Zwischen Materialität und Ereignis: Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen und Archiven [1. Aufl.] 9783839427620

This volume systematizes current positions on conveying literature between the poles of materiality and event.

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Polecaj historie

Zwischen Materialität und Ereignis: Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen und Archiven [1. Aufl.]
 9783839427620

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Verortungen der Literaturvermittlung
Zur Typologie und Geschichte von Literaturausstellungen
Was liest man, wenn man sieht?. Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Original, Archiv und Ausstellung
Die Ausstellung als Erfahrungsraum zwischen Assoziation und Zeugnis. Vermittlung von A bis Z in der Grimmwelt Kassel
Was will der Kritiker im Museum?. Versuch einer Entschleunigung
II. Materialität in der Literaturvermittlung
Was bedeutet die Materialität der Literatur für die Literatur(-ausstellung)?. Ein Versuch
Die Sprache und die Dinge. Orhan Pamuks Museum der Unschuld
Vom Klang und Bild der Poesie. Strategien zur Präsentation und Vermittlung Konkreter und Visueller Poesie
Die Aura in der (Literatur-)Vermittlung. Die Inszenierung einer Faust-Ausgabe in der Ausstellung Lebensfluten — Tatensturm im Goethe-Nationalmuseum
III. Literaturvermittlung als Ereignis
Zwischen »buchdruck-schwärzlichem Gewande« und »Allgewalt der sinnlichen Empfindung«. Literatur als Ereignis
Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung (nicht nur) im Deutschunterricht
Der Turm von Uwe Tellkamp auf der Bühne. Romanbearbeitungen als Literaturvermittlung
Das Für und Wider der Fiktion. Literaturvermittlung zwischen Immersion und Reflexion
Autorinnen und Autoren

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Britta Hochkirchen, Elke Kollar (Hg.) Zwischen Materialität und Ereignis

Edition Museum | Band 10

2015-01-23 09-58-51 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ad388406606806|(S.

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Britta Hochkirchen, Elke Kollar (Hg.)

Zwischen Materialität und Ereignis Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen und Archiven

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Gefördert durch den Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute e.V. – AsKI aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Valeria Brekenkamp, 2010 Satz: Justine Haida, Bielefeld Korrektorat: Thorsten Tynior Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2762-6 PDF-ISBN 978-3-8394-2762-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2015-01-23 09-58-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ad388406606806|(S.

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Inhalt

Einleitung Britta Hochkirchen und Elke Kollar | 7

I. V erortungen der L iteraturvermittlung Zur Typologie und Geschichte von Literaturausstellungen Peter Seibert | 25

Was liest man, wenn man sieht? Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Original, Archiv und Ausstellung Heike Gfrereis | 43

Die Ausstellung als Erfahrungsraum zwischen Assoziation und Zeugnis Vermittlung von A bis Z in der Grimmwelt Kassel Susanne Völker | 53

Was will der Kritiker im Museum? Versuch einer Entschleunigung Hubert Spiegel | 71

II. M aterialität in der L iteraturvermittlung Was bedeutet die Materialität der Literatur für die Literatur(-ausstellung)? Ein Versuch Sebastian Böhmer | 87

Die Sprache und die Dinge Orhan Pamuks Museum der Unschuld Olaf Mückain | 103

Vom Klang und Bild der Poesie Strategien zur Präsentation und Vermittlung Konkreter und Visueller Poesie Anne Thurmann-Jajes | 123

Die Aura in der (Literatur-)Vermittlung Die Inszenierung einer Faust-Ausgabe in der Ausstellung Lebensfluten — Tatensturm im Goethe-Nationalmuseum Anja Thiele | 137

III. L iteraturvermittlung als E reignis Zwischen »buchdruck-schwärzlichem Gewande« und »Allgewalt der sinnlichen Empfindung« Literatur als Ereignis Christiane Heibach | 155

Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung (nicht nur) im Deutschunterricht Marion Bönnighausen | 175

Der Turm von Uwe Tellkamp auf der Bühne Romanbearbeitungen als Literaturvermittlung Jens Groß | 189

Das Für und Wider der Fiktion Literaturvermittlung zwischen Immersion und Reflexion Britta Hochkirchen | 199

Autorinnen und Autoren  | 217

Einleitung Britta Hochkirchen und Elke Kollar Die seit Jahrzehnten geführte Debatte, ob man Literatur in Ausstellungen, Museen und Archiven vermitteln kann – oder markanter: ob sie sich überhaupt ausstellen lässt, scheint sich langsam zu erschöpfen. Produktiver erweisen sich hingegen die Reflexion und Befragung des Literaturbegriffs, der einer solchen Vermittlung zugrunde liegt. Die jeweilige Auffassung vom Vermittlungsgegenstand Literatur und die Entscheidung, welche seiner Aspekte vermittelt werden sollen, prägen die gewählten Strategien in den genannten Formaten und Institutionen. Dabei handelt es sich nicht um isolierte Entscheidungen; vielmehr sind die Ziele und Inhalte der Vermittlung stets gemeinsam mit den zu vermittelnden Objekten und den dafür ausgewählten Methoden zu denken. Entscheidend ist zugleich die Frage nach den Rezipienten, die spezifische Orte der Literaturvermittlung stets mit einem bestimmten Erfahrungs- und Erwartungshorizont besuchen. Die Ausstellung bildet dabei einen Rahmen für komplexe Rezeptions- und Interaktionsprozesse; zugleich ist sie Ausgangs- und Zielpunkt der Vermittlung. Die Auffassungen von den einzelnen Parametern, die solche Interdependenzen sowie die Formate und Methoden der Literaturvermittlung bestimmen, können grundlegend differieren und sind explizit zu hinterfragen: Was heißt Vermittlung in Bezug auf Literatur? Welche Rolle spielen Objekte für diese Vermittlung? Und worin besteht die Aufgabe einer Ausstellung, eines Museums, eines Archivs im Rahmen der Literaturvermittlung? Ausstellungen, Museen und Archive fungieren häufig als Orte der Literaturvermittlung, jedoch ist dies kein Alleinstellungsmerkmal, bedenkt man etwa die große Anzahl von literarischen Stadtführungen oder von Lesungen und Poetry-Slams an nicht museal geprägten Veranstaltungsorten. Nicht zuletzt die populären Literaturfestivals zeichnen sich oftmals dezidiert durch einen Pluralismus alternativer Veranstaltungsorte

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wie etwa Fabriken, Geschäfte oder Wohnzimmer aus.1 Auch Schulen und Theater dürfen als einflussreiche Orte der Literaturvermittlung gelten. Im expositorischen Bereich wiederum findet Literaturvermittlung nicht mehr nur in spezifischen Literaturmuseen oder anderen musealen Einrichtungen wie Dichtergedenkstätten oder Archiven statt, sondern hat sich längst auch auf Kunstmuseen ausgedehnt. Vor diesem Hintergrund erscheint es lohnend, die jeweiligen Potenziale der Vermittlungsorte zu hinterfragen. Welche spezifischen Zugänge zur Literatur können Museen und Archive bieten? Können sie einen singulären Beitrag zur Literaturvermittlung leisten? Die mit dem vorliegenden Sammelband vollzogene Perspektivierung möchte jedoch nicht einer Konkurrenzsituation zwischen den genannten Orten und Institutionen zuarbeiten, sondern vielmehr mittels einer gezielten Selbstvergewisserung bei gleichzeitiger ›Schau über den Tellerrand‹ auch Möglichkeiten des Transfers aufzeigen. Museen und Archive dienen vielfältigen Studien-, Bildungs- und Erlebenszwecken.2 In unserem Kontext kommen ihnen somit die Aufgaben zu, Zugänge zu Literatur anzubieten, (ästhetische) Erfahrungen zu ermöglichen sowie Kompetenzen und Einsichten im Umgang mit Literatur an verschiedene Zielgruppen zu vermitteln.3 Dies erfordert die Eröffnung pluraler Zugangsweisen zu den Präsentationen und ihren Objekten und damit eine methodische Vielfalt, die den einzelnen Konstituenten des Vermittlungsprozesses jeweils gerecht wird. Dabei kann die Ausstellung 1  |  Der Ort der Literaturvermittlung kann – abhängig vom Literatur- und Vermittlungsbegriff – noch weiter gefasst werden, sodass auch etwa Verlage und Präsentationen literarischer Texte im Internet Beachtung finden können. Vgl. Gebhard Rusch: Literaturvermittlung. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart 5 2013, S. 466-476, hier S. 466. Das Handbuch Kulturelle Bildung benennt als »Praxisfelder« weitere bereits kanonisierte und bisher wenig bedachte Orte der Literaturvermittlung. Vgl. Lino Wirag: Zeitgenössische Formen informeller Literaturvermittlung. In: Handbuch Kulturelle Bildung. Hg. v. Hildegard Bockhorst, Vanessa-Isabelle Reinwand u. Wolfgang Zacharias. München 2012, S. 491-494. 2 | Vgl. Icom Definition 2006, URL: www.icom-deutschland.de/schwerpunktemuseumsdefinition.php, letzter Zugriff am 22.11.2014. 3  |  Vgl. für diesen Aspekt auch Thomas Schmidt: Das Literaturmuseum als Lernort. Eine Provokation. In: Burckhard Dücker u. Thomas Schmidt (Hg.): Lernort Literaturmuseum. Beiträge zur kulturellen Bildung. Göttingen 2011, S. 13-37.

Einleitung

als Vermittlungsangebot verstanden werden, das den Ausgangspunkt bildet für weitere Formate wie den Medienguide, den Ausstellungskatalog, personale Formen (etwa Führungen und Workshops) oder auch Lesungen und theatrale Aufführungen. Mit Blick auf die Vermittlungstätigkeit definiert der Kulturwissenschaftler Gottfried Korff die Aufgabe der Institution Museum und ihrer Ausstellungstätigkeit als eine doppelte, insofern sie sowohl ein »bewahrende[s] (= deponierende[s])« als auch ein »interpretierend-aktualisierende[s] (= exponierende[s])« Verhältnis zur Vergangenheit herstellen soll.4 Korff bringt diese Spannung in der Bezeichnung des Museums als »Speicher« einerseits und als »Generator« andererseits pointiert zum Ausdruck.5 Dieses Verständnis einer Doppeltätigkeit wurde seit den 1970er Jahren konzeptionell weiterentwickelt zu einem, wie es bei Thomas Thiemeyer heißt, »neuen Kommunikationsmodell« für Museen: Neben dem Vermittler, etwa dem Kurator einer Ausstellung, werden nun auch das Exponat, der Inszenierungsraum und der Empfänger, sei es der Besucher einer Ausstellung oder der Rezipient eines Medienguides, als Sinnproduzenten anerkannt.6 Somit wird auch Literaturvermittlung meist nicht mehr allein reproduktiv im Sinne der Weitergabe von bereits bestehendem Wissen, sondern als ein Akt der Produktion von Wissen verstanden und als solcher kenntlich gemacht. Dadurch eröffnen sich neue methodische und insbesondere kreative Wege für die Vermittlung.7 Mit dem Vermittlungsbegriff auf das Engste verbunden ist der Literaturbegriff selbst, der nicht zuletzt bestimmt, welche Aspekte oder Erfahrungen von Literatur vermittelt beziehungsweise generiert werden sollen 4  |  Gottfried Korff: Speicher und/oder Generator. Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum (2000). In: Ders.: Museumsdinge. Deponieren – Exponieren. Hg. v. Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König u. Bernhard Tschofen. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 167-178, hier S. 170. 5  |  Ebenda, S. 174. 6  |  Thomas Thiemeyer: Zwischen Aura und Szenografie. Das (Literatur-)Museum im Wandel. In: Burckhard Dücker u. Thomas Schmidt (Hg.): Lernort Literaturmuseum (Anm. 3), S. 60-71, hier S. 61. 7  |  Vgl. hierzu – mit Blick auf die Bildungsfunktion von Museen im Allgemeinen – Nicola Lepp: Ungewissheiten – Wissens(v)ermittlung im Medium der Ausstellung. In: Gisela Staupe (Hg.): Das Museum als Lern- und Erfahrungsraum. Grundlagen und Praxisbeispiele. Köln, Weimar, Wien 2012, S. 60-65, hier S. 62f.

