Sie mutierte zum „wehrmachtsgrauen“24 Bodenschatten, von dem sie sich 1945 wieder löste. Die Exponate waren hier, im Unterschied zu den davor liegenden Bereichen zum Ersten Weltkrieg und zur Zwischenkriegszeit, aus der Beliebigkeit eines unbestimmten, allgemeinen Verweischarakters auf eine spezifische Bedeutungsebene gehoben, wenn auch mit teilweise nicht nachvollziehbaren thematischen Gewichtungen. Bei den Leitobjekten, einer „Namensgebungswiege“ mit Reichsadler-Aufsatz und einem Schafott aus dem Wiener Landesgericht, setzten die AusstellungskuratorInnen25 auf eine emotionalisierende, die Konnotation des Barbarischen

22 Presseinformation zur Ausstellung, o.D. 23 Die Ausstellungsarchitektur stammte von Martin Kohlbauer, Mediengestaltung und interaktive Installationen von ART+COM AG. 24 Das neue Österreich, 346 (wie Anm. 19). 25 Das Team für den Bereich NS-Herrschaft leitete die Historikerin Helene Maimann. Zu den an der Ausstellung beteiligten KuratorInnen und wissenschaftlichen MitarbeiterInnen vgl. Das neue Österreich, Impressum (wie Anm. 19).

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evozierende Darstellung des Nationalsozialismus. Die Normalität und Alltäglichkeit des NS-Terrors und die Dimensionen der Involvierung von ÖsterreicherInnen in das NS-System konnten damit nicht vermittelt werden. Im Unterschied zur Ausstellung in der Schallaburg war die Mitschuld an den NS-Verbrechen hier jedoch durch die räumliche Positionierung „sichtbarer“ und in den Haupterzählstrang eingebunden. Auch die Opfergeschichte wurde in dieser Ausstellung differenzierter erzählt. Zum einen in Form von sieben, gestalterisch hervorgehobenen, individuellen Opferbiografien, zum anderen mit einer Inszenierung zum Thema Exil, die in ihrer sakral wirkenden Ausführung ebenfalls weniger auf historische Information denn auf Emotion setzte. Was auch in dieser Ausstellung fehlte, war eine TäterInnengeschichte, die sich nicht auf Beispiele aus der NS-Elite beschränkt, sondern die mittlere und untere Ebene des NS-Terrorapparates einbezieht. Von der niederösterreichischen Staatsvertragsschau unterschied sich die Ausstellung im Oberen Belvedere insofern, als sie österreichische Identität zum Thema machte und dabei einen teils ironischen Diskurs führte, so etwa in der Installation „Klischee und Wirklichkeit“, einem interaktiven Medientisch, auf dem Österreichstereotypen und „Gegenbilder“ abgerufen werden konnten. Auch in der abschließenden Sequenz der Ausstellung, einem mit Literaturzitaten und Kunstwerken gestalteten Kommentar zur österreichischen Gegenwart, herrschte ein ironischer Ton vor. Konterkariert wurde diese selbstkritische Haltung jedoch durch das in einzelnen Sequenzen vorherrschende Pathos, so etwa in dem erwähnten Bereich „Identität“. Nach einer den Gender-Aspekt gänzlich vernachlässigenden Präsentation in den vorangegangenen Abschnitten26, waren hier über großformatige Porträts und Werkzitate österreichischer Schriftstellerinnen prominent ins Bild gesetzt, laut Ausstellungstext ein Ausgleich für das Ignorieren der Frauen in der österreichischen Bundeshymne. Dieser fragwürdige Ansatz manifestierte sich in der gestalterischen Sonderstellung, verstärkt durch ein LED-Textband auf der nun hoch über den Köpfen schwebenden rot-weiß-roten Spur  : Zu lesen waren Äußerungen österreichischer Literaten zu Frauen, Kunst, Heimat und Menschen, die wie ein Zurechtrücken der „zu ebener Erd“ pathetisch inszenierten „weiblichen Dominanz“ anmuteten. Wie diese Präsentation und auch die Darstellung des Umgangs Österreichs mit der NS-Vergangenheit zeigte, war es nicht die Absicht der Ausstellung, 26 Dies gilt nicht für die Kunstspur, wo im Bereich „Zwischenkriegszeit“ ein Schwerpunkt mit Werken österreichischer Malerinnen gesetzt wurde.

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geschichtswissenschaftliche Diskurse, wie beispielsweise der Genderhistorie, konzeptuell zu integrieren, Vergangenheitspolitik zu thematisieren oder aktuelle Themen und Kontroversen aufzugreifen. Vielmehr ging es um die Vermittlung einer auf gesellschaftliche Kohärenz zielenden, konsensualen Geschichtserzählung.27 Das in Teilen der Ausstellung verwendete narrative Muster der ironischen Anspielung half, Kritik, Widersprüche und ungelöste Fragen in die Erzählung einzubeziehen. Auf diese Weise konnte, ohne abweichende Positionen einbeziehen oder Fragen zur narrativen Deutungshoheit zulassen zu müssen, Gewissheit über die „Erfolgsgeschichte“ Österreichs nach 1945 hergestellt werden. Dass sich die Ausstellung, die ihrem Titel nach Das neue Österreich zum Gegenstand hatte, auch mit dem „alten Österreich“ der Zwischenkriegszeit und des Ersten Weltkriegs beschäftigte, ermöglichte, schwierige und belastende Vergangenheit als Gegenbild zu der im Staatsvertrag symbolisierten, erfolgreichen „Selbstfindung“28 des neuen Staates zu erzählen. Die Staatsvertragsschau im Oberen Belvedere umfasste damit jene Periode österreichischer Zeitgeschichte, der auch die drei Jahre später eröffnete Republikausstellung gewidmet war.

Republikausstellung 2008 – Struktur und Gestaltung Das Konzept der Republikausstellung 2008 beruhte auf dem Strukturprinzip thematischer Längsschnitte. Ausgehend von der Darstellung der Republikgründung – einem der Schwerpunkte der Schau29 –, waren diese den „bis heute wirksamen Entwicklungssträngen der Republik“ 30 gewidmet. Die im Sinne thematischer Extrapolationen der Gründungsgeschichte konzipierten Längsschnitte bildeten aufgrund der unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen Themenbereiche zwei Teile  : eine politik- und ereignisgeschichtliche 27 „Die Ausstellung“, so die Proponenten in ihrem Vorwort im Ausstellungskatalog, „ist weder ‚rot‘ noch ‚schwarz‘, weder ‚rechts‘ noch ‚links‘, sie ist österreichisch.“ Vgl. Hannes Androsch/ Herbert Krejci/Peter Weiser, Geleitwort der Proponenten, in  : Das neue Österreich, 19 (wie Anm. 19). 28 Günter Düriegl, Ein Staat findet sich. Österreich und der Staatsvertrag, in  : Das neue Österreich, 23–29, 28 (wie Anm. 19). 29 Im Ausstellungsfolder heißt es  : „Einer der Schwerpunkte der Ausstellung bezieht sich auf die Gründungsjahre der Republik zwischen 1918 und 1920“, vgl. , 12.3.2010. 30 Karner/Mikoletzky, Österreich, 12 (wie Anm. 4).

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Darstellung unter dem Titel „Innenpolitik“, die etwa ein Drittel der Ausstellungsfläche einnahm, und eine Reihe weniger umfangreicher diachroner Themenpräsentationen. Die als historisch-thematischer Fokus der Ausstellung gedachte Erzählung über die Gründung der Republik 1918/19 wurde – beginnend mit einer Inszenierung zum Ende des Ersten Weltkriegs – im oberen Vestibül des Parlaments in mehreren Einzeldisplays abgehandelt. Symbolisch durch den Eintritt in die Säulenhalle des Parlaments davon abgesetzt, begannen die „Entwicklungsstränge“ mit dem in mehrere zeitliche Abschnitte getrennten Thema „Innenpolitik“  : Ein erster Abschnitt dieses Themenbereichs zeigte politische Ereignisgeschichte in der Zeit von 1919 bis 1938. Die anschließende Darstellung „Österreich und die NS-Zeit“ inkludierte Präsentationen über den Umgang der unmittelbaren Nachkriegszeit mit dieser Vergangenheit. Die Sequenzen zur Zweiten Republik waren, im Unterschied zur Darstellung der Periode 1919–1938, stärker thematisch ausgerichtet (Parteien, Staatsfinanzen, Bund/Länder, Moderne Gesellschaft etc.). Hier wurde im Unterabschnitt „Vergangenheit“ auch das Thema NSVergangenheit nochmals aufgegriffen. Auf die „Innenpolitik“-Chronik folgte eine Reihe von Themenpräsentationen, die jeweils die Periode seit 1918 zum Gegenstand hatten, wie „Arbeit – Freizeit“, „Soziales“, „Wirtschaft“, „Schule“, „Grenzen“, „Internationale Gemeinschaft“, „Nachbarn und Europa“, „Kirche und Staat“, „Religionen“, „Volksgruppen“ und „Sicherheit“. Dass bei den meisten dieser Themendarstellungen auch die NS-Zeit Berücksichtigung fand, ließ sich – auf den ersten Blick – als Indiz für eine weitgehend stabilisierte Position der Mitverantwortungsthese im staatsoffiziellen Geschichtsnarrativ deuten. Die Ausstellungsgestaltung stützte sich auf ein System von Wandelementen und Pultvitrinen mit Aufsätzen, in die auch die Mehrzahl der audiovisuellen Medien integriert war.31 Die räumliche Strukturierung beschränkte sich im Wesentlichen auf einen Rundgang. Dieser verlief entlang der Wand und langgestreckter – als Extensionen der Wandfläche dienender und dem Rhythmus der Säulen im Peristyl des Parlaments folgender – riegelartiger Pulte. Präsentiert wurden zum überwiegenden Teil Bild- und Textdokumente (vielfach Reproduktionen und auch eine beträchtliche Anzahl audiovisueller Medien), ergänzt durch dreidimensionale Objekte und verschiedene interaktive Vermittlungsangebote, die jeweils an den zur Mitte der Säulenhalle liegenden 31 Für die Gestaltung verantwortlich war, wie schon bei der ebenfalls von Stefan Karner kuratierten Staatsvertragsausstellung auf der Schallaburg 2005, die Gruppe pla.net.

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Endpunkten der Pultvitrinen platziert waren. Auf eine differenzierende Behandlung verschiedener Objektkategorien wurde verzichtet und die Präsentation zu einer Art Bild-Text-Kontinuum homogenisiert. Die Ästhetik eines gleichförmigen Bilderflusses korrespondierte mit dem linearen Duktus der zeitlichen Längsschnitte.

Exklusion von Diversität Geschichtsdeutungen unterliegen einem ständigen Prozess der Infragestellung, Überprüfung und Korrektur, über den sich die Legitimität des Vergangenheitsnarrativs einer Gesellschaft erst herstellen muss. Den Rahmen hierfür geben unterschiedliche Erinnerungskollektive vor, die selbst Veränderungen (z. B. in der ethnischen oder generationenspezifischen Zusammensetzung) unterliegen. Die Integration teils kontroverser Gedächtnisse in eine staatsoffizielle Geschichtsdeutung ist eine Frage der kulturellen Hegemonie. Veranstaltungen wie die Republikausstellung 2008 zelebrieren diese kulturelle Hegemonie und stellen mit einem Verfahren von Inklusion und Exklusion eben jenes Erinnerungskollektiv her, auf das sie verweisen. Ein Identifikationsangebot für potentzelle BesucherInnen sprachen die GestalterInnen der Republikausstellung 2008 mit dem auf allen Informationsmedien verwendeten Logo aus. Dem blockförmig gesetzten Titel „r e p u b lik/1918/2008/ausstellung“ waren links oben Figuren(paare) zugeordnet, die je nach Drucksorte wechselten  : Frau/Mann mit Kind, ein Paar, ein Mann mit Trolley etc. Auf der Vorderseite des Ausstellungsfolders wiederholte sich dieses Motiv als Hintergrund der Textpassagen.32 Alle Figuren waren in einem Moment der Bewegung festgehalten und trotz der schematischen Darstellung war erkennbar, dass es sich nicht um historische Figuren handelte. Mit Schul-, Akten-, Einkaufstaschen und Koffern versehen, zeigten die Abbildungen Menschen in heutigen Alltagssituationen. Das Spektrum der Figuren ließ generationenspezifische Merkmale erkennen (Frau mit Stock, Kinder, Jugendliche, Erwachsene), blieb im Übrigen aber weitgehend unspezifisch. Es zeigte Mitglieder einer modernen Arbeitsgesellschaft und erlaubte Identifikation über kulturelle, ethnische oder sonstige Differenz hinweg. Der/die BetrachterIn konnte sich unabhängig von ihrem/seinem sozialen und gesellschaftlichen 32 Für den Ausstellungsfolder vgl. , 12.3.2010.

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Status im Folder wiedererkennen. Er/sie trat in einen direkten Bezug zur gezeigten Geschichte, wurde symbolisch in die Erzählung integriert. Ähnlich funktionierte ein vor dem Parlament aufgestellter, elektronisch gesteuerter Großbildschirm mit einer von der Kronen-Zeitung finanzierten und als „Gesichter der Ausstellung“ betitelten „Kampagne“, die „Österreich und seine Menschen“ repräsentierten sollte.33 PassantInnen konnten hier erfahren, um wessen Geschichte es sich in der Ausstellung handelte. Die Bilder von ÖsterreicherInnen und ihrer Geschichte vermittelten die Botschaft, es handle sich um eine Ausstellung über die Vergangenheit aller ÖsterreicherInnen, um die Geschichte Österreichs. Einundneunzig, mit Geburtsdatum und Berufsbezeichnung versehene Porträts von österreichischen StaatsbürgerInnen wurden mit historischen Ereignissen/Fakten ihrer Geburtsjahre verknüpft  : „H[…] H[…]  : Metallschleiferin, geb. 1922, ‚Genfer Protokolle  : Völkerbundanleihe“, „P[…] M[…]  : Kommunikationsberater, geb. 1947, ‚Land der Berge‘ wird neue Bundeshymne“, „B[…] B[…] geb. 1999, Katastrophen im Tauerntunnel und in Galtür“. Die Installation spekulierte in zweifacher Hinsicht auf die performative Hervorbringung eines „Österreichischen“  : In Verbindung mit den Porträts wurden geschichtliche Ereignisse individualisiert und als Erfahrungen von ÖsterreicherInnen lesbar, zugleich verkörperten die porträtierten Individuen das in der Ausstellung angesprochene „österreichische“ Erinnerungskollektiv. Die Präsentation referierte auf eine individuelle, biografische Dimension von Geschichte, die – ohne Konkretisierung der Herkunft und der Lebensverläufe – de facto aber nicht erzählt wurde. Sie schrieb den Gesichtern eine geschichtlich begründete „österreichische“ Identität ein, ein Verfahren, das multiple Identitäten, etwa von ÖsterreicherInnen mit Migrationshintergrund, aussparte. Die Angabe des Geburtsortes der Abgebildeten hätte diese Dimension ohne besonderen Textaufwand repräsentieren können. Ausgeschlossen wurden mit dieser Form der Präsentation all jene ÖsterreicherInnen, die 1938 aus dem Land vertrieben worden waren. Und sie gab auch jenen keinen Raum, die in österreichische Geschichte involviert worden waren, aber nicht den Status von StaatsbürgerInnen hatten (ZwangsarbeiterInnen, NS-Häftlinge und Kriegsgefangene verschiedener Nationalität). Durch die Reduktion der Individualbiografien auf Geburtsjahr und Beruf wurde bestehende gesellschaftliche Diversität neutralisiert und Differenz unter dem Titel des Nationalen (Staatsbürgerlichen) homogenisiert. 33 , 12.3.2010. Die Präsentation wurde vom Bundespressedienst erstellt. Die gezeigten Porträts waren auch in Postkartenform erhältlich.

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Werbung für die Republikausstellung 2008 vor dem Eingang zum Besucherzentrum des Parlaments (Foto  : Parlamentsdirektion Wien/Mike Ranz)

Auch in den Ausstellungsdisplays waren ethnische und kulturelle Diversität nicht in ihren gesellschaftlichen und politischen Bezügen repräsentiert, sondern blieben – so sie überhaupt angesprochen wurden – auf einer nicht näher erläuterten faktischen Ebene. Dies lag unter anderem an der epistemischen Ordnung der Längsschnitte, in denen Politik, Wirtschaft, Soziales, Schule, Kultur, Religion etc. als geschlossene Wissenskategorien abgehandelt waren. So wurden beispielsweise beim Thema „Religionen in Österreich“ Judentum, Christentum und Islam als die wichtigsten in Österreich vertretenen Religionsgemeinschaften vorgestellt und deren historisch bedingte wechselnde Bedeutung in der österreichischen Gesellschaft angesprochen, nicht aber Fragen der Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber religiösen und kulturellen Minderheiten. Antisemitismus, Antiislamismus oder auch kulturelle Konflikte zwischen Gruppen verschiedener Religionszugehörigkeit blieben damit außerhalb des Blickfeldes, auch die sozialen Dimensionen religiöser Konflikte

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konnten so nicht zur Sprache gebracht werden. Ähnlich beschränkte sich die Ausstellung bei der Repräsentation ethnischer Identitäten im Display „Volksgruppen in Österreich“. Hervorzuheben ist, dass die Diskriminierung der Minderheiten in der Ersten Republik und die Verfolgung während des Nationalsozialismus wie auch die Nichteinhaltung der verfassungsmäßigen Minderheitenrechte in Kärnten thematisiert waren. Als historischer Bezugsrahmen für das Display dienten die Verfassungsbestimmungen der Ersten Republik, durch die sich Ethnien der ehemaligen Habsburgermonarchie im neuen österreichischen Staat als Minderheiten wiederfanden, und die Regelungen der Zweiten Republik, hier insbesondere des Volksgruppengesetzes 1976, wobei aber auf Veränderungen (etwa die Anerkennung des Volksgruppenstatus für Ungarn und Roma) nur peripher eingegangen wurde. Die Ausstellung referierte das historische Konzept homogener, an räumliche Grenzen gebundener ethnischer Gruppen. Sie begab sich so der Möglichkeit, die historischen Dimensionen von Ethnizität als Kategorie gesellschaftlicher Identität zu erkunden und Bezüge zwischen historischer Minderheitenpolitik und multiethnischen Identitäten sowie gesellschaftlicher Diversität heute zu schaffen. Dies erklärt auch, warum etwa Wanderungsbewegungen sowie der Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit Migration in der Ausstellung nicht berücksichtigt waren und warum gesellschaftliche Liberalisierung sowie kulturelle Diversität lediglich als Phänomene der Konsumkultur zur Sprache kamen. Im Subtext der Displays „Religionen in Österreich“ und „Volksgruppen in Österreich“ vermittelten sich ethnische und kulturelle Differenz im normativen Rahmen verfassungsrechtlicher Regelungen. Sie konnten so als Teil einer Österreich­ identität gedacht werden, ohne die Frage nach der Sinnhaftigkeit von auf Kultur und Ethnie basierenden Identitätskonzepten in Zeiten der Globalisierung stellen zu müssen.

Exklusion von Frauen – geschlechtergeschichtlicher Autismus Im Folder der Ausstellung war als einer der wesentlichen Themenbereiche der Ausstellung „Soziales, Alltag, Frauen, Gesellschaft“ aufgelistet. Durfte ausgehend von dieser Formulierung ein der Frauengeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre folgendes Konzept mit Fokus auf politischer Partizipation von Frauen und einer als weiblich attribuierten Alltagsgeschichte erwartet werden, so verlor sich dieser Ansatz nach einer kurzen, dem Abschnitt Republikgründung zugeordneten Sequenz „Frauen in der Politik“, der den ersten weiblichen

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Display zur Periode von 1960 bis heute, Bereich „Innenpolitik“ der Republikausstellung 2008 (Foto  : Parlamentsdirektion Wien/Mike Ranz)

Abgeordneten im österreichischen Parlament gewidmet war.34 Der, wie generell, im historischen Präsens gehaltene Bereichstext zum Display bezog sich auf Frauen in politischen Funktionen  : Eine Textpassage über die Auswirkungen des Frauenwahlrechts auf das Kräfteverhältnis von Christlichsozialer und Sozialdemokratischer Partei und die Repräsentation von Frauen in diesen politischen Organisationen endete mit der Feststellung der „wieder deutlich traditionelleren Vorstellungen in den Geschlechterrollen“ in den 1930er-Jahren. Ergänzt durch eine Kurzbiografie der sozialdemokratischen Abgeordneten Adelheid Popp, eine Statistik über den Frauenanteil im Nationalrat und eine tabellarische Aufzählung der „ersten Frauen in hohen politischen Ämtern der Republik“ (bis zur ersten Nationalratspräsidentin 2006), deckte dieses Display das Thema „Frauen in der Politik“ für den gesamten in der Ausstellung behandelten Zeitraum ab. Von einer Berücksichtigung des Geschlechts als Kategorie der historischen Analyse wurde in der Ausstellung gänzlich Abstand genommen, eine gegenüber Erkenntnissen der Geschlechtergeschichte autistische Haltung. 34 Ein Insert im Vorspann der Ausstellung informierte unter Verweis auf Praktikabilitätsprobleme über den Verzicht auf die Anwendung einer gendergerechten Sprache.

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Das Geschlecht der Geschichte zeigte sich durchgängig als männlich. Beim Display „Gründer der Republik“ (gezeigt wurden die drei Präsidenten des österreichischen Staatsrates Franz Dinghofer, Johann Nepomuk Hauser, Karl Seitz und Staatskanzler Karl Renner35) wurde dies explizit zum Ausdruck gebracht. Als Subtext stellte es sich in der von „Staatsmännern“ dominierten Präsentation „Innenpolitik“ ebenso ein wie in den anderen themenspezifischen Abschnitten. Selbst Bereiche, die aus einer rein politikgeschichtlichen Perspektive der Repräsentation geschlecherspezifischer Politikfelder und Akteurinnen bedurft hätten – wie der unter „Moderne Gesellschaft – Moderne Gesetze“ titulierte Abschnitt über den gesellschaftlichen Wandel seit den 1960er-Jahren – bedienten einen Frauen als politische Subjekte oder Geschlecht als Kategorie gesellschaftlicher Verhältnisse konsequent ignorierenden Diskurs. Dieser Abschnitt war unterteilt in zwei Perioden  : „Die 1960erund die 1970er-Jahre“ und „Seit den Achzigerjahren“. Im ersten Bereich wurde die gesellschaftliche Modernisierung als Resultat der unter dem Kabinett Josef Klaus begonnenen und in der Ära Bruno Kreisky weiter entwickelten Reformorientierung der Bundesregierung dargestellt. In der Aufzählung der Reformagenda fanden sich Hinweise auf die „volle Gleichberechtigung der Frau, Abschaffung des ‚Familienoberhauptes‘, Einführung der Fristenlösung für den Schwangerschaftsabbruch, Entkriminalisierung von Homosexualität, ‚Ehestörung‘ oder Ehebruch“. Drei größenmäßig gleichrangige Bilddokumente visualisierten diese, einem großkoalitionären Konsens geschuldete (und in diesem Sinne auf die Äquivalenz der Reformansätze verweisenden) Leistungsschau  : Ein Porträt von Justizminister Christan Broda, stellvertretend für die Justiz- und Rechtsreformen des Kabinetts Kreisky, ein Wahlplakat der SPÖ mit einem Frauenporträt (1970) und ein Plakat der „Aktion Leben“ (1975), das unter dem Titel „Ich will leben. Schütze mich und meine Mutter …“ einen Fötus zeigt. Das repräsentative Porträt (Brustbild, formelle Kleidung) wies Broda als „Staatsmann“ aus und signalisierte dessen Bedeutung als Akteur im historischen Geschehen, es symbolisierte die Staatsmacht. Mit dem optisch auf gleiche Höhe gesetzten Frauenporträt schien Gleichheit der Geschlechter hergestellt. Die Frau blieb jedoch anonym, bloßes Icon in Bezug auf die Wahlslogans, und war damit nicht als Agierende im Feld der thematisierten Reformpolitik gekennzeichnet. Die Botschaft dieser Frauen-/Geschlechter35 Nicht auf den ersten Blick erkennbar war, dass sich das oberhalb der abgebildeten Personen großformatig gesetzte Insert „Die Präsidenten des deutsch-österreichischen Staatsrates“ nur auf drei der Portraits bezog.

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politik scheinbar ins Bild setzenden Anordnung war  : Der Minister (Mann) macht Politik für Frauen. Die Akteurinnen im gesellschaftlichen Wandel der 1960er- und 1970erJahre waren sowohl auf der Bild- wie auch auf der Textebene ausgeschlossen. Weder traten die zeitgenössische autonome Frauenbewegung noch die Reformpolitikerinnen der etablierten Parteien als Handelnde in Erscheinung. Die Spiegelung des Frauenporträts durch das direkt unterhalb gesetzte Anti-Abtreibungs-Plakat der „Aktion Leben“ rückte die Gegenposition zur Reformpolitik in das Zentrum der Erzählung. Körper- und Sexualpolitik wurden als ein Frauen zuordenbares Problemfeld identifiziert. Diese geschlechtliche Kategorisierung fand ihre Bestätigung in der unmittelbar angrenzenden Repräsentation der 1980er-Jahre. In einer Ebene mit dem SPÖ-Wahlplakat mit dem Frauenporträt angeordnet, signalisierte das Bild der Industrieanlagen der OMV in Schwechat den inhaltlichen Kontrapunkt Industrie/Technik. Oberhalb und seitlich von Porträts männlicher Regierungsmitglieder (Sinowatz, Vranitzky, Haupt, Schüssel) eingerahmt, formierte sich ein Aussagefeld, das „Frau/Abtreibung“ und „Industrie/Technik“ als Gegenstand männlicher Macht/Politik inszenierte. Das am Ende der Bildabfolge gezeigte Foto einer Demonstration gegen die Pensionsreform der Regierung Schüssel (im Jahr 2003) zitierte soziale Proteste, eine Thematik, auf die im Text nur mit dem von den sozialen Auseinandersetzungen und Verteilungsfragen abstrahierenden Verweis auf „Veränderungen und Anpassungsbedarf “ Bezug genommen wurde. Auch hier vermittelte das Display den sozialen Protest aus einer durch staatliche Macht autorisierten Perspektive von Administration und Kontrolle und nicht aus der eines partizipativen, interessenorientierten Politikmodells.

Selektive Zeitdramaturgie und Gewaltdiskurs Ein wesentliches Gestaltungselement jeder Art von Erzählung, auch einer Ausstellung, sind Zeitstrukturen. Abfolge, Ausdehnung, Komprimierung der Zeit in einem Display ermöglichen Differenzierungen und Bedeutungssetzungen, helfen Vergangenheit in lesbare (Zeit-)Einheiten zu fassen. Erzählte Zeit stark zu verkürzen ist legitim, gerade auch wenn es darum geht, die wesentlichen Inhalte einer historischen Ausstellung in einem Informationsblatt zu umreißen. Das Bildprogramm des Folders zur Republikausstellung 2008 referierte auf historische Daten/Ereignisse in einer Weise, die entscheidende Momente der Republikgeschichte, wie die Ausschaltung des Parlaments, aus-

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sparte. Kombiniert mit den Periodisierungen der begleitenden Texte reproduzierte der Informationsfolder einander widersprechende geschichtspolitische Paradigmen  : In zentralen Aussagen spiegelte sich der Opferdiskurs, mit dem konfliktbeladene, umstrittene Vergangenheit ausgeblendet wurde. Zugleich integrierte die Präsentation die NS-Mitverantwortungsthese. So waren auf der Vorderseite des Folders mit Fotografien von der Ausrufung der Republik 1918 und von der Öffnung eines Grenzbalkens beim Einmarsch deutscher Truppen 1938 die Eckdaten der staatlichen Existenz Österreichs angesprochen, nicht aber das Ende der Ersten Republik 1933, das im Rahmen einer „Republikausstellung“ ein Ereignis von zentraler Relevanz sein sollte. Ähnlich unbestimmt blieb das Bildprogramm auf der Rückseite des Folders. Erzählt wurde von Arbeitslosigkeit und Gewalt in den politischen Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit (Justizpalastbrand 1927, Februar 1934, NS-Putschversuch 1934), neuerlich vom Einmarsch deutscher Truppen 1938 (Innsbruck) und der Verfolgung von Juden im Nationalsozialismus. Die Zweite Republik war repräsentiert durch eine Aufnahme von der Präsentation des Staatsvertrags am Balkon des Belvedere 1955, ein Filmplakat „4 im Jeep“ und ein Foto mit österreichischen Soldaten bei der Grenzsicherung (1991). Auf die Befreiung Österreichs von der NS-Herrschaft und die Wiedergründung der Republik 1945 wie auch auf den EU-Beitritt 1995 wurde mit keinem Bild Bezug genommen. Stattdessen schufen die gezeigten Abbildungen eine direkte Verbindung zwischen dem Staatsvertrag als einem Akt der Befreiung von der Besatzung („Fremdherrschaft“) und der militärischen Sicherung Österreichs in den 1990er-Jahren und setzten auf die Assoziation von Staat und Grenzschutz. Ohne weitere bildliche Referenz auf die De-facto-Aufhebung bzw. Öffnung der Grenzen durch die Integration Österreichs in die EU evozierte die Darstellung Konnotationen zu dem völlig anders besetzten Sicherheitsdiskurs der Gegenwart. Als zentrale Themenfelder der österreichischen Geschichte seit 1918 machte der Folder so eine problematische, weil von wirtschaftlichen Defiziten und politischer Gewalt geprägte Zwischenkriegszeit, eine auch durch Mitwirkung von ÖsterreicherInnen gekennzeichnete NS-Herrschaft und eine mit dem Staatsvertrag 1955 beginnende, militärisch gesicherte staatliche Eigenständigkeit sichtbar. Ein ähnliches Verfahren zeitlicher Strukturierung kam bei einem im Eingang zur Ausstellung platzierten Informationsvideo zur Anwendung. Auch hier „verschwand“ die Ausschaltung des Parlaments und die Errichtung der autoritären Regierungsdiktatur 1933 in einer Abfolge von Justizpalastbrand 1927 – Februarereignisse 1934 – Juliputsch 1934. Im Zentrum

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Teil 1 des Displays über die Jahre 1927–1930, Bereich „Innenpolitik“ der Republikausstellung 2008 (Foto  : Parlamentsdirektion Wien/Mike Ranz)

der Betrachtung zur Periode bis1938 standen wirtschaftliche Probleme (Arbeitslosigkeit) und oppositionelles Handeln, während Fragen der Legitimität staatlicher Gewalt, die bei Erwähnung der Parlamentsausschaltung 1933 in den Fokus gerückt wären, ausgespart wurden. In der Ausstellung selbst war die Periode 1919–1938, in dem unter „Innenpolitik“ firmierenden Bereich, differenzierter dargestellt. Hier folgte die Erzählung auf der Bild- und teilweise auch auf der Textebene dem großkoalitionären Paradigma der „geteilten Schuld“. Die mit dem Bereichstext „Demokratie auf Probe“ eingeleitete Periode bis 1933 umfasste vier Abschnitte  : „1919“ (über „Not und Unsicherheit“ und die Friedensverhandlungen), „1920/21“ (über den Koalitionsbruch 1920 und „Anschlussbestrebungen“), „1927–1930“ und „1933“. Als Leitbild des Displays „1927–1930“ diente ein großformatiges Foto mit dem brennenden Justizpalast. Ein in die Abbildung montierter Bildschirm mit Filmaufnahmen vom 15. Juli 1927 vermittelte die Dramatik der Ereignisse.36 Den visuellen Kontrapunkt zu dieser Dokumentation des Brandes und 36 Abgesehen von einem Hinweis auf den Leihgeber, das Österreichische Filmmuseum gab es

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der Tumulte bildete ein christlichsoziales Wahlplakat mit der Aufschrift „Am 15. Juli 1927 brannte es in Wien. Wer will, daß es bei uns nicht brennt, wählt Christlichsozial“. Es zeigte den brennenden Justizpalast als Symbol der chaotischen Stadt und als Antithese dazu eine die heile ländliche Welt spiegelnde Bergidylle. Neben diesen Exponaten applizierte frei stehende Reproduktionen von Presseschlagzeilen zum Schattendorfer Prozess („Blutiger Sonntag im Burgenland …“, „Freispruch im Schattendorfer Prozeß“) kommentierten die Abbildungen. Eine in die Paneelwand eingebaute Vitrine mit „Brandakten“ erbrachte den authentischen Beweis für die Zerstörungen durch die Gewalt der Straße. Im begleitenden Text „eskalieren die Proteste der Arbeiterschaft“, „der Justizpalast wird in Brand gesetzt, die Polizei schießt in die Menge“. Das verfügbare historische Wissen über die Ereignisse des Juli 1927 zeichnet hinsichtlich der Abläufe und Kausalitäten ein differenzierteres Szenario. Die als ein Faktor der Eskalation nachgewiesene Unverhältnismäßigkeit 37 im Vorgehen der Staatsmacht gegen die DemonstrantInnen kam weder in der Bild- noch in der Textebene zum Ausdruck. Es blieb die Aussage einer von den „Massen“ ausgehenden Gefahr. Die zitierten Schlagzeilen über den Schattendorfer Prozess verwiesen auf den Anlass für die Proteste, sagten aber wenig aus über politische Justiz und die politischen Hintergründe der Auseinandersetzungen. Der zweite Teil des Displays „1927–1930“ war übertitelt mit „Gewalt in der Politik“. Bildlich dominierten drei vertikal angeordnete Fotografien. Zwei davon zeigten Aufmärsche des Republikanischen Schutzbundes, eines eine Bundesheerabsperrung gegen nicht näher definierte „Aufmärsche der Wehrverbände in Wiener Neustadt“. Auf der zweiten Hälfte des Paneels waren der Korneuburger Eid der Heimwehren 1930 und darunter ein kleinformatiges Bild eines Aufmarsches der Heimwehr, ebenfalls in Wiener Neustadt, präsentiert. Zu lesen war über den großen Zulauf der antimarxistischen Heimwehren nach dem Justizpalastbrand und den Höhepunkt des Einflusses des Republikanischen Schutzbundes im Jahr 1928. Der Text schloss mit der Feststellung  : „Die zunehmende Gewalt in der Politik schwächt den Staat und er-

(soweit der Autorin in Erinnerung) keine weiteren Angaben, etwa über die Autorschaft des Films. 37 Gerhard Botz, Gewaltkonjunkturen, Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Krisen. Formen politischer Gewalt in der Ersten Republik, in  : Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Wien 2008, Bd. 1, 229–362, 340 und 351, spricht von einem „Polizeimassaker“ und führt die Eskalation der Ereignisse „wenigs­ tens teilweise“ auf einen „äußerst gewaltsamen Polizeieinsatz“ zurück.

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regt international Aufsehen.“ Durch die unmittelbar anschließende Sequenz „1933“ mit dem Bereichstext „Ende der Demokratie“ vermittelte sich ein direkter Zusammenhang zwischen der Gewalt der Wehrverbände und der im nachfolgenden Display dargestellten Ausschaltung des Parlaments. Im Text zur Parlamentsausschaltung waren die Weltwirtschaftskrise und der Aufstieg des Nationalsozialismus als Gründe für die „weitere Radikalisierung der politischen Kräfte“ und den Entschluss Dollfuß’, nach der Parlamentskrise autoritär zu regieren, angeführt. Dominantes Bild auf dem Paneel zu 1933 war das Titelblatt der Zeitung „Das Kleine Blatt“ vom 5. März 1933, dessen Schlagzeile „Krise im Nationalrat  ! Die drei Präsidenten zurückgetreten. Nach einer Kampfabstimmung über den Eisenbahnerstreik“ die Ereignisse umriss. Unter den Schlagzeilen zeigt dieses Titelblatt eine mehr als halbseitige Karikatur zum Ergebnis der Reichstagswahl in Deutschland  : ein Partezettel für die gestorbene Freiheit Deutschlands über einer Christus ähnlichen Halbfigur eines Geschundenen, der ein Stimmzettel angeheftet ist. Aus welchen Gründen die AusstellungskuratorInnen hier nicht, wie in anderen Fällen, lediglich die Schlagzeilen reproduzierten, sondern das gesamte Titelblatt mit der in diesem Kontext thematisch nur bedingt relevanten, dennoch aber als zentrale Bildbotschaft sich aufdrängenden Karikatur, bleibt unklar. Neben diesem Titelblatt informierten eine Abbildung der Nationalratssitzung vom 4. März 1933, eine Karikatur über die Ausschaltung des Parlaments und des Verfassungsgerichtshofes durch Engelbert Dollfuß sowie ein Video und Originaldokumente über das historische Geschehen. Den optischen Schlusspunkt des Abschnitts „1933“ bildete das als großformatiges Hintergrundbild dienende Foto vom 15. März 1933 mit den vor dem Plenarsaal des Nationalrates sitzenden Polizeibeamten in Zivil. Räumlich und ästhetisch korrespondierte es mit dem Bild vom brennenden Justizpalast der Präsentation „1927–1930“. Die beiden Sequenzen wurden dadurch zu einer als zeitliche Abfolge lesbaren Einheit zusammengefasst. Komprimiert auf 1919 (Not, Unsicherheit, Friedensverhandlungen), 1920/ 21 (Koalitionsbruch), 1927–1930 (Justizpalastbrand, Gewalt in der Politik) und 1933 (Ende der Demokratie), bestätigten sich in dieser Erzählung über die Erste Republik Not und Gewalt als zentrale Paradigmen dieser Periode österreichischer Zeitgeschichte. Abgekoppelt vom politischen Prozess, konnte das Scheitern der Ersten Republik mit diesem Display auf Armut und Not sowie ein generelles Gewaltphänomen zurückgeführt werden. Politikdiskurs, ideologische Positionen, soziale und gesellschaftliche Kontexte, aus denen sich Interessen und Motivlagen der AkteurInnen rekonstruieren hätten lassen, waren

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bestenfalls punktuell und indirekt (für historisch Informierte) erkennbar. Von Interessen befreit und auf Aktion/Reaktion reduziert, konnte das Ende der Demokratie als eine schicksalhafte Entwicklung interpretiert werden. Ein der inneren Logik der Ereignisse bzw. anonymen Mächten Ausgeliefertsein vermittelte auch ein Zitat von Leopold Kunschak, das als großformatige Headline über den nachfolgenden Abschnitt „Diktatur in Österreich“ gesetzt war  : „Gebe Gott, daß sich die Zerrissenheit des Geistes und der Seele von unserem Volk und seinen Führern bald hebe, ehe Volk und Land an den Gräbern steht und weint.“38 Das Zitat gab eine Lesart des Displays vor, nach der der Austrofaschismus als Konsequenz einer historischen Problemlage erschien und nicht als eine von Interessen geleitete Option zur Herrschaftssicherung. Auch die zeitliche Gliederung dieses Displays in „1934“ („Bürgerkrieg und ‚Ständestaat‘“) und „1936–1938“ („Der Weg zum ‚Anschluss’“) legte ein UrsacheWirkung-Prinzip als Erklärung der austrofaschistischen Diktatur nahe. Die Strategie einer auf Einzelereignisse fokussierten, zeitlich stark komprimierten Erzählung erlaubte es, die Konflikterinnerung an das Scheitern der Ersten Republik und die austrofaschistische Diktatur in eine geschichtliche Abläufe absolut setzende Argumentationskette einzubinden und so ein abstrakt „der Geschichte“ zuzuordnendes Scheitern zu begründen. Anders hingegen bei der Darstellung der Zweiten Republik (im Bereich „Innenpolitik“), die als eine erfolgreiche Bewältigung von Herausforderungen erzählt wurde und als solche mehr über Thematiken als mit Ereignissen repräsentiert war. Hier wurden auch „Konfliktfelder“ benannt und als Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzung erkennbar. „Staatsfinanzen“, „Bund-Länder“, „Vergangenheit“ und „Neue Themen“ (darunter subsumiert Umwelt- und Asylpolitik) bildeten ein Themenspektrum ab, in dem sich auch die aktuellen Bezüge der Ausstellung verdeutlichten. Unter dem Zwang eines standardisierten Layouts nahm manche der auf ein Minimum komprimierten Darstellungen jedoch Zuflucht zu radikalen Vereinfachungen komplexer Sachverhalte und einer Verwendung der Exponate als bloße Belege der Texterzählung. So beispielsweise beim Thema „Staatsfinanzen“, in dem die Politik des stabilen Haushalts der ÖVP und die der Defizitpolitik der SPÖ zugeordnet war, ohne konkret auf Fragen der Verteilungspolitik und deren historische Kontexte einzugehen. Bildlich war diese Sequenz durch zwei ÖVP-Wahlplakate aus den Jahren 1953 und 1975, Fotos von Bundeskanzler Julius Raab und Finanzminister Reinhard Kamitz sowie eine Aufnahme von Bruno Kreisky 38 Leopold Kunschak im Wiener Gemeinderat, 9.2.1934.

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dokumentiert. Kombiniert mit dem optisch herausgehobenen Bekenntnis Bruno Kreiskys zum Schuldenmachen für die Erhaltung von Arbeitsplätzen, konstruierte diese Bild-Text-Anordnung eine ahistorische Dualität politischer Haltungen. Die Wahlplakate und Werbebotschaften einer Partei bildeten den Referenzrahmen für eine historische Faktizität suggerierende Aussage über die Staatsfinanzen der Zweiten Republik. Als bloß der Affirmation des Textes dienende Illustrationen waren sie einer Reflexion ihres Gegenstandes entzogen und eine Auseinandersetzung mit Bedeutungsproduktion und Sicherung politischer Hegemonie anhand der gezeigten Objekte damit nicht möglich. Auch in anderen Bereichen wurde mit diesem Konzept (der Behandlung der Objekte als einer Art Textbeiwerk) eine „geschlossene“ Bild-Text-Erzählung produziert, bei der ein explorativer, das Bedeutungsspektrum ausschöpfender Umgang mit den Objekten nicht intendiert war. Objekte wie die beiden ÖVPWahlplakate hätten währenddessen die Möglichkeit geboten, im Rahmen eines (wirtschafts-)historischen Längsschnitts, Inflationserfahrung, Geldwertstabilität und Budgetpolitik zu thematisieren.

Opfermythos und Leiderfahrung Die Opferthese als ein über Jahrzehnte konsensuales, staatsoffizielles Geschichtsparadigma impliziert/e einen Leiddiskurs, der erlaubte, Österreich als Objekt der Geschichte darzustellen und die Verantwortung für prekäre Vergangenheiten zu externalisieren. Das Schema Leiderfahrung ermöglichte aber auch, mit der Integration des NS-Tätergedächtnisses in das staatsoffizielle Narrativ zurechtzukommen. Und es war für das erwähnte nationalhistorische Erziehungsparadigma39 von Bedeutung, indem es half, die Zweite Republik als Antithese zur gescheiterten Ersten Republik zu interpretieren. Eine mit dem Opfermythos verknüpfte und im kollektiven Gedächtnis nachhaltig verankerte Erinnerungsfigur besteht darin, die Befreiung Österreichs mit dem Staatsvertrag und nicht mit der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft, die als „Zusammenbruch“ erinnert wird, zu assoziieren. Dieses den Nationalsozialismus relativierende, nationale Befreiungsparadigma reproduzierte die Ausstellung insofern, als sie die Darstellung der Befreiung und der Besatzungszeit unter dem Titel „Befreit – Besetzt“ präsentierte und die nachfolgende Sequenz „Zweite Republik“ mit einer Vitrine mit dem Staatsvertrag aus dem Jahr 1955 39 Gehmacher, Erziehungsroman (wie Anm. 15).

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beginnen ließ. Damit konnte die Periode 1945–1955 als eine „fremdbestimmte“ von der Erzählung der Geschichte der Zweiten Republik abgetrennt werden.40 Auch auf der ästhetischen Ebene präsentierte sich die Periode 1945–1955 als Fortsetzung und Endpunkt der seit der Staatsgründung 1918 andauernden „Problemgeschichte“. Eine Bildikone, der brennende Stephansdom, diente als großformatiger Bildhintergrund für diesen Abschnitt. Ohne auf die eigentliche Ursache des Brandes (Funkenflug, ausgelöst durch von Plünderern in den umliegenden Häusern gelegte Brände) einzugehen, erzeugte dieses Bildzitat die Assoziation von Zerstörungen infolge von Kriegshandlungen (Bombardierungen) und schuf so das entlastende Angebot, von der Involvierung in diesen Krieg abzulenken und die Verwüstung des Wiener Wahrzeichens im Sinne des Opferdiskurses als Symbol der Gewalt gegen Österreich zu deuten. Im Übrigen war das Display „Befreit – Besetzt“ in zwei Abschnitte geteilt  : Einen ersten Teil „Wieder Demokratie“, in dem mit Wahlplakaten und Abbildungen zur Nationalratswahl 1945 der antifaschistische Konsens der unmittelbaren Nachkriegszeit als konstitutiv für das neue demokratische Österreich ausgewiesen war, und einen zweiten Teilabschnitt „Unter Besatzung“, der die Funktion des Alliierten Rates beschrieb und, repräsentiert durch Porträt und Biografie von Leopold Figl, von Befreiung aus dem NS-Konzentrationslager und der Unterzeichnung des Staatsvertrages erzählte. An der räumlichen Schnittstelle zwischen den Pultvitrinen zur NS-Zeit und dem Display „Befreit – Besetzt“ referierte eine wandhohe, mit Bildelementen (Aufnahmen von Bombenschäden, Kriegsgefangenen und Soldatengräbern) ausgestattete Grafik „Österreichische Kriegsopfer im Zweiten Weltkrieg“ auf das kollektive Opfergedächtnis der Kriegsgeneration. In der Zusammenschau der beiden Wandpaneele vermittelte sich ein Bild des opferreichen Krieges und einer fremdbestimmten Existenz eines antifaschistischen Österreich, einer Periode der österreichischen Geschichte, die mit dem Staatsvertrag ihr Ende fand. Dem Opferdiskurs entsprach die völlige Ausblendung der Rolle von Österreichern in der Deutschen Wehrmacht, ein Thema, das auch in der übrigen Ausstellung keinen Platz fand.41

40 Zur Zweiten Republik als Antithese zur Ersten vgl. Pelinka, Funktionalität (wie Anm. 11). 41 Im Bereich „Sicherheit“ wurde das Thema „Deutsche Wehrmacht“ lediglich unter dem Aspekt der Übernahme ehemaliger Bundesheerangehöriger in die Deutsche Wehrmacht besprochen, wobei auf ca. 700 aus „rassischen“ oder politischen Gründen nicht übernommene Bundesheerangehörige verwiesen wurde. Nicht zur Sprache kam die aktive Rolle von Österreichern in der Deutschen Wehrmacht.

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Darstellung der österreichischen Opferbilanz im Zweiten Weltkrieg, Bereich „Innenpolitik“ der ­Republikausstellung 2008 (Foto  : Parlamentsdirektion Wien/Mike Ranz)

Im Unterschied zur Reproduktion des Opferdiskurses in dieser gleichsam als „Vorgeschichte“ der Zweiten Republik dargestellten Nachkriegsperiode vermittelte der zwischen den Sequenzen „Diktatur in Österreich“ und „Befreit – Besetzt“ in einer langgestreckten Pultvitrine abgehandelte Bereich „Österreich und die NS-Zeit“ (dem Thema „Innenpolitik“ zugeordnet) ein differenziertes Bild, in das auch der Umgang der Zweiten Republik mit der NS-Vergangenheit einbezogen war. Die Opferthese war hier explizit als Argument einer geschichtspolitischen Wende ausgewiesen, mit der nach einer ersten Phase antifaschistischer Politik eine weitere Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit abgewehrt worden war. Verweise auf die Reintegration der „Ehemaligen“ und die lange Geschichte der Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus ließen Kontinuitäten über das Ende der NS-Herrschaft hinaus sichtbar werden. Eine klar zwischen rassistisch, religiös und sexuell verfolgten Opfern („Juden“, „NS-Medizin“, „Roma/Sinti“, „Zeugen Jehovas“, „Homosexuelle“) und solchen des politischen Widerstandes unterscheidende und die politisch, religiös oder humanitär motivierte aktive Gegnerschaft zum Nationalsozialismus in ihren realen Dimensionen dokumentierende Herangehensweise half vergangenheitspolitische Diskurspositionen zu dekonstruieren.

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In diese Präsentation „Österreich und die NS-Zeit“ integriert war eine Statistik über die Opfer der NS-Verfolgung. Dieser empirische Beleg des Leidens der von der NS-Verfolgung Betroffenen wurde an der Schnittstelle zwischen dem Display zum Nationalsozialismus und dem zur Nachkriegszeit mit einer im grafischen Design identen, jedoch bildlich und maßstäblich „aufgewerteten“ Statistik über die österreichischen Kriegsopfer dupliziert  : Die Darstellung der österreichischen Opfer des Zweiten Weltkriegs gerierte sich, allein in den Größenverhältnissen der Grafiken (geschätzt 1  : 10), wie ein plumpes Übertrumpfen im Leiden. Im wörtlichen Sinn vermittelte sich eine Botschaft der übermäßigen Leiden der österreichischen Bevölkerung am Krieg und in der so inszenierten Opfer-Konkurrenz eine Denkfigur, die die Opfer der NSVerfolgung als das marginale Andere definierte. Damit war die im Abschnitt „Österreich und die NS-Zeit“ deutlich zum Ausdruck gebrachte Mitverantwortungsthese schon im unmittelbar darauffolgenden Abschnitt „Befreit – Besetzt“ konterkariert durch eine die Täterschaft relativierende und Leid aufrechnende Inszenierung. Beide Präsentationen waren zudem unter dem Thema „Innenpolitik“ subsumiert. Die Gliederung in die Abschnitte Nationalsozialismus und Nachgeschichte und die davon abgetrennten Bereiche Republikgeschichte 1945–1955 und 1955 und danach machte diese gleichzeitige Repräsentation einander widersprechender Vergangenheitsdiskurse möglich. In den anderen themenbezogenen historischen Längsschnitten blieb die NS-Vergangenheit eine zeitlich klar durch das Jahr 1945 begrenzte Periode. Im strikten Korsett der Periodisierung konnte das Bild einer „Stunde null“ assoziiert und die Geschichte der Zweiten Republik als unabhängig von vorangegangenen Perioden österreichischer Vergangenheit gedacht werden. Im Bereich „Wirtschaft 1918–2008“, der unter dem Titel „Von der Not zum Wohlstand“ zusammengefasst war, manifestierte sich dies beim Informationstext über den „Wiederaufbau“. Der Verweis auf „erfolgreiche Großprojekte“, die zu „Symbole(n) dieses Neubeginns“ wurden, sprach zentrale Wiederaufbaumythen wie Kaprun an, ohne die Kontinuitäten zum Nationalsozialismus zu problematisieren. Ein Foto von „Trümmerfrauen“, eine Reproduktion des Befehls Nr. 17 der sowjetischen Besatzungsmacht (betreffend deutsches Eigentum), eine Karte mit den Standorten des USIA-Konzerns und ein Foto eines DDSG-Schiffs mit kyrillischer (sowjetischer) Aufschrift zitierten klassische Sujets der Leiderzählung der Kriegs- und Wiederaufbaugeneration  : Bombenschutt, Beraubung und Enteignung durch die sowjetische Besatzungsmacht. Das Bildzitat „Trümmerfrauen“ abstrahierte, wie so häufig bei der Verwendung dieser Fotos, von der Tatsache, dass in erster Linie „minderbelastete“

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ehemalige Nationalsozialistinnen für diese Tätigkeiten herangezogen wurden. Ohne Information über den historischen und politischen Kontext kommunizierte die Abbildung die Härten des Nachkriegsalltags und Frauen als Opfer des Bombenkriegs. Damit ließ sich die Erzählung in einen Schuld abwehrenden Leiddiskurs einbinden.42 Einer differenzierenden Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit stand letztlich auch die strukturelle Konzeption der Ausstellung entgegen. Die Problematik, umfassende Themen auf knappem Raum in historische Längsschnitte zu fassen, zeigte sich auch in dem der NS-Zeit gewidmeten Abschnitt des Displays zum Thema „Wirtschaft“. Eines der fünf Exponate war ein Inserat aus den Wiener Neuesten Nachrichten, mit dem ein „Berliner Finanzier“ nach „rentablen Betrieben“ zur „Arisierung“ sucht. Die hier erzeugte Konnotation eines Raubzuges von Deutschen wurde auf der Textebene verstärkt mit einer Argumentationskette, die die Überführung der Gold- und Devisenreserven der Oesterreichischen Nationalbank nach Berlin in eine Reihe setzte mit den „Arisierungen“ und der Ausbeutung der österreichischen Rohstoffvorkommen durch die deutschen Nationalsozialisten. Das Beispiel zeigt, dass mit einer derart dem Primat des zeitlichen Überblicks verpflichteten Aufzählung mehr historisches Wissen zum Verschwinden gebracht wurde als vertiefende Information geboten werden konnte. Einer Thematisierung von Antisemitismus und Rassismus über die Periodisierungen entlang politischer Zäsuren hinweg ließ die dem Prinzip „Entwicklung“ folgende Ausstellungsdramaturgie keinen Platz. Im Korsett abgeschlossener zeitlicher Sequenzen konnten historische Erfahrungen als gleichsam neutralisiert, „bewältigt“ erscheinen. Einen entlastenden Opferdiskurs bot auch das oben bereits erwähnte Display „Diktatur in Österreich“ im Bereich „Innenpolitik“ an. Die Darstellung war in zwei Abschnitte gegliedert  : Der erste beschäftigte sich mit den Ereignissen im Februar 1934 und im Juli 1934. Im zweiten Teilabschnitt „Der Weg zum ‚Anschluss‘“, zeitlich mit 1936–1938 eingegrenzt, blieben nicht genutzte historische Optionen einer Kooperation mit antinazistischen und patriotischen Kräften der verbotenen sozialdemokratischen und kommunistischen Opposition ohne Erwähnung. Auch waren die politischen Positionen der in die Illegalität gedrängten linken und der nationalsozialistischen Opposition nicht sichtbar. Reduziert auf die Formel „Innen- und außenpolitisch wehrt sich 42 Siehe hierzu Irene Brandhauer-Schöffmann/Ela Hornung, „Trümmerfrauen“ – Deutungsmus­ ter für eine Ikone der Nachkriegszeit, in  : Wassermair/Wegan (Hg.), rebranding images, 79–91 (wie Anm. 5).

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der ‚Ständestaat‘ gegen den ‚Anschluss‘ an Hitler-Deutschland“ und mit Verweis auf die politische Wende der Schutzmacht Italien wurde das Bild eines verratenen, verzweifelt gegen „Hitler-Deutschland“ sich wehrenden Österreich vermittelt. Bildlich war mit einem Foto eines Aufmarsches der Vaterländischen Front vor dem Parlament (anlässlich der Rede Schuschniggs vom 24. Februar 1938) und Propagandamaterial zu der für 13. März geplanten Volksabstimmung das ständestaatliche Österreichbekenntnis ins Zentrum gesetzt. Gleichsam als Gegenstück dazu und Beweis für die zunehmende Bedrängnis durch das nationalsozialistische Deutsche Reich waren in einer Vitrine Dokumente zum Juliabkommen 1936, zum Berchtesgadener Abkommen 1938 und das Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung vom 13. März 1938 ausgestellt. Der „Weg zum ‚Anschluss‘“ blieb ohne Konnex zu innenpolitischen Konstellationen und Kräfteverhältnissen. Fragen nach möglichen Zusammenhängen zwischen austrofaschistischer Diktatur und der Schwächung der österreichischen Position gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland oder auch nach Möglichkeiten eines bewaffneten Widerstandes wurden mit dieser Darstellung nicht aufgeworfen. Not und Opferstatus als Ausgangspunkt und zentrale Botschaft der Erzählung über die Erste Republik inszenierte auch die im Eingang zur Säulenhalle platzierte großformatige Abbildung Holz sammelnder, ärmlich gekleideter Frauen im Wienerwald (um 1919).43 Als Leitobjekt des ansonsten ohne Verweise auf soziale Kontexte auskommenden Ausstellungsbereichs „Innenpolitik“ sprach das Bild nicht von der sozialen Not der abgebildeten Frauen, sondern von der Armut und Not der Republik Österreich. Die politische Geschichte Österreichs in der Periode 1919 bis 1938 stand damit symbolisch unter der Parenthese von nicht durch eigenes Handeln bestimmten, leidvollen „Verhältnissen“.

Anonyme Mächte, abstrakte Vorgänge In Hinblick auf den staatsoffiziellen Charakter der Republikausstellung 2008 erhebt sich die Frage, inwieweit die Ausstellung ihre AdressatInnen – im Sinne eines demokratischen politischen Verständnisses – als Subjekte/Akteu43 Gezeigt wurde ein Bildausschnitt  : Während auf dem Original eine größere Gruppe von Frauen zu sehen ist, wurde für die Ausstellung ein Ausschnitt mit drei Frauen gewählt, der einen eher familiären Charakter vermittelte.

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rInnen im historischen Prozess der Aushandlung von Interessen verortete und die Legitimität von Macht und Herrschaft zum Gegenstand des historischen Diskurses machte. Auffallend war, dass in der Ausstellung abstrakte, anonyme Kräfte der Geschichte suggerierende Bild-Text-Erzählungen oder personalisierende Darstellungen komplexer politischer Prozesse vorherrschten. In beiden Fällen handelt es sich um narrative Grammatiken, mit denen die handelnden (Kollektiv-)Subjekte überblendet und somit dem Gesichtsfeld der AusstellungsbesucherInnen entzogen werden. Dieses Verfahren ermöglichte Identitätsangebote abseits einer Auseinandersetzung mit schwieriger, konfliktbeladener Vergangenheit, mit gesellschaftlichen Disparitäten, sozialen Konflikten und kultureller Diversität. Ein Beispiel hierfür war die Präsentation zum Ersten Weltkrieg und dem Ende der Monarchie, mit der (nach einleitenden Hinweisen auf die demokratische Staatsform Österreichs und die Zäsuren der Geschichte bis 2008) die historische Erzählung der Ausstellung begann. Auf eine Art „Lichtsäule“ (bespielte weiße Leinwand) im Aufgang zum Vestibül des Parlaments waren bewegte Bilder von Stellungskämpfen in den verschneiten Alpen projiziert. Die kriegerische Auseinandersetzung verschmolz hier mit dem Bezwingen der Natur zur symbolischen Botschaft eines Kriegsdramas, dem heldenhafte österreichische Soldaten ausgesetzt waren. Die Metaphorik der Bergkulisse unterstrich das Elementare der Ereignisse, forderte gleichsam Empathie für Geschundene ein.44 Dieser emotionalisierende Zugang wurde in der darauf folgenden Bild-Text-Sequenz weitergeführt. Mit dem Titel „Das Ende der ‚Urkatastrophe‘“ bediente sich die Darstellung einer als Zitat, wenn auch ohne Nennung der Herkunft ausgewiesenen Begrifflichkeit,45 die gerade in diesem Kontext mehr zur Enthistorisierung als zur differenzierten Bewertung des Ersten Weltkriegs taugte.46 Aufzählende Verweise auf „(w)irtschaftliche Erschöpfung, die Ideen der nationalen Selbständigkeit und Auflösungserscheinungen an der Front“ referierten anonyme Vorgänge als Ursache dieser historischen Erfahrung und erzeugten – verbunden mit den Opferbilanzen der k. u. k. Ar44 Anton Holzer, Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg, Darmstadt 2007. 45 Der Begriff „Urkatastrophe“ für den Ersten Weltkrieg stammt von dem US-amerikanischen Autor und Diplomaten George F. Kennan. 46 Zur historischen Semantik, betreffend den Ersten Weltkrieg, siehe Aribert Reimann, Der Erste Weltkrieg – Urkatastrophe oder Katalysator  ?, in  : Aus Politik und Zeitgeschichte B 29– 30/2004, , 23.3.2010.

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mee sowie „aller kriegführenden Länder“ und dem Hinweis auf den Zerfall großer Imperien – skizzenhafte Umrisse einer geschichtlichen Katastrophe, ohne Kriegsverantwortung zu explizieren. Die nachfolgende Darstellung der Gründungsphase der Ersten Republik umfasste mehrere Einzeldisplays  : „Gründung der Republik“, „Gründer der Republik“ und „Junge Demokratie“ (mit den Teilabschnitten „Verfassung“ und „Frauen in der Politik“). Diese boten einen Mix aus einer von Ereignissen und anonymen Abläufen geprägten Entwicklung und einem durch herausragende Persönlichkeiten gelenkten Geschehen. Die Anonymisierung politischer Prozesse gipfelte im Display „Gründung der Republik“ in der boulevardtauglichen Formulierung  : „Grenzen, Verfassung, Wirtschaft, soziale Fürsorge, Militär, Kultur – allesamt Bereiche, die es neu zu ordnen gilt. Man schaffte es.“ Der Systemwechsel erschien aus dieser Perspektive eine technisch-administrative Herausforderung. Die Fokussierung von Ereignisfolgen bei gleichzeitiger Ausblendung nicht geschichtsmächtiger Vorgänge, Widersprüchlichkeiten und Optionen offerierte den RezipientInnen eine ausschließlich aus hegemonialer staatsoffizieller Position gedeutete Republikgeschichte. Ohne politische Macht oder kulturelle Hegemonie zur Debatte zu stellen, zielte sie auf die Generierung eines affirmativen „Wir“, aus dem abweichende Positionen als die eines Anderen/Fremden marginalisiert werden konnten. Die Subjektposition der Erzählung war damit an den hegemonialen Machtdiskurs gebunden. Beispielsweise in den Abschnitten „Gründung der Republik“ und „Junge Demokratie“, in denen „Kommunismus“ bzw. die „Kommunisten“ ausschließlich unter dem Vorzeichen Gefahr-für-die-Demokratie repräsentiert waren.47 Besonders galt dies für den Abschnitt über den „12. November 1918“ (im Display „Gründung der Republik“). Eine als Titel gesetzte Zeitungsschlagzeile umriss mit den Wortgruppen „Der große Tag“, „Anschluß an die deutsche Republik“, „Volksfeier“ und „Schlacht vor dem Parlament“ den historischen Kontext der Ereignisse. Die wandhohe Abbildung der Menschenmenge mit dem Transparent „Hoch die sozialistische Republik“ vor dem Parlament sowie drei weitere Abbildungen von der Republikkundgebung dokumentierten den Massencharakter dieses Ereignisses. Der erklärende Bereichstext duplizierte mit Ausführungen über den „Kampf vor dem Parlament“ die Botschaft einer „Schlacht“ und chaotischer Verhältnisse. Die Staatsgründung erschien aus dieser Pers47 Bei der Darstellung zu den Wahlen 1919 wurde auf die Ablehnung der Demokratie durch die Kommunisten verwiesen, dass die KPÖ bei der Wahl 1919 nicht kandidierte, blieb jedoch unerwähnt.