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und welche Rollen den Objekten und Rezipienten in diesem Prozess zugedacht werden:8 Sind es der Autor, sein Leben und sein kulturgeschichtlicher Kontext, die im Mittelpunkt stehen, ist es das literarische Werk selbst, mithin die Literarizität, oder sind es die Prozesse der Entstehung und Rezeption sowie deren wirkungsästhetische Prämissen? Für Literaturausstellungen, die innerhalb der verschiedenen Vermittlungsformate stets eine Sonderrolle einnehmen, sind bereits verschiedene Ansätze einer Typologisierung vorgestellt worden, die zumeist eng mit der Institutionengeschichte von Museen und Archiven einerseits und mit der Entwicklung des Methodenspektrums der Literaturwissenschaften andererseits verbunden sind, sodass sie in ihrer Historizität offensichtlich werden.9 Hinsichtlich der Ausstellungspraxis unterscheidet Christiane Holm im Rückgriff auf die Untersuchungen von Peter Seibert unterschiedliche Typen, die jeweils durch bestimmte Literaturverständnisse geprägt sind: »autor- und werkzentrierte Ausstellungen, die die Exponate als auratische Zeugnisse präsentieren, kontextorientierte Ausstellungen, die die Exponate als soziokulturelle Dokumente gruppieren, und schließlich rezeptionsorientierte Ausstellungen, die die Exponate als sinnliche Erlebnisse inszenieren«.10 Die Reflexion des Literaturbegriffs bestimmt 8 | Vgl. dazu Achim Barsch: Literaturbegriff. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (Anm. 1), S. 455-456, hier S. 456: »Literaturbegriffe geben somit eine Antwort auf die Frage: Was ist Lit[eratur]?«. 9 | Für eine historische Perspektive vgl. Susanne Ebeling, Hans-Otto Hügel u. Ralf Lubnow (Hg.): Literarische Ausstellungen von 1949 bis 1985. Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik. Diskussion, Dokumentation, Bibliographie. München, London, New York u.a. 1991. Hellmut Th. Seemann u. Thorsten Valk (Hg.): Literatur ausstellen. Museale Inszenierungen der Weimarer Klassik. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2012. Göttingen 2012. 10  |  Christiane Holm: Ausstellung/Dichterhaus/Literaturmuseum. In: Handbuch Medien der Literatur. Hg. v. Natalie Binczek. Berlin 2013, S. 569-581, hier S. 573. Vgl. dazu vor allem Peter Seibert: Literaturausstellungen und ihre Geschichte. In: Anne Bohnenkamp u. Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume. Zeichen-Wechsel. Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen. Göttingen 2011, S. 15-37. Peter Seibert: Literatur und Museum. Einführung in das Themenheft. In: Der Deutschunterricht 2 (2009), S. 2-10. Einen Überblick über verschiedene expositorische Umsetzungen und ihre jeweiligen literaturtheoretischen Prämissen bietet die Dokumentation der Metaausstellung Wie stellt man Literatur aus? Sie-

Einleitung

die Vermittlungsstrategien grundlegend und relativiert dadurch die Frage nach der Ausstellbarkeit von Literatur. Eine kritische Haltung gegenüber der Ausstellbarkeit beruht zumeist auf der Feststellung, dass Trägermedien (etwa Bücher, Handschriften oder Bildschirme) und andere materielle Objekte (etwa Möbel oder Schreibutensilien eines Dichters) zwar zur Schau gestellt werden können, die immaterielle Dimension der Literatur als Lektüre auf diesem Weg jedoch nicht rezipierbar wird. Die Betonung einer fehlenden ›Gegenständlichkeit‹ von Literatur verweist im Rückschluss darauf,11 dass ihr ›Inhalt‹ im Rahmen ihrer Vermittlung nicht durch eine Lektüre sukzessiv erschlossen wird.12 Dieses wahrnehmungstheoretisch fundierte Argument, welches das Format der Ausstellung im Rahmen der Literaturvermittlung grundsätzlich infrage stellt, wendet sich folglich gegen die zeitweilige Aufhebung oder Irritation des tradierten Rezeptionswegs von Literatur: Der intime Akt des Lesens in der durch den Text vorgegebenen linearen Abfolge, also idealiter Seite für Seite, wird in der Ausstellung zu einem öffentlichen Ereignis, das aufgrund seiner Simultaneität qua Bewegung von dem Rezipienten erfahren wird.13 In diesem Einwand scheint Gotthold Ephraim Lessings Unterscheidung ben Positionen zu Goethes Wilhelm Meister, die 2010 im Frankfurter Goethe-Haus stattfand. Vgl. Anne Bohnenkamp u. Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume (Anm. 10), S. 285-338. Auf Formate einer Literaturvermittlung, die über die Ausstellung hinausgehen oder sich ganz unabhängig von ihr mit den Beständen von Museen und Archiven auseinandersetzen, ist eine solche Typologie bislang selten übertragen worden. 11 | Das Argument der fehlenden Gegenständlichkeit von Literatur wird schon früh in die Debatte um deren Vermittlungspotenziale eingeführt: »[D]ie ›gegenständlichen Substrate von Literatur‹ – all jene also, die im Museum den Reiz des ›sinnlich‹ Anschaulichen ausmachen – [sind] eben ›keine Literatur‹«. Klaus Beyrer: Literaturmuseum und Publikum. Zu einigen Problemen der Vermittlung. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 2 (1986), S. 37-42, hier S. 38. 12  |  Stets scheint dabei unterschwellig der Vorwurf ästhetizistischer Oberflächlichkeit im Zugriff auf die Literatur mitzuschwingen. Vgl. hierzu Davide Giuriato u. Stephan Kammer: Die graphische Dimension der Literatur? Zur Einleitung. In: Dies. (Hg.): Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Frankfurt a.M., Basel 2006, S. 7-24, hier S. 9. 13  |  Vgl. Christiane Holm: Ausstellung/Dichterhaus/Literaturmuseum (Anm. 10), S. 575.

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zwischen der Sukzessivität der Poesie und der Simultaneität der Malerei, die er in seiner Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie von 1766 dargelegt hat, mit höchster Aktualität wieder auf.14 Zudem rekurriert diese Argumentation implizit auf die strukturalistische Trennung von Signifikant und Signifikat, von Form und Inhalt. Versteht man aber Vermittlung – ob in Form einer Ausstellung, eines Workshops oder eines Medienguides – als Aktualisierung und als Übersetzungsprozess, wie es nach Korff für die Museumsarbeit vorgesehen ist, dann verliert die wahrnehmungstheoretische Differenz zwischen unterschiedlichen medialen Realisationen ihre Relevanz. So mag sich die immaterielle Dimension der in der Zeit erfahrbaren Literatur in der Tat nicht über das Ausstellen eines geschlossenen oder an einer bestimmten Stelle aufgeschlagenen Buchs vermitteln lassen. Versteht man Literatur aber auch als durch ihre materielle Dimension bestimmt, etwa durch ihre typografische Gestalt, so gilt dies schon nicht mehr: Die Materialität konstituiert in einem medientheoretischen Verständnis jede Form der Literatur sowie deren Sinndimension.15 Somit bewirkt der Fokus auf die Materialität in diesem Zusammenhang, dass ein signifikatenorientiertes, also semantisches Literaturverständnis abgelöst wird. Jede Vermittlung vertritt eine eigene Auffassung davon, was Literatur ist und welche Qualitäten sie ausmachen. Im Rahmen hermeneutisch orientierter Vermittlungsansätze spielt der historische Autor eine entscheidende Rolle für das Verständnis des literarischen Texts; dementsprechend wird über ihn der Zugang zur Literatur eröffnet, indem auf ›Zeugnisse‹ aus seinem Leben zurückgegriffen wird. Der Schreibtisch, aber auch der Brief an einen Freund und andere auto(r)biografische Objekte können, aus dieser Perspektive Zugänge zum Verständnis von Literatur eröffnen, und das heißt: Literatur vermitteln. In den Literaturtheorien der Rezeptionsästhetik und des Poststrukturalismus hingegen wird der Autor als individuelle, sinnstiftende Instanz geschwächt, wenn

14 | Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke in drei Bänden. München 1974. Bd. 2: Kritische Schriften. Philosophische Schriften, S. 7-166. 15 | Vgl. dazu Andreas Käuser: Ist Literatur ausstellbar? Das Literaturmuseum der Moderne. Anmerkungen zur Konzeption und Diskussion »Literatur und Medienumbruch«. In: Der Deutschunterricht 2 (2009), S. 30-37, besonders S. 30.

Einleitung

nicht gar für tot erklärt.16 Gegen jeglichen Biografismus werden Texte in ihrer Interdependenz zu vorherrschenden Diskursen als ein »Gewebe von Zitaten« sowie anhand der in ihnen vollzogenen Verschiebungen von Signifikant und Signifikat betrachtet.17 Ein Vermittlungsprojekt wird unter diesen Prämissen seinen Schwerpunkt auf die materielle Anschauung der Literatur sowie auf die Vernetzung der Diskurse legen und den Rezipienten zum Sinnproduzenten erklären. Es ist folglich von grundlegender Bedeutung für das Ziel und die Methoden der Vermittlung, ob Literatur etwa basierend auf einem systemtheoretischen, diskursanalytischen, psychoanalytischen, semiotischen oder feministischen Verständnis vermittelt und ob ein Zugang etwa zur Rezeptions- oder Institutionsgeschichte oder zur Literatursoziologie eröffnet werden soll.18 Die Beantwortung der Frage, ob und wie Literatur – in Ausstellungen und über diese hinaus – vermittelt werden kann, hängt damit letztlich von der zugrunde liegenden literaturtheoretischen Konzeption ab. Wenngleich die Vermittlungspraxis immer nur einen Teilaspekt von Literatur kommunizieren und ihr mit Blick auf die unterschiedlichen Zielgruppen kein einheitliches literaturtheoretisches Konzept unterlegt werden kann, bietet die Reflexion dieser Prämissen eine Orientierung im Hinblick auf die Wahl der Vermittlungsziele und deren Realisierbarkeit. Dabei darf die Sinnstiftung durch den Rezipienten innerhalb des Vermittlungsprojekts, die von den vorgegebenen Rezeptions- und damit Deutungsangeboten zwar ausgeht, sodann aber jeweils subjektiv ausgefüllt wird, nicht außer Acht gelassen werden.19 Daneben hängen die medialen und ästhetischen Mittel, derer sich die Vermittlung bedient, selbstverständlich auch von den »medien16  |  Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez u. Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185-193. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt a.M. 1988, S. 7-31. 17  |  Roland Barthes: Der Tod des Autors (Anm. 16), S. 190. 18  |  Vgl. Peter Seibert: Literatur und Museum (Anm. 10), S. 9. 19 | Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. München 41994. Korff beruft sich in seiner Beschreibung der Wirkweise einer Ausstellung ebenfalls auf den rezeptionsästhetischen Ansatz Wolfgang Isers: »Rezeptionsästhetisch gewendet: der Betrachter ist Produzent, in der Rezeption der Dingarrangements wird er Sinnproduzent – analog zu Wolfgang Isers ›Appellstruktur der Texte‹.« Gottfried Korff: Speicher und/oder Generator (Anm. 4), S. 173. Hervorhebung im Original.

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technologische[n] Veränderungen der Präsentations- und Rezeptionsweise von Texten« ab.20 Somit ist im Rahmen des Aushandlungsprozesses eines jeden Vermittlungsprojekts zu klären, ob mit Blick auf das jeweilige Literaturverständnis an den tradierten Produktions- und Rezeptionsvorgaben festgehalten werden soll oder ob sie unterlaufen werden können. Wird Vermittlung – unabhängig davon, welchen Aspekt der Literatur sie akzentuiert – als (mediale) Übersetzung sowie als Katalysator von Erkenntnis und Wissen verstanden, so kann als ihre dreifache Funktion herausgestellt werden, dass sie rekonstruiert, konstruiert und dekonstruiert, mithin also ein »interpretierend-aktualisierende[s]« Verhältnis zur Literatur eröffnet.21 Insofern ist sowohl für die Konzeption als auch für die Rezeption eines Vermittlungsangebots das Festhalten an einem »normativen und substantiierten Literaturbegriff« praktisch unmöglich.22 Die den Vermittlungsprozess bestimmenden literaturtheoretischen Prämissen, die beispielsweise den Stellenwert des Autors und des Rezipienten betreffen, aber auch den literarischen Text selbst im Sinne eines Werkbegriffs oder die Analysemethoden anbelangen, werden stattdessen immer wieder neu verhandelt.23 Eine spezifische Leistung der Literaturvermittlung besteht darin, diese Auseinandersetzung um die Bestimmung von Literatur erfahrbar werden zu lassen. Um diese Diskursräume im Schnittfeld von Praxis und Theorie auszuloten, veranstaltete die Klassik Stiftung Weimar im November 2013 die Tagung Zwischen Materialität und Ereignis. Literatur vermitteln in Museen und Archiven im Goethe-Nationalmuseum. Dabei stand die Frage im Mit20  |  Andreas Käuser: Ist Literatur ausstellbar? (Anm. 15), S. 30. 21  |  Gottfried Korff: Speicher und/oder Generator (Anm. 4), S. 170. 22  |  Peter Seibert: Literaturausstellungen und ihre Geschichte (Anm. 10), S. 16. Seibert bezeichnet Ausstellungen als eine Form der »(geschichtliche[n]) Realisationen« von Literatur; wie etwa der Buchdruck seien sie »essentieller Bestandteil« von Literatur (ebenda). 23 | Eine Ausführung zum Stellenwert des Werkbegriffs für die Literaturvermittlung anhand gegenständlicher Nachlassobjekte eines Autors liefert Felicitas Hartmann: Stückwerk oder Werkstück? Sammeln und Zeigen gegenständlicher Nachlassobjekte als Praktiken der Werkkonstituierung am Beispiel Ernst Jünger. In: Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld 2013, S. 197-223, besonders S. 202.

Einleitung

telpunkt, welche Rolle Materialität und Ereignis in ihrem Spannungsverhältnis und Zusammenspiel im Rahmen einer literaturtheoretisch reflektierten Vermittlungspraxis einnehmen. Das besondere kulturwissenschaftliche Interesse an diesen Begriffen, die die Debatten um den material und performative turn bestimmen, bildete den Ausgangspunkt, um über deren Bedeutung für die Vermittlung von Literatur und das damit verbundene Literaturverständnis nachzudenken. Der vorliegende Sammelband präsentiert die in diesem Rahmen gehaltenen Vorträge.24 Er versammelt Beiträge aus den Perspektiven verschiedener universitärer Disziplinen (etwa der Literatur-, Medien- und Kunstwissenschaft sowie der Literaturdidaktik) und stellt diese in einen interdisziplinären Dialog mit engagierten Stellungnahmen aus berufspraktischer Sicht (etwa der Literaturkritik, der Projektleitung, des Kuratierens und der Dramaturgie). Der Sammelband setzt es sich dabei zum Ziel, die aktuellen – oftmals durchaus gegenläufigen – theoretischen wie praktischen Ansätze der Literaturvermittlung über die Begriffe ›Materialität‹ und ›Ereignis‹ in einen produktiven Austausch zu bringen und sie zugleich mittels dieser Anschlussstellen für eine interdisziplinäre Forschung zu systematisieren und zu reflektieren. Da sich jede Vermittlung, wie bereits erläutert, in stetiger Wechselwirkung mit dem Ort befindet, an dem sie stattfindet, werden im ersten Kapitel grundlegende Verortungen der Literaturvermittlung, also Positionierungen im Hinblick einerseits auf die institutionell definierten Aufgaben und Möglichkeiten von Museen und Archiven sowie andererseits auf Ausstellungen außerhalb solcher Institutionen, vorgenommen. In dieser Zusammenschau lassen die Innenperspektiven der Museumsund Projektarbeit und die ›Beobachterperspektiven‹ der Literaturwissenschaft und der Kunstkritik auffällige Differenzen im Hinblick auf das Verständnis von Literatur sowie ihrer Vermittlung mit Rückgriffen auf die Parameter Materialität und Ereignis erkennen. Der Literaturwissenschaftler Peter Seibert nimmt einleitend eine Typologie von Literatur24 | Neben den hier publizierten Beiträgen sprachen zudem Felicitas Hartmann, Leiterin des Hermann-Hesse-Museums Calw (Diesseits der Skriptomasse. Gegenständliche Nachlassobjekte von Dichtern und Autoren als Materialien der Literatur?), und Herbert Lachmayer, Leiter des Da Ponte Research Center Wien (Staging Knowledge – Inszenierung von Wissensräumen. Vermittlungsstrategie als Forschungsstrategie).

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ausstellungen vor, indem er – auch aus historischer Perspektive – die Interdependenzen mit der universitären Disziplin der Literaturwissenschaft und mit den neu aufkommenden Medientechnologien herausstellt. Er hinterfragt dabei einen Vermittlungsbegriff, der Ausstellungen eine marginale, nachgeordnete Position innerhalb der literarischen Medien zuweist und dadurch deren eigenständige mediale Leistung und Erkenntnispotenziale unterminiert. Heike Gfrereis betont als Leiterin der Abteilung Museum im Deutschen Literaturarchiv Marbach den epistemischen wie auch ästhetischen Wert von Literaturausstellungen, welche auf Archivbestände zurückgreifen und somit das Trägermaterial von Literatur als zentrales Ausstellungsobjekt in den Mittelpunkt stellen. Mit Blick auf eine Reihe von Exponaten und Ausstellungsensembles hinterfragt sie deren Wirkungen auf die Rezeption und das Verständnis des Betrachters. Susanne Völker hingegen gewährt als Projektleiterin Einblicke in die konzeptionelle Planung der Grimmwelt Kassel: Innerhalb des Ausstellungshauses, das 2015 als neuer Ort der Literaturvermittlung eröffnen wird, soll das Schaffensspektrum der Brüder Grimm anhand vielfältiger medialer Vermittlungsangebote im Zeichen der Vernetzung präsentiert werden. Dabei kommt neben der Materialität vor allem dem Ereignis, das den Besuch durch überraschende Erkenntnisse bereichern soll, eine wichtige Rolle zu. Eine Außenperspektive nimmt Hubert Spiegel ein, der Museen und Archive als Reflexionsräume beschreibt, die es ihm als Literaturkritiker ermöglichen, etwa über das Zusammenspiel der unterschiedlichen Instanzen des Literaturbetriebs nachzudenken. Mit Blick auf zwei so unterschiedliche Institutionen wie das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar und das vom Schriftsteller Orhan Pamuk in Istanbul gegründete Museum der Unschuld zeigt Spiegel auf, welche Rolle diese Vermittlungsinstitutionen im Zuge der Bewertung, der Überlieferung, aber auch der Kanonisierung von Literatur spielen. Das zweite Kapitel thematisiert die Materialität in der Literaturvermittlung: Inwiefern können ein Buch, persönliche Gegenstände aus einem Dichternachlass oder das Schriftbild eines Manuskripts oder Autografs Ausgangspunkte der Vermittlung sein? Welches Literaturverständnis liegt einer Fokussierung auf Dinglichkeit und Materialität innerhalb der Vermittlung zugrunde, die eine spezifische Erkenntnis von Literatur intendiert?

Einleitung

Vonseiten der Empirischen Kulturwissenschaft werden längst – nicht allein mit Blick auf kulturwissenschaftliche Museen – so genannte »Dingkonjunkturen« prognostiziert: Das Versprechen der Authentizität lässt die materialen Gegenstände als »Speicherungs- und Gedächtnispotential« erkennbar werden.25 Anhand der Dinge eröffnen sich Erkenntnisse über Praktiken und Handlungen, die auch für literatursoziologische oder kulturhistorische Fragen von Interesse sind.26 Ihre »Realpräsenz«,27 die eine unmittelbare rationale wie auch affektive Begegnung verspricht, wird jedoch entzaubert, wenn man sich bewusst macht, dass die Objekte in einem Museum aus ihrem ursprünglichen Kontext enthoben sind und als Zeichenträger zwischen Vergangenheit und Zukunft vermitteln.28 Die Auffassung des material turn, dass Materialität einen entscheidenden Einfluss auf epistemische und ästhetische Prozesse ausübt,29 führt dazu, dass der Materialität etwa von Schreibutensilien ein »Eigen- und Nebensinn« zuerkannt wird, der »sich durchaus widerständig oder kommentierend zu dem Geschriebenen verhalten kann«.30 Dabei kommt Dingen 25  |  Anke te Heesen u. Petra Lutz: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort. Köln, Weimar, Wien 2005, S. 11-24, hier S. 14. 26  |  Vgl. hierfür beispielhaft Anne Bohnenkamp u. Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Ausstellungskatalog Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. Frankfurt a.M. 2008. 27  |  Gottfried Korff: Betörung durch Reflexion. Sechs um Exkurse ergänzte Bemerkungen zur epistemischen Anordnung von Dingen. In: Anke te Heesen u. Petra Lutz (Hg.): Dingwelten. (Anm. 25), S. 89-107, hier S. 91. 28 | Vgl. hierfür Krzysztof Pomians Begriff der »Semiophoren« für »Gegenstände, die das Unsichtbare repräsentieren, das heißt die mit einer Bedeutung versehen sind«. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 4 2013, S. 50. Hervorhebung im Original. Vgl. Gottfried Korff: Betörung durch Reflexion (Anm. 27), S. 97. 29  |  Vgl. Gottfried Korff: Zur Eigenart der Museumsdinge (1992). In: Ders.: Museumsdinge (Anm. 4), S. 140-145, hier S. 144. 30  |  Christiane Holm: Goethes Papiersachen und andere Dinge des »papiernen Zeitalters«. In: Zeitschrift für Germanistik 1 (2012), S. 17-40, hier S. 17. Uwe Wirth beschreibt das Vermittlungsformat Literaturausstellung deshalb als »eine Art von Schau-Philologie, in der Performance-Akte der Textwerdung […] vorgezeigt werden«. Uwe Wirth: Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt? In: Anne Bohnenkamp u. Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume (Anm. 10), S. 53-64, hier S. 57.

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wie Schreibwerkzeugen, Möbeln oder Manuskripten nicht nur eine repräsentative Bedeutung zu; vielmehr produzieren sie einen Zugang zu Literatur, der zum Ereignis wird. Hierin liegt das zentrale Spannungsverhältnis zwischen Materialität und Ereignis, das in den Beiträgen dieses Kapitels mit dem Fokus auf die ›gegenständlichen Zugänge‹ zur Literatur aus verschiedenen Perspektiven thematisiert wird. Zunächst stellt Sebastian Böhmer hinsichtlich der Materialität von Literatur unterschiedliche Auffassungen und Bewertungen aus der Sicht der Philologie, aber auch aus derjenigen des Lesers vor. Ausstellungen spricht er das Potenzial zu, der in der Rezeption wie in der Theorie vorherrschenden Spaltung von Sinn und Materialität entgegenzuwirken, indem der ausgestellte Text für den Rezipienten zugleich lesbar und sinnlich erfahrbar wird. Mit Blick auf Orhan Pamuks Roman Museum der Unschuld und das dazugehörige reale Museum untersucht Olaf Mückain die Bedeutung der Dinge aus der Perspektive eines Museumsleiters. Dabei vergleicht er ihren Stellenwert im Roman mit demjenigen, den sie als Ausstellungsobjekte im Museum einnehmen. Er hinterfragt das Wechsel- und Spannungsverhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, von Immaterialität und Materialität, in dem sich Orte der Literaturvermittlung positionieren müssen. Vom Umgang mit Konkreter und Visueller Poesie, die sich in unterschiedlichen künstlerischen Medien mit der Materialität von Sprache auseinandersetzen, berichtet Anne ThurmannJajes als Leiterin des Zentrums für Künstlerpublikationen in der Weserburg Bremen. Sie gibt Einblicke in die Konzeption der Ausstellung Poetry goes Art & vice versa und die daran anknüpfenden Angebote. Exemplarisch erläutert Thurmann-Jajes Strategien, welche die Thematisierung der Materialität im Hinblick auf die Sprachkunst für den Besucher zum Ereignis werden lassen. Der spezifischen Wechselwirkung von Materialität und Ereignis widmet sich auch Anja Thiele mit Blick auf die Inszenierung einer Faust-Ausgabe in der Ausstellung Lebensfluten – Tatensturm im Goethe-Nationalmuseum. Sie zeigt auf, inwiefern die Aura des materialen Buchs nicht faktisch gegeben, also keine werkimmanente Qualität ist, sondern durch die räumliche Inszenierung hervorgerufen beziehungsweise zuallererst erzeugt wird. In Gegenüberstellung mit einer digitalen Präsentation erfährt das gedruckte Buch eine nostalgisch-sentimentalische Bedeutungszuweisung: Seine inszenierte Aura wird zum Ereignis. Einer solchen Literaturvermittlung als Ereignis widmet sich sodann das dritte Kapitel des Bandes. Jede Inszenierung ist immer auch

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eine Bedeutungszuweisung, die sich im Sinne der Performativität als »Akt, Vollzug, Setzung« realisiert;31 insofern ist jede Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen und Archiven zugleich ein soziales, öffentliches Ereignis. Indem die Performanztheorie den Handlungscharakter von Dingen und eben auch von Literatur stärkt, kommt der Materialität ein besonderer Stellenwert zu, da es um die körperliche Wirkung, um »den Umgang mit Körpern und Materialien« im Gegensatz zur Erkenntnis einer feststehenden Bedeutung geht.32 Demnach werden die Orte der Literaturvermittlung zu einer Bühne, auf der ein bestimmter Aspekt der Literatur, eine dezidierte ›Lesart‹, aufgeführt und rezipiert wird.33 In ihrer Performativität sind die Literatur und ihre Vermittlung eng miteinander verbunden, indem sie sich derselben Mittel bedienen: des Sagens und des Zeigens.34 Innerhalb des Vermittlungsakts werden jedoch – ebenso wie in der Literatur selbst – keine gesicherten Informationen transportiert, sondern Bedeutungen generiert.35 Die Ereignisse haben zwar in der Materialität und Präsenz eines Objekts ihren Ausgangspunkt, liegen aber 31  |  Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002, S. 9. Korff definiert die Inszenierung im Museum entsprechend als »zunächst nichts anderes als die Anordnung und Installation der Objekte in einem Raum, wie es die Dreidimensionalität der Dinge verlangt – und zwar nach Maßgabe einer Deutung. Was angestrebt wird, ist die Interpretation qua Inszenierung«. Gottfried Korff: Bildwelt Ausstellung – Die Darstellung von Geschichte im Museum. In: Ulrich Borsdorf u. Heinrich Theodor Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum. Frankfurt a.M., New York 1999, S. 319-335, hier S. 331. 32  |  Thomas Thiemeyer: Zwischen Aura und Szenografie (Anm. 6), S. 65. 33 | Zum Museum als Bühne vgl. Oliver Ruf: Literaturvermittlung, Literaturausstellung, »ästhetische Erziehung«. Das Literaturmuseum der Moderne. In: Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff (Hg.): Kafkas Gabel (Anm. 23), S. 95-141, hier S. 107. Burckhard Dücker: Literaturausstellungen als Orte kultureller Bildung: Dichterhäuser. In: Ders. u. Thomas Schmidt (Hg.): Lernort Literaturmuseum (Anm. 3), S. 38-59, hier S. 53. 34  |  Vgl. Andreas Käuser: Ist Literatur ausstellbar? (Anm. 15), S. 36. 35  |  Vgl. – im Rückgriff auf Gernot Böhme – Thomas Thiemeyer: Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung. In: Museen für Geschichte (Hg.): Online-Publikation der Beiträge des Symposiums »Geschichts-Bilder im Museum« im Deutschen Historischen Museum Berlin, Februar 2011, S. 4,