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pektive als ein vor allem von der Abwehr kommunistischer Gegengewalt geprägter Prozess, in dem sich bereits die Instabilität und das spätere „Unheil“ der Republik spiegelten. Ein mittig (unterhalb eines Videos zur Republikkundgebung) gesetztes Zitat von Franz Dinghofer (Präsident der Provisorischen Nationalversammlung), in dem von einer „neue(n), glückverheißende(n) Zeit“ die Rede ist, mutete in diesem Kontext und ohne weitere Explikation wie eine nicht nachvollziehbare Fehleinschätzung der historischen Situation an. Bei dem bereits erwähnten Display „Gründer der Republik“ hingegen wurde eine hermetische, Minderheitspositionen weitgehend ausschließende Erzählperspektive durch die Personalisierung der Darstellung geschaffen. Der einleitende Bereichstext verwies auf die mit großformatigen Porträts und kurzen biografischen Skizzen vorgestellten Männer an der Spitze des Staates (Staatskanzler und die drei Präsidenten des Nationalrates) als Repräsentanten der für die Staatsgründung verantwortlichen drei „politischen Lager“, ohne aber Kräfteverhältnisse und Programmatiken anzusprechen. Die Staatsgründung selbst war bildlich durch eine Karte der Monarchie mit den farblich markierten deutschsprachigen Gebieten symbolisiert. Auf der Textebene wurde ein abstraktes institutionelles Agieren vermittelt  : „Der Staat muss erst zu seinen Grundlagen finden.“ Und auch im weiterführenden Display „Junge Demokratie“, das kurz auf politische Programmatiken und demokratische Praxis einging, wurde nicht die Pluralität der Positionen referiert, sondern „Autoritätsgläubigkeit, weltanschauliche Konflikte und die Suche nach nationaler Identität“ pauschalierend als „schwere Belastung“ der Republik gekennzeichnet. Abstrakte, einem nationalen Kollektivsubjekt „Österreicher“ zugeschriebene Bewertungen ersetzten die Repräsentation konkreter Handlungsoptionen und vermittelten im Subtext eine aus hegemonialer Position bestimmte Norm politischen Handelns. In Bezug auf die Sozialreformen in den Gründungsjahren der Republik entstand das Bild eines durch „Notwendigkeiten“ legitimierten Regierens, nicht eines von sozialen Interessen und divergierenden politischen Programmatiken bestimmten Aushandelns staatlicher Politik. Insofern blieb auch eine in der Mitte des schmalen Raumes auf die demokratische Partizipation referierende „Wahlkabine“, außen verkleidet mit Plakaten zur Nationalratswahl 1919, ein isoliertes Ausstellungselement. Als „sprechendes“ Objekt gestaltet, stand die Installation zwar im Zentrum, ließ sich aber nicht als Fluchtpunkt der auf den Wandpaneelen dargestellten Politik deuten, auch wenn dort mit Objekten – etwa einer Karte mit den gewählten NationalrätInnen und einem Foto der ersten Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung – die Volksvertretung

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bildlich repräsentiert war. Die Wahlkabine als symbolischer Ort des Wahlaktes blieb ohne erkennbare inhaltliche Referenz zu den Beschreibungen der Politikbereiche des neuen Staates. Angesichts des im Eingang zur Ausstellung quasi als Leitmotiv zitierten Artikels 1 des Bundesverfassungs-Gesetzes wäre eine mehr auf demokratiepolitische Prozesse (Wahlen, politische Partizipation, direkte Demokratie) und Fragen der politischen Repräsentation orientierte Darstellung der Republikgeschichte naheliegend erschienen. Dem narrativen Modus einer nationalstaatlichen Erzählung, die ihre RezipientInnen, von divergierenden sozialen Interessen und gesellschaftlichen Positionen abstrahierend, in ein affirmatives Wir einzubinden versucht, entsprachen die Darstellungen im ereignisgeschichtlich strukturierten Bereich „Innenpolitik“ wie auch in den anderen themenspezifischen Längsschnitten. Das Display zum Thema „Wirtschaft“ etwa kam ohne Bezugnahme auf Interessenpolitik oder die sozialen Folgen wirtschaftspolitischer Entscheidungen aus. In der Sequenz zur wirtschaftlichen Entwicklung in der Ersten Republik ersetzten abstrakte Verweise – auf die Verarmung des Bürgertums und Reallohnverluste der Arbeiterschaft infolge der Inflation, auf Stellenabbau im öffentlichen Dienst infolge der Genfer Sanierung und Arbeitslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise – die Dokumentation handelnder Subjekte in dieser konfliktreichen Phase wirtschaftlicher Interessenpolitik. Das Agieren wirtschaftlicher Interessenverbände wurde nicht zur Diskussion gestellt, soziale Konflikte bestenfalls verkürzt, durch Statistiken und Tabellen repräsentiert.48 Auch die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen ökonomischen Konzepten – wie Sozialisierungsplänen oder liberalen Wirtschaftsprogrammen – war nicht genutzt worden. Diese Erzählweise verlieh der Vergangenheit eine vorgebliche innere Entwicklungslogik, die in manchen Abschnitten aber in scheinbar unerklärlichen Paradoxien mündete. So in der letzten Sequenz des Wirtschaftsthemas, das – übertitelt mit „Auf dem Weg zum Wohlstand“ – abschließend feststellte  : „Heute zählt Österreich zu den reichsten Ländern der Welt. Parallel dazu muss die neue Armut bewältigt werden.“ Ein diesen Passagen zugeordnetes Foto von der Essensausgabe für Obdachlose in einem Betreuungszentrum der Caritas in Wien 2007 mutete neben Diagrammen über Wirtschaftswachstum, Beschäftigung in der Verstaatlichten Industrie unvermittelt und fremd an. Es signalisierte mehr Stigmatisierung denn einen Verweis auf Verteilungsfragen. Bezogen auf ein übergeordnetes 48 Im Display „Auf dem Weg zum Wohlstand“ gab es eine Statistik „Streiks in Österreich“ und eine zur „Einkommensschere von Frauen und Männern“.

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staatliches Gesamtinteresse wurde Wirtschaft als eine abstrakte Größe ohne konkrete Verortung von sozialen und gesellschaftlichen Interessen und der in diesem Feld Agierenden vermittelt. Soziale/wirtschaftliche Interessen kamen lediglich dort zur Sprache, wo sie – wie die Sozialpartnerschaft – als Bestandteil des hegemonialen Politikdiskurses ausgewiesen werden konnten. Auch bei dem im Anschluss an die Schauflächen zur „Innenpolitik“ gezeigten Bereich „Arbeit – Freizeit“ war die Darstellung in einer Weise strukturiert, die ein abstraktes, durch staatliche Autorität organisiertes Politikfeld skizzierte und nicht etwa Alltagserfahrungen zum Gegenstand der Erzählung machte. Der Text zur Periode 1918 bis 1938 informierte  : „Arbeit und Freizeit bestimmen das Leben der Menschen ganz wesentlich. Die Sozialpolitik schafft diesbezüglich die Rahmenbedingungen“, Sozialgesetze bringen Verbesserungen für Arbeiter, die Weltwirtschaftskrise verursacht eine „heute unvorstellbare Not“. Abgesehen von einem unkritischen Arbeitsbegriff ohne Reflexion über die Frage, was als Arbeit anerkannt wurde und was nicht, wurde auch darauf verzichtet, ordnungspolitische Dimensionen staatlicher Arbeits- und Sozialpolitik anzusprechen. Der Kommentar zur Darstellung der „Arbeitswelten in der Zweiten Republik“49 beispielsweise beschränkte sich auf die Feststellung eines „präzedenzlos“ „drastische(n) Wechsel(s) in der Arbeitswelt der letzten 60 Jahre“ und die lexikalische Aufzählung von „Technisierung, Mechanisierung, Steigerung des Frauenanteils, Reduktion der Arbeitszeit, Ausweitung des Dienstleistungs- und starke Reduktion des landwirtschaftlichen Sektors, neue Arbeitsorganisationen – von den ‚Ich-AGs‘ bis hin zu Mitbeteiligungsmodellen“. Das Bildprogramm lieferte, chronologisch geordnet, den Beleg für technische Fortschritte in der Arbeitswelt. Politische Konnexe, etwa zu wirtschaftlicher Globalisierung und Liberalisierung, ließen sich darin ebenso wenig finden wie im Text. Fragen nach der Wahrnehmung von Arbeit oder Arbeitslosigkeit oder nach der Definition von Arbeit waren hier offenbar weder konzeptionell noch räumlich vorgesehen. Stattdessen zogen Originalobjekte zur NS-Arbeitsorganisation in einer dem Wanddisplay zu Erster und Zweiter Republik zugeordneten Vitrine durch ihre optische Qualität Aufmerksamkeit auf sich. Auf komprimierte Darstellung von Entwicklungschronologien und Darlegung von „Faktischem“ zielte auch der Bereich „Soziales“, räumlich angesiedelt zwischen den Themen „Arbeit – Freizeit“ und „Wirtschaft“. Lediglich in der ersten Teilsequenz über die Reformen der Jahre 1918–1920 wurde Sozi49 Unter „Erste Republik“ wurde hier die gesamte Zwischenkriegszeit subsumiert.

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alpolitik durch den Verweis auf Streiks, Hungerdemonstrationen und die sozialrevolutionäre Bewegung in ihren politischen Zusammenhängen definiert. Hier kam auch die Kooperation auf Ebene der Interessenverbände kurz zum Ausdruck. Damit waren der politische Prozess und der Konnex zwischen der sozialen Lage der Bevölkerung, der politischen Organisation der Interessen und dem Agieren des Staates in das Blickfeld der BesucherInnen gerückt. Schon die nachfolgenden Sequenzen aber kehrten zu einem von den Handelnden abstrahierenden Präsentationsduktus zurück, etwa bei der Darstellung der Arbeitslosigkeit  : „Die Erste Republik hat ein Dauerproblem  : Die Arbeitslosigkeit. Die Arbeitsvermittlungsstellen […] helfen aus, doch zunehmend fallen Langzeitarbeitslose aus ihrer Betreuung heraus (‚Ausgesteuerte‘).“ Zugleich wurde im Text ein Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und dem Aufkommen des Nationalsozialismus hergestellt. In dieser Verknappung des komplexen historischen Kontextes des Sozialabbaus (Krise der Kreditanstalt und eine liberalen Grundsätzen folgende Austerity-Politik) erzeugte die Erzählung die Assoziationskette Langzeitarbeitslose-Wirtschaftskrise-Nationalsozialismus. Auch wenn im Text angemerkt war, dass Arbeitslosigkeit „unter anderem“ der Boden für die Radikalisierung gewesen sei, so gab es in der Ausstellung keine Referenz darauf, was die sonstigen Gründe für das Anwachsen des Nationalsozialismus gewesen sein könnten. Es gab keinerlei Verweis auf fiskal- und währungspolitische Entscheidungen, auf politische Konstellationen (Zuwächse der Nationalsozialisten in christlichsozial dominierten Ländern) oder auch auf die Ergebnisse der Marienthal-Studie. Letztere war zwar bildlich zitiert, nicht aber in ihren Ergebnissen, die die These von der politischen Radikalisierung der Arbeitslosen widerlegten. Arbeitslosigkeit erschien als ein Problem mit radikalisierten Arbeitslosen, aus dem ein direkter Bezug zum Nationalsozialismus und damit auch zum Scheitern der Republik hergestellt werden konnte. Und trotz des Anspruchs einer chronologischen Längsschnittdokumentation war das Thema Arbeitslosigkeit auf die Erste Republik konzentriert. Die Arbeitsmarktprobleme der Zweiten Republik, insbesondere auch die gegenwärtigen, waren nicht dokumentiert.

Geschichtslose Zukunft Bei einer Ausstellung, deren Gegenstand die Geschichte eines Staates und seiner StaatsbürgerInnen ist, kann angenommen werden, dass historische Prozesse, die die staatliche Existenz tangieren, Berücksichtigung finden. In

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Display zur Geschichte der Europäischen Union, Republikausstellung 2008 (Foto  : Parlamentsdirektion Wien/Mike Ranz)

Bezug auf den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union, einem Schritt mit nicht nur verfassungsrechtlichen Konsequenzen, scheint der Zugang der zeitgeschichtlichen Großausstellungen der letzten Jahre aber – trotz der Aktualität der Thematik im politischen Diskurs – ein eher dilatorischer.50 Die Republikausstellung 2008 handelte dieses Kapitel österreichischer Geschichte im Wesentlichen über das Thema „Österreich, seine Nachbarn und Europa“ ab. In anderen thematischen Sequenzen wurde der EU-Beitritt nur knapp erwähnt, so im Abschnitt „Verfassung“, wo in einem Satz die „tiefgreifende(n) Veränderungen der österreichischen Verfassung“ angesprochen waren, und beim Thema „Wirtschaft“, das von der „EU-Integration als Meilenstein“ berichtete und als Beleg ein Euro-Startpaket zeigte. Die Darstellung in dem der klassischen Außenpolitik zuordenbaren Bereich „Österreich, seine Nachbarn und Europa“ umfasste mehrere Bild-Text-Abschnitte, die die Chronologie der Bemühungen Österreichs um die Aufnahme in die EU seit den 1960er-Jahren rekapitulierten. Der Teilabschnitt über die EU-Abstimmung 1994 war einer 50 Felber, Jubiläumsbilder (wie Anm. 2).

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der wenigen Punkte der Ausstellung, in dem – illustriert mit Werbeplakaten der Parteien und dem allerdings ohne Quellenangabe verwendeten Zitat „‚EU – Ja oder Nein‘  : Es geht um die Zukunft Österreichs“ – politische Partizipation ins Bild gerückt war. Den Abschluss der Chronologie bildete die Bild-TextSequenz „Österreich in der EU“. Zitiert wurden hier das „Europäische Friedensprojekt“, der „größte Binnenmarkt der Welt“ und die Mitentscheidung Österreichs in weltpolitischen Fragen, bildlich ergänzt mit Fotos von der Unterzeichnung des EU-Vertrages 1994 und der österreichischen EU-Präsidentschaft. Das Thema EU wurde – gleichsam als Weiterführung der Erzählung über den EU-Beitritt und Schlusspunkt der Ausstellung (an der Rückseite des Wandpaneels „Gründer der Republik“) – unter dem Titel „Geschichte der EU“ mit einem Display über die Erweiterungsschritte seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft nochmals aufgegriffen. Europakarten und Tabellen mit Eckdaten über Größe, Territorium und Bevölkerungszahl der Beitrittsländer sowie Angaben zur jeweiligen Anzahl der Europaabgeordneten, des Beitritts zum Schengenraum und zur Eurozone informierten über die Stadien der Erweiterung. Fast schien es, als habe die Zukunft Österreichs mit dem Beitritt 1995 geendet und Europapolitik seither keine besondere Relevanz für Österreich. Die im Vergleich mit anderen Displays raumgreifende Präsentation „Geschichte der EU“ inszenierte lexikalisches Faktenwissen. Die EU-Erweiterungen blieben Prozesse ohne erkennbare politische Dimensionen. Die Ausstellung begnügte sich damit, den Status Österreichs als Mitglied der EU zu dokumentieren, verweigerte aber eine Auseinandersetzung mit den politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen des Beitritts. Die Erfolgschronologie der Zweiten Republik kam – ausgenommen die Sequenz über die Volksabstimmung 1994 – ohne Repräsentation der Kontroversen, Kritik und unterschiedlichen Wahrnehmungen der europäischen Integration seit 1995 aus.

Kompromisse und Konventionen Einen Durchgang durch die Republikausstellung 2008 zu absolvieren bedeutete, die Periode 1918 bis 2008 – wenn auch stark gerafft – mehrmals im immer gleichen, durch die Zäsuren der staatlichen Existenz vorgegebenen zeitlichen Duktus zu durchlaufen. Die Fixierung auf chronologische Längsschnitte, um eine nicht nur im Bereich „Wirtschaft“ so benannte nationale Erfolgsge-

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schichte „Von der Not zum Wohlstand“ historisch zu legitimieren, stand einem explorativen Umgang mit der Vergangenheit, aus dem auch Widersprüche, Ungleichzeitigkeiten und Kontinuitäten über die Brüche hinweg sichtbar gewesen wären, entgegen. Das im Folder angesprochene, ambitionierte Konzept der KuratorInnen, ausgehend von den Gründungsjahren der Republik wichtige Entwicklungsstränge zu thematisieren und damit österreichische Zeitgeschichte im Kontext aktueller Fragestellungen neu zu deuten, reduzierte sich in der Realisierung auf eine alle Themen gleich behandelnde Überblicksdarstellung zu den vergangenen 90 Jahren österreichischer Zeitgeschichte. Wäre der Ansatz einer differenzierten, Bezüge zu aktuellen Fragen der österreichischer Politik und Gesellschaft ernst nehmenden thematischen Strukturierung umgesetzt worden, so hätte dies mehr Mut zur Lücke und – etwa in Hinblick auf österreichische Identitätspolitik – wohl auch Mut zur Ironie erfordert. Die Ausrichtung auf chronologische Verläufe verhinderte, Themenfelder in ihren jeweils spezifischen historischen Dimensionen pointiert darzustellen. Aus der auf die klassischen, nationalstaatlichen Politikfelder bezogenen epistemischen Ordnung (Innenpolitik, Außenpolitik, Wirtschaft, Soziales, Bildung etc.) erklärt sich das Fehlen geschichtswissenschaftlicher Diskurse wie Gender, Diversität, Macht und Kontrolle. Was die NS-Vergangenheit betrifft, so konfrontierte die Ausstellung ihre BesucherInnen mit zwei Sichtweisen, einer Geschichte über Mitverantwortung und Kontinuitäten und einer, in der Tätervergangenheit und Kontinuitäten durch Opfer- und Leiderfahrung überlagert waren. Eine Auseinandersetzung mit den konkurrierenden, einander teils widersprechenden Gedächtnissen zum Scheitern der Ersten Republik und zur austrofaschistischen Diktatur fand nicht statt. Die Erzählung über diesen Teil der österreichischen Vergangenheit blieb mit einem von politischen Positionen weitgehend abstrahierenden Gewaltdiskurs im Rahmen des großkoalitionären vergangenheitspolitischen Kompromisses der „geteilten Schuld“. Die auf die Darstellung der Republikgeschichte in „Entwicklungssträngen“ fixierte inhaltliche Ausrichtung korrespondierte mit der Verwendung von Exponaten im Sinne der Herstellung von Evidenz und dem Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit den teils vielschichtigen Bedeutungen der einzelnen Exponate. Diese Haltung spiegelte sich auch in der Gestaltung, die das Gezeigte einer Art ästhetischer Nivellierung unterzog, indem sie die unterschiedslose Aneinanderreihung verschiedener Kategorien von Exponaten (keine Differenzierung zwischen Fotos, Zeitungen, Plakaten etc.) zum Prinzip erhob. Mit dieser auf einen linearen Bilderfluss setzenden Ästhetik blieben die Vorteile des Mediums Ausstellung etwa gegenüber Online­

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präsentationen,51 mit der Materialität der Exponate sowie der räumlichen und ästhetischen Differenzierung punkten zu können, ungenutzt.52 Weder in der inhaltlichen noch gestalterischen Umsetzung eröffnete die Jubiläumsausstellung 2008 neue Blicke auf österreichische Zeitgeschichte. Mit dem Beharren auf konventionellen Formen der Geschichtsrepräsentation – einer vom großkoalitionären Geist geprägten Nationalgeschichte und einer die spezifischen Möglichkeiten des Mediums Ausstellung nicht nutzenden Ästhetik des Geschichtsbuchs – erschien die Republikausstellung 2008 unzeitgemäß. Sie blieb trotz des historischen Ausstellungsortes und der staatsoffiziellen Trägerschaft mit rund 91.000 BesucherInnen53 unter der Frequenz früherer vergleichbarer Veranstaltungen.

51 Vgl. diverse zeitgeschichtliche Features der Österreichischen Mediathek (, 12.4.2010), die zeitgeschichtlichen Informationen des Demo­ kratiezentrums Wien (, 12.4.2010), oder auch das frauengeschichtliche Dokumentationsservice Ariadne der Österreichischen Nationalbibliothek (, 12.4.2010). 52 Hinzu kamen planerische Defizite in der Umsetzung, etwa bei der Beleuchtung der Pultvitrinen, die die Betrachtung der Exponate durch starke Spiegelungen und Blendung beeinträchtigte. 53 Nach Angaben der Parlamentsdirektion, vgl. , 10.3.2010. Die Staatsvertragsausstellungen im Oberen Belvedere und in der Schallaburg 2005 zählten, wie bereits erwähnt, 310.000 bzw. 230.000 BesucherInnen.

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Experiment und Leerstelle Zur Musealisierung der Zeitgeschichte in den österreichischen ­Landesmuseen

Der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß widmete jüngst den österreichischen (und Südtiroler) Landesmuseen einen Essay, der als eine Art Einstimmung auf diese zehn bedeutenden Einrichtungen zu lesen ist. Der Band, der unter dem vielversprechenden und anspruchsvollen Titel Ein kulturelles Gedächtnis erschien, macht mit zahlreichen Fotografien von Heinrich Hermes Lust auf einen Besuch eines oder mehrerer dieser geschichtsträchtigen Häuser. Genau darin besteht auch die Intention  : Eine für alle vorgestellten Institutionen gültige Eintrittskarte ist dem Buch beigelegt. Der prachtvolle Bildband beabsichtigt jedoch ganz offensichtlich mehr, als lediglich einige Besucherinnen und Besucher für die Museen gewinnen zu wollen.1 Die Publikation bringt eine neue Position im österreichischen Museumswesen zum Ausdruck  : Die Landesmuseen treten gemeinsam nach außen auf. Einigendes Movens ist vermutlich eine seit etwas mehr als einem Jahrzehnt feststellbare Entwicklung  : Die Landesmuseen befinden sich im Umbruch2 – so sehr wie wohl noch kaum zuvor in ihrer langen und komplexen Geschichte, die (ausgenommen die Landesmuseen Niederösterreich und Burgenland) ins

1 Karl-Markus Gauß, Schatzkammer und Laboratorium, in  : Ein kulturelles Gedächtnis, hg. v. den österreichischen Landesmuseen. Die Landesmuseen Österreichs und Südtirols im Überblick. Mit einem Essay von Karl-Markus Gauß und zahlreichen Fotografien von Heinrich Hermes, Wien 2009, 7–14, hier 14. Vgl. auch die Website , auf der sich die Landesmuseen Österreichs und Südtirols ebenfalls gemeinsam vorstellen. Jeweils neun ausgewählte kultur- oder kunsthistorische Objekte aus unterschiedlichsten Epochen repräsentieren die Vielfalt der bedeutenden Sammlungen, die von den Landesmuseen bewahrt und präsentiert werden. 2 Auch die Südtiroler Museumslandschaft erlebte im letzten Jahrzehnt enorme Transformationen. Die Auseinandersetzung mit den Ursachen bleibt in diesem Beitrag, der sich auf die österreichische Situation bezieht, ausgespart – ebenso die Frage, warum Südtirol Teil der Publikation ist.

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19. Jahrhundert zurückreicht.3 Obgleich einige der Museen unter habsburgischem Protektorat standen, ist ihre Entstehung vor dem Hintergrund der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zu sehen, die mit Museen, aber auch mit regionalen, nationalen und internationalen (Welt-)Ausstellungen, in Vergnügungsparks und Warenhäusern neue Orte der Verhandlung von neuen Wissensgebieten (wie beispielsweise Geschichte, Biologie, Mineralogie, Kunstgeschichte, Ethnologie etc.) schuf. Diese von Tony Bennett als „exhibitionary complex“4 benannte Kulturtechnik des Ausstellens war mit dem Konzept des sich freiwillig bildenden, selbstregulierenden Bürgers verbunden, der so zum Teil einer spezifischen Öffentlichkeit wurde. Die Praxis des Ausstellens ging mit der Entwicklung von Technologien des Zeigens einher, die von Vitrinen, Schränken, Hängetechniken und Modellen über Inszenierungen von Raumensembles (das gotische Zimmer, die gute Stube etc.) bis hin zur Rekonstruktion von Städten (z. B. Venedig in Wien als Teil der Weltausstellung im Wiener Prater 1873) reichten. Es war das Anliegen der Landes- bzw. Nationalmuseen im habsburgischen Vielvölkerstaat, Wissen in den Bereichen Natur, Archäologie, Geologie, Geschichte, Kultur und Kunst enzyklopädisch zu erfassen und den Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Gästen ein positives Orientierungswissen über eine Region darzubieten, wobei die Bezugsrahmen und zugrunde liegenden Vorstellungen und Konzepte des Nationalen ebenso variierten wie die Schwerpunktsetzungen auf Sammeln und/oder Forschen. Das – bezogen auf die heutigen politischen Grenzen – älteste österreichische Landesmuseum, das Joanneum in Graz, bereitet derzeit die 200-JahrFeier seiner Gründung vor, die begleitet wird von reger Bautätigkeit sowie der Neuaufbereitung von einzelnen Sammlungsbereichen wie beispielsweise der Archäologie und der Kulturgeschichte in Dauerausstellungen. Die seit den 1990er-Jahren in Angriff genommene Reorganisation eines der größten österreichischen Museen, das im Kulturhauptstadtjahr 2003 ein imposantes 3 Vgl. Marlies Raffler, Museum – Spiegel der Nation  ? Zugänge zur Historischen Museologie am Beispiel der Genese von Landes- und Nationalmuseen in der Habsburgermonarchie, Wien – Köln – Weimar 2007  ; Gottfried Fliedl, Im Museum. Essayistische Anmerkungen zu Geschichte und Funktion der Landesmuseen in Österreich, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 13 (2002) 1, 88–121. 4 Vgl. Tony Bennett, The Exhibitionary Complex, in  : Reesa Greenberg/Bruce Ferguson/Sandy Nairne (Hg.), Thinking About Exhibitions, London – New York 1996, 81–112. Siehe auch Sharon Macdonald, Nationale, postnationale, transkulturelle Identitäten und das Museum, in  : Rosmarie Beier-de Haan (Hg.), Geschichtskultur in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M. 2000, 123–148.

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Kunsthaus eröffnete, wird im Jahr 2011 wohl einen besonderen Höhepunkt erreichen. Etwas mehr Zeit für die Planung und Organisation seines „Neuauftritts“ hat das derzeit geschlossene Vorarlberger Landesmuseum, das Ende 2012 seinen Neu- bzw. Erweiterungsbau abgeschlossen haben will.5 Das Wien Museum ist indessen noch auf der Suche nach einem Standort für ein neu zu errichtendes Museumsgebäude  : Die Hüllen des 1959 eröffneten ersten Museumsneubaus der Zweiten Republik sind für das Stadt- und Landesmuseum der Bundeshauptstadt zu eng geworden. Der Wiener Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny verfolgt das Ziel, das Projekt in der nächsten Legislaturperiode umzusetzen.6 Wien will an andere Bundesländer und internationale Entwicklungen mit einem Museumsneubau als städtischem Prestigeobjekt anschließen und gleichzeitig Vorreiterin sein  : Anders als viele andere Städte widmet es den Museumsneubau nicht ausschließlich der Präsentation von Kunstwerken, vielmehr soll eine historische Ausstellung zur Stadtgeschichte „Herzstück“ des neuen Hauses werden.7 Andere hingegen haben schon wichtige Meilensteine hinter sich gebracht  : Das Burgenländische Landesmuseum konnte im Jahr 2006 seine neue Dauerausstellung zur Geschichte des jüngsten österreichischen Bundeslandes den Besucherinnen und Besuchern übergeben. Das Salzburg Museum, von 1852 bis 2007 hieß es Städtisches bzw. Salzburger Museum Carolino Augusteum, hat nach einer von Raumnot gekennzeichneten wechselvollen Geschichte 2007 in der Neuen Residenz Quartier genommen und präsentiert mit zwei Dauerausstellungen den Mythos Salzburg sowie Salzburg persönlich. In Niederösterreich, dem Bundesland mit der größten Museumsdichte, wurde in der neuen Landeshauptstadt St. Pölten bereits 1997 ein Museumsneubau von Hans Hollein eröffnet. Tirol feierte 2003 das 180jährige Bestehen des Ferdinandeums mit einem Erweiterungsbau und arbeitet seit 2007 in der Rechtsform einer Landesmuseen-Betriebsgesellschaft mit beschränkter Haftung – eine Veränderung, die einer jahrhundertelangen Vereinstradition (und Teilhabe der Bevölkerung an ihrem Museum) ein Ende setzte. Die Gründe für diese hier lediglich skizzierten grundlegenden strukturellen Transformationen in der österreichischen Museumslandschaft sind im traditionell starken Landesbewusstsein der Bundesländer zu suchen, das sich oft5 Neubau des Landesmuseums beginnt, 12.4.2010, , 4.6.2010. 6 Rainer Nowak, „Das Stadtmuseum bleibt in der Stadt“, in  : Die Presse, 27.3.2010. 7 Rainer Nowak, Konzept für neues Wien Museum, in  : Die Presse, 11.5.2010.

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mals vor allem aus einem Abgrenzungsbedürfnis „gegen Wien“ speist.8 Weiters sind museumsspezifische Aktivitäten des Bundes zu berücksichtigen  : Der Ausschüttung der sogenannten „Museumsmilliarden“ (in Schilling) 1987 und 1990 als Bauinvestitionsprogramm für die Bundesmuseen folgte 1998 die Entlassung der Bundesmuseen in die Vollrechtsfähigkeit. Ein weiterer Impuls ist wohl in der anhaltenden Diskussion um ein zu errichtendes österreichisches Nationalmuseum bzw. „Haus der Geschichte“ zu sehen, die an internationale Entwicklungen der Neugründung oder Reorganisation von nationalen Museen anschließt.9 Die nicht existierende museale Darstellung der Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert ist in dieser mittlerweile über mehrere Jahrzehnte geführten Debatte ein zentrales Movens, ein offensichtlich umkämpftes gesellschaftliches Terrain. Diese Initiative greift auch insofern ein Desiderat auf, als die Landesmuseen in der Tradition einer positiven Identitätsstiftung stehen, die auf vorgeblich „natürlichen“ Identifikatoren – Natur, Landschaft, kulturelles Erbe etc. – beruht und kontroversielle Fragen der Zeitgeschichte entweder ausspart oder die potenzielle Herausforderung eines nationalen Zeitgeschichtemuseums aufgreift, um die Definitionsmacht auf regionaler Ebene durch zeitgeschichtliche Sonderausstellungen zu behaupten. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt untersucht, wie die Landesmuseen die Kategorie „Zeitgeschichte“ in ihren Selbstdarstellungen in der Publikation Ein kulturelles Gedächtnis in Texten und auf der Ebene der Präsentation von Objekten positionieren, um in einem zweiten Schritt ein aktuelles Beispiel zu diskutieren, bei dem sich ein Landesmuseum als Ort für eine kritische Auseinandersetzung mit der Regionalgeschichte zur Verfügung stellte und mit der Tradition, positive „Schatzkammer“ des Landes zu sein, temporär brach. 8 Robert Kriechbaumer (Hg.), Liebe auf den zweiten Blick. Landes- und Österreichbewußtsein nach 1945, Wien – Köln – Weimar 1998. 9 Vgl. Martina Nußbaumer, „Haus der Geschichte“, Version 05-06, in  : Martin Wassermair/Katharina Wegan (Hg.), rebranding images. Ein streitbares Lesebuch zu Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Österreich, Innsbruck – Wien – Bozen 2006, 197–210  ; Andrea Brait, Ein neues historisches Museum für Österreich. Bisherige Debatten und aktuelle Positionen der österreichischen Bevölkerung, in  : Wiener Geschichtsblätter 64 (2009), 24–37. Zu den internationalen Entwicklungen vgl. Rosmarie Beier-de Haan, Erinnerte Geschichte – Inszenierte Geschichte, Frankfurt a.M. 2005  ; Gustavo Buntinx/Ciraj Rassool/Crinne Kratz/Lynn Szwaja/ Thomas Ybarra-Frausto/Barbara Kirshenblatt-Gimblett/Ivan Karp, Museum Frictions. Public Cultures/Global Transformations, Durham 2007.

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Zeitgeschichte im kulturellen Gedächtnis der Landesmuseen „In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar  : für sich und für andere. Welche Vergangenheit sie darin sichtbar werden lässt, sagt etwas aus über das, was sie ist und worauf sie hinauswill“, so definierte Jan Assmann bereits 1988 das kulturelle Gedächtnis.10 Für die Frage nach dem Verhältnis von Landesmuseen und Zeitgeschichte ist eine Analyse der bereits zitierten gemeinsamen Publikation aufschlussreich, handelt es sich doch um ein signifikantes Medium der Selbstrepräsentation  : Jedem der neun Landesmuseen stehen – genauso wie den Südtiroler Landesmuseen, die in dem Buch ebenso vertreten sind – sechzehn Druckseiten für die Vorstellung der eigenen Institution zur Verfügung. Angesichts der Breite der Themen- und Wissensgebiete, die die Landesmuseen bearbeiten und verwalten, ist hier darauf zu achten, welchen Raum die Geschichte des 20. Jahrhunderts – und dabei speziell die Repräsentation des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen – einnimmt. Bei der genauen Lektüre der Texte zeigt sich Bemerkenswertes  : Keines der Landesmuseen verwendet den Terminus „Zeitgeschichte“ in der Beschreibung der eigenen Institution. Wie ist das zu verstehen  ? Steht eine Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte in den Landesmuseen noch völlig aus  ? Oder ist es lediglich der Begriff, der angesichts des kritischen Habitus der universitären Zeitgeschichtsforschung für die Verwendung im musealen Bereich nicht tauglich erscheint  ? Oder gibt es, wie im Bereich der Kunstgeschichte, auch zwei Arten der Zeitgeschichte – die akademische und die museale  ?11 Die akademische Zeitgeschichte definierte sich in ihren Anfängen in den 1970er-Jahren als historische Sozialwissenschaft, widmete sich bislang in der Geschichtsschreibung vernachlässigten Bevölkerungsgruppen wie der Arbeiterbewegung und pflegte ein Selbstverständnis von Zeitgeschichte als demokratischem Auftrag. Die Zäsur 1986, die die Waldheim-Debatte ausgelöst hatte, ging mit einem Perspektivenwechsel der Zeitgeschichtsforschung hin zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen einher. Das bis zu diesem Zeitpunkt hegemoniale Narrativ von Österreich als „erstem Opfer Hitlerdeutschlands“ war erodiert und führte, verquickt mit dem 10 Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in  : ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, 9–19, hier 16. 11 Charles W. Haxthausen (Hg.), The Two Art Histories  : The Museum and the University, Williamstown 2002.

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neuen kulturwissenschaftlichen Paradigma Gedächtnis und Erinnerung, zur Befragung des „österreichischen Gedächtnisses“ und der kulturellen Formen des Erinnerns. Der postmoderne „linguistic turn“ wiederum löste eine anhaltende disziplinäre Selbstreflexion aus.12 Die Vorstellung, „dass HistorikerInnen nicht mit der Vergangenheit zu tun haben, sondern immer nur auf die diskursiven Konstruktionen der Realität stoßen“, gewann an Relevanz.13 Analoge Sichtweisen entwickelten sich in der anglo-amerikanischen museologischen Theoriebildung. Die feministische und später die postkoloniale Kritik richteten sich gegen die Repräsentationspraktiken der Institution Museum. Die gesellschaftliche Kontextualisierung der Objekte, Selbstreflexion und die Demokratisierung des Museums wurden zu zentralen Forderungen. Sharon Macdonald beschreibt die Transformation der Museum Studies von der „museology“ zur „new museology“14 prägnant als „shift to seeing the museum and the meaning of its contents not as fixed and bounded, but as contextual and contingent“.15 Einzelne Aspekte dieser theoretischen Transformationen lassen sich an den Selbstdarstellungen der Landesmuseen in Ein kulturelles Gedächtnis ablesen  : Sammlungsgebiete wurden und werden aktiv um die jüngste Vergangenheit erweitert, Alltagskultur erlebt im Museum eine Hochkonjunktur und vereinzelt versuchen Ausstellungen auf die konstruierte Verfasstheit von Stadt- und Landschaftsbildern zu verweisen. Das Oberösterreichische Landesmuseum beispielsweise erwähnt explizit neue Kriterien für das Sammeln  : „Die Erweiterung des Sammelbereichs auf das 20. Jahrhundert verstärkt ein Querschnitt durch die Sachkulturgüter Oberösterreichs, wobei der Fokus auf ‚Alltagskultur seit 1945‘ liegt“,16 während das Wien Museum „ein expansives und ambitioniertes Ausstellungsprogramm mit stärkerer Einbeziehung der Alltagsgeschichte“ verfolgt, das „die Attraktivität und den Bekanntheitsgrad beim Publikum nachträglich gesteigert hat“.17 Das Salzburg Museum widmet sich in seiner Dauerausstellung dem Mythos Salzburg und lehnt sich sowohl mit dem 12 Vgl. Heidemarie Uhl, Gesellschaft – Gedächtnis – Kultur. Zu den Transformationen der österreichischen Zeitgeschichtsforschung, in  : Margit Franz/Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Karin M. Schmidlechner/Eduard G. Staudinger/Monika Stromberger (Hg.), Mapping Contemporary History. Zeitgeschichten im Diskurs, Wien – Köln – Weimar 2008, 27–50. 13 Ebd., 28f. 14 Peter Vergo (Hg.), The New Museology, London 1989. 15 Sharon Macdonald, Expanding Museum Studies  : An Introduction, in  : dies (Hg.), A Companion to Museum Studies, Oxford 2006, 1–12, hier 3. 16 Ein kulturelles Gedächtnis, 75 (wie Anm. 1). 17 Ebd., 164.

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Titel und partiell auch inhaltlich an die Publikation Mythos Salzburg. Bilder einer Stadt des Salzburger Historikers Robert Hoffmann an, der sich mit „der schönen Stadt“, der „Mozartstadt“ und der „Festspielstadt“ beschäftigte. Es wird versucht zu zeigen, wie Klischees konstruiert werden, womit sie zwar reflektiert, aber auch prolongiert werden. Dass „es im Museum genauso um das Heute wie um das Damals geht, sowie dass Fragen an die Geschichte zeitbedingt sind und sich, genauso wie die Antworten darauf, zeitbedingt ändern“,18 nimmt sich das Vorarlberger Landesmuseum seinen Besucherinnen und Besuchern zu vermitteln vor und verabschiedet sich mit diesem Statement vom Festschreiben der alleinigen Deutungshoheit über die Vergangenheit, um sich – zumindest in dieser Selbstdarstellung – in einem poststrukturalistischen Diskursfeld zu verorten. Mit welchen narrativen Strukturen und gestalterischen Mitteln es diesen theoretischen Anspruch in seinen Ausstellungen umsetzt, bleibt abzuwarten. Dem Nicht-Gebrauch des Terminus „Zeitgeschichte“ stehen in drei Fällen Schilderungen der Museumsgeschichte in den Jahren 1938 bis 1945 gegenüber – so beispielsweise beim Landesmuseum Burgenland  :19 „Die nationalsozialistische Machtübernahme 1938 bewirkte die Entlassung von Barb [Dr. Alphons Barb war der erste Direktor, Anm. MS], die Umfunktionierung des Landes- in ein Landschaftsmuseum und in eine Außenstelle des NÖ Landesmuseums sowie die Abtrennung von Sammlungsbeständen an die Gaue Steiermark und Niederdonau. Gleichzeitig wurde – nachdem Sándor Wolf enteignet worden war und nach Israel flüchten musste – das Museum in die so genannten Wolfhäuser in der Meierhofgasse übersiedelt und mit der bekannten Wolf-Sammlung zusammengeführt, die allerdings vom Museum nur treuhän-

18 Ebd., 150. 19 Vgl. auch das Salzburg Museum  : „Während des Zweiten Weltkriegs bemühte man sich, den Großteil der Sammlungen auszulagern. Das Haupthaus am Museumsplatz wurde im Herbst 1944 durch Bomben zerstört, zahlreiche Exponate gingen dabei verloren. Aber auch an den Bergungsorten gab es im Mai 1945 große Verluste durch Plünderungen während und nach dem Einmarsch der US-Truppen.“, Ein kulturelles Gedächtnis, 85 (wie Anm. 1). „In der NSZeit wurde der Museumsverein gezwungen, die Sammlungen dem Reichsgau zu übergeben. In den neuen Satzungen war ursprünglich nicht einmal der Verbleib der Objekte in Vorarlberg zugesichert. Das Vorarlberger Landesmuseum wurde zum ‚Reichsgaumuseum in Bregenz‘. Nach der Rückstellung 1945 entschloss sich der Landesmuseumsverein, die Bestände abzutreten und 1947 gingen sie im Rahmen eines detaillierten Schenkungsvertrags in das Eigentum des Landes Vorarlberg über.“, ebd., 148f.

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disch betreut wurde. Die Leitung des Museums wurde Prof. Richard Pittioni übertragen.“20

Unklar bleibt der Leserin und dem Leser das Schicksal des Sammlers Wolf sowie des ehemaligen Direktors.

Zeitgeschichte, repräsentiert durch museale Objekte Die Publikation Ein kulturelles Gedächtnis reduziert die Selbstdarstellung der Museen nicht auf die textliche Ebene  : Fotografien einzelner Museumsgebäude, Blicke in ausgewählte Ausstellungsräume und Bilder der bedeutendsten Objekte der jeweiligen Institutionen vervollständigen den Gesamteindruck und zeigen, welch heterogene Sammlungen das kulturelle Erbe der Länder bilden und in welch unterschiedlichen historischen oder neuen Gebäuden sie der Öffentlichkeit präsentiert werden. Die Frage nach den – aus der Perspektive des Museums ausgewählten – „Objekt-Ikonen des 20. Jahrhunderts“ wird von den Landesmuseen relativ einhellig beantwortet  : Es sind überwiegend Objekte der Kunst. Das Wien Museum zeigt mit „Gustav Klimt, Porträt Emilie Flöge, 1902“ , „Vase, entworfen von Josef Hoffmann, ausgeführt von den Wiener Werkstätten“ und „Egon Schiele, Selbstbildnis, 1911“ Highlights aus dem Themenbereich „Wien um 1900“, zu dessen Popularisierung das Museum selbst durch die von Hans Hollein spektakulär gestaltete Ausstellung Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930, die 1985 im Künstlerhaus gezeigt wurde, einen enormen Beitrag leistete.21 Zwei Fotos vom Museumsgebäude weisen dieses selbst als Objekt der Zeitgeschichte aus  : „Qualitätsdesign aus den Fünfzigerjahren  : das Stiegenhaus im Wien Museum Karlsplatz“, lautet die Bildunterschrift und lädt zu einer neuen Betrachtung eines Gebäudes aus der Ära der moderaten Moderne in Wien ein. Das Tiroler Ferdinandeum wählte mit „Albin Egger-Lienz, Mütter, 1922/23“ ein Objekt aus der Spätphase des bedeutenden Lienzer Künstlers und erläutert im Text den Überblickscharakter der Kunstsammlung  : 20 Ein kulturelles Gedächtnis, 20 (wie Anm. 1). 21 Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1985, 93  ; vgl. auch Heidemarie Uhl, ‚Wien um 1900‘ – das making of eines Gedächtnisortes, in  : Monika Sommer/Marcus Gräser/Ursula Prutsch (Hg.), Imaging Vienna. Innensichten, Außensichten, Stadterzählungen, Wien 2006, 47–70.

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„Arbeiten u.a. von Gustav Klimt, Oskar Kokoschka, Alfons Walde und Rudolf Wacker dokumentieren die Zeit von 1900 bis 1945. Exemplarisch für die Zwischenkriegszeit sind Gemälde von Albin Egger-Lienz sowie jene der Neuen Sachlichkeit in Tirol. Nach 1945 wird der Aufbruch der Malerei u.a. mit Werken von Maria Lassnig oder Max Weiler gelegt. Die mittlere und jüngere Künstlergeneration ist u.a. mit Franz West oder Hans Schabus vertreten“,

heißt es.22 Die Sammlung enthält Werke von KünstlerInnen aus ganz Österreich und von internationaler Bedeutung. „Anton Lehmden, Vogelflug T“, „Sepp Laubner, ohne Titel“ und „Walter Pichler, Zwillinge“ stehen stellvertretend für die Kunstsammlung des Landesmuseums Burgenland, während das Kärntner Landesmuseum der Abbildung von Objekten aus anderen Jahrhunderten den Vorzug gibt  : Die jüngere Vergangenheit wird im südlichsten Bundesland weder im Text noch im Bild thematisiert. Dagegen zeigt eine Abbildung eine Veranstaltung, die durch Nachahmung und Rekonstruktionen die Vorstellung aktualisiert, die wir uns heute von der Welt der Kelten machen. Das Niederösterreichische Landesmuseum spannt mit seiner Auswahl abgebildeter Objekte einen breiten inhaltlichen und zeitlichen Bogen  : „Egon Schiele, Zerfallende Mühle, 1916“, „Herbert Boeckl, Selbstporträt mit großem Akt, 1934“ und „Gelitin, Bürohengst, 2004“ repräsentieren das Kunstschaffen des 20. Jahrhunderts. Diese Selektion wird ergänzt durch die Arbeit „Arnulf Rainer, Berg, 1961–64“, um auf das Künstler-Museum in Baden bei Wien hinzuweisen. Eine Aufnahme vom Gebäude des Karikaturmuseums in Krems signalisiert die organisatorische Verbundenheit dieser jungen Institution mit dem Landesmuseum. Der 2001 nach Plänen des Architekten und Karikaturisten Gustav Peichl errichtete Neubau ist selbst ein wichtiges Dokument der Geschichte Niederösterreichs und verdankt sich dem Bemühen um die kulturelle Regionalentwicklung. Die Sammlung des Museums enthält zahlreiche Originalzeichnungen von bedeutenden österreichischen Karikaturisten wie Manfred Deix, Gerhard Haderer und Erich Sokol, die das Zeitgeschehen ironisch kommentieren. Besonders „Ironimus“ (Gustav Peichl) versteht sich bis heute als politischer Karikaturist. Seine spitzen Interpretationen des politischen Tagesgeschehens stellt das Museum in einem eigenen Kabinett aus. Er war es auch, der die Zeichnungen zur Eröffnungsausstellung Alles Karikatur – das gezeichnete 20. Jahrhundert lieferte. Das Vorarlberger Landesmuseum widmete von siebzehn Abbildungen vier der Repräsentation des 20. Jahrhunderts durch Objekte, wobei eines, eine 22 Ein kulturelles Gedächtnis, 135 (wie Anm. 1).

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„Radhaube aus Feldkirch, um 1930“ dem Bereich der Volkskultur zuzuzählen ist. Die drei künstlerischen Arbeiten „Albert Bechtold, Kopf Rudolf Wacker, 1924“, „Rudolf Wacker, Das Fenster, 1931“ und „Tone Fink, Hausgeist, 1980/81“ weisen Vorarlberg als bedeutendes Land der Kunstproduktion und das Museum als aktive Institution aus  : „Die Sammeltätigkeit des Museums erstreckt sich bis in die Gegenwart. Die seit 1974 bestehende Kunstkommission des Landes Vorarlberg erwirbt laufend Werke zeitgenössischer Künstler aus der Region.“23 Mit der fotografischen Wiedergabe der Arbeit „Gottfried Salzmann, Salzburg aus der Flugperspektive, 2004“ entschied sich das Salzburg Museum für ein Signal am Puls der Zeit  : Ein noch lebender Maler setzt sich künstlerisch mit der Stadt auseinander. Breiteren Raum geben die Oberösterreichischen Landesmuseen Objekten aus dem 20. Jahrhundert  : Ein „Superuniversal Netzempfänger“ lässt die Technisierung der Haushalte erahnen und weist die technikgeschichtliche Kompetenz des Museums aus. Die Wiedergabe des Fotos „Gotisches Zimmer aus dem Kunstinventar des Museum Francisco-Carolinum in Linz“, aufgenommen von August Sander, ist eine Referenz an die eigene Museumsgeschichte und erinnert an die Tatsache, dass der bedeutende deutsche Fotograf einige Jahre in Linz lebte und arbeitete. Sowohl das Oberösterreichische als auch das Steirische Landesmuseum haben sich für die Wiedergabe von Arbeiten von über Österreich hinaus berühmten lebenden KünstlerInnen, die aus Graz bzw. Linz stammen, entschieden  : „Günter Brus, Selbstbemalung I, 1964“ sowie „Valie Export, Geburtenmadonna, 1976“. Die beiden Museen treffen sich in einem weiteren Punkt  : Der Abbildung von explizit zeitgeschichtlichen Objekten von hoher politischer Brisanz – Objekte, die auch durch Texte erläutert werden  : „In dem von Alfred Kubin mit ‚Mai 1945‘ datierten Blatt ‚Austria‘ – dem personifizierten Österreich in Form einer molligen, unproportionierten Frau – setzt sich der Künstler mit den zeitgeschichtlichen Ereignissen auseinander.“24 Und das Universalmuseum Joanneum erklärt im Hinblick auf den musealen Modus der Potenzialität (Gottfried Korff ) die Sammelstrategie seiner multimedialen Abteilung  : „Das Bild- und Tonarchiv sammelt nicht nur Fotografien mit künstlerischem Anspruch, sondern auch Momentaufnahmen der steirischen Landesgeschichte. Ein Beispiel dafür ist diese Grazer Fotografie aus dem Jahr 1939 – sie ist Teil 23 Ebd., 154. 24 Ebd., 79.

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einer Serie mit dem Titel ‚Zwischen Erinnern und Vergessen‘, die u.a. ‚Judentransporte‘ aus der Steiermark dokumentiert.“25

Die Wahl dieses fotografischen Dokuments unterscheidet sich drastisch von den anderen Abbildungen im Band Ein kulturelles Gedächtnis  : Es ist nicht mehr allein die exzeptionelle künstlerische oder handwerkliche Leistung, durch die die Geschichte des 20. Jahrhundert präsentiert und vermittelt wird. Dieses Bildobjekt mag ein Hinweis darauf sein, dass sich die Landesmuseen nicht mehr ausschließlich als „Schatzkammern“ verstehen, deren Aufgabe sich in positiver Identitätsstiftung erschöpft. Im Modus der Aktualität (Gottfried Korff ), d. h. im Bereich des Ausstellens, wird die Zeitgeschichte in den Landesmuseen fallweise zum Experimentierfeld, denn zeitgeschichtliche Dauerausstellungen sind eine museale Leerstelle. Im Format der Sonderausstellung wird die Schnittstelle zwischen kritischer Zeitgeschichtsforschung und ihrer Präsentation verhandelt  : Das Universalmuseum Joanneum zeigte 2005 die Schau Die Steiermark auf Bewährung 1945–1959,26 das Wien Museum thematisierte mit der Großausstellung Kampf um die Stadt. Kunst, Politik und Alltag um 1930 27 friktionsreiche Jahre des 20. Jahrhunderts. Das Oberösterreichische Landesmuseum entschied sich mit „Kulturhauptstadt des Führers“ Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich vor dem Hintergrund des Kulturhauptstadtjahres Linz 2009 für ein Thema aus dem Kernbereich der österreichischen Zeitgeschichtsforschung – eine Ausstellung, die gerade im Kontext dieses europäischen Festivals polarisierte, wie hier zu zeigen sein wird.

Zeitgeschichte als Prüfstein – das Experiment Kulturhauptstadt des Führers im Oberösterreichischen Landesmuseum „Da die Landesmuseen nicht den Kult des Überkommenen betreiben, haben sie sich selbstreflexiv damit zu beschäftigen, wie ihre Sammlungen entstanden

25 Ebd., 107. 26 Dieter A. Binder/Heimo Hofgartner/Elke Murlasits, „Die Steiermark auf Bewährung 1945– 1959“. Eine mögliche Bildergeschichte, hg. v. Landesmuseum Joanneum – Büro der Erinnerungen, Graz 2005, 6ff. 27 Wolfgang Kos (Hg.), Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930, Wien 2010. Die Schau war von 19. November bis 28. März 2010 im Künstlerhaus in Wien zu sehen.

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sind, welche Dinge es den Sammlern von früher aus welchen Gründen wert waren, dass sie ihren Weg ins Museum fanden, und was ihre eigenen Motive, Absichten und Ziele sind, mit denen sie ihre Sammlungen sichten und ihre Ausstellungen gestalten“,28

fordert Gauß in seinem Essay über die Landesmuseen die (wissenschaftliche) Bearbeitung der Geschichte der Sammlungen und der Erwerbungspolitik ein und ruft nach Transparenz der Intentionen von Ausstellungen. Gauß ist damit ganz im Einklang mit den Erkenntnissen der theoretischen Museologie der 1990er-Jahre  : „Any museum or exhibition is, in effect, a statement of position“,29 stellte die britische Museumswissenschafterin Sharon Macdonald die politische Verfasstheit und Aussagekraft von Museen als Repräsentationen von kultureller Identität prägnant klar und konterkarierte die Vorstellung vom Museum als einem politisch „neutralen“, „objektiven“, interessenfreien und intensionslosen Ort der Wissensproduktion und -vermittlung. Einen wichtigen Impuls zur Erforschung von Sammlungsbeständen in öffentlichen Museen und zur Intensivierung der zeitgeschichtlichen Forschung an Museen leitete das Bundesgesetz für Kunstrückgabe 1998 in die Wege, das sich allerdings lediglich auf die Bundesmuseen bezog. Viele Landesmuseen zogen nach  : Das hier nun in weiterer Folge als Beispiel dienende Oberösterreichische Landesmuseum startete 1999 die Provenienzforschung, legte 2000 erste Ergebnisse vor und 2002 verabschiedete der Oberösterreichische Landtag ein Kunstrückgabegesetz. 2007 erschien ein umfassender Forschungsbericht unter dem Titel Geraubte Kunst in Oberdonau. In einigen Fällen führten die Forschungen konkret zur Rückgabe von Objekten an die rechtmäßigen Eigentümerinnen und Eigentümer.30 Aus diesem Forschungszusammenhang 28 Karl-Markus Gauß, Schatzkammer und Laboratorium, 14 (wie Anm. 1). 29 Sharon Macdonald, Theorizing museums  : an introduction, in  : Sharon Macdonald/Gordon Fyfe (Hg.), Theorizing Museums. Representing identity and diversity in a changing world, Oxford 1996, 1–18, hier 14. 30 Birgit Kirchmayr/Friedrich Buchmayr/Michael John, Geraubte Kunst in Oberdonau (Ober­ österreich in der Zeit des Nationalsozialismus 6) Linz 2007  ; Birgit Kirchmayr, „Im Hinblick auf die vorgesehene starke Beteiligung Ihres Museums an den Zuweisungen aus den beschlagnahmten Kunstgütern …“. Provenienzforschung im Oberösterreichischen Landesmuseum, in  : Gabriele Anderl/Christoph Bazil/Eva Blimlinger/Oliver Kühschelm/Monika Mayer/Anita Stelzl-Gallian/Leonhard Weidinger (Hg.), … wesentlich mehr Fälle als angenommen. 10 Jahre Kommission für Provenienzforschung (Schriftenreihe der Kommission für Provenienzforschung 1), Wien – Köln – Weimar 2009, 298–309.

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sollte sich die Ausstellung „Kulturhauptstadt des Führers“. Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich entwickeln, die 2008/09 einen bedeutenden Baustein des zeitgeschichtlichen Programms von Linz09 Kulturhauptstadt Europas ausmachte.31 Die Kombination eines zeitgeschichtlichen Themas, das für die kritische Aufarbeitung einer „verdrängten Geschichte“ steht, mit einem Landesmuseum, das als Ort der positiven Identitätsstiftung angesehen wird, eröffnet gesellschaftspolitische Reibungsflächen, die einer Reflexion bedürfen. Dass gerade der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz eine Vorreiterrolle im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zukommt, ist kein Zufall. Als eine der fünf Führerstädte nahm Linz neben Berlin, Hamburg, Nürnberg und München eine besondere Position ein. Als „Heimatstadt des Führers“ wurde der Stadt an der Donau die persönliche Aufmerksamkeit Adolf Hitlers zuteil, der große Pläne mit Linz hatte, das er – neben der Transformation in eine Industriestadt – in eine Kunst- und Kulturmetropole gigantischen Ausmaßes verwandeln wollte. Die Errichtung der sogenannten Nibelungenbrücke sowie der beiden Brückenkopfgebäude sollte nur ein Vorgeschmack auf Größeres sein  : Als Teil des „Sonderauftrags Linz“ war die Errichtung eines „Linzer Führermuseums“ geplant, das sich vor allem aus in Wien unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs enteigneten bzw. „arisierten“ Kunstsammlungen speisen sollte.32 Auch das Museum selbst stand in einem indirekten Bezug zu den NS-Plänen für Linz  : Die Ausstellung fand im Altbau des Linzer Schlosses, heute ein Standort der Oberösterreichischen Landesmuseen, statt. Wären Hitlers Visionen für seine „Jugendstadt“ Linz Realität geworden, wäre die Schlossanlage geschleift worden, um an der erhöhten Stelle über der Altstadt direkt an der Donau den Alterssitz des Diktators zu errichten. „Wenn eine Kulturhauptstadt Europas die europäische Dimension ihrer Geschichte thematisieren soll, dann darf es sie nicht kümmern, ob diese Ge31 Vgl. Birgit Kirchmayr/Peter Assmann, Vorwort, in  : Birgit Kirchmayr (Hg.), „Kulturhauptstadt des Führers“, Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich, Linz 2008, 11–14, hier 11. 32 Vgl. Sophie Lillie, Was einmal war. Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens, Wien 2003  ; Gabriele Anderl/Alexandra Caruso (Hg.), NS-Kunstraub in Österreich und die Folgen, Innsbruck 2005  ; Birgit Schwarz, Hitlers Museum. Die Fotoalben  : Gemäldegalerie Linz, Wien 2004  ; Birgit Kirchmayr, „Kulturhauptstadt des Führers“  ? Anmerkungen zu Kunst, Kultur und Nationalsozialismus in Oberösterreich und Linz, in  : dies., „Kulturhauptstadt des Führers“, 33–58 (wie Anm. 31)  ; Ingo Sarlay, Adolf Hitlers Linz. Architektonische Visionen einer Stadt, in  : ebd., 65–78.

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schichte strahlend ist oder dunkel“33, schreibt der Intendant von Linz09, der Schweizer Martin Heller, im Vorwort des Ausstellungskatalogs. Tatsächlich war das aktive Aufgreifen der NS-Vergangenheit der Stadt eine Bedingung für die Jury gewesen, Linz zur Kulturhauptstadt zu ernennen. Oberösterreich und Linz hatten breit angelegte Forschungsprojekte zur Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit des Landes und der Stadt initiiert und finanziert, deren Resultate in den letzten Jahren publiziert wurden und das Wissen um die NSVergangenheit der Region enorm bereichert haben.34 „Vor diesem Hintergrund tritt Linz09 nicht mit dem Anspruch auf, die Aufarbeitung der Geschichte neu zu erfinden. Es geht darum, Erzählformen zu finden, mittels derer sowohl die regionale Bevölkerung als auch ein Publikum aus ganz Europa angesprochen werden kann“,35

erläuterte Martin Heller. „Es besteht eine Erwartung weit über Linz hinaus, dass das zeitgeschichtliche Programm der eigentliche Prüfstein der Kulturhauptstadt sei. ‚How do you solve a problem like the Fuhrer [sic  !]  ?‘, schrieb unlängst der angesehene britische

33 Martin Heller, Linzer Torte und Hitler, in  : ebd., 15–17, hier 15. 34 Vgl. u.a. Fritz Mayrhofer/Walter Schuster (Hg.), Nationalsozialismus in Linz, 2 Bde., Linz 2002  ; Fritz Mayrhofer/Walter Schuster (Hg.), Bilder des Nationalsozialismus in Linz, Linz 1997  ; Josef Goldberger, NS-Gesundheitspolitik in Oberdonau. Die administrative Konstruktion des „Minderwertes“ (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 1), Linz 2004  ; OÖ. Landesarchiv (Hg.), Oberdonau. Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus, Linz 2008  ; OÖ. Landesarchiv (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3), Linz 22008  ; Gabriella Hauch (Hg.), Frauen in Oberdonau. Geschlechtsspezifische Bruchlinien im Nationalsozialismus (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 5), Linz 2006  ; Winfried R. Garscha/Franz Scharf, Justiz in Oberdonau (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 7), Linz 2007  ; Florian Freund/Bertrand Perz, Konzentrationslager in Oberösterreich 1938–1945 (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 8), Linz 2007  ; Kirchmayr/Buchmayr/John, Geraubte Kunst (wie Anm. 30). Diesen Kurs setzt die oberösterreichische Landesregierung offenbar auch nach dem „Ausnahmejahr“ 2009 fort. Am 15. März 2010 beschloss die oberösterreichische Landesregierung die Durchführung eines großen Forschungsprojekts zur Aufarbeitung der Geschichte der Ersten Republik in Oberösterreich, vgl. , 22.4.2010. 35 „Kulturhauptstadt des Führers“. Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich, in  : Österreich Journal 64/2008.

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Kulturjournalist Norman Lebrecht im Evening Standard – ‚Wie löst man ein Problem wie den Führer  ?‘ Wobei Lebrecht höchst anerkennende Worte fand für den ehrlichen und offensiven Linzer Umgang mit dunkler Geschichte“,36

sah Heller seinen Kurs des aktiven Aufgreifens der NS-Vergangenheit und des Ermöglichens experimenteller Erinnerungsformen international prominent bestätigt. Sein Stellvertreter, Ulrich Fuchs, erinnerte an ein deutsches Beispiel für das Ringen um Erinnerungsformen. Der Spannungsbogen der Nähe zwischen einer europäischen Kulturhauptstadt und einer NS-Gedenkstätte war schon einmal aufgegriffen worden  : Sich offensiv dem inhaltlichen Balanceakt zwischen Schiller, Goethe und dem KZ Buchenwald zu stellen, sei auch der deutschen Kulturhauptstadt Weimar 1999 gelungen.37 Einen deutlichen Zusammenhang zwischen den unweit von Linz gelegenen Vernichtungsstätten wie dem KZ Mauthausen, dem KZ Gusen und dem KZ Ebensee sowie der Tötungsanstalt Schloss Hartheim stellte die Ausstellung allerdings nicht her. Ein umfassender einleitender Teil schilderte ausgehend von Hitlers gescheiterter Karriere als Künstler an der Akademie der bildenden Künste in Wien die breiteren Kontexte des Kunst- und Kulturschaffens in „Oberdonau“, wie Oberösterreich in der NS-Zeit hieß, im zweiten Teil wurden Tendenzen wie Einzelschicksale von Künstlerinnen und Künstlern aus den Bereichen Musik, Literatur und darstellende Kunst vorgestellt. Die Intention der Ausstellung war es, eine Intervention in das regionale Gedächtnis zu bewirken, eine jahrzehntelangen Praxis des (Ver-)Schweigens zu konterkarieren  : Die „NS-Zeit und die eigene Verflechtung darin ist sowohl in der Geschichte kultureller Institutionen als auch in offiziellen Künstlerbiografien nur selten zu finden“.38 Ziel des Direktors der oberösterreichischen Landesmuseen, Peter Assmann, war es, mit der Schau eine „differenzierte, vorurteilsfreie Diskussion“ zu ermöglichen.39 Tatsächlich löste sie eine lebhafte, vielschichtige Kontroverse in der Bevölkerung und in den Medien aus, die im Folgenden skizziert wird, da sie die Ambivalenzen und Spannungen zwischen kritischer Zeitgeschichte und regionalem Gedächtnis – und dem Landes-

36 Martin Heller, Das Problem mit dem „Fuhrer“, in  : Kronen Zeitung, 31.8.2008. Vgl. auch Norman Lebrecht, How do you solve a problem like the Fuhrer  ?, , 13.5.2010. 37 Vgl. Kulturhauptstadt Linz. Offensiv, in  : Neues Deutschland, 18.9.2008. 38 Kirchmayr/Assmann, Vorwort, 11 (wie Anm. 31). 39 Vgl. Eine Form des Erzählens, in  : Oberösterreichs Neue, 22.3.2009.

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museum als zentralem Ort der Repräsentation dieses Gedächtnisses – sichtbar werden lässt. Erstens  : Ein zentraler Punkt der Diskussion verhandelte die Quantität der die NS-Zeit thematisierenden Projekte im Kontext des europäischen Kulturhauptstadtjahres Linz 2009, in dem die Ausstellung „Kulturhauptstadt des Führers“ zu sehen war. „Wie viel Thematisierung der NS-Zeit ist im Rahmen eines europäischen Projekts notwendig und wann ist es zuviel  ?“, so könnte dieser Diskussionspunkt zugespitzt formuliert werden. Führende Stadtpolitiker, aber auch lokale Historikerinnen und Historiker befürchteten einen Schaden für das Image der Stadt  : Die Ausstellung „Kulturhauptstadt des Führers“ startete als Kooperationsprojekt zwischen den oberösterreichischen Landesmuseen und Linz09 bereits im September 2008 und somit schon vor dem Kulturhauptstadtjahr 2009. Sie leitete gemeinsam mit der Ausstellung Politische Skulptur. Barlach/Kaspar/Thorak/Wotruba,40 die in der Oberösterreichischen Landesgalerie stattfand, eine ganze Reihe von zeitgeschichtlichen Projekten ein. Vor allem die künstlerische Arbeit mit dem mehrdeutigen Titel Unter uns. Dekonstruktion eines Gebäudes. Eine Installation der Berliner Künstlerin Hito Steyerl auf dem in der NS-Zeit errichteten Brückenkopfgebäude am Hauptplatz sorgte für Aufsehen, schlug sie doch die Fassade des Gebäudes in Form einer Karte ab, die auf Basis von Fluchtwegen von Linzer Jüdinnen und Juden erstellt wurde. Eine Installation im Erdgeschoss des Gebäudes, die mit Interviews, Informationen und dem abgeschlagenen Schutt arbeitete, vervollständigte das Werk.41 Breit wahrgenommen, da ebenfalls im öffentlichen Raum verortet, wurde das Projekt IN SITU. Zeitgeschichte findet Stadt  : Linz im Nationalsozialismus  : 65 im Linzer Stadtraum verteilte, auf Gehwegen aufgebrachte Stencils (Schablonensprayungen) wiesen auf Ereignisse an diesem Ort in der NS-Zeit hin, wobei die Auswahl von „Ikonen des NS-Terrorsystems“ wie dem Gestapo-Hauptgebäude und der Synagoge bis zu Orten alltäglicher Denunziation reichte.42 Ein Aufreger wurde das Geschichte Buch, das pointiert und provokant Themen der jüngeren Linzer Geschichte aufgriff.43 Wurde der

40 Die Ausstellung war von 18. September bis 16. November 2008 in der OÖ. Landesgalerie zu sehen. 41 Linz 2009, Pressemitteilung, 16.2.2009, , 2.5.2010. 42 Dagmar Höss/Monika Sommer/Heidemarie Uhl (Hg.), In situ. Zeitgeschichte findet Stadt  : Linz im Nationalsozialismus, Weitra 2009. 43 Niko Wahl für Linz09 (Hg.), Geschichte Buch, Linz 2009.