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nicht allein in dessen Medialität und Darstellungsform begründet, sondern »widerfahren« dem Rezipienten.36 Eine Bedeutungszuweisung geschieht damit erst im Zusammenspiel von Objekt und Rezipient. Insofern eröffnet das Verständnis der Vermittlung als Ereignis zugleich den Blick auf eine Funktionsweise der Literatur selbst, indem durch die Erfahrung des »Fragmentarische[n] und Prozesshafte[n]« ihre eigenen Bedingungen hervorgekehrt werden.37 So wird die Reflexion der ästhetischen Erfahrung innerhalb des Vermittlungsprozesses nicht nur möglich, sondern auch nötig. Die Literaturvermittlung changiert folglich zwischen dem Selbstverständnis als ›Ort der materiellen Begegnungen‹ und deren – vielleicht auch hermeneutisch erschließbaren – Sinndimensionen einerseits und dem Selbstverständnis als ›Möglichkeitsraum des Ereignisses‹, das keiner intentionalen Handlung entspringt, andererseits. In den abschließenden Beiträgen des Bandes wird die Dimension des Ereignisses vor diesem ambivalenten Hintergrund akzentuiert. Christiane Heibach zeigt das von ihr historisch hergeleitete Spannungsfeld zwischen einer schriftgebundenen Buchkunst und einer ereignishaften ›transmedialen Sprachkunst‹ auf. Sie untersucht die Phänomene der Performanz und der Atmosphären in ihrem Verhältnis zum Ereignis und macht damit auch auf deren Potenziale für die Vermittlung von Literatur im musealen Kontext aufmerksam. Als grundlegende Komponenten der ästhetischen Erfahrung erläutert die Literatur- und Mediendidaktikerin Marion Bönnighausen die Relevanz von Materialität und Ereignis: Aus der Perspektive der phänomenologischen Rezeptionstheorie zeigt sie deren Wechselwirkung auf, die zum entscheidenden Katalysator der ästhetischen Erfahrung und ihrer Reflexion wird. Dabei verweist Bönnighausen insbesondere auf die Erfahrungsqualität außerschulischer Lernorte, beispielsweise eines Theaterfestivals, die Schüler zu einer doppelten Auseinandersetzung – mit der Literatur ebenso wie mit ihrer Rezeption – motivieren können. Als einen Ort der Diskussion und des Dialogs um Literatur versteht der Dramaturg Jens Gross das Theater. In URL: www.museenfuergeschichte.de/downloads/news/Thomas_Thiemeyer-Die_ Sprache_der_Dinge.pdf, letzter Zugriff am 01.11.2014. 36  |  Dieter Mersch: Ereignis und Aura (Anm. 31), S. 9. Mersch betont daher, dass die »Ästhetik des Performativen« als »Ereignisästhetik« verstanden werden kann (ebenda). 37  |  Andreas Käuser: Ist Literatur ausstellbar? (Anm. 15), S. 36.

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seinem Bericht von der Erstellung der Bühnenfassung zu Uwe Tellkamps Roman Der Turm wird deutlich, inwiefern Literaturvermittlung auf dem Theater – in Analogie zur Vermittlung an anderen Orten – auf subjektiver Interpretation beruht, indem etwa Motive, Figuren und Erzählstränge hervorgehoben oder vernachlässigt werden. Die Bearbeitung und Inszenierung stellen einen neuen Aspekt, eine neue Sichtweise und Lesart vor, die zu einer aktualisierten, gleichsam potenzierten Auseinandersetzung mit der Literatur auffordern. Britta Hochkirchen betrachtet abschließend die konträren Forderungen an die Rolle und Haltung des Rezipienten, die dieser im beziehungsweise zum Vermittlungsakt einnehmen soll. Wenn Ausstellungen, Museen und Archive als Erkenntnismedien fungieren sollen, die Räume eröffnen, damit sich Wissensproduktion überhaupt erst ereignet, dann stellt sich unmittelbar auch die Frage, ob der Rezipient in den Vermittlungsprozess eingebunden werden oder gegenüber den zugrunde liegenden Strategien die Position eines Beobachters einnehmen soll. Wolfgang Isers Konzept der ›Leerstelle‹ wird als Möglichkeit dargelegt, beide Rezeptionsmodi miteinander zu kombinieren. Unser Dank gilt dem Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute e.V. – AsKI, der die Tagung sowie die Publikation des vorliegenden Sammelbandes großzügig gefördert hat. Gedankt sei auch den Vortragenden und Diskutanten der Tagung, die mit ihren Beiträgen die Debatte um das Wechselverhältnis von Materialität und Ereignis erweitert und vertieft haben. Den Kollegen von der Klassik Stiftung Weimar gilt der Dank für ihre Unterstützung sowohl bei der Tagung als auch bei der Publikation.

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I. Verortungen der Literaturvermittlung

Zur Typologie und Geschichte von Literaturausstellungen Peter Seibert

Im November 1977 wurde im oberpfälzischen Sulzbach-Rosenberg die Ausstellung Literatur – lesbar, hörbar, sichtbar, schmeckbar eröffnet. Der Titel versprach viel: In geradezu anticartesianischer Manier sollte eine Ausstellung die Literatur als sinnlich erfahrbar ausweisen. Dazu schien es keiner ›heiligen Ausstellungshallen‹ zu bedürfen; es war das leer geräumte ehemalige Amtsgericht, in dem die Ausstellung stattfand. Auch haftete Sulzbach-Rosenberg nicht unbedingt der Ruf eines auratischen Dichterorts an. Wem fiel sogleich ein, dass Walter Höllerer hier geboren war und bereits Teile seines Archivs an seine Geburtsstadt übergeben hatte? In der von Höllerer zusammen mit Norbert Miller herausgegebenen Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter wurde die Ausstellung von Sabine Brocher gewürdigt: Die Ausstellung im Amtsgericht vermittelt zwischen zwei Ausstellungstypen; der eine Ausstellungstyp ist der, an den man sich gewöhnt hat: unter systematischen Gesichtspunkten werden Epochen, das Gesamtwerk eines Künstlers oder einer Künstlergruppe […] aufgefächert. Der andere, dem entgegengesetzte Ausstellungstyp ist der Versuch einzelner Personen gegen diese systematisierten und inhaltlich genau begrenzten Formen der Schaustellung ihre ganz persönlich gefärbte, sprunghafte Sammelauswahl vorzuzeigen. Diese ›Aussteller‹ setzen damit ein eigenwilliges Gedankenspiel in Gang, wodurch sich oftmals der Besucher, diesem Ausstellungstyp gegenüber, ›alleingelassen‹ vorkommt.1

1 | Sabine Brocher: Impulse für Gedankenspiele in der Provinz. In: Sprache im technischen Zeitalter 65 (1978), S. 3-7, hier S. 3.

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Der Sulzbacher Ausstellung, bei der das ›Allein-Lassen‹ der Besucher in eine Aktivierung derselben umschlagen sollte, ging fünf Jahre zuvor die von Höllerer an der Berliner Akademie der Künste verantwortete Ausstellung Welt aus Sprache voraus, von der der Autor im Katalog behauptet hatte: »Welt aus Sprache ist keine […] Literaturausstellung […]. Es ist auch keine ›Ausstellung‹ im engeren Sinne«.2 Verstanden wurden die Exponate und ihre Ordnung als »Vorschlag, nicht als ›Endprodukt‹«. Vielmehr sollten die »kritischen Anmerkungen« und die »Versuche [der Besucher] der Weiterführung innerhalb der Ausstellung fest[ge]halten« und »in öffentlichen Notizheften sichtbar« gemacht werden.3 Indem für die Berliner wie für die Sulzbacher Ausstellung die Intervention der Besucher konstitutiv wird, fungiert die Ausstellung in fast romantischer Manier als Initiierung eines progressiven Literatur- beziehungsweise Zeichenprozesses. In diesem wird Literatur über die Ausstellung selbst hergestellt: Die Präsentationsform hat damit nicht eine bloße Vermittlungsfunktion gegenüber der Literatur, sondern hebt sich als »Ausstellung«, wie Höllerer schreibt, selbst auf.

I. Es handelt sich dabei um jenen Typus von Ausstellung, unter dem Sabine Brocher 1978 die Vermittlung von Literatur als »eigenwilliges Gedankenspiel« subsumiert. Der Beschreibung dieses Typus (und seiner möglichen Historisierung) vorgelagert ist aber – wie das Berliner und das Sulzbacher Beispiel zeigen – die grundsätzliche Frage, was man überhaupt unter ›Literatur‹ versteht, die archivarisch definiert oder expositorisch vermittelt werden soll. Allgemeiner formuliert handelt es sich um die Frage, ob Literatur ohne eine materiale Realisation und mediale Vermittlung, an der auch Archiv, Museum und Ausstellung beteiligt sind, überhaupt denkbar ist. Diese Frage zielt letztlich auf ein Literaturverständnis, nach dem die Materialität und Medialität mitverantworten, was in einer Gesellschaft als ›Literatur‹ anerkannt wird. Aus dieser Perspektive wird Literatur nicht 2  |  Walter Höllerer: Einleitung. In: Akademie der Künste (Hg.): Welt aus Sprache. Auseinandersetzung mit Zeichen und Zeichensystemen der Gegenwart. Ausstellungskatalog Akademie der Künste Berlin. Berlin 1972, S. 6-22, hier S. 6. 3  |  Ebenda, S. 8.

Zur Typologie und Geschichte von Literaturausstellungen

mehr substanzialisiert, vielmehr scheint der »literarische Text« depotenziert zu »Skizze und […] Konzept«, wie Andreas Käuser es nennt.4 Bei dieser Auffassung wird notwendigerweise auch das Prozesshafte von Literatur stärker fokussiert: Sie wird in einer Art Abfolge von medialen Realisierungen gesehen. In diesem Vorgang nimmt seit der Ablösung der Dominanz oraler Realisationen von Literatur bekanntlich das Buch die Rolle des primären Mediums ein. Diese Rolle war allerdings seit der frühen Verschriftlichungspraxis nie unumstritten, insbesondere in jüngerer Zeit nimmt Literatur auch in anderen Medien ihren Ausgang. Dies zeigen etwa die Transformation von Filmen in Bücher oder – wie bei Heiner Müller – die Aufnahme von Fernsehinterviews in die Buchausgabe der Gesammelten Werke sowie erst recht die gedruckten Versionen von Netzliteratur.

II. Die Literaturausstellung und das Museum erscheinen in diesem Prozess der Generierung beziehungsweise Anerkennung von Literatur innerhalb eines Ensembles literarischer Medien zunächst eine nachgeordnete Stellung zu besitzen. Die lange Zeit immer wieder und bis zum Überdruss gestellte Frage ›Kann man Literatur überhaupt ausstellen?‹ ist ein Reflex auf diese marginale Position der Exposition im Literaturprozess. Ihr wurde zumeist nur eine eingeschränkte Vermittlungsleistung in der literarischen Kommunikation zugestanden. In der Regel blieb ihr nur die Rolle eines sekundären Mediums, das noch einmal – ästhetisch eher defizitär – präsentierte, was vorgängige Literaturmedien bereits als Literatur definiert hatten. Aber selbst wenn man Ausstellung und Museum auf diese Rolle eines sekundären Vermittlungsmediums festlegte, erwies sich diese Vermittlung doch als erstaunlich variantenreich und komplex, was etwa ihre Ziele, ihre Materialien, ihre Trägerschaft, ihr Publikum und damit letztlich auch den zugrunde liegenden Literaturbegriff betraf. Diese Differenzen sind, da sie auch historisch verortet werden können, nicht nur verantwort4  |  Andreas Käuser: Ist Literatur ausstellbar? Das Literaturmuseum der Moderne. Anmerkungen zur Konzeption und Diskussion. In: Der Deutschunterricht 61 (2009), H. 2, S. 30-37, hier S. 36.

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lich für die Typologie von Expositionen, sondern geben auch das Grundgerüst für die Rekonstruktion einer Geschichte der Literaturausstellungen. Sowohl in Hinblick auf die Typologisierung als auch auf die Historisierung fällt als Erstes die große Breite und Ausdifferenzierung in der Trägerschaft von Literaturausstellungen ins Gewicht. Nennen wir, um dies zu konkretisieren, nur eine kleine Auswahl der expositorischen Träger des Jahres 1949, des Gründungsjahrs der beiden deutschen Staaten: In Erscheinung getreten sind in diesem Jahr als Veranstalter von Ausstellungen etwa die Freie Universität Berlin, die Handwerkskammer Thüringen, die Goethe-Gesellschaft Dortmund, die Stadtbibliothek Trier, die Stadt Bielefeld, die Bayerische Akademie der Schönen Künste, die Stadt Marburg gemeinsam mit der dortigen Universität, das Amt für Kunst, die Abteilung für Volksbildung in Berlin-Reinickendorf oder die Direction générale des affaires culturelles in Mainz.5 Zehn Jahre später, 1959, als sich die Ausstellungskultur verbreitert hatte, warteten etwa auch die inzwischen gegründeten Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar ebenso wie das ebenfalls Mitte der 1950er Jahre in der Bundesrepublik geschaffene Deutsche Literaturarchiv in Marbach mit Ausstellungen auf. Hinzu kamen die verschiedenen Akademien, Dichterhäuser, Buchhandlungen, Kreissparkassen, Kunstvereine, Heimatvereine und Dichtergesellschaften. Allein diese knappe, unvollständige Auflistung zeigt, dass Literaturausstellungen, was das Spektrum ihrer Träger anbelangt, schon von den unterschiedlichen Ausstellungsinteressen her (etwa den politischen oder regionalistischen) keineswegs einem homogenen Begriff von Literatur verpflichtet sein können, den sie expositorisch zur Geltung bringen. Zudem bedingt die Tatsache, dass Institutionen mit und ohne Literaturarchiv als Veranstalter auftreten, eine hohe materiale Heterogenität der als ›Literatur‹ exponierten Objekte – und dementsprechend auch die Differenzen in Bezug etwa auf die Vermittlungsziele und das intendierte (oder tatsächliche) 5  |  Vgl. Susanne Ebeling u. Matthias Lohrer: Literaturausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik 19491985. Ein Verzeichnis. In: Susanne Ebeling, Hans-Otto Hügel u. Ralf Lubnow (Hg.): Literarische Ausstellungen von 1949 bis 1985. Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik. Diskussion, Dokumentation, Bibliographie. München, London, New York u.a. 1991, S. 243-412, hier S. 247.