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Intendanz von Linz09 anfangs von lokalen HistorikerInnen nach Absage der von ihnen vorgeschlagenen Projekte vorgeworfen, die NS-Zeit komme im Programm zu kurz, hagelte es im Frühjahr 2009 herbe Kritik über die Vielzahl und die künstlerischen Formen der zeitgeschichtlichen Projekte.44 Ausgangspunkt der Diskussion war ein Kommentar des Linzer Historikers Roman Sandgruber in den Oberösterreichischen Nachrichten gewesen  : „Ist Linz eine Nazi-Stadt  ?“, fragte er und kritisierte die Vielzahl an zeitgeschichtlichen Projekten, die einen Anteil von zehn Prozent aller Veranstaltungen des Kulturhauptstadtjahres ausmachten.45 Das Aufgreifen dieser Thematik selbst stand nicht zur Disposition  : „Hätte man das ausgeblendet, wäre das Linz viel schärfer vorgehalten worden“,46 erkannte der Linzer ÖVP-Vizebürgermeister Erich Watzl. SPÖ-Bürgermeister Franz Dobusch hätte sich auch eine schlankere Version an zeitgeschichtlichen Projekten im Rahmen von Linz09 vorstellen können, denn zu Linz in der NS-Zeit sei bereits viel publiziert worden  : „‚Wir hätten von uns aus nicht mehr die Notwendigkeit gesehen, das heuer so groß zu thematisieren.‘ Das könne man aber auch anders sehen“, 47 räumte er ein. Andere wieder, wie der Salzburger Historiker Albert Lichtblau, wunderten sich  : „Was ist denn das für eine Frage, ob Linz09 mit dem Schwerpunkt zur NS-Zeit übertreibt  ? Wollen Sie sich lieber blamieren und eine Untertreibung  ? Oder gar nur Mittelmaß  ?“, fragte er, um die Antwort gleich selbst zu geben und den Ansatzpunkt der Diskussion zu verändern  : „Nein, es ist gut, wenn sich die Stadt so intensiv mit ihrer Geschichte befasst. Und es ist gut, wenn darüber gestritten wird, denn das schafft einen Gesprächsraum, der so wichtig ist für viele Menschen, die mit dieser furchtbaren NS-Geschichte in den eigenen Familien klarkommen müssen.“48 Zweitens  : Die Ausstellung „Kulturhauptstadt des Führers“ warf, vor allem in Kombination mit den anderen zeitgeschichtlichen Projekten von Linz09, die Frage der Deutungshoheit über die regionale Geschichte und ihre Über44 Dominika Meindl, Historiker kritisieren Linz09. „Das NS-Thema kommt zu kurz“, in  : Oberösterreichische Nachrichten, 23.1.2008. 45 Roman Sandgruber, Ist Linz eine Nazi-Stadt  ?, in  : Oberösterreichische Nachrichten, 25.3.2009, , 13.5.2010. 46 Erich Watzl  : „Schwachstellen in der Vermittlung“, in  : Oberösterreichische Nachrichten, 26.3.2009, , 13.5.2010. 47 Franz Dobusch  : „Missverständlich und unglücklich“, in  : Oberösterreichische Nachrichten, 26.3.2009, , 13.5.2010. 48 Albert Lichtblau, Was ist los mit „Linz“  ?, in  : Oberösterreichische Nachrichten, 28.3.2009, , 13.5.2010.

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setzung in ästhetisch-narrative Formate auf. Wer ist berechtigt, die NS-Zeit der Region Oberösterreich und der Stadt Linz wissenschaftlich zu bearbeiten oder die Erinnerung daran in künstlerisch-kulturelle Ausdrucksformen zu übersetzen  ? Wie etliche andere oberösterreichische Historikerinnen und Historiker hatte sich auch Roman Sandgruber um die Realisierung eines Projekts bemüht, wie er ausführte  : „Die oberösterreichische Forschung am Landes- und Stadtarchiv und an der Universität wurde bereits im Vorfeld mit den von ihr eingereichten Projekten recht brüsk ausgeladen, wie der Autor auch aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Stattdessen wurden Kräfte aus Wien, Graz, Berlin etc. herbeigeholt.“49 Martin Heller, Intendant von Linz09, konterte umgehend in den Oberösterreichischen Nachrichten  : Er sehe im Universitätsprofessor einen verletzten Projektautor, „der sagt, wir hätten’s besser gewusst, warum muss man Leute aus Wien holen“.50 Sandgruber erhielt Unterstützung aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen  : Die Ausstellung sei ein „absolutes Ärgernis“, meinte Brigitte Kepplinger, es „fehle die analytische Tiefe und die notwendige geschichtswissenschaftliche Begleitung“, so die Linzer Historikerin, ohne allerdings weiter auszuführen, wie diese auszusehen hätte. „Daher könne die Ausstellung nicht nur von Ewiggestrigen missinterpretiert werden, sondern auch bei anderen Besuchern den Eindruck erwecken, Linz sei immer noch von NS-Gedankengut kontaminiert“,51 fürchtete sie um die Reputation der Stadt. Auch der Direktor des Linzer Stadtarchivs, Walter Schuster, dessen Projektvorschläge für Linz09 im Vorfeld ebenfalls abgelehnt worden waren, kritisierte die Strategie der Intendanz und warf den Entscheidungsträgern von Linz09 vor, eine „große Chance leichtfertig vertan“ zu haben.52 Im medialen Schlagabtausch zwischen einem Teil der Linzer HistorikerInnen-Community und der Intendanz von Linz09 rechtfertigte Martin Heller, vor seiner Zeit in Linz unter anderem als Kurator und später Direktor am Museum für Gestaltung Zürich sowie als künstlerischer Direktor der Schweizer Landesausstellung Expo 02 tätig, seine Entscheidung, etliche Projekte 49 Sandgruber, Ist Linz eine Nazi-Stadt  ? (wie Anm. 45). 50 Martin Heller  : „Nicht provozierend gemeint“, in  : Oberösterreichische Nachrichten, 26.3.2009, , 13.5.2010. 51 Brigitte Kepplinger  : „Ein absolutes Ärgernis“, in  : Oberösterreichische Nachrichten, 26.3.2009, , 13.5.2010. 52 Walter Schuster  : „Eine große Chance leichtfertig vertan“, in  : Oberösterreichische Nachrichten, 26.3.2009, , 13.5.2010.

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von Linzer bzw. oberösterreichischen HistorikerInnen nicht zu realisieren, mit einem bemerkenswerten Argument. Ausschlaggebende Leitlinie der Intendanz sei nicht die wissenschaftliche Forschungsleistung gewesen, die von Heller durchaus gewürdigt wurde. „Linz09 führt weiter, was Stadt und Land sich schon längst zur Aufgabe gemacht haben – die NS-Zeit wird beharrlich auf- und abgearbeitet“, allerdings, so erklärte er in der Kronen Zeitung, mangle es an Übersetzungskompetenz  : „Wer erzählen muss, was er weiß, lernt möglicherweise dazu. Es ist schließlich nicht dasselbe, Geschichte nach wissenschaftlichen Regeln zu publizieren oder sie auf kulturell lebendige und künstlerisch anspruchsvolle Weise zu vermitteln“,53 erläuterte Heller seinen Standpunkt. Das Verhandeln über die Deutungshoheit verquickte sich in der Diskussion mit dem Argument der notwendigen narrativen Struktur, der ästhetischen Dimension und der didaktischen Kompetenz. „Wie die Projektleiter von Linz09 das Thema Nationalsozialismus aufbereitet haben, sei absolut kontraproduktiv“,54 kritisierte Walter Schuster die Darstellungsmodi der zeitgeschichtlichen Projekte und unterstützte Sandgrubers Position  : „Es ist wichtig, Geschichtswissen mit ausgewiesener Sachkenntnis, aber auch mit dem nötigen ethischen Verantwortungsbewusstsein aufzuarbeiten und auf eine didaktisch geeignete Weise zu verbreiten. Aktionen und Provokationen, die nur dem ‚Event‘ dienen und nur die internationale Medienindustrie füttern, haben hier keinen Platz und sind in den Ergebnissen klar kontraproduktiv“55, konstatierte er eine fatale Wirkung der von Linz09 gewählten Vermittlungsmodi und er behauptete, „in der internationalen Aufmerksamkeit verfestigt sich das Bild von der ‚Kulturhauptstadt des Führers‘ und von Linz als Nazi-Stadt.“ Wie sehr im Spannungsfeld der kontroversiellen Zeitgeschichte die Wahl einzelner Wörter verhandelt wird, zeigt die Kritik am Ausstellungstitel  : Für verfänglich hielt Sandgruber „das Wortspiel von der ‚Kulturhauptstadt des Führers‘, das keinerlei historische Entsprechung hat und das für so viele Missverständnisse in der internationalen Presse die Wurzel bildet“. Der Linzer SPÖ-Bürgermeister Franz Dobusch bezeichnete den Ausstellungstitel als „missverständlich und unglücklich“,56 der ÖVP-Vizebürgermeister Erich Watzl meinte, man hätte „sorgsamer und mit mehr Fingerspitzengefühl vorgehen

53 Heller, Das Problem mit dem „Fuhrer“ (wie Anm. 36). 54 Schuster  : „Eine große Chance leichtfertig vertan“ (wie Anm. 52). 55 Sandgruber, Ist Linz eine Nazi-Stadt  ? (wie Anm. 45). 56 Dobusch  : „Missverständlich und unglücklich“ (wie Anm. 47).

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können“.57 Der Direktor der oberösterreichischen Landesmuseen, Peter Assmann, erklärte, „die Entscheidung über den Ausstellungstitel ‚Kulturhauptstadt des Führers‘ sei aber hausintern gefallen, ‚für die stehe ich als Leiter des Schlossmuseums‘, das habe Martin Heller nicht einmal mitgekriegt, das stehe für ein Zitat der Zeit. Es gibt mehrfach die Äußerung ,kulturelle Hauptstadt Europas‘.“58 Er führte internationale positive Reaktionen auf die Ausstellung ins Treffen  : „Maßgebliche Medien wie die FAZ oder die Süddeutsche Zeitung hätten sehr klar herausgestrichen, ‚dass es sehr wichtig war, diesen Schritt zu setzen, und dass es eine fachlich ganz präzise Ausstellung ist. Eine Kommission der EU hat uns besucht und die Ausstellung als besonders gelungen hervorgestrichen‘“, betont Assmann positive Reaktionen, die Oberösterreich durch die Ausstellung generierte. Welche Kriterien, abseits der einfach feststellbaren BesucherInnenzahlen, den Erfolg einer Ausstellung definieren, ist gleichermaßen eine heikle Frage wie ein schwieriger Punkt bei Evaluierungen der Rezeption. Wer die zahlreichen Besprechungen und Kommentare zur Ausstellung „Kulturhauptstadt des Führers“ liest, stellt fest, dass sich erstaunlich viele Kritikpunkte auf Fragen der Ausstellungsgestaltung beziehen, dem dritten hier identifizierten Knotenpunkt der Debatte um die Schau im Linzer Schlossmuseum. Dies ist außergewöhnlich  : Selten genug finden kuratorische und gestalterische Entscheidungen in Ausstellungskritiken Erwähnung, zumeist reduzieren sie sich auf eine Darstellung des Themas, auf die Beschreibung ausgewählter Kunstwerke bzw. kulturhistorischer Objekte und Hinweise auf den Veranstaltungsort, die Laufzeit sowie die Öffnungszeiten der Schau. Was die Raumatmosphäre, die Positionierung der Objekte im Raum, die Zusammenstellung von Objektgruppen, den Umgang mit Modellen und audiovisuellen Medien, die Lichtdramaturgie, die Handhabung von Reproduktionen, die Sensibilität für Farbentscheidungen und die Wiedergabe von historischen Zitaten an Wänden betrifft, zeigen sich in den Ausstellungsbesprechungen zwei entgegengesetzte Tendenzen  : einerseits die Forderung nach Objektfülle und Opulenz, andererseits die Sensibilität für eine reflektierte Ausstellungspraxis von Objekten aus der NS-Zeit, seien diese nun Originale oder Reproduktionen. Ulrich Weinzierl, Sohn der bedeutenden österreichischen Zeithistorikerin Erika Weinzierl, beklagte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die mangelnde sinnliche 57 Watzl  : „Schwachstellen in der Vermittlung“ (wie Anm. 46). 58 Peter Assmann  : „Absolut unzulässig“, in  : Oberösterreichische Nachrichten, 26.3.2010, , 13.5.2010.

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Nachvollziehbarkeit der gigantisch überdimensionierten Architekturvisionen Adolf Hitlers  : „Aber musste man, vor lauter politischer Korrektheit, die Schau so frei von ästhetischem Ergeiz, kleinmütig bis zur Ununterscheidbarkeit, gestalten  ? Kein üppiges Architekturmodell veranschaulicht den Aberwitz dieser Gewaltarchitektur“,59 stellte er fest. Objektfülle forderte auch ein offenbar enttäuschter Reinhold Mann von der Schwäbischen Zeitung, der sich scheinbar erwartet hatte, in der Linzer Ausstellung 2008/09 das Führer-Museum zu sehen, das in der NS-Zeit vorbereitet wurde, zu dessen Errichtung es aber nicht gekommen war. „Und natürlich das ‚Führer-Museum‘  : Dieses Thema könnte die aktuelle Raubkunst- und Restitutionsdebatte aufschließen. Die Ausstellung greift das zwar auf, aber wie  ! Es gibt mehrere Inventare, die verzeichnen, welche Bilder für das Linzer Museum vorgesehen waren – unter anderem 32 Fotoalben, von denen 19 erhalten sind. Die Ausstellung zeigt ein einziges Album, eine Seite ist aufgeschlagen  : darauf ein Bild. Dabei geht es um 4000 Gemälde, die zur Auswahl standen.“60

Demgegenüber zeigten vereinzelt Journalistinnen und Journalisten Sensibilität für die Problematik des Ausstellens von NS-kontaminierten Objekten und die Schwierigkeit, Machtverhältnisse der NS-Zeit nicht durch die Verteilung von Raumkubatur unbewusst zu prolongieren, wie es in einem Raum der ambitionierten Ausstellung passiert ist, ein Kritikpunkt, den Barbara Petsch nur andeutet, wenn sie schreibt  : „[H]inter einer Wand, wohl gedacht als ‚Kehrseite‘ der Ereignisse, hängen Zeichnungen Simon Wiesenthals aus dem KZ Mauthausen  : Ein Tod mit SS-Kappe verschlingt endlose Reihen von Zügen. Auch die schizophrene Künstlerin Ida Maly (1894–1941) wurde vergast. ‚Trübe Ahnungen‘ heißt eines ihrer Bilder von 1928.“61 Der größere Teil des Raumes war u. a. der Wiedergabe der Filmdokumente von Hitlers Einmarsch in Linz im März 1938 gewidmet, ein Ausstellungsobjekt, das aufgrund seiner zentralen Positionierung im Raum, der Anbringungshöhe der Projektfläche und seiner Eigenschaft als audiovisuelles Medium die Aufmerksamkeit der BesucherIn59 Ulrich Weinzierl, Linz reimt sich auf Provinz, in  : Die Welt, 27.9.2008. 60 Reinhold Mann, Wir sind alle kleine Stümperlein, in  : Schwäbische Zeitung, 6.10.2008. 61 Barbara Petsch, Hitler in der Kulturhauptstadt. Linz 09. Vor der offiziellen Eröffnung (Ende 2008) erinnern Ausstellungen an die NS-Zeit, was durchaus polarisiert, in  : Die Presse, 17.9.2008.

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nen unwillkürlich auf sich zog. An anderer Stelle versuchte die Ausstellungsgestaltung mit vorsichtigen „Gesten des Zeigens“ (Roswitha Muttenthaler/ Regina Wonisch) reflektierte museologische Fragen aufzuwerfen, die von einem Journalisten auch „gelesen“ und als Experiment erkannt wurden  : „In der klar und bewusst nüchtern gestalteten Aufarbeitung bleibt zwischen Dokumenten, Fotos, Modellen, historischen Filmausschnitten und Gemälden Platz, um selbst Fragen an die weißen Wände zu projizieren. Schlägt die gefährliche Faszination, mit der das Thema behaftet ist, durch  ? Provokant die ‚Devotionalien-Auslage‘ mit einem Gästebuch, in das sich nur Hitler bei seinem Besuch der Landesgalerie eintrug, und einem Schreibtisch, an dem er dabei – wohl nur wenige Minuten – saß. Am Boden ein Hitlerkopf, der die Frage aufwirft, was mit belasteten Denkmälern geschehen soll. Zerstören  ? Verstecken  ? Bezeichnen  ? Erklären  ?“62

Tatsächlich rühren diese Fragen an grundsätzliche Aufgaben der Institution Museum, Bewahren und Ausstellen  : Muss es einen Schreibtisch in den Depots einlagern, der nur aufgrund der Tatsache musealisiert wurde, dass Adolf Hitler ihn für wenige Momente nutzte  ? Wie kann einem Objekt, dessen Existenz im Museum sich der Anbiederung an das NS-Terrorsystem verdankt, wie der in Linz ausgestellte Schreibtisch, seine museale Aura, die unweigerlich nobilitiert, genommen werden  ? Ist nicht die Karteikarte, die die Aufnahme des Artefakts dokumentiert, das eigentlich historisch wichtige Objekt  ? Wie können tradierte Zeige- und Sehgewohnheiten in Museen und Ausstellungen gebrochen werden, um in Inhalt wie Gestaltung ein klares politisches Statement gegen die faschistische NS-Ideologie lesbar und ästhetisch rezipierbar zu machen  ? Wie würde sich die Wahrnehmung der präsentierten Inhalte verändern, wenn historische Zitate von NS-Schergen in anderer Form als in großen, an die Wand geklebten Lettern Teil einer Ausstellung wären oder wenn eine andere Farbe als das Rot der NS-Hakenkreuzfahne die Grafik bestimmte  ? Wenn die Besucherinnen und Besucher die Köpfe zu Boden neigen müssten, um Hitlers Einmarschszene in Linz zu verfolgen  ? Welche anderen Gestaltungsmittel können gefunden werden, um gerade an einem Ort positiver Identifikationsangebote die musealen Präsentationstechniken, die durch Rahmen, Sockel, Kordel und Vitrinen Abstand erzeugen und Aura konstru62 Bernhard Lichtenberger, Die Kunst, Adolf Hitler zu bewältigen, in  : Oberösterreichische Nachrichten, 17.9.2008.

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Experiment und Leerstelle

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ieren, zu konterkarieren  ? Wie muss das Dispositiv der Zurschaustellung, die Ausstellung, künftig auf den Ort der Präsentation reagieren  ? Die Linzer bzw. oberösterreichische Ausstellung machte deutlich, dass trotz der Bemühungen der kritischen Zeitgeschichtsforschung eine adäquate Storyline und ein stringent reflektiertes Display für die museale Repräsentation der NS-Zeit ein Desiderat der österreichischen Museumslandschaft bleibt. „Wird die Schau in die Geschichte der NS-Aufarbeitung eingehen  ?“, fragte Barbara Petsch in der Zeitung Die Presse, um gleich selbst zu antworten  : „Wohl kaum, sie erzählt doch über weite Strecken Bekanntes. Doch das erzählt sie gut und klar, macht ein verdrängtes Stück Regionalgeschichte, die Teil der österreichischen Geschichte ist, plausibel, und vor allem ist sie ein Signal.“63 – Ein Signal dafür, dass die Ausstellung erst ein Anfang war für die Erforschung der Involvierung von Museen in die NS-Herrschaft und für das Verhandeln von Erzählweisen und musealen Darstellungsformen der NS-Ideologie. Was sind die Erfahrungen, die aus diesem temporären, aus der jungen kritischen Zeitgeschichtsforschung kommenden Ausstellungsprojekt mitgenommen werden können, gezeigt im oberösterreichischen Landesmuseum, einer Ins­ titution, die sich einer positiven bürgerlichen Identifikation mit der Region verdankt  ? Ob zu einer Schau mit dem Schwerpunkt Gotik oder Barock mehr Besucherinnen und Besucher gekommen wären, wie Landeshauptmann und ÖVP-Kulturreferent Josef Pühringer bei der Eröffnung von „Kulturhauptstadt des Führers“ postulierte, muss dahingestellt bleiben.64 Fest steht, die Sonderausstellung hat viele Gespräche und Diskussionen bewirkt  : zwischen BesucherInnen, JournalistInnen, PolitikerInnen, HistorikerInnen und AusstellungsmacherInnen sowie einem unbestimmbaren Prozentsatz an BewohnerInnen Oberösterreichs, die sich gegen einen Austellungsbesuch entschieden haben. „Kulturhauptstadt des Führers“ hat zahlreiche weiter zu erforschende und reflektierende Fragen aufgeworfen über einzelne Schicksale von Opfern und biografische Kontinuitäten von (Schreibtisch)-Tätern, über Moral und Handlungsspielräume, über die Geschichte der Museen und die widerrechtliche Aneignung von kulturellem Erbe. Und nicht zuletzt über die heutige Bewahrungs-, Forschungs-, Vermittlungs- und Darstellungspraxis der österreichischen Landesmuseen in Hinblick auf die Musealisierung von Zeitgeschichte.

63 Petsch, Hitler in der Kulturhauptstadt (wie Anm. 61). 64 Ebd.

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Das oberösterreichische Ebensee war zwischen 1943 und 1945 Standort eines Nebenlagers des Konzentrationslagers Mauthausen. Hier wurden KZHäftlinge, zivile ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangene zum Bau einer Stollenanlage für die Rüstungsindustrie ausgebeutet. Ende der 1940er-Jahre wurde das Lager abgetragen, eine Siedlung wurde auf dem Gelände errichtet. 1988 gründete sich der „Verein Widerstandsmuseum“ (offiziell umbenannt in „Verein Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte“ im Jahr 2002). Er ist Träger einer Dauerausstellung im „Gedenkstollen“, eröffnet 1997, und des „Zeitgeschichte Museum Ebensee“ (ZME), das 2001 eröffnet wurde.1

Die Ausstellung als diskursives Feld Das Zeitgeschichte Museum und die Stollenausstellung der KZ-Gedenkstätte in Ebensee gehen auf Initiativen zurück, die in erster Linie regionale Bezugspunkte such(t)en. Eine Grundlage der Ausstellungskonzeption im Zeitgeschichte Museum war aber zugleich, Geschichten aus dem Salzkammergut in den größeren Kontext österreichischer Geschichte zu stellen. Auch das „Medium Ausstellung“ steht in größeren gesellschaftlichen Zusammenhän

Für Denkanstöße, Kritik und ein Forum zur Diskussion möchte ich mich bei Heidemarie Uhl und der Forschungsgruppe „MauthausenSeminar. Geschichte darstellen/ausstellen in KZGedenkstätten“ (gefördert durch das Programm „forMuse – Forschung an Museen“ des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung), in deren Rahmen die Arbeit entstanden ist, bedanken. Peter Larndorfer gewährte mir freundlicherweise Einblick in seine Manuskripte. 1 Siehe dazu  : Verein Widerstandsmuseum Ebensee (Hg.), Konzentrationslager Ebensee, Bad Ischl 22000, 12  ; Wolfgang Quatember, Die Geschichte der KZ-Gedenkstätte Ebensee, in  : Ulrike Felber/Wolfgang Quatember (Hg.), Zeitgeschichte Museum Ebensee. Republik, Ständesaat, Nationalsozialismus, Widerstand, Verfolgung. Katalog zur Dauerausstellung, Regau 2005, 198–204, hier 198, 201–202  ; retrospektive. 20 Jahre Geschichtsarbeit. Der Verein Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee feiert sein 20-jähriges Bestehen, hrsg. im Selbstverlag des Verein Zeitgeschichte Museum Ebensee, o.O. 2008.

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gen  :2 Geschichte und Erinnerung sind immer perspektivisch organisiert, verfahren rekonstruktiv und sind dabei eingefasst im Selbstverständnis der sich erinnernden Kollektive, sie können gesellschaftlich antagonistisch sein, sind dadurch aber auch verhandel- und veränderbar.3 Ausstellungen sind als Orte zu betrachten, die Kristallisationspunkte solcher Verhandlungen darstellen.4 Das bedeutet, dass „Ausstellen und Betrachten […] im Kontext der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse stehen“5 – in ihnen wird Geschichte repräsentiert. Dabei können Museen und Ausstellungen in unterschiedlichem Maße Orte der „Verdichtung nationaler beziehungsweise regionaler Identitätskonstruktionen“6 oder gar der „Produktion kollektiver Identitäten“7 sein, aber auch Orte der „Gegenerzählung“, des Widerspruchs oder der Auseinandersetzung.8 Wie Monika Sommer-Sieghart bemerkt, neigen Ausstel2 Jana Scholze, Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld 2004. 3 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn 2007, 36  ; vgl. auch Insa Eschebach/Silke Wenk, Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz. Eine Einführung, in  : Insa Eschebach/Silke Wenk/Sigrid Jacobeit (Hg.), Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt am Main 2002, 13–38, hier 18  ; Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in  : Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, 9–19, hier 13  ; Oliver Marchart, Das historisch-politische Gedächtnis. Für eine politische Theorie kollektiver Erinnerung, in  : Christian Gerbel/Manfred Lechner/Dagmar C. G. Lorenz/Oliver Marchart/Vrääth Öhner/Ines Steiner/Andrea Strutz/Heidemarie Uhl (Hg.), Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik (Kultur.Wissenschaften 9), Wien 2005, 21–49, bes. 26, 28, 41. 4 Vgl. Katrin Pieper, Die Musealisierung des Holocaust. Das Jüdische Museum Berlin und das U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Ein Vergleich, Köln – Weimar – Wien 2006, 26. 5 Nora Sternfeld, Aufstand der unterworfenen Wissensarten – museale Gegenerzählungen, in  : Charlotte Martinz-Turek/Monika Sommer-Sieghart (Hg.), Storyline. Narrationen im Museum (Schnittpunkt. Ausstellungstheorie & Praxis 2), Wien 2009, 30–56, hier 40  ; vgl. auch Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch, Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2006, 22. 6 Monika Sommer-Sieghart, (Kultur-)Historische Museen als gegenwartsrelevante Diskursräume, in  : Martinz-Turek/Sommer-Sieghart, Storyline, 74–92, hier 76 (wie Anm. 5). 7 Irit Rogoff, Von Ruinen zu Trümmern. Die Feminisierung vom Faschismus in deutschen historischen Museen, in  : Silvia Baumgart/Gotlind Birkle/Mechthild Fend/Bettina Götz/Andrea Klier/Bettina Uppenkamp (Hg.), Denkräume. Zwischen Kunst und Wissenschaft. 5. Kunsthistorikerinnentagung in Hamburg, Berlin 1993, 259–285, hier 266. 8 Sternfeld, Aufstand der unterworfenen Wissensarten, 46 (wie Anm. 5)  ; vgl. auch Jan Assman, Kollektives und kulturelles Gedächtnis. Zur Phänomenologie und Funktion von Gegen-Er-

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lungen zwar zur „Vermittlung von Eindeutigkeiten“, durch räumliche Anordnungen können sich allerdings unbeabsichtigte „Sub- oder Gegennarrationen“ ergeben.9 Dafür spricht die Diskursivität von Geschichtsbildern, die sich stets in einem „field of force“ zwischen „dominanten, mit wiederum unterschiedlich ausgeprägter Definitionsmacht ausgestatteten Diskurse[n] ebenso wie bislang Tabuisierte[m]“ bewegen. Sie nehmen wechselseitig aufeinander Einfluss und unterliegen Regeln der Sag-, Anknüpf- und Lesbarkeit.10 Das schlägt sich auf die Narrative, die in Ausstellungen entwickelt werden (können), nieder – die inhaltlich Verantwortlichen bewegen sich als RezipientInnen und AkteurInnen in diesem Feld, in einem geringeren Maß auch die BetrachterInnen von Ausstellungen. Deren Umgang mit, Einordnung, Aneignung und/oder Verwerfung der ihnen präsentierten Inhalte entzieht sich teilweise dem Einfluss der GestalterInnen.11

innerung, in  : Ulrich Borsdorf/Theodor Grütter (Hg.), Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt a.M. 1999 13–32, hier 31  ; Muttenthaler/Wonisch, Gesten des Zeigens, 24 (wie Anm. 5).   9 Monika Sommer-Sieghart, Historische Ausstellungen als „contested space“, in  : Johannes Feichtinger/Elisabeth Großegger/Gertraud Marinelli-König/Peter Stachel/Heidemarie Uhl (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 7), Innsbruck 2006, 159–166, hier 163. 10 Christian Gerbel/Manfred Lechner/Dagmar C. G. Lorenz/Oliver Marchart/Vrääth Öhner/ Ines Steiner/Andrea Strutz/Heidemarie Uhl, Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik, in  : Gerbel u.a., Transformationen, 7–20, hier 12 (wie Anm. 3)  ; Oliver Marchart nennt sie „Ermöglichungsbedingungen“. Marchart, Das historisch-politische Gedächtnis, 32 (wie Anm. 3). Ulrich Borsdorf und Heinrich Grütter sprechen von Museen gar als „Ort[en] der Latenz“, in denen gesellschaftlich Widersprüchliches und Vergessenes auftaucht, selbst wenn es nicht explizit thematisiert wird, vgl. Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter, Einleitung, in  : Borsdorf/Grütter, Orte der Erinnerung, 1–12, hier 6 (wie Anm. 8)  ; vgl. auch Muttenthaler/Wonisch, Gesten des Zeigens, 13 (wie Anm. 5). 11 Vgl. Peter Larndorfer, Gedächtnis und Musealisierung. Die Inszenierung von Gedächtnis am Beispiel der Ausstellung Der Österreichische Freiheitskampf 1934–1945 im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1978–2005, Dipl. phil. Wien 2009, 66  ; Sommer-Sieghart, Historische Ausstellungen als „contested space“, 160 (wie Anm. 9). Dennoch betreten die BesucherInnen mit dem Museum/der Ausstellung „ein spezifisches Wissen-Macht-Dispositiv“, weil das Wissen, das hier vermittelt wird, ein „institutionell beglaubigtes“ ist, vgl. Oliver Marchart, Die Institution spricht. Kunstvermittlung als Herrschafts- und als Emanzipationstechnologie, in  : Beatrice Jaschke/Charlotte Martinz-Turek/Nora Sternfeld (Hg.), Wer spricht  ? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen (Schnittpunkt. Ausstellungstheorie & Praxis 1), Wien 2005, 34–58, hier 35.

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Darüber hinaus wird, entsprechend neuer Prämissen in der ­Museologie, von zeitgenössischen Ausstellungen zumindest idealtypisch ­e rwartet, ihre deutende Rolle offenzulegen und dabei die Uneindeutigkeit von Ge­schich­ te(n) herauszuarbeiten.12 Ergänzung bedarf der analytische Umgang mit der Ausstellung im Ge­ denkstollen  : sie befindet sich an einem historischen Ort, der auch die Funk­ tion eines Gedenkorts hat. Es ist ein „Ort ehemaliger Präsenz“, der durch einen „indexikalischen Gestus des Zeigens“ für alle lesbar gemacht werden soll und dabei der „Lokalisierung“, der „Konkretisation und Verifikation“ von Geschichte dient.13 Bedingungen und Möglichkeiten des Ausstellens und der Darstellung sind hier wohl ebenso wie die Rezeption des Präsentierten in ei­ nem besonderen Maß von der Historizität des Ortes und der ihm zugemesse­ nen Bedeutung abhängig. Dieser Beitrag konzentriert sich dementsprechend auf die Frage, welche Positionen an den Ausstellungen abgelesen werden können, sowohl histo­ risch-inhaltlich als auch im Verständnis als geschichtsvermittelnde Instituti­ onen. Ziel ist, diese Setzungen in ihrem Entstehungszusammenhang zu ver­ orten. Dieser Kontext erschließt sich aus ihrer 13-jährigen Realisierungsphase (1988 bis 1997 bzw. 2001) im Rahmen der Arbeit des „Vereins Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee“ und dem gesellschaftlichen Um­ gang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.

Vom Abtragen und Anbringen Das „SS-Arbeitslager“ in Ebensee mit Tarnnamen „Zement“ entstand ab dem 18. November 1943. Die aus dem Konzentrationslager Mauthausen und sei­ nen Nebenlagern nach Ebensee überstellten KZ-Häftlinge wurden anfangs in ­einer alten Weberei im Ortsgebiet untergebracht, bis sie im Januar 1944 in das von ihnen errichtete Lager in der „Finkerleiten“ übersiedelt wurden. Im Früh­ jahr 1944 begann der Bau eines Krematoriums, das am 31. Juli in Betrieb ge­ nommen wurde. Zweck des Lagers war die Einrichtung einer unterirdischen Rüstungsproduktion, die durch die Bombardierung des Raketenforschungs­ 12 Vgl. dazu z.B. Gottfried Korff, Bildwelt Ausstellung. Die Darstellung von Geschichte im Mu­ seum, in  : Borsdorf/Grütter, Orte der Erinnerung, 319–335, hier 329 (wie Anm. 8). 13 Aleida Assmann, Das Gedächtnis der Orte, in  : Borsdorf/Grütter, Orte der Erinnerung, 59–77, hier 64, 71f., 76f. (wie Anm. 8).

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zentrums in Peenemünde im August 1943 für die nationalsozialistische Kriegsführung große Bedeutung bekam. Nach der Errichtung der Stollen durch KZHäftlinge, zivile ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangene unter der Leitung von mehreren Baufirmen wurden in den fertigen Teilen der Anlage ab Februar 1945 allerdings Treibstoff und Motorteile für LKWs und Panzer produziert. Unter äußerst schwierigen und gefährlichen Arbeitsbedingungen wurden Männer zwischen zwanzig und vierzig Jahren in – anfangs – guter körperlicher Verfassung ausgebeutet, bis das für 6.000–7.000 Gefangene geplante Lager ab Anfang 1945 Ziel für „Evakuierungstransporte“ aus zahlreichen anderen Lagern wurde. Die stetige Überfüllung, die mit etwa 18.500 KZ-Häftlingen ihren Höhepunkt erreichte, sorgte für eine zunehmende Verschlechterung der (Über-)Lebensbedingungen. Vor allem jüdische Gefangene wurden systematisch ermordet. Als die Kapazitäten des Krematoriums nicht mehr ausreichten, um die Leichen zu beseitigen, wurden von der SS auf dem Lagergelände zusätzlich Massengräber angelegt. Am 6. Mai 1945 wurde das Konzentrationslager von US-Truppen befreit. Die Zahl der Menschen, die zwischen 1943 und 1945 in Ebensee gefangen gehalten wurden, wird auf 27.000 geschätzt – etwa 8.500 von ihnen starben aufgrund der Haft. Die Mehrzahl der KZ-Häftlinge waren politische Gegner, etwa ein Drittel als Juden Verfolgte, ein kleiner Anteil bestand aus Zeugen Jehovas, Roma und Homosexuellen.14 Die Toten, die sich bei der Befreiung unbestattet am Lagergelände befanden, wurden auf einem enteigneten Grundstück der ehemaligen NS-Landesbäuerin, etwa zwei Kilometer vom Lager an der Ischler Bundesstraße gelegen, begraben. Am 2. Juni 1946 wurde der Friedhof eingeweiht und ein Stein mit der Aufschrift „Zur ewigen Schmach des deutschen Volkes“ angebracht.15 Vier Wochen später, am 30. Juni, begrüßte der Gemeinderat den Vorschlag, auf dem ehemaligen Lagergelände eine Wohnsiedlung mit Einfamilienhäusern zu errichten. Besonders vorteilhaft erschien dabei die bereits vorhandene Infrastruktur  : Wasser- und Kanalleitungen, Strom- und Verkehrsanbindung.16 Mit der Bebauung des Geländes wurde die Auflassung des Lagers vorangetrie14 Vgl. Andreas Schmöller, Kurzgeschichte KZ Ebensee, , 5.1.2010  ; ausführlich in  : Florian Freund, Die Geschichte des KZ Ebensee. Raketenrüstung und Zwangsarbeit, Diss. phil. Wien 1987, bzw. ders., Arbeitslager Zement. Das Konzentrationslager Ebensee und die Raketenrüstung, Wien 21991. 15 Vgl. Quatember, Die Geschichte der KZ­- Gedenkstätte Ebensee, 199 (wie Anm. 1). 16 Vgl. Peter Egger, „Ortseinsichten“. Wahrnehmungen und Erinnerung am Ort des ehemaligen Konzentrationslagers Ebensee, Dipl. phil. Wien 2008, 22f.

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ben, das nach Kriegsende zuerst als Internierungslager für österreichische und deutsche Kriegsgefangene der US-Armee und später als Camp für „displaced persons“ weitergenutzt wurde. Auch die Stollenanlage war bis 1947 und noch einmal von 1949 bis 1952 als Erdölraffinerie weiterhin in Betrieb. Heute wird ein Teil (Anlage B) durch die Firma Hatschek industriell genutzt, ein anderer Abschnitt (Anlage A) ist im Besitz der Österreichischen Bundesforste, beherbergt ein Munitionsdepot und einen privaten Schießstand sowie die Dauerausstellung im Gedenkstollen. Bereits 1949 wurden die Reste des Lagers gänzlich abgetragen und die Grundmauern für vier Häuser gelegt. Bei der Parzellierung der Siedlung in der Finkerleiten wurden die Spuren des Konzentrationslagers allerdings nicht vollständig beseitigt  : Die Straßenverläufe sind in der Siedlungsplanung übernommen worden, der Umriss der bebauten Fläche entspricht heute noch beinahe der ehemaligen Umzäunung.17 Erhalten blieb auch der Bogen eines der Lagertore, der nach wie vor in der Finkerleiten-Siedlung zu sehen ist. Während die Betonpfeiler des ersten Eingangstores abgetragen wurden, weil „sie das Landschaftsbild nachhaltig beeinfluss[t]en und als Erinnerungsmonument keinesfalls in Betracht k[amen]“,18 konnte das zweite Eingangstor, das verlegt werden sollte, durch Proteste des KZ-Verbandes an seiner ursprünglichen Stelle bleiben. Eine weitere Kennzeichnung erhielt der Ort des ehemaligen Konzentrationslagers durch die Initiative von Hilda Lepetit, der Witwe eines ehemaligen Häftlings, die ihren Mann in einem der von der SS angelegten Massengräber vermutete. Sie suchte um die Erlaubnis an, an dieser Stelle ein Denkmal errichten zu dürfen. Das Österreichische Schwarze Kreuz sicherte die Errichtung in Form eines Marmorkreuzes mit einer Grabplatte zu. Finanziert wurde das Monument, das 1948 eingeweiht wurde, von Hilda Lepetit. Im Jahr 1952 wurde der KZ-Friedhof aufgelassen und auf das inzwischen von der Republik Österreich aus dem Besitz der Österreichischen Bundesforste übernommene Grundstück rund um das Lepetit-Denkmal verlegt. Besonders erfreulich war das für die inzwischen rehabilitierte ehemalige Eigentümerin und für die, in mehreren Dokumenten der BH Gmunden noch 1952 als solche bezeichneten, „reichsdeutschen“ Sommergäste, die sich häufig über die Inschrift des dort an17 Vgl. Quatember, Die Geschichte der KZ-Gedenkstätte Ebensee, 200f. (wie Anm. 1)  ; Egger, „Ortseinsichten“, 26ff. (wie Anm. 16). 18 Brief der BH Gmunden an das Amt der OÖ. Landesregierung, April 1949  ; zit. nach Quatember, Die Geschichte der KZ-Gedenkstätte Ebensee, 199 (wie Anm. 1).

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gebrachten Denkmals beschwert hatten – wodurch ein „nachteiliger Einfluss auf den Fremdenverkehr“ befürchtet wurde.19 Insgesamt wurden etwa 1.300 Leichen, die am Friedhof an der Ischler Straße bzw. im Falle ehemaliger KZHäftlinge, die nach der Befreiung in umliegenden Gemeinden verstorben und dort begraben worden waren, exhumiert. Das Gedenken an die Opfer des Konzentrationslagers konnte so auf das ehemalige Lagergelände verlegt werden, bis 1955 gab es nachweislich jährliche Gedenkfeiern mit internationaler Beteiligung.20 Wie an vielen anderen Orten in Österreich wurde jedoch auch in Ebensee die Ehrung der Verfolgten zugunsten eines konsensfähigeren öffentlichen Gedenkens, das sich an den gefallenen Wehrmachtssoldaten orientierte und im besten Fall allen ÖsterreicherInnen den Opferstatus zuerkannte, zurückgedrängt.21 In Ebensee war dieses Empfinden als Opfer mit dem Hinweis auf eine (kriegs-)strategische Standortwahl für das Konzentrationslager in besonderem Maße geprägt.22 Zudem zentralisierte sich mit der Einrichtung der Gedenkstätte Mauthausen 1949 das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in Österreich zunehmend auf einen von der Republik unterhaltenen Gedenkort, wo sich die Geschichtsdarstellung besonders am Opfermythos orientierte und politische Häftlinge im Vordergrund standen.23 Zu Allerheiligen hielt die Gemeinde Ebensee zwar regelmäßig eine Feier am KZ-Friedhof ab, setzte diese aber am SS-Friedhof in Steinkogel fort.24 Nach dessen Auflösung wurde das Hauptkriegerdenkmal im Ortskern, gewidmet den Gefallenen der beiden Welt19 Vgl. Quatember, Die Geschichte der KZ-Gedenkstätte Ebensee, 201–204 (wie Anm. 1). 20 Vgl. Quatember, Die Geschichte der KZ-Gedenkstätte Ebensee, 198 (wie Anm. 1). 21 Vgl. Bertrand Perz, Österreich, in  : Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 489), Bonn 2005, 170–182, hier 176f.; Heidemarie Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese. NS-Herrschaft, Krieg und Holocaust im „österreichischen Gedächtnis“, in  : Gerbel u.a., Transformationen, 50–85, hier 55 (wie Anm. 3). 22 Vgl. Bernhard Denkinger/Ulrike Felber/Wolfgang Quatember, Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee. Auseinandersetzung mit Vergangenheit im historischen Museum und am authentischen Ort, in  : Eduard Fuchs/Falk Pingel/Verena Radkau (Hg.), Holocaust und Nationalsozialismus (Konzepte und Kontroversen. Materialen für Unterricht und Wissenschaft in Geschichte – Geographie – Politische Bildung 1), Wien 2002, 106–113, hier 107. 23 Vgl. Perz, Österreich, 175 (wie Anm. 21)  ; Bertrand Perz, Die Rolle der KZ-Gedenkstätte Mauthausen in der österreichischen Gedächtnislandschaft seit 1945, in  : Beiträge zur historischen Sozialkunde 33 (2003) 4, 8ff  ; siehe auch Bertrand Perz, Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck 2006. 24 Vgl. Quatember, Die Geschichte der KZ-Gedenkstätte Ebensee, 198 (wie Anm. 1).

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kriege, mit der neutralen Aufschrift „Dieses Denkmal soll euch sagen, dass Kriege große Wunden schlagen“ zum Zentrum von Gedenkveranstaltungen. Franz Loidl – Ebenseer, Priester, Kirchenhistoriker und Heimatbuchautor, außerdem Vorstandsmitglied des DÖW – erwähnt etwa in seiner Predigt am 1. August 1971 bei der Jahresgedächtnisfeier des Kameradschafts-Unterstützungs-Vereines, in der er ausführlich auf die Grauen des Krieges einging, kein einziges Mal die Existenz des Konzentrationslagers Ebensee. 25 Loidl hatte 1946 die Eindrücke veröffentlicht, die er im Mai 1945 nach der Befreiung des Lagers und seiner freiwilligen Seelsorgetätigkeit mit den befreiten Gefangenen gesammelt hatte.26 Die Neuauflage seiner Broschüre 1971, gemeinsam mit der Veröffentlichung eines Heimatbuches über Ebensee im Jahr darauf, in dem auf 78 Seiten das Lager auf einer halben Seite zur Sprache kommt, sagt wohl weniger über die Wichtigkeit aus, die Loidl dem Gedenken an die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung beimaß, als über den „anderen“, „unheimatlichen“ Ort, den er ihm zuwies.27 In den 1980er-Jahren kam Bewegung in das Gedächtnis an die nationalsozialistische Vergangenheit. Vor Ort entscheidend war dafür unter anderem die Übernahme des Bürgermeisteramtes durch den jungen Sozialdemokra25 Veröffentlicht in  : Franz Loidl, Heimatbuch Ebensee, OÖ. Landschaft, Persönlichkeiten und ihre Leistungen, Kulturelles, profanes und christliches Brauchtum, Bezeugungen der Heimatliebe, Wien 21972, 51–55. 26 Franz Loidl, Entweihte Heimat. K.Z. Ebensee, Wels 1946 (Wien 21971 bzw. Wien 31985). 27 Insgesamt ist im Heimatbuch Ebensee dreimal von einem Lager die Rede. Dies geschieht jeweils in halbseitigen Absätzen. Zweimal spricht Loidl aber nicht vom nationalsozialistischen Konzentrationslager, sondern vom Internierungslager für österreichische und deutsche Angehörige der Waffen-SS nach Kriegsende. Eine Differenzierung wird ausschließlich durch die Zitation von unterschiedlichen Quellen vorgenommen  ; vgl. Loidl, Heimatbuch Ebensee, 11, 18 (wie Anm. 25). Loidl nennt seinen Bericht über das Konzentrationslager Ebensee Entweihte Heimat (wie Anm. 26). Für ihn als Theologen und Priester könnte „Entweihung“ ein sehr konkreter Begriff gewesen sein, eine Entweihung oder Profanierung kommt im Kirchenrecht einer Entwidmung, der Beendigung einer Nutzung (etwa einer Kirche) gleich. Der Ort, an dem sich das Konzentrationslager befand, wird von Loidl immer wieder wehmütig beschrieben – er erinnert sich, was sich hier und dort früher befand, z.B.: „Hier waren einmal die etwa zwei Joch großen Waldwiesen mit dem Futterstadl in der Mitte, wo man in dämmerigen Stunden Rehe und Hirsche belauschen konnte. […] Von da werden die Einheimischen nicht mehr bestes Bauholz […] holen können, denn verdorben ist dieser fruchtbare Waldboden.“ 12–13. Er beschreibt 1946 gewissermaßen das Ende der Nutzung dieses Ortes als Heimat, seine Externalisierung aus dem „Eigenen“. Im Heimatbuch Ebensee findet er keinen Platz mehr. Zur „Externalisierung des Nationalsozialismus“ im „österreichischen Gedächtnis“ siehe z.B. Perz, Österreich, bes. 180 (wie Anm. 21).

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ten Rudolf Graf im Jahr 1984, der sich in seinem Arbeitsprogramm vornahm, die „Erinnerungslücken zu schließen“.28 Ein Jahr später, als sich die Befreiung des Lagers zum 40. Mal jährte, wurde von einigen EbenseerInnen eine Ausstellung über das Lager initiiert, zudem erschien Loidls Bericht aus 1946 in der nunmehr dritten Auflage.29 1987 stellte der Historiker Florian Freund seine umfangreiche Dissertation über das KZ Ebensee fertig. 1987/88 wurde eine von Roberto Castellani und der italienischen Stadt Prato, aus der außer dem Initiator auch andere nach Ebensee deportierte KZ-Häftlinge stammten, schon seit Jahren angestrebte Städtepartnerschaft geschlossen.30 Im selben Zeitraum startete das Berufsförderungsinstitut in Linz ein Regionalisierungsprojekt – Stefan Enter, einer der Mitarbeiter, hatte die Idee eines regionalen Widerstandsmuseums in Ebensee, die Rudolf Graf unterbreitet wurde.31 Am 4. August 1988 schließlich wurde der „Verein Widerstandsmuseum“ gegründet, der es sich zunächst zum Ziel setzte, „[n]eben der Errichtung eines Widerstandsmuseums […] Projekte, Bildungsveranstaltungen und Tagungen [zu] forcier[en] […], die geeignet sind, der Festigung demokratischen und antifaschistischen Bewußtseins zu dienen.“32 Den ersten Vorstand bildeten Ingrid Moser als Vorsitzende, Bürgermeister Rudolf Graf als erster Stellvertreter (er wurde 1989 durch seinen Nachfolger Herwart Loidl ersetzt) und Wolfgang Quatember als Projektleiter, der ein erstes Konzept für das geplante Museum erarbeitete. Zudem unterstützen den Verein Interessierte und HistorikerInnen (etwa Peter Kammerstätter, der schon seit Ende der 1970er-Jahre zum Widerstand zwischen 1934 und 1945 forschte und seine Arbeitsergebnisse zur Verfügung stellte) sowie ZeitzeugInnen und Personen des öffentlichen Lebens. Schon im darauffolgenden September konnte Quatember ein Büro im Gemeindeamt beziehen und über das „Akademikertraining“, später über die „Aktion 8000“, angestellt werden.33 1989 wurden erste Arbeitsergebnisse in einer kleinen Ausstellung zum 12. Februar 1934 im Ebenseer Rathaus präsentiert.34 Im selben Jahr gab es auch die erste Exkursion mit SchülerInnen auf 28 Vgl. Quatember, Die Geschichte der KZ-Gedenkstätte Ebensee, 198 (wie Anm. 1). 29 Vgl. Quatember, Die Geschichte der KZ-Gedenkstätte Ebensee, in  : , 5.1.2010. 30 Vgl. Partner und Freunde. … aus der Geschichte gelernt, , 5.1.2010. 31 Interview mit Wolfgang Quatember, in  : Volksstimme, 14.10.1999 (Archiv ZME). 32 Ischler Rundschau, 29. 9.1988 (Archiv ZME). 33 Vgl. retrospektive. 20 Jahre Geschichtsarbeit, 9, 13 (wie Anm. 1). 34 Vgl. z.B. Salzkammergut-Zeitung, 23.2.1989 (Archiv ZME).

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das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers gemeinsam mit Wladyslaw Žuk, einem Überlebenden, der in Ebensee geblieben war und bis vor kurzem eine zentrale Rolle in der Vermittlungsarbeit der Gedenkstätte spielte. Im Dezember wurde begonnen, mit den Bundesforsten über die Erschließung eines der Stollen für Anschauungszwecke zu verhandeln. Die historische Spurensicherung wurde zu einem Schwerpunkt der Arbeit des Vereins.35 Woher dieses neue Interesse an der lokalen Geschichte und der politische Wille, ihre Aufarbeitung zu fördern und zu institutionalisieren  ? In Ebensee ist zu beobachten, dass – abgesehen von ZeitzeugInnen – eine „neue Generation“ die Initiative ergriff. Wie Ingrid Moser im Rückblick bemerkt, „suchte [sie] einen differenzierteren Zugang zu den Jahren 1933–1945“.36 Schon seit den 1960er-Jahren kündigten sich Veränderungen in der gesellschaftlichen Diskussion um die unmittelbare Vergangenheit an  : 1961 spielte Helmut Qualtinger den Herrn Karl, 1962 wurde das Institut für Zeitgeschichte in Wien, 1963 das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes gegründet, 1965 wurde während der „Affäre Borodajkewycz“ Ernst Kirchweger bei einer Demonstration attackiert und erlag seinen Verletzungen. Dies zog auch politische Konsequenzen nach sich  : Das offizielle Österreich verständigte sich nun auf die „Geschichtsauffassung des Freiheitskampfes“, das konkurrierende Gefallenengedenken blieb aber weiterhin Teil des Geschichtsverständnisses – es entwickelte sich eine Politik des „double speak“ (Anton Pelinka).37 Auch das Verständnis der mit Geschichte befassten WissenschafterInnen hatte sich verändert  : Für viele war das Engagement in geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Belangen „Teil ihres Selbstverständnisses als AkteurInnen historisch-politischer Aufklärung“ geworden.38 Den Rahmen für diese Entwicklungen bildeten sozioökonomische Veränderungen, die mehr Menschen Zugang zu höherer Bildung, höherem Einkommen und damit auch Zeit und Geld für den Konsum von Kulturgütern verschafften und politische Stabilität mit sich brachten, die wiederum Raum für neue gesellschaftliche Diskussionen eröffnete.39 35 Vgl. retrospektive. 20 Jahre Geschichtsarbeit, 14 (wie Anm. 1). 36 retrospektive. 20 Jahre Geschichtsarbeit, 8 (wie Anm. 1). 37 Zit. nach Heidemarie Uhl, Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaften 30 (2001) 1, 19–32, hier 20, 25  ; vgl. auch Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese, 72 (wie Anm. 21). 38 Heidemarie Uhl, Schuldgedächtnis und Erinnerungsbegehren. Thesen zur europäischen Erinnerungskultur, in  : Transit 35/2008, 6–22, hier 10. 39 Vgl. Jay Winter, The Generation of Memory  : Reflections on the “Memory Boom” in Contem-

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Wichtige Bedingungen für das Ebenseer Projekt waren zudem die sich in den 1980ern verbreitende Bewegung der „Geschichte von unten“ – lokale Initiativen machten sich auf „die Suche nach historischen Bezugspunkten für ihr eigenes Lebensgefühl und begannen, die Geschichte emanzipatorischer, widerständiger Bewegungen vor Ort zu erkunden“40 – und die WaldheimDebatte 1986 mit dem darauffolgenden „Bedenkjahr“ 1988.41 Die oberösterreichische Krone zitierte 1989 etwa Bürgermeister Graf zum Thema „Vergangenheitsbewältigung“  : „Dieser Prozeß darf nach dem Bedenkjahr nicht aufhören.“42 Und im Jahr 1993, als die Realisierung der Ausstellungsprojekte aufgrund von Finanzierungsproblemen entgegen früherer Erwartungen für geraume Zeit behindert wurde, klagte Quatember in einem Interview über (bundes-)politische „Lippenbekenntnisse“, räumte aber ein  : „Im Bedenkjahr 1988 ist doch einiges weitergegangen.“43 Auch spezifisch regionale Verfasstheiten spielten eine Rolle. So wurde erfolgreich mit der wirtschaftlichen Relevanz der Ausstellungsprojekte argumentiert. Bei der Renovierung bzw. Erschließung der alten Volksschule im Ortskern zur Unterbringung des Zeitgeschichte Museums sowie des Stollen 5 für die Gedenkausstellung durch ein Projekt des Berufsförderungsinstituts und der Arbeitsmarktverwaltung konnten Langzeitarbeitslose beschäftigt und zumindest vorläufig die Finanzierung der Arbeiten gesichert werden.44 Auch die „Schaffung einer Infrastruktur“ für den Bildungstourismus in der strukturschwachen Region wurde betont.45 Zudem porary Historical Studies, , 9.1.2010, hier die Abschnitte „Identity Politics“ und „Affluence and Commemoration“  ; vgl. auch Heidemarie Uhl, Lokal – trans/national – europäisch. Die „generation of memory“, in  : Igor Grdina/Oto Luthar/Kozma Ahačič/Petra Testen (Hg.), Languages, Identities, Allegiances between Centres and Peripheries, Ljubljana 2010 (in Druck)  ; Uhl, Das „erste Opfer“, 24f. (wie Anm. 37). 40 Uhl, Lokal – trans/national – europäisch (wie Anm. 39). 41 Vgl. u.a. Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Wien 2005, 388– 392  ; Uhl, Das „erste Opfer“, 25ff. (wie Anm. 37)  ; Georg Spitaler, Von der Normalitätsdebatte bis zur „Normalposition“ des Erinnerns  ? Ein skizzierter Vergleich der Republikfeiern 1995 und 2005, in  : Martin Wassermair/Katharina Wegan (Hg.), rebranding images. Ein streitbares Lesebuch zu Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Österreich, Innsbruck 2006, 69–77, hier 73. 42 Kronen Zeitung, 26.1.1989 (Archiv ZME). 43 Salzkammergut Zeitung, 21.10.1993 (Archiv ZME). 44 Vgl. retrospektive. 20 Jahre Geschichtsarbeit, 14 (wie Anm. 1)  ; Bad Ischler Wochenrundschau, 29.9.1988  ; Oberösterreichische Nachrichten, 10.1.1991 (Archiv ZME). 45 Bad Ischler Wochenrundschau, 7.12.1989 (Archiv ZME).

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war die, vor allem in Regionalmedien zitierte, Berufung auf die „lange Tradition des Widerstands (der ArbeiterInnenbewegung)“ im Salzkammergut in der traditionell sozialdemokratischen Gemeinde Ebensee politisch sicherlich erwünscht.46 Ergänzt durch das Bekenntnis zur „antifaschistischen Bildungsarbeit“ war die öffentlich kommunizierte Positionierung klar,47 im Nachhall der Waldheim-Debatte allerdings auch ambivalent  : Allzu einfach ließe sich diese Kontextualisierung der Arbeit des „Verein Widerstandsmuseum“, vor allem im Zusammenhang ihrer regionalen Verortung und Berufung auf eine widerständische Tradition, als Teil einer sich seit den 1960er/1970er-Jahren entwickelnden „gesellschaftskritischen Neuformulierung der Opferthese“, ihrer „antinazistischen Variante“ mit dem neuen identifikatorischen Bezugspunkt Widerstand verstehen.48

Vom Beantragen und Einbringen An „moralischer Unterstützung durch die Gemeinde“ fehlte es nicht, wie Quatember rückblickend versichert.49 Die Finanzierung aller Vorhaben, die die Gemeinde Ebensee alleine nicht leisten konnte, erwies sich aber als Herausforderung. Der Bund wollte anfangs die Stollenanlage „aus Zivilschutzgründen“ freihalten.50 Dann legte das Finanzministerium einen unerschwinglichen Verkehrswert für den im Besitz der Bundesforste befindlichen Stollen fest, so dass ein Pachtvertrag unmöglich erschien. Nach mehrwöchigem Schriftwechsel konnte schließlich ein Benützungsentgelt ausverhandelt werden. Allerdings musste noch ein Sprengmitteldepot verlegt werden, was wie-

46 So und ähnlich vgl. etwa Arbeiter-Zeitung, 18.5.1988  ; Bad Ischler Wochenrundschau, 17.2.1989 und 7.12.1989  ; Ebenseer Nachrichten, 3.7.1989 (Archiv ZME). Auch das Zeitgeschichte Museum vertritt diese Auffassung, wie zum Beispiel der Kommentar eines seit 2009 vorgeführten Einführungsfilms des Museums verrät  : „Das politische Aufbegehren der vor allem sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterschaft steht dabei im größeren Zusammenhang einer für das Salzkammergut prägnant gewordenen Haltung des Widerständischen, die auch während des Nationalsozialismus zum Tragen kam.“, 1  :48–2  :05, ,9.1 2010. 47 So und ähnlich vgl. etwa Bad Ischler Wochenrundschau, 29.9.1988 und 7.12.1989  ; Salzkammergut Zeitung, 9.5.1991 (Archiv ZME). 48 Vgl. Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese, 65–70 (wie Anm. 21). 49 Vgl. Bad Ischler Rundschau, 8.10.2003 (Archiv ZME). 50 Kronen Zeitung, 25. 10. 1989  ; vgl. auch Salzkammergut Zeitung, 3.5.1990 (Archiv ZME).

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derum mit Kosten verbunden war.51 1990 konnten die Adaptionsarbeiten im Stollen begonnen werden. Währenddessen gab es bei der Renovierung des Schulgebäudes Zweifel der oberösterreichischen Landesbaubehörde, ob die vom Verein vorveranschlagten Kosten den tatsächlichen Aufwand widerspiegelten.52 1991 fiel aber auch hier der Startschuss für die Bauarbeiten – im selben Jahr bekannte sich der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky öffentlich zur „Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben“. Die (schuldbehaftete) Erinnerung an Shoah und rassistische Vernichtungspolitik war in der Geschichtsdarstellung des offiziellen Österreich angekommen.53 Trotz Finanzierungszusagen durch die Gemeinde Ebensee, die Arbeitsmarktverwaltung und das Berufsförderungsinstitut, das Land Oberösterreich, das Bundesdenkmalamt und Unterrichts-, Wissenschafts- und Innenministerium gab es 1992 erneut Probleme  : Das Bundesministerium für Inneres lehnte die Finanzierung der Ausstellung im Stollen aufgrund einer „Budgetnotsituation“ ab. Rudi Anschober, damals oberösterreichischer Nationalratsabgeordneter der Grünen, sprang mit einer parlamentarischen Anfrage an Innenminister Franz Löschnak ein, die Oberösterreichischen Nachrichten titelten  : „‚Wünschenswerte Gedenkstätte‘ auf die lange Bank geschoben“. In dieser Phase schrieb man auch Unternehmen an, die seinerzeit von der Zwangsarbeit der KZ-Häftlinge profitiert hatten, um von ihnen Gelder zu lukrieren. Eine Reaktion kam nur von der Siemens AG Österreich.54 Im Herbst 1992 wurde der Auftrag für die Gestaltung der Ausstellungen an das „Büro für angewandte Geschichte“, betrieben von der Historikerin Ulrike Felber und dem Architekten Bernhard Denkinger, vergeben. 1993 legten sie ihre Planungsmappe vor. In Zusammenarbeit mit Quatember wurde in Folge der Ausstellungsschwerpunkt im Museum um eine umfassende Darstellung der Region Salzkammergut im Kontext der österreichischen Geschichte von 1918 bis 1955 erweitert. Hieran kann der Einfluss neuer Zugänge der österreichischen zeitgeschichtlichen Forschung, die an den Universitäten ab Mitte der 1980er-Jahre

51 Vgl. Salzkammergut Zeitung, 3.5.1990 (Archiv ZME). 52 Vgl. Kronen Zeitung, 26.7.1990 (Archiv ZME). 53 Zit. nach Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese, 74 (wie Anm. 21)  ; vgl. auch Uhl, Lokal – trans/national – europäisch (wie Anm. 39). 54 Vgl. retrospektive. 20 Jahre Geschichtsarbeit, 14f. (wie Anm. 1)  ; Oberösterreichische Nachrichten, 10.1.1991 und 6.2.1992  ; Salzkammergut Zeitung, 20.2.1992 (Archiv ZME).

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zum Tragen kamen, abgelesen werden. Eine kritische Auseinandersetzung mit der „unbewältigten Vergangenheit“ (Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel)55 wurde gefordert, die die Phase von 1938 bis 1945 in die österreichische Geschichte zu integrieren versuchen solle, statt sie als Phase der „Fremdherrschaft“ zu externalisieren. Ein verstärktes Interesse für den „Zivilisationsbruch Auschwitz“ (Dan Diner)56 ging damit einher. Eine Neupositionierung des Vereins und der Inhalte seiner Arbeit wurde für die Beteiligten offensichtlich notwendig. Der Verein und das Museum wurden dementsprechend 2000/02 in „Verein Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee“ umbenannt.57 1995 schließlich – abermals ein Jubiläumsjahr – sagte das Innenministerium eine Förderung der Stollenausstellung mit 1 Million Schilling zu, zudem wurde ein Forschungsprojekt von Susanne Rolinek, Wolfgang Quatember und Ulrike Felber mit dem Titel Demokratie und Politische Kultur in der Ersten und Zweiten Republik – ein Vergleich am Beispiel der Region Salzkammergut vom Wissenschaftsministerium genehmigt. So standen für die wissenschaftliche Erarbeitung der Ausstellungsinhalte im Museum weitere 765.000 Schilling zur Verfügung.58 Ab Juli 1996 konnte der Gedenkstollen permanent geöffnet bleiben und pädagogisch betreut werden. Am 2. Mai 1997, im „Europäischen Jahr gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, folgte unter überregionalem Medieninteresse die offizielle Eröffnung der Gedenkausstellung mit Innenminister Karl Schlögl.59 Im November dieses Jahres wurde auch im Parlament die Einrichtung eines NS-Opfer-Gedenktages am 5. Mai – der Tag der Befreiung Mauthausens – beschlossen.60 1998 konnte die Wiederfreilegung des „Löwengangs“, des beschwerlichen, umzäunten Arbeitswegs der Häftlinge, geplant werden, an den Kosten der Restaurierung beteiligten sich die Gemeinde, das BMI und die EU. Schon im Herbst 1999 war die Restaurierung abgeschlossen. 2001 wurde das Zeitgeschichte Museum endlich (der Termin musste während der 13jährigen Realisierungsphase mehrfach verschoben werden) eröffnet. Nun berichteten auch die Tageszeitungen Der Standard und Die Presse über 55 Zit. nach Uhl, „Das erste Opfer“, 19–20 (wie Anm. 37). 56 Zit. nach Uhl, Lokal – trans/national – europäisch (wie Anm. 39). 57 Vgl. Denkinger u.a., Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte, 108 (wie Anm. 22)  ; retrospektive. 20 Jahre Geschichtsarbeit, 21 (wie Anm. 1). 58 Vgl. retrospektive. 20 Jahre Geschichtsarbeit, 19 (wie Anm. 1). 59 Siehe z.B. Oberösterreichische Nachrichten, 27.6.1996 und 19.5.1997  ; Salzburger Nachrichten, 3.5.1997 (Archiv ZME). 60 Vgl. Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese, 75 (wie Anm. 21).

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dieses erste „Haus der Geschichte“ in Österreich.61 Unter der 2000 angelobten „Wenderegierung“ von FPÖ und ÖVP, die von Bundespräsident Klestil „zur kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit“62 angehalten worden war, präsentierten sich die bei der Eröffnung anwesenden PolitikerInnen als VerfechterInnen einer „Aufarbeitung der Geschichte und Vergangenheitsbewältigung, die kein Schlagwort bleiben dürfe“ (Herwart Loidl, Bürgermeister von Ebensee).63 Auch die oberösterreichische Landesregierung hatte den Auftrag gegeben, die Geschichte aller Nebenlager des KZ Mauthausen wissenschaftlich aufzuarbeiten, wie die oberösterreichische Landtagspräsidentin Angela Ortner bei den Eröffnungsfeierlichkeiten berichtete.64 Die Finanzierung des Zeitgeschichte Museums Ebensee mit seiner Stollenausstellung blieb auch in den folgenden Jahren eine unsichere, mühevolle Angelegenheit  : So musste der Ankauf von Stühlen für den Seminarraum im Museum 2001 durch eine Sponsoringaktion erwirtschaftet werden,65 und 2003 kritisierte Quatember in einem Zeitungsbericht das Innenministerium, das „zwar guten Willen“ zeige, sich in seiner Zuständigkeit für Gedenkstätten allerdings „vor allem auf Mauthausen“ konzentriere und Projekte „in den Gebieten der ehemaligen Nebenlager etwas in Vergessenheit geraten“ ließe. In diesem Zusammenhang forderte er auch „eine unabhängige Einrichtung zu schaffen, die per Gesetz vom Staat gefördert werden muss“.66 In den über zwanzig Jahren seines Bestehens konnte sich das zeitgeschichtliche Projekt in Ebensee etablieren. Mittlerweile sind vier Angestellte und wechselnde Zivildiener beschäftigt. Die BesucherInnenzahlen von Museum und Gedenkstätte bewegen sich seit 2001 konstant um die 10.000 Personen (ein Anstieg auf über 12.000 konnte rund um das Gedenkjahr 2005 verzeichnet werden, 2008 waren die Zahlen im Vergleich zu den Vorjahren rückläufig). Dass, abgesehen von überregionalen und internationalen BesucherInnen, vor allem Schulklassen das Angebot in Ebensee nutzen, beweist die große Anzahl an Gruppenbesuchen mit museumspädagogischer Betreuung.67 Auch 61 Vgl. Der Standard, 28. und 29.3.2001  ; Die Presse, 2.6.2001. 62 Zit. nach Uhl, „Das erste Opfer“, 19f. (wie Anm. 37). 63 Zit. nach Bad Ischler Rundschau, 5.4.2001 (Archiv ZME). 64 Vgl. Oberösterreichische Nachrichten, 30.3.2001 (Archiv ZME)  ; siehe auch Oberösterreichische Gedenkstätten für KZ-Opfer, hrsg. von Land Oberösterreich, Linz 2001. 65 Vgl. retrospektive. 20 Jahre Geschichtsarbeit, 21 (wie Anm. 1). 66 Zit. nach Bad Ischler Runschau, 6.3.2003 (Archiv ZME). 67 Vgl. Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee – Jahresbericht 2009, 3, 6 (als pdf-Datei im Besitz der Autorin).

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als wissenschaftliche Institution ist der „Verein Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee“ aktiv – durch Veranstaltungen, zeitgeschichtliche Vortragsreihen, wissenschaftliche Forschungsprojekte und Publikationen sowie zwei Sonderausstellungen pro Jahr wird die Auseinandersetzung mit den historischen Inhalten kontinuierlich betrieben, um „die Gefahr neuerlicher Exklusionen“ zu vermeiden, wie Bertrand Perz im Vorwort zum Ausstellungskatalog konstatiert.68 Besonders seit der Jahrtausendwende ist eine verstärkte Auseinandersetzung mit den aus der Region stammenden jüdischen Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen zu beobachten,69 die Kennzeichnung historischer Orte wird engagiert fortgesetzt. Die Spannungsfelder, in denen sich der Verein zwischen geschichtspolitischer Arbeit und wissenschaftlichem Anspruch, zwischen Dokumentation und Gedenken, regionaler Vergangenheit, österreichischer Geschichte und den sich in den Jahren seines Bestehens intensiv in Transformation befindlichen Geschichtsdiskursen bewegt, sind auch an den Ausstellungen abzulesen.

„Heimat“ revisited – Die Ausstellungen in Ebensee In der hier vorgeschlagenen Analyse wird versucht, einen Überblick über die beiden Ausstellungen zu geben. Auf die Tatsache, dass meine Wahrnehmung der in ihnen transportierten Bedeutungen ebenso situiert wie zwangsläufig unvollständig ist, sollte hingewiesen werden.70 In einer deutenden Beschrei68 Vgl. Felber/Quatember, Zeitgeschichte Museum Ebensee, 13 (wie Anm. 1). 69 Vgl. retrospektive. 20 Jahre Geschichtsarbeit, 33–43 (wie Anm. 1)  ; Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee – Jahresbericht 2009, 16f.; auch im Ausstellungskatalog aus 2005 finden sich im Abschnitt „Regionalgeschichtliche Beiträge“ drei Aufsätze speziell zur jüdischen Verfolgungsgeschichte, vgl. Felber/Quatember, Zeitgeschichte Museum Ebensee, 172–181, 182–188 (wie Anm. 1). Diese vermehrte Aufmerksamkeit kann wieder in einen größeren Kontext des „Wandels“ der „Erinnerung an den Holocaust“, der „spätestens seit der Jahrtausendwende sichtbar geworden ist“ eingeordnet werden  ; vgl. Dirk Rupnow, Transformationen des Holocaust. Anmerkungen nach dem Beginn des 21. Jahrhunderts, in  : Transit 35/2008, 68–88, hier 68. 70 Auf die Befragung der MacherInnen wurde, wie Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch empfehlen, verzichtet, um „die spezifische Rezeptionssituation, wie sie sich auch für die BesucherInnen stellt, ernst zu nehmen.“, Muttenthaler/Wonisch, Gesten des Zeigens, 9 (wie Anm. 5). Es sind dennoch einige Unterlagen zu ihren Wahrnehmungen und Absichten vorhanden, auf die zurückgegriffen werden kann (siehe Anm. 1, 22 und 92 sowie zahlreiche Zeitungsartikel, archiviert im ZME). Auch die Vermittlungsprogramme, die unbestritten Teil

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bung werden einige Beobachtungen hervorgehoben, die mir zentral für die Verortung der Erzählungen erscheinen. Ein Anliegen war dabei der Versuch, sowohl explizit gemachte Inhalte (also in erster Linie Ausstellungstexte und -stücke) als auch verborgen(er) agierende Settings (beispielsweise ausstellungsarchitektonische Aspekte der Präsentation) in den Blick zu nehmen. Die grundlegende Entscheidung, von eingehenderen Analysen abzusehen, wurde zugunsten einer Diskussion im größeren Kontext getroffen.71 Die Ausstellung im Zeitgeschichte Museum

Das Zeitgeschichte Museum ist im ehemaligen Schulgebäude im Ortskern von Ebensee untergebracht.72 Über vier Stockwerke verteilt, versteht es sich in erster Linie als Lernort und Dokumentationszentrum.73 Das ist auch an der Ausstellung abzulesen, die wie ein begehbares Geschichtsbuch anmutet  : Ausgestellt werden vor allem historische Dokumente, Fotos und Zeitungsartikel. Besonderer Wert gelegt wird auf regionale Quellen  ; Dokumente aus anderen Teilen Österreichs dienen eher der Ergänzung oder Kontextualisierung. Dreidimensionale Objekte gibt es ausschließlich im letzten Teil der Schau. Die zweidimensional(isiert)en Objekte sind an Stellwänden und -tafeln auf einer vorgelagerten Ebene aus Glas angebracht, der Hintergrund ist in Weiß bzw. zementfarben gehalten und stets mit auffälligen roten Platten bestückt, die der Ausstellungsrezeption sind, wurden nicht berücksichtigt. 2008 und 2009 gab es im Zeitgeschichte Museum und in der Gedenkstätte jeweils etwa doppelt so viele Gruppenbesuche mit museumspädagogischer Betreuung als Einzelbesuche. Vgl. Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee – Jahresbericht 2009, 3. 71 Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch schlagen eine „Methoden-Bricolage“ vor, die eine „dichte Beschreibung“ (Clifford Geertz) einzelner Ausstellungseinheiten voraussetzt, die in semiotischen und semantischen Verfahren (Jana Scholze bzw. Sabine Offe) vertiefend analysiert werden. Von diesen spezifischen Darstellungsweisen kann dann auf allgemeine Darstellungsstrategien geschlossen werden. Vgl. Muttenthaler/Wonisch, Gesten des Zeigens, 46–62 (wie Anm. 5), sowie Sabine Offe, Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich, Berlin 2000. 72 „Der konkrete Ort einer Ausstellung ist Indikator für die dem Thema attestierte gesellschaftliche Relevanz […]“, Sommer-Sieghart, Historische Ausstellungen als „contested space“, 164 (wie Anm. 9). 73 „[…] in erster Linie soll das Widerstandsmuseum ein Lernort für Schüler sein – mit einer großen Bibliothek und Archiv, Videoraum und Seminarräumen. Museum ist wahrscheinlich nicht das richtige Wort dafür.“ Vgl. Interview mit Wolfgang Quatember und Stefan Stöger, in  : Salzkammergut Zeitung, 21.10.1993 (Archiv ZME)

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Ausstellungstexte für eine historische Einordnung und eine Legende für die genaue Zuordnung der Objekte tragen. Diese Texte sind durch ihre Farbe und ihre stets zentrale Positionierung ein wichtiger Leitfaden für die Ausstellungserzählung – oft scheint es so, als wären die Objekte eher Belege. Man könnte die Ausstellung als „illustrated narrative“ (Susan M. Peirce) bezeichnen.74 Die Erzählung ist in erster Linie in zeitliche, in zweiter in thematische Abschnitte gegliedert. Die Ausstellungsarchitektur trennt diese aber nicht hermetisch voneinander ab – immer wieder sind Durchblicke in andere Bereiche möglich. Die Schautafeln sind meist nicht über weite Strecken miteinander verbunden, die Bewegung verläuft durch unterschiedliche räumliche Konstellationen. Dadurch entsteht eine immer wieder gebrochene Erzählung, die dennoch einem roten Faden folgt, einer „storyline“– der Weg durch die Ausstellung, die Abfolge der Betrachtung ist größtenteils festgelegt. 75 Durch die Fenster, die teilweise als freie Lichtquelle, als Verbindung nach „draußen“ dienen, dringt viel Tageslicht in die Ausstellung, zusätzliche Spots ergänzen die Beleuchtung. Man begibt sich also beim Ausstellungsbesuch nicht in eine finstere Vergangenheit (wie etwa beim Besuch der Österreich-Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz76). Beabsichtigt ist vielmehr, den „Bezug [der Ausstellung] zum gesellschaftlichen Leben außerhalb“77 architektonisch sichtbar zu machen. Im Erdgeschoss befinden sich Büro, Caféteria, Eingangsbereich und der Seminarraum, in dem seit Kurzem ein Einführungsfilm gezeigt wird.78 Über eine mittig im Haus gelegene Treppe gelangt man in den ersten Ausstellungsraum, im ersten Stock befinden sich auch eine offene Bibliothek und ein Medienraum mit Archiv. Am Gang können mittels PC digital Informationen zu den Ausstellungen, zu Gedenkstätte und Verein abgerufen werden. Im zweiten 74 „[…] die Textintensität in Ausstellungen [kann] oft als Indikator für die den Objekten eigenständig zugemutete semantische Aussagequalität herangezogen werden […]“. Vgl. SommerSieghart, Historische Ausstellungen als „contested space“, 161 (wie Anm. 9)  ; Peirce zit. nach ebd., 162. Dazu auch Jürgen Steen, Ausstellung und Text, in  : Gottfried Fliedl/Roswitha Muttenthaler/Herbert Posch (Hg.), Wie zu sehen ist. Essays zur Theorie des Ausstellens (Museum zum Quadrat 5), Wien 1995. 75 „[…] die storyline ist die […] von Objekten aller Art […] unterstützte Argumentationskette.“ Vgl. Sommer-Sieghart, Historische Ausstellungen als „contested space“, 162 (wie Anm. 9). Dazu auch Martinz-Turek/Sommer-Sieghart (Hg.), Storyline (wie Anm. 5). 76 Die Österreich-Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz wird derzeit überarbeitet. 77 Denkinger u.a., Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee, 109 (wie Anm. 22). 78 Abrufbar auf (wie Anm. 46).

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Stock schließen die anderen beiden Räume der Dauerausstellung in einem Rundgang, durch die Lage der Treppe vorgegeben, an. Das Dachgeschoss bietet Platz für Wechselausstellungen, ist allerdings im Parcours nicht so günstig integriert wie die dauerbespielten Räume  ; der Ausgangstür des letzten Dauerausstellungsraums folgt die Treppe abwärts. Eine chronologische Abfolge ist also nicht nur in der Ausstellungserzählung festgelegt, sondern wird auch durch die Raumanordnung vorgegeben. Die Rahmenerzählung der Ausstellung bildet die Geschichte Österreichs zwischen 1918 und 1955. Das mag angesichts der zunehmenden Universalisierung und Internationalisierung des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, besonders der Shoah, und der immer wichtiger werdenden Bedeutung von Europa als historischen Bezugspunkt verwundern, allerdings sind schon an der Kontextualisierung von regionaler Vergangenheit mit österreichischer Geschichte einige Herausforderungen zu bemerken.79 Der erste Raum  : Politische Strukturen und Kulturen in der Ersten Republik

Am Beginn des Rundgangs steht der Hinweis, dass „[d]ie Rekonstruktion der Vergangenheit im Museum versucht[,] Wahrnehmungen und Bewertungen von Geschichte aus der Gegenwart zu erschließen“. Durch die Nebeneinanderstellung historischer und zeitgenössischer Fotografien aus der Umgebung wird gleichzeitig Veränderung aufgezeigt und ein Bezug zur Gegenwart hergestellt. Auch die Perspektivität von Geschichtsdarstellungen wird angedeutet  ; dies kann einen Raum für kritische Fragen und Auseinandersetzung mit den Ausstellungsinhalten eröffnen. Eine Chronologie wichtiger Ereignisse in der österreichischen Geschichte verschafft zunächst einen Überblick. Ausgangspunkt ist die Bildung der provisorischen Regierung „Deutschösterreichs“ im November 1918, Endpunkt der Beitritt Österreichs zur UNO 1955. Im ersten Abschnitt der Ausstellung wird auf „Republiksgründung“, „Friedensverhandlungen“, „Wahlrecht und

79 Vgl. Volkhard Knigge, Erinnern oder auseinander setzen  ? Kritische Anmerkungen zur Gedenkstättenpädagogik, in  : Fuchs u.a. (Hg.), Holocaust und Nationalsozialismus, 33–41, hier 33, 41 (wie Anm. 22). Dazu auch  : Aleida Assmann, Europe  : A Community of Memory  ? in  : GHI Bulletin 40 (2007), 11–25  ; Uhl, Lokal – trans/national – europäisch (wie Anm. 39)  ; Winter, The Generation of Memory (wie Anm. 39)  ; Rupnow, Transformationen des Holocaust (wie Anm. 69). Bestes Beispiel für diese neue, europäische Perspektive ist die Ausstellung im „Ort der Information“ im Berliner „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“.

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Ausstellungsansicht, Ausstellungsraum 1 (Foto  : Magdalena Rest, 9.12.2009, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des ZME)

Verfassung“, „Notlage, revolutionäre Bewegung und politische Parteien“ sowie „Wahlpropaganda“ eingegangen. Dem folgt eine ausführliche Präsentation der politischen Entwicklungen in Österreich und im Salzkammergut bis 1934. Die zusammenfassende Darstellung der politischen Parteien und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse dient dabei dem Verständlichmachen der großen Bruch- und Konfliktlinien der 1920er- und frühen 1930er-Jahre. Der Justizpalast-Brand 1927 kann als Fluchtpunkt im ersten Ausstellungsraum erlebt werden  : Ihm voran geht eine Beschreibung der „Politische[n] Identitäten“, die eine „Politisierung aller Lebensbereiche“80 konstatiert, ergänzt durch eine Zusammenschau der sozialdemokratischen, christlich-sozialen und deutsch80 Vgl. Ausstellungstext, Raum 1, Überschrift  : „Politische Identitäten“. Die in der Ausstellung verwendeten Originalüberschriften werden hier, gekennzeichnet durch Anführungszeichen, als zentrale Leitlinien der Ausstellungserzählung und Interpretation der präsentierten Objekte wiedergegeben.

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nationalen Wahlkampfmaterialien der 1920er-Jahre. Gegenüber findet sich die bezeichnende Abfolge der Themengebiete „‚Heimat‘ im neuen Österreich“, „Schulreform und Jugendbewegung“ und „Frauen und Politik  : Wahlrecht, Ehereform und §144“. In diesen U-förmigen, räumlich großzügig angelegten politischen Abriss der Ersten Republik ragt eine Ausstellungseinheit zum „15. Juli 1927“ hinein, der ein Text zur „Politik der Straße“ vorgelagert ist. Hier findet sich u. a. ein Video, das doppelt, in zwei, untereinander versetzten, kleinen Rechtecken (ca. 7 x 10 cm) abgespielt wird. Es zeigt Aufnahmen von der Inbrandsetzung des Justizpalasts. Was nun in der „storyline“ folgt, ist eine „Politische Radikalisierung“, die zunehmende Erstarkung der politischen Wehrverbände, besonders der Heimwehren. Endpunkte dieser Entwicklung sind ausstellungsarchitektonisch der „Pfrimer-Putsch“ und „Weltwirtschaftskrise und politische Destabilisierung“. Gegenübergestellt wird ihnen (rückseitig zum Justizpalastbrand) „Staatsbewußtsein, Demokratie und Parlament“. Quer dazu verläuft eine Ausstellungseinheit, die Texte und Dokumente zur „Regierungskrise“ 1932 und „Parlamentsausschaltung März 1933“ bietet. Das letzte durch Stellwände gebildete Viereck thematisiert „Notverordnungsregime“, „Ständestaat und Antimarxismus“ und, sehr ausgiebig mit regionalen Quellen versehen, den „Februar 1934“. Vorläufig entlassen werden die BesucherInnen mit den Texten „Autoritäres Regime und antifaschistische Bewegung“ und „NSDAP, Wahlerfolge und Propagandaoffensive“. Sie leiten thematisch den nächsten Ausstellungsraum ein. Der zweite Raum  : Diktatur und Verfolgung in „Ständestaat“ und NS-Regime

Der zweite Ausstellungsraum steht im Zeichen von Diktatur und Faschismus. Trotz des zunehmenden Einsatzes von Glaseinheiten und hängenden Schautafeln, die den räumlichen Gegebenheiten entgegenwirken, wird die Ausstellungssituation beengter. Hier wird über die „Auflösung der sozialdemokratischen Vereine in Ebensee“ und den regionalen „Fall Arbeiterbücherei“ (ihre Bestände wurden 1934 in der Traun versenkt) berichtet, dem folgen „NSAnschläge und Aktionen 1934“, „NS-Putschversuch“ und „NS-Propaganda“. Zunehmend werden regionale Quellen zur NS-Vergangenheit eingesetzt, wie etwa Meldungen der Sicherheitswache Bad Ischl, die über Aktionen von aus der Region stammenden Nationalsozialisten berichten. Versetzt gegenüber, hinterleuchtet von einem Fenster, werden „Widerstandsaktionen von SP und KP“ ausgewiesen und von der Entdeckung der „Hoisenradalm“ in Bad Ischl erzählt, die als Versammlungsort für illegale KommunistInnen diente.

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An der Längsseite des Raumes werden – ebenfalls vor einem Fenster platziert – „Ständestaat“ und „Autoritäres System und Vaterländische Front“ präsentiert, ein Lautsprecher gibt eine Radioansprache von Engelbert Dollfuß wieder. Diese Einheit wird durch einen quergestellten Einschnitt mit dem Titel „Juliabkommen und Volksbefragung“ abgegrenzt. Rechts wird in einem durch Ausstellungseinheiten gebildeten Gang der „Einmarsch der deutschen Wehrmacht“ beschrieben, die „unter großem Jubel der Bevölkerung empfangen“81 wurde – zu sehen ist das auf den ausgestellten Fotos, die Menschen mit ausgestrecktem rechten Arm im Spalier am Straßenrand zeigt, die die deutschen Truppen in Ebensee begrüßen. Angefügt ist dieser Darstellung ein Text mit dem Titel „Nationalsozialistischer Heldenmythos (rechts)“ – auf einer Glasbahn, die auf Blickhöhe bis zur Wand verläuft, sind Fotos von einer Gedenkkundgebung anlässlich der Überstellung von „Nazi-Märtyrern“ in Gräber am Bad Ischler Friedhof angebracht. Diese Lösung ermöglicht einen Blick auf den dahinter liegenden Ausstellungsbereich, in dem NS-Rassen- und Verfolgungspolitik thematisiert werden. Auf gleicher Höhe links im Raum ist ein Plakat zur „Volksabstimmung am 10. April 1938“ angebracht, der entsprechende Text ist wiederum durch viele regionale Quellen ergänzt. Es folgt eine der wahrscheinlich wenigen als solche beabsichtigten Inszenierungen in der Ausstellung  : Auf einer versetzt dahinter liegenden Projektionsfläche erscheint, erst bei direktem Davor-Treten, eine Diapräsentation. Einer kurzen Erläuterung zum Widerstand im Salzkammergut rund um die Gruppe von Josef Plieseis folgt die Porträtierung einiger Beteiligter in Form eines großflächigen Fotos und eine Erläuterung ihrer widerständigen Handlungen. Die Erwähnung von Männern und Frauen ist ausgewogen. Der Sinn, der hier im Zusammenspiel mit den BesucherInnen performativ82 hergestellt wird, ist mehrdeutig  : Zum einen tauchen die WiderstandskämpferInnen völlig unerwartet in der (Ausstellungs-)Situation auf, zu sehen ist ihre Geschichte erst, wenn man sich direkt davorbegibt. Zum anderen wird die Darstellung des NS-Regimes (nach vorne versetzt liegt die bereits beschriebene Darstellung von Volksabstimmung und „Anschluss“, links an die Diaprojektion schließt das nationalsozialistische „Terrorsystem“ an) gebrochen, vor allem wenn sich mehrere BesucherInnen im Raum befinden. Besonders im Zusammenspiel mit der rechts in einer Nische angesprochenen 81 Ausstellungstext, Raum 2, Überschrift  : „Einmarsch der deutschen Wehrmacht“. 82 Zur „performativen Herstellung von Bedeutung“ vgl. Muttenthaler/Wonisch, Gesten des Zeigens, 40ff. (wie Anm. 5).

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„[e]rste[n] Verfolgungswelle“ wird aber auch die marginalisierte Position von politisch Andersdenkenden und rassistisch Verfolgten deutlich. Die Darstellung des NS-Staats bezieht sich auf seine politischen, ökonomischen und ideologischen Dimensionen und erfolgt fast ausschließlich durch regionale Quellen. So findet sich neben Ausführungen zu „Führerprinzip und Parteistruktur der NSDAP“ ein auf Glas gedrucktes Bild des neuen NSDAPBürgermeisters von Bad Ischl – es ist von hinten auch schon beim „Einmarsch der deutschen Wehrmacht“ zu sehen. Nebenan wird die nationalsozialistische „Wirtschaftspolitik“ thematisiert. Unter den Überbegriffen „‚Volksgemeinschaft‘ und Rassenideologie“, „Entrechtung und Verfolgung von Juden“, „‚Rassenhygiene‘“ und „‚Arisierung‘“ werden nationalsozialistische Ideologie und ihre konkrete Umsetzung erörtert – auch hier durchgängig mit regionalen Dokumenten. Abgeschlossen und abermals an den weiteren Ausstellungsverlauf angeknüpft wird mit „Aufrüstung und Militarisierung“. Der dritte Raum  : Krieg, Ausbeutung, Befreiung und Nachgeschichte

Beim Betreten des dritten Ausstellungsraumes wiederholt sich das Gefühl der (räumlichen) Beklemmung unter etwas anderen Voraussetzungen. In dem Gang, den gegenüberliegende Stellwände bilden, werden kriegswirtschaftliche Aspekte der NS-Ausbeutung unter den Titeln „Zwangsarbeit und Arbeitslager“, „Arbeitskräftemangel“ und „Kriegsgefangene“ thematisiert. Dem gegenüber steht die Perspektive des „deutschen Volkes“, paraphrasiert mit „Krieg und Kriegspropaganda“, „Die ‚Heimatfront‘“ und „Stalingrad und die Kriegswende“. Die Bevölkerung erscheint im Text als „wenig kriegsbegeistert“,83 mit zunehmender Aussichtslosigkeit auf Erfolg „verstärkten sich regimekritische Äußerungen und widerständiges Verhalten wie das Hören von Auslandssendern oder Hilfeleistungen an Kriegsgefangene“.84 Dementsprechend weitet sich der Gang an seinem Ende in eine porträtreiche Zusammenschau von „[p]olitisch und religiös motivierte[m] Widerstand“. Zwei umfangreiche Hörstationen ermöglichen die Beschäftigung mit ZeitzeugInnenberichten und Einschätzungen von WissenschafterInnen. Besonders im Zusammenhang der bisher sehr textreichen Darstellung erscheint dies als besondere Anregung zur Auseinandersetzung. Aus dieser Situation erschließt sich ein ausstellungsarchitektonisch geschaffener Raum, in dem gleich mehrere dreidimensionale Objekte präsen83 Ausstellungstext, Raum 3, Überschrift  : „Krieg und Kriegspropaganda“. 84 Ausstellungstext, Raum 3, Überschrift  : „Stalingrad und Kriegswende“.

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tiert werden  : eingangs ein Modell des Konzentrationslagers Ebensee mit dazugehörigen US-amerikanischen Luftaufnahmen aus 1944. Auf stehenden Glastafeln sind historische Aufnahmen Ebensees, der Stollenanlage und des Konzentrationslagers angebracht, nun scheinen die Texte „KZ-Häftlinge und Arbeitskraftreserve“ und „Löwengang“ eher Ergänzungen darzustellen – sie sind zwischen den Glaslamellen flach an der Wand angebracht. Die einzigen „Originalobjekte“85 der Ausstellung befinden sich beim Betreten des Settings im Fluchtpunkt der gegenüberliegenden Wand  : Die Vitrine wird von zwei massiven Stellwänden eingefasst, bildet also einen Raum nach innen und ist nicht umgehbar. Hinter Glas sind Jacke und Mütze einer ehemaligen Häftlingskleidung ausgestellt, am Boden sind ohne ersichtliche Ordnung Schuhe, Stacheldraht, ein Holzstück, das wie ein Teil des Lagerzauns anmutet, und ein Teller mit Essbesteck verteilt. An der rechten Seite der Glaswand sind zudem acht Häftlingspersonalkarten angebracht. Die Herkunft der Objekte ist nur teilweise ausgewiesen – die Kleidungsstücke stammen von einem ehemaligen Häftling des Lagers Gusen, „Essbesteck“ und „Schuhe, wie sie im KZ getragen wurden“ stammen wie „[a]lle Objekte“ vom „Verein Widerstandsmuseum Ebensee“ (sic).86 Daneben erläutert ein Text „[d]as Leben im KZ Ebensee“. Diese Ausstellungseinheit enthält im Vergleich wenig Material und ist visuell still gehalten. Der Einsatz von „ontologisch-authentischen Objekten“ könnte auf ein Bedürfnis hinweisen, materielle Beweise zu liefern.87 An der Schwelle zur Nachkriegsgeschichte steht „[d]ie Befreiung“. Vom Widerstand der Häftlinge, die sich „dem Befehl der Lagerleitung, in die Stollen zu gehen [widersetzten]“ weil sie befürchteten, „einer Massentötung durch die SS zum Opfer zu fallen“, wird im Fließtext berichtet. Die Bevölkerung Ebensees taucht im Fotomaterial auf. 88 Im anschließenden letzten Teil der Ausstellung werden Filmaufnahmen der US-Armee gezeigt, die die Situation bei der Befreiung des Lagers erahnen lassen. Neben einem Fenster, das Ausblick auf Ebensee und den dahinterliegenden Steinbruch mit den unterirdischen Stollenanlagen gibt,89 lautet die Überschrift „Entnazifizierung 85 „Original“ im Sinne ihrer Inszenierung als historische Objekte, vgl. dazu Steen, Ausstellung und Text, 57 (wie Anm. 74). 86 Vgl. Objektbeschreibung Vitrine, Raum 3. 87 Vgl. Larndorfer, Gedächtnis und Musealisierung, 180 (wie Anm. 11). Zu „ontologisch-authentischen Objekten“ und ihrer „Aura“ siehe Sommer-Sieghart, Historische Ausstellungen als „contested space“, 161 (wie Anm. 9). 88 Vgl. Ausstellungstext und Legende, Raum 3, Überschrift  : „Die Befreiung“. 89 Die Integration des Fensters in Ausstellungsgestaltung und -erzählung wird von den Ausstel-

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durch die Besatzungsmächte“. Zeitungsberichte und Fotos sind zu sehen. Die regionale Erzählung wird durch die Texte „Das Lager nach 1945“ und „Ladislaus Zuk“ abgeschlossen, eine abschließende Würdigung und zusätzliche Legitimation erhält der Widerstand im Salzkammergut unter dem Titel „Rettung der im Bergwerk Altaussee gelagerten Kunstschätze“, auch die Auslieferung Ernst Kaltenbrunners an US-Truppen, seine Verurteilung und Hinrichtung finden hier Erwähnung. Den Schlusspunkt der Erzählung bildet „[d]er österreichische Opfermythos“, über den in einem Ausstellungszusammenhang mit „Entnazifizierung und Formierung des nationalen Lagers“ berichtet wird. Die Ausstellung im Gedenkstollen

Mehrere Kilometer entfernt und dennoch mit der Ausstellung im Museum verbunden,90 befindet sich der Gedenkstollen der KZ-Gedenkstätte Ebensee. Er liegt etwas versteckt, ist aber eingebunden in den Zusammenhang einer – beschilderten – „Erinnerungslandschaft“.91 In der Finkerleiten-Siedlung können BesucherInnen den KZ-Friedhof – das zentrale Denkmal der Gedenkstätte –, freigelegte Teile des „Löwengangs“ und den erhaltenen Torbogen aufsuchen. Vor dem Stolleneingang ist das ehemalige Lagertor ausgestellt. An einer kleinen Rezeption vorbei gelangt man in den spärlich beleuchteten, kalten Stollen. Im vorderen Teil befinden sich an der linken und rechten Seite die Stelltafeln der Dauerausstellung – auch sie wurde von Denkinger/Felber geplant und realisiert, als wissenschaftlicher Berater fungierte Florian Freund. Ausstellungsstücke sind auf vorgelagerten, weiß hinterlegten Glaselementen angebracht. Auf großen, breiten Tafeln sind Fotos, Pläne und Zeichnungen, manchmal auch Dokumente ausgestellt, denen immer Objektbeschreibungen und kurze Objekttexte beigefügt sind  ; auf schmalen Tafeln dazwischen sind ausführlichere Ausstellungstexte angebracht. Die Beleuchtung erfolgt durch Röhren, angebracht auf einer Schiene, die knapp oberhalb der Tafeln verläuft – die gesamte Konstruktion wirkt wie ein Fremdkörper,

lungsgestalterInnen wiederholt betont, vgl. Bernhard Denkinger/Ulrike Felber/Wolfgang Quatember, Zeitgeschichte Museum und Gedenkstätte Ebensee. Auseinandersetzung mit Vergangenheit im historischen Museum und am authentischen Ort, in  : Felber/Quatember, Zeitgeschichte Museum Ebensee, 21–29, hier 24 (wie Anm. 1)  ; Denkinger u.a., Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee, 109 (wie Anm. 22). 90 Das Fenster mit Blick auf den Steinbruch wurde bereits erwähnt. 91 Aleida Assmann erwähnt diesen Begriff in Assmann, Das Gedächtnis der Orte (wie Anm. 14).

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Ausstellung im Stollen, Blick Richtung Ausgang (Foto  : Magdalena Rest, 23.12.2009, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des ZME)

obwohl „architektonische Elemente des Stollens für die Ausstellungsinstallation […] genutzt [wurden] und […] die Ausbildung der Konstruktion [beeinflussten]“.92 In zwei Teilen wird auf jeweils aneinandergereihten Einheiten die Geschichte des Konzentrationslagers und seiner Häftlinge in deutscher und englischer Sprache erzählt. Im linken, vorderen Teil der Ausstellung dienen als Leitlinien „Stollenanlage Ebensee“, „Rüstungsindustrie und Zwangsarbeit“, „Das Projekt ‚Zement‘“ und „Planung und Ausführung der Stollen“. Zu sehen sind vor allem Aufnahmen der Produktion und Planzeichnungen – hier wird die Geschichte der Tat und der Täter(innen) erzählt, eingeordnet in ihren spezifischen kriegswirtschaftlichen Zusammenhang. Im rechten, weiter nach hinten versetzen Teil der Ausstellung wird anhand der Themen „Arbeitskräfte für den Stollenbau“, „Das System der Zwangsarbeit“, „Das Konzentrations-Lager Ebensee“, „Das Leben im Lager“ und „Die Befreiung“ der systematische Terror und die Aus92 Ulrike Felber/Bernhard Denkinger, Zur Ausstellung, in  : Konzentrationslager Ebensee, hg. v. Verein Widerstandsmuseum, Bad Ischl 22000, 8.

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beutung der Häftlinge thematisiert. Vornehmlich werden Aufnahmen aus dem Lager und Häftlingszeichnungen gezeigt, die Objekttexte sind fast ausschließlich Berichte von Zeitzeugen. Anschließend ist die Einsicht in einen Teil des Stollens möglich, in dem „Fundamente für Maschinen der Steyr-DaimlerPuch AG zur Produktion von Motorteilen für Panzer und Lastwagen“ zu sehen sind. In einem gegenüberliegenden, roh belassenen Raum befindet sich ein Gedenkort. Die Lichtsituation in diesen beiden Stollenteilen ist „wärmer“, rötlicher – sie sind deutlich von der Ausstellungssituation abgehoben. Weiter hinten im Stollen sind auf einer schmalen Glasbahn in Brusthöhe Teile des Lagerstandbuches ausgestellt, eine Erläuterung und die Opferzahlen des Konzentrationslagers sind beigefügt. Am hinteren Ende des Stollens gibt eine vergitterte Öffnung den Blick weiter hinein in den Berg frei. Daneben findet sich eine Beschreibung der gefährlichen Arbeitspraxis beim „Stollenvortrieb“.

Der Kontext als Subtext – Geschichte und Geschichten Die beiden Ausstellungen im Zeitgeschichte Museum und im Gedenkstollen ergänzen und entlasten sich gegenseitig. Während die Ausstellung im Museum historische Zusammenhänge in einem „neutralen“, historisierenden Klima herauszuarbeiten versucht, konnte dem Wunsch nach „authentischem“, emotionalem Erleben – in einem konkreten historischen Umfeld – im Stollen entgegengekommen werden. Das Zeitgeschichte Museum ist dabei den Anforderungen eines kognitiven „Lernorts“, vor allem der pädagogischen Vermittlung an Schülerinnen und Schüler, angepasst. Demgegenüber berücksichtigt die Stollenausstellung verstärkt die Bedürfnisse eines (internationalen,) „sich-erinnernden“ und gedenkenden Publikums. An den Stollen wurden offensichtlich Erwartungen von Sichtbarkeit und Vorstellungen von „Authentizität“ geknüpft.93 Wo „authentische“ Reste vorhanden waren und wo sie erst her(aus)gestellt werden mussten, ist nicht kenntlich gemacht. Dem Spannungsfeld zwischen Wissensvermittlung und

93 Vgl. Oberösterreichische Nachrichten, 6.2.1992  ; vgl. auch Bad Ischler Rundschau, 30.3.1989 (Archiv ZME)  ; Denkinger u.a., Zeitgeschichte Museum und Gedenkstätte Ebensee, 25 (wie Anm. 93)  ; Denkinger u.a., Zeitgeschichte Museum und KZ-Gedenkstätte Ebensee, 110ff. (wie Anm. 22)  ; vgl. dazu ebenfalls Günther Morsch, Authentische Orte von KZ-Verbrechen. Chancen und Risiken aus der Sicht der Besucherforschung, in  : Fuchs u.a., Holocaust und Nationalsozialismus, 42–47 (wie Anm. 22).

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„authentischem Erleben“ wurde mit einer Ausstellungskonzeption begegnet, die dokumentarisch agiert und versucht, möglichst wenig in das Setting des Stollens einzugreifen. Dieses wurde allerdings durch den Einsatz einer großen Anzahl von Fotografien aus dem ehemaligen Konzentrationslager unterstützt, auch die Zeitzeugenberichte der ehemaligen Häftlinge bestärken diesen Eindruck. Insgesamt ist die Darstellung der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, auch im Zeitgeschichte Museum, sehr am Kontext der kriegswirtschaftlichen Ausbeutung orientiert. Im Zusammenhang österreichischer Geschichte stellt dies eine Verkürzung dar,94 gleichzeitig wird aber eine Konkretisierung der Opfererzählung auf regionaler und lokaler Ebene ermöglicht. Die Ausstellung im Zeitgeschichte Museum arbeitet historisierend. Dazu tragen die überwiegend zweidimensionalen Objekte bei  : Sie lassen eine Inszenierung im Sinne einer gewissermaßen „historischen Lebenswelt“ kaum zu, zudem sind Fotos als Abbildungen und Dokumente als Aufzeichnungen per se mit Vergangenem zu assoziieren. Aus der Ausstellungsarchitektur und dem Modus des Ausstellens geht hervor, dass sich die Besucherin in der Gegenwart mit der Vergangenheit beschäftigt. Insofern könnte der Einsatz von dreidimensionalen Objekten im Zusammenhang mit der Lagergeschichte auch als „Vergegenwärtigung“ gelesen werden, die eine besondere Botschaft vermittelt. Vor allem zu Anfang und Ende der Ausstellung wird auch thematisch versucht, einen Bezug zu Nachgeschichte und Gegenwart herzustellen.95 Grundsätzlich erscheint der Nationalsozialismus als „eigene“, „österreichische“ Geschichte. Großdeutsche Bestrebungen, „nationales Lager“ und antisemitische Befindlichkeiten werden stets als Teil der Zwischenkriegsgesellschaft thematisiert, auf die Situation in Deutschland wird höchstens am Rande eingegangen. Die regionale Vergangenheit ist stets präsent, ihre Darstellung verdichtet sich im historischen Zusammenhang des NS-Staats, der durch Quellenmaterial im Salzkammergut und in Ebensee verortet wird.96 Individuelle 94 Obwohl Juden und Jüdinnen als rassistisch Verfolgte ein besonderer Platz in den Ausstellungserzählungen zuerkannt wird, kommt die Shoah als eigenes Themengebiet nicht vor. Opfer der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ haben einen peripheren Status in der gesamten Erzählung. 95 Vgl. Überschriften „Entnazifizierung und das nationale Lager“, „Ladislaus Zuk“, „Der österreichische Opfermythos“. 96 Vgl. z.B. Objekte zu den Ausstellungstexten, Raum 2, Überschriften  : „‚Volksgemeinschaft‘ und Rassenideologie“, „Entrechtung und Verfolgung von Juden“, „‚Rassenhygiene‘“ und „‚Arisierung‘“.

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Verantwortung wird vor allem im Zusammenhang mit offiziellen und halb offiziellen Stellen thematisiert, so konnte etwa das Führerprinzip nur durch „die aktive Aneignung und Vorwegnahme nachgeordneter Instanzen“ durchgesetzt werden und „[d]ie unmittelbare Überwachung der Bevölkerung erfolgte durch Vertrauensleute, NSDAP-Ortsgruppen und Betriebszellenleiter.“97 Im Hauptfokus der Ausstellungserzählung bleiben aber stets übergeordnete Strukturen und die „große Geschichte“ – in der Ersten Republik sind es die Nachzeichnung des Gegensatzes zwischen „katholisch-konservativem“ und „sozialdemokratisch-kommunistischem“ Lager und ökonomische Probleme,98 später Vorgehen und Ideologie des NS-Staats, Krieg und Kriegswirtschaft. Dabei werden zwar stets Brüche, Konflikte und Gegensätze kenntlich gemacht, mit regionalen Quellen belegt und als Teil des täglichen Lebens ausgewiesen, die „Bevölkerung“ taucht aber meist als Gesamtheit auf. Subjekte und AkteurInnen in den Texten sind größtenteils politische Parteien, Wehrverbände oder andere Entitäten.99 Das führt zu einer, vor allem in Bezug auf den Nationalsozialismus durchaus problematischen Darstellung, die weitgehend ohne die Handlungsfelder des/der Einzelnen auskommt. Deutlich wird das beispielsweise am Text „NSDAP, Wahlerfolge, Propagandaoffensive“.100 Obwohl hier eindringlich vom politischen Erfolg der österreichischen NSDAP berichtet wird, erscheint dieser beinahe als abgekoppelt von politisch handelnden und denkenden Menschen  : Die NationalsozialistInnen gewannen nicht etwa an Zulauf von WählerInnen, sondern an „Bedeutung“, es gab ein „Wachstum der NSDAP“. Die „Stimmengewinne“ zeigen nicht eine zunehmende Anzahl an BefürworterInnen in der Bevölkerung, sondern „den raschen Aufstieg der jungen Partei“. Und schließlich verlor die „Propaganda der Tat“ nicht an Überzeugungskraft bei Österreichern und Österreicherinnen, sondern nicht an „Attraktivität“.   97 Ausstellungstext, Raum 2, Überschriften  : „Führerprinzip und Parteistruktur der NSDAP“ und „Terrorsystem“.   98 Als gängige „Entlastungsstrategie“ wird der Aufstieg der NSDAP wiederholt mit ökonomischen Faktoren assoziiert, vgl. Ausstellungstext, Raum 1, Überschriften  : „Nationales Lager“, „Großdeutscher und deutschnationaler Wahlkampf “, „NSDAP, Wahlerfolge, Propagandaoffensive“.   99 So zum Beispiel auch in dem direkt neben der Tafel „NSDAP, Wahlerfolge, Propagandaoffensive“ angebrachten Text „Autoritäres Regime und antifaschistische Bewegung“, wo sich „[d]er Widerstand der Sozialdemokratie […] auf verbale Drohgebärden“ beschränkte und der Kampf gegen das Dollfuß-Regime hauptsächlich „von der Kommunistischen Partei getragen“ wurde. 100 Ausstellungstext, Raum 1, Überschrift  : „NSDAP, Wahlerfolge, Propagandaoffensive“.

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Auch die durchaus kritische Botschaft, die durch die Auseinandersetzung mit dem Opfermythos beim Verlassen der Ausstellung transportiert wird, ist exemplarisch für die Absicht der Kenntlichmachung gesellschaftlicher Verantwortung und ihre gleichzeitige Entkräftung durch übergeordnete Strukturen und Passiv-Konstruktionen. Sie beschreibt den Umgang „Österreichs“ und der „österreichischen Nachkriegsregierungen“ mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Was durch ihr Handeln damit „verdrängt werden“ konnte, war die „(…) Mit verantwortung vieler ÖsterreicherInnen am Nationalsozialismus und die Mit täterschaft an nationalsozialistischen Verbrechen (…)“.101 Zusätzlich wird die regionale Geschichte des Nationalsozialismus durch die Art der Darstellung des Widerstands gebrochen. Während als NSDAPMitglied und Führungsperson einzig der Bad Ischler Bürgermeister Josef Witzelsteiner auf einem Foto abgebildet und persönlich ausgestellt wird, erfolgt die Kenntlichmachung regionalen Widerstands in Texten und Bildern fast ausschließlich auf personalisierte Weise. Das Absehen vom namentlichen Anprangern lokaler TäterInnen und MitläuferInnen ist zwar ebenso wie die Erinnerung an ihre konkreten Opfer und WidersacherInnen verständlich, durch die entgegengesetzten Darstellungsstrategien wird allerdings im regionalen Zusammenhang eine Hervorhebung von und Identifikation mit ihren Geschichten unterstützt.102 Zudem wird mit der von den AusstellungsgestalterInnen angekündigten Nutzung des Ausstellungstexts als eine Art „österreichische Hintergrunderzählung“ bevorzugt dann gebrochen, wenn es um regionale Widerstandsgeschichten geht.103 Für die Wahrnehmung der regionalen Geschichte in einer derart textlastigen Ausstellung, die mit einer sehr umfangreichen, zuweilen überladenen Zusammenstellung von Fotografien und Schriftstücken und einer ästhetisch ansprechenden, aber unübersichtlichen Legende agiert, erscheint das wesentlich.

101 Ausstellungstext, Raum 3, Überschrift  : „Der österreichische Opfermythos“ (Hervorhebungen MR). 102 Das erscheint mir zwar als durchaus zulässig und im Hinblick auf die institutionelle Rahmung der Ausstellungen keineswegs überraschend, aber im Hinblick auf grundsätzliche Überlegungen zum Ausstellen österreichischer Geschichte als besonders erwähnenswert. 103 Vgl. z.B. Überschriften „Fall Arbeiterbücherei“, „Hoisenradalm“, „Rettung der im Bergwerk Altaussee gelagterten Kunstschätze“ – dies gilt natürlich nicht für die Darstellung des Konzentrationslagers Ebensee, das aber durch den Ausstellungsverlauf vorwiegend im Kontext nationalsozialistischer, großdeutscher Kriegswirtschaft steht. Einzige Ausnahme ist der mit „Nationalsozialistischer Heldenmythos (rechts)“ betitelte Text.

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Das Zeitgeschichte Museum und der Gedenkstollen in Ebensee

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Das Zeitgeschichte Museum und die KZ-Gedenkstätte Ebensee sind weit entfernt von einer harmonisierenden, heimatgeschichtlichen musealen Inszenierung, bieten aber durch gestalterische und narrative Anordnungen Möglichkeiten zum Bezug auf und zur Identifikation mit einer regional verorteten anderen Geschichte. Für die Ausstellung nationalsozialistischer Vergangenheit in einem österreichischen „Haus der Geschichte“ werfen sie demnach Fragen nach Möglichkeiten und Problemen der kontextualisierenden Darstellung größerer historischer Zusammenhänge auf, sowohl in synchroner, transnationaler Hinsicht als auch auf diachroner Ebene österreichischer Geschichte. Angemessene Darstellungsstrategien für die Geschichte der TäterInnen und jene der Opfer und WiderstandskämpferInnen stellen eine besondere Herausforderung dar, die in Ebensee mit einer strukturgeschichtlichen auf der einen und persönlich konkretisierenden Herangehensweise auf der anderen Seite ambitioniert angegangen wurde, dabei aber Gefahr läuft, die Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung abseits von politischen AkteurInnen auszusparen.104

104 Interessant erscheinen mir dazu vorläufig die Überlegungen in Rupnow, Transformationen des Holocaust (wie Anm. 69), einerseits und in Regina Wonisch, Macht der Bilder  ? Zum Opfer-Täter-Diskurs in Gedenkausstellungen, in  : schulheft 86 (1997), 96–109, andererseits.

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„Aus der Geschichte lernen … und gegen die Rotfront kämpfen  ! “ Das Dr. Engelbert Dollfuß-Museum in Texingtal, Niederösterreich

Als am Ende des 20. Jahrhunderts die langwierige Debatte um ein Haus der Geschichte in Österreich gerade begann, wurde in der kleinen Gemeinde Texingtal in Niederösterreich ein sehr kleines, aber nicht weniger problematisches Projekt in die Tat umgesetzt  : Im „Geburtshaus unseres großen Bundeskanzlers und Erneuerers Österreichs“, wie es auf der Eingangstafel heißt, wurde 1998 ein Museum über und eine Gedenkstätte für eine der umstrittensten Persönlichkeiten der österreichischen Zeitgeschichte eröffnet  : das Dr. Engelbert Dollfuß-Museum. Diese besondere Art eines personenbezogenen Museums für eine politische Persönlichkeit stellt weder ein Unikat noch ein Novum in Österreich dar. Bereits 1979 war das Landhaus des ehemaligen österreichischen Staatskanzlers und Bundespräsidenten Karl Renner in Gloggnitz in ein Museum verwandelt worden.1 Fünf Jahre später erfolgte die Eröffnung eines Museums für den ehemaligen Bundeskanzler Leopold Figl in seinem Geburtsort Rust im Tullnerfeld.2 In beiden Fällen fungierte bereits das Personenmuseum gleichzeitig als Gedenkstätte.3 Das Dollfuß-Museum ist in vier kleine Räume aufgeteilt, in denen man anhand von ca. 100 Ausstellungsstücken, 230 Photos und Texten die Hauptstationen von Dollfuß’ Leben und Wirken, nämlich „Kindheit und Jugend“, „Student, Soldat, Agrarfachmann“, „Der Bundeskanzler“ und „Gedenken an Bundes

Das Zitat im Titel entstammt dem Ersten Gästebuch des Dr. Engelbert Dollfuß-Museums, Juni 1998–Mai 2008. Texingtal bezeichnet nicht nur die geografische Lage, sondern seit 1971 auch die aus den Dörfern Texing, St. Gotthard und Plankenstein zusammengelegte Gemeinde. Das Museum selbst befindet sich im Dorf Texing. 1 Vgl. Siegfried Nasko, Dr. Karl Renner – vom Bauernsohn zum Bundespräsidenten, Wien 1979, 4, 6. 2 Vgl. Susanne Seltenreich/Gertraud Trska, Leopold Figl. Der Weg zum Staatsvertrag, Rust im Tullnerfeld 1986, 5. 3 Vgl. Nasko, Renner, 4, 6 (wie Anm. 1), und Seltenreich/Trska, Figl, 5 (wie Anm. 2).

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kanzler Dr. Engelbert Dollfuß“ chronologisch nachverfolgen kann. 4 Trotz einer verhältnismäßig unbedeutenden Anzahl an BesucherInnen – ca. 10.000 in elf Jahren – bildet das Museum eine der wenigen Kultureinrichtungen vor Ort. Doch entgegen den erklärten dokumentarischen Zielen der FörderInnen des Projekts5 verkörpert das Dollfuß-Museum noch mehr als die vorher Genannten die Unvereinbarkeit zwischen einer kritisch-distanzierten Informationsstelle und einer persönlichen bzw. politischen Gedenk- bzw. Andachtsstätte. Ausgehend von dieser Beobachtung soll im Folgenden untersucht werden, wie es zu der auffallend späten Errichtung eines solchen Museums gekommen ist, welche Aspekte von Dollfuß’ Leben und Wirken dort ausgestellt werden und welche geschichtspolitischen Deutungen und Interessen dahinter stehen.

1. Ein geschichtspolitisches Konstrukt 1.1 Das Dollfuß-Museum als Widerspiegelung des Zeitgeists

„Es kann […] nicht jedes Ausstellungsprojekt durchgeführt werden“, stellt die Historikerin Anna Schober fest  : „denn die Wahl von Ereignissen, Epochen, Gruppen oder Personen, deren man sich mittels Ausstellungen zu erinnern beschließt, unterliegt ebensowenig wie die Festlegung des  Ausstellungstermines und die Wahl des Ausstellungsortes einem ‚Zwang der Geschichte‘. Nicht ein solcher, sondern ‚Interessen der Gegenwart‘ liegen Ausstellungsprojekten zugrunde.“6

So überraschend die Eröffnung eines Museums über bzw. für Engelbert Dollfuß 1998 aus wissenschaftlicher Sicht sein mag, geschichts- und gedenkpo4 Angaben vom Präsidenten des Bauernbundes Johann Penz anlässlich der Feier zum 10jährigen Bestehen des Museums, in  : Bauernbund Niederösterreich, NÖ  : Dollfuß-Museum in Texingtal feierte zehnjähriges Bestehen, 9.6.2008, , 8.3.2010. 5 Vgl. dazu u.a. Gemeinde Texingtal, Jährlicher Bericht über das Dr. Engelbert Dollfuß-Museum, 1998  ; Wolfgang Zimprich, Appell an Toleranz. Landeshauptmann Dr. Erwin Pröll eröffnet das Dollfuß-Museum im Texingtal, in  : Erlaftal-Bote, 16.6.1998  ; Interview der Autorin mit Karl Franc, 18.11.2009  ; Interview der Autorin mit Irmgard Grillmayer, 8.1.2010. 6 Anna Schober, Montierte Geschichten. Programmatisch inszenierte historische Ausstellungen (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 24), Wien 1994, 99f.

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litisch ist sie erklärbar. Ausschlaggebend für das Projekt waren sowohl der Einsatz des „stolz[en] […] Bürgermeister[s] der Dollfuß-Gemeinde“7 Herbert Butzenlechner und des Bauernbundpräsidenten Johann Penz als auch die Bereitschaft der Familie Dollfuß, das bereits zwanzig Jahre lang leer stehende Haus für ein Museum zur Verfügung zu stellen. Bereits 1994 stellte sich anlässlich des 60. Jahrestages von Dollfuß’ Tod die Frage nach der Zukunft des Hauses  : „Wird der Bauernhof bald eine Stätte der Versöhnung, ein Dokumentationszentrum der schwierigen Zeit des Ständestaates  ?“, fragten beispielsweise die Niederösterreichischen Nachrichten.8 Die Errichtung des Museums wurde dann vom Texingtaler Gemeinderat mit 17 Stimmen der ÖVP bei zwei Stimmenenthaltungen der SPÖ beschlossen.9 Als das Museum eröffnet wurde, herrschte in wissenschaftlichen Kreisen trotz beharrlicher Diskussionen über die Charakterisierung des DollfußSchuschnigg-Regimes ein immerhin breiter Konsens über dessen autoritären und diktatorischen Charakter.10 Allein die Tatsache, dass vor diesem Hintergrund kein Museum über die Zwischenkriegszeit errichtet wurde, sondern eine Art museale Gedenkstätte für die höchst kontroverse Person Dollfuß, wirkt in dieser Hinsicht anachronistisch und unangemessen. Es beweist gleichzeitig, dass die seit den 1970er-Jahren gemachten wissenschaftlichen Fortschritte in der Erforschung der Zwischenkriegszeit keineswegs einen politischen Gesinnungswandel hatte erzwingen können und somit auch „keine Form gefunden wurde, wie kollektiv an die Dreißigerjahre erinnert“ werden konnte.11 Dass diese museale Gedenkstätte außerdem im 60. Jubiläumsjahr des „Anschlusses“ 1938 eröffnet wurde, widerspiegelt den geschichtspolitischen Zeitgeist des ausklingenden 20. Jahrhunderts in Österreich. Mit der Affäre um den Bundespräsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim 1986 und den Stellungnahmen Bundeskanzler Franz Vranitzkys 1991 zur Mitverantwortung vieler   7 So bezeichnete er sich in einem Interview für die Zeitschrift Datum. Vgl. Nikolaus Jilch, Millimetternich, in  : Datum, Mai 2005, 20.   8 Vgl. Grundstein für die Zweite Republik, in  : NÖN, 3.8.1994.   9 Interview der Autorin mit dem SP-Gemeinderat Franz Streimelweger, 9.3.2010. 10 Siehe dazu unter anderem den historiografischen Bericht von Emmerich Tálos, Deutungen des Österreichischen Herrschaftssystems 1934–1938. Am Beispiel des „Ständestaats-Paradigmas“, in  : Florian Wenninger/Paul Dvořak/Katharina Kuffner (Hg.), Geschichte macht Herrschaft. Zur Politik mit dem Vergangenen, Wien 2007, 199–214, hier 199. 11 Siegfried Mattl, Europareifer Märtyrer, in  : Falter, 21.7.2004. Siehe dazu auch Oliver Rathkolb, 1933  : Ein (noch) geteilter Erinnerungsort, der im Dunkeln der Geschichte verschwindet, in  : ORF ON Science, 29.2.2008, , 8.3.2010.

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ÖsterreicherInnen an den Verbrechen des Nationalsozialismus war von offizieller Seite die seit 1945 wirkende kollektive Opferthese beträchtlich ins Wanken gebracht worden. Sie wurde allerdings nicht endgültig beseitigt, sondern vielmehr in eine „Täter-Opfer-These“12 umgeschrieben und somit am Leben erhalten  :13 Während der österreichische Staat weiterhin als Opfer präsentiert wurde, rückte zunehmend die Teilnahme von ÖsterreicherInnen an den Verbrechen des Nationalsozialismus ins Zentrum des öffentlichen Diskurses, wie es die Wehrmachtssausstellung in Wien 1995 bewies. Dieser Fokus sparte die Zeit vor 1938 aber weitgehend aus und externalisierte die Verantwortung für den „Anschluss“ 1938. Somit konnten die ehemaligen gegnerischen Lager (Christlichsoziale und Sozialdemokraten) und nunmehrigen Koalitionspartner (ÖVP und SPÖ) nach außen eine konsensuale „histoire commémorative“14 propagieren, durch welche die Konflikte der Vergangenheit und vor allem der 1930er-Jahre in Österreich entschärft werden sollten.15 Bereits 1994 rief Franz Vranitzky im Sinne dieses symbolischen Burgfriedens dazu auf, sowohl der Opfer vom Februar 1934 als auch jener „der anderen Seite“ zu gedenken, damit „keine Wunden aufgerissen werden“.16 Von einer solchen großkoalitionären Geschichtspolitik des Kompromisses zeugt auch die Finanzierung des Dollfuß-Museums. 1.2 Staatliche Finanzierung für ein Museum von „überregionaler“ Bedeutung

Die Finanzierung des Museums erfolgte in erster Linie durch die Gemeinde Texingtal selbst in einer Höhe von 1,2 Millionen Schilling. Am Eingang des 12 Gerhard Botz, Nachhall und Modifikationen (1994–2007)  : Rückblick auf die Waldheim-Kontroversen und deren Folgen, in  : ders./Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker (Studien zur historischen Sozialwissenschaft 13), Frankfurt a.M. 2008, 574–635, hier 588. 13 Zu der in dieser neuen Form beibehaltenen Tradierung der Opferthese in den 1990ern, siehe unter anderem Emmerich Tálos, „Anschluss“ 1938  : Deutungen und Lehren 2008, IGOV-Research & Discussion Papers Series 3, März 2008, 6. 14 Gemeint ist damit eine zumeist offizielle Geschichtspolitik, bei der keine scharfe Grenzlinie gezogen wird zwischen einem sachlichen Umgang mit der Vergangenheit und emotionell aufgeladenem Gedenken. Vgl. dazu Michael Werner, Wo ist die Krise  ? Zur derzeitigen Dramatisierung der Situation von Geschichtswissenschaft, in  : Rainer Maria Kiesow/Dieter Simon (Hg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. – New York 2000, 128–141, hier 133. 15 Tálos, Anschluss, 4 (wie Anm. 13). 16 Franz Vranitzky zitiert nach  : Gudula Walterskirchen, Engelbert Dollfuß. Arbeitermörder oder Heldenkanzler, Wien 2004, 269.

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Museums erfährt man aber auch von der Beteiligung „des Amtes der NÖ Landesregierung, Abteilung Kultur und Wissenschaft und Abteilung Raumordnung, der Familie Karoline Dollfuß, des NÖ Bauernbundes [und] des Bundesministeriums für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten“.17 Die Leitung des Unterrichtsministeriums hatte zu dieser Zeit Elisabeth Gehrer inne, die wie alle HauptförderInnen des Museums der ÖVP angehört.18 Sichtbar wird hiermit, dass der Finanzierung eines Ausstellungsprojekts neben touristischen, sozial-, außen- innen- und kulturpolitischen Überlegungen immer auch der Wunsch nach Selbstdarstellung bestimmter Institutionen, Parteien, Gruppen oder Vereine in der Öffentlichkeit zugrunde liegt.19 Die finanzielle Unterstützung des BMUK wurde als Kunstförderungsbeitrag an die Gemeinde Texingtal für die „Errichtung eines Dollfuß-Museums“ vergeben und betrug 200.000 Schilling.20 So gering dieser Betrag im Vergleich zur Förderung der Gemeinde auch sein mag, so bedenklich bleibt der Umstand, dass die demokratische Republik Österreich damit Geld für das Andenken eben jenes Politikers zur Verfügung stellte, der die Vorläuferin eben jener Republik 1933 abschaffte. Über die allgemeinen Voraussetzungen für den Erhalt einer solchen Kunstförderung heißt es im jährlichen Kulturbericht des BMUK  : „Um die kulturelle Präsenz des Bundes […] auch in den Ländern zu sichern, subventioniert der Bund Landes- und Gemeindemuseen sowie die Museen anderer Institutionen, soweit ihnen überregionale Bedeutung zukommt.“21 Als weitere Grundsätze werden unter anderem nachhaltige ökonomische Eigenständigkeit, denkmalpflegerische Aspekte und volksbildnerischer Wert genannt. Zusammenfassend kann man also annehmen, dass diese Finanzierung erfolgte, weil dem zu errichtenden Museum von staatlicher Seite nicht nur überregionale Bedeutung, sondern auch denkmalpflegerischer und volksbildnerischer Wert beigemessen wurden. In den Förderungsbedingungen des Ministeriums für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten ist auch die Definition des Internationalen Museumsrates (ICOM) reflektiert, nach der ein Museum „eine gemeinnützige, auf 17 Diese Informationen stammen aus der Informationstafel am Eingang des Museums. 18 Der ÖVP gehören sowohl der Bürgermeister der Texingtaler-Gemeinde Herbert Butzenlechner als auch der niederösterreichische Bauernbunddirektor und Erste Präsident des niederösterreichischen Landtages Johannes Penz sowie der Landeshauptmann Erwin Pröll an. 19 Schober, Montierte Geschichten, 99f. (wie Anm. 5). 20 Die Förderung entstammt dem Budget „Zweckgebundene Gebarung, Budgetansatz 1/12456“ unter „Zuschüsse an Gemeinden für sonstige Anlagen“, vgl. bm  :uk, Kulturbericht 1998, Wien 1998, 22. Die Höhe der Zuschüsse des Bauernbundes konnten nicht aufgeschlüsselt werden. 21 Ebd., 21.

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Dauer angelegte, der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung im Dienst der Gesellschaft und ihrer Entwicklung [ist], die zum Zwecke des Studiums, der Bildung und des Erlebens materielle und immaterielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt beschafft, bewahrt, erforscht, bekannt macht und ausstellt“.22 Folgt man dieser Definition, dann steht eines fest  : Ein Museum, so klein und abgelegen es auch immer sei, vermittelt und produziert Diskurse, ist somit Teil eines bedeutungskonstituierenden Prozesses und trägt daher eine bildungspolitische Verantwortlichkeit.23 Wird aber das Dollfuß-Museum dieser Definition bzw. dieser Aufgabe gerecht  ?

2. „Ein historischer Tag“  : Die Eröffnungsfeier am 14. Juni 1998 „Erwin Pröll ist ein Mann, der sich was traut  ; und ist auch bereit, Altlasten aufzuarbeiten“,24 kommentierte der Lokalhistoriker Günter Schusta anlässlich der feierlichen Eröffnung des Dr. Engelbert Dollfuß-Museums am 14. Juni 1998 durch den niederösterreichischen Landeshauptmann. Dieser hatte nämlich für das Projekt „spontan die Mithilfe des Landes zugesagt.“25 Im Hinblick auf ebendiese (partei-)politischen Altlasten und als Vorwegnahme etwaiger Kritik bedankte sich Pröll in seiner Eröffnungsrede für das dargebotene „objektive Bild auf wissenschaftlicher Basis“ und in einem Appell an Toleranz und Frieden lobte er das Museum als eine „Stätte der Begegnung, des Dialoges und des ‚Aus-der-Geschichte-Lernens‘“.26 Die eingangs angesprochene „Verpflichtung, das Gelernte den nächsten Generationen weiterzugeben“, hinderte ihn nicht daran, das Museum für den Diktator in eine Reihe anderer „Gedenkstätten für große niederösterreichische Politiker wie Figl oder Renner“ einzuordnen.27 Dollfuß sei zwar „aus gegenwärtiger Sicht“ kein Demokrat gewesen, „aber sicher kein faschistischer Diktator, sondern unbestritten 22 Vgl. dazu ICOM, Internationaler Museumsrat (Hg.), Ethische Richtlinien für Museen von ICOM, 2010, 29. 23 Roswitha Muttenthaler, Oberfläche und Subtext. Zum Projekt „Spots on Spaces“, in  : Roswitha Muttenthaler/Herbert Posch/Eva Sturm (Hg.), Seiteneingänge. Museumsidee & Ausstellungsweisen, Wien 2000, 13–26, hier 24. 24 Günter Schusta, Hitlers erstes Opfer, in  : Morgen. Kulturzeitschrift aus Niederösterreich 22 (1998) 120, 39. 25 Herbert Butzenlechner, zitiert nach Zimprich, Appell (wie Anm. 5). 26 Erwin Pröll, zitiert nach Zimprich, Appell (wie Anm. 5). 27 Das Geburtshaus als Stätte der Begegnung für Niederösterreich, in  : Bauernbündler, 18.6.1998.

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Landeshauptmann Erwin Pröll und Bürgermeister Herbert Butzenlechner bei der Museumseröffnung (Foto  : www.diewerbetrommel.at, in: Erlaftal-Bote, 16.6.1998)

ein großer und mutiger Patriot im verzweifelten Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus“.28 Diese Einschätzung, auch wenn sie nicht ausdrücklich in den Kontext des „Anschluss“-Gedenkjahres eingebettet wurde, widerspiegelte zweifelsohne dessen Hauptcharakteristikum, nämlich die grundsätzliche Aufrechterhaltung des Mythos von Österreichs Unschuld am Aufstieg des Nationalsozialismus bis 1938. Dem entsprechend begründete auch der Museumsleiter Karl Franc die Errichtung des Museums mit dem Argument, dass dem ehemaligen Bundeskanzler viel zu verdanken sei, denn „schließlich sei Österreich durch den persönlichen Einsatz Dollfuß’ das erste Opfer Hitlers und kein Mitaggressor.“29 Francs Auffassung ist ein Beleg für den Einfluss der ‚veränderten‘ Opferthese der 1990er auf den ‚Dollfußmythos‘  : Indem die „TäterOpfer-These“ die Zeit vor 1938 weitgehend der Kritik entzog, konnte Dollfuß, 28 Zitiert nach Schusta, Hitlers erstes Opfer, 39 (wie Anm. 24). 29 Zitiert nach Zimprich, Appell (wie Anm. 5).

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der bereits 1934 getötet worden war, wieder verstärkt als Widerstandskämpfer und erstes Opfer dargestellt und die verpönte staatliche Opferdoktrin in seiner Person individualisiert und reaktiviert werden.30 Am Tag der Museumseröffnung, einem „historische[n] Tag für die Gemeinde Texingtal, das Land Niederösterreich und den Staat Österreich“,31 fanden sich nicht nur der Großteil der Texingtaler EinwohnerInnen und der Landeshauptmann ein, sondern auch, so der lokale Erlaftal-Bote, eine „hochkarätige Schar von Ehrengästen“,32 vor allem Parteiprominenz der ÖVP, wie zum Beispiel Bauernbunddirektor und Landtagspräsident Johann Penz, der Leiter der Kulturabteilung des Landes Niederösterreich Gottfried Stangler, Ex-Außenminister Alois Mock, Agrarlandesrat Franz Blochberger, der Vorsitzende der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern Rudolf Schwarzböck, Bezirkshauptfrau Elfriede Mayrhofer, Nationalratsabgeordneter Karl Donabauer, Landtagsabgeordneter Karl Moser sowie zahlreiche Bürgermeister der Region und Vertreter diverser CV- und MKV-Verbindungen.33 Die Voreingenommenheit der RednerInnen fiel diesem Publikum offenbar nicht auf. Es erhob sich auch keine kritische Stimme, als zum Abschluss des offiziellen Festaktes eine Seniorensinggruppe, allen angekündigten Aufklärungsansprüchen zum Trotz, eine lokale Dollfuß-Hymne intonierte  : „An jenem traurigen Julitage/war der Kanzler Österreichs/so wie immer bei der Arbeit/denn er war der Stern des Reichs“, etc.34 Die Eröffnung des Dollfuß-Museums erfolgte jedoch nicht ganz ohne Gegenstimmen. Andreas Kollross, damaliger Landesvorsitzender der Sozialistischen Jugend Niederösterreichs, protestierte gegen die „skandalösen“ Eröffnungsworte Prölls mit dem Hinweis  : „Dollfuß hat die Demokratie beseitigt, die Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei verboten.“ Auch Sepp Leitner von der Scheibbser „Jungen Generation in der SPÖ“ – heute Landesparteivorsitzender der SPÖ Niederösterreich – kritisierte die Ehrung eines Politikers, „der als österreichischer Bundeskanzler nicht wie oft behauptet das erste Opfer der Nazis war, sondern […] den Boden für die Weltanschauung

30 Vgl. dazu Lucile Dreidemy, Wirklich Hitlers erstes Opfer  ?, in  : Der Standard, 25.7.2009. 31 Teile von Erwin Prölls Eröffnungsrede wurden im Erlaftal-Bote veröffentlicht, vgl. Zimprich, Appell (wie Anm. 5). Vgl. dazu auch  : Das Gebursthaus als Stätte der Begegnung für Niederösterreich, in  : Bauernbündler, 18.6.1998. 32 Zimprich, Appell (wie Anm. 5). 33 Ebd. 34 Ebd. Der Text des Liedes stammt von Museumsleiter Karl Franc.