Zur Typologie und Geschichte von Literaturausstellungen

Publikum. Ausstellungsästhetisch beginnen die eklatanten Unterschiede schon bei den Ausstellungsräumen, die von auratisierten Geburts- oder Wohnhäusern von Schriftstellern bis zu Besucherzentren der Stadtsparkassen reichen. So unterschiedlich die Trägerorganisationen auch sind, eines ist ihnen bei den expositorischen Veranstaltungen gemeinsam: die mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz zur Selbstdarstellung. Es geht folglich nicht nur, bisweilen nicht einmal prioritär, um Literatur, sondern um einen Zugewinn an symbolischem Kapital, das heißt einen Reputationsgewinn auf Feldern, die nicht in jedem Fall und ausschließlich literarische sein müssen. Damit lässt sich wiederum mit Blick auf die historische Entwicklung der Bogen von den Zimelienschauen des Mittelalters bis zu den heutigen Ausstellungen schlagen: Das Zeigen von kostbaren Pergamentrollen und Codices demonstrierte die Macht und den Reichtum der Aussteller, der Klöster und Herrscherhäuser. Dass eine Verschiebung von Beständen, die schon allein aufgrund ihres Materials wertvoll sind, zu ideell wertvollen Objekten – wie beispielsweise Kaf kas Prozess-Manuskript – stattgefunden hat, ändert nichts daran, dass das Zeigen auch dieses Manuskripts der Selbstdarstellung der Trägerorganisation dient. Wenn nicht allein Vermittlung von Literatur, sondern auch das Erreichen repräsentativer Ziele ein nicht zu unterschätzendes Movens bei der Zurschaustellung von Literatur war und ist, greift dieses aber notwendigerweise massiv in die mediale Vermittlung, die materiale und ästhetische Realisation und schließlich in die Definition und den Status der exponierten Literatur ein. Die repräsentativen Ziele verlangen zudem nach besonderen Inszenierungspraktiken, die Architektur und Schaumöbel, Raum und Licht betreffen. Repräsentative Funktionen übernehmen Literaturausstellungen aber nicht nur gegenüber den unmittelbaren Trägerorganisationen. Entsprechend ausgerichtete Ausstellungen sind oft auf Reputationsgewinn sozialer Gruppen, kommunaler Formationen oder ganzer Gesellschaften ausgerichtet. So erfüllte eine der ersten ›modernen‹ Literaturausstellungen in Stuttgart (Schwäbische Dichter, 1890 im dortigen Polytechnikum gezeigt) schon über die räumliche Anordnung der Exponate repräsentative Aufgaben gegenüber dem württembergischen Herrscherhaus: Die Mittelachse führte direkt auf das württembergische Staatswappen und die Büsten von König Karl und Königin Olga zu; vor diesen aufgebaut waren die Glaskästen mit Schiller-Exponaten, um sie herum gruppiert

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waren andere ›schwäbische‹ Dichter.6 Bereits die axiale Ausrichtung, die eine jahrhundertelange Tradition bei (christlichen) Gottesdiensten oder Machtrepräsentationen im Staatsakt hat, unterstreicht, wie sehr es auch bei dieser frühen Literaturausstellung um die Darstellung von Staatsmacht ging. Die Intention, die kulturelle Überlegenheit des Königreichs Württemberg gerade angesichts des Machtverlusts nach der Reichsgründung zu dokumentieren, bestimmte hier deutlich die Anordnung der zur Schau gestellten Literatur. Eng verknüpft mit der repräsentativen Funktion ist das Anliegen, mit Literaturausstellungen Orientierungsangebote für die jeweilige Gesellschaftsform bereitzustellen. Nicht nur in Krisenzeiten, aber verstärkt in solchen, kann expositorischer Vermittlung von Literatur diese Funktion zugeschrieben werden, wie es etwa in Deutschland bei vielen Literaturausstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Sie waren geprägt durch das literarische Werk von Autoren, denen eine überhistorische Geltung zuerkannt wurde, von kanonisierten Autoren, die als ästhetisch und moralisch zeitenüberdauernde Vorbilder ausgegeben wurden. Expositorisch wurden damit normative Literaturvorstellungen affirmiert. Nach den Verwüstungen der materiellen und geistigen Güter und dem Zusammenbruch aller Wertvorstellungen im Zuge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft flüchtete man sich auch in den Literaturausstellungen zu dem scheinbar unversehrten klassischen deutschen Literaturerbe. Das Goethejahr 1949 ist zugleich ein Jahr der vielfältigen Goethe-Ausstellungen – alle mit dem Ziel einer angeblichen oder erhofften Re-Orientierung. Sieht man in der Nachkriegszeit von dem kurzen Zwischenspiel eines literatursoziologisch fundierten expositorischen Neuansatzes der Weimarer Ausstellung Gesellschaft und Kultur der Goethezeit (1949) unter Leitung von Gerhard Scholz ab, so wurde bei den Ausstellungen kanonisierter Literatur Wert darauf gelegt, dass die Exponate ›original‹ und ›authentisch‹ waren. Dieser Umstand wurde deshalb auch ausdrücklich bei der großen Marburger Goethe-Ausstellung 1949, Johann Wolfgang von Goethe. Leben und Werk, herausgestellt, in der einzig Handschriften, Zeichnungen und

6 | Vgl. Peter Seibert: »Lust und Klage einer alten Zeit werden uns wieder lebendig«. Literaturausstellungen als germanistischer Forschungsgegenstand. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 137 (2005), S. 25-40, hier S. 35-39.

Zur Typologie und Geschichte von Literaturausstellungen

Gegenstände aus dem Dichternachlass zu sehen waren.7 Die Rettung des gezeigten Materials, wie sie diese Nachkriegsausstellungen inmitten der deutschen Trümmerlandschaft dokumentierten, insinuierte einen angeblich ideell, aber auch materiell unzerstörbaren beziehungsweise unversehrt gebliebenen Schatz deutscher Literatur. Das gilt, anders gelagert, auch für die frühen Exilliteraturausstellungen im Nachkriegsdeutschland (oder bereits für die des Exils selbst),8 bei denen eben jene Bücher als ›gerettet‹ gezeigt wurden, die der Zerstörungswut der Nationalsozialisten und deren Scheiterhaufen entgangen waren und nun Maßstäbe für die literarische Entwicklung setzen sollten. Bei solchen expositorischen Vermittlungszielen können (und müssen) Erklärungen in Form von Grafiken und Bildtafeln zurücktreten. Der hier manifest werdenden Literaturauffassung geht es nicht um eine didaktische Aufarbeitung der materiellen Bestände: Das Material allein steht für Kontinuität und Sicherung der als allgemeingültig und überhistorisch deklarierten, in der Literatur ›auf bewahrten‹ Werte. Damit gewinnen die ausgestellten Objekte in ihrer Materialität und Einmaligkeit für die Rezipienten aber zunehmend eine auratische Dimension. Den Ausstellungsobjekten wird inszenatorisch der Status von Reliquien zugeschrieben, und dementsprechend werden sie von den Rezipienten bestaunt und verehrt. Dieser Umgang mit dem Material ebnet die zeitliche Ferne zwischen Autor und Gegenwart ein, indem der Schöpfer der Literatur unmittelbar in seinen materialen Zeugnissen präsent bleibt. Eine

7  |  Vgl. Peter Seibert: »Unmittelbarster Zugang zu Goethes Leben und Schaffen«. Goethe-Häuser und Goethe-Ausstellungen zwischen 1945 und 1951. In: Hellmut Th. Seemann u. Thorsten Valk (Hg.): Literatur ausstellen. Museale Inszenierungen der Weimarer Klassik. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2012. Göttingen 2012, S. 187-206, hier S. 195. 8 | Vgl. Peter Seibert: Kein Ort? Nirgends? Anmerkungen zu Ausstellungen von Exil und Exilliteratur. In: Sabiene Autsch, Michael Grisko u. Peter Seibert (Hg.): Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten. Zur aktuellen Situation von Künstler- und Literaturhäusern. Bielefeld 2005, S. 239-259, hier S. 246. Ausstellungen in der Zeit des Exils fanden unter anderem statt in Paris 1934, 1935, 1937, in Kopenhagen 1937, in New York 1942. Die Ausstellung Bücher der Emigration wurde 1947 in Leipzig organisiert. In Stuttgart wurde 1949 Deutsche Bücher 1933–1945. Eine kritische Auswahl gezeigt.

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Enthistorisierung von Literatur über die Exponate und die Ästhetik der Ausstellung ist die Konsequenz.

III. Solch werteorientierte Ausstellungen sind in aller Regel auf kanonisierte, ›national‹ bedeutsame Autoren konzentriert. Wenn überhaupt ›Geschichten‹ expositorisch umgesetzt werden, die Literaturausstellungen folglich einem Narrativ folgen, sind diese biografisch angelegt. Werk und Autor werden, traditionellen Vorstellungen folgend, als Einheit gesehen und ausgestellt. Wenn ein großes literarisches Werk die Objektivierung eines schöpferischen Subjekts ist, sind es nicht nur dessen Autografe, die – wie Wilhelm Dilthey es schon 1889 forderte9 – archiviert und expositorisch zugänglich gemacht werden müssen, auch andere Lebensdokumente der Dichter können und müssen folglich als Ausstellungsobjekt nobilitiert werden. In welchem Maße expositorische Literaturvermittlung sich bis weit in die 1970er Jahre an biografistischen Mustern orientierte und damit die Affirmation eines traditionellen Literatur- und Autorverständnisses bestätigte, demonstrierte die erste Jahresversammlung des Internationalen Komitees für Literaturmuseen (ICOM) 1978 in Weimar. Bereits im Titel des Referats von Jörn Göres, dem Direktor des Düsseldorfer GoetheMuseums, wird diese Ausrichtung auf den empirischen Autor als expositorisches Axiom festgeschrieben: Das Verhältnis von Leben und Werk als Grundkonzeption literarhistorischer Ausstellungen.10 Zwar konnte sich Göres auch Ausstellungen »ohne Berücksichtigung der entsprechenden literarischen Persönlichkeiten« vorstellen, aber dies nur »für jene Epochen, in denen die individuelle Aussage der Formkunst zurückstand«.11 Ausstellungen, die Literatur mit einer »individuell literarische[n] Aussage« 9 | Vgl. Wilhelm Dilthey: Archive für Literatur. In: Ders.: Gesammelte Schriften. 26 Bde. Hg. v. Karlfried Gründer, ab Bd. 18 zus. mit Frithjof Rodi. Leipzig 19132005. Bd. 15: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Ulrich Herrmann. Göttingen 1970, S. 1-16. 10 | Jörn Göres: Das Verhältnis von Leben und Werk als eine Grundkonzeption literarhistorischer Ausstellungen. In: Museumskunde 43 (1978), S. 127-129. 11  |  Ebenda, S. 127.

Zur Typologie und Geschichte von Literaturausstellungen

– für Göres trifft dies auf literarische Texte ab dem späten 18. Jahrhundert zu – in den Blick nehmen, bedürften hingegen eines autorbiografischen Konzepts, folglich werde »die Frage nach der Persönlichkeit des Autors unumgänglich«.12 Mit der (bewussten) Auratisierung des Materials und dessen gleichzeitiger Anbindung an das schöpferische Autorsubjekt stellte sich auch die Frage nach dem Raum und dem Ort als Rahmen und Dispositiv der jeweiligen Ausstellung. Das Dichterhaus als Geburts-, Wohn- und Sterbeort bot das expositorische Narrativ einer Dichterbiografie: In seinem Plädoyer für die am Autor ausgerichtete Ausstellung bestätigte Göres ausdrücklich »die Stätte, da die Persönlichkeit ihr Werk geschaffen hat«, als adäquaten Ausstellungsort, indem er von den Gedenkstätten als »Zentr[en] allen Verstehens« sprach.13 Ein Problem nach 1945 war aber, dass die wichtigsten Gedenkstätten wie etwa in Frankfurt am Main, in Weimar und Frankfurt an der Oder stark beschädigt oder ganz zerstört waren, sodass die materiale Kontinuität, die die Ausstellungsobjekte versprachen, hier vielfach nur auf der Grundlage (baulicher) Rekonstruktionen eingelöst werden konnte. Der Genius Loci aber genügte offensichtlich, um selbst über eine Rekonstruktion eine Aura zu reinszenieren, von der auch die an die Gedenkstätten angeschlossenen Dichtermuseen zehren konnten. Während 1978, um bei dem Jahr des Weimarer Referats von Göres zu bleiben, in der universitär etablierten Germanistik bereits längst der ›Tod des Autors‹ diskutiert und die Autorinstanz hinterfragt wurde, schienen die Ausstellungen konventionell und sehr konsequent eine Literaturgeschichtsschreibung fortzuführen, die sich am empirischen Autor orientierte. Dies hatte auch zur Folge, dass Literaturausstellungen Teil einer literarischen Erinnerungskultur blieben, die sich an kalendarischen Gedenkfeiern ausrichtete. Geburts- und Todestage wurden regelmäßig mit Ausstellungen gewürdigt. Im Jahr 1977 finden wir in allen wichtigen Trägereinrichtungen Ausstellungen zum 200. Geburtstag Kleists: etwa in der Memorialstätte in Frankfurt an der Oder, in der Sächsischen Landesbibliothek, Dresden, in der Staatsbibliothek zu Berlin, im Düsseldorfer Goethe-Museum, im Schiller-Nationalmuseum in Marbach, in der Berliner Amerika-Gedenkbibliothek. 1977 wird darüber hinaus als Hesse12 | Ebenda. 13 | Ebenda.