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der Nationalsozialisten aufbereitet hat“.35 Angesichts der andauernden Kontroversen über Dollfuß wundert man sich allerdings, dass die Kritik an der Eröffnung des Museums auf das Land Niederösterreich beschränkt blieb und dass dieses bisher annähernd ungestört betrieben werden konnte. Die bundesweiten Tageszeitungen Der Standard und Die Presse begnügten sich mit einem paraphrasierenden Kurzbericht über Erwin Prölls Eröffnungsrede  ; allein die niederösterreichische Ausgabe des Kurier berichtete auch über die dadurch auf lokaler Ebene ausgelöste Debatte. Seit 1998 herrscht eine nicht zu übersehende Diskrepanz zwischen immer wiederkehrenden Berichten und Werbungen für das Museum in Lokal- und Regionalblättern wie dem Erlaftal-Boten oder den Niederösterreichischen Nachrichten und bundesweit nur vereinzelter medialer Sichtbarkeit, wie 2004 und 2005 in den Wochenzeitschriften Profil und Datum.36 Auch ein Bericht über das Museum in der ORF-Fernsehsendung Kreuz und Quer vom 20. Oktober 2009 erregte kein besonderes Aufsehen. Diesem überwiegenden Schweigen liegt vermutlich das bundesweit weiterhin vorherrschende Unwissen über die Existenz des Museums zugrunde. Gleichzeitig belegt aber die beinahe vollständige Abwesenheit jeglicher Kritik auf Landes- und Bundesebene die Wirksamkeit der großkoalitionären Geschichtspolitik des Burgfriedens zwischen ÖVP und SPÖ.

3. Die Illusion des Authentischen 3.1 Wissenschaftliche Neutralität zwischen Anspruch und Realität

Bereits anlässlich der Eröffnung des Museums verwehrten sich sowohl Gemeindevertreter als auch Bauernbunddirektor und Landeshauptmann gegen den Verdacht der Verherrlichung eines Diktators und betonten die angebliche Objektivität und Neutralität der Darstellung. Als Argument dafür verwies man auf die wissenschaftliche Kuratierung durch den auf die Geschichte Niederösterreichs spezialisierten Historiker und außerordentlichen Universitätsprofessor Karl Gutkas vom Wiener Institut für Österreichische Geschichtsforschung.37 Die Begriffe „Objektivität“ und „Neutralität“ prägten 35 Zitiert werden beide Kritiker nach Karl Lahmer, Kleiner großer Kanzler, in  : Niederösterreich Online, 16.3.1999 (heute nicht mehr online abrufbar). 36 Herbert Lackner, Der kleine Mann aus Texing, in  : Profil, 2.2.2004, 17  ; Jilch, Millimetternich (wie Anm. 7). 37 Vgl. Zimprich, Appell (wie Anm. 5).

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auch die medialen Berichte über die Eröffnung des Museums. So begrüßte beispielsweise der Lokalhistoriker Günter Schusta den sachlichen und dokumentarischen Charakter der Ausstellung, die die BesucherInnen mit dem bekannt mache, „was der Historiker Quelle nennt, mit dinglichen, bildlichen und schriftlichen Zeugnissen der Vergangenheit, aus denen sich Erkenntnisse gewinnen lassen“.38 Übersehen wird damit aber der entscheidende Unterschied zwischen einem Archiv, das Informationen „blind“ speichert und zur Verfügung stellt, und einem Museum, das immer eine Auswahl trifft, Narrative erzeugt und damit Bedeutung produziert.39 Unhinterfragt bleibt dabei auch, dass historische Objekte zwar Dokumenten- und Zeugnischarakter haben und somit auch eine bestimmte Zeiterfahrung ermöglichen, diese aber nicht garantieren.40 So verfällt er dem sogenannten „effect of the real“ (Roland Barthes), indem er den artifiziellen Charakter des Mediums Ausstellung ganz und gar verleugnet.41 Dies ist umso erstaunlicher, als das Dollfuß-Museum hauptsächlich mit unspektakulären Exponaten und besonders wenigen Originalen ausgestattet ist. Kurz nach der Eröffnung wurde das Museum vom Direktor des niederösterreichischen Landesarchivs Willibald Rosner in einem zweiseitigen Bericht – dem bisher längsten Beitrag über das Museum – „eher [als] Dokumentation denn Museum“ bezeichnet.42 Würde er mit dieser Unterscheidung die Definition des Museums auf das Ausstellen von Gegenständen beschränken wollen, dann träfe die Bezeichnung des Dollfuß-Museums als Dokumentation auch zu, denn es beherbergt tatsächlich deutlich weniger Originalexponate als Reproduktionen und Informationstafeln. Allerdings bedient sich Rosner des Begriffs der Dokumentation aus einem anderen Grund, nämlich um die Neu­tralität der dargebotenen Informationen als Hauptverdienst des Projekts zu begrüßen.43 Wie dokumentarisch und neutral ist aber ein Dollfuß-Museum, das in der Zeittafel seiner Ausstellungsbroschüre den 4. März 1933, das Eckdatum der Zerstörung der demokratischen Ersten Republik durch die Ausschal38 Schusta, Hitlers erstes Opfer, 39 (wie Anm. 24). 39 Zur Speicherfunktion des Archivs sowie zur Unterscheidung zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis siehe Aleida Assmann, Das kulturelle Gedächtnis an der Millenniumsschwelle. Krise und Zukunft der Bildung, Konstanz 2004, 24. 40 Schober, Montierte Geschichten, 86 (wie Anm. 5). 41 Muttenthaler, Oberfläche und Subtext, 16f. (wie Anm. 23). 42 Willibald Rosner, Millimetternich oder Heldenkanzler, in  : NÖ Kulturberichte, Juli/August 1998, 6f., hier 6. 43 Ebd.

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tung des Parlaments, absichtlich nicht erwähnt  ?44 Wie neutral der Archivar Rosner, der diese Lücke im Museumsführer zwar bedauert, das ausgesparte Ereignis aber trotz aller zeitgeschichtlichen Erkenntnisse weiterhin so wie die ersten Propagandisten des Dollfuß-Regimes verharmlosend als „Selbstausschaltung“ des Parlaments umschreibt  ?45 Indem sie den Akzent auf den informativen Charakter des Museums legen, scheinen sowohl Schusta als auch Rosner die Inszenierungsmacht des Mediums Ausstellung und die Konstruiertheit der musealen Darstellung zu übersehen. Doch sind es genau jene Inszenierungsprozesse, die im Hinblick auf ein Museum für eine solch kontroverse Persönlichkeit zu untersuchen sind. Dass das Dollfuß-Museum ganz im Gegensatz zu den proklamierten Zielen von ProjektträgerInnen und KommentatorInnen von vornherein nicht neutral sein konnte, beweist schon allein der Prozess seiner Errichtung „zu Ehren“ Dollfuß’46 bzw. als „Gedenkstätte über den Umweg eines Agrarmuseums“.47 Dieses Konzept verwies von Anfang an auf die Einschränkung der geschichtspolitischen Absichten auf eine bestimmte Deutung von Dollfuß’ Ideologie und politischer Praxis, nämlich auf dessen Würdigung. 3.2 Die Aura des Geburtshauses

Selbst die Auswahl des Ortes für die Errichtung des Museums diente der Würdigung Dollfuß’ und fiel daher alles andere als neutral aus. Neben dem Grab einer Persönlichkeit fungiert auch deren Geburtshaus immer als ein privilegierter Ort des Personenkultes, als Erinnerungs- und Pilgerstätte. Eine globale Perspektive bietet viele Beispiele für diese Praxis – von Nordkoeas Kim Il Sung über Stalin bis zu Franco. Auch in Frankreich lotst die französische Vereinigung zur Verteidigung des Gedächtnisses an Marschall Pétain (ADMP) seit 1992 jedes Jahr alte NostalgikerInnen auf einer Pilgerreise zu Pétains Geburtshaus nach Cauchy-à-la-Tour. Durch ihre hohe emotionale Aufgeladenheit sind Geburtshäuser bevorzugte Kulissen für Personenmuseen. Dies ist insofern prob-

44 „Gewisse Ereignisse habe ich absichtlich weggelassen“, erklärte am 18.11.2009 der Museumsleiter im Hinblick auf den von ihm gestalteten Museumsführer (wie Anm. 5). 45 „Das Parlament hatte sich selbst ausgeschaltet, und Dollfuß regierte fortan mit Hilfe eines kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes von 1917“, heißt es bei Rosner, Millimetternich, 7 (wie Anm. 42). 46 Auf Vaters Spuren, in  : Erlaftal-Bote, 28.10.1998. 47 Lahmer, Kleiner großer Kanzler (wie Anm. 35).

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lematisch, als diese Museen dadurch die ständige Gefahr bergen, bestimmte Lesarten der Vergangenheit zu sakralisieren.48 Dieser Umstand erklärt, warum in Frankreich der wiederholte Wunsch der ADMP nach einem großen PétainMuseum schon allein innerhalb der kleinen Gemeinde weiterhin auf harten Widerstand stößt.49 Dies erklärt auch die seit 2007 in Portugal köchelnde Debatte um die Errichtung eines Museums über Salazar und seinen „Neuen Staat“ im Geburtshaus des Diktators.50 Ähnliche Bedenken in Bezug auf die verhängnisvollen Folgen der Musealisierung von Geburtshäusern ehemaliger Diktatoren wurden letztendlich auch im November 2009 in Österreich laut, als der bevorstehende Verkauf des Geburtshauses von Adolf Hitler in Braunau bekannt gegeben wurde.51 In Texingtal deutet schon allein die Aufrechterhaltung der 1934 aufgestellten Erinnerungstafel vor dem Haus mit der Inschrift „Geburtshaus unseres großen Bundeskanzlers und Erneuerers Dr. Engelbert Dollfuß“ darauf hin, dass die KuratorInnen und FörderInnen des Museums 1998 eine Tradition des sakralen Personenkults wiederaufgriffen, die ab 1934 zum zentralen Stützpunkt der faschistoiden Ideologie der österreichischen Diktatur geworden war. Die emotionale Aufladung des Geburtshauses basiert auf der Tatsache, dass dieses gewöhnlich als Verdinglichung der Herkunft des Protagonisten und nicht selten – so auch im Falle von Dollfuß – als Beweis für seine Bodenständigkeit und Volksnähe herangezogen wird. So verstärkt auch das Geburtshaus das Identifikationspotenzial der BesucherInnen mit dem Protagonisten. Wie lange dieser dann tatsächlich in dem Haus wohnte – im konkreten Fall nur die ersten zehn Monate seines Lebens –, ändert nichts an der magischen Aura, die traditionsgemäß mit diesem Ort des Ursprungs assoziiert wird. Der Kult um das Geburtshaus erscheint allerdings bei Dollfuß aus einem weiteren Grund paradox  : Da er als uneheliches Kind zur Welt kam, stellte seine Geburt im konservativen und katholischen bäuerlichen Milieu sicherlich ein eher zu vertuschendes als zu zelebrierendes Ereignis dar. Aber auch das vermochte 48 Zum Museum als Hauptinstrument der Sakralisierung des Ortes, vgl. André Gob, Une mémoire imposée, in  : Espace de libertés, April 2005, 330, 9. 49 Pétain  ? «C‘est surtout le traître de 1940», in  : La voix du nord, 25.4.2009, , 8.3.2010. 50 Im Rahmen einer Sendung des nationalen Fernsehsenders RTP wurde Salazar mit 41% der abgegebenen Stimmen zum „größten Portugiesen aller Zeiten“ gewählt. Zur Debatte um das Schicksal des Geburtshauses siehe unter anderem Thomas Fischer, Das Gespenst des früheren Diktators, in  : Neue Zürcher Zeitung, 6.12.2007. 51 Vgl. Hitler-Geburtshaus steht zum Verkauf, in  : Die Presse, 18.11.2009.

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Engelbert Dollfuß’ Geburtshaus, Gemeinde Texingtal (Foto  : Lucile Dreidemy)

keinen Schatten auf jene auratische Stätte zu werfen, die trotz der 1997 angebahnten Hausrenovierungen weiterhin den Eindruck eines authentischen Ursprungsortes erwecken sollte.52 Dem Namen Dollfuß begegnet man bereits rechts vor der Eingangstür auf der Erinnerungstafel. Beim Betreten des Hauses erscheint er aber gleich ein zweites Mal, diesmal über den Köpfen der BesucherInnen, auf einem Gewölbe, wo er angeblich seit der Errichtung des Hauses 1779 angebracht ist. Im Sinne dieser genealogischen Tradition wurde auch der einzige Originalraum dieses typischen Bauernhauses, die Stube mit Holzboden und -decke von 1779, als erste Etappe der Ausstellung ausgewählt und der Familie und Kindheit Engelbert Dollfuß’ gewidmet. Das Identifikationspotenzial des „Authentischen“ wird im Dollfuß-Museum also offensichtlich weniger durch Originalexponate – deren Zugehörigkeit meistens nicht klar festzulegen ist – als durch die vom Namen Dollfuß geprägte Gesamtatmosphäre erzeugt.

52 Ausschlaggebend für die Hausrenovierung war der 1997 gefasste Entschluss Johann Penz’, die Kosten für die Sanierung des Dachs zu übernehmen. Vgl. dazu Lahmer, Kleiner großer Kanzler (wie Anm. 36). Die mit der Ausgestaltung des Museums betraute Grafikerin Irmgard Grillmayer betonte in ihrer Schilderung der Museumsentstehung, wie wichtig die Bewahrung des Originalzustands der Bauernstube dabei gewesen sei. Vgl. Interview mit Irmgard Grillmayer (wie Anm.5).

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4. Eine Gedenkstätte über den Umweg eines Museums 4.1 Die Rolle des Museumsleiters

Der ursprüngliche Kurator des Dollfuß-Museums war der außerordentliche Universitätsprofessor für Geschichte des Wiener Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Karl Gutkas, mit der Einrichtungsplanung wurde die Grafikerin Irmgard Grillmayer betraut, die zuvor schon das Leopold-Figl-Museum in Rust gestaltet hatte. Die Aufgaben beider ExpertInnen übernahm dann Karl Franc, Leiter des Museums seit der Eröffnung 1998, ein pensionierter Großhandelsvertreter und Quereinsteiger im Museumsmanagement und im Fach Zeitgeschichte.53 Zu Beginn einer Standardführung durch das Museum pflegt er klarzustellen, dass er kein Zeithistoriker ist, sondern 1998 vom Gemeinderat aufgrund seiner Rednerqualitäten und trotz seiner damals nur beschränkten Kenntnisse über Engelbert Dollfuß mit der Leitung des Museums beauftragt wurde. Man habe ihm Literatur besorgt, und so habe er immer mehr über den verstorbenen österreichischen Bundeskanzler erfahren.54 Da er „bei seinen Führungen, die über eineinhalb Stunden dauern, viel über den großen Staatsmann, Patrioten und Märtyrer Österreichs zu erzählen weiß“,55 scheuen sich lokale Journalisten nicht, ihn einen „Dollfußologen“ 56 zu nennen. Mit seinem Alter und seinen vielfältigen Funktionen sowohl im Museum (Sammler, Kurator, Grafiker, Museumsleiter) als auch im Vereins- und Gemeindeleben entspricht Franc dem von der Erziehungswissenschaftlerin Gabriele Rath beschriebenen Typus des ehrenamtlichen Museumsmitarbeiters  : „Ehrenamtliche Mitarbeiter sind Männer über 45, die die Museen, in denen sie arbeiten, auch leiten. Sie betreiben diese Aufgabe entweder als Hobby oder als Beitrag zur Gemeinwesenarbeit bereits während der Berufstätigkeit, aber insbesondere nach der Pensionierung.“57 Seine museumspädagogische Kompetenz erwarb Franc durch Praxis und nicht durch Aus- oder Fortbildung. 58 Seine Stärken verortet er in der Fähigkeit, die Interessen der jeweiligen BesucherInnen abzuschätzen und seine Ausführungen daran anzupassen  : „Einer 53 „Früher hat er ‚vor allem im Osten‘ Industrieanlagen für US-Firmen verkauft“, heißt es bei Jilch, Millimetternich (wie Anm. 7) 54 Interview mit Karl Franc (wie Anm. 5). 55 Gerd Rittenauer, Dollfuß-Museum in Texing wird am 14. Juni eröffnet, in  : Die Landwirtschaft (1998) 5, 17. 56 Vgl. dazu beispielsweise ebd. 57 Gabriele Rath, Museen für BesucherInnen. Eine Studie, Wien 1998, 156. 58 Zur Theorie des Quereinsteigers siehe ebd., 159.

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Maturaklasse kann man nicht dasselbe erklären wie einer 4. Klasse“, verdeutlicht er in einem Interview. Franc betont, er wolle niemanden überzeugen, sondern nur das wiedergeben, was er sich „zusammengelesen habe“.59 Genau das ist allerdings problematisch, denn eben jene Literatur, die auch am Ende der Ausstellung empfohlen wird, enthält von wissenschaftlicher Kritik an Dollfuß’ Politik und Ideologie kaum eine Spur  : Man nehme nur als Beispiele einige der – übrigens nicht zugänglichen – in Glasvitrinen ausgestellten Werke wie zum Beispiel Anton Tautschers Propagandawerk So sprach der Kanzler. Dollfuß ’Vermächtnis aus dem Jahre 1935 oder die 1994 von Eva Dollfuß veröffentlichte Hagiografie Mein Vater, Hitlers erstes Opfer. So parteiisch seine Ansichten sein mögen, der Museumsleiter scheint immerhin vom bestehenden religiösen Kult um Dollfuß etwas verblüfft zu sein. Dass manchen BesucherInnen die Tränen kommen, sobald er über Dollfuß erzählt, ist ihm zum Beispiel „nicht ganz verständlich“.60 Auch in seinen Marketingkonzepten gibt sich Karl Franc überraschend pragmatisch  : So möchte er etwa eine Kombikarte für das Dollfuß-Museum und das geplante Texingtaler Bierflaschenmuseum einführen. Franc machte mit dem Museum ein zweites Mal Karriere. Er ist auf den meisten Bildberichten über das Museum zu sehen und sein Name wird auf lokaler Ebene sofort mit Dollfuß assoziiert. In Bezug auf die umfassendere Frage nach den AkteurInnen der Geschichtspolitik lässt Franc deutlich werden, dass die Popularisierung der Geschichte bei Weitem nicht allein in den Händen einer kleinen HistorikerInnenzunft liegt, sondern auch in denen von QuereinsteigerInnen, die sich aus Interesse in das eine oder andere Thema einlesen und an das wissenschaftliche Gebot der kritischen Distanz nicht unbedingt gebunden fühlen. Von einem solch emotionalen Umgang mit der Geschichte zeugt auch die Ausstellung selbst. 4.2 Andenken statt Aufklären

In der Bauernstube, dem ersten Raum und Abschnitt der Ausstellung, bekommen die BesucherInnen zusätzlich zu den Informationen über Dollfuß’ Herkunft erstmals einen persönlichen Zugang zu verschiedenen Kindheitsobjekten, die Dollfuß gehört haben sollen. Darunter scheint vor allem das Schaukelpferd besonders geeignet zu sein, Empathie zu erwecken.61 59 Interview mit Karl Franc (wie Anm. 5). 60 Ebd. 61 Dafür spricht auch der exponierte Platz für das Schaukelpferd des kleinen Jörg Haider bei

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Bei der nächsten Station werden Dollfuß’ Jugend, seine Erfahrung im Krieg und seine frühen beruflichen Tätigkeiten in der niederösterreichischen Landwirtschaftskammer sowie als Bundesbahnsekretär und später -direktor präsentiert. Neben einem angeblichen Originalschreibtisch62 mit einer Schreibmaschine aus der Zeit seiner Tätigkeit im Bauernbund wird die Aufmerksamkeit der BesucherInnen vor allem auf das Zentrum des Raums gelenkt, wo mittels Vitrinen und Podesten eine Linie zwischen der wirklichen Welt der BesucherInnen und der artifiziellen Welt der Ausstellung gezogen wird. Somit konnten die dahinter bewahrte Kaiserschützenuniform Dollfuß’ sowie seine CV-Mützen und -Bänder als wertvolle, emotional aufgeladene Unikate zur Schau gestellt werden.63 Dementsprechend wird auch im Reiseführer Couleurstudentische Zeichen und Gedenkstätten in Niederösterreich diese Vitrine als Höhepunkt der Ausstellung präsentiert.64 Dollfuß war seit Beginn seines Studiums und bis zu seiner Ermordung überzeugtes Mitglied der Verbindung Franco Bavaria, die bis heute einen entscheidenden Beitrag zur Pflege des Dollfuß-Kultes leistet. Nach dem Soldaten, CVler und Agrarfachmann widmet sich der dritte Raum dem Staatsmann Dollfuß. Hier entdeckt man sofort eine der bis heute bekanntesten und gleichzeitig kontroversesten Darstellungen Dollfuß’, nämlich ein Replikat des heute noch im Parlamentsklub der ÖVP hängenden, ca. ein Meter hohen Öl-Porträts auf dunklem Hintergrund, und diesem gegenüber, gleich rechts vom Durchgang, Dollfuß’ Totenmaske. 65 Einen Schwerpunkt dieses Raums bildet ein Triptychon von drei Ausstellungstafeln über das Jahr 1934  : Die erste Tafel wurde von der Grafikerin Grillmayer rot angemalt, um den „roten Putsch“ zu symbolisieren, das dritte braun für den „braunen Putsch.“66 Nationalsozialisten und Sozialdemokraten werden also plakativ als gleichwertige Gefahren präsentiert, so dass die hellere Tafel der Mitte den sogenannten „Neuaufbau des Staates“ auf der Basis der ständestaatlichen Verder im Oktober 2009 eröffneten Haider-Ausstellung in Klagenfurt. Siehe dazu beispielsweise Elisabeth Steiner, Haider als Lichtgestalt in der Kärntner Unterwelt, in  : Der Standard, 10./11.10.2009. 62 So behauptet es zumindest Elisabeth Schreiner in  : Kleiner, großer Mann, in  : NÖN, 13.8.2003. Allerdings konnte dies vom Museumsleiter nicht bestätigt werden. 63 Schober, Montierte Geschichten, 12 (wie Anm. 5). 64 Herbert Fritz/Peter Krause/Raimund Lang (Hg.), Couleurstudentische Zeichen und Gedenkstätten in Niederösterreich. Festschrift Pennälertag 2004 in Baden bei Wien, St. Pölten – Wien 2004, 106. 65 Laut Grafikerin das Original, vgl. Interview mit Irmgard Grillmayer (wie Anm. 5). 66 Ebd.

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fassung als die vernünftige, ausgeglichene politische Antwort auf das Chaos der Extreme erscheinen lässt. Dieser Raum verdient auch wegen der anderen vermittelten Informationen Aufmerksamkeit, da diese in Bezug auf den innen- und geopolitischen Kontext der 1930er-Jahre mit erstaunlichen Details aufwarten. So erfährt man zum Beispiel anhand von Archivdokumenten von der „Ausschaltung“ bzw. „Selbstausschaltung“ des Parlaments – es werden beide Begrifflichkeiten verwendet –, aber auch von der Verhängung des Standrechtes im Februar 1934. Ein Höhepunkt wird dort erreicht, wo ausgewählte Schlagzeilen der Zeitung Freiheit. Organ der staatstreuen Bevölkerung vom 17. Mai 1933 im Hinblick auf das Anhaltelager Wöllersdorf, wo sowohl sozialdemokratische und kommunistische als auch nationalsozialistische Opponenten des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes eingesperrt wurden, ohne sprachliche Umwege über die „ersten Konzentrationslager für alle Vaterlandsverräter“ als „Erfolge der einjährigen Kanzlerschaft Dr. Dollfuß’“ berichten. Man wird also hier mit genau jenen Maßnahmen Dollfuß’ konfrontiert, die im kultischen Verehrungsdiskurs für gewöhnlich ausgeblendet werden. Doch dieser aufklärerische Schein trügt, denn, wie Sepp Teichmann mit Recht betont, „alle verwendeten Dokumente hätten so auch in der Zeit des Austrofaschismus gezeigt werden können“.67 Die erwähnten Ereignisse werden an keiner Stelle auf den Tafeln und im Vortrag des Museumsleiters problematisiert, sondern als notwendige Antworten Dollfuß’ auf eine sonst nicht zu bändigende politische Situation bzw. auf das von der Sozialdemokratie herbeigeführte politische Chaos verharmlost und legitimiert. Auch der Archivar Willibald Rosner übernimmt in seinem Artikel diese typische Legitimierungsstrategie und schiebt die Schuld an der Zerstörung der Demokratie den Sozialdemokraten zu, indem er auf ihre Kompromisslosigkeit hinweist.68 In dieser Abwehrrhetorik wird die Macht der musealen Inszenierung sichtbar  : Indem sie Gegenstände bzw. Informationen in einer bestimmten Weise zueinander in Beziehung setzen, konstruieren Ausstellungen Zusammenhänge und nehmen Wertungen und Gewichtungen vor.69 Dass in Personenmuseen auch kritisch-distanziertere Zugänge Anwendung finden können, zeigt zum Beispiel das Renner-Museum. In der langwierigen 67 Sepp Teichmann, Dollfuß – ein auffrisierter Diktator, in  : Gedenkdienst (1999) 4, , 8.3.2010. 68 Rosner, Millimetternich, 7 (wie Anm. 42). 69 Schober, Montierte Geschichten, 12f. (wie Anm. 5).

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Debatte um die politische Schuld an der Zerstörung der Ersten Republik wurde seitens der VerteidigerInnen Dollfuß’ immer wieder auf Karl Renners politische Fehler ab dem Zeitpunkt seines Rücktritts als Erster Nationalratspräsident 1933 hingewiesen, um somit Dollfuß’ Verantwortung und Schuld zu minimieren.70 Auf eben diese Kritikpunkte versucht das Renner-Museum einzugehen, indem die Vorwürfe gegen den Politiker bewusst in die Ausstellung aufgenommen und thematisiert wurden. Das Ergebnis ist eine Installation, die Renners Rücktritt und die darauf folgenden Ereignisse sehr konkret vor Augen führt  : Mit einem Hebel können die BesucherInnen eine Renner darstellende Figur zurückschieben, seinen Rücktritt als Nationalratspräsident symbolisierend. Im selben Augenblick erscheinen kleine Plakate, Flugzettel, Zeitungszitate und offizielle Urkunden, mit denen einige der zentralen politischen Ereignisse der Jahre 1933–1938 – von der Verhängung der Todesstrafe bis hin zum berüchtigten „Ja“ zum „Anschluss“ – stichwortartig thematisiert werden. In einem Begleittext und im Museumsführer werden sie sogar als die „schwerwiegenden“ Folgen von Renners Rücktritt dargestellt.71 So bedenklich diese Interpretation aus wissenschaftlicher Perspektive auch sein mag, die originelle Montage zeugt vom Willen der Kuratoren, auch die umstrittenen Facetten des Staatsmannes Renner kritisch ins Porträt einzubeziehen und zur Diskussion zu stellen. Von einem solchen kritischen Ansatz zur Nuancierung des Würdigungsdiskurses findet sich im Dollfuß-Museum keine Spur, ganz im Gegenteil  : Die museale Inszenierung im Dienste der Abwehrrhetorik erinnert stark an die Legitimierungsstrategien der Dollfuß-BiografInnen.72 Sowohl in deren Werken als auch im Museum können strittige Momente vorkommen, werden aber sogleich kompensiert und verharmlost, sodass sie im Rahmen der Gesamtdarstellung eher den Eindruck von bedauerlichen menschlichen Schwächen 70 So zum Beispiel als der ÖVP-Politiker Michael Spindelegger 2008 die Fehler Dollfuß’ und Renners abwog, um zum Schluss zu kommen, dass beide Politiker Licht- und Schattenseiten hätten. Vgl. Michael Spindelegger, Erinnerung und Mahnung, in  : Falter, 5.3.2008, 5. 71 Siegfried Nasko, Karl Renner – Vom Bauernsohn zum Bundespräsidenten. Katalog und Dokumentation zur Dauerausstellung im Museum für Zeitgeschichte, Zeitreise – Renner-Villa Gloggnitz, Wien – Gloggnitz 2007, 62f. 72 Zu diesen verherrlichenden Biografien zählen sowohl Veröffentlichungen aus den 1930erJahren, wie zum Beispiel Johannes Messner, Dollfuß, Wien 1935, als auch spätere Werke wie Gordon Brook Shepherd, Engelbert Dollfuß, London 1961, oder Eva Dollfuß, Mein Vater. Hitlers erstes Opfer, Wien 1994, und schließlich Gudula Walterskirchen, Engelbert Dollfuß. Arbeitermörder oder Heldenkanzler, Wien 2004.

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und Widersprüchen als von irreparablen politischen Fehlern hinterlassen. Einen Beleg für die somit erzeugte Salonfähigkeit von Dollfuß’ diktatorischem Handeln liefern beide Gästebücher des Museums, in denen kein einziges Mal Kritik an der erwähnten „KZ-Eröffnung“, an der Verhängung des Standrechts oder an Dollfuß’ Naheverhältnis zu Mussolini geübt wird. Im Museum wie in den Dollfuß-Biografien hängt die Herstellung einer Salonfähigkeit mit einer kontextspezifischen Adaptierung des Verehrungsdiskurses zusammen. Ermöglicht wird dies durch einen wandelbaren und anpassungsfähigen „Wertekanon“, der die ideologische Grundlage des ursprünglichen Staatskultes für Dollfuß bildete und bis heute an die Erwartungen und Weltanschauungen des jeweiligen Publikums adaptiert werden konnte. Einige Elemente des ursprünglichen Wertekanons wurden beibehalten, so zum Beispiel Dollfuß’ Opferbereitschaft und sein Pflichtbewusstsein gegenüber dem Vaterland  ; andere, beispielsweise der Topos des christlichen Messias und des Heiligen, wurden gänzlich gestrichen. Zudem wurden bestimmte Elemente des Kanons umgewandelt  : Anstelle des „wahren deutschen Mannes“73 und der Versöhnungsbereitschaft mit Deutschland wurde der Akzent auf Dollfuß’ österreichischen Patriotismus und auf seinen vergeblichen Widerstandskampf gegen die Nationalsozialisten gelegt. Diese konstruierten Geschichtsbilder verengen die historische Perspektive auf das tragische Schicksal des Menschen, wie es am Ende des dritten Raums in der Totenmaske versinnbildlicht ist. Die Totenmaske erzeugt Pathos und beinhaltet einen Aufruf zum pietätvollen Respekt vor dem Toten. Somit leitet sie auch zur letzten Etappe der Ausstellung über  : einem kleinen, übervollen Raum, in dem dicht aneinandergereihte Gedenkobjekte – wie zum Beispiel eine Büste, eine Marmortafel oder ein Straßenschild – und Fotos von ehemaligen bzw. noch bestehenden Dollfuß-Denkmälern die Wände tapezieren. Die Gedenkpolitik seit den Dreißigerjahren wird auch anhand von Kultgegenständen wie Tassen, Gläsern und Briefmarken zur Schau gestellt. Die Ausstellungstische sind so überfüllt, dass man eines der originellsten Exponate der Ausstellung fast übersieht, nämlich eine mit Erde von Dollfuß’ Grab gefüllte Holzschatulle, wie in einer beiliegenden Originalurkunde der Vaterländischen Front beglaubigt wird. Da die Zugehörigkeit der sonstigen Ausstellungsobjekte nicht festzulegen ist, wundert man sich allerdings, dass diesem besonders „auratischen“ Originalgegenstand kein zentralerer Platz zugewiesen wurde. 73 Zitat aus dem von Rudolf Henz nach dem Juliputsch 1934 komponierten Lied der Jugend, auch Dollfuß-Lied genannt.

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Dass dieser Raum allgemein auch „Gedenkraum“ genannt wird, verwundert nicht, denn an dieser Endstation werden die BesucherInnen nicht nur über den ursprünglichen Dollfuß-Kult als zurückliegendes und abgeschlossenes Ereignis informiert,74 sondern wird auch bzw. vor allem sein Widerhall bis in die Gegenwart direkt angesprochen. Hier „soll das Andenken an den Bundeskanzler geehrt werden“, betont eine Journalistin der NÖN und illustriert das mit dem Abbild eines ausgestellten Reliefs mit der Inschrift „Du bist für uns nicht tot“.75 Wie wirksam diese Botschaft immer noch bleibt, beweist die ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten, die bei einem Besuch 1999 das Lied der Jugend im Gedenkraum intonierte, dessen bekannteste Passage lautet  : „Ihr Jungen, schließt die Reihe an,/Ein Toter führt uns an./Er gab für Österreich sein Blut,/Ein wahrer deutscher Mann. […] Wir Jungen stehen bereit/ Mit Dollfuß in die neue Zeit  !“ Außerdem tragen auch all jene Unbekannten, die dem Museumsleiter trotz der bereits erreichten Überfülle an Erinnerungsobjekten laufend Fotos von Dollfuß-Denkmälern schicken, zur Aufrechterhaltung dieses Kultes bei. So endet die Besichtigung eines Museums, das laut dem ersten Gemeindebericht eine Dokumentation über den Agrarfachmann Dollfuß und die Zeitgeschichte der 1930er-Jahre liefern sollte,76 aber keine Grenze zwischen Wissensvermittlung und pathetischem Andenken zu ziehen vermag. Dass es trotzdem vom Großteil des Publikums positiv rezipiert wird, wirft die Frage nach der gruppenspezifischen Orientierung und Wirksamkeit des dargebotenen Diskurses auf.

5. Eine parteipolitische Werbestätte Das Gästebuch gewährt einen tiefen Einblick in das (Ziel-)Publikum des Museums. Dieses besteht großteils aus ÖsterreicherInnen aus der Region, aus Geistlichen bzw. von Geistlichen geführten Gruppen und aus CV-Mitgliedern, die in den meisten Fällen ein gewisses Vorwissen über Engelbert Dollfuß mitbringen  : „‚Ich wollte ja nur den Frieden. Den anderen möge der Herrgott vergeben.‘ So hörte ich als das Kind, das ihn verehrte, die letzten Worte des sterbenden Kanzlers“ (5. 9. 1999), erklärt beispielsweise ein Besucher. Ein 74 Darauf beschränkte sich beispielsweise Lackner, Der kleine Mann aus Texing (wie Anm. 36). 75 Schreiner, Kleiner, großer Mann (wie Anm. 62). 76 Vgl. Gemeinde Texingtal, Bericht über das Dollfuß-Museum, 1998 (wie Anm. 5).

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weiterer führt aus  : „Dollfuß war eine Art Heiliger, erklärte mir mein Vater als Kind. Seither ist er für mich ein Mythos, den ich erforschen möchte“ (5. 9. 1999). Dieses parteiische Vorwissen zeugt von der langfristigen Wirkung des intergenerationellen, oft im Familienrahmen tradierten kommunikativen Gedächtnisdiskurses. Die meisten Besuchenden machen übrigens keinen Hehl aus ihrer Voreingenommenheit  : Manche nennen sich „alte Dollfußanhänger“ (25. 8. 1999), andere „Gefolgsleute des Heldenkanzlers […] mit aller Treue“ (18. 7. 1998). Man gedenkt eines „aufrechten Österreicher[s]“ (22. 6. 1999), man begrüßt die Errichtung eines „würdigen Museums“, das Dollfuß „wahrlich verdient“ habe (27. 7. 2004), da es „seine Leistungen und seinen wahren Sachverhalt ins rechte Licht rück[e]“ (1. 8. 2004). Diesen BesucherInnen geht es mehr um das „eindrucksvolle Denkmal großer Zeitgeschichte“ als um die kritische Erforschung eben dieser Zeitgeschichte  : „Es ist schön, daß das Andenken an Engelbert Dollfuß noch aufrechterhalten wird“ (19. 6. 2004), heißt es hier, und dort wird in diesem Sinne sogar ein altes ehrendes Trauergedicht in Erinnerung gerufen  : „Er hielt auf Ehre / und baute auf Treue, er stand zum

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Eide / den er gesprochen. Es wurde gebrochen / Ihm ehrlos die Treue. / Er diente der Heimat / und hatte gegeben, / das Höchste  ! Sein Leben“ (ohne Datum). Andere erhoffen sich von dieser Gedenkstätte sogar eine allgemeine Korrektur der Bewertung seiner Persönlichkeit. Allerdings finden sich neben den vorherrschenden Huldigungsworten auch einige wenige kritischere Eintragungen, wie z. B. folgende  : „Meinem Geschichtsbild folgend war Dollfuß [aber doch] ein Arbeitermörder und maßgebend am Ende der Demokratie in Österreich schuld …“ (23. 8. 1998) und weiter in diesem Sinne  : „Lehrreich, interessant, aber der Ständestaat und der ‚Austrofaschismus‘ kommt [sic] zu wenig hervor“ (11. 4. 2006). Vor dem doch weitgehend apologetischen Hintergrund des Gästebuchs ist es zudem manchmal unklar, ob anonyme Eintragungen wie etwa „Ein Hoch dem Austrofaschismuss [sic]  !“, zwei Seiten später  : „Es lebe der Ständestaat  !“ und noch später  : „Bom oida, Es wird sehr ausführlich erklärt“ (19. 6. 2008), so zynisch sie im ersten Augenblick klingen mögen, nicht doch affirmativ sind. Da sich das Museum an keiner Stelle auf das Terrain der Kontroversen um Engelbert Dollfuß begibt, macht sich in diesen Seiten schließlich auch ein tatsächlicher Deutungskampf bemerkbar, zum Beispiel durch den schneidenden Kommentar eines Geistlichen  : „Mit Dollfuß in die neue Zeit  ! Nieder mit dem roten Pack  !“ (2. 7. 2006), der von einem späteren Besucher als Zeichen der Ablehnung durchgestrichen wurde. „Aus der Geschichte lernen …“ (29. 7. 2001) empfiehlt jemand an anderer Stelle, worauf ein Nachfolgender erwidert  : „UND gegen die Rotfront kämpfen  !“ – ohne Datum. Das Gästebuch bringt zum Vorschein, dass dieses Museum wie die meisten Ausstellungen als Projektion von Wunschvorstellungen der Gegenwart in die Vergangenheit dient, und damit in weiterer Folge für politische Indoktrinierung herangezogen werden kann.77 Wenn 15 MitarbeiterInnen der ÖVPNiederösterreich nach einem Gruppenbesuch des Geburtshauses im Gästebuch eintragen: „Die Mitarbeiter [der] VP Niederösterreich lernen die Heimat ihres Chefs kennen …“ (7. 7. 2005), ist daher durchaus Zweifel angebracht, ob damit der Landesgeschäftsführer und Texingtaler Gemeinderat Gerhard Karner gemeint ist oder im Kontext der Gedenkstätte nicht doch Dollfuß selbst. Von dieser parteipolitischen Ausrichtung zeugt auch die Tatsache, dass nie ein SP-Gemeinderat mit der von der Gemeinde festgelegten Museumsaufsicht ­beauftragt wurde. „Die SP-Gemeinderäte würden auch Museumsdienst machen […]. Das wollen wir aber nicht“, erklärte Karl Franc in einem Interview 77 Schober, Montierte Geschichten, 58f. (wie Anm. 5).

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2005 und gab als Begründung an, „man müsse die roten Kollegen vor den ‚extremen Strömungen‘ in ihrer Partei schützen.“78 Das Gästebuch veranschaulicht also sehr gut, dass diese Einrichtung, die als Museum konzipiert und finanziert wurde, im Endeffekt als solches versagt, denn die immer wiederkehrende Beschwörung der Neutralität steht auch hier in einem verstörenden Gegensatz zur parteiischen Darstellung der Geschehnisse. Dies hat zur Folge, dass für viele BesucherInnen offensichtlich nicht deutlich wird, dass hier nur eine These, eine Deutung der Geschichte vorgestellt und nicht die von manchen erhoffte „tolle Nachhilfestunde in Österreichischer Geschichte“ geboten wird.79 Im Hinblick auf die regelmäßigen Besichtigungen von Schulklassen sollte eine solche Klarstellung eine bildungspolitische Priorität bilden. Zugunsten der Entfaltung einer kritischen öffentlichen Meinung sollte das Museum immer als Ort der Kontroverse fungieren und dabei das Dargestellte zur Diskussion stellen.80 In diesem Sinne würde man die Thematisierung von Dollfuß’ antidemokratischen Verbrechen und die Erwähnung „heißer Eisen“ wie etwa der Debatte um die begriffliche Einschätzung des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes erwarten. Weder bei der ständigen Erweiterung der Ausstellung um neue Exponate noch bei der Gestaltung der wechselnden Sonderausstellungstafeln scheint dies allerdings vorgesehen zu sein.

Fazit In seinem Bericht über das Museum zieht der Archivar Willibald Rosner den positiven Schluss, „daß dieses Museum eine Lücke füllt und ein erster Ansatz zu einer differenzierten Sicht Engelbert Dollfuß’ ist.“81 Zum zehnjährigen Bestehen lobte Johann Penz in diesem Sinne den Erfolg jener „Stätte der Begegnung, des Dialogs und der Lehre“, von der schon sein Parteikollege Erwin Pröll zehn Jahre zuvor geschwärmt hatte. „Das Museum mache Geschichte erlebbar und sei ein Symbol dafür, dass Probleme der Gegenwart und der Zukunft nur im Sinne des Miteinanders und der Toleranz lösbar sind“,82 zi78 Karl Franc, zitiert nach Jilch, Millimetternich (wie Anm. 7). 79 Zweites Gästebuch des Dr. Engelbert Dollfuß-Museums, ab Mai 2008. 80 Gob, Mémoire, 10 (wie Anm. 48). 81 Rosner, Millimetternich, 6 (wie Anm. 42). 82 Bauernbund Niederösterreich (wie Anm. 4).

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tierte er Pröll weiter. Im Gegensatz zu diesen Behauptungen steht fest, dass ein Museum, das gleichzeitig als Andachtsstätte konzipiert wurde, eine solche differenzierte Sicht nicht anbieten kann. Anstelle des vorgegebenen neutralen Blicks im Sinne einer „historic-political correctness“ würde eine aufklärerische und nach größtmöglicher Objektivität strebende Ausstellung über Dollfuß’ Politik, Ideologie und Wirken die Bemühung erfordern, diesbezügliche kontroverse Deutungsmuster zu dokumentieren.83 Fraglich bleibt, ob im Hinblick auf die Kontroversen über Dollfuß ein Personenmuseum diese Aufgabe erfüllen kann, da dieses leicht in eine Pilgerstätte für AnhängerInnen umgedeutet werden kann. Die heutige Geschichtspolitik hinsichtlich des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes ist geprägt von einer scharfen Diskrepanz zwischen evidenten Fortschritten, wie zum Beispiel in Schulbüchern, und einer im Dollfuß-Museum abermals bewiesenen parteipolitischen Unfähigkeit zum kritischen Hinterfragen. Das Texingtaler Museum hinterlässt lediglich den Eindruck, dass die 1930erJahre eine der dunkelsten Epochen der österreichischen Zeitgeschichte waren, in Bezug auf Dollfuß’ Verantwortung und Schuld an der Zerstörung der Demokratie klafft jedoch eine geschichts- und gedenkpolitische Lücke. An der Grenze zwischen kommunikativem Kurzzeitgedächtnis und kulturellem Langzeitgedächtnis sollten im Gegensatz dazu sakrale Gemeinplätze über Engelbert Dollfuß durch vernünftige, sachlich begründete Analysen ersetzt werden, wenn man verhindern will, dass der Mythos um Dollfuß die Bedeutung und die Folgen seiner Politik und Ideologie im künftigen kollektiven Gedächtnisspeicher Österreichs überdeckt. Das Dollfuß-Museum, anstatt diese Lücke zu füllen, macht sie umso sichtbarer und offenbart zugleich das Desiderat einer sachlichen und kritisch-distanzierten Musealisierung der Zwischenkriegszeit in Österreich, die dieser bildungspolitischen und emanzipatorischen Verantwortlichkeit endlich gerecht wird.

83 Nur solch eine Ausstellungspraxis wäre für den Museumspädagogen Andreas Urban besucherorientiert und durchschaubar. Siehe dazu  : Andreas Urban, Rettung der Vergangenheit – Verlust der Gegenwart  ? Museumskultur in der Postmoderne, in  : Sabine Horn (Hg.), Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Stuttgart 2009, 70–79, hier 76f.

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Essen spielt nicht nur im Alltag, sondern auch im Kontext kulturellen Gedächtnisses eine besondere Rolle. Individuelle wie kollektive Wahrnehmungen der Vergangenheit sind (in vielerlei Hinsicht) oft engstens mit Essen verbunden – Prousts Madeleine ist nur eines der markantesten Beispiele. Das gegenseitige Verhältnis von Essen und Gedächtnis dürfte daher reif für einige grundsätzliche theoretische Überlegungen sein. Gerade auch in Österreich kommt dem Essen eine besondere Bedeutung zu. Lebensmittel, Rezepte und Orte, sogar spezielle Begriffe werden zu Symbolen, Erinnerungen und letztlich Ankerpunkten von Identitäten  : Tiroler Speck, Kärntner Kasnudeln, Wiener Schnitzel, Wirtshäuser, Kaffeehäuser, Heurige oder Würstelstände, Paradeiser, Obers, Erdäpfel und Marillen sind Teil des Selbstbilds vieler Österreicher/innen und vor allem einer stark kulinarisch geprägten Regionalität. Es kann daher kaum überraschen, dass Essen immer wieder auch in österreichischen Museen zum Thema wird. Überraschend mag vielmehr sein, dass es bis heute nicht mehr solcher Ausstellungen gegeben hat, und vor allem, wie unterschiedlich der Zusammenhang zwischen Identität und Essen in den einzelnen Ausstellungen thematisiert bzw. nicht thematisiert wurde. In Österreich fanden im vergangenen Jahrzehnt mehrere Ausstellungen statt, die sich mit diversen Aspekten des Essens beschäftigt haben. Anhand von vier Beispielen geht dieser Beitrag paradigmatisch den Zusammenhängen zwischen Essen, Identität, Gedächtnis und Zeitgeschichte nach – auch wenn diese in den behandelten Ausstellungen oft nur indirekt oder zwischen den Zeilen zur Sprache kamen  : Die Sinalco-Epoche (Wien Museum, 2005),1 Im

Der vorliegende Text entstand während eines Forschungsaufenthalts am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte IKT der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ÖAW in Wien, der durch das Lise-Meitner-Programm des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung FWF ermöglicht wurde. Mein Dank gilt dem FWF sowie dem IKT, namentlich Moritz Csáky, Michael Rössner und Heidemarie Uhl, darüber hinaus vor allem Peter Stachel, Bernadette Harrant und Dirk Rupnow für ihren Einsatz beim Korrekturlesen. 1 Susanne Breuss (Hg.), Die Sinalco-Epoche. Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945, Wien 2005.

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Wirtshaus (Wien Museum, 2007),2 Mahlzeit  ! (Oberösterreichische Landessausstellung, 2009)3 und Geschmackssache (Technisches Museum Wien, 2009)4 stellten Zeitgeschichte – wenn auch manchmal unbemerkt – durch die Präsentation von kulinarischen Gewohnheiten, Lebensmitteln und den dazugehörigen technischen Hintergründen dar. Im Folgenden wird nach den Geschichten gefragt, die den Besucher/innen im Rahmen dieser Ausstellungen angeboten wurden, und nach der Art und Weise, wie die Kurator/innen mittels Essensgeschichte über Österreich im 20. und 21. Jahrhundert erzählen. Essen und Erinnerung sind sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene eng miteinander verknüpft. In den letzten Jahren wurde dem Essen aus soziokultureller sowie aus kulturhistorischer Perspektive immer mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil.5 Der sogenannte quality turn6 und 2 Ulrike Spring (Hg.), Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit, Wien 2007. 3 Roman Sandgruber/Hannes Etzlstorfer/Christoph Wagner (Hg.), Mahlzeit  ! Oberösterreichische Landesausstellung/Stift Schlierbach, Linz 2009. 4 Roswitha Muttenthaler/Elisabeth Limbeck-Lilienau/Gabriele Zuna-Kratky (Hg.), Geschmackssache. Was Essen zum Genuss macht, Wien 2008. 5 Bernd Michael Andressen, Barocke Tafelfreuden. Tischkultur an Europas Höfen, Niedernhausen/Ts. 2001  ; Priscilla Ferguson, Accounting for taste  : The triumph of French cuisine, Chicago 2004  ; Susanne Freidberg, French beans and food scares. Culture and commerce in an anxious age, New York 2004  ; Darra Goldstein/Kathrin Merkle/Fabio Parasecoli/Stephen Mennell (Hg.), Culinary cultures of Europe. Identity, diversity and dialogue, Straßburg 2005  ; Kathleen Guy, When champagne became French. Wine and the making of a national identity, Baltimore 2003  ; Gunther Hirschfelder, Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt a.M. 2005  ; Josée Johnston/Shyon Baumann, Democracy versus Distinction. A Study of Omnivorousness in Gourmet Food Writing, in  : American Journal of Sociology 113 (2007) 1, 165–204  ; Jennifer A. Jordan, The Heirloom Tomato as Cultural Object, in  : Sociologia Ruralis 47 (2007) 1, 20–24  ; Stephen Mennell, All manners of food. Eating and taste in England and France from the Middle Ages to the present, Urbana/ IL 1996  ; Massimo Montanari, Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, München 1995  ; Kevin Morgan/Terry Marsden/Jonathan Murdoch (Hg.), Worlds of food. Place, power, and provenance in the food chain, Oxford 2006  ; Michael Pollan, The omnivore’s dilemma. A natural history of four meals, New York 2006  ; Norbert Schreiber, Wie schmeckt Europa  ?, Klagenfurt 2009  ; Hans Jürgen Teuteberg/Gerhard Neumann/Alois Wierlacher/Eva Barlösius (Hg.), Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin 1997  ; Bernhard Tschofen, On the Taste of the Regions. Culinary Praxis, European Politics and Spatial Culture – A Research Outline, in  : Anthropological Journal of European Cultures 17 (2008) 1, 24–53. 6 Laura Raynolds, Mainstreaming Fair Trade Coffee. From Partnership to Traceability, in  : World Development 37 (2009) 6, 1083–1093  ; Keith Warner, The Quality of Sustainability. Agroecological Partnerships and the Geographic Branding of California Winegrapes, in  : Jour-

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die Verbindung zwischen Essen und Identität7 stellen zwei besonders aktiv beforschte Bereiche dar. Viele Untersuchungen zum Thema kollektives Gedächtnis beschäftigen sich selbstverständlich weiterhin mit großer Politik, mit Krieg und Tod.8 Das blutige 20. Jahrhundert hat die theoretischen und empirischen Arbeiten dieser Forschungsrichtung sehr stark geprägt. Aber auch Essensgewohnheiten sagen einiges über kollektives Gedächtnis und Identität sowie über das alltägliche Erleben von Produktion und Konsum aus, wie eine kleinere Gruppe von Forscher/innen aus unterschiedlichen Disziplinen – Geschichtswissenschaft, Soziologie, Anthropologie und Geografie – zeigen kann. Es sind essenzielle Fragen, die in der Fachliteratur zu Zeitgeschichte und kollektivem Gedächtnis immer noch vernachlässigt werden. Der Gedanke, Essen im Museum zu präsentieren, ist vom Trend hin zur Alltagsgeschichte (besonders von Fernand Braudel und der „Annales“-Schule) beeinflusst.9 Essen und mit Essen verbundene Erinnerungen sind höchst persönlich (die Küche der Großmutter, das Pausenbrot für die Schule), aber zunal of Rural Studies 23 (2007) 2, 142–155  ; Elizabeth Barham, Translating terroir. The global challenge of French AOC labeling, in  : Journal of Rural Studies 19 (2003) 1, 127–138  ; Sarah Bowen/Ana Valenzuela Zapata, Geographical indications, terroir, and socioeconomic and ecological sustainability. The case of tequila, in  : Journal of Rural Studies 25 (2009) 1, 108–119  ; Kelly Donati, The Pleasure of Diversity in Slow Food’s Ethics of Taste, in  : Food, Culture and Society 8 (2005) 2, 227–242  ; Daniel W. Gade, Tradition, Territory, and Terroir in French Viniculture. Cassis, France, and Appellation Controlee, in  : Annals of the Association of American Geographers 94 (2004) 4, 848–867  ; Julie Guthman, Agrarian dreams. The paradox of organic farming in California, Berkeley 2004  ; Serena Milano/Anya Fernald/Piero Sardo, A World of Presidia. Food, Culture and Community, Bra 2004. 7 Alan Warde. Imagining British Cuisine  : Representations of Culinary Identity in the Good Food Guide, 1951–2007, in  : Food, Culture and Society 12 (2009) 2, 151–171  ; Karen Hess/Samuel G. Stoney, The Carolina rice kitchen. The African connection, Columbia/SC 1992  ; Rainer Horbelt/Sonja Spindler, Die deutsche Küche im 20. Jahrhundert von der Mehlsuppe im Kaiserreich bis zum Designerjoghurt der Berliner Republik. Ereignisse, Geschichten, Rezepte, Frankfurt a.M. 2000. 8 Jennifer A. Jordan, Landscapes of European Memory. Biodiversity and Collective Remembrance, in  : History and Memory [im Erscheinen]  ; Jay Winter, Remembering war. The Great War between memory and history in the twentieth century, New Haven 2006  ; JayWinter/ Blaine Baggett, The Great War and the shaping of the 20th century, New York 1996  ; Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999  ; Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. 9 Fernand Braudel, Capitalism and material life, 1400–1800, London 1974  ; Fernand Braudel, Civilization and capitalism, 15th–18th century, Berkeley 1992.

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gleich auch in höchstem Maße sozial geprägt (kollektive und generationelle Erinnerungen an Knappheiten und Trends, an Genüsse und neue kulinarische Entdeckungen). Gewisse Lebensmittel oder Produkte können repräsentativ für eine ganze Gesellschaft sein oder für eine bestimmte Region oder eine Stadt stehen. Essen ist in Österreich – und eigentlich fast überall – identitätsstiftend, aber auch immer umstritten, sehr persönlich und individuell, aber stets auch kollektiv und gesellschaftlich bestimmt.

Essen in Museen  : ein Überblick Weltweit gibt es zahlreiche Museen, die sich mit Essen, oft auch mit besonderen Produkten beschäftigen  : so zum Beispiel das Olivenmuseum in Imperia, Italien  ; das Schokoladenmuseum in Brügge, Belgien  ; das Alimentarium in Vevey, Schweiz (von Nestlé gesponsert)  ; die Culinary Archives and Museum in Providence, Rhode Island  ; das New York Food Museum  ; das Southern Food and Beverage Museum in New Orleans  ; das Shin-Yokohama Ramen-Museum in Japan  ; das Safran-Museum in Boynes, Frankreich  ; Agropolis in Montpellier  ; das Currywurst-Museum in Berlin  und das Museum der Brotkultur in Ulm. In Letzterem wird ganz direkt Zeitgeschichte thematisiert, zum Beispiel in einer 2010 veranstalteten Ausstellung über Brot und politische Plakate  : „Die Plakatausstellung aus eigenen Beständen belegt eindrucksvoll, welch zentralen Platz der Kampf um das tägliche Brot (Sicherung der Grundbedürfnisse, Arbeit, Freiheit und Frieden) in der Agitation und Propaganda bis in die jüngste Vergangenheit einnahm.“10 In Österreich gibt es zudem Museen für Gulasch und Schnaps, Brot und Getreide, zahlreiche Schaukäsereien und Käse-Museen. Essen kommt zudem oft in Freilichtmuseen vor, allerdings nur relativ selten in Verbindung mit Zeitgeschichte, da sich Einrichtungen dieser Art in der Regel mit länger vergangenen Epochen beschäftigen.11 In österreichischen 10 , 12. 3. 2010. Umfangreiche Lis­ten von solchen Museen sind auf der Website zu finden. 11 Eva Reinecker, Lebenswelten im Freilichtmuseum zwischen historischer Realität und musealer Inszenierung, Mag. phil. Innsbruck 2008  ; Georg Waldemer, Freilichtmuseen. Geschichte – Konzepte – Positionen, München 2006  ; Helmut Keim, Glentleiten. Ein Spaziergang durch das Freilichtmuseum des Bezirks Oberbayern, München 1996  ; Michael Becker/Monika Gaurek, Führer durch das Salzburger Freilichtmuseum, Großgmain 2002  ; Leen Boot/Alway Jansen (Hg.), Führer, Nederlands Openluchtmuseum, Arnhem 2000  ; Heike Duisberg, Living History

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Museen werden Besucher/innen immer wieder mit dem Thema konfrontiert, aber auch hier liegt der Schwerpunkt meistens auf der Darstellung früherer Zeiten wie bei den Ausstellungen Um die Wurst. Vom Essen und Trinken im Mittelalter im Wien Museum (2005)12 oder Küchenkunst und Tafelkultur  : Kulinarische Zeugnisse aus der Österreichischen Nationalbibliothek (2006).

Vier Ausstellungen in Österreich Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen vier große Ausstellungen, die in den letzten Jahren in Österreich stattfanden und sich mit Essen beschäftigten.13 Alle vier setzen große politische Ereignisse mit den privaten Bereichen von Kochtopf und Esstisch in Verbindung. In fast jeder dieser Ausstellungen spielen der Zweite Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit eine besondere Rolle – als Ausgangspunkt, als Maßstab oder als Referenz, um im Vergleich alles, was später kam, besser aussehen zu lassen. Jede dieser Ausstellungen entwickelte ein eigenes Narrativ über Österreich im 20. und 21. Jahrhundert  ; Kurator/innen und Expert/innen produzierten Botschaften und „take-home messages“. Essen ist, wie diese Ausstellungen zeigen, nicht nur eine Quelle von Leben und Freude, sondern auch mit Sorgen und Erfahrungen schwieriger Zeiten verbunden. Tatsächlich lasten diese mehr oder weniger explizit auf jeder dieser vier Ausstellungen. Vor diesem Hintergrund könnte man leicht vermuten, dass die kulinarische Erinnerung und Identität Österreichs zutiefst von dem Gegensatz zwischen Knappheit und Überfluss (bzw. Genuss) geprägt ist. in Freilichtmuseen. Neue Wege der Geschichtsvermittlung, Rosengarten-Ehestorf 2008  ; Karl Eisner, Das Kärntner Freilichtmuseum in Maria Saal. Museumsführer, Klagenfurt 1979  ; Richard Handler/Eric Gable, The new history in an old museum. Creating the past at Colonial Williamsburg, Durham/NC 1997  ; Ute Freier/Peter Freier, Freilichtmuseen in Deutschland und seinen Nachbarländern, München 2000  ; Scott Magelssen, Living history museums. Undoing history through performance, Lanham/MD 2007. 12 Reinhard Pohanka (Hg.), Um die Wurst. Vom Essen und Trinken im Mittelalter (Ausstellung im Wien Museum, 2. Juni 2005 bis 8. Januar 2006), Wien 2005. Siehe auch  : Jagdzeit. Österreichs Jagdgeschichte, Wien 1996  ; Ramesh Kumar Biswas (Hg.), Götterspeisen, Wien 1997. 13 Selber konnte ich zwei der vier Ausstellungen besuchen  : Geschmackssache und Mahlzeit  !. Mein Kommentar zu allen Ausstellungen basiert auf den Katalogen, die viele Bilder der Ausstellungsobjekte sowie zahlreiche begleitende Texte enthalten. Die Kataloge selbst sind, dem Thema entsprechend, meist sehr aufwändig gestaltet  : mit detailliert und witzig erzählten Geschichten, Beiträgen von Expert/innen und vor allem üppigen Abbildungen.

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Die Sinalco-Epoche Die Ausstellung Die Sinalco-Epoche  : Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945 fand 2005 im Wien Museum statt. Das Wien Museum fungiert als Landesmuseum der Bundeshauptstadt und widmet sich der Stadtgeschichte. Neben der Dauerausstellung werden in Wechselausstellungen unterschiedliche Aspekte der Stadtgeschichte beleuchtet. Das Museum befindet sich im Zentrum der Stadt am Karlsplatz und verfügt über einige Außenstellen sowie über äußerst umfangreiche und vielfältige Sammlungen, von Fundstücken aus der Römerzeit bis hin zu moderner Kunst. Die Sinalco-Ausstellung macht deutlich, dass Zeitgeschichte nicht nur durch die Darstellung politischer Ereignisse und wirtschaftlicher Veränderungen erzählt und ausgestellt, sondern auch durch Essen – quasi durch den Magen – verständlich gemacht werden kann. Anders als bei den Ausstellungen Geschmackssache und Mahlzeit  !, in denen Essen von einem allgemeinen Standpunkt aus behandelt werden soll, aber tatsächlich im Wesentlichen auf Österreich fokussiert bzw. zwischen Verallgemeinerung und einem konkreten Österreich-Bezug geschwankt wird, wird in ihr dezidiert auf Wien verwiesen. Wolfgang Kos, Direktor des Wien Museums, verweist im Katalog jedoch auf eine Konstante für alle genannten Ausstellungen  : So sind „alle Besucher und Besucherinnen […] tendenziell Zeitzeugen, weil alle, die für eine Ausstellung über Essen, Kochen und Einkaufen in den Jahrzehnten nach 1945 Interesse verspüren, authentische Erinnerungen abrufen können, zumindest in zweiter oder dritter Generation.“14 Die Kurator/innen gehen somit scheinbar von einem österreichischen und vielleicht sogar hauptsächlich Wiener Publikum aus. Als US-Amerikanerin hat man schließlich nur wenige „authentische Erinnerungen“ dieser Art, die abrufbar wären. In der Einleitung zum Katalog führt Kos weiter aus  : „Der Zeitraum, den diese Ausstellung behandelt, umfasst ungefähr dreißig Jahre. Sie setzt bei der Mangelwirtschaft der 1940er-Jahre ein und reicht bis zur Wohlstandsgesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre. Gezeigt wird, wie stark die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Österreichs im kollektiven wie im individuellen Gedächtnis mit dem Essen und mit kulinarischen

14 Breuss, Sinalco-Epoche, 12 (Wolfgang Kos, Die Ziege in der Küche. Zu einem Ausstellungsprojekt des Wien Museums) (wie Anm. 1).

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Sehnsüchten verknüpft ist. Paradigmatisch wird die Ernährungs- und Konsumgeschichte am Beispiel der Großstadt Wien erzählt.“15

Keine der anderen Ausstellungen machte so explizit, worum es eigentlich geht  : In diesem Fall um das Wien der Zweiten Republik. Eingebettet war die Sinalco-Ausstellung in den Rahmen des österreichischen Jubiläumsjahres 2005 und „handelt also vom existenziellen Kern der Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik“.16 Zeitgeschichte wird durch Getränke-Flaschen, Gurkengläser und Kochbücher erzählt. Kos legt dabei offen, welche besondere Herausforderung es bedeutet, Objekte für eine solche Ausstellung zu finden, handelt es sich dabei doch um Dinge, die einmal höchst alltäglich waren. Nur selten wurden bisher Lebensmittelverpackungen, Flaschen, Supermarktbroschüren usw. überhaupt systematisch gesammelt. Viele Ausstellungsgegenstände stammten dementsprechend von Privatsammlern sowie von „Sammlungen in Firmen und Ämtern“.17 Die Objekte deckten ein breites Spektrum ab  : eine selbst gemachte Einkaufstasche aus Lederresten, Saccharin-Packungen, US-amerikanische Dosen voller Gänsefett oder Milchpulver. Untergliedert war die Ausstellung in folgende Kapitel  : Hungern und Aufbauen, Kultivierte Genüße, Ernähren und Kochen, Kaufen und Verkaufen, Kühlen und Erfrischen, Beschleunigung (Espressos, Automaten, Fast Food und Fertigprodukte), Eigenes und Fremdes. Besondere Berücksichtigung fand dabei die Rolle von Frauen, insbesondere von Hausfrauen, im Bezug auf Essen, Kochen und Konsumieren  : „Im Material, das in der Ausstellung zu sehen ist, manifestieren sich – bildsprachlich mehr oder weniger subtil – geschlechtliche Rollenzuschreibungen und Machtverhältnisse zwischen Frau und Mann.“18 Die genannten Ausstellungen streben das „kulinarische Erzählen“ von Zeitgeschichte an, und dabei spielt der Zweite Weltkrieg eine zentrale Rolle. Auch wenn es, laut Kos, in Bezug auf Essen keine „Stunde Null“ gab, sind die Mangelwirtschaft und die politische und gesellschaftliche Zäsur des Kriegs der dominante Kontext, in den der Alltag – Einkaufen, Kochen, Essen – gestellt wird. In mehreren dieser Ausstellungen sind beispielsweise Lebensmittelmarken aus der Nazizeit, mit Hakenkreuzen verziert, und aus der Nachkriegszeit ausgestellt  : materielle Spuren dieser harten Zeiten. Darüber hinaus wird ersicht15 Ebd., 13. 16 Ebd., 14. 17 Ebd., 19. 18 Ebd., 17.

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lich, dass auch Essen mit politischer Erinnerung beladen sein kann  : „Wehe, wenn irgendwo eine Speisekarte entdeckt wurde, auf der ‚Sahne‘ stand  ! Alle patriotischen Reflexe wurden aktiviert  : Österreich sei nicht mehr preußisch  ! […] Österreich isst und ist Schlagobers  !“19 Etwas Alltägliches wie ein Milchprodukt wird zum Brennpunkt nationaler Identität. Beleuchtet wird zudem die Bedeutung, die der Stadt zukommt – die Straßen, Geschäfte, Wohnungen und Wirtshäuser der Stadt, in denen sich diese kulinarische Zeitgeschichte abspielt. Der „Greißler“ oder der Supermarkt sind ebenso Orte des Erinnerns und Vergessens wie Kaffeehäuser oder „Beiseln“. Nach der Lektüre des Katalogs geht man mit anderen Augen durch die Stadt  : mit viel mehr Aufmerksamkeit für die wenigen übrig gebliebenen Greißler, für die feinen Unterschiede zwischen dem (vergleichsweise modern ausgestatteten) Café Prückl und dem Espresso in der Burggasse, den Konkurrenten der traditionelleren Kaffeehäuser (die schon in den 1950er-Jahren aufgrund solcher modernerer Lokale bedroht waren). Vergeblich suchte ich auf der Mariahilfer Straße das Restaurant aus Reinhard Pohankas Aufsatz „Wenn du brav bist …  ! Die Quisisana – mein amerikanischer Traum auf der Mariahilfer Straße“, ein in den 1960er-Jahren höchst modernes Automatenrestaurant, eine mittlerweile verschwundene Spur vergangener Praktiken von Essen und Verweilen. Technologie ist ebenso ein Thema, besonders prominent in Geschmackssache  ; Kühlschränke und Espresso-Maschinen, Mixer und Mikrowellen spielen aber auch in der Sinalco-Epoche eine große Rolle. Dargestellt wird so, wie die großen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts auch Alltag und Esstisch geprägt haben.

Im Wirtshaus Eine weitere Ausstellung des Wien Museums, die sich ebenfalls intensiv mit der kulinarischen Landschaft der Stadt beschäftigte, war Im Wirtshaus (2007). Dabei war zunächst zu klären, was ein Wirtshaus überhaupt ist  : „‚Was ist das Wiener Wirtshaus  ?‘ ist folglich eine Frage, die die BesucherInnen durch die ganze Ausstellung begleiten wird und auf die es viele Antworten, aber keine einzige gültige Antwort gibt“, so die Kuratorin und Katalogredakteurin Ulrike Spring.20 Und weiter  : 19 Ebd., 12. 20 Spring, Wirtshaus, 18 (wie Anm. 2).

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„Die Ausstellung konzentriert sich auf die Zeit vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, auf jene Jahrhunderte, in denen sich die Trennung von Arbeit und Freizeit für alle Schichten der Bevölkerung vollzog, in denen sich die strikte soziale Differenzierung entlang von Klassengrenzen zunehmend auflöste und etliche Wirtshaustypen entstanden, die als direkte Vorläufer der heutigen Wirtshauskultur gelten können.“21

Fragen, die zusätzlich im Blickpunkt der Ausstellung standen, waren  : „Welche Rolle nimmt die Frau in dem von Männern und Patriarchatskultur dominierten Wirtshausraum ein  ? Gibt es Alternativen zur Fleischdominanz auf der Menütafel, oder ist die Wirtshausküche ohne Fleisch undenkbar  ? Wie sehr entspricht die Vorstellung des Gastraumes, in dem vom Arbeiter bis zum Hofrat einander alle treffen, der Realität  ?“

Evident ist, dass die Kurator/innen das Wirtshaus als Ausdruck Wiener Identität verstehen. Wolfgang Kos und Ulrike Spring haben für die Ausstellung zehn Kennzeichen des Wirtshauses ausgewählt  : Schank und Kühlwand, Wandverkleidung, Brett mit Haken, Raumteiler, Holztisch und kariertes Tischtuch, Wirt, Schwarze Tafel, Seidel und Glaserl, Würzensemble und Stammtischzeichen. Wie in der Sinalco- und den anderen genannten Ausstellungen werden Objekte gezeigt, die materiell nicht von besonderem Wert sind und die möglicherweise im Laufe der Jahre verschwinden, weil sie nicht von Sammlern, ob privat oder institutionell, gesammelt werden. Vieles bleibt überhaupt unausstellbar  : Erst mit der Zeit, nicht von heute auf morgen, sondern Schicht um Schicht sammelt sich im Wirtshaus ein Ensemble aus Gebrauchsspuren und Alltagsobjekten an, eine Patina entsteht. Dem Wirtshaus entspricht zudem ein spezifischer Habitus seitens des Wirts und der Gäste, der sich über die Jahre und Jahrzehnte hinweg kaum verändert hat. Auch hier ist die Frage von Bedeutung, ob die Besucher/innen relevante Erinnerungen bereits in die Ausstellung mitbringen. Die Tatsache, dass sie in Wien konzipiert wurde und stattfand und die Kurator/innen daher davon ausgehen konnten, dass viele Besucher/innen Wiener/innen bzw. Österreicher/innen sein würden, ermöglichte es, Erinnerungen und Vorwissen vorauszusetzen. Für ein anderes, ausländisches Publikum und einen anderen Ausstellungsort hätte die Präsentation wohl anders gestaltet werden müssen. 21 Ebd., 21.

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Zeitlich ging die Ausstellung bis in die Römerzeit zurück, bis zum „ältesten gastronomischen Betrieb Wiens“, am heutigen Rennweg gelegen, aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung.22 Die Objekte reichten von römischen Kochtöpfen über barocke Bierkrüge bis zu Bierdeckeln aus den 1950er-Jahren. Gemälde und Zeichnungen aus mehreren Jahrhunderten sowie zahlreiche Fotos (meistens in Schwarz-Weiß), die sowohl die Gaststuben als auch die Wirtshäuser von außen zeigten, ermöglichten, das Wirtshaus im Stadtbild als etwas spezifisch Wienerisches zu verorten. Auch dem Personal und der Küche wurde Aufmerksamkeit geschenkt, daneben kamen Alkoholismus, Fleischeslust, Musik, Glücksspiel, „Geschlechter-Inszenierungen“, Graffiti, Stammtische, Klograffiti, „Sandler im Wirtshaus“, Politik im Wirtshaus (einschließlich Fotos von illegalen Treffen der NSDAP) vor. Da das Wirtshaus in seiner jetzigen Form vor allem ein Produkt des 19. und 20. Jahrhunderts ist, stand dieser Zeitraum im Zentrum der Ausstellung. Natürlich spielte auch das Essen selber eine wichtige Rolle  : „Im Großen und Ganzen ist das, was heute unter Wiener Küche verstanden wird, ein Produkt des 19. Jahrhunderts, auch wenn einzelne Küchentraditionen weiter zurückreichen. Gerichte wie das Backhendl waren bereits im frühen 19. Jahrhundert sehr beliebt, andere wie das Wiener Schnitzel wurden erst gegen Ende des Jahrhunderts unter ihrer heutigen Bezeichnung populär. Viele der typischen Wirtshausspeisen sind also noch gar nicht sehr alt, trotzdem gilt das Wirtshaus als ein Ort, an dem ‚ein Gulasch, ein Krenfleisch, eine Rindsuppe, wie Denkmäler sind‘ [Peter Kubelka]. Und dort, wo Tradition herrscht, ist der Begriff nicht weit. Heimat im kulinarischen Sinn, das ist – so wird immer wieder betont – die häusliche Küche und die Wirtshausküche, weniger die gehobene Gastronomie, die sich stark an internationalen Standards und Trends orientiert. In einem Wiener Wirtshaus, das so manchem Stammgast tatsächlich als Heimat gilt, darf das Essen nicht ‚fremd‘ schmecken – trotz aller multikultureller Wurzeln, auf denen die Wiener Küche beruht.“23

Gerade die äußerst streng verteidigte „Heimatküche“ in den Wirtshäusern ist signifikanterweise internationalen Ursprungs (böhmisch, mailändisch, ungarisch usw.). Auffallend ist, wie schnell solche Importe und Transfers zu Traditionen werden können und völlig unreflektiert als solche dann verteidigt werden gegen neue Einflüsse und Entwicklungen  : 22 Ebd., 70. 23 Ebd., 170f.

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„‚Heimatküche‘ versus ‚Fremdenküche‘ – in dieser Debatte waren und sind auch immer wieder chauvinistische Töne zu hören, wie etwa jüngst in einer Presseaussendung der FPÖ, in der gefordert wurde, die ‚traditionsbewusst kochende Gastronomie‘ stärker zu fördern, um dem ‚Wildwuchs von KebabBuden‘ Einhalt zu gebieten.“24

Der Katalog der Wirtshaus-Ausstellung zeigt in liebevollen Details, worin das Gefühl des Zuhause-Seins zum Ausdruck kommt und was dem Wirtshaus den Charakter des Heimischen bzw. des Heimatlichen verleiht. Dass es beinahe Wohnzimmeratmosphäre hat, ist für den einen das Schönste, für „die Anderen“ aber kann gerade darin ein Moment der Ausgrenzung begründet liegen. Wie Wolfgang Kos schreibt, liegt „für Touristengruppen […] das Wirtshaus bis heute nicht auf der Pflichtroute, vom ‚Figlmüller‘-Schnitzel vielleicht abgesehen“.25 Dafür gibt es vermutlich einen Grund. Die Wirtshäuser, die besonders intim sind, erscheinen Außenstehenden nicht immer einladend. Was für manche ein wichtiger Teil des Alltags und der eigenen Identität ist, kann auf andere unfreundlich oder sogar bedrohlich wirken  : „Zwischen Stehschank und Extrazimmer kommt man der Wirklichkeit des ‚Wienerischen‘ auf die Spur, das sich hier differenzierter und unverstellter zeigt.“26 Wieder geht das Wien Museum ganz offen mit Identität und Zeitgeschichte um und „tells it like it is“  : „Der beliebte Spruch, dass man im Wirtshaus ‚wia z’Haus‘ sei, ist ein Hinweis darauf, dass Stammgäste im Wirtshaus Heimatrecht beanspruchen.“27 Aber gerade das Familiäre kann zugleich das Ausgrenzende sein. Man fühlt sich zu Hause, weil man unter sich ist, „Fremde“ können stören. Das Wirtshaus kann ein wichtiges Element des Alltags und der Identität sein – es ist symbolträchtig und identitätsstiftend, aber zugleich auch ausgrenzend. Ingrid Haslinger verweist etwa auf die Entstehung koscherer Wirtshäuser in Wien  : „Der jüdischen Bevölkerung Wiens war es ursprünglich verboten, gewöhnliche Wirtshäuser aufzusuchen.“28 Das Wirthaus hat eine lange Tradition des Ausschließens, als Ort der strikten Trennung zwischen „wir“ und „den Anderen“. Dementsprechend etablierte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine eigenständige jüdische Wirtshauskultur mit zahlreichen koscheren Res­ 24 Ebd., 171. 25 Ebd., 12. 26 Ebd., 12. 27 Ebd., 12. 28 Ebd., 188.

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taurants. Im Hinblick darauf wirken bestimmte generalisierende Aussagen irritierend  : „Wirtshausküche ist ‚Heimatküche‘. Sie bietet das Bekannte und Vertraute, und sie stiftet Identität über den Magen.“29 Dies mag der Fall sein, hier wäre aber wohl gerade aufgrund der auch exkludierenden Aspekte eine klarere Differenzierung und Konkretisierung angebracht. Das trifft nicht zuletzt auch auf die Stellung von Frauen zu, die zu Recht ebenfalls thematisiert wird  : „Das Wirtshaus ist ein geschlechtlich kodierter Raum der Geselligkeit. Der klassische Wirtshausbesuch mit Stammtisch und Trinkritualen gilt als männlich besetzt – das ‚Damenkränzchen‘ trifft sich in der Konditorei.“30 Beiden Ausstellungen des Wien Museums gelingt es, die Stadt oder besser gesagt  : das Städtische miteinzubeziehen. Wie es bei einem Stadtmuseum vielleicht zu erwarten ist, kommt man in den Aufsätzen, Ausstellungstexten und Objekten nicht nur der Geschichte, sondern auch der Stadt auf die Spur. Viel zu oft schweben Ausstellungen und Ausstellungsobjekte (und natürlich auch viele wissenschaftliche Arbeiten) zwar nicht zeitlos, aber doch raum- und ortlos in der zeitgeschichtlichen Luft. Bei beiden Ausstellungen ist die kulinarische, essbare Zeitgeschichte jedoch sorgfältig geerdet und verortet. Auch die jüngeren Veränderungen der Wirtshauskultur werden thematisiert  : Sie werden teurer, manchmal weniger familiär, dadurch aber vielleicht gelegentlich auch offener. Diese Entwicklungen können in Einzelfällen sehr unterschiedlich sein und sind wohl nicht zuletzt auch von der Lage des Wirtshauses abhängig. Insgesamt aber scheint zu gelten  : „Die Wiener Wirtshauskultur, ob traditionell oder nouvelle, gedeiht wie schon lange nicht mehr. Eine Institution, die vor allem für das Notwendige zuständig war, ist zu einem wichtigen Faktor der gastronomischen Erlebniskultur und einer generellen Ästhetisierung der Alltagswelt geworden.“ Kos verbindet denn auch noch einmal das Thema der Ausstellung explizit mit der Zeitgeschichte  : „Eine These dieser Ausstellung lautet folglich  : Wirtshausgeschichte ist immer Zeitgeschichte.“31 Wirtshäuser spiegeln zwar ganz offensichtlich Zeitgeschichte wider, sind aber – das sollte nicht vergessen werden – eine „erfundene Tradition“ und (in der jetzigen Form) nicht so alt, wie gelegentlich angenommen. Museen wirken selber mit an ihrer Kanonisierung und öffentlichen Wahrnehmung  : Die Ausstellung zeigt, wie Wirtshäuser Identität stiften, und stiftet damit selbst Identität. 29 Ebd., 190. 30 Ebd., 260. 31 Ebd.

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Mahlzeit  ! Die oberösterreichische Landesausstellung Mahlzeit  ! fand 2009 im Stift Schlierbach statt. In den Räumlichkeiten des architektonisch beeindruckenden und großzügigen Baus machte es sich die äußerst umfangreiche Ausstellung (wie Landesausstellungen im Allgemeinen) zur Aufgabe, ein breites und überregionales Publikum anzusprechen  : „‚Jeder Mensch muss essen‘. Aber  : Essen ist mehr als essen. Essen ist Erlebnis, in der Holzknechthütte wie am Kaiserhof, im traditionellen Landgasthof genauso wie im Hauben-Lokal. Essen ist nicht nur physiologisch notwendig, jedes Essen ist auch Inszenierung. Was könnte sich also für eine faszinierende Landesausstellung besser eignen als das Thema Essen und Trinken. Die kulturelle Bedeutung dieses Themas, quer durch alle gesellschaftlichen Schichten, wird bereits im Ausstellungstitel ,Mahlzeit  !‘ zum Ausdruck gebracht. Mit dem hoch über dem Kremstal thronenden, aber über Oberösterreich hinaus nicht allzu bekannten Zisterzienserstift Schlierbach, ein hochbarockes Kloster, wo das gemeinschaftliche Mahl der Patres eine Jahrhunderte lange Tradition hat, wurde ein idealer Austragungsort für diese Landesausstellung gefunden.“32

Auch hier wurden Thema und Ort scheinbar eng miteinander verknüpft  : Den Anfang nahm „die Landesausstellung ,Mahlzeit‘ im prunkvoll barocken Bernardisaal, von wo aus sich den Besuchern Blicke auf die Tischkultur verschiedener Epochen, Länder und Kontinente eröffnen. Eine kritische Auseinandersetzung mit unseren Essgewohnheiten ist in weiterer Folge ebenso Teil des Ausstellungsrundgangs wie verschiedene Inszenierungen zur Tradition und Erzeugung heimischer Nahrungsmittel  ; allen voran die Kartoffel, das Kraut aber auch Most, Bier und Milch.“33

Gesamtleitung und Konzept oblagen dem Linzer Wirtschafts- und Sozialhistoriker Roman Sandgruber, dem Autor und Historiker Hannes Etzlstorfer und dem Restaurantkritiker und Kochbuchautor Christoph Wagner. Das Trio gab 32 Presseaussendung der Ausstellung, , 12.3.2010. 33 , 24.2.2010.

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auch den Ausstellungskatalog heraus und begleitete die Besucher/innen zum Teil sogar im Audioguide. Die Ausstellung selbst war in folgende große Themenbereiche unterteilt  : „Jeder Mensch muss essen“, „Der Mensch als Fresser“, „Mit allen fünf Sinnen genießen“, diverse „Kinderpfade“, „Esskultur  : Der gedeckte Tisch“, „Aufgetischt  : Feste als Festmähler“, „Mehlspeisen auf Oberösterreichisch  : Bauernkrapfen und Linzer Torte“, „Kraut & Rüben & Kartoffeln“, „Das Weinland Oberösterreich“, „Bierland Oberösterreich“, „Getreide – Unsere Lebensgrundlage“, „Unser tägliches Brot“, „Speck & Fleisch“, „Das Schlachthaus“, „Der Fisch“, „Die Welt der Milch“, „Die Globalisierung des Essens“, „Kult und Opfer in den Weltreligionen“, „Die Küche“, „Hexenmahl“, „Giftküche“, „Henkersmahlzeit“, „Die Mahlzeit“, „Stillleben  : Die tote Nahrung und das lebendige Leben“, „Die Welt voller Hunger“, „Essgewohnheiten oberösterreichischer Berühmtheiten“, „Essen im Jahres- und Lebenskreis“, „Die Zukunft der Küche – Die Zukunft der Nahrung“, „Beten um Essen. Beten ums tägliche Brot“ und schließlich „Das Schlaraffenland“. Im ersten Raum der Ausstellung wurden ein Schinken aus Plastik, ein übergroßes Modell der Venus von Willendorf, auf die Bilder projiziert wurden, sowie das Bild eines Schweinsbratens mit Semmelknödeln auf einem überdimensionalen Teller gezeigt. Der zweite Raum versammelte Botschaften über Essen und Übergewicht. Um in das nächste Zimmer gelangen zu können, wurde der Besucher – begleitet von Roman Sandgrubers Audioguide-Kommentar zu „body image“ – gezwungen, selbst auf eine Waage zu steigen (was mit ein bisschen Geschicklichkeit umgangen werden konnte). An manchen Stellen hätten Daten und Fakten besser überprüft und antiquierte Ideen vermieden werden können  : So wurden etwa gleich zu Beginn Spieß und Kochtopf zu den beiden Urformen des Kochens erklärt und mit genderrelevanter Bedeutung (Männer jagen, Frauen bleiben zu Hause) aufgeladen. Spätestens seit dem Vorliegen von Forschungsergebnissen der 1980erJahren sind solche Thesen aber pauschal nicht mehr vertretbar  : Zum einen haben viele Frauen in urmenschlichen Gruppierungen Nahrung gesammelt (oft weit entfernt von der sogenannten „Höhle“), zum anderen gibt es Hinweise darauf, dass in manchen Gruppen Frauen nebenbei gejagt haben, wenn auch nur kleinere Beutetiere. Die Darstellung solcher Urmenschen in Mahlzeit  ! basiert mehr auf Klischees als auf fundierten wissenschaftlichen Thesen. 34

34 Eine grundlegende Arbeit in diesem Zusammenhang, die die Bedeutung des Sammelns neben

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Ähnlich problematisch, weil zu eindimensional, ist eine andere Aussage Roman Sandgrubers in der Einleitung des Katalogs  : „Die längste Zeit seiner Geschichte hat der Mensch gehungert und hatte zu wenig zu essen.“35 Natürlich gab es (und gibt es immer noch) Orte, Epochen und wirtschaftliche Systeme, in denen viele Menschen Hunger leiden mussten (und immer noch müssen). Dennoch gab es immer auch Orte und Epochen, in denen es reichlich zu essen gab, selbst in Gebieten, die viele Menschen normalerweise als äußerst karg ansehen (Wüste, Arktis). Wohl nicht zuletzt aufgrund der Größe der Ausstellung waren die einzelnen Abschnitte sehr unterschiedlich detailliert, genau und konkret  : Manche Räume waren äußerst informativ, andere hingegen weniger sorgfältig gestaltet. Das galt etwa für den Schauraum „Besteck“, in dem eine beeindruckende und umfangreiche Sammlung gezeigt wurde. Leider fehlten bei vielen Exponaten genauere Angaben, wodurch die Chance, diese Sammlung angemessen zu präsentieren und die Objekte in die Geschichte einzuordnen, leider verpasst wurde. Die Ausstellung enthielt auch zahlreiche internationale Beispiele  : etwa ein „traditionelles“ Tischservice aus Indonesien mit einer Saftkanne aus Plastik (eine wirkungsvolle Art, die Durchdringung von Alt und Neu zu zeigen) oder Objekte zum Thema „Essen und Globalisierung“ in der Stiftsbibliothek (allerdings ohne Erwähnung von Kolonialismus, Machtverhältnissen, Sklaverei und anderen Themenbereichen, die mit den gezeigten Waren verbunden sind). Die internationalen Teile der Ausstellung beschäftigten sich allerdings ebenso mit den österreichischen Essgewohnheiten ausländischer Speisen (z. B. von Sushi und Tamarind). Nur wenig berücksichtigt wurden währenddessen Landwirtschaft und Gärten, mit Ausnahme eines kleinen Gartens im Stiftshof  : Zwei der vier Quadrate waren als Kräutergarten angepflanzt, zwei als Rasen. Es gab einen Brunnen, mehrere Stechpalmenbüsche sowie einen jungen Baum in der Mitte. Ein Gärtner zeigte den Besucher/innen die umfangreiche Sammlung an verschiedenen Minzsorten und erklärte, mit welcher Minze man Kasnudeln oder Mojitos zubereiten könne. Auch eine KochbuchSammlung wurde gezeigt  : Wenige Benutzer/innen von Kochbüchern denken daran, dass sie vielleicht mit zukünftigen Ausstellungsobjekten hantieren. Gerade eine Ausstellung über Essen beschäftigt sich aber mit der Transformation dem Jagen untersucht, ist weiterhin Frances Dahlberg (Hg.), Woman the Gatherer, New Haven 1983. 35 Sandgruber/Etzlstorfer/Wagner, Mahlzeit  !, 11 (Roman Sandgruber, Mahlzeit  ! Zwischen wirtschaftlicher und kultureller Dimension des Essens) (wie Anm. 3).

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eines Alltagsobjekts zum Ausstellungsobjekt. Ein Schwerpunkt durch die ganze Ausstellung hindurch behandelte die unterschiedlichen soziokulturellen Bedeutungen und Kontexte von Essen und zeigte, wie sehr Essen mit Klassenzugehörigkeit und Wohlstand verbunden ist  : Eine kaiserliche Tafel wurde der Bauernküche und der bürgerlichen Kochkultur gegenübergestellt. Daneben wurde, wie in der Sinalco-Ausstellung, auf die Bedeutung der Urbanisierung für das Essen hingewiesen. Urbanisierung verändert nicht nur wie, sondern auch was eine Gesellschaft isst, anbaut und herstellt. Mehrere narrative Stränge führten durch die Ausstellung  : oberösterreichi­ sche, österreichische und globale Geschichten. Ausgestellt wurden sowohl zeitgeschichtliche als auch ältere Objekte. Auswahl und Darstellung der jüngeren Objekte vermittelten (wie auch in den anderen hier besprochenen Ausstellungen) ein gewisses Gefühl von you’ve come a long way, baby – eine Geschichte der kulinarischen Wiederauferstehung nach schweren Zeiten. Die beiden Weltkriege wurden durch ein Kriegskochbuch, Essensmarken (aus beiden Kriegen) und ein Kleidungsstück aus dem KZ Mauthausen vertreten, mit Bezug auf die dortigen Hungerexperimente. Anschaulich wurde die rasche Veränderung des Konsums von bestimmten Lebensmitteln (wie etwa Zucker oder Erdäpfeln) nach dem Zweiten Weltkrieg grafisch dargestellt  : Die Wirtschaftswunderzeit wird in der Ausstellung als großer Bruch in der Essenskultur gezeichnet, als Kontrast zu den Kriegsjahren, die als äußerst karg dargestellt werden (obwohl die Ernährungslage der allgemeinen Bevölkerung mit der der Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge wohl kaum verglichen werden kann)  : „Das Ende der bürgerlichen Küche kam mit dem Zweiten Weltkrieg. Mangel, Entbehrungen und die furchtbaren Kriegsschäden ließen Kochkunst und Tafelkultur in Vergessenheit geraten. Was die Menschen zu jener Zeit hauptsächlich beschäftigte, war der Wunsch, sich endlich satt zu essen. […] Als sich die Versorgungslage endlich besserte und es den Haushalten möglich gewesen wäre, zu den früher gängigen Speisenfolgen zurückzukehren, hatten sich die Zeiten geändert. Viele Frauen waren berufstätig und hatten (haben) keine Zeit zum Kochen. Suppenwürfel, Konservendosen, die eigentlich für den Kriegsfall entwickelt wurden, halfen Zeit sparen und verdrängten das beinahe tägliche Zubereiten von Suppe und gekochtem Rindfleisch.“36 36 Ebd., 59–60 (Ingrid Haslinger, Wie Bürger Essen).

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Im Garten des Stifts Schlierbach, 2009 (Foto  : Jennifer Jordan)

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Eine Vitrine zeigte dementsprechend unterschiedlichste „Ersatzmittel“ aus der Kriegs- und Nachkriegszeit sowie US-amerikanische Essenspakete, die als Wegbereiter für amerikanische Produkte und Einkaufsstile (zum Beispiel im ersten Supermarkt nach US-amerikanischem Modell in Linz 1950) gelten. Überraschend ist, dass gerade an einer Ausstellung über Essen – einem Bereich, der traditionell oft Frauen zugeordnet wird – kaum Frauen in entscheidenden Positionen beteiligt waren. Die erste Frauenstimme im Audioguide war diejenige Maragarete Schütte-Lihotzkys, der Erfinderin der „Frankfurter Küche“. Die ausführliche Darstellung der Küche, kombiniert mit Schütte-Lihotzkys spannendem Kommentar, ermöglicht den Besucher/innen, sich ein Bild von der Bedeutung der Frankfurter Küche sowie der Geschichte ihres Designs zu machen. Der Katalog zur Ausstellung ist reich illustriert, informativ und versammelt mehrere internationale Beiträge. Die Autor/innen beziehen unterschiedliche Epochen und Orte ein, wobei die Texte zu Oberösterreich und zu anderen Orten in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Thematisiert werden beispielsweise die ägyptische und die biblische Küche, die Awaren, Zentralasien, der Mittelmeerraum, Afghanistan, Indonesien, die Südsee, Japan, Amazonien, Spanien und Böhmen (dessen kulinarische Tradition die österreichische Kochkunst entscheidend beeinflusste). Während die Sinalco-Ausstellung dem Essen auch im Fernsehen nachspürte (etwa in Kochshows), befragte Mahlzeit  ! die österreichische Literatur und sogar Musik auf Bezüge zum Essen. Der oberösterreichische Landeshauptmann Pühringer postulierte bereits in seiner Einleitung zum Katalog eine enge Verknüpfung von Essen und regionaler Identität  : „Essen und Trinken ist aber auch ein wichtiger Aspekt der kulturellen Identität unseres Landes.“37 Dementsprechend beschäftigte sich ein Raum mit der Bedeutung von Essen – Fressen und Hungern – bei ausgewählten oberösterreichischen Künstlern, geografisch genau verortet. Ganz unterschiedliche Schriftsteller thematisieren in ihren Texten (untere anderem) das, was auf den Teller oder ins Glas kommt.38 Anton Bruckner, Adalbert Stifter, Franz Stelzhamer und Thomas Bernhard hatten alle einen sehr persönlichen und zugleich sehr oberösterreichischen Bezug zum Essen – Bezüge, die hier sichtbar gemacht wurden. Thomas Bernhard wird auch im Katalog besondere Aufmerksamkeit zuteil  : 37 Ebd., 7 (Josef Pühringer, Grußwort). 38 Ebd., 180–187 (Beatrix Müller-Kampel/Wolfgang Schmutz, ‚Suppen, Rindfleisch, Zuspeis und was drauf.‘ (K)eine kleine Geschichte des Schmausens in der österreichischen Literatur).

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In seinen Texten kommen konkrete Speisen wie Tafelspitz und Suppe ebenso häufig vor wie traumatische (Ritter, Dene, Voss) oder unerträglich langweilige (Holzfällen) Mahlzeiten.39 Im Speisesaal der Mönche wurden währenddessen unterschiedliche, in einem Kreis angeordnete, symbolisch aufgeladene Formen von Broten präsentiert. Dem christlichen Jahresablauf folgend, verwiesen sie auf die Wurzeln in vorchristlicher Symbolik. Die tiefe sakrale Bedeutung von Weizenbrot wird beispielsweise an den spiralförmigen Broten oder den Zopfbroten, die man Patenkindern schenkt, ersichtlich. Dem Regionalen und insbesondere Oberösterreichischen (schließlich handelte es sich bei Mahlzeit  ! um eine oberösterreichische Landesausstellung) wurde sowohl in der Ausstellung als auch im Katalog viel Platz eingeräumt – trotz der Seitenblicke auf nationale wie internationale Entwicklungen. Thematisiert wurde etwa der Trend, dass frühere Armeleuteessen heute oft als sehr begehrte Speisen gelten. Waltraud Faissner, Sammlungsleiterin des Oberösterreichischen Landesmuseums, schreibt im Kapitel „Oberösterreichische Spezialitäten  : Von der Linzer Torte zur Schwedenbombe“  : „Was vorher als zu einfach abgetan worden ist, wird heute als ‚Spezialität‘ bezeichnet und zum beinahe ‚exotischen‘, begehrten Schmankerl.“40 Bauernkrapfen, zum Beispiel, „schmecken nach Heimat“, daneben durften natürlich Knödel in einer oberösterreichischen Ausstellung über Essen nicht fehlen. Die Aufmerksamkeit, die man der Regionalität in der Ausstellung und im Ausstellungskatalog schenkte, fand zudem in der Wahl der Ausstellungsräume ihren Ausdruck  : So führte die Ausstellung durch die Schaukäserei des Stifts, wo Besucher/innen die Produktion des Schlierbacher Käses durch riesige Glasfenster besichtigen können. Die Ausstellung Mahlzeit  ! versuchte mithin nicht zu verallgemeinern, sondern stellte spezifische Orte und Zeiten sowie Praktiken und Identitäten vor.

Geschmackssache Während die einzelnen Kapitel der Ausstellung Mahlzeit  ! im Allgemeinen zeitlich und geografisch genau verortet waren, erhob die Ausstellung Geschmackssache sowohl in den Ausstellungstexten als auch im Katalog den 39 Ebd., 188–194 (Wolfgang Schmutz, Nichts ist besser in Österreich als die Rindsuppe. Zu Tisch bei Thomas Bernhard). 40 Ebd., 149–156, 149 (Waltraud Faissner, Oberösterreichische Spezialitäten  : von der Linzer Torte zur Schwedenbombe).

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Anspruch auf Universalität und generalisierte an vielen Stellen  : „Ziel der Ausstellung ist, die Wechselwirkungen zwischen Geschmacksfragen, Verarbeitungstechniken, Esskulturen und Lebensstil exemplarisch zu zeigen.“41 Diese Wechselwirkungen wurden jedoch fast ausschließlich an österreichischen bzw. Wiener Beispielen erklärt, eine Tatsache, die in den eher allgemein gehaltenen Ausstellungstexten gelegentlich unterging  : „Die Ausstellung ‚Geschmackssache. Was Essen zum Genuss macht‘ zeigt einerseits, wie durch Verarbeitung der Nahrungsmittel Geschmack entsteht, und andererseits, wie gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren, Ernährungsgewohnheiten oder Lebensstilfragen das Geschmackserlebnis und die Esskultur beeinflussen.“42

Es wurde oft der Eindruck erweckt, als hätten Menschen an allen Orten und zu allen Zeiten auf die gleiche dargestellte Weise gegessen. Dennoch  : Obwohl es laut Katalog und Ausstellungstexten nicht das eigentliche Ziel war und innerhalb der Ausstellung keine Erwähnung fand, zeigt bereits ein Blick auf die Beispiele (etwa Knödel oder Butterstempel in der Form von Kreuzen), dass Geschmackssache tatsächlich (wenn auch oft nur zwischen den Zeilen) österreichisch und weitgehend zeitgeschichtlich ausgerichtet war. Die Ausstellung basierte auf den Sammlungen des Wiener Technischen Museums und konzentrierte sich auf „fünf landwirtschaftliche Rohstoffe […]  : Getreide, Milch, Fleisch, Kaffee und Kakao“.43 Auch hier dienten unausgesprochen österreichische bzw. genauer sogar Wiener Produkte als Beispiele für die verarbeiteten Rohstoffe  : Mehlspeisen, Schlagobers, Tafelspitz und Wiener Schnitzel, Melange und Manner-Schnitten. Über Österreich wird in den Texten dennoch kaum ein Wort verloren – vielleicht, weil die Autor/innen davon ausgingen, dass die Besucher/innen die Ausstellungsinhalte sowieso als etwas Österreichisches verstehen würden. Eben das scheint aber nicht unproblematisch zu sein, vor allem auch die häufige Verwendung von „wir“  : „Was wir zum Frühstück essen …“, ohne dass jemals definiert würde, wen dieses „wir“ bezeichnet, wer zu dieser Gruppe ge41 Muttenthaler/Limbeck-Lilienau/Zuna-Kratky, Geschmackssache, 9 (Elisabeth LimbeckLilienau/Roswitha Muttenthaler, Geschmackssache. Was Essen zum Genuss macht. Eine Einleitung) (wie Anm. 4). 42 Ebd., 5 (Gabriele Zuna-Kratky, Vorwort). 43 Ebd., 8 (Limbeck-Lilienau/Muttenthaler, Geschmackssache).

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In der Ausstellung Geschmackssache, Technisches Museum Wien, 2009 (Foto  : Jennifer Jordan)

hört. Eine konkrete zeitliche wie geografische Verortung wäre wünschenswert gewesen und hätte die Erzählkraft dieser Ausstellung gestärkt. Auf der einer Seite ist eine solche Darstellung eine vertane Chance, etwas als spezifisch österreichisch zu identifizieren, auf der anderen Seite wird den Besucher/innen so der fälschliche Eindruck – letztendlich eine ethnozentrische Idee – vermittelt, wie bei „uns“ sei es überall. Dabei kann noch nicht einmal der Verzehr dieser Rohstoffe als universell gelten  : Kuhmilch wird in weiten Teilen der Welt nicht getrunken, Weizen spielt in vielen Kulturen kaum eine Rolle, einige der Fleischsorten sind in bestimmten Religionen und Kulturen verboten. Selbst innerhalb Österreichs und Wiens kann man nicht pauschal von einem undefinierten „wir“ reden – auch dann nicht, wenn es um Essen geht. Damit handelte es sich bei Geschmackssache nicht um eine internationale, sondern um eine sehr österreichische Sammlung dessen, „was Essen zum Genuss macht“ – was zugleich ja auch eine Stärke und das erklärte Ziel der Sammlungen des Technischen Museums ist. Verpasst wurde aber damit die Chance, Zeitgeschichte zu erzählen und die Fülle von Objekten als Zeitzeu-

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gen zu benützen. Es gibt schließlich einen Grund, warum das Technische Museum Wien eine derart reiche Sammlung hat, die sich mit ebendiesen Rohstoffen beschäftigt  : Getreide, Milch, Fleisch, Kaffee und Kakao sind in Österreich seit Längerem unentbehrlich, wenn auch lange nur wohlhabenden Österreicher/innen vorbehalten gewesen. Erst spät sind diese Rohstoffe durch die Entwicklung technischer Geräte zu leistbaren Massenwaren geworden – durch Geräte und Maschinen, die ebenfalls in den Sammlungen des Technischen Museums zu finden sind. Der Katalog und die Ausstellung selber wechseln zwischen einer universellen Sprache und spezifisch österreichischen und Wiener Geschichten, ohne den Unterschied jeweils anzukündigen und ohne österreichische und Wiener Identität zu thematisieren. Eva Derndorfer schreibt beispielsweise im Kapitel „Sensorik und Geschmacksbildung“  : „bei Brot sind wir resistent gegenüber ‚spezifisch sensorischer Sättigung‘.“44 Aber wer ist dieses „wir“, wenn man bedenkt, dass es sich bei Brot eben nicht um ein universelles Lebensmittel handelt  ? Das Kapitel „Von Schlipfkrapfen, Türkensterzen und Maultaschen“ ist natürlich in seiner Beschäftigung mit österreichischem Essen und in seiner starken Regionalität viel expliziter, ähnlich auch das Kapitel über den Würstelstand, das sich ausschließlich auf Wien bezieht. Der Abschnitt mit dem Titel „NachGeschmack  : Erinnerungen an Gusto und Grausen in Zeiten von Krieg und Krise“ beschäftigt sich mit dem Zweiten Weltkrieg und ist, ohne darauf explizit hinzuweisen, höchst zeitgeschichtlich.45 Die Kuratorin Roswitha Muttenthaler schreibt über ihr Konzept  : „Die Ausstellung stellt die Frage nach der Geschmacksbildung in einen breiteren Kontext  : Wie veränderte die Industrialisierung Zubereitung und Geschmack der Nahrung  ?“ Hier hätte man ruhig „in Österreich“ ergänzen können. „Wie bestimmen Esskulturen und Lebensstile, was uns schmeckt  ? Nachgegangen wird den Karrieren von Kaffee, Schokolade, Milch, Getreide und Fleisch zwischen Slow und Fast Food, zwischen Tradition und Geschmacksexperimenten.“46 Die Geschmackssache-Ausstellung erhob einen universalen Anspruch, ohne den Entwicklungen anderer Länder nachzugehen – und das müsste sie gar nicht, da die Sammlung hervorragend ist und die Objekte faszinierend sind. Nur muss es notwendigerweise 44 Ebd., 43 (Eva Derndorfer, Sensorik und Geschmacksbildung). 45 Ebd., 91 (Nikola Langreiter, Nach-Geschmack. Erinnerungen an Gusto und Grausen in Zeiten von Krieg und Krise). 46 Ebd., 105 (Roswitha Muttenthaler, Geschmackssache  : Was Essen zum Genuss Macht, Kostproben aus der Ausstellung).

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verwundern, wenn einerseits versucht wird, Essen allgemein darzustellen und gleichzeitig vor allem österreichische Objekte ausgestellt und österreichische Geschichten erzählt werden. Österreich bildete den Bezugsrahmen für diese Ausstellung, ohne dass auf diesen Umstand hingewiesen worden wäre. Insofern die Ausstellung sehr viel über die großen gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts erzählte und einen Österreich- bzw. WienBezug aufwies, war sie eindeutig mit Zeitgeschichte sowie österreichischer Identität beschäftigt und stellte die Auswirkungen der Industrialisierung, die eng mit technologischen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen verbunden sind, dar. Der Ausstellung gelang es, die technologischen Entstehungsprozesse von in Österreich vertrauten Lebensmitteln auf eindrucksvolle Art und Weise sichtbar werden zu lassen und die technischen Hintergründe etwa der Milch- oder Schweinefleischverarbeitung oder des Kaffeeröstens zu zeigen. Damit wurde nicht nur die ausgezeichnete Sammlung des Technischen Museums zur Geltung gebracht, sondern zudem transparent gemacht, wie eng der (kulinarische) Alltag mit Technologie und Technikentwicklung verschränkt ist. Sehr berührend und vielsagend waren die Aufnahmen von Menschen (ohne Gesicht) beim Streichen eines Butterbrots. Deren Unterschiedlichkeit (Brotsorte, Buttersorte, Buttertemperatur, Buttermenge) sagte viel über individuellen Geschmack, über Familie und Heimat, aber auch über österreichische Identität aus. Brot in Österreich und Brot beispielsweise in den USA sind zwei sehr unterschiedliche Dinge und das nicht nur aus kulturellen Gründen, weil die Einwohner unterschiedliche Geschmäcker haben, sondern auch aufgrund komplexer technologischer, wirtschaftlicher und sogar politischer (bzw. politisch-struktureller) Unterschiede. Diese wirtschaftlichen und politischen Hintergründe blieben allerdings in dieser wie in den anderen Ausstellungen eher im Hintergrund, die Sammlung und Objekte sind aber reich an Informationen und Eindrücken. Schlussbemerkungen Die Idee, eine Bratpfanne oder einen Elektroherd aus den 1960er-Jahren in einem Museum auszustellen, ist relativ neu und prägte alle beschriebenen Ausstellungen. Es ist ein meist gelungener Versuch, das Alltägliche zu verfremden, gleichzeitig zu erklären und historisch bzw. technologisch zu kontextualisieren. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Kombination von Essen

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und Zeitgeschichte noch viel Potenzial in sich birgt und es in Zukunft in Österreich und andernorts mehr solcher Ausstellungen geben wird. Das explosionsartige Interesse an „Bio“, regionalem Essen und Kochshows spricht dafür, dass der Appetit der Museumsbesucher/innen für entsprechende Ausstellungen noch nicht gesättigt ist. Einige Fragen bleiben allerdings offen, nicht nur in den hier besprochenen Ausstellungen, sondern oft in der Museumsarbeit im Allgemeinen  : Welche Gruppen und Identitäten werden konstruiert  ? Wen schließen sie ein, wen grenzen sie aus  ? Wäre es möglich gewesen, diese Geschichten auch anders zu erzählen  ? Interessant und aussagekräftig ist es jeweils zu überlegen, wie solche Ausstellungen aussähen, wenn sie nicht (nur) in Österreich stattfänden. Was wäre, wenn die Sinalco-Ausstellung zum Beispiel als internationale Wanderausstellung konzipiert worden wäre  ? Erst ein solcher Zugang lässt sichtbar werden, dass alle diese Ausstellungen sich hauptsächlich an Österreicher/innen gerichtet haben. Die Kurator/innen wissen natürlich, welche Besucher/ innen sie erwarten können, und können die Ansprüche ihres Publikums einschätzen. Mit anderen Worten  : Die Kurator/innen all dieser Ausstellungen scheinen davon ausgegangen zu sein, dass die Besucher/innen einigermaßen mit der österreichischen Kulinargeschichte vertraut sind und keine ausführlicheren Erklärungen der Ausstellungsgegenstände benötigen, sondern vielmehr stattdessen eigene Erinnerungen und Erfahrungen mitbringen. Eine Spannung zwischen dem Spezifischen und dem Universellen bleibt bestehen. Deutlich wird jedoch, dass Essen in Österreich mit Tradition und Heimat verbunden ist – auch wenn manche beliebten Traditionen ziemlich neu, teilweise sogar erst im 20. Jahrhundert entstanden sind (mit der SinalcoEpoche als Paradebeispiel). Problematisch erscheint die teilweise beobachtbare Neigung, eigene kulinarische Vorlieben (Brot aus Weizenmehl, Milchprodukte, Fleisch) relativ unreflektiert als universell geltende Standards darzustellen. Dabei sind gerade viele der österreichischen kulinarischen Traditionen zutiefst multikulturell in ihren Ursprüngen – Knödel und Wiener Schnitzel, Gulasch und Stelze haben Vorgeschichten in anderen Ländern und Epochen, sind aber ohne Zweifel heute auch zutiefst österreichisch, ebenso wie das leidenschaftliche Interesse am Essen überhaupt.

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Dirk Rupnow

Nation ohne Museum  ? Diskussionen, Konzepte und Projekte

Als im November 2008 ein professionelles, internationales Museumsberatungsunternehmen von der österreichischen Bundesregierung unter Alfred Gusenbauer (SPÖ) mit der Erstellung eines Detailkonzepts für ein neues nationales Geschichtsmuseum binnen drei Monaten beauftragt wurde, mag dies vielen als der Schlusspunkt einer etwa zehn Jahre dauernden, aber endlos vorkommenden Debatte erschienen sein  : Obwohl zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe noch kein Standort feststand, ging das Kanzleramt davon aus, dass bis Ende 2009 ein Architekturwettbewerb durchgeführt sei, 2010 mit dem Bau begonnen werden könne und zum 100-jährigen Jubiläum der Republik 2018 die Arbeiten abgeschlossen wären.1 Tatsächlich verschwand das Detailkonzept in den Schubladen der im Dezember 2008 angelobten neuen Regierung unter Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ), ohne dass es bis zum Sommer 2010 überhaupt der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht wurde.2 Dabei hatte sich die alte SPÖ-ÖVP-Bundesregierung mit neuer Mannschaft in ihrem Regierungsprogramm durchaus zu einer zügigen Weiterführung der Arbeiten für ein „Haus der Geschichte Österreich“, wie es hieß, bekannt.3 Die Finanzkrise, die zwar schon seit 2007 im Gange war, aber erst 2009 auf die Realwirtschaft durchschlug, dürfte die Rahmenbedingungen für eine neuerliche Diskussion über ein „Haus der Geschichte“ und vor allem auch dessen voraussichtlich kostenintensive Realisierung nachhaltig verschlechtert haben. Sie ist vermutlich ein entscheidender Faktor für das überraschende völlige Verstummen der Debatte.

1 Regierung bestätigt Projekt-Auftrag, in  : derStandard.at, 12.11.2008, , 9.3.2010. 2 Der Transparenz halber sei hier angemerkt, dass der Autor aufseiten der ARGE Haas Beratung für Museen und Kultureinrichtungen und LORDEurop Cultural Ressources an der Erstellung des Konzepts als Historiker mitbeteiligt war. 3 Regierungsprogramm für die XXIV. Gesetzgebungsperiode, o.D., , 16.9.2009.

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Die Diskussion über einen zentralen Ort für die Darstellung österreichischer Geschichte hat damit jedoch kein Ende. Sie ist ohnehin sehr viel fragmentierter und uneinheitlicher, von einer Abfolge von Konjunkturen geprägt und geradezu in unterschiedliche Debatten zerfallend, als eine zügige Realisierung es im Rückblick vielleicht hätte sichtbar werden lassen. Sie ist weder nur gute zehn Jahre jung noch die erste ihrer Art. Selbst die Errichtung eines Museums, das den Anspruch hat, österreichische Geschichte, wenn auch nur eines bestimmten, mehr oder weniger klar abgegrenzten Zeitraums aus- und darzustellen, wäre keinesfalls die erste Realisierung eines Projekts dieser Art.

I. Vorgeschichten diesseits und jenseits der Grenzen Die große Zeit der klassischen Museen, verstanden als Schatzkammern des nationalen Kulturguts und Orte nationaler Selbstrepräsentation, war das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert des Nationalismus. Das British Museum in London war zwar bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts gegründet worden, aber den entscheidenden Impuls für die Entwicklung moderner Museen gab die Französische Revolution  : Die Kunstwerke des ancien régime wurden zunächst im revolutionären Eifer als Symbol des überwundenen Gegners zerstört, dann aber durch eine Umbewertung, durch die Betonung ihres kunstgeschichtlichen Werts, neutralisiert – und mit ihnen die ganze Kultur, die sie repräsentierten. Mit Dekret der Nationalversammlung vom 27. Juli 1793 wurden die Sammlungen des Louvre der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Am gleichen Tag trat Robespierre in den Wohlfahrtsausschuss ein und die jakobinische Schreckensherrschaft begann. In Deutschland, der verspäteten Nation, kam es 1852 zur Gründung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg, ursprünglich als illustrierende Sammlung zu einem angestrebten „Generalrepertorium über sämtliches in Deutschland vorhandene Quellenmaterial für deutsche Geschichte, Litteratur und Kunst“. Die „Deutschen Österreichs“ waren Mitstifter. Es beanspruchte und beansprucht weiterhin, nicht nur Deutschland im engeren staatlichen Sinne zu repräsentieren, sondern „Nationalmuseum und Museum des gesamten deutschen Sprachraums“ zu sein und „Zeugnisse der Kultur, Kunst und Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart“ zu bewahren, als ein „Eigenthum der deutschen Nation“.4 Dokumentiert wurde die materielle Kultur 4 Die kunst- und kulturgeschichtlichen Sammlungen des Germanischen Museums. Wegweiser

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bis hin zu Volkskunst und Alltagsgegenständen, keine Ereignisgeschichte. Ihre Darstellung wäre notwendigerweise viel zu kontroversiell gewesen. Das Museum sollte gleichsam die 1848 gescheiterte politische Einigung der deutschen Staaten kompensieren und Zeugnis für die Einheit des deutschen Kulturraums ablegen. Die Bundesversammlung des Deutschen Bundes in Frankfurt am Main erkannte es 1853 denn auch als ein „nationales Unternehmen“ an. Mit der Reichsgründung 1871 wurde es umstandslos zum offiziellen Nationalmuseum des nunmehr kleindeutsch-borussischen Staates. Das österreichische Kaiserhaus und die deutschen Österreicher blieben ihm dennoch weiterhin eng verbunden. Später mutierte es sogar zum „Nationalmuseum der Bundesrepublik Deutschland“.5 Hier fanden und finden sich Gipsabgüsse von Figuren des Denkmals Kaiser Maximilians I. in der Innsbrucker Hofkirche und oberösterreichische Fayencen, eine Tiroler Bauernstube und ein Tiroler Zimmer ebenso wie ein umfangreicher Oswald von Wolkenstein-Bestand aus Südtirol. Mit den bisher genannten Beispielen werden zwei unterschiedliche Ausprägungen von Nationalmuseen sichtbar  : Sie zeigen entweder, wie im Falle Englands und Frankreichs, mit keinesfalls nur aus dem nationalen Rahmen stammenden Kunstwerken „die Nation, wie sie sich am Universalen beteiligt, an dem, was für alle Menschen oder zumindest für alle zivilisierten Menschen gilt“, oder „das Besondere und Außergewöhnliche der Nation und ihres Weges in der Zeit“, wie das deutsche Beispiel.6 Auch in der Habsburgermonarchie entstanden währenddessen „Nationalmuseen“, aufgrund ihres Charakters als Vielvölkerstaat auf dynastischer Grundlage jedoch ausschließlich auf der Ebene der Länder  : das „Ungarische Nationalmuseum“ in Pest (1802), das Joanneum in Graz (1811), das „Nationale Museum in Böhmen“ in Prag (1818), das Franzensmuseum in Brünn als Landesmuseum für Mähren und Schlesien (1818), das „Tiroler Nationalmuseum“ für die Besucher – Ausgabe für 1896, Nürnberg o.J., 1  ; Offizielle Website des Germanischen Nationalmuseums, Selbstverständnis des GNM, , 9.3. 2010. 5 Die kunst- und kulturgeschichtlichen Sammlungen, 3 (wie Anm. 4)  ; Theodor Hampe, Das Germanische Nationalmuseum von 1852 bis 1902. Festschrift zur Feier seines fünfzigjährigen Bestehens, Leipzig 1902, 98f  ; G. Ulrich Großmann, Germanisches Nationalmuseum. Der Nationalmuseum der Bundesrepublik Deutschland, in  : Andreas Sohn (Hg.), Memoria  : Kultur – Stadt – Museum/Mémoire  : Culture – Ville – Musée (Herausforderungen 18), Bochum 2006, 298–318.. 6 Krzysztof Pomian, Museum, Nation, Nationalmuseum, in  : Marie-Louise Plessen (Hg.), Die Nation und ihre Museen, Frankfurt a.M. – New York 1992, 19–32, hier 25.

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Ferdinandeum (1823), der „Verein des vaterländischen Museums für Österreich ob der Enns mit Inbegriff des Herzogthums Salzburg“ (1833) als Vorläufer des oberösterreichischen Landesmuseums und das Salzburger Museum Carolino Augusteum (1834) – mit sehr unterschiedlichen Bezugsrahmen und ebenso unterschiedlichen Vorstellungen vom Konzept des „Nationalen“.7 In mancher Hinsicht schlossen diese Landesmuseen des 19. Jahrhunderts an die ältere Tradition der Kunst- und Wunderkammern aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit an  : Sie integrierten geschichtliche und topografische, naturgeschichtliche, technologische und artistische Aspekte zu einem Ganzen, bildeten eine Mischung aus Sammlungs- und Forschungsstätte im Dienste der „Heimat“  : „Die Landesmuseen sollen freilich nicht alleine eine Pflegestätte der landeskundlichen Forschung, sondern auch eine hohe Schule der Heimat sein, welche die Landeskinder davor bewahrt, als Fremdlinge in ihr zu wandeln und sie ihre Schönheiten sehen und genießen lehrt  ; sie sollen die Gebildeten mit dem Volke und der Natur wieder verbinden und Stadt und Land miteinander bekannt machen  ; sie sollen aber auch eine Anziehung auf die Fremden ausüben und ihnen ein Abbild unserer Heimat verschaffen.“8

Das Kaisertum Österreich oder die Böhmisch-Österreichischen Erblande waren ebenso wenig Gegenstand vergleichbarer Planungen wie später die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie – sinnfälliger Ausdruck des grundlegenden Problems des Vielvölkerstaates im Zeitalter des Nationalismus. Seit den 1830er-Jahren gab es allerdings Überlegungen, die kaiserlichen Sammlungen in einem Museum zusammenzufassen und somit einen Ersatz zu schaffen. Das 1891 von Franz Joseph eröffnete Kunsthistorische Museum (KHM) in Wien verstand sich denn auch durchaus als Nationalmuseum wie das British Museum, der Louvre oder der Prado. Es war das Ergebnis eines Jahrhunderte währenden Sammlungsprozesses, der mit dem habsburgischen Hausschatz Herzog Rudolfs IV. von Österreich (1339–1365) und der Schatzkammer Kai-

7 Marlies Raffler, Museum – Spiegel der Nation  ? Zugänge zur Historischen Museologie am Beispiel der Genese von Landes- und Nationalmuseen in der Habsburgermonarchie, Wien – Köln – Weimar 2007. 8 Ignaz Zibermayr, Die Gründung des oberösterreichischen Musealvereines im Bilde der Geschichte des landeskundlichen Sammelwesens, in  : Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereines 85 (1933), 70–180, hier 179.

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ser Friedrichs III. (1415–1493), der Sammlung Erzherzog Ferdinands II. (1529– 1595) auf Schloss Ambras bei Innsbruck und Kaiser Rudolfs II. (1552–1612) Sammlungen auf der Prager Burg sowie der von Erzherzog Leopold Wilhelm (1614–1662) als Statthalter in Brüssel angelegten Sammlung erste Höhepunkte erreicht hatte und somit tatsächlich das Habsburgerreich zu repräsentieren imstande war.9 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen zudem die Kunstmuseen allgemein in den Vordergrund zu treten und die Museumslandschaften zu beherrschen, der Blick auf das einzelne, individuelle Objekt den auf das Typische abzulösen. Das Kunsthistorische Museum stellte jedoch ein dynastisches Museum dar, die in den kunsthistorischen Sammlungen vereinigten Kunstschätze blieben zudem kaiserliches Privateigentum. Ein klassisches Nationalmuseum konnte es nicht sein, selbst nicht im Sinne des Germanischen Nationalmuseums, das über die Kleinstaaten hinweg eine deutsche Nationalidentität (basierend auf einem Begriff von „Volk“, nicht auf dem Regierungsbereich eines Herrscherhauses) schaffen wollte. Während die Landesmuseen ihr Blickfeld territorial eng begrenzten, waren die Wiener Museen des Hofes universal ausgerichtet. Eine Einrichtung mit Blick auf Österreichs Geschichte und Kultur fehlte. Winfried Seipel, von 1990 bis 2008 Generaldirektor des Kunsthistorischen Museums, sprach seinem Haus dementsprechend jeglichen Nationalcharakter ab und bezeichnete es statt dessen gleich als „Gesamtkunstwerk des europäischen Kulturerbes“, weshalb er ihm auch eine besondere Rolle bei der heutigen Suche nach den Grundlagen europäischer Identität beimaß.10 Neben dem Kunsthistorischen Museum gab es in Wien einen weiteren Anwärter auf den Status eines Museums für die gesamte Monarchie  : Schon mit seinem großösterreichischen Bildprogramm, bereits damals eine 1000-jährige Geschichte reklamierend, stellte sich das vom dänischen Architekten Theophil Hansen im maurisch-byzantinischen Stil errichtete Museumsgebäude im   9 Alphons Lhotsky, Die Baugeschichte der Museen und der Neuen Burg (Festschrift des Kunsthistorischen Museums zur Feier des fünfzigjährigen Bestandes, Tl. 1), Wien 1941  ; ders., Die Geschichte der Sammlungen (Festschrift des Kunsthistorischen Museums zur Feier des fünfzigjährigen Bestandes, Tl. 2), 2 Bde., Wien 1941–45  ; Herbert Haupt, Das Kunsthistorische Museum. Die Geschichte des Hauses am Ring. Hundert Jahre im Spiegel historischer Ereignisse, Wien 1991  ; Winfried Seipel, Zur Geschichte des Kunsthistorischen Museums Wien, in  : Marie-Louise von Plessen (Hg.), Die Nation und ihre Museen, Frankfurt a.M. – New York 1992, 55–68. 10 Winfried Seipel, Zur Geschichte des Kunsthistorischen Museums Wien, in  : Marie-Louise von Plessen (Hg.), Die Nation und ihre Museen, Frankfurt a.M. – New York 1992, 55–68, hier 68.

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primär zur Abwehr innerer Unruhen angelegten k. k. Artillerie-Arsenal auch kleindeutsch-borussischen Realitäten entgegen. 1856 wurde der Schlussstein gelegt, aber erst 1872 war das Haus im Inneren fertiggestellt. Die Fresken im Kuppelsaal und die 56 lebensgroßen Marmorstatuen von österreichischen Heerführern im Eingangsbereich waren auf ausdrücklichen Wunsch des Kaisers eingefügt worden. Waffen, Trophäen und Rüstungen wollte er währenddessen nicht dekorativ eingesetzt, sondern systematisch-wissenschaftlich ausgestellt wissen. In den Sälen beiderseits der Kuppelhalle, die zur „österreichischen Ruhmeshalle“ bestimmt war, wurden bedeutsame Objekte aus dem Zeughaus aufgestellt. Die Hofwaffensammlung übersiedelte 1888 allerdings in das Kunsthistorische Museum, das k. k. Waffenmuseum mutierte zum k. k. Heeresmuseum. Nachdem 1866 an die Stelle des alt-österreichischen Berufsheers die allgemeine Wehrpflicht in einer multinationalen Armee getreten war und 1867 der Ausgleich mit Ungarn das Reich brüchig werden ließ, sollte es nunmehr mit Waffen, Uniformen und Ausrüstungsgegenständen die Entwicklungsgeschichte des Heeres nachzeichnen und so die Idee der Reichseinheit stützen. Doch schließlich überlebte das Museum die k. k. Armee.11 1946 wurde die Überführung des alten Heeresmuseums in ein neu zu errichtendes „Österreichisches Nationalmuseum“ in der Wiener Hofburg erwogen, zur Debatte stand im Falle einer Wiedereröffnung nach dem Krieg auch der Titel „Vaterländisches Museum“. Tatsächlich wurde es schließlich 1955 als Heeresgeschichtliches Museum (HGM) am alten Ort wieder zugänglich gemacht.12 Doch auch in späteren Darstellungen seiner Direktoren wurde es nicht einfach als Militärmuseum, sondern vielmehr als „historisches Nationalmuseum von internationaler Dimension“ bzw. „heimliches Nationalmuseum“ charakterisiert.13 11 [Manfried Rauchensteiner u.a.], Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien, o.O. 2000, 3–6. 12 Richard Hufschmied, Die unmittelbaren Nachkriegspläne zum Wiener Arsenal und dem Heeresgeschichtlichen Museum, in  : Viribus Unitis. Jahresbericht 2003 des Heeresgeschichtlichen Museums, Wien 2004, 51–60, hier 58. Dazu auch Manfried Rauchensteiner, Nation ohne Museum – Museum ohne Nation, in  : Moritz Csáky/Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 1  : Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit, Kompensation von Geschichtsverlust (Speicher des Gedächtnisses 1), Wien 2000, 67–87, hier 78f.; Franz Kaindl, Das Wiener Heeresgeschichtliche Museum, ein historisches Nationalmuseum von internationaler Dimension, in  : Marie-Louise von Plessen (Hg.), Die Nation und ihre Museen, Frankfurt a.M. – New York 1992, 271–280. 13 Kaindl, Das Wiener Heeresgeschichtliche Museum, 280 (wie Anm. 12)  ; Rauchensteiner, Nation ohne Museum, 80 (wie Anm. 12).

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II. Projekte der unmittelbaren Nachkriegszeit Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Rückgängigmachung des „Anschlusses“ und der Wiederherstellung der Republik Österreich wurde mit verschiedenen Projekten versucht, die österreichische Identität zu stärken – nicht zuletzt auch mithilfe der Einrichtung zweier neuer Museen, die interessanterweise heute fast gänzlich vergessen sind, obwohl sie beide äußerst interessante Ansätze bieten, die auch für die Diskussionen der vergangenen Jahre erhellend sein können. Karl Renner (1870–1950), der erste Bundespräsident der Zweiten Republik, der als Staatskanzler bereits maßgeblich am Entstehen der Ersten Republik beteiligt war, etablierte ein kleines „Museum der Ersten und Zweiten Republik“ in der Hofburg, über den Räumen der Präsidentschaftskanzlei, in dem repräsentative Gemälde der Bundespräsidenten und -kanzler sowie Gemälde und Büsten weiterer bedeutender Persönlichkeiten, aber auch historische Objekte und Dokumente ausgestellt wurden und darüber hinaus die Bundesländer Platz zur Selbstdarstellung erhielten.14 Nach dem Willen Renners sollte es nicht nur für Staatsbesuche und Diplomaten, sondern auch für Schulklassen und die allgemeine Bevölkerung offen stehen. Der spätere Bundespräsident Adolf Schärf teilte allerdings das Interesse für das Projekt nicht, so dass es langsam einschlief. Das Museum fokussierte – in Anbetracht seines sozialistisch/sozialdemokratischen Initiators wenig überraschend – auf die kurze Geschichte der Republik und damit auf die Geschichte des kleinen Österreich, freilich nicht ohne zugleich den Opferstatus während der NS-Zeit zu betonen, diese jedoch im Wesentlichen auszublenden und das Dollfuß-Schuschnigg-Regime einzuebnen. Die junge Zweite Republik griff aber zur gleichen Zeit auch auf die bis dahin nur wenig beachtete Ostarrîchi-Urkunde aus dem Jahr 996 zurück, als einem historisch weit zurückliegenden und daher nicht kontroversiellen Bezugspunkt für eine österreichische Identität. Die 950-Jahr-Feiern des 14 Erwin M. Auer, Ein „Museum der Ersten und Zweiten Republik Österreichs“. Dr. Karl Renners Plan und erster Versuch, in  : Wiener Geschichtsblätter 38 (1983), 53–80  ; Rauchensteiner, Nation ohne Museum, 70ff. (wie Anm. 12)  ; Richard Hufschmied, „Ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit und sonstige Bestrittenheit oder Unbestrittenheit“ – Dr. Karl Renner und die unendliche Geschichte eines Museums der Ersten und Zweiten Republik, in  : Oliver Rathkolb/Richard Hufschmied, Mehrfach gewendet. Eine historisch-künstlerische Collage der Schlüsseljahre 1918/38/45/55 und 95, Kat. Wien 2008, 47f. Vgl. dazu auch Gerda Mraz, Gibt es ein Republikmuseum  ?, in  : Bausteine der Republik Österreich – dennoch ein Beitrag zum Gedenkjahr 1988, Kat. MÖK Eisenstadt 1988, 60ff.