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Jahr (100. Geburtstag) gefeiert. Weiter ließen sich für dieses Jahr autorbiografische Gedenkausstellungen auflisten zum 200. Geburtstag E.T.A. Hoffmanns in München, zum 70. Geburtstag Carl Zuckmayers, zum 80. Robert Neumanns und zum 90. Reinhard Goerings. Dies stellt nur eine kleine Auswahl allein zu den Gedenktagen anlässlich eines Geburtstags dar, es ließen sich ebenso viele Expositionen, die als Gedenkausstellungen zu Todestagen firmieren, auflisten. Aber nicht nur durch Institutionen, die über ihre herausragenden Positionen im Literaturbetrieb Einfluss auf die Ausformung eines überregionalen kulturellen Gedächtnisses haben, wurde Literatur expositorisch im Rahmen von Gedenkfeiern gezeigt und autorzentriert vermittelt. Auch auf der breiten Ebene von Stadt- und Universitätsbibliotheken sowie Literaturhäusern fungierte die Literaturausstellung weiterhin als zentrales Medium der literarischen Erinnerung, das sich regelmäßig an autorbiografischen Daten orientierte. Bleiben wir – der Vergleichbarkeit halber – noch einmal beim Jahr 1977, so lassen sich allein bei der Dortmunder Stadtbibliothek, um ein einziges Beispiel einer regional begrenzten expositorischen Wirkung zu nennen, weit über zwanzig Gedenkausstellungen nachweisen, die eine Zentrierung auf das Autorenindividuum vornahmen, folglich – um Göres zu zitieren – die »Persönlichkeit als Interpretationshilfe« verstanden.14 Unter den in Dortmund aus Anlass eines Gedenkdatums gezeigten toten und zeitgenössischen ›Autorenpersönlichkeiten‹ waren so unterschiedliche, bereits kanonisierte wie Nelly Sachs, Max Tau, Günter Eich, Martin Walser, Richard Huelsenbeck, Rose Ausländer, aber auch Arbeiterschriftsteller oder Schriftsteller mit lediglich regionaler Bedeutung.

IV. Das expositorische Festhalten am historisch-empirischen Autor bei der erwähnten gleichzeitigen literaturwissenschaftlichen Destruktion von Autorinstanz und Autorschaft macht auf die Spannungen aufmerksam, die sich zwischen wissenschaftlichen Ansätzen einerseits und ausstellungstheoretischen beziehungsweise -praktischen Tendenzen andererseits ergeben können. Das Problem der Nähe oder Ferne zur Wissenschaft (auch 14 | Ebenda.

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in deren unterschiedlichen literaturtheoretischen Paradigmen mit ihren durchaus divergenten Bestimmungen von Literatur) ergibt sich letztlich aus der Situierung der Literaturausstellung am Schnittpunkt unterschiedlicher Diskurse, wobei die Ausstellung wissenschaftlichen Ordnungen unterworfen sein kann beziehungsweise diese abbildet, auch wenn sie, anders als die Wissenschaft, sinnliche Zugänge zur Literatur eröffnet und ästhetische Ordnungen stiftet. Was die Nähe zwischen Ausstellung und Wissenschaft betrifft, so wies etwa die auf kanonisierte Autoren konzentrierte Ausstellung, welche die Nachkriegszeit lange dominierte und bei der die Auratisierung der Objekte einer spezifischen Vergegenwärtigung zu- und einer historischen Kontextualisierung entgegenarbeitete, eine deutliche Affinität zu werkimmanenten Interpretationstheoremen auf. Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft, wie sie sich etwa in den 1970er Jahren anbahnten, blieben in der expositorischen Praxis der Literaturvermittlung aber ebenfalls nicht ohne Reflex. Ein Beispiel: In der Weimarer Rede hatte Göres – noch in der Nachfolge Diltheys – die Hermeneutik als wissenschaftliches Paradigma betont, das in die Ausstellungen hineinwirke. Die expositorische Praxis seines eigenes Hauses, des Goethe-Museums in Düsseldorf, vollzog aber zur gleichen Zeit überzeugend die Wendung der Literaturwissenschaft zur Literatursoziologie nach, indem von Mai bis Oktober 1977 die große Ausstellung Lesewuth, Raubdruck und Bücherluxus veranstaltet wurde.15 Nicht mehr Einzelobjekte standen hier im Zentrum, sondern literatursoziologisch definierte Themenfelder wurden entfaltet, angefangen beim Buchhandel um 1800 und bei der Neufassung der Verlags- und Urheberrechte, über die Materialität der Bücher bis etwa zur Entwicklung von Lesemöbeln. Die Düsseldorfer Sonderausstellung verabschiedete sich hier erkennbar von einem autorfixierten Literaturbegriff, ihre Exponate fungierten als Belege einer wissenschaftlichen Thesenbildung und zielten in ihrer Anordnung stärker auf eine begriffliche Erkenntnis. Mit der Einkehr der Literatursoziologie in die Ausstellungspraxis veränderten sich auch die erläuternden Texte zu den jeweiligen Exponaten, sie wurden umfangreicher und nahmen den Charakter von wissenschaftlichen Abhandlungen an. Indem die sinnliche Anmutung der Ausstellung als spezifischer Zugang zur Literatur 15  |  Vgl. den Katalog von Jörn Göres (Hg.): Lesewuth, Raubdruck und Bücherluxus. Das Buch in der Goethe-Zeit. Ausstellungskatalog Goethe-Museum Düsseldorf. Düsseldorf 1977.

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zugunsten einer diskursiven Ausrichtung geschwächt wurde, bewies sich die Anschlussfähigkeit der Literaturausstellung an die sich methodisch und in ihren Erkenntnisinteressen wandelnde Wissenschaft. Gehen wir von der Literaturausstellung als Form einer Wissensvermittlung aus, so muss es sich dabei nicht in jedem Fall um den expositorischen Nachvollzug eines wissenschaftlichen Diskurses oder eines entsprechenden Paradigmenwechsels handeln. Nicht allein Themen und Gegenstände, welche die Wissenschaft vorgibt, werden nachträglich in die eigene, expositorische Ordnung übersetzt. Literaturausstellungen haben sich in ihrer Geschichte durchaus in der Lage gezeigt, der universitär organisierten Wissenschaftsdisziplin Impulse zu geben, den Literaturbegriff zu verändern, neue Forschungsfelder zu eröffnen und damit methodische Neuansätze vorzubereiten oder zu unterstützen. Als bekannte Beispiele für solche Interventionen in die Literaturwissenschaft können etwa die beiden Marbacher Ausstellungen Expressionismus. Literatur und Kunst 1910-1923 von 1960 und Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm von 1976 (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums Marbach) genannt werden – Expositionen, von denen wichtige Impulse für eine bis dahin nur zaghafte Öffnung der Germanistik zu den Medien ausgingen. Als Karl Robert Mandelkow Ende der 1980er Jahre seine große zweibändige rezeptionsgeschichtliche Arbeit Goethe in Deutschland abschloss,16 war bereits 1982 die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt am Main mit der Ausstellung Goethe in Deutschland vorangegangen und hatte das rezeptionsgeschichtliche Paradigma vorbildlich für die Wissenschaft expositorisch umgesetzt. Auch wenn es häufiger der Fall ist, dass Expositionen mit ihrem institutionell oder vom Material her begründeten Beharrungsvermögen verzögert die wissenschaftlichen Diskurse aufnehmen, so finden sich genügend Beispiele, in denen Ausstellungen Vermittlungsangebote für literarisches Wissen generieren und damit die Auffassung von Literatur verändern, wie sie von der Wissenschaft nicht oder erst sehr viel später aufgegriffen wird.

16  |  Vgl. Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. 2 Bde. München 1980-1989.

Zur Typologie und Geschichte von Literaturausstellungen

V. Blickt man noch einmal zurück in die 1970er Jahre, so lässt sich hier eine weitere Entwicklung der Literaturausstellung nachzeichnen, mit der sie verstärkt auch an allgemeine Tendenzen im Museums- und Ausstellungsbereich Anschluss fand. Museum und Ausstellung wurden in diesem Jahrzehnt als Bildungseinrichtungen neu definiert, wobei eben nicht ein obsoleter, als elitär abgewerteter bildungsbürgerlicher Anspruch maßgebend war, sondern die Zugänglichkeit für breite Bevölkerungsschichten propagiert wurde. Mit der Demokratisierung von Museum und Ausstellung geht als Konsequenz die Didaktisierung der expositorisch intendierten Wissensvermittlung einher. Museumspädagogische Überlegungen und Einrichtungen, durch die eine Teilhabe am zu vermittelnden Wissen für jeden Besucher gesichert werden sollte, begleiteten auch die Literaturausstellungen. Das ›Auratische‹ der Exponate, das bereits in der soziologischen beziehungsweise rezeptionsgeschichtlichen Wende zurückgedrängt worden war, wurde nun weiter abgeschwächt und die Rezeptionshaltung damit grundlegend verändert. Der Befund von Bettina Habsburg-Lothringen, dass als allgemeine Konsequenz der Didaktisierung und Demokratisierung von Ausstellungen »[i]n die objektbestimmten musealen Präsentationen […] erklärende Texte und die Graphik ihren Einzug [hielten]«, gilt in hohem Maße auch für die Literaturausstellungen seit den 1970er Jahren.17 »Es gab«, um mit einem Zitat von Ulrich Raulff das Gesagte noch einmal zusammenzufassen, einmal ein Goldenes Zeitalter der Literaturausstellung. Zu jener Zeit dachte man, die Literatur bestände im Wesentlichen aus einer Anzahl großer Autoren und Autorinnen, die das Geistesleben ihrer Nation geprägt hätten. Die Literatur der Nation auszustellen, hieß demnach, neben den gedruckten Werken dieser Autoren und Autorinnen ihre Bildnisse und Totenmasken, ihre Locken, Kleider und Möbel, ihre

17  |  Bettina Habsburg-Lothringen: Schaumöbel und Schauarchitekturen. Die Geschichte des Ausstellens als Museumsgeschichte. In: Tobias G. Natter, Michael Fehr u. Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.): Das Schaudepot. Zwischen offenem Magazin und Inszenierung. Bielefeld 2010, S. 49-64, hier S. 59.

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Häuser und Gärten, ihre Armut und ihren Reichtum den Blicken des Publikums darzubieten.18

Folglich war das »Goldene[-] Zeitalter« bestimmt durch Exponate, an denen die Lebensspuren der Autoren hafteten, die den Schein und die Aura der ›Authentizität‹ besaßen. Hatten im Zuge der Didaktisierung, wie sie für die 1970er Jahre zu beschreiben ist, ›Aura‹ und ›Authentizität‹ an Bedeutung verloren, so setzte sich in den 1980er Jahren auch in Literaturausstellungen ein expositorischer Typ durch, bei dem – ich zitiere nochmals Habsburg-Lothringen – »die Exponate […] mit audiovisuellen Medien, Kunst, gestalterischen und architektonischen Maßnahmen zu selbstevidenten Ensembles arrangiert wurden«.19 Was bei Raulff allerdings eine bloße Feststellung ist, wird bei Hannelore Schlaffer zu einer fundamentalen Kritik an dieser Entwicklung und diesem Typus der Literaturausstellung, insbesondere an dessen Form der Vermittlung von Literatur. Schlaffer beklagt dabei vor allem den Verlust der ›Authentizität‹, der durch den expositorischen Typus der Inszenierung herbeigeführt werde. Dabei möchte sie die Beziehung zur theatralen Inszenierung nicht nur als Metapher verstanden sehen: Vitrinen […] weiten sich zu Bühnenräumen. An die Stelle des authentischen Exponats tritt ein fremdes, modernes Substitut, treten Requisiten, aus denen Kulissen erfunden werden. Postsäcke etwa bedeuten nun die umfangreiche Korrespondenz, die Justinus Kerner betrieben hat, Gucklöcher, durch die antike Göttinnen und lockere Mädchen zu sehen sind, das zwiespältige oder zwielichtige Verhältnis eines Gelehrten, wie Friedrich Theodor Vischers, den Frauen gegenüber, Wände, in die der Weg des Besuchers mündet, die Ausweglosigkeit einer Dichterexistenz. 20

18  |  Ulrich Raulff: Wie Wolken über einem Wasser. Der Zauber der Handschrift und die Schaulust am Text. In: Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.): Denkbilder und Schaustücke. Das Literaturmuseum der Moderne. Marbach a.N. 2006, S. 4150, hier S. 47f. 19 | Bettina Habsburg-Lothringen: Schaumöbel und Schauarchitekturen (Anm. 17), S. 59. Als (spätes) Musterbeispiel einer Inszenierung gilt das Lübecker Buddenbrookhaus, das den Roman von Thomas Mann expositorisch adaptiert. 20  |  Hannelore Schlaffer: Die Schauseite der Poesie. Über literarische Ausstellungen und den literarhistorischen Fernsehfilm. In: Hartmut Eggert, Ulrich Profit-

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Für Schlaffer zielen die Inszenierungen der späten 1980er Jahre damit auf die Herstellung von Rezeptionssituationen, in denen der Besucher »selbst Dichter sein kann«.21 Sie sieht jedwede Distanz zum Exponat als notwendige Voraussetzung einer rational gesteuerten literarischen Wissensaneignung aufgehoben.22 Die Exposition von Literatur als Wissensformation sui generis habe sich damit selbst diskreditiert. Mit den Worten Schlaffers: »Solche Inszenierungen stornieren […] die begriffliche Erkenntnis endgültig«.23 Die Wortwahl »endgültig« verweist bei Schlaffer, auch wenn sie für eine Strategie der Auratisierung zu plädieren scheint, über eine grundsätzliche Ablehnung von Inszenierung hinaus auf eine prinzipielle Skepsis gegenüber der Ausstellung als Erkenntnismodus. Eine entscheidende Gegenposition formuliert Gottfried Korff, indem er – wie zuvor Jauß – die Ausstellung als »Chance sinnlicher Erkenntnis«24 bestimmt.25 Es ist die expositorische Wirkung auf eine »cognitio sensitiva«, die Korff betont: »gerade Visuelles und Sinnliches vermag auch da zu wirken, wo das rationale Argument gar nicht erst hinkommt«.26 Der Schlaffer’schen These von der Suspension eines jeden Erkenntnisgewinns durch expositorische Inszenierung (von Literatur) widersprach vehement auch Hans-Otto Hügel. Erst in der Inszenierung gewinne die Literaturausstellung ihre Legitimation und unverwechselbare Funktion in der literarischen Kommunikation, was für ihn eine Abwertung des einzelnen Exponats und eine Aufwertung des Objektarrangements einschließt: »Auf den Dokumentations- und Verweisungswert des einzelnen Stücks kommt es weniger an, als auf den Erkenntniswert des ganzen Enlich u. Klaus R. Scherpe (Hg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart 1990, S. 365-371, hier S. 368. 21  |  Ebenda, S. 369. 22  |  Vgl. ebenda, S. 368. 23  |  Ebenda, S. 369. 24  |  Hans Robert Jauß: Das kritische Potential ästhetischer Bildung. In: Jörn Rüsen, Eberhard Lämmert u. Peter Glotz (Hg.): Die Zukunft der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1988, S. 221-232, hier S. 224. 25  |  Vgl. Gottfried Korff: Bildwelt Ausstellung – Die Darstellung von Geschichte im Museum. In: Ulrich Borsdorf u. Heinrich Theodor Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum. Frankfurt a.M., New York 1999, S. 319-335, hier S. 323. 26 | Ebenda.

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sembles. Das Wesentliche […] liegt sozusagen zwischen den Stücken«.27 Mehr noch: Die Literaturausstellung wird für Hügel in dem Maße, in dem die Subjektivität des Ausstellungsmachers zur Geltung kommt, zu einem eigenständigen Kunstwerk und bedarf bei den Kuratoren hermeneutischer Verfahren, die sowohl auf die ausgestellte Literatur zielen wie auf die Ausstellung selbst: Wer […] literarischen Ausstellungen einen Werk-Charakter zuerkennt, wer von der ›Kunst des Ausstellens‹ (Zeller) mehr will, als ein bloßes Nebeneinander von Schaustücken und von aussagekräftigen, die Geschichte greifbar machenden Exponaten, der muß bereit sein, das Ideal der ›richtigen‹ Ausstellung der bloß dokumentierenden aufzugeben; das heißt letztlich, er muß subjektive Inszenierungen zulassen und wünschen: in Ausstellungen nicht nur den Handschriften der Dichter, sondern der Handschrift des Ausstellungs-Regisseurs zu begegnen. 28

Für die expositorische Praxis hatte diese Position eine wichtige Konsequenz: Literaturausstellungen werden nicht mehr allein und nicht mehr in erster Linie von Literaturwissenschaftlern realisiert! Auch damit schließt sich die Literaturausstellung einem weiteren allgemeinen Trend an, wie ihn Habsburg-Lothringen für alle wegweisenden Expositionen bis heute beschreibt: »Zu den Wissenschaftlern sind Kuratoren, Vermittler, Grafiker, Marketingfachleute, gegebenenfalls Museologen und Künstler und eine ganze Reihe bild- und raumkompetenter Professionen – vom bildenden Künstler bis zum Filmemacher – getreten.«29 Nicht mehr nur Schaufenster der Wissenschaft, nicht mehr nur Ort der Bildung sei die Ausstellung, sondern sie werde nun definiert als »räumlich-ästhetisches, künstlerisches Medium«.30

27 | Hans-Otto Hügel: Inszenierungsstile von Literaturausstellungen. In: Susanne Ebeling, Hans-Otto Hügel u. Ralf Lubnow (Hg.): Literarische Ausstellungen von 1949 bis 1985. Bundesrepublik Deutschland. Deutsche Demokratische Republik. Diskussion, Dokumentation, Bibliographie. München, London, New York 1991, S. 203-218, hier S. 203. 28  |  Ebenda, S. 207. 29 | Bettina Habsburg-Lothringen: Schaumöbel und Schauarchitekturen (Anm. 17), S. 62. 30 | Ebenda.

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VI. Übersetzt auf die Literaturausstellung als »räumlich-ästhetisches, künstlerisches Medium« müsste das Spektrum ihrer Funktionen gegenüber der Literatur – und der Literaturbegriff selbst – an entscheidender Stelle erweitert werden: Literaturausstellungen wären nicht nur damit betraut, Literatur zu vermitteln, würden nicht nur als sekundäres oder gar tertiäres Medium gegenüber anderen Literaturmedien, wie Handschriften, Codices oder dem Buch, sondern selbst als literatur- und kunstproduzierendes Medium in Erscheinung treten. Es sind diese Ausstellungen, von denen Sabine Brocher als zweitem expositorischen Typ sprach, die sich einordnen in die Abfolge materialer und medialer Realisationen von Literatur. Mit dem Hinweis auf die eingangs zitierte Ausstellung Welt aus Sprache an der Berliner Akademie sind wir wieder bei der Feststellung Höllerers angelangt, der die expositorischem Vermittlungsgrenzen für Literatur postulierte: Dieser Typ von Ausstellung sei »keine […] Literaturausstellung«, nicht einmal eine Ausstellung im engeren Sinne.31

31  |  Walter Höllerer: Einleitung (Anm. 2), S. 6.

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Was liest man, wenn man sieht? Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Original, Archiv und Ausstellung Heike Gfrereis Literaturausstellungen sind in den letzten Jahren immer weniger an einzelne Orte und Gegenstände geknüpft. Hinter ihnen steht längst nicht immer ein Archiv, eine Bibliothek oder ein Dichterhaus. Peter Zumthors Schweizer Pavillon auf der EXPO 2000 – ein poetischer Klangkörper aus als Textzeilen genutzten Holzbalkenstapeln – ist genauso eine Literaturausstellung, wie es Harald Bergmanns auf ein elliptisches Panorama projizierte Hölderlin-Filme sind oder ein illuminierter Textteppich mit einer berühmten Passage aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Literatur ist wie keine andere Kunst weder an ein Original noch an einen einzigen Ort und einen spezifischen Augenblick geknüpft. Man muss sie weder sehen noch hören. Man kann. Dennoch gibt es immer noch Literaturausstellungen im traditionellen Sinn, die dem Ort, dem Raum und dem Gegenstand, dem Original, einen besonderen Wert unterstellen – und nahezu alle Ausstellungen des Deutschen Literaturarchivs Marbach, die in den eigens dafür gebauten Museen, im Literaturmuseum der Moderne und im Schiller-Nationalmuseum, gezeigt werden, gehören dazu. Sie entfalten die nur hier zu findenden Zusammenhänge zwischen den Beständen: kultur-, ideen-, literatur- und wissenschaftshistorische, aber auch ästhetische, literarische oder biografische Serien und Netzwerke. Und sie stellen immer wieder die einzigartige Materialität von Zeichen- und Trägermaterialien der Literatur in den Mittelpunkt – Buchstabe, Zeichen, Laut, Bild, Textur, auch Ton und Bewegung, verbunden mit Körpern wie Papier, Foto, Film, auch Stein und Festplatte. Doch warum zeigen wir die Bestände des Archivs, Originale wie das Manuskript von Kafkas Prozess? Hat man als Leser etwas davon?

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Was liest man, wenn man sieht? Kann man etwas sehen, ohne den Text vorher gelesen zu haben? Gibt es tatsächlich das sichtbare Verständliche, das Lesen auf einen Blick? Oder sieht man nur etwas, wenn man doch liest, sukzessiv ein Wort nach dem nächsten? Und: Warum in eine Literaturausstellung gehen, in der diese Archivalien im Zentrum stehen? Was hat man vom Lesen im Raum? Anstelle einer einzigen, mir unmöglichen Antwort möchte ich an Beispielen aus den Marbacher Beständen einige der Gründe zeigen, die uns immer wieder zureden: Zeigt die Originale an einem Ort, in Räumen und auf Weisen, die nicht austauschbar sind! Das erste Beispiel stammt von Kurt Schwitters, der sein Gedicht An Anna Blume so abschreibt, dass der Leser es eben vor jenem Vers wenden muss, in dem es heißt: »Man kann Dich, Anna, auch von hinten lesen«.1 Es gibt Texte, bei denen man, wenn man sie im Original liest, tatsächlich sieht und sogar tut, was man liest. Das zweite Beispiel kommt aus dem Nachlass von Eduard Mörike, ein kleines Blatt mit einigen Versen und zwei hineingebrannten Löchern – der Beweis für das, was der Vers dazwischen behauptet: »Und schwärmend glüht des Sängers Seele im Gedicht«.2 Spätestens seit Jean Paul, das weiß auch Mörike, hat die Seele, gern verglichen mit einer Ellipse, zwei Brennpunkte. Es gibt Texte, die sind, wenn man sie im Original anschaut, vollkommen evident, so metaphorisch sie zunächst auch scheinen. Sie sind ihre eigene Referenz. Man sieht, was man liest, und man liest, was man sieht. Beispiel drei: Das Manuskript von Hermann Hesses Glasperlenspiel, eingeschlagen unter anderem in einen Zeitschriftenumschlag, auf dem für Handarbeitsglasperlen Reklame gemacht wird, wie sie Hesse selbst auf eine Sammelmappe gemalt hat.3 Begleitet wird das eingeschlagene Manuskript von einer Postkarte, deren Motiv sich in Hesses Nachlass zur Entstehungszeit des Romans häufiger findet: Margeriten.4 Das lateinische margarita heißt übersetzt ›Perle‹. Zu unserer Überraschung sehen wir, wenn wir den Titel und den Manuskriptkörper in eine emblematische Beziehung bringen, genau das, was dasteht, nicht mehr und nichts Höheres, 1  |  Deutsches Literaturarchiv Marbach, B:Schwitters 65.1428. 2  |  Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Mörike 2 11957. 3  |  Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Hesse 72.786. 4 | Vgl. Heike Gfrereis (Hg.): Hermann Hesse. Diesseits des »Glasperlenspiels«. Ausstellungskatalog Schiller-Nationalmuseum und Deutsches Literaturarchiv Marbach. Marbach a.N. 2002.

Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Original, Archiv und Ausstellung

nichts Drittes und Anderes. Der Text im Archiv zeigt uns sehr genau und klar, was Hesse mit »Glasperlenspiel« meint: ein Spiel mit Glasperlen – mit den Wörtern an und für sich. Den Text lesen muss man dazu nicht. Es genügt ein Blick. Wobei der aufklärende Effekt größer ist, wenn man zuerst den Text ohne Archiv gelesen hat: subversives und witziges Ende einer langen Suche nach dem Schlüssel. Im Archiv dekonstruiert sich die Literatur von alleine. Egal ob der Autor Mörike, Hesse oder Gottfried Benn heißt, der sogar ein leeres Blatt zur Referenz eines Gedichts macht: »bleu mourant«, sterbendes Blau. Diese Formulierung gehört zu Vier Privatgedichte, geschrieben auf blaues Briefpapier, das zu Ende geht. Zum Beweis liegt das letzte leere fünfte Blatt bei.5 Wieder kann man sehen, was man liest, und das Gedicht wird in seiner sehr konkreten Wahrheit eindrücklich. Verklärung des Gewöhnlichen, Pragmatisierung des Transzendentalen. Friedrich Hölderlin schreibt eine später von Sammlern in drei Teile geschnittene Seite seines Hyperion, seines Romans über den griechischen Freiheitskampf, auf ein Papier mit Wasserzeichen: Es zeigt eine phrygische Mütze mit der auf Sallust anspielenden Inschrift »Pro patria libertate«, für die Freiheit des Vaterlands kämpfen wir.6 Auch das Papier, auf dem Friedrich Schiller am 25. Dezember 1788 in Weimar Christian Gottfried Körner über die Schönheit und deren ideale, geschlängelte Linie schreibt, hat ein Wasserzeichen: ein Wellenband mit einem Bärenbändiger.7 Im Archiv liegen Idee und Verfahren eines literarischen Texts, »das Wasserzeichen der Poesie«, wie man es mit Hans Magnus Enzensberger nennen könnte, manchmal tatsächlich im Papier.8 Das Papier ist Ursprung und Referenz. Das Schreiben macht lesbar, was dort sichtbar ist. Das Original besitzt in einem konkreten Sinn Oberfläche und Tiefe, eine exoterische und eine esoterische Dimension. Wir können einen Text auf eine eigentümliche, konkrete Weise ›erschauen‹, ohne ihn zu lesen. Noch einmal Gottfried Benn, der sein Gedicht Das Wort zunächst auf einem Blatt im Hochformat begonnen hat, um es dann quer zu nehmen 5  |  Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Benn/Oelze 80.914. 6 | Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Hölderlin HS. 2000.0088.0000 und 3297, D:Hölderlin 41. 7  |  Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Schiller 55.449. 8 | Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr. Berlin 1987.

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und so längere Verszeilen schreiben zu können. Die einzelnen Wörter werden semantisch weniger stark aufgeladen, als es der Fall gewesen wäre, wenn »Ein Wort, ein Satz —« eine Zeile alleine eingenommen hätte: Ein Wort, ein Satz – : aus Chiffren steigen erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen, und alles ballt sich zu ihm hin. Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich – und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und Ich. 9

Im Original lesen wir mit, was wir gewöhnlich im gedruckten Buch nicht mehr lesen können. Originale kommen aus der Vergangenheit und führen uns zurück an ihren Ursprung. Sie haben, wenn man es so sagen mag, eine ›breite Gegenwart‹, indem sie den Produktions- und manchmal auch Rezeptionsprozess ersichtlich werden lassen und Zeit- und Überarbeitungsstufen simultan vor Augen führen. Zum Teil motivieren sie selbst auch wieder literarische Produktionen und initiieren bei Autoren wie Ernst Jünger und Peter Rühmkorf – um zwei Schriftsteller zu nennen, die Entwürfe in großer Serie hinterlassen und Texte immer wieder ab- und neugeschrieben haben – eine Poetik der Fassungen.10 Der Abdruck, der Stempel und die Spur – die Signale einer konkreten, authentifizierenden Berührung – sind Elemente dieses Zeitraums, den das Original eröffnet. Sie finden sich natürlich auch in Kafkas Manuskript zu seinem Roman Der Prozess, in dem die Spuren des Autors, des Herausgebers und des Setzers zu finden sind. Am prominentesten sind sicher die erste Streichung auf der ersten Manuskriptseite und die letzte Streichung auf der letzten (Abb. 1).11

9  |  Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Benn D 86.150. 10 | Vgl. Peter Rühmkorf: Selbst III/88. Aus der Fassung. Zürich 1989. Heike Gfrereis (Hg.): Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund. Ausstellungskatalog Literaturmuseum der Moderne Marbach. Marbach a.N. 2010. 11  |  Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Kafka 88.160.1.

Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Original, Archiv und Ausstellung

Abbildung 1: Franz Kaf kas Manuskript zu seinem Roman Der Prozess Beide Streichungen zeigen, wie Kafka die jeweiligen semantischen Felder auflädt und enger zieht, indem die Formulierung »wurde verhaftet« das unpräzise »war gefangen« ersetzt und »[d]ie Scham sollte ihn überleben« an die Stelle von »Scham war sein letztes Lebensgefühl« rückt.12 Der Prozess wird Josef K. auf diese Weise vom Anfang bis zum Ende gemacht. Im Idealfall lesen wir im und durch das Original genauer, sorgfältiger, Wort für Wort und Satzzeichen für Satzzeichen, weil wir es so lesen können, wie es geschrieben worden ist. Bei Kafka heißt das, sich keiner Schreibweise und Lesart sicher sein zu können, weil er selbst einen einzelnen Buchstaben wie das »K.« beständig variiert und auch zu »F.« verschreibt. Unsere kulturell konditionierte Erwartung an Literatur, dass sie eine Bedeutung oder eine übersetzbare (Selbst-)Referenzialität hat, wird hier ent12  |  Vgl. Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.): Der ganze Prozess. 33 Nahaufnahmen von Kafkas Manuskript. Ausstellungskatalog Literaturmuseum der Moderne Marbach. Marbach a.N. 2013.

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täuscht, aber auch genährt, indem im Prozess dem Text selbst der Prozess gemacht wird. Schon auf der elften Manuskriptseite des von Max Brod als erstes Kapitel interpretierten Konvoluts ist die Anschuldigung zu lesen: »Sie wollen einen Sinn und führen das Sinnloseste auf was es gibt! Ist es nicht zum Steinerweichen?«13 Das Manuskript ist mimetisch zum Roman, der sich immer wieder auf die Arbeit am Text und das Schreiben bezieht. Wir sehen am Original, warum geschrieben worden ist, was wir lesen. Wir schreiben quasi den Text noch einmal und vollziehen alle Schreibprozesse und -gesten nach: Wortauswahlvorgänge, Ausschweifungen, Abbrüche, Vorund Umordnungen, die ganze Mimikry des Schreibers, sein Tempo und seine Pausen, den Atem des Schreibens. Nächstes Beispiel: ein Schmetterling, ein Großes Ochsenauge aus dem Nachlass von W.G. Sebald, in dessen Erzählungen Die Ausgewanderten ein Schmetterlingsjäger als Figur auftaucht, die er unter anderem aus Versatzstücken aus Vladimir Nabokovs Biografie zusammengesetzt hat.14 Im Archiv sehen wir nicht nur das Originalmanuskript, sondern oft auch seine realen und gedachten Nachbarschaften: Die Ränder eines Originals sind offen, es besitzt zumeist verschiedene Kontextanschlüsse und tendiert zur Diffusion und Auffächerung. Das ist bei Sebald so, bei dem nahezu jedes Wort ein Wiedergänger aus der Literatur und damit Teil einer großen literarischen Tapete ist, aber auch bei Kafka, bei dem jede Seite, die er geschrieben hat, mit verschiedenen anderen Seiten zusammenhängt. Den Prozess etwa hat Kafka wie die meisten seiner Texte nicht von vorne nach hinten geschrieben, sondern in einer großflächigen Parallelaktion. In insgesamt zehn Schreibhefte mit meist 40 Blättern notiert er die Teile seines Romans: durcheinander, das Ende nah beim Anfang, den Anfang wiederum verteilt auf drei Hefte. Durchmischt mit Tagebucheinträgen und immer wieder neu begonnen oder abgebrochen finden sich hier die Erzählungen Die Pferde von Elberfeld, Blumfeld, ein älterer Junggeselle, Der Dorfschullehrer und Der Hungerkünstler, Erinnerungen an die Kaldabahn, Das Schloss und Der Verschollene sowie die berühmten Tagebucheinträge aus dem Juli und August 1914. Sie alle stehen vor, zwischen oder nach den Prozess-Blättern. Kafka löst später die Prozess-Passagen aus den Heften und bündelt sie zu 13  |  Deutsches Literaturarchiv Marbach, A/Kafka 88.160.1. 14  |  Vgl. das Titelbild von Ulrich von Bülow, Heike Gfrereis u. Ellen Strittmatter (Hg.): Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt. Ausstellungskatalog Literaturmuseum der Moderne Marbach. Marbach a.N. 2008.

Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Original, Archiv und Ausstellung

16 Konvoluten. Max Brod stellt dann nach dessen Tod die erste Leserordnung her, indem er die Blätter im Manuskript in eine Reihenfolge bringt, die sie heute noch haben. So besitzen die Manuskriptblätter jeweils ganz unterschiedliche Blattnachbarn: a) die ursprünglich in einem Heft direkt anschließenden Blätter, sozusagen die Nachbarn des Schreibens, b) die Anschlussblätter in Kafkas Konvoluten, also die Nachbarn, die Kafka dann zueinander gebracht hat, und c) diejenigen, die für Brod am ehesten einer Satz- und Textlogik entsprachen, die Roman-Nachbarn. Originale sind auch erratische Blöcke, Widerstände: unlogisch, intransparent und antimimetisch. Im besonderen Fall von Kafka geht das mit der ›kafkaesken Logik‹ seiner Erzählung zusammen und kann dann also, vielen Interpreten zum Glück, als Autoreferenzialität doch wieder mimetisch interpretiert werden. Im schlimmsten Fall sieht man an Originalen aber nicht mehr, als man lesen kann. Sie sind zu einem Teil zumindest immer auch unlesbar. Die Ausstellung, die auf die Bestände des Archivs zurückgreift, kann etwas, was die Edition und die digitale Präsentation nicht können: Eine Ausstellung kann die räumliche Dimension der Originale – ihre Blockhaftigkeit und ihre offenen Ränder – in einem realen Raum entfalten. Dementsprechend versuchen wir in Marbach, mit den Originalen ›Raumbilder‹ zu bauen: möglichst schlichte und klare, einfache und nachvollziehbare, sich durch ihre Wiederholung selbst erläuternde Strukturmodelle, die zumeist nur eine Methode der Auswahl, Anordnung und Betrachtung exponieren. Diese ›Raumbilder‹ sind sowohl Werkzeug als auch Vermittler eines heuristischen Konzepts und weniger aus der Illustration ihres Gegenstands oder dessen Übersetzung in didaktische Sequenzen motiviert. Der August 1914 war in der Marbacher Ausstellung August 1914. Literatur und Krieg tatsächlich eine zunächst spröde chronologische Linie; W.G. Sebalds Vernetzung von literarischen und bildlichen Motiven war tatsächlich ein räumlich vernetztes Schichtenmodell.15 Der Ausstellungsraum ist unser Denkmodell, unsere Finde-, Such-, Hänge- und Legearchitektur. Er verweist eben nicht auf eine Bedeutung, sondern zeigt zuallererst die Archivobjekte selbst. Die Marbacher Ausstellungen entziehen sich meist dem biografischen Zugriff, sie gehen nicht vom Autor, son15 | Die Ausstellung August 1914. Literatur und Krieg war vom 16. Oktober 2013 bis zum 21. April 2014, Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt vom 26. September 2008 bis zum 1. Februar 2009 im Literaturmuseum der Moderne, Deutsches Literaturarchiv Marbach zu sehen.

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dern von seinen Texten aus und vor allem: von den Originalen in seinem Nachlass. Diese Originale sind, auch wenn sie Berührungsspuren tragen, teuer und mit Bedeutungen aufgeladen, nüchterne und ausnüchternde Alternativen zur Lektüre eines Texts im Buch oder Netz. In der Marbacher Prozess-Ausstellung hat man keinen wie Perlen aufgereihten Papierschatz gesehen, kein Gut von national-politischer Bedeutung. Man konnte sehen, was da ist: Die Karten waren auf den Tisch gelegt, 161 Blätter mit 14 Deckblättern (Abb. 2).16

Abbildung 2: Ausstellung Der ganze Prozess (2013/14), Literaturmuseum der Moderne Man konnte sehen, an wie vielen imaginären Schreibtischen Kafka gleichzeitig gearbeitet hat, sah seine Textlager und Papierberge und die eigenwillige Art, in der er jedes selbst gewählte Schema, allen voran das immer gleiche Manuskriptformat, immer wieder unterlaufen hat. Um das zu sehen, musste man als Besucher nicht mehr lesen als den kleinen Einführungstext. Was ein bedeutungs- und auch strukturoffener Text ist, ein Text ohne Anfang, Mitte und Ende, ein moderner Text, das ist in dieser Ausstellung sichtbar verständlich geworden. Man konnte etwas sehen, was man auf diese Weise nur in dieser, auf eine kurze Zeit bemessenen Aus16 | Die Ausstellung Kafkas Prozess wurde vom 7. November 2013 bis zum 21. April 2014 im Literaturmuseum der Moderne Marbach gezeigt.

Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Original, Archiv und Ausstellung

stellung erfahren konnte, an diesem Ort und in dieser Atmosphäre, mit diesen durch das Ausstellungslicht und das Vitrinenglas und das Exponat selbst erzeugten Schattierungen, Einfärbungen und Unschärfen. Wer in dieser Ausstellung zu lesen versucht hat, der hat das Lesen als etwas Fremdes und Künstliches erfahren, weil es gestört war, erschwert und verfremdet. Viele Besucher haben einen Text gesucht, den es im Original nicht gibt. Literaturausstellungen mit Originalen sind Irritationen der Leser. Unter Umständen bringen sie uns dazu, unserer Lektüre zu misstrauen und noch einmal von vorne mit dem Lesen und dem Sehen anzufangen. Sie machen uns um eine oder mehrere Blick- und Leserichtungen reicher und sind in dieser Hinsicht Labore der Aufklärung und Freiheit.

Bildnachweis Abbildung 1 und 2: Deutsches Literaturarchiv Marbach

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Die Ausstellung als Erfahrungsraum zwischen Assoziation und Zeugnis Vermittlung von A bis Z in der Grimmwelt Kassel Susanne Völker Menschen auf allen Kontinenten verbinden mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm Erinnerungen, die bis in die eigene Kindheit zurückreichen. Zugleich gelten die Brüder als Mitbegründer der Germanistik und sind Initiatoren und Verfasser des wohl immer noch wichtigsten Wörterbuchs der deutschen Sprache. Als zwei der ›Göttinger Sieben‹ wurden sie darüber hinaus selbst zu Protagonisten einer Demokratisierungsbewegung, die schließlich ihren deutlichen Niederschlag in der Frankfurter Paulskirchenversammlung von 1848 fand, der Jacob Grimm angehörte. Kurz: Das Thema ›Grimm‹ bietet zahlreiche, vielfach interdisziplinäre Facetten. Einleitend sei der Blick auf ein Wesensmerkmal ihres Schaffens gerichtet, das die verschiedenen Aspekte ihres Wirkens miteinander verbindet, nämlich den für die Romantik prägenden Gedanken eines ›Allzusammenhangs‹. Die Märchensammlung der Brüder Grimm entstand nicht voraussetzungslos, sondern im Kontext ihres kulturhistorischen Forschungsinteresses, das neben europäischen Erzähltraditionen beispielsweise auch die Rechtsgeschichte und historische Wissenschaften berücksichtigte. Friedrich Schlegel schrieb 1798: »Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie.«1 Sie berühre Philosophie