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österreichischen „Namenstags“ im Jahr 1946, auf Initiative von ÖVP-Unterrichtsminister Felix Hurdes durchgeführt, sollten der „Stärkung des österreichischen Staatsgedankens“ und der „Bekundung des politischen und kulturellen Selbständigkeitswillens des österreichischen Volkes“ dienen.15 Dieser Bezugspunkt wurde 1996 mit dem 1000-Jahr-Jubiläum wieder aufgegriffen, unter anderem mit einer großen Ausstellung – unmittelbar nach dem Beitritt zur Europäischen Union sowie dem 50-Jahr-Jubiläum der Zweiten Republik und den 40-Jahr-Feiern zum Staatsvertrag 1995. Der Wiener Historiker Ernst Bruckmüller, der für die Länderausstellung in der Ostarrîchi-Gemeinde Neuhofen a.d. Ybbs und in der niederösterreichischen Landeshauptstadt St. Pölten verantwortlich war, betonte allerdings – entgegen der kaum übersehbaren politischen Instrumentalisierung und weiterhin beabsichtigen Identitätsstiftung – durchaus den konstruierten Charakter des Jubiläums, aber auch seine Bedeutung für die Abkehr von einem großdeutschen und deutschnationalen Selbstverständnis, von habsburgischen Großmacht- und Reichsvorstellungen und für die Akzeptanz eines österreichischen Kleinstaates.16 Ein weiteres museales Projekt der unmittelbaren Nachkriegszeit, langlebiger als das Renner-Museum, doch kaum bekannter, widmete sich genau der Zeit zwischen beiden Extremen, zwischen dem verkürzenden Nahblick auf die Jahre seit 1918 und dem allzu vagen Fernblick auf das Jahr 996. Es wurde betrieben vom Historiker August Ritter von Loehr (1882–1965), der auch für die musealen Objekte in Renners Republikmuseum zuständig war. Loehr hatte nach dem Studium der Geschichte, Kunstgeschichte, Altertumswissenschaften und Geografie in Wien, Heidelberg und Grenoble im Münzkabinett der kunsthistorischen Sammlungen in Wien zu arbeiten begonnen und im Ersten Weltkrieg als dessen Leiter das Münzkabinett zu einem kulturhistorischen Institut weiterentwickelt. Seit 1929 lehrte er als Honorarprofessor für Numismatik und Geldgeschichte an der Universität Wien, seit 1933 war er korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er kombinierte ein Interesse für Technik und Kunst, wobei er Kunst allerdings mehr als Zeugnis dessen wahrnahm, was er als Kulturgeschichte verstand.17

15 Martina Nußbaumer, Millennium revisited. Inszenierungen von Geschichte und Identität im „Ostarrîchi“-Jubiläumsjahr 1996, in  : Zeitgeschichte 28 (2001), 254–275. 16 Ernst Bruckmüller/Peter Urbanitsch (Hg.), 996–1996. Ostarrîchi – Österreich. Menschen, Mythen, Meilensteine (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, N.F. 388), Horn 1996, vor allem 1–6 (Ernst Bruckmüller, Das Konzept der Ausstellung). 17 Alphons Lhotsky, Nachruf August Loehr, in  : Almanach der Österreichischen Akademie der

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Dem NS-Staat galt Loehr als „Mischling“, weshalb ihm auch bereits 1938 nahegelegt wurde, um Versetzung in den Ruhestand anzusuchen. Es folgte die Entpflichtung von Universität und Akademie, bevor er 1943 vom Arbeitsamt dem Kunsthistorischen Museum wieder zur Verfügung gestellt wurde. Mitte April 1945 wurde er erneut in den aktiven Dienst übernommen und zum Ersten Direktor des KHM ernannt, ab 1949 (nach einer von ihm selbst angeregten Reorganisation und Aufteilung der Bundesmuseen in Kunstmuseen, kultur- und naturhistorische Sammlungen) fungierte er als Generaldirektor der kulturhistorischen Sammlungen des Bundes. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs, als einen „Akt der Selbstbesinnung nach der Auslöschung Österreichs durch das Naziregime und nach dem Wiederentstehen der Republik“18 forderte Loehr eine Hinwendung zur Erkenntnis von historischen Zusammenhängen und Entwicklungen und setzte sich für die Errichtung eines „Museums Österreichischer Kultur“ (MÖK) ein, das österreichische Geschichte vermitteln und österreichische Kultur veranschaulichen sollte.19 Die Idee war offenbar schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als Reaktion auf die Zerstörungen von Kulturgut und im Rahmen der Umstrukturierungspläne für die Wiener Museumslandschaft aufgekommen  : Neben einem Museum österreichischer Kunst sollte eine Einrichtung geschaffen werden, um zu dokumentieren, was mit dem Friedensabkommen von St-Germain zu Ende gegangen war.20 Der gerade vorübergegangene Zweite Weltkrieg verschärfte das Bedrohungsszenario noch einmal und gab dem Projekt folgerichtig neuen Auftrieb. Wissenschaften 115 (1965), 273–282  ; Erwin M. Auer, DDr. August O. Loehr (31. März 1882 bis 11. Juli 1965) (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Geschichtsvereine 24/ Biographien österreichischer Historiker VI), o.O. 1982  ; Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik, 03 BMU/PA August Loehr, geb. 31.3.1882 (K V03/102). 18 Gerda Mraz, Das Museum Österreichischer Kultur, in  : Gottfried Fliedl/Roswith Muttenthaler/Herbert Posch (Hg.), Museumsraum – Museumszeit. Zur Geschichte des österreichischen Museums- und Ausstellungswesens, Wien 1992, 195–200, hier 195. 19 August Loehr, Der Plan eines Museums österreichischer Kultur. Vortrag, gehalten in der Sitzung der phil.-hist. Klasse vom 3. Juni 1946, in  : Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse 1946/13, 140–151 (Manuskript in  : KHMA, II 276). 20 Herbert Posch, Vom Scheitern einer Aneignung. Österreichische Museen am Übergang von der Monarchie zur Republik, Dipl. phil. Wien 1997  ; ders., Umbruch und Kontinuität – Wiener Museen am Übergang von der Monarchie zur Ersten Republik und das Scheitern einer Aneignung, in  : Gottfried Fliedl/Roswitha Muttenthaler/Herbert Posch (Hg.), Museumsraum – Museumszeit. Zur Geschichte des österreichischen Museums- und Ausstellungswesens, Wien 1992, 139–154.

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In das Konglomerat der Hof- und Staatsmuseen fügte sich eine kulturhistorische Sammlung ursprünglich nicht ohne Weiteres ein, Vorbilder waren eher die Landesmuseen und städtischen Sammlungen. Auch Spezialmuseen wie das Technische Museum in Wien, das Volkskundemuseum in Linz oder das Museum der Heimatkunde in Klagenfurt, außerhalb Österreichs die Aufstellung von Architekturmodellen im Pariser Trocadero oder das Haus der Rheinischen Heimat in Köln boten Anknüpfungspunkte.21 Loehr wandte sich gegen eine fortschreitende Spezialisierung und daher Fragmentierung und führte darüber hinaus ein gewandeltes Besucherinteresse an  : Das Deutsche Museum in München habe 1932 achtmal so viele Besucher/innen wie die Pinakothek gehabt, das Technische Museum in Paris doppelt so viele wie der Louvre. Reine Kunstobjekte seien mittlerweile weniger interessant, eine Vereinigung von Kunst mit anderen Sektoren der Kultur daher notwendig. Die Arbeiten wurden noch im Jahr 1945 im Rahmen des KHM aufgenommen, nachdem Loehr im Juni 1945 darum angesucht hatte. Eine enge Zusammenarbeit mit den bestehenden Archiven und Forschungseinrichtungen wurde angestrebt. Mittels Otto Neuraths Bildstatistik sollten kulturelle Entwicklungen anschaulich dargestellt werden  ; Karten, Modelle und Grafiken spielten in Loehrs Konzepten neben Originalobjekten eine zentrale Rolle. Das Museum war zugleich als eine Art Archiv für Dokumente und Objekte zur österreichischen Kulturgeschichte gedacht, mit dem Auftrag, sich um Erfassung, Sammlung, Sicherung und wissenschaftliche Auswertung zu kümmern.22 Anders als Renners Republikmuseum sollte sich das MÖK mit der Zeit vor 1918 – sprich  : der Habsburgermonarchie – beschäftigen, die dort gerade ausgespart blieb. Loehrs Initiative datiert allerdings knapp anderthalb Jahre früher als Renners Überlegungen, die dieser erst im November 1946 in einem Brief an Bundeskanzler Leopold Figl niederschrieb. Inwieweit seine Idee durch Loehrs bereits angelaufenes Projekt inspiriert wurde, ist unklar. In den Diskussionen der Arbeitsgemeinschaft zur Errichtung des Republikmuseums, in die Loehr auf Grund seiner Expertise für materielle Kultur eingebunden

21 [August Loehr], Museum österreichischer Kultur (1), o.D., Kunsthistorisches Museum/Archiv [KHMA], II 276, Mappe „Vorträge Loehr“  ; Loehr, Plan (wie Anm. 19). 22 Vgl. auch die erste Sonderausstellung des MÖK Österreich im Kartenbild (Kat. Wien 1947). Zu Neuraths Bildstatistik vgl. Sybilla Nikolow, Sachbilder zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Gesellschaft. Otto Neuraths Bildpädagogik im historischen Kontext, in  : Thomas Brandstetter/Dirk Rupnow/Christina Wessely (Hg.), Sachunterricht. Fundstücke aus der Wissenschaftsgeschichte, Wien 2008, 58–65.

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MÖK 1967  : Blick in die große Galerie mit den Themen Finanz- und Geldwesen (Foto  : Kunsthistorisches Museum Wien/Archiv, Sign. II15152)

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war, scheint es keinerlei Rolle gespielt zu haben. Dennoch ist die Querverbindung interessant, vor allem im Hinblick darauf, dass sich beide Projekte unausgesprochen zu ergänzen scheinen. Im Gegensatz zum Museum der Ersten und Zweiten Republik musste es für Loehrs Projekt aber natürlich ungleich schwieriger sein, klare zeitliche und territoriale Abgrenzungen zu finden  : Ganz pragmatisch bezog sich Loehr auf das jeweilige habsburgische Herrschaftsgebiet und nicht das Staatsgebiet nach 1918 bzw. 1945. Die Frage nach einer genuin „österreichischen Kultur“, die immerhin namensgebend war, bejahte er – mit dem Hinweis vor allem auf die Kultivierung Niederösterreichs und der Wiener Gegend – ohne Vorbehalt, trotz der von ihm ebenso anerkannten Bedeutung verschiedener Kultur­ einflüsse.23 Diese führten ihn allerdings darüber hinaus zur Perspektive einer Transfergeschichte im europäischen Maßstab  : „Wir gehen von der Überzeugung aus, daß wir hier im Herzen Europas einerseits unsere heimische Kultur und Geschichte zu erforschen und der Gesamtheit zu vermitteln haben, da diese Aufgabe von sonst niemandem erfüllt wird. Auf der anderen Seite haben wir unsere Verbindung mit den benachbarten und kulturell führenden Ländern und Völkern darzustellen und zu zeigen, was wir ihnen verdanken und was wir glauben, unsererseits gegeben zu haben.“24

Behandelt wurde die Geschichte Österreichs und seiner ehemaligen Territorien  : Österreich zur Römerzeit, Bosnien und Herzegowina 1878 bis 1918, die Vorlande zur Ende des 18. Jahrhunderts, Lombardo-Venetien 1816 bis 1853, die österreichischen Niederlande 1780. Angesprochen wurden Themen wie Landwirtschaft (Weinbau von der Karolingerzeit bis zur Gegenwart, Gehöft-, Flur- und Siedlungsformen, Zuckerrübenanbau), Gewerbe, Industrie, Bodenschätze (Eisenwesen, Salzwesen, Textilindustrie, Mineralbäder), Finanzwesen (Kosten des Siebenjährigen Krieges, Staatshaushalt 1841 bis 1858, Münzfundorte, Umlaufgebiet des Mariatheresientalers), Handel und Verkehr (Europäische Eisenbahnen 1839, Eisenbahngeschichtliche Karte Österreichs, Handelsbeziehungen Judenburgs im 16. Jahrhundert, die Ravensburger Handelsgesellschaft). Dargestellt wurde die Entwicklung der österreichischen 23 Museum Österreichischer Kultur. Radiovortrag des Herrn Univ.-Prof. Dr. August von Loehr am 4. April 1946, KHMA, II 276, Mappe „Vorträge Loehr“. 24 [August Loehr], Museum österreichischer Kultur (1), o.D., KHMA, II 276, Mappe „Vorträge Loehr“.

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Städte, der Baubestand österreichischer Städte (Baualterspläne), romanische Baudenkmale in Österreich, die Verteilung von Museen in Österreich und Österreich im Vergleich mit anderen europäischen Staaten. Ausgestellt wurden Modelle der Hofburg, des Tors von Hainburg, eines romanischen Karners aus Niederösterreich, des Prangers von Donnerskirchen, der Rolandssäule von Drosendorf, der Riegersburg und des Innerberger Stadls.25 Das MÖK belegte mehrere Räume in der Neuen Burg. Die Hofburg war ja immer wieder als Standort von Museumsprojekten von gesamtstaatlicher Relevanz im Gespräch  : Sie sollte nach dem Ersten Weltkrieg zu einem „Kunst- und Kulturpalast“ werden, ein „vaterländisches Besitztum“ für Kunst und Wissenschaft, Volksbildung und Fremdenverkehr.26 Nach dem realen Machtverlust mit dem Ende der Monarchie und des Reiches versuchte Wien, nunmehr Hauptstadt eines Kleinstaates, sich in eine Kunst- und Kulturstadt zu wandeln. Das völlig überfüllte Kunsthistorische Museum hatte ohnehin sein Augenmerk auf die Hofburg gerichtet, vor allem auf die oberen Stockwerke des Mittel- und Hauptteils der Neuen Burg, nachdem der westliche Eckflügel schon zu Schauzwecken gebraucht wurde. 1949 beherbergte das MÖK bereits 100 kartografische Darstellungen, 20 Modelle und 1.500 Karten.27 „Museum“ war für Loehr im Kontext des MÖK ein vieldeutiges Konzept, oszillierend zwischen einer Stätte geistiger Arbeit, Kunst- und Wunderkammer. Sein Projekt war angesiedelt zwischen den etablierten Formen des Landes- und Spezialmuseums. Es sollte nicht nur Originalobjekte, Abbildungen und Modelle zur Schau stellen, sondern vor allem eine Darstellung von Entwicklungen und Zusammenhängen leisten.28 Beabsichtigt war ein Gegengewicht zu den Kunst- und Kunstgewerbemuseen, die sich nach Loehrs Ansicht zu formalästhetisch ausgerichtet hatten. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Loehrs äußerst breiter und offener Kulturbegriff, den er selbst einmal mit dem Leben an sich gleichsetzte.29 Sein Anliegen war nichts weni25 Führer durch das Museum Österreichischer Kultur (Führer durch die Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, hg. v. Verein der Museumsfreunde), Wien 1950  ; [August Loehr], Museum österreichischer Kultur (2), o.D., KHMA, II 276, Mappe „Vorträge Loehr“. 26 Julius Schlosser, Der Kunstpalast des deutsch-österreichischen Volkes, in  : Neues Wiener Tagblatt, 3.9.1919  ; 4.9.1919. 27 August Loehr, Das Museum österreichischer Kultur, in  : Anzeiger der phil.-hist. Klasse der ÖAW 86 (1949), 426–436. 28 Museum Österreichischer Kultur. Radiovortrag des Herrn Univ.-Prof. Dr. August von Loehr am 4. April 1946, KHMA, II 276, Mappe „Vorträge Loehr“. 29 [August Loehr  ?], Museale Darstellung der österreichischen Kultur, 2.3.1949, KHMA, II 276.

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ger, als alle Kulturfaktoren im Zusammenhang zu zeigen. Für ihn verdiente vor allem die „materielle Kultur“ erhöhte Aufmerksamkeit, während „geistige Kultur“ ohnehin genügend gewürdigt und bewahrt zu sein schien. Er plädierte daher auch unermüdlich für eine Einbeziehung nichtschriftlicher Überlieferung als Quelle für die Geschichtsschreibung. Diese durchaus modern anmutende Hinwendung zu einem sehr weiten und materiell grundierten Begriff von Kultur wurde fast zwangsläufig ergänzt durch einen stark pädagogischen Zug und ein volksbildnerisches Interesse. Der anschaulichen Vermittlung komplizierter Zusammenhänge und Entwicklungen – eine der zentralen Herausforderungen für jede Form von Repräsentation, nicht zuletzt für die museale – galt Loehrs Hauptaugenmerk. Dienen sollte alles der Besinnung und Orientierung nach der Krise der abendländischen Kultur, als die man die Vorgänge der letzten Jahrzehnte weithin verstand. Umso erstaunlicher ist es, dass die Darstellungsformen auf einige Beobachter/innen schon kurz nach der Eröffnung eigentümlich antiquiert, langweilig und schwer verständlich wirkten.30 Diagnostiziert wurde zudem, dass der Gegenstand österreichischer Geschichte durch die jeweilige Ausdehnung des Reiches notwendigerweise zu einer Übergröße des Museums führen müsse. Gleichzeitig deckten die Landesmuseen – am Standort des MÖK selbst das Historische Museum der Stadt Wien – teilweise bereits die Funktion eines solchen Kulturmuseums ab. Das MÖK schien eher als wissenschaftliches Forschungsinstitut vorstellbar, das wechselnde kulturhistorische Ausstellungen veranstaltet, aber nicht als Museum mit einer Dauerausstellung. Auch der Name der Einrichtung wurde ganz grundsätzlich kritisiert  : Kultur sei generell nicht etwas Statisches, sondern vielmehr Dynamisches und im konkreten Fall der „österreichischen Kultur“ auch etwas Lebendiges. Der Begriff des Museums sei daher in diesem Zusammenhang nicht adäquat, schließlich gehe es nicht um etwas Vergangenes. „Museum“ und „österreichische Kultur“ seien ein Widerspruch, zudem sei ein Museum für die Gegenwart und den Wiederaufbau Österreichs wenig hilfreich. Angemessen wäre höchstens der Name „Museum österreichischer Kulturgeschichte“.31 Darüber hinaus gab es Probleme, passende Originalobjekte zu finden  : Waren sie hoch qualitativ, wurden 30 Erich v. Strohmer, Museum österreichischer Kultur, 8.5.1950, KHMA, II 275  ; ders., Ein Museum österreichischer Kultur. Gefahren und Probleme einer kulturhistorischen Schau, in  : Die Presse, 19.8.1950 (auch in  : KHMA, II 282). 31 Karl Lechner (nö. Landesarchiv) an August Loehr, 20.3.1946, KHMA, II 283.

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MÖK  : Modell Stift St. Florian (Foto  : Kunsthistorisches Museum Wien/Archiv, Sign. I14691)

sie den Kunst- oder Technikmuseen zugewiesen. Loehr war jedoch nicht bereit, sein kulturhistorisches Museum nur mit zweitklassigen Objekten zu bestücken. Wurde 1946 noch davon geredet, dass MÖK könne ein „Forum österreichischer Kultur werden“, wurde es 1950 bereits als „Museum im Schatten“ tituliert  : Die Besucher/innen blieben aus, selbst Schulklassen kamen kaum, zumal noch nicht einmal der Stadtschulrat das Museum den Lehrer/innen empfohlen hatte. Ohnehin hatte es mangels Aufsichtspersonals nur sechs Stunden pro Woche geöffnet  : „Das österreichische Kulturmuseum ist ein Museum, das keiner kennt“, konnte daher lapidar konstatiert werden.32 Dennoch verstand es sich selbst durchaus als eine Art „Nationalmuseum“, wenn auch nur mit 3,5 Planstellen.33 Das beständige Raum-, Personal- und Finanzproblem war besonders eklatant im Vergleich zu den großen Bundesmuseen wie dem KHM, zu dem das MÖK ressortierte. Folgerichtig wurden 1975 die Bestände magaziniert. Seit Loehrs Tod im Jahr 1965 hatte der Historiker Gerhard Lü32 Karl Raimund Lorenz, Zwei neue Wiener Museen, in  : Die Furche, 13.4.1946  ; Gerhard Fritsch, Museum im Schatten, in  : Der Abend, 23.9.1950. 33 Es wurde auch als „Staatsmuseum“ bezeichnet, vgl. Pia Maria Plechl, Das kleine Staatsmuseum mit dem großen Namen, in  : Die Presse, 5.9.1961.

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cker (geb. 1917), der 1939 mit einer offen antisemitischen Arbeit über Das Judentum in der Wiener Journalistik 1848 („In unseren Tagen arbeitet man daran, dem Einfluß des Judentums auf das Leben des deutschen Volkes zu begegnen. In meiner Arbeit möchte ich einen Beitrag dazu leisten.“) an der Universität Wien promoviert worden war, als Direktor das MÖK geleitet.34 Doch damit war die Geschichte des „Museums österreichischer Kultur“ keinesfalls zu Ende  : 1987 wurde es in Eisenstadt wiedereröffnet. Die burgenländische Landeshauptstadt hatte sich offenbar nur knapp gegen St. Pölten durchgesetzt, das gerade erst zur niederösterreichischen Landeshauptstadt gekürt worden, aber noch nicht Sitz der Landesregierung war. Getragen wurde es nun von einem Verein unter Beteiligung von Bund, Bundesland und Stadt. Auf 500m2 wurde dort in einer Dauerausstellung die Kulturgeschichte des „österreichischen Raumes“ von der Urgeschichte bis zum Ende des Mittelalters gezeigt.35 Der neuen Leiterin, der Historikerin Gerda Mraz (geb. 1940), gelang es mit Sonderausstellungen zu den unterschiedlichsten Themen (etwa zum Frauenwahlrecht, zur Zauberkunst oder zu Deutschland-Karikaturen) die Bekanntheit zu steigern, vor allem aber mit einer Ausstellung über Elisabeth, Königin von Ungarn im Jahr 1991 über 30.000 Besucher/innen anzuziehen. 1988/89, als einen prononciert politischen Beitrag zum „Bedenkjahr“, zeigte das MÖK unter dem Titel Bausteine der Republik Österreich Teile von Renners Republikmuseum, ergänzt um eine Bilddokumentation. Die Bestände des „Museums der Ersten und Zweiten Republik“ waren in der Hofburg gelagert und dann 1987 nach Eisenstadt gebracht und restauriert worden. Den offiziellen Repräsentationsgemälden der Präsidenten und Kanzler wurden nun die Lebensumstände und Probleme der Menschen in Fotografien gegenübergestellt, das Ideal mit der Realität konfrontiert. Darüber hinaus versuchte die Ausstellung das Jahr 1938 mit einer Vorgeschichte zu versehen und die Geschichte tatsächlich als Lehre und Appell an die Gegenwart zu begreifen  : „Es geht in dieser Ausstellung nicht ums Aufzählen und nicht ums Abwägen, weder der Verdienste noch der Fehler. Es geht nicht um Schuldzuweisung und

34 Gerhard Lücker, Das Judentum in der Wiener Journalistik 1848, Diss. phil. Wien 1939, hier 1. Gutachter waren Heinrich von Srbik und Hans Hirsch. Vgl. Universität Wien/Universitätsarchiv, Phil. Fak. Rigorosenprotokolle, Nr. 14.988, sowie Phil. Fak. Rigorosenakt 14.988. Zu Lücker vgl. auch Manfred Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945 (MIÖG, Ergänzungsbd. 50), Wien – München 2007, 384. 35 Zur späteren Geschichte des MÖK in Eisenstadt vgl. KHMA, I 379.

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MÖK Eisenstadt  : Einführung in die politische Geschichte des Mittelalters mithilfe zeitgenössischen Bildmaterials und ein Einblick in die Weltordnung anhand einiger Tafeln des Verduner Altars (Foto  : Kunsthistorisches Museum Wien/Archiv, Sign. XV569)

Bewertung. Es geht um eine fundamentale Aussage  : Schlagt Euch nie wieder die Köpfe blutig, weil ihr verschiedener Weltanschauung seid  ; sucht nicht Sündenböcke für eigene Unzulänglichkeiten, und an die Adresse der Regierungen – laßt keine Gräben entstehen zwischen Euch und dem Volk, laßt die Menschen nicht allein mit ihren Problemen  !“36

Nach 40 Jahren wurden so zaghaft die konstitutiven Blindstellen des österreichischen Nachkriegs museal auszuleuchten versucht – in dem Museum, das sich als einziges zentral der österreichischen Geschichte und Kultur verschrieben hat, aber seit seiner Gründung stets ein Torso und marginal geblieben war, was sich mittlerweile auch in seinem Standort dokumentierte. Im Katalog 36 Bausteine der Republik Österreich – dennoch ein Beitrag zum Gedenkjahr 1988 (Jahrbuch für österreichische Kulturgeschichte 16 = Publikation zur 1. Sonderausstellung des MÖK Eisenstadt), Kat. Eisenstadt 1988, 5.

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zur Sonderausstellung zum „Bedenkjahr“ schrieb Mraz selber über Renners Projekt – und forderte unter Verweis auf die Debatten über Österreichs Vergangenheit (Waldheim) und Demokratiemüdigkeit ein neues Republikmuseum.37 Ob sie damit ihrem Haus eine neue Bedeutung und Ausrichtung geben wollte oder erneut auf die Arbeitsteilung Bezug nahm, die unausgesprochen von Anfang an zwischen Renners Republikmuseum und Loehrs „Museum österreichischer Kultur“ zu bestehen schien, ist allerdings unklar. Die Pläne für eine neue und erweiterte Dauerausstellung des MÖK konnten jedenfalls nicht mehr realisiert werden  : Ende 1994 wurde das Museum in Eisenstadt geschlossen und abgebaut, seine Sammlungen erneut eingelagert, weil das Gebäude für eine wirtschaftlich-technische Fachhochschule benötigt wurde. Dabei hätte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Eisenstadt als zukunftsträchtiger Standort gelten können – mit vielfältigen Möglichkeiten, nachbarschaftliche Beziehungen Österreichs zu einem Kernthema werden zu lassen. Der Nutzen eines Museums zur österreichischen Geschichte, immerhin des einzigen seiner Art in der Republik, schien aber offenbar von allen Beteiligten von Stadt, Land und Bund im Vergleich zu einer praktischen Ausbildungsstätte als gering veranschlagt zu werden.

III. Deutsche Projekte und grenzüberschreitende Debatten der 1980er-Jahre Die 1980er- und 1990er-Jahre, in denen das MÖK am Rande der österreichischen Museumslandschaft existierte und – trotz einiger Erfolge und weiterer Zukunftsprojekte – schließlich zum zweiten Mal geschlossen wurde, war eigentlich die Zeit eines erneuten, dieses Mal nicht nur europäischen, sondern weltweiten Museumsbooms, der sich in einer Vielzahl von Neugründungen auf allen Kontinenten, aber auch zahlreichen Neukonzeptionen bestehender Häuser niederschlug. In Deutschland war es der CDU-Langzeitkanzler Helmut Kohl, der im Rahmen seiner „geistig-moralischen Wende“ seit Anfang der 1980er-Jahre energisch die Gründung zweier neuer Museen betrieb  : eines Hauses für die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik, des 1994 eröffneten „Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn, sowie eines breiter angelegten Museums für die Geschichte der Deutschen in Berlin, des im gleichen Jahr in Berlin eröffneten „Deutschen Historischen Museums“ (DHM). Beide Projekte führten zu lang andauernden und kon37 Mraz, Gibt es ein Republikmuseum  ?, 61f. (wie Anm. 14).

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troversen Debatten, die sich in den weiteren Kontext geschichtspolitischer Debatten in Deutschland in den 1980er- und 1990er-Jahren eingliedern.38 Immerhin war die erklärte Absicht, die historische Kontinuität zu einer deutschen Vergangenheit vor Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Holocaust wiederherzustellen und die Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands als eindeutige Erfolgsgeschichte darzustellen. Mit beidem sollte den Deutschen wieder eine positive Identifikation mit ihrer Geschichte und ihrem Land ermöglicht werden, die deutschen Massenverbrechen historisiert und die deutsche Geschichte insgesamt normalisiert werden. Zugleich galt es, das größere Deutschland jenseits der Bundesrepublik und die Forderung nach einer Wiedervereinigung im Blick zu behalten. Das Nürnberger Germanische Nationalmuseum schien als Nationalmuseum gegen Ende des 20. Jahrhunderts für diesen Zweck offenbar nicht mehr ausreichend zu sein. Vor allem der bundesrepublikanische Blick auf eine in jeder Hinsicht entgrenzte „deutsche Geschichte“, die bis in die Antike zurückgeführt wurde, tangierte Österreich.39 Während der nördliche Nachbar und „große Bruder“ mit den Museumsdebatten und dem sogenannten Historikerstreit, sich selbstbespiegelnd, weitreichende Fragen deutscher Identität und Geschichte verhandelte, war Österreich mit der Waldheim-Affäre beschäftigt, die desgleichen grundlegende Fragen nach nationaler Identität und Kontinuitäten in der Geschichte aufwarf. Am bundesdeutschen Historikerstreit beteiligten sich österreichische Historiker/innen währenddessen signifikanterweise nicht, dabei hätte sie das dort verhandelte Thema – Singularität oder Vergleichbarkeit der NS-Verbrechen und deren Stellung und Bedeutung in der Geschichte – auch angehen können. Hier schlug aber wohl der gänzlich andere österreichische Weg der „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945 durch.40 Die deutsche 38 Moritz Mälzer, Ausstellungsstück Nation. Die Debatte um die Gründung des Deutschen Historischen Museums in Berlin (Gesprächskreis Geschichte 59), Bonn 2005. 39 Zur gegenseitigen Wahrnehmung, vor allem in der Geschichtswissenschaft, vgl. Monika Glettler, Die Bewertung des Faktors Deutschland in der österreichischen Historiographie, in  : Michael Gehler/Rainer F. Schmidt/Harm-Hinrich Brandt/Rolf Steininger (Hg.), Ungleiche Partner  ? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert (HMRG, Beiheft 15), Stuttgart 1996, 55–72  ; Thomas Brechenmacher, „Österreich steht außer Deutschlands, aber es gehört zu Deutschland.“ Aspekte der Bewertung des Faktors Österreich in der deutschen Historiographie, in  : ebd., 31–53. Dazu außerdem allgemein  : Matthias Pape, Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945–1965, Köln – Weimar – Wien 2000. 40 Karl Stuhlpfarrer, Von der Bedeutung des „deutschen Historikerstreit“ für Österreich, in  :

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Identität Österreichs, die noch nach dem Ersten Weltkrieg bestimmend war, sichtbar in der verbreiteten Sehnsucht nach einem Anschluss, war mit dem „Dritten Reich“ und vor allem seiner Niederlage endgültig begraben worden, wenn auch das Österreichbewusstsein nach 1945 sicher nicht nur aus Opportunismus entstand, sondern an frühere Entwicklungen anknüpfen konnte  : Es wuchs besonders nach dem Staatsvertrag 1955, mit der Neutralität als Symbol, so dass wohl ab 1960 von einem eigenständigen österreichischen Nationalbewusstsein gesprochen werden kann, das die von Deutschland abgegrenzte Nation nicht mehr infrage stellt. Zuvor war eher der spezifische Charaktertypus des Deutschösterreichers, der „österreichische Mensch“, von demjenigen des Reichsdeutschen abgegrenzt worden, weniger staatliche Eigenständigkeit als eine zumindest teilweise eigenständige kulturelle Tradition postuliert worden.41 Der Opfermythos und die konsequente Ausblendung österreichischer Beteiligung an den großdeutschen Massenverbrechen in ganz Europa dürfte jedoch die unvermeidbare Kehrseite dieser sehr spezifischen Nachkriegserfolgsgeschichte gewesen sein.42 Die westdeutschen Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung benötigten jedoch zumindest bis zu ihrer Realisierung 1989/90 weiterhin das Postulat einer deutschen Nation oder eines deutschen Volkes über die staatlichen Grenzen hinweg, vor allem angesichts einer sich immer mehr verfestigenden bundesrepublikanischen Identität. Das neu erwachte Interesse für deutsche Geschichte ging einher mit einer Neubesinnung auf Preußen, deren sichtbarster Ausdruck die große Ausstellung Preußen. Versuch einer Bilanz 1981 im Berliner Gropius-Bau war. Damit war ein kleindeutsch-borussisches Geschichts- und Gegenwartsverständnis vorgegeben, das sich schließlich auch Hans-Jürgen Häßler/Christian von Heusinger (Hg.), Kultur gegen Krieg – Wissenschaft für den Frieden, Würzburg 1989, 310–317. Vgl. auch Ina Horn, Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte. Überlegungen anläßlich des Historikerstreits, in  : ebd., 306–309. 41 Richard Saage, Die deutsche Frage. Die Erste Republik im Spannungsfeld zwischen österreichischer und deutscher Identität, in  : Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Wien 2008, Bd. 1, 65–82  ; Dieter A. Binder/Ernst Bruckmüller, Essay über Österreich. Grundfragen von Identität und Geschichte 1918–2000, Wien – München 2005, 101–110  ; Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse (Studien zu Politik und Verwaltung 4), Wien – Köln – Graz 21996, 61–67  ; William M. Johnston, Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs, Wien – Graz – Köln 2010. 42 Zum Opfermythos vgl. auch Ernst Hanisch, Von der Opfererzählung zum schnellen Moralisieren. Interpretationen des Nationalsozialismus in Österreich, in  : Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), 255–265.

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in der Ortswahl für ein Museum für die gesamte deutsche Geschichte niederschlug. Der erste Entwurf der Sachverständigenkommission (1986) sah vor, dass das zu errichtende Deutsche Historische Museum daran erinnern solle, dass die Geschichte Österreichs wie die Burgunds, der Schweiz und der Niederlande „lange Zeit zur Geschichte des Alten Reiches gehörten oder mit der deutschen Geschichte verbunden waren“.43 Die Fragen bei der Konzeption des Museums waren ungefähr die gleichen wie die Fragen in der politischen Geschichte des 19. Jahrhunderts  : Wie kann Österreich eingebunden und gleichzeitig eine deutsche Geschichte im Habsburgerreich von der anderer Völker abgegrenzt werden  ? Welche Inhalte gilt es jenseits des Gegensatzes zwischen Preußen und Österreich zu berücksichtigen  ? Österreichische Historiker/innen waren währenddessen nicht an den Vorarbeiten beteiligt (allein der in Wien lehrende deutsche Neuzeitler Heinrich Lutz war Mitglied der Sachverständigenkommission). Gerade die Wahl der Hauptstadt des preußisch dominierten Deutschen Reichs von 1871 als Ort, um über das Alte Reich zu sprechen, musste aus österreichischer Sicht als Provokation erscheinen. Dem Klagenfurter Historiker Helmut Rumpler galt das zweite Deutsche Reich geradezu als Antithese zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, der Deutsche Bund wurde von den Österreichern nicht als nationaler, sondern nur als völkerrechtlicher Verein verstanden. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als deutsch im Sinne des Nationalismus des 19. Jahrhunderts darzustellen, konnte aus österreichischer Sicht nur als fatale Verwechslung erscheinen. Befürchtet wurde eine Vereinnahmung der Österreicher/innen als „deutsches Volk“ und eine Annexion der habsburgischen Geschichte als Vorgeschichte Deutschlands, die aber nach 1945 bereits dem österreichischen Nationalgedanken einverleibt worden war.44 Darüber hinaus wurde das Projekt eines neuen deutschen Nationalmuseums in Österreich noch viel grundsätzlicher kritisiert. Die Wiener Zeithistoriker Siegfried Mattl und Karl Stuhlpfarrer, die das Projekt als eine „gefährliche 43 Christoph Stölzl, Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Frankfurt a.M. – Berlin 1988, 311. Dazu auch  : ebd., 325, sowie 611 (überarbeitete Fassung 1987). 44 Engelbert Washietl, Geschichte einer starken Umarmung. Wie Österreich in das Projekt eines deutschen historischen Museums in Berlin hineingerät, in  : Die Presse, 12.12.1986  ; dazu auch die Leserbriefe, in  : Die Presse, 20./21.12.1986 (Die Zahl der deutschen Staaten hat’s in sich. Nur „Berührungsängste“ mit dem Museum in Berlin  ?), 24./25./26.12.1986 (Nachbeben zur deutschen Geschichte. Wie lange gehörte Österreich dazu  ?), 11.1.1987 (Deutsches Volkstum, Wehrmachtspflichten. Stiehlt sich Österreich „aus der Geschichte davon“  ?).

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Expansionsdrohung der deutschen konservativen Geschichtswissenschaft“ verstanden, verwiesen etwa darauf, dass das Konzept eines Nationalmuseums dieser Art nicht mehr zeitgemäß sei  : „Nationalmuseen sind Angelegenheiten von gestern, sie sind das demokratische Erbe gestürzter Dynastien, aus den landesherrlichen Kunst- und Waffenkammern zusammengetragen, um die Dialektik des bürgerlichen Nationalstaates zu zeigen  : Zerstörer der vernunftwidrigen Privilegien und Vollender des Kulturprozesses durch die Verallgemeinerung von Bildung und Wissen.“45

Tatsächlich ist die jetzige, 2006 eröffnete Dauerausstellung des DHM ein aus Sicht der geschichtswissenschaftlichen und theoretischen Debatten der letzten Jahre und Jahrzehnte seltsam unzeitgemäßer und unreflektierter Versuch, mit einer Unzahl unterschiedlichster Objekte eine 2000-jährige deutsche Nationalgeschichte zu konstruieren, trotz des ständigen Verweises auf Europa – ein ebenso undeutlicher und sich ständig entwickelnder Begriff – und der selbstverständlichen Einbeziehung der Katastrophen und Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts und ihrer deutschen Ursprünge in die Erzählung. Jenseits der Abschnitte über den „deutschen Dualismus“ 1740–1789 und den „Wiener Kongress und die Ära Metternich“ 1815–1848 wird erwartungsgemäß ein weitgehend kleindeutsch-preußenzentriertes Bild entworfen. Königgrätz findet kurz Erwähnung, als letzter Schritt zur Überwindung des Dualismus zwischen Preußen und Österreich, der der Gründung eines Nationalstaats entgegenstand. Der „Anschluss“ 1938 ist nur noch eine Fußnote. Der sich wandelnde Begriff von „Deutschland“ wird weit weniger thematisiert und problematisiert, als dies im Katalog angekündigt wird und wohl angezeigt gewesen wäre.46 Entgegen den ursprünglichen Befürchtungen wird Österreich in Berlin wohl weniger vereinnahmt, als aus der deutschen Geschichte verdrängt – auch dies dürfte seiner historischen Rolle kaum angemessen sein, vielleicht ist es aber ein spätes Ergebnis der österreichischen Kritik. Doch nicht nur die Debatten um das Berliner Museum wirkten in dieser Zeit in Österreich wie die Rückkehr einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung, die durch die Fokussierung auf ein „deutsches Volk“ die staatliche Orien45 Siegfried Mattl/Karl Stuhlpfarrer, Die museale Verklärung der deutschen Vergangenheit, in  : Wiener Tagebuch 1987/2, 9–11, hier  : 9. 46 Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen, hg. v. Hans Ottomeyer u. Hans-Jörg Czech, Kat. Berlin 2007.

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tierung und Begrenzung zu überwinden versuchte. Die Frage nach der Eigenständigkeit der österreichischen Nation wurde gegen Ende der 1970er- und in den 1980er-Jahren auch von anderer Seite wieder aufgeworfen  : nicht im Sinne des klassischen Deutschnationalismus, der immer am Paradigma eines Einheitsstaates ausgerichtet war, sondern vielmehr aus einem Blickwinkel, der die staatliche Vielfalt als den Normalfall der deutschen Geschichte verstand, nicht zuletzt, weil mit der Zeit eine deutsche Wiedervereinigung immer unwahrscheinlicher geworden war. Der Kieler Historiker Karl Dietrich Erdmann (1910–1990), in den 1960er-Jahren Vorsitzender des Verbandes Deutscher Historiker, in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre Präsident des Comité International des Sciences Historiques, präsentierte schon 1976 im 4. Band der 9., von ihm neu bearbeiteten Auflage von Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte seine These von der „Dreistaatlichkeit“ Deutschlands und setzte sie auch sogleich um, indem er für die Jahre von 1945 bis 1950 die Entstehung der Republik Österreich mitbehandelte. Der Titel der Taschenbuchausgabe (1980) lautete denn auch provokant Das Ende des Reiches und die Neubildung deutscher Staaten.47 Im abschließenden Kapitel „Ende oder Epoche der deutschen Geschichte“ sprach er ganz selbstverständlich von den „Deutschen in Österreich“, die im Begriff seien, eine österreichische Staatsnation zu werden, aber ein „Teil des deutschen Volkes“ blieben und im „deutschen geschichtlichen Kulturzusammenhang“ stünden.48 Trotz offensichtlicher Abweichungen vom Nationalstaatsgedanken des 19. Jahrhunderts schien Erdmann das Ziel einer „politische[n] Wiederverwirklichung als Staatsnation“ nicht völlig aufgeben zu wollen, selbst wenn es in weite Ferne gerückt war.49 47 Karl Dietrich Erdmann, Die Zeit der Weltkriege (Gebhardt – Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl., Bd. 4), Stuttgart 1976  ; ders., Das Ende des Reiches und die Neubildung deutscher Staaten (Schmutztitel innen  : Das Ende des Reiches und die Entstehung der Republik Österreich, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik) (Gebhardt – Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl., Bd. 22), München 1980  ; ders., Die Spur Österreichs in der deutschen Geschichte. Drei Staaten – zwei Nationen – ein Volk  ? (Manesse-Bücherei 27), Zürich 1989. Die beiden dort zusammengefassten Texte erschienen erstmals 1985 und 1987. In der gerade erscheinenden 10. Auflage des Gebhardt sind neben eigenen Bänden für den Holocaust und die NS-Rassenpolitik sowie für den Zweiten Weltkrieg Bände für die Besatzungszeit 1945–1949, die DDR 1949–1990 und die Bundesrepublik Deutschland 1949–1990 vorgesehen. Österreich scheint nicht mehr auf. 48 Erdmann, Die Zeit der Weltkriege, 800f. (wie Anm. 47)  ; ders., Das Ende des Reiches und die Neubildung deutscher Staaten, 354f. (wie Anm. 47). 49 Erdmann, Die Zeit der Weltkriege, 804 (wie Anm. 47)  ; ders., Das Ende des Reiches und die Neubildung deutscher Staaten, 360 (wie Anm. 47).

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Erdmanns Thesen wurden in Österreich zusammen mit der WaldheimDebatte und der Diskussion um die Errichtung eines Museums deutscher Geschichte in Berlin brisant.50 Sie trafen nicht ausschließlich auf Ablehnung. Der Salzburger Historiker Fritz Fellner ging seinerseits weiterhin von einer gemeinsamen Kulturnation aus. Erdmann konnte aber zu Recht eine unreflektierte Wiederaufnahme von „Volk“ und „Boden“ als ahistorische Kategorien vorgeworfen werden.51 In seinem Konzept von „Drei Staaten – zwei Nationen – ein Volk“ blieb die österreichische Nation zwar unangetastet, während DDR und BRD zusammengefasst wurden, das „Volk“ bot jedoch den überwölbenden, verbindenden Begriff, der „deutsche Siedlungsraum Mitteleuropas“ bzw. „Siedlungsraum des deutschen Volkes in Mitteleuropa“ den Bezugsraum für eine deutsche Geschichte. Der Wiener Historiker Gerald Stourzh kritisierte, dass Erdmann 1938 implizit zum „Normaljahr“ der deutschen Geschichte erkläre.52 Unklar blieb freilich, wann die gemeinsame Geschichte zu Ende gewesen sei  : erst 1866 (Erika Weinzierl) oder bereits 1806 (Helmut Rumpler)  ?

50 Harry Ritter, Austria and the Struggle for German Identity, in  : German Studies Review 15 (1992) Winter (Special Issue  : German Identity), 111–129. Dazu auch  : Erika Weinzierl, Österreichische Nation und österreichisches Nationalbewußtsein, in  : Zeitgeschichte 17 (1989), 44–63  ; Agnes Blänsdorf, Staat – Nation – Volk  : Österreich und Deutschland. Zu Gerald Stourzh’ Auseinandersetzung mit Karl Dietrich Erdmann, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42 (1991), 767–774  ; Jürgen Elvert, Erdmann-Debatte und Historikerstreit. Zwei Historikerkontroversen im Vergleich, in  : Michael Gehler/Ingrid Böhler (Hg.), Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart (FS Rolf Steininger), Innsbruck – Wien – Bozen 2007, 454–467  ; Georg Christoph Berger Waldenegg, Das große Tabu. Historiker-Kontroversen in Österreich nach 1945 über die nationale Vergangenheit, in  : Jürgen Elvert/Susanne Krauss (Hg.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 143–174. Für zeitgenössische österreichische Reaktionen auf Erdmann vgl. z.B. Die Presse, 7./8.12.1985 (Lothar Höbelt, „Drei Staaten – ein Volk  ?“. Kontinuität in der Geschichte)  ; 21./22.12.1985 (Moritz Csáky, Wie deutsch ist Österreich – eine ewiggestrige Frage  ?)  ; 11./12.1.1986 (Streit um ewiggestrige Fragen. Heimatgefühl in Hamburg und Prag). Vgl. außerdem in diesem Zusammenhang Robert Knight, The Waldheim context  : Austria and Nazism, in  : The Times Literary Supplement, 3.10.1986. 51 Vgl. dazu die Beiträge von Hans Haas, Fritz Fellner, Karl Dietrich Erdmann, Rudolf G. Ardelt, Gerald Stourzh, Ernst Bruckmüller, Lothar Höbelt, Winfried R. Garscha, Helmut Rumpler und Hans Mommsen, in  : Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker (Studien zur historischen Sozialwissenschaft 13), Frankfurt a.M. – New York 22008. 52 Gerald Stourzh, Vom Reich zur Republik. Studien zum Österreichbewußtstein im 20. Jahrhundert, o.O. 1990, hier  : 54.

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IV. Debatten und Konzepte seit den 1990er-Jahren Die letzte, die gewissermaßen „aktuelle“ Debatte begann etwa weitere zehn Jahre später.53 Mitte der 1990er-Jahre wurde bekannt, dass der Wiener Stadtschulrat im Jahr 2000 aus dem Palais Epstein an der Ringstraße ausziehen würde. Das historische Gebäude, direkt neben dem Parlament gelegen, ist vielfältig aufgeladen  : errichtet von zwei der zentralen Wiener Architektenpersönlichkeiten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bzw. des beginnenden 20. Jahrhunderts (Theophil Hansen und Otto Wagner), in Auftrag gegeben von einem jüdischen Industriellen und Bankier (Gustav Ritter von Epstein), ein prototypisches Zinspalais der Ringstraßenzeit (mit Deckengemälden von Christian Griepenkerl, einem Maler, der später als Professor an der Wiener Akademie der Bildenden Künste dem jungen Adolf Hitler mangels Talent die Aufnahme in die Malerschule verweigerte), von 1922 bis 1938 Sitz des Stadtschulrates (und somit Zentrum der sozialdemokratischen Schulreformen der Zwischenkriegszeit), dann deutsches Reichsbauamt, sowjetische Kommandantur, ab 1958 (nach einer kurzen Zwischennutzung durch die Hochschule für Musik und darstellende Kunst) wieder Stadtschulrat. Das Gebäude konnte die goldene Zeit Wiens, die Ringstraßenzeit und das kunstsinnige jüdische Großbürgertum ebenso symbolisieren wie das „Rote Wien“, die Nazizeit, die Besatzungszeit und den demokratischen Wiederaufbau. Es war mithin selbst ein Kaleidoskop der Geschichte des späten 19. und gesamten 20. Jahrhunderts – ein scheinbar idealer Ort für eine historische Ausstellung, vielleicht aber auch überdeterminiert und erdrückend. Der Publizist Leon Zelman (1928–2007), Leiter des Wiener „Jewish Welcome Service“, der vertriebene Jüdinnen und Juden als Geste der Versöhnung zu Besuchen in das Land ihrer Herkunft einlud, schlug vor, dort ein „Haus der Toleranz“ einzurichten  : Es sollte eine Mischung aus einer Forschungsstätte „für die Geschichte der Intoleranz und Unterdrückung“ und einer Begegnungsstätte für Menschen aus Ost und West sein, darüber hinaus aber auch das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands und die

53 Für einen knappen Überblick vgl. Martina Nußbaumer, „Haus der Geschichte“, Version 05-06, in  : Martina Wassermair/Katharina Wegan (Hg.), rebranding images. Ein streitbares Lesebuch zu Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Österreich, Innsbruck – Wien – Bozen 2006, 197–210  ; Andrea Brait, Ein neues historisches Museum für Österreich. Bisherige Debatten und aktuelle Positionen der österreichischen Bevölkerung, in  : Wiener Geschichtsblätter 64 (2009), 24–37.

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EU-Beobachtungsstelle gegen Rassismus aufnehmen. Wien sollte damit nach Zelmans Willen zur „Hauptstadt der Geschichte“ werden. Kurt Scholz, noch amtsführender Wiener Stadtschulratspräsident und damit Hausherr im Palais Epstein, später Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien, votierte währenddessen für ein Museum der Republik, denn „die Geschichte der Republik ist ein blinder Fleck in der österreichischen Museumslandschaft“.54 Seit Anfang der 1990er-Jahre wurde auch eine bauliche Erweiterung des Heeresgeschichtlichen Museums für eine Ausstellung zur Geschichte der Republik geplant, die im Oktober 1996 allerdings wieder abgesagt wurde. Realisiert wurde schließlich im September 1998 ein neuer Teil der Dauerausstellung mit dem Titel Republik und Diktatur. Österreich 1918–1945  : mit fast 2.000 Einzelobjekten vom Bahnhofsschild „Kopfstetten-Eckartsau“ über eine Traditionsfahne des Schutzbundes, ein Gewehr der Schattendorf-Morde, den Prälatenhut Seipels, den Federkiel des Konkordats 1933 und das Sterbesofa Dollfuß’ bis hin zu einer Hitler-Büste.55 Die Ausstellung verlässt sich ganz auf die auratische Ausstrahlung der Originalobjekte, deren Vielzahl ein Narrativ fast zu blockieren scheint. Darüber hinaus ließ Manfried Rauchensteiner, der offen eine Umwandlung des von ihm geleiteten Heeresgeschichtlichen Museums in ein „österreichisches Nationalmuseum“ betrieb, auf einen Auftrag der ÖVPnahen Salzburger Dr. Wilfried Haslauer-Stiftung hin eine Studie zu den Problemen und Möglichkeiten der Musealisierung österreichischer Zeitgeschichte erstellen.56 Die Salzburger Historikerin Sabine Fuchs erarbeitete ein erstes Gerüst für ein Museum der Zweiten Republik, das prinzipiell chronologisch aufgebaut sein, aber darüber hinaus Schwerpunkte in Form von Längsschnitten beleuchten sollte. Im Vordergrund standen die konstitutiven Momente der österreichischen Identität (Verhältnis zu Deutschland, Staatsvertrag, Neutralität, Wirtschaftsentwicklung, soziale Errungenschaften, Weltpolitik in den 1970erJahren, Mitteleuropa, europäische Integration, Symbole Österreichs), aber 54 Eva Linsinger, „Haus der Toleranz“ im Ring-Palais Epstein, in  : Der Standard, 23./24.8.1997  ; Ursula Rischanek, Ringen um Palais Epstein, in  : Die Presse, 15.7.1998  ; Kurt Scholz, Für ein Museum der Republik, in  : Der Standard, 16.9.1998  ; eli, Das Palais Epstein als „Haus der Geschichte“, in  : Der Standard, 10.8.1998. 55 Manfried Rauchensteiner, Die Ausstellung  : „Republik und Diktatur. Österreich 1918–1945“, in  : Viribus Unitis. Jahresbericht 1998 des Heeresgeschichtlichen Museums, Wien 1999, 9–14. 56 Viribus Unitis. Jahresbericht 1999 des Heeresgeschichtlichen Museums, Wien 1999, 5f.; Sabine Fuchs, Musealisierung der österreichischen Geschichte nach 1945. Überlegungen, Möglichkeiten, Probleme (Dr. Wilfried Haslauer-Bibliothek, Forschungsinstitut für politisch-historische Studien), o.O. o.J. [1999].

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auch lebensweltliche und alltagsgeschichtliche Aspekte (Mobilität, Umgang mit der Natur, Freizeit, Geschlechterbeziehungen, Informations- und Mediengesellschaft, Kultur, Religion, Technik) sollten Berücksichtigung finden. Dem HGM selbst stand bei seinen Aspirationen vor allem seine Geschichte als Militärmuseum der Monarchie im Wege, sein historisches Gebäude erwies sich eher als Bürde denn als Standortvorteil. Der betont ÖVP-nahe Grazer Historiker Stefan Karner präsentierte Ende 1998 ein erstes Konzeptpapier für ein „Haus der Zeitgeschichte“ als Ergebnis einer vom damaligen Vizekanzler Wolfgang Schüssel, bald schon Bundeskanzler einer FPÖ-ÖVP-Koalition, eingesetzten „Denkwerkstatt Österreich Zukunftsreich“.57 Ende 1998 wurde auch endgültig beschlossen, das Palais Epstein nicht für museale Zwecke, sondern für den benachbarten Nationalrat als Bürogebäude zu nutzen. Zelman gab allerdings nicht auf, beharrte auf dem Standort, den er aufgrund seiner Geschichte als prädestiniert für das Projekt und offenbar nicht austauschbar ansah.58 Auch Caspar Einem, SPÖ-Wissenschaftsminister, verwies noch einmal auf die Signalwirkung, die eine solche Einrichtung an der Ringstraße – neben dem Parlament, gegenüber dem Heldenplatz und in unmittelbarer Nachbarschaft zu den großen Museen sowie zum Justizpalast – hätte haben können und plädierte für eine Auseinandersetzung mit der lange verleugneten Vergangenheit, aber auch mit gegenwärtigem Antisemitismus und Rassismus. Während für Einem eine historische Chance vertan schien, verteidigte Andreas Khol, ÖVP-Klubobmann, später Präsident des Nationalrats, die Nutzung des Palais Epstein durch das Parlament vehement  : Er sah die Chancen für ein „Haus der Toleranz“ („Haus der Versöhnung/der Aussöhnung/des niemals Vergessens“) ebenso wie für ein „Haus der Zeitgeschichte“ als Museum für die Zweite Republik, in dem sich „die Willensnation der Österreicher“ selbstbewusst präsentieren könne, weiterhin als intakt an. Eine Einrichtung für die Erfolgsgeschichte der Republik sollte eine Gedenkstätte des Unrechts ergänzen – und vice versa. Der Schriftsteller Robert Menasse, stets ein klarsichtiger Analytiker der österreichischen Verhältnisse, konnte einen so umfassenden Drang nach institutionalisierter Erinnerung nur als einen Ausdruck der allgemeinen österreichischen Kultur des Vergessens verstehen.59 57 Stefan Karner (Hg.), Österreich Zukunftsreich. Denkpfeiler ins 21. Jahrhundert. Eine Initiative von Vizekanzler Wolfgang Schüssel, Wien 1999, 431–462. 58 Gerfried Sperl, Noch einmal das Epstein  : Mit neuem Konzept, in  : Der Standard, 26.2.2001. 59 Caspar Einem, Eine historische Chance vertan, in  : Der Standard, 23.11.1998  ; Andreas Khol,

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Für den Nationalrat war das Thema durch die anderweitige Verwendung des Palais Epstein keineswegs erledigt. Er forderte im Februar 1999 mit einem Entschließungsantrag aller damals vertretenen Parteien die Bundesregierung auf, das Projekt eines zeitgeschichtlichen Museums weiter zu betreiben und einen Ideenwettbewerb auszuschreiben. Bereits zuvor waren allerdings nebeneinander zwei Machbarkeitsstudien aus der Bundesregierung heraus in Auftrag gegeben worden  : eine bei dem Innsbrucker Politologen Anton Pelinka für ein „Haus der Toleranz“ durch SPÖ-Wissenschaftsminister Caspar Einem, eine bei Stefan Karner und Manfried Rauchensteiner für ein „Haus der Geschichte der Republik Österreich“ durch ÖVP-Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer, die schon im Juni bzw. Oktober 1999 präsentiert wurden. Allein das Forcieren zweier getrennter Projekte jenseits des Parlaments, durch die zwei großen politischen Parteien des Landes, die es nur noch kurz in einer gemeinsamen „großen Koalition“ aushalten sollten, bevor sie von der tabubrechenden FPÖ-ÖVP-Regierung abgelöst wurde, musste notwendigerweise den Eindruck von „Auftragsgeschichtsschreibung“ erwecken.60 Die Konzepte Pelinkas und Karners verdienen jedoch genauere Aufmerksamkeit.61 Schließlich stellen sie die am detailliertesten ausgearbeiteten veröffentlichten Pläne dar und lassen somit die verschiedenen Ansätze und Absichten sichtbar werden, zwischen denen sich die Diskussion um ein solches Museum bewegte. Pelinka und sein Team evaluierten eine ganze Reihe einschlägiger etablierter Institutionen im Ausland, um darauf aufbauend ihr eigenes Konzept für ein „Haus der Toleranz“ zu argumentieren  : darunter das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, das Museum of Jewish Heritage in New York, das Simon Wiesenthal Center/Museum of Tolerance in Los Angeles, die nationale israelische Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und die Anne Frank Stichting in Amsterdam. Die Absicht war es, einen Ort der Information, Wissensvermittlung und Bewusstseinsbildung für Formen des Umgangs mit Konflikten zu schaffen, eine Mischung aus Ausstellungs-, Bildungs- und Forschungszentrum, wie sie auch einige der genannDie Chance ist dreifach intakt  !, in  : Der Standard, 24.11.1998  ; Peter Diem, Standortfrage Nebensache, in  : Der Standard, 25.11.1998  ; Robert Menasse, Zwischen Epstein und Bad Ischl, in  : Der Standard, 3.12.1998. 60 Gehrer gegen Historiker, in  : Die Presse, 23.12.1999. 61 Institut für Konfliktforschung (Anton Pelinka u.a.), Machbarkeitsstudie für ein „Haus der Toleranz“, 1999  ; Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung (Stefan Karner/Manfried Rauchensteiner), Haus der Geschichte der Republik Österreich (HGÖ), 1999, , 16.3.2010.

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ten Vergleichseinrichtungen auszeichnet. Den Bezugsrahmen boten „Wien und Zentraleuropa“ in der Anfangsphase des 20. Jahrhunderts, also nicht ausschließlich die österreichische Geschichte oder der Holocaust. Vielmehr wurde damit eine Vielzahl von historischen Phänomenen und Entwicklungen angesprochen  : der Zionismus ebenso wie der „säkularisierte exterminatorische Antisemitismus“, die Psychoanalyse wie der Marxismus und die christliche Soziallehre, Nationalismen wie Faschismen. Deutlich abgegrenzt wurde der Auftrag gegen eine rückwärtsgewandte Repräsentation von Geschichte, stattdessen wurde die Ausrichtung auf Gegenwart und Zukunft betont. Konsequenterweise wurde daher der Museums-Begriff für die zu schaffende Einrichtung erst gar nicht diskutiert, er konnte bei einer solchen Aufgabenstellung nur unangemessen und antiquiert wirken. Der Name „Haus der Toleranz“ wurde in Anlehnung an das mit dem Simon Wiesenthal Center verbundene „Museum of Tolerance“ gewählt. 1993 in Los Angeles eröffnet, hat es sich dem Kampf gegen Vorurteile, Antisemitismus und Rassismus verschrieben, mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte des Holocaust, geriet aber immer wieder in die Kritik wegen seines geradezu exzessiven Einsatzes von Multimediatechnologie und emotionalisierenden Effekten. Pelinka wollte den Namen ausschließlich als Arbeitstitel verstanden wissen  : Als endgültige Bezeichnung wurden skurrile Konstruktionen wie „Haus denk mal“ und „Denk-mal“ ins Spiel gebracht, aber auch der Name eines unbekannten österreichischen Kindes, das zum Opfer des Holocaust wurde. Als Kern des Hauses war eine Dauerausstellung angedacht, die sich zentral mit dem „Holocaust mit seinen spezifisch zentraleuropäischen Aspekten“ beschäftigen sollte  : „Allerdings ist nicht das Trauma zu illustrieren, sondern eher die Fassungslosigkeit seiner Entwicklung angesichts der aufzeigbaren Normalität jüdischen Lebens im Zentrum Europas.“ Ergänzend dazu sollten andere Ausprägungen von Intoleranz thematisiert werden. Aktuelle Bezüge standen im Vordergrund. In Übereinstimmung mit einem verbreiteten erinnerungskulturellen Trend sollten individuelle Geschichten und Schicksale präsentiert werden, um eine „exem­plarische Erkenntnis der Verstrickung in Geschichte“ zu ermöglichen. Die Besucher/innen sollten zudem nicht nur in eine konsumierende Haltung versetzt, sondern aktiviert werden und zueinander in Beziehung treten. Neben der Dauerausstellung wurden ein Bildungszentrum für die Erarbeitung und Durchführung von Vermittlungsprogrammen sowie ein Forschungszentrum, das Gastwissenschaftler/innen mit Fellowships und Stipendien eine Arbeitsmöglichkeit bieten sollte, eingeplant. Als wichtigste Zielgruppe wurden explizit Kinder und Jugendliche, Schüler/innen und Studierende, Sol-

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dat/innen und Ersatzdienstleistende genannt sowie Menschen, die beruflich mit Ausländer/innen zu tun haben, und Multiplikator/innen. Damit war das „Haus der Toleranz“ von vornherein hauptsächlich auf ein österreichisches Publikum ausgerichtet und weniger als eine Touristenattraktion vorgesehen. Das von Stefan Karner und Manfried Rauchensteiner konzipierte „Haus der Geschichte“ wies – wenig überraschend – in eine gänzlich andere Richtung. Als leitender Anspruch wurde von den Autoren formuliert  : „Der museale Bereich soll das gerade in den letzten zwei Jahrzehnten international in Diskussion geratene Bild Österreichs objektivieren.“ Angesprochen war damit wohl vor allem die Waldheim-Debatte einschließlich der nachfolgenden Erhellung der österreichischen Beteiligung am Nationalsozialismus, vielleicht aber auch das Aufkommen neuer rechtspopulistischer Tendenzen einschließlich revisionistischer und antisemitischer Ausfälle. Kaum abzusehen war freilich, dass Österreich mit der bevorstehenden Bildung einer rechtspopulistisch-konservativen Regierung aus FPÖ und ÖVP noch weiter in die internationale Diskussion geraten würde, bis hin zur Verhängung von Sanktionen der EU gegen die Regierung ihres Mitgliedslandes. Als Vorbilder wurden das Haus der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn und das United States Holocaust Memorial Museum in Washington angeführt, auf das auch schon Pelinka Bezug genommen hatte. Der Rahmen war klar begrenzt  : Behandelt werden sollte die „Geschichte der Republik Österreich seit 1918“, eingebettet in die europäische und welthistorische Entwicklung. Erklärungsstränge sollten bei Bedarf bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Im Unterschied zu Pelinkas Konzept wurde hier – einigermaßen verworren theoretisch überwölbt – die Funktion „moderner Identitätsstiftung“ reklamiert, als „lebendiges Gedächtnis der Nation“, ohne eine „Identitätsfabrik“ sein zu wollen. Trotz der offensichtlichen Parteinähe bekannte sich das Konzept zu einer „pluralistischen Sicht der Vergangenheit“ und zur „historischen Wahrheit“ – wie überhaupt Objektivität, etwa das Ziel einer „objektiven (musealen) Darstellung“, andauernd betont wurde, ohne jedoch wissenschaftstheoretische Implikationen und jüngere Methodendebatten angemessen zu berücksichtigen und zu erklären, wie ein solcher Anspruch eingelöst werden könne. Vorgeschlagen wurde eine Mischung aus chronologischer Anordnung und thematischen Blöcken. Auch von Karner/Rauchensteiner wurde der Begriff des Museums signifikanterweise vermieden. Das Haus sollte zum Zentrum eines virtuellen Netzwerks werden, zum Bindeglied und zur Kommunikationsschnittstelle zwischen den bereits bestehenden einschlägigen Institutionen, ohne Dopplungen

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entstehen zu lassen. Formuliert wurde allerdings der Anspruch, eine Art Clearingstelle zu sein und damit wohl ein Metainstitut für die österreichische Zeitgeschichte. In die gleiche Richtung wiesen auch die Planung eines virtuellen Findbuchs zu zeitgeschichtlich relevanten Quellen in ganz Österreich sowie einer „Servicestelle ‚Österreichische Zeitgeschichte‘“ für Anfragen von Schulen, Behörden, Medien, Ämtern und Bürger/innen. Erstaunlich ist, wieweit die Vorstellungen von einer nationalen musealen Einrichtung für Geschichte auseinandergingen. Tatsächlich handelte es sich mittlerweile um zwei völlig unterschiedliche, wenn auch komplementäre Projekte und nicht mehr nur um zwei Konzepte für eine schließlich zu errichtende Einrichtung. Dies ließ die Realisierung in den Folgejahren nicht leichter werden, obwohl das der ÖVP näher stehende Projekt eines „Hauses der Geschichte“ allein aufgrund der Kanzlerschaft Wolfgang Schüssels wohl die besseren Ausgangsbedingungen hatte als das sozialdemokratisch gefärbte Projekt eines „Hauses der Toleranz“. Beide Projekte schienen sich aber implizit zu ergänzen und wechselseitig zu bedingen  : Die Erfolgsgeschichte der Republik konnte nur dann erzählt werden, wenn man sich zugleich auch angemessen mit den Schattenseiten der Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen bereit war. Dies sollte durch zwei voneinander getrennte Institutionen geleistet werden, die trotz bzw. gerade wegen ihrer unterschiedlichen Ausrichtung eng verknüpft blieben. Gerade angesichts der ausländischen Medienberichterstattung zum Ergebnis der Nationalratswahl vom 3. Oktober 1999, aus der die FPÖ Jörg Haiders um wenige Stimmen vor der ÖVP als zweitstärkste Partei hervorging, gewann die Debatte eine neue Dynamik. Der Chefredakteur der liberalen Tageszeitung Der Standard, Gerfried Sperl, regte noch im Oktober 1999, also lange vor der Regierungsbildung, die Wiederaufnahme von Zelmans Plänen an  : „Denn wir brauchen tatsächlich ein solches Haus der Zeitgeschichte, das den Holocaust, die schrecklichen Ereignisse auf den Balkan und die Tragik um die Sudetendeutschen dokumentiert.“62 Konkret brachte er Hugo Portisch, der in den 1980er- und 1990er-Jahren das kollektive Geschichtsbewusstsein der Österreicher/innen durch seine zeitgeschichtlichen TV-Dokumentationen tief geprägt hatte, als möglichen „Protektor“ für das Projekt und den ORF als entscheidende Stütze mit seiner Medienkompetenz ins Spiel. Das gerade im Bau befindliche neue Wiener Museumsquartier schien sich als Standort anzubieten. 62 Gerfried Sperl, Jetzt ein Haus der Geschichte, in  : Der Standard, 7.10.1999  ; vgl. dazu auch die Reaktionen in  : ebd., 14.10.1999  ; 15.10.1999.

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Historiker wie Gerhard Botz (Wien) und Helmut Konrad (Graz) kritisierten die offensichtliche Alibi-Funktion eines solchen Projekts und sprachen sich gegen eine unzulässige Vereinfachung und auch Fixierung der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhundert aus  : Sie sei „nicht einfach festschreibbar, objektiv darstellbar“ und daher keinesfalls zur Musealisierung geeignet. Das Ergebnis könne jeweils nur eine sozialpartnerschaftlich oder machtpolitisch dekretierte, staatsoffizielle Sichtweise sein.63 Die Filmemacherin und Autorin Ruth Beckermann nahm auf einer Enquete des Wiener Instituts für Zeitgeschichte im Januar 2000 polemisch das „Haus der Toleranz“ aufs Korn  : „Ein Holocaust-Museum zur Verharmlosung der gegenwärtigen Gemeinheit, Rohheit und Menschenverachtung. Endlich hat der Holocaust auch bei uns hier einen praktischen Nutzwert, der eine Ausstellung lohnt.“64 Beckermann verwies darauf, dass das Begriffspaar „Toleranz/Intoleranz“ ein Verhältnis zwischen ungleichrangigen Gegenübern beschreibe, mithin also die „Duldung von Juden und Fremden“ gepredigt werde, aber nicht Dialog oder Menschenrechte. Darüber hinaus diagnostizierte sie einen „Sprung in die Opfer-Identität“, da sich das „Haus der Toleranz“ nicht mit der Täterseite beschäftige, sondern durch die Fokussierung auf individuelle Schicksale einfach die Opferperspektive übernehme. Die universitären Geschichte- und Zeitgeschichte-Institute protestierten schließlich gegen die Vorgangsweise der Bundesregierung und die Versuche, einer „überwunden geglaubten Proporzgeschichtsschreibung“ und „Auftragsgeschichtsschreibung“ Geltung zu verschaffen, die weder Pluralität noch Wissenschaftlichkeit einlösten.65 Pelinka hatte sich allerdings schon zuvor der Kritik zu entziehen versucht, indem er erklärte, dass sein Konzept eines „Hauses der Toleranz“ mit Geschichtswissenschaft nichts zu tun habe, sondern eher von Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Politik-, Wirtschafts- und Religionswissenschaft beeinflusst sei – es sei vornehmlich „edukativ“ ausgerichtet und eben kein Museum („soll und darf kein Museum sein“).66 Der Wiener Sozialhistoriker und Mediävist Michael Mitterauer warnte währenddessen vor einer unzulässigen Verengung von Geschichte auf Zeitgeschichte, von

63 Gerhard Botz, „Entsorgungshäuser“ der Zeitgeschichte, in  : Der Standard, 19.11.1999  ; Helmut Konrad, Virtuell statt museal, Rechner statt Kathedrale, in  : ebd. 64 Ruth Beckermann, Toleranz und Zeitgeschichte, in  : ÖZG 11 (2000) 1, 181–185, hier 181. 65 Resolution, 21.1.2000, , 12.1.2009. 66 Anton Pelinka, Diffamierung statt Diskurs  ?, in  : Der Standard, 22.11.1999. Vgl. auch ders., Diffamie & Astrologie, in  : Der Falter 24/1999, 16f.

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Zeitgeschichte auf österreichische Zeitgeschichte und österreichischer Zeitgeschichte auf den Holocaust im Rahmen eines solchen Projekts. Er stellte ganz grundsätzlich die pädagogische Wirkung von Museen infrage und forderte vielmehr eine Auseinandersetzung mit Unmenschlichkeiten und Fremdenhass und den dafür Verantwortlichen in der Gegenwart („statt zu sehr auf die moralische Wirkung des Wissens um Geschichte zu vertrauen“).67 Die Debatte war nicht zuletzt dadurch geprägt, dass die Projekte und Konzepte jeweils nur unzureichend unterschieden wurden. Dies war allerdings vermutlich auch durch Unklarheiten in den Konzepten selbst bedingt. So sprach Caspar Einem etwa von einem Ort, an dem Menschen aus aller Welt die Chance haben sollten, ihre Geschichte nachzuvollziehen, der aber auch Österreich mit seiner eigenen Geschichte konfrontieren müsse. Trotz aller bestehenden Unklarheiten legte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel in seiner Regierungserklärung Österreich neu regieren für die neue FPÖ-ÖVP-Bundesregierung Anfang Februar 2000 ein Bekenntnis zu einer breitenwirksamen Aufarbeitung und Darstellung von Österreichs Geschichte und ihren Konsequenzen für Gegenwart und Zukunft ab und kündigte eine Zusammenführung der beiden Machbarkeitsstudien an – wohl als weitere besänftigende geschichtspolitische Geste neben der von Bundespräsident Thomas Klestil erzwungenen Präambel zum Regierungsprogramm, in der die Koalitionspartner auf demokratische und europäische Werte verpflichtet wurden.68 Auch im Regierungsprogramm der zweiten ÖVP-FPÖ-Bundesregierung ab Februar 2003, wiederum unter Wolfgang Schüssel, nun aber mit einer deutlich gestärkten ÖVP und dezimierten FPÖ, wurde ein „konkretes Projekt zur Errichtung eines ‚Hauses der Geschichte‘“ in Aussicht gestellt.69 In Schwung kam die Debatte allerdings erst wieder durch die Planungen für das multiple Jubiläumsjahr 2005. Zwischenzeitlich war sogar wiederholt für ein rein virtuelles Museum plädiert worden, das die bestehenden Einrichtungen miteinbeziehen, vernetzen und deren Arbeit aufbereiten, die Mühen von 67 Michael Mitterauer, … und wer wird das besuchen  ?, in  : Der Standard, 15.10.1999  ; ders., Nur eine Alibi-Geschichte, in  : ebd., 29.10.1999. Ebenso skeptisch gegenüber einer musealen Vermittlung von Toleranz äußerte sich Manfred Wagner, Toleranz kann man nicht „lehren“, in  : ebd., 23.11.1999. Vgl. dagegen Caspar Einem, Von „Alibi“ kann keine Rede sein, in  : ebd., 19.11.1999. 68 Regierungserklärung Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel, 9.2.2000, , 16.9.2009. 69 Regierungsprogramm des Kabinetts Schüssel II, 28.2.2003, , 16.9.2009.

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Standortfindung, Baulösung und Sammlungsaufbau aber umgehen sollte. 70 Für die Feiern zu 60 Jahre Zweite Republik, 50 Jahre Staatsvertrag, 10 Jahre EU-Mitgliedschaft und einer Reihe weiterer kleinerer runder Jubiläen für den Gewerkschaftsbund, das Bundesheer, Burgtheater und Staatsoper sowie das Fernsehen wurde 2002 eine Kommission eingerichtet  : Neben Stefan Karner und Manfried Rauchensteiner sollten der Wiener Rechtshistoriker Wilhelm Brauneder, von 1996 bis 1999 Dritter Präsident des Nationalrats für die FPÖ, und Kurt Scholz eine Ausstellung, langfristig aber auch ein „Haus der Zeitgeschichte“ planen. Die Zusammensetzung erweckte freilich vor allem den Eindruck, den Parteiproporz in der Regierung widerzuspiegeln (unter formaler Einbindung eines SPÖ-Vertreters), konnte aber keinesfalls ein Abbild der österreichischen Zeitgeschichtsforschung bieten.71 Die universitär institutionalisierte Zeitgeschichte, die wiederum völlig übergangen worden war, meldete sich daher erneut mit einem Protestschreiben zu Wort.72 Die Vorbereitungen für eine zentrale Ausstellung scheiterten letztlich. 2005 wurde zum „Gedankenjahr“ erklärt73 – erneut mit konkurrierenden Ausstellungsprojekten  : Österreich ist frei  ! auf der Schallaburg in Niederösterreich, von Stefan Karner verantwortet und vom Land Niederösterreich getragen, mit einem Schwerpunkt auf dem Staatsvertrag und seiner Vorgeschichte und einigem lokalen Kolorit, da die beiden Niederösterreicher Leopold Figl und Julius Raab als Schlüsselpersonen herausgestellt wurden  ;74 und Das neue Österreich im Wiener Belvedere, dem eigentlichen Schauplatz der Staatsvertragsunterzeichnung und der nachfolgenden, zur Gedächtnisikone geronnenen Balkonszene, als eine neuartige Form des Privat-Public-Partnership realisiert  : vom Privatengagement des ehemaligen SPÖ-Finanzministers/Vizekanzlers und 70 hai, Morak-Vorschlag  : Haus der Geschichte „virtuell“, in  : Die Presse, 21.1.2000  ; Roman Sandgruber, Ein Haus der Geschichte der Republik, in  : Die Presse, 25.3.2002. 71 Peter Mayr, Genehme Kommission, in  : Der Standard, 19.3.2002. 72 Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien an Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, 18.3.2002, , 12.1.2009. 73 2005 – ein Gedankenjahr. Gedanken – Termine – Bücher. 1945 – 1955 – 1995 – 2005, Wien 2006  ; Martin Wassermair/Katharina Wegan (Hg.), rebranding images. Ein streitbares Lesebuch zu Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Österreich, Innsbruck – Wien – Bozen 2006  ; Rudolf de Cilla/Ruth Wodak (Hg.), Gedenken im „Gedankenjahr“. Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identitäten im Jubiläumsjahr 2005, Innsbruck – Wien – Bozen 2009. Zu den Ausstellungen detailliert Ulrike Felber, Jubiläumsbilder. Drei Ausstellungen zum Staatsvertragsgedenken 2005, in  : ÖZG 17 (2006), 65–90. 74 Stefan Karner/Gottfried Stangler (Hg.), „Österreich ist frei  !“. Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005, Horn – Wien 2005.

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inzwischen erfolgreichen Unternehmers Hannes Androsch, des ehemaligen Generalsekretärs der Industriellenvereinigung Herbert Krejci und des Journalisten und langjährigen Generalsekretärs der Wiener Konzerthausgesellschaft Peter Weiser getragen, von Bund und Stadt Wien sowie einigen Unternehmen finanziert, von Günter Düriegl, dem ehemaligen Direktor des Wien-Museums, und Gerbert Frodl, dem Direktor der Österreichischen Galerie Belvedere, inhaltlich verantwortet.75 Karner setzte mit seinem Team auf Alltagsgeschichte  : Die Perspektive des „kleinen Mannes“ wurde eingenommen, Nacherleben und Identifikation waren das Ziel, unterstrichen durch eine vorhergehende Sammlungsaktion von Alltagsgegenständen, die in die Ausstellung integriert wurden. Zentrales Ausstellungsstück war aber das Originalexemplar des Staatsvertrages, das im Archiv des russischen Außenministeriums in Moskau verwahrt wird. Die von den Machern der Ausstellung ständig angeführte Vielstimmigkeit wurde allerdings nicht umgesetzt.76 Wie fatal dies hingegen scheiterte, zeigt beispielhaft die nachträglich eingefügte „Opfergedenkstätte“  : eine graue, keilförmige Eternit-Koje, die abgetrennt vom Gang der Ausstellung im Burghof aufgestellt war. Die Behauptung, den Opfern des Nationalsozialismus damit ihre Individualität zurückzugeben, wird bereits von der Gestaltung – vollkommen einförmige, geschlechts- und identitätslose Menschen-Piktogramme symbolisieren die Opfer, denen ihre Individualität durch einen Lichtstrahl wiedergegeben werden soll – dementiert und entlarvt sich bestenfalls als Kitsch. Weder wird die Geschichte von Opfern sichtbar, noch werden überhaupt Täter/innen gezeigt. Festgeschrieben wird vielmehr noch einmal der Status Österreichs und der Österreicher/innen als Opfer – nun auch des alliierten Bombenkriegs – wie auch der Mythos der direkten Herkunft der Zweiten Republik aus dem Widerstand gegen das NS-Regime. Im Belvedere lag der Fokus währenddessen auf den Haupt- und Staatsaktionen. Kunstwerke aus der jeweiligen Zeit wurden systematisch eingebaut, um einen „Blick in eine größere, tiefere Wirklichkeit“ (Düriegl) zu gestatten. Auch hier wurde später noch das Original des Staatsvertrags gezeigt. Als Leitsystem durch die Ausstellung und „rot-weiß-roter“ Faden zog sich die österreichische Fahne durch die Räume. In den Räumen, in denen das „Dritte Reich“ be75 Das neue Österreich. Die Ausstellung zum Staatsvertragsjubiläum 1955/2005, Kat. Wien 2005. 76 Wolfram Dornik/Peter Fritz, „Österreich ist frei  !“. Innenansichten in Konzeptionen und Rezeption der Schallaburg-Ausstellung, , 30.4.2009.

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handelt wurde, wurde sie interessanterweise grau, „Wehrmachtsgrau“  : „jene[r] Farbe, die für den Terror des Hitlerregimes steht“. Wieso hier gerade das Grau der Wehrmacht gewählt wurde und nicht etwa braun oder auch die Flagge des „Dritten Reichs“, hinter der sich in dieser Zeit auch die überwiegende Mehrheit der Österreicher/innen versammelt hatte, bleibt unerklärt und unverständlich. Damit wurde erneut deutlich, wie schwer die Jahre der NS-Diktatur immer noch in die österreichische Geschichte einzubauen sind. Sie werden gezeigt, aber doch externalisiert. Das „Dritte Reich“ bleibt eine Episode, wird aber nicht als Teil der österreichischen Geschichte wahrgenommen. Das Narrativ der Erfolgsgeschichte bleibt dadurch intakt, Täter/innen und Opfer geraten höchstens am Rande in den Blick. Beide Ausstellungen – die eine durch einen sehr klaren Themenfokus, die andere zudem durch den Ausstellungsort – betonten noch einmal das Staatsvertragsjahr 1955 und den Abzug der alliierten Besatzungsmächte als „Befreiung“ – anstelle der primären Befreiung durch die alliierten Truppen vom Nazismus im Jahr 1945. Eine österreichische Mitschuld am „Dritten Reich“ und seinen Massenverbrechen wird damit erneut ausgeblendet, absurderweise aber ein österreichischer Opferstatus gegenüber den Alliierten festgeschrieben und damit implizit die Befreiung 1945 als ungewollt dargestellt und der zum Staatsmythos gewordene Opferstatus gegenüber „Hitler-Deutschland“ dementiert – eine besondere, aber vielleicht typisch österreichische Mischung aus Verschleierung und Selbstentlarvung. Das Proponentenkomitee von Das neue Österreich plädierte am Ende des Jubiläumsjahres für eine Zusammenfassung der beiden erfolgreichen Ausstellungen  : Sie sollten nun als Grundstock für ein „Haus der Geschichte“ dienen, einschließlich der ursprünglich nicht für das „Gedankenjahr“, sondern als Antwort auf die Regierungsbildung von ÖVP und FPÖ im Jahr 2000 geplanten, aber schließlich als Gegen-Ausstellung zu den multiplen Jubiläen und ihren unkritischen Feierlichkeiten wahrgenommenen Schau Jetzt ist er bös, der Tennenbaum im Wiener Jüdischen Museum. Von der Kuratorin Felicitas HeimannJelinek und dem Architekten Martin Kohlbauer äußerst intelligent umgesetzt, nahm sie provokant-kritisch den Umgang der Zweiten Republik mit der NSZeit und ihren Opfern in den Blick.77 Im März 2006 wurde von Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer und Innenminister Günther Platter (beide ÖVP) 77 Barbara Tóth, Recycling des Gedenkjahrs, in  : Der Standard, 13.12.2005  ; dies., Kein Schlussstrichjahr, in  : ebd.; Felicitas Heimann-Jelinek (Hg.), Jetzt ist er bös, der Tennenbaum. Die Zweite Republik und ihre Juden, Wien 2005.

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jedoch eine weitere, diesmal fünfköpfige Arbeitsgruppe um Günther Düriegl, dem Leiter der Staatsvertragsausstellung im Belvedere, eingesetzt. Ihr gehörten der Wissenschaftsjournalist Manfred Jochum, der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Herbert Matis, der neue Leiter des Heeresgeschichtlichen Museums Mario Ortner und wiederum Stefan Karner an. Erarbeitet werden sollte dieses Mal eine grundlegende Konzeption für ein „Haus der Geschichte der Republik Österreich“. Nach erneuter Kritik der universitären Zeitgeschichte, die im Gremium auffälligerweise auch dieses Mal praktisch nicht vertreten war, wurde sie um weitere 18 Historiker/innen in einer ständigen Expertengruppe ergänzt.78 Bereits im Juni 2006 wurde allerdings eine „Roadmap“ publiziert, von der sich einige Mitglieder der Expertengruppe (Gerhard Botz, Helmut Konrad, Erwin Schmidl, Rolf Steininger, Robert Streibel, Heidemarie Uhl) öffentlich distanzierten, weil ihre Vorstellungen und Anregungen unzulänglich umgesetzt worden seien.79 Die Roadmap definierte die nun auch „Haus der Geschichte Österreichs“ oder kurz „HGÖ“ genannte Einrichtung als „ein offenes Forum“  : „Es ist ein Ort der Darstellung neuer Erkenntnisse und Infragestellung von Geschichtsmythen, ein Haus der Vermittlung des historisch Entstandenen und Wandelbaren in der österreichischen Politik, Gesellschaft, Kultur und Kunst.“ Zugleich wurde auch hier noch einmal klargestellt, warum der Begriff „Museum“ weiterhin vermieden wurde  : „Das HGÖ ist nicht als klassisches Museum vorstellbar. Es ist vielmehr als ein attraktiver öffentlicher Ort zu konzipieren, an dem eine Auseinandersetzung mit Geschichte und Geschichtsschreibung in vielfältiger Form stattfindet.“ Oder noch knapper von Düriegl formuliert  : „Entscheidend ist, dass es kein Museum wird.“80 Das HGÖ sei mithin auch kein Nationalmuseum. Betont wurde vielmehr die Konstruiertheit des Nationalen  : „Österreich soll dabei nicht als eine Materialisierung, sondern als ein Ensemble von Vorstellungen vom ‚Österreichischen‘ aufgefasst sein. Es wird daher auch 78 Haus der Geschichte  : Gehrer und Platter beauftragen Arbeitsgruppe, 22.3.2006, , 12.9.2009  ; Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien/Friedrich Stadler an Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, 27.3.2006, , 12.1.2009. 79 Haus der Geschichte der Republik Österreich. Konzept der Ständigen HistorikerInnen-Expertengruppe, 13.6.2008, , 17.3.2010  ; APA/OTS0239 2007-07-04 (Historiker fordern „Glasnost“ für geplantes „Haus der Geschichte der Republik Österreich“). 80 Hans Rauscher, „Der Stammtisch soll sich aufregen“, in  : Der Standard, 27./28.10.2007.

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nicht nur das ‚Eigene‘, sondern auch das ‚Andere‘ zu bedenken haben. Beim HGÖ geht es daher auch um ein ‚Österreich im Kopf ‘, um seine Identitäten und Alteritäten, Widersprüche und Eigenheiten.“

Neben einer Dauerausstellung sollten begleitende Sonderausstellungen veranstaltet werden. Der Aufbau einer Sammlung von Originalobjekten war ebenso vorgesehen wie die Errichtung einer Forschungsabteilung und einer Informationsplattform/Clearingstelle, wie bereits im Karner/Rauchensteiner-Konzept angedacht. Fokussiert werden sollte auf die Zeit nach 1918 (bei Bedarf mit Rückgriffen in die Geschichte davor) bis in die Gegenwart hinein, mit einem offenen Ende. Die Zielgruppe blieb währenddessen unspezifisch, wenn auch Schüler/innen explizit hervorgehoben wurden. Zugleich sollten aber auch Tourist/innen angesprochen werden. Die Ausarbeitung eines detaillierten inhaltlichen Ausstellungskonzepts wurde jedoch auch hier nicht geleistet  : Gesetzt wurde nur ein Rahmen, der von Expert/innen noch zu füllen war. Festgehalten wurde allerdings, dass die sensiblen Themen der österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert – „Österreichs Mitschuld am Ersten Weltkrieg, die autoritäre Diktatur des ‚Ständestaates‘, die österreichischen Wurzeln des Nationalsozialismus oder die Täterschaft von Österreichern im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg“ – „in ihrer Konflikthaftigkeit und Widersprüchlichkeit“ angemessen zu berücksichtigen seien. Gefordert wurde zudem Aufmerksamkeit für die „Stellung Österreichs in Europa und in der globalen Vernetzung“. Nur wenige Monate nach der Veröffentlichung der Roadmap, im Herbst 2006, wurde ein neuer Nationalrat gewählt. Die ÖVP-FPÖ/BZÖ-Koalition unterlag und wurde im Januar 2007 von einer neu aufgelegten großen Koalition unter SPÖ-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer abgelöst. Im Regierungsprogramm wurde nun die Realisierung dreier unterschiedlicher Museumsprojekte angestrebt  : eines Habsburgermuseums im Schloss Schönbrunn als Initiative für den Kulturtourismus unter dem Titel Imperial Austria, einer musealen/wissenschaftlichen Einrichtung zur Geschichte des Kalten Kriegs unter besonderer Berücksichtigung des europäischen Kontexts und schließlich das „Haus der Geschichte“.81 Das Interesse an der Errichtung eines „Hauses der Toleranz“ schien seit der ÖVP-FPÖ/BZÖ-Koalition, aber auch den Jubiläumsfeierlichkeiten verloren gegangen zu sein, alles konzentrierte sich nunmehr auf ein „Haus der Geschichte“, das nicht unbedingt als eine Zusammenführung der ursprünglich konkurrierenden Konzepte zu verstehen war. 81 Koalitionsabkommen 2007, , 16.9.2009.

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Um ausgehend von der vorliegenden Roadmap nun ein detailliertes Konzept zu erstellen, wurde im November 2008 ein professionelles Museumsberatungsunternehmen beauftragt. Vorgegeben war eine Orientierung am United States Holocaust Memorial Museum in Washington sowie an den kleineren österreichischen Bundesmuseen (Museum für angewandte Kunst und Museum moderner Kunst) – angesichts der Unterschiedlichkeit der genannten Einrichtungen der Versuch einer Quadratur des Kreises.82 Gleichzeitig wurde eine neue Jahreszahl als Anknüpfungs- und Ausgangspunkt für die Ausstellung ins Spiel gebracht  : 1848 als entscheidende Wegmarke der Demokratieentwicklung in Österreich. Die ORF-Journalistin Traudl Brandstaller und der Jurist und ehemalige Leiter der Medienforschung im ORF, Peter Diem, hatten in ihren wiederholten, einem zivilgesellschaftlichen Engagement entspringenden Plädoyers für ein Museum, in dem Österreich sein historisches Selbstverständnis und sein Geschichtsbewusstsein publikumswirksam präsentieren solle, bereits auf das Revolutionsjahr 1848 hingewiesen.83 Die Kunsthistorikerin und international tätige Museumsberaterin Claudia Haas und die Agentur Lord Cultural Ressources (die sich im Vergabeverfahren gegen Dieter Bogner, der Ende der 1980er-Jahre das Wiener Museumsquartier konzipiert hatte, durchsetzen konnten) legten auftragsgemäß Anfang 2009 ein ausführliches Realisierungskonzept vor, das bisher allerdings der Öffentlichkeit von der neuen großkoalitionären Bundesregierung unter Werner Faymann (SPÖ) nicht zugänglich gemacht wurde, obwohl sie die Arbeiten zunächst zügig fortführen wollte.84 Im November 2008 war aber bereits eine weitere Großausstellung zur österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert auf offiziellen Auftrag hin eröffnet worden  : Die Republik.Ausstellung 1918|2008, verantwortet von Stefan Karner und dem Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs Lorenz Mikoletzky, wurde in der repräsentativen Säulenhalle des Parlaments in Wien gezeigt.85 Der nach dem Vorbild eines griechischen Tempels gestaltete Bau war 1873 bis 1883 für den Reichsrat der Habsburgermonarchie errichtet wor82 Holocaust-Museum in Washington als Vorbild für Wien, in  : Die Presse, 22.7.2008. 83 90 Jahre Republik  : Mit Gewalt – ein „Haus der Geschichte“, in  : Die Presse, 12.11.2008  ; Website pro austria, , 25.3.2009  ; Traudl Brandstaller/Peter Diem, Die Darstellbarkeit der Geschichte, in  : Wiener Zeitung, 12.1.2008. 84 Regierungsprogramm für die XXIV. Gesetzgebungsperiode, o.D., , 16.9.2009. 85 Stefan Karner/Lorenz Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament, Innsbruck – Wien – Bozen 2008.

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den. Auf der Rampe davor wurde nach dem Verzicht Kaiser Karls auf die Ausübung der Regierungsgeschäfte, am 12. November 1918 (am selben Datum 2008 wurde die Ausstellung eröffnet), von den deutschsprachigen Abgeordneten die Republik Deutschösterreich ausgerufen. Nur kurz nach dem multiplen Jubiläumsjahr 2005 bot sich somit eine weitere Gelegenheit, Österreich zu feiern  : das Republikjubiläum 2008. Erzählt wurde auch hier, der Logik des Jubiläums folgend, eine Erfolgsgeschichte von der Ersten Republik über die NS-Zeit bis zur Zweiten Republik, die erst voll die Versprechen der Ersten einlösen konnte. Zurückgegriffen wurde dabei offensichtlich nochmals auf das erste Karner/RauchensteinerKonzept, etwa mit der Mischung von Chronologie und thematischen Blöcken. Wilhelm Molterer, ÖVP-Vizekanzler und Finanzminister, deklarierte die Ausstellung zu einem „Vorgriff auf ein ‚Haus der Geschichte‘“. Er nahm sie auch zum Anlass für die Forderung, „Lagerdenken und partikulare Interessen der Idee Österreich unter[zu]ordnen“ – vielleicht im Hinblick auf die etwas angespannte Lage zwischen den beiden großen Parteien aufgrund vorgezogener Neuwahlen schon im September 2008. Die Zweite Republik wurde als ein Beweis für die Notwendigkeit, aber auch Möglichkeit, aus der Geschichte zu lernen, dargestellt. Den Politker/innen boten Jubiläum und Ausstellung eine Bühne, um Geschichte als Mahnung an die Gegenwart, aber auch als Chance für die Zukunft in Beschlag zu nehmen. Im Mittelpunkt stand das Bekenntnis zu Österreich und zur Demokratie.86 Der Untertitel „90 Jahre Republik“ war freilich irreführend, wenn auch signifikant für die Schwierigkeiten, österreichische Geschichte im 20. Jahrhundert darzustellen. Schließlich handelte es sich nur um die Gründung der Republik vor 90 Jahren. Die Fokussierung auf „90 Jahre Republik“ blendete allerdings weitgehend aus, dass es sich keineswegs um eine ungebrochene Entwicklung handelte  : In einigen Jahren, zwischen 1938 und 1945, existierte Österreich noch nicht einmal als souveräner Staat auf der Landkarte. (Womit freilich noch nichts über die Teilnahme von Österreicher/innen an den Geschehnissen und vor allem Verbrechen der Zeit gesagt ist.) Das Parlamentsgebäude wurde in der

86 Republikausstellung im Parlament eröffnet, 12.11.2008, , 6.5.2009  ; , 6.5.2009 (Republikausstellung 2  : Reden von Molterer und Gusenbauer)  ; , 6.5.2009 (Rede von Bundeskanzler Gusenbauer anlässlich der Eröffnung der Republikausstellung im Parlament).

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NS-Zeit als Sitz der Gauverwaltung Wiens genutzt, das Parlament war bereits vier Jahre zuvor vom christlich-sozialen Bundeskanzler Dollfuß zugunsten eines klerikal-autoritären „Ständestaats“ ausgeschaltet worden. Der Verweis auf „90 Jahre Republik“ lässt das Dollfuß-Schuschnigg-Regime wie auch den Nazismus zu leichtfertig als bloße kurzzeitige Abirrungen von einem scheinbar als unvermeidlich vorgezeichneten republikanischen Erfolgsweg erscheinen. Die Geschichte ist jedoch komplizierter und weitaus weniger linear, als es die Zahlenmagie der Jubiläen nahelegt. Der Weg zur Etablierung von Demokratie in Österreich und vor allem auch einer eigenständigen österreichischen Identität, wie sie sich uns heute darstellt, war lang und kurvenreich. Die Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher schien jedoch ein neues historisches Museum durchaus zu begrüßen – zumindest vor der Wirtschaftskrise. Mehrheitlich favorisiert wurde eine Einrichtung, die nicht ausschließlich auf die Zeit- und Republikgeschichte fokussiert, sondern einen größeren Zeitraum und ein breites Spektrum an Themen abdeckt.87

V. Resümee Österreich bespiegelt sich gerne in der Geschichte. Jahrestage und Jubiläen absorbieren in regelmäßigen Abständen die Aufmerksamkeit von Politiker/innen, Historiker/innen und der Öffentlichkeit. Meistens sind sie jedoch ebenso schnell wieder vergessen, wie sie aufgekommen und lanciert worden sind. Der manchmal geradezu obsessiven Hinwendung zu einer fernen Geschichte, meistens in der verklärenden Form der Nostalgie, steht eine „Unfähigkeit zur Erinnerung“ und „memoriale Konstitutionsschwäche“ mit Blick auf die jüngere Vergangenheit gegenüber, die der nationalen Harmoniesucht und notorischen Scheu vor Konflikten dient.88 So wollen es zumindest oft und gern wiederholte Klischees, die aber vielleicht doch kein ganz falsches Bild vermitteln. In Österreich wird jedenfalls besonders deutlich, wie sehr Vergessen und Erinnern ineinander verschränkt sind und sich gegenseitig bedingen. Gerade mit Blick auf die vermeintliche Geschichtsbesessenheit Österreichs ist es erstaunlich, dass es 87 Brait, Ein neues historisches Museum, 33f. (wie Anm. 53). 88 Thomas Macho, Erinnertes Vergessen. Denkmäler als Medien kultureller Gedächtnisarbeit, in  : Manuel Köppen/Klaus R. Scherpe (Hg.), Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst (Literatur – Kultur – Geschlecht, Kleine Reihe 10), Köln – Weimar – Wien 1997, 215–228, hier 224.

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bislang keine Einrichtung gibt, die sich zentral und allgemein der musealen Darstellung und Vermittlung der österreichischen Geschichte widmet. Es scheint wesentlich leichter zu sein, einzelne Aspekte ihrer Geschichte unabhängig voneinander zu beleuchten als sie in einem Narrativ zusammenzufassen. Nicht zuletzt für das Selbstverständnis der Zweiten Republik ist der Blick in die Geschichte essenziell  : Sie versteht sich zugleich als Fortsetzung der Ersten Republik, vor allem auch durch den Rückgriff auf die Verfassung, wie als Gegenentwurf zu ihr, dem es gelungen ist, die Verwerfungen und Gegensätze zwischen den politischen Lagern, die letztlich in Bürgerkrieg und „Anschluss“ geführt haben, auszubalancieren. Die Zweite Republik ist keineswegs mehr ein Staat, den keiner will, obwohl der Blick in die Geschichte der Jahre von 1918 über 1933/34 und 1938 bis 1945 immer noch Gräben aufreißen kann. Ein über die politischen Lager hinweg konsensuelles Bild dieser Zeit existiert praktisch nicht, zumindest nicht seit der Erosion der Opferthese, die als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner der österreichischen Geschichtspolitik nach 1945 fungierte und die – trotz bzw. gerade wegen ihrer offensichtlich historischen Argumentationsfigur – interessanterweise eine Blindstelle im Geschichtsbild erzeugte. Selbst wenn in den Ausstellungen der letzten Jahre, nach der Waldheim-Äffare und der Durchsetzung einer offiziellen österreichischen Position, die sich zu einer Mitverantwortung bekennt, die Nazizeit selbstverständlich nicht mehr ausgespart wurde, lässt die beständige Doppelgleisigkeit der Planungen und der fortgesetzte Versuch, entsprechende Projekte politisch anzubinden, immer noch Ängste und Vorbehalte sichtbar werden. Vor allem ist inzwischen wieder der Konflikt um die Bewertung des einheimischem Klerikal-Faschismus und autoritären Dollfuß-SchuschniggRegimes der Zwischenkriegszeit in den Vordergrund getreten. Auch er war offiziell stillgestellt worden und beförderte eine Ausblendung statt einer kritischen Auseinandersetzung und Darstellung. Auch er behindert eine breite Anerkennung der Rolle von Österreichern bei den NS-Verbrechen. Um den inneren Frieden – eine der größten Errungenschaften der Zweiten Republik – nicht zu gefährden, muss daher immer wieder rituell „die Suche nach Objektivität“ beschworen und die Benutzung historischer Ereignisse „als Waffe in der politischen Auseinandersetzung“ abgelehnt werden. 89 Tatsächlich ist aber Ausgewogenheit nur das österreichische Surrogat für Objektivität, wie Karl Stuhlpfarrer Ende der 1980er-Jahre provokant vermerkt 89 Heinz Fischer, Vorwort, in  : Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Bd. 1, Wien 2008, 7–10, hier 10.

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hat.90 Es kann allerdings auch die Angst vor einer bis dato nicht existenten national-einheitlichen, widerspruchsfreien Erzählung über Österreich sein, die sich gegen die Errichtung eines neuen historischen Museums in Österreich artikuliert.91 In Zeiten übergroßer EU-Skepsis und Globalisierungsangst sowie wachsender Ausländerfeindlichkeit mag einem der Österreich-Nationalismus, der als solcher lange Zeit gar nicht wahrgenommen wurde, weil er die demokratische Alternative zum Deutschnationalismus war, unheimlich werden. 92 Die Diskussionen um einen Ort zur Ausstellung österreichischer Geschichte geben jedenfalls einen tiefen Einblick in Kontinuitäten und Wandlungen des österreichischen Selbstverständnisses und die dazugehörigen Fallstricke. Ablesbar ist gleichzeitig, welchen Wandlungen das Konzept des Museums unterliegt. Spätestens seit dem Musealisierungsboom in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mutierten Museen von Lernorten zu Orten der Erinnerung und Kommunikation, von Orten des Sammelns, Bewahrens und Ausstellens zu Spiegeln ganz unterschiedlicher individueller und kollektiver Identitäten. Gegenwärtige Gesellschaften scheinen Museen nicht mehr nur als kulturelle Institutionen und Bildungseinrichtungen, sondern als Foren kultureller Vermittlung und Interaktion zu benötigen.93 Daraus erklärt sich die allseitige Ablehnung des Begriffs „Museum“ für einen Ort der Beschäftigung mit Geschichte  : Er erscheint lebensfeindlich, tot und unzeitgemäß in Zeiten der Globalisierung und Individualisierung, der Pluralisierung und Diversifizierung von Wissen. Dies gilt wohl besonders für den Begriff des Nationalmuseums. Ein Museum im klassischen Sinne mag ebenso wenig die adäquate Institution für eine demokratische Auseinandersetzung mit Geschichte sein wie für den aktuellen Stand der Theoriedebatten in den Geschichts- und Kultur-

90 Stuhlpfarrer, Von der Bedeutung des „deutschen Historikerstreits“, 313 (wie Anm. 40). 91 Eva Blimlinger, Österreichbild im Diktat, in  : Der Falter 15/2006, 12. 92 Johanna Gehmacher, „Ein kollektiver Erziehungsroman“ – Österreichische Identitätspolitik und die Lehren der Geschichte, in  : ÖZG 18 (2007) 4, 128–156. 93 Rosmarie Beier-de Haan, Erinnerte Geschichte – Inszenierte Geschichte, Frankfurt a.M. 2005, 56. Aus der Fülle der Literatur vgl. außerdem Kenneth Hudson, Attempts to Define ‘Museum’, in  : David Boswell/Jessica Evans, Representing the Nation  : A Reader. Histories, Heritage and Museums, London – New York 1999, 371–379  ; Gottfried Korff, Aporien der Musealisierung. Notizen zu einem Trend, der die Institution, nach der er benannt ist, hinter sich gelassen hat, in  : Wolfgang Zacharias (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung (Edition Hermes 1), Essen 1990, 57–71  ; Melanie Blank/Julia Debelts, Was ist ein Museum  ? „… eine metaphorische Complication …“ (Museum zum Quadrat 9), Wien 2002.

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wissenschaften.94 Eine Anerkennung der kaleidoskopischen und beweglichen, fragmentarischen und konflikthaften Natur der öffentlichen Geschichte hatten vor allem die Wiener Zeithistoriker Siegfried Mattl und Albert Müller gefordert.95 Sie argumentierten grundsätzlich gegen ein neues Haus und für eine Förderung der bestehenden Universitätsinstitute, Archive, außeruniversitären Forschungseinrichtungen, temporären Projekte etc., um Vielfalt und Vielstimmigkeit, Dezentralität und Transdisziplinarität, Reflexivität und (De-) Konstruk­tivität gegen die angemaßte Deutungshoheit einer einzelnen Einrichtung in Schutz zu nehmen. Der Wunsch nach einem als „Haus“ verbrämten Museum galt ihnen nur als Nostalgie. Tatsächlich scheint es gar nicht so leicht zu sein, „zeitgeschichtliche Anstalten“96 in Foren für Debatten und Orte von Fragen zu verwandeln und sie der Logik von vereinfachenden Antworten und konventionellen Identitätskonstruktionen (mit den üblichen narrativen Mustern von heroischem Wiederaufbau, nationaler Erfolgsgeschichte und Opferstatus) zu entziehen. Besonders in multiidentitären Gesellschaften, in Zeiten von Europäisierung und Globalisierung können diese aber keine Antworten mehr auf immer drängendere Fragen bieten. Interessanterweise empfiehlt der Europarat seinen Mitgliedsstaaten dennoch, Museen nach dem Vorbild des Bonner Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einzurichten. Auch dessen erklärtes Selbstverständnis ist natürlich – ganz zeitgemäß – das eines Informations- und Kommunikationsortes, besucher- und erlebnisorientiert. 97 In Wirklichkeit bietet es jedoch eine sehr konventionelle, chronologisch erzählte Erfolgsgeschichte, mit einer Vielzahl von oft trivialen Objekten  : aus den Nachkriegstrümmern über das Wirtschaftswunder bis zur Wiedervereinigung, architektonisch durch eine beständige Aufwärtsbewegung unterstrichen.98 94 Oliver Rathkolb, Roadmap, reloaded, in  : Der Falter 16/2006, 12. 95 Siegfried Mattl/Albert Müller, Ohne festen Wohnsitz, in  : Der Falter 21/2006, 15  ; dies., Remix in History. Weitere Minima Moralia zur Debatte um Häuser der Toleranz und Zeitgeschichte, in  : ÖZG 13 (2002) 1, 132–137  ; dies., Sie ham a Haus baut, in  : Der Falter 23/1999, 16f. Vgl. dazu auch Ulrike Felt, Statt Aufklärung … Zur Problematik spezifischer Formen der Wissenschaftspopularisierung, in  : ÖZG 13 (2002) 1, 138–142. 96 Der Begriff findet sich bei Manfried Rauchensteiner, Droht eine Grottenbahn  ?, in  : Der Falter 18/2006, 16. 97 Council of Europe/Parliamentary Assembly, Recommendation 1283 (1996) on history and learning of history in Europe, , 12.9.2009. 98 Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Erlebnis Geschichte. Das Buch

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Derweil werden auch auf europäischer Ebene zwei Museumsprojekte betrieben  : zunächst das Musée de l’Europe, das seit 1997 vor allem vom polnischen, lange Zeit in Frankreich lehrenden Philosophen und Historiker Krzysztof Pomian geplant und 2007 von einer breiteren Öffentlichkeit völlig unbeachtet in Brüssel eröffnet wurde, das aber gegenüber dem neueren Projekt eines Hauses der europäischen Geschichte ins Hintertreffen geraten zu sein scheint.99 Ebenfalls in Anlehnung an Bonn, auf Anregung des damaligen deutschen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Hans Gert Pöttering, wurde 2008 ein erstes Konzeptpapier veröffentlicht  : Es wurde darin als ein Ort beschrieben, der die Erinnerung an die europäische Geschichte und das europäische Einigungswerk pflegen und offen für die weitere Gestaltung der Identität Europas durch seine Bürger/innen sein soll  ; eine Mischung aus Ausstellungs-, Dokumentations-, und Informationszentrum mit einer chronologisch aufgebauten Dauerausstellung zur europäischen Geschichte, vornehmlich vom Ersten Weltkrieg bis heute, mit Rückgriffen auf das Mittelalter und die Neuzeit auf etwa 4.000m2 (das Haus der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn verfügt etwa über die gleiche Fläche  ; das DHM in Berlin hat die doppelte Fläche im Zeughaus für die deutsche Geschichte zur Verfügung). Auch hier wurde ein starker Gegenwartsbezug eingefordert. Die Ausstellung solle zudem nicht nur die Summe nationaler und regionaler Geschichten sein, sondern europäische Phänomene fokussieren. Auch hier wird aber – einigermaßen konventionell – auf die „auratische Kraft“ von Objekten gesetzt. Welche Rolle Österreich in dieser Ausstellung eingeräumt werden wird, ist freilich noch schwer zu sagen, so unkonkret wie die Pläne bisher sind. Zumindest gibt es mit dem Wiener Zeithistoriker Oliver Rathkolb mittlerweile einen österreichischen Vertreter im Sachverständigenausschuss. So unklar wie der Begriff „Europa“ ist, weil er sich historisch wandelt und unterschiedlich bestimmbar bleibt, so unklar ist der Begriff „Österreich“.100

zur Ausstellung, o.O., o.J.; „Wir wollen Emotionen, aber keine Wertung“. Hans Werner Hütter, Chef das „Hauses der Geschichte der Bundesrepublik“ in Bonn, über echte Objekte, Museumsdidaktik und den Leitgedanken seiner Institution, in  : Der Standard, 25./26.10.2007.   99 Sachverständigenausschuss Haus der Europäischen Geschichte, Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte, Brüssel 2008. 100 Erich Zöllner, Formen und Wandlungen des Österreichbegriffs, in  : Historica. Studien zum geschichtlichen Denken und Forschen (FS Friedrich Engel-Janosi), hg. v. Hugo Hantsch, Eric Voegelin u. Franco Valsecchi, Wien – Freiburg – Basel 1965, 63–89  ; ders., Perioden der österreichischen Geschichte und Wandlungen des Österreich-Begriffs bis zum Ende der Habsburgermonarchie, in  : Die Habsburgermonarchie, hg. v. Adam Wandruszka u. Peter Ur-

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Selbst die Frage, bis wohin man in die Geschichte zurückgehen muss, um das heutige Österreich zu verstehen, ist schwer zu beantworten. Wieso 1918, wieso 1848  ? Wieso nicht 1806  ? Jede gewählte Jahreszahl bleibt in höchstem Maße willkürlich. Vielmehr wird man für jede Entwicklung und jedes Phänomen in der Geschichte der beiden Republiken seit 1918 unterschiedlich weit in die Geschichte zurückgehen müssen, um es erklären und verstehen zu können. Die kurze Geschichte der Republik wird immer wieder mit der längeren Geschichte Österreichs verknüpft werden müssen. Die Habsburger allein auf eine Touristenattraktion zu reduzieren, ist wohl nicht angemessen, aber ihr Reich kann heute dennoch nicht mehr den Bezugsrahmen für ein Museum österreichischer Geschichte bieten. Dies würde nur zu einer Vielzahl von unangemessenen Vereinnahmungen führen. Wo sind die Grenzen der österreichischen Geschichte und wo die Grenzen Österreichs  ? Wie können der austrofaschistische „Ständestaat“ und vor allem die Nazizeit in ein „Haus der Geschichte der Republik“ eingebaut werden  ? Wie kann überhaupt das „Dritte Reich“ in die österreichische Geschichte integriert werden  ? 101 Mit ihm verschieben sich auch noch einmal die Grenzen österreichischer Geschichte beträchtlich  : Das Territorium der Republik reicht nicht aus, um die europaweite Beteiligung von Österreicher/innen an den nationalsozialistischen Massenverbrechen zu erzählen. Nicht nur Auschwitz ist ein Ort der österreichischen Geschichte, an dem tatsächlich ja eine Ausstellung der österreichischen Geschichte gewidmet ist. Gehören die vertriebenen und in alle Welt ausgewanderten Opfer von Verfolgung und Rassismus weiterhin zur österreichischen Geschichte, unbeschadet ihres späteren Wohnortes  ? Diese Fragen der Grenzziehung beschränken sich allerdings nicht auf die vergleichsweise kurze, wenn auch einschneidende Phase des „Dritten Reichs“, sie werden beispielsweise auch mit Blick auf Südtirol virulent. In Deutschland ist die Integration der NS-Zeit in die nationale Geschichte, das Bekenntnis zu ihr und ihren Massenverbrechen wie auch zu einer daraus hervorgehenden besonderen Verantwortung leicht, weil damit das nationale

banitsch, Bd. 3  : Die Völker des Reiches, Teilbd. 1, Wien 1980, 1–32  ; ders., Der Österreichbegriff. Formen und Wandlungen in der Geschichte, Wien 1988  ; Gerald Stourzh, Der Umfang der österreichischen Geschichte, in  : Herwig Wolfram/Walter Pohl (Hg.), Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung (ÖAW – Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs 18), Wien 1991, 3–27. 101 Gerhard Botz, Eine deutsche Geschichte 1938 bis 1945  ? Österreichische Geschichte zwischen Exil, Widerstand und Verstrickung, in  : Zeitgeschichte 14 (1986/87), 19–38.

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Nation ohne Museum  ?

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Gefüge nicht angetastet, sondern im Gegenteil noch verstärkt wird. Das Gleiche kann noch für die Kollaborationsgeschichte in Frankreich und anderen Ländern gelten. In Österreich ist die Situation anders  : Ein Bekenntnis zur Beteiligung an der NS-Zeit wechselt den nationalen Rahmen. Selbst wenn es nicht leicht zu akzeptieren sein mag, aber der Opfermythos war wohl in der Nachkriegszeit tatsächlich ein wesentlicher Motor für ein österreichisches Nationalbewusstsein und dessen erfolgreiche und vermutlich nachhaltige Etablierung. Der österreichische Staats- und Nationsbildungsprozess im 19. und vor allem 20. Jahrhundert erfolgte nicht durch Einigung, sondern durch Herauslösung aus einem größeren Herrschaftsverband bei gleichzeitigem Weiterbestehen eines mehr oder weniger engen kulturellen Zusammenhangs mit anderen Nationen. Spuren davon sind allen Museumsprojekten notwendigerweise eingeschrieben. Die österreichische Geschichte bleibt grenzüberschreitend. Wie für die Realpolitik kann dies auch für die Errichtung eines Ortes für eine historische Selbstverständigung eine große Chance bedeuten. Vereinnahmungen dürfen freilich nicht das Ergebnis sein – im Übrigen auch nicht nach innen  : Die vielen Häuser, in denen ganz unterschiedliche Aspekte der österreichischen Geschichte bereits präsentiert werden, sollten nicht vergessen werden. Die „österreichische Geschichte“ in ein „Haus“ zu pressen, bleibt eine Herausforderung.

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Brigitte Bailer(-Galanda), Univ.-Doz. Mag. Dr., geb. 1952, Zeithistorikerin,

wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Wien  ; 1998–2003 Stellvertretende Vorsitzende der Historikerkommission der Republik Österreich zur Erforschung von Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigung seit 1945  ; Arbeitsschwerpunkte  : Widerstand und Verfolgung 1938–1945, Rechtsextremismus nach 1945 insbesondere NS-Apologetik und Holocaust-Leugnung, Umgang Österreichs mit den Opfern des Nationalsozialismus bzw. der NSVergangenheit. Publikationen (Auswahl)  : (hg.) Israel. Geschichte und Gegenwart, Wien 2009  ; (hg., mit Lorenz Mikoletzky/Roman Sandgruber) Österreich 1938–1945. Dokumente, Wien 2006ff.; (mit Eva Blimlinger) Vermögensentzug – Rückstellung – Entschädigung. Österreich 1938/1945–2005, Innsbruck – Wien – Bozen 2005  ; Die Entstehung der Rückstellungs- und Entschädigungsgesetzgebung. Die Republik Österreich und das in der NS-Zeit entzogene Vermögen, Wien 2003. Lucile Dreidemy, Mag.a, geb. 1985, Historikerin, wissenschaftliche Assisten-

tin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien  ; Studium der Germanistik (Literatur, Geschichte und Sprachwissenschaft des deutschsprachigen Raumes) in Strasbourg, Spezialisierung auf österreichische Zeitgeschichte  ; Abschlussarbeit über Engelbert Dollfuß und den Austrofaschismus  ; 2008 Agregation (Frankreichs höchste Lehramtsbefähigung) im Fach Germanistik  ; derzeit Arbeit an einer Dissertation über Engelbert Dollfuß als Objekt der österreichischen Geschichtspolitik 1934–2009 (in doppelter Betreuung zwischen Strasbourg/Geneviève Humbert-Knitel und Wien/Oliver Rathkolb), Mitglied des Europäischen Doktorandenkollegs Strasbourg. Publikationen (Auswahl)  : Les relations entre organisations étudiantes et partis politiques en Autriche. Rupture ou continuité  ?, in  : Revue d’Allemagne 41 (2009)  ; Le 12 février 1934, 75 ans après  : une date au pluriel. Leçons, contradictions, nouveaux horizons, in  : Austriaca 67–68 (Dezember 2008–Juni 2009)  ; Wirklich Hitlers erstes Opfer  ?, in  : Der Standard, 25. 7. 2009.

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Ulrike Felber, Dr., geb. 1953, Historikerin, Lektorin und Projektmitarbeite-

rin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien  ; Tätigkeit als selbstständige Ausstellungs- und Museumskuratorin, u. a. KZ-Gedenkstätte und Zeitgeschichte Museum Ebensee. Publikationen (Auswahl)  : Gedenken in demokratischem Konsens – neue österreichische Erinnerungskultur, in  : Parlament Transparent 1–2/2008  ; Jubiläumsbilder. Drei Ausstellungen zum Staatsvertrags­gedenken 2005, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 17 (2006) 1  ; (mit Peter Melichar/Markus Priller/Berthold Unfried/Fritz Weber) Ökonomie der Arisierung, Wien – München 2004  ; (mit Elke Krasny/Christian Rapp) Smart Exports. Österreich auf Weltausstellungen 1851–2000, Wien 2000. Richard Hufschmied, Mag., geb. 1965, Historiker, Referatsleiter und stell-

vertretender Abteilungsleiter im Heeresgeschichtlichen Museum/Militärhistorisches Institut in Wien  ; Dissertationsprojekt zur Wasserkraft- und Elektrizitätswirtschaft am Institut für Zeitgeschichte der Universität für Wien. Publikationen (Auswahl)  : (mit Oliver Rathkolb) Mehrfach gewendet. Eine historisch-künstlerische Collage der Schlüsseljahre 1918/38/45/55 und 95. Ausstellungsbroschüre im Auftrag der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei, Wien 2008  ; Sonderfall Wien  ? Österreich und die Alliierten, in  : Bienert/ Schaper/Theissen, Die Vier Mächte in Berlin. Beiträge zur Politik der Alliierten in der besetzten Stadt, Berlin 2007  ; Die 30jährige Metamorphose der Auszeichnung „für Verdienste um die Befreiung Österreichs von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“, in  : Zeitgeschichte 32 (2005), 4  ; Wien im Kalkül der Alliierten (1948–1955). Maßnahmen gegen eine sowjetische Blockade, Wien 2002. Jennifer A. Jordan, Prof. Dr., geb. 1970, Soziologin, Associate Professor am

Department of Sociology der University of Wisconsin-Milwaukee  ; B.A. (1990) in Anthropologie an der University of California-Santa Cruz, M.A. (1996) und Ph.D. (2000) in Soziologie an der University of California-San Diego  ; Forschungsaufenthalte u. a. am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften IFK (Wien), Center for Advanced Holocaust Studies des US Holocaust Memorial Museum (Washington, DC), Center for 21st Century Studies (UW-Milwaukee) und Berlin Program for Advanced German and European Studies (Freie Universität Berlin)  ; zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, u. a. FWF/Lise Meitner, Fulbright, Deut-

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scher Akademischer Austauschdienst, Social Science Research Council. Publikationen (Auswahl)  : Structures of Memory  : Understanding Urban Change in Berlin and Beyond, Stanford 2006  ; Landscapes of European Memory. Biodiversity and Collective Remembrance, in  : History and Memory 22 (2010) [im Druck]  ; Elevating the Humble Dumpling, in  : Ethnology 47 (2008), 2  ; The Heirloom Tomato as Cultural Object, in  : Sociologia Ruralis 47 (2007), 1. Gerald Lamprecht, Ass.-Prof. Mag. Dr., geb. 1973, Historiker, Leiter des Cen-

trums für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz  ; Forschungsschwerpunkte  : Jüdische Regionalgeschichte, Antisemitismus, NS-Herrschaftssystem, Verfolgungsgeschichte der Jüdinnen und Juden, Vermögensentzug. Publikationen (Auswahl)  : Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg, Innsbruck – Wien – Bozen 2007  ; (mit Heimo Halbrainer/Ursula Mindler) un/-sichtbar. NS-Herrschaft, Verfolgung und Widerstand in der Steiermark, Graz 2008. Peter Larndorfer, Mag., geb. 1983, Historiker  ; Studium der Geschichte mit

den Schwerpunkten Zeitgeschichte und Cultural Studies an der Universität Wien  ; Diplomarbeit zur Geschichte des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes  ; Mitarbeit an zahlreichen Projekten der historischpolitischen Bildung, pädagogischer Mitarbeiter beim Verein Gedenkdienst, Guide in der Gedenkstätte Mauthausen. Publikationen (Auswahl)  : „Ein Held bin ich nicht gewesen“. ZeitzeugInnen in der Ausstellung „Was damals Recht war …“, in  : Geldmacher/Koch/Metzler/Pirker/Rettl (Hg.)  : „Da machen wir nicht mehr mit  !“. Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Wien 2010  ; (mit Florian Wenninger) Projektarbeit und externe Kooperationen in der historisch-politischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen. Ein Werkstattbericht des Vereins Gedenkdienst, in  : DÖW-Jahrbuch 2010  ; „Das erste Opfer  ?“ – Eine Ausstellung aus einer anderen Zeit, in  : malmoe 47 (2009). Hannes Leidinger, Mag. Dr., geb. 1969, Historiker, Lehrbeauftragter an den

Instituten für Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Wien, 2009 Gastprofessur am Institut für Geschichte der Universität Wien  ; Mitarbeit an verschiedenen Ausstellungen  ; Forschungsschwerpunkte  : Österreichische und russische/sowjetische Geschichte, Filmquellen zur Geschichte Österreichs, Habsburgermonarchie, Erster Weltkrieg, Geschichtstheorien, Historische Suizidologie, Kapitalismus-, Sozialismus-, Kommunismus- und Kriegsgefan-

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genenforschung, Militär- und Spionagegeschichte. Publikationen (Auswahl)  : (mit Verena Moritz/Karin Moser) Streitbare Brüder. Österreich  : Deutschland – Kurze Geschichte einer schwierigen Nachbarschaft, St. Pölten – Salzburg 2010  ; (mit Verena Moritz) Die Republik Österreich. Überblick – Zwischenbilanz – Neubewertung, Wien 2008  ; (mit Barry McLoughlin/Verena Moritz) Kommunismus in Österreich, Innsbruck – Wien – Bozen 2009. Karin Liebhart, PD Mag. Dr., geb. 1963, Politologin, Lektorin an den Ins-

tituten für Politikwissenschaft der Universitäten Innsbruck und Wien sowie am ULG Master of European Studies der Universität Wien  ; Faculty Member des IK „Europäische historische Diktatur- und Transformationsforschung“ der Universität Wien, Visiting Fellow am Institute of European Studies and International Relations der Comenius-Universität Bratislava, Mitarbeiterin der Gesellschaft für politische Aufklärung. Publikationen (Auswahl)  : (mit Petra Bernhardt/Leila Hadj-Abdou/Andreas Pribersky) EUropäische Bildpolitiken. Politische Bildanalyse an Beispielen der EU-Politik, Wien 2009  ; (mit Leila Hadj-Abdou) The Commemoration Ceremonies of May 2005 – A Mirror of Conflicting European Memories  ?, in  : Findor/Lásticová/Wahnich (Hg.), Politics of Collective Memory. Cultural Patterns of Commemorative Practices in Post-War Europe, Wien 2008  ; Politisches Gedächtnis und Erinnerungskultur. Die Bundesrepublik Deutschland und Österreich im Vergleich, in  : Gehler/ Böhler (Hg.), Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland von 1945/49 bis zur Gegenwart, Innsbruck 2007  ; (mit Petra Bernhardt) Bilder einer Ausstellung. Zur Visualisierung von Erinnerungspolitik in Deutschland und Österreich, in  : Bildpolitik – Sprachpolitik. Untersuchungen zur politischen Kommunikation in der entwickelten Demokratie, Berlin 2006. Verena Moritz, Mag. Dr., geb. 1969, Historikerin, Lektorin am Institut für Ge-

schichte der Universität Wien, Leiterin des FWF-Projektes „Österreichischsowjetische Beziehungen 1918–1938“, Mitglied der „Österreichisch-Russischen Historikerkommission“  ; Mitarbeit an verschiedenen Ausstellungen  ; zahlreiche Forschungen und Publikationen zur Geschichte Österreichs und Russlands/der Sowjetunion im 20. Jahrhundert, zum Ersten Weltkrieg sowie zur Geschichte der Geheimdienste und zu filmgeschichtlichen Themen. Bertrand Perz, Univ.-Doz. Dr., geb. 1958, Historiker, Universitätsassistent

und derzeit stellv. Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität

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Wien  ; Vorstandsmitglied des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocauststudien, wissenschaftlicher Leiter der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, 1998–2003 Mitglied der österreichischen Historikerkommission, Mitglied des Kunstrückgabebeirates des BMUKK  ; Forschungsschwerpunkte  : NS-Herrschaft und Besatzungspolitik, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit, Konzentrationslager, Holocaust, Gedenkstätten. Publikationen (Auswahl)  : (mit Christian Dürr/Ralf Lechner/Robert Vorberg) Die Krematorien von Mauthausen. Katalog zur Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2008  ; (mit Florian Freund) Konzentrationslager in Oberösterreich 1938–1945, Linz 2007  ; Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck – Wien – Bozen 2006  ; (mit Florian Freund/Mark Spoerer) Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945, Wien 2004  ; (mit Clemens Jabloner u. a.) Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Zusammenfassungen und Einschätzungen, Wien – München 2003. Alexander Pollak, Mag. Dr., geb. 1973, Sozialwissenschaftler mit sprachwis-

senschaftlicher Ausbildung, arbeitet als wissenschaftlicher Projektmanager bei der EU-Grundrechteagentur in Wien  ; zuvor Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und Leiter von Forschungsprojekten. Forschungsschwerpunkte  : Antisemitismus, rassistische Diskriminierung, Vergangenheitspolitik, Menschenrechtsbildung, Medienanalyse und Kritische Diskursanalyse. Publikationen (Auswahl)  : (mit Hannes Heer/Walter Manoschek/Ruth Wodak) The Discursive Construction of History, Basingstoke 2008  ; Antisemitismus. Probleme der Definition und Operationalisierung eines Begriffes, in  : Bunzl/Senfft (Hg.), Zwischen Antisemitismus und Islamophobie, Hamburg 2008  ; Discrimination and good practice activities in education. Trends and developments in the 27 Member States, in  : Intercultural education 19 (2008), 5  ; (mit Paul Scheibelhofer) Trickfilme als Medien kindlicher und jugendlicher Wahrnehmungswelten, in  : SWS-Rundschau 48 (2008), 2  ; Die Wehrmachtslegende in Österreich. Das Bild der Wehrmacht im Spiegel der österreichischen Presse nach 1945, Wien 2002. Marie Magdalena Rest, geb. 1988, Mitarbeiterin im Forschungsprojekt

„Mauthausen Seminar. Geschichte aus-/darstellen in KZ-Gedenkstätten“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften  ; seit 2006 Studium der

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Geschichte an der Universität Wien sowie praktische und wissenschaftliche Arbeit im museumspädagogischen und museologischen Bereich, u. a. am Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, im Verein Gedenkdienst und bei der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in Berlin. Derzeit Arbeit an einer Diplomarbeit über die Ausstellungen im Zeitgeschichte Museum und der Gedenkstätte Ebensee. Dirk Rupnow, Priv.-Doz. Mag. Dr., geb. 1972, Historiker, Wissenschaftlicher

Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck (derzeit auch dessen Leiter) und Privatdozent am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien  ; Forschungsaufenthalte u. a. am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften IFK (Wien), Institut für die Wissenschaften vom Menschen IWM (Wien), Simon Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur (Leipzig), History Department der Duke University (Durham, NC) und Center for Advanced Holocaust Studies des US Holocaust Memorial Museums (Washington, DC)  ; 2007 Gastprofessur im Jewish Studies Program des Dartmouth College (Hanover, NH), 2009 Lehrbeauftragter an der Universität Bielefeld  ; zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, u. a. APART der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Fraenkel Prize in Contemporary History 2009 der Wiener Library (London)  ; Mitglied der Jungen Kurie der ÖAW. Publikationen (Auswahl)  : „Judenforschung“ im „Dritten Reich“. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, BadenBaden 2010 [im Druck]  ; (hg., mit Veronika Lipphardt/Jens Thiel/Christina Wessely) Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a.M. 2008  ; (hg., mit Thomas Brandstetter/Christina Wessely) Sachunterricht. Fundstücke aus der Wissenschaftsgeschichte, Wien 2008  ; Aporien des Gedenkens. Reflexionen über ‚Holocaust‘ und Erinnerung, Freiburg/Br. – Berlin 2006  ; Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen 2005. Monika Sommer, Mag. Dr., geb. 1974, Historikerin  ; 1999–2003 wissenschaft-

liche Mitarbeiterin der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2002/03 Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften IFK Wien  ; seit 2003 am Wien-Museum, zunächst als Assistentin des Direktors, seit 2008 als Kuratorin  ; Mitinitiatorin von „schnittpunkt austellungstheorie & praxis“  ; seit 2006 Co-Leiterin von „educating curating managing. Masterlehrgang für ausstellungstheorie und praxis“ an der Universität für angewandte

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Kunst, Wien  ; Publikationen (Auswahl)  : (hg., mit Dagmar Höss/Heidemarie Uhl) In situ. Zeitgeschichte findet Stadt  : Linz im Nationalsozialismus, Weitra 2009  ; (hg.) Hieronymus Löschenkohl. Sensationen aus dem alten Wien, Wien 2009  ; (hg., mit Charlotte Martinz-Turek) Storyline. Narrationen im Museum, Wien 2009  ; (hg., mit Marcus Gräser/Ursula Prutsch) Imaging Vienna. Innensichten, Außensichten, Stadterzählungen, Wien 2006  ; (hg., mit Michaela Lindinger) Die Augen der Welt auf Wien gerichtet. Kennedy und Chruschtschow in Wien 1961, Wien 2005. Heidemarie Uhl, Priv.-Doz. Mag. Dr., geb. 1956, Historikerin und Kultur-

wissenschafterin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien  ; 1988–2000 Mitarbeiterin der Abteilung Zeitgeschichte der Universität Graz, 1994–2000 im Spezialforschungsbereich „Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900“. 2005 Habilitation im Fach Allgemeine Zeitgeschichte an der Universität Graz  ; Gastprofessuren am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, an der Hebrew University Jerusalem und der Universität Straßburg. Publikationen (Auswahl)  : (hg.) Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts, Innsbruck 2003  ; (hg., mit Dieter J. Hecht/Eleonore Lappin/Michaela Raggam-Blesch/ Lisa Rettl) 1938. Auftakt zur Shoah in Österreich. Orte – Bilder – Erinnerun­ gen, Wien 2008  ; (hg., mit Dagmar Höss/Monika Sommer) In situ. Zeitgeschichte findet Stadt : Nationalsozialismus in Linz/Relocating Contemporary History  : National Socialism in Linz, Weitra 2009  ; (hg., mit Gertraud Diendorfer) Europäische Bilderwelten. Visuelle Darstellungen EU-Europas aus österreichischer Perspektive, Innbruck 2009  ; (hg., mit Heinz Fassmann/ Wolfgang Müller-Funk) Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven, Wien 2009. Regina Wonisch, Mag., geb. 1965, Historikerin, Museologin und Ausstel-

lungskuratorin, Mitarbeiterin am Institut für Wissenschaftskommunikation und Hochschulforschung der Universität Klagenfurt (Standort Wien)  ; Lehraufträge an der Universität Klagenfurt und für den Lehrgang „Exhibition and Cultural Communication Management“ an der Universität für angewandte Kunst in Wien  ; Publikationen (Auswahl)  : (mit Roswitha Muttenthaler) Rollenbilder im Museum. Was erzählen Museen über Frauen und Männer, Bielefeld 2010 (im Druck)  ; Schnittstelle Ethnographie – Ein Rundgang durch das Naturhistorische Museum Wien, in  : Kazeem/Martinz-Turek/Sternfeld

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(Hg.), Das Unbehagen im Museum. Postkoloniale Museologien, Wien 2009  ; Zur Funktion eines Rituals. Niederösterreichische Landesausstellungen, in  : Kühschelm/Langthaler/Eminger (Hg.), Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Bd. 3  : Kultur, Wien – Köln – Weimar 2008  ; Verbürgerlichung der Lebenskultur – Zur Ausstellung „Die Frau und ihre Wohnung“, in  : Altenstraßer/Hauch/Kepplinger (Hg.), gender housing. geschlechtergerechtes bauen, wohnen, leben, Innsbruck – Wien – Bozen 2007  ; (mit Roswitha Muttenthaler) Gesten des Zeigens. Repräsentationen von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2007.

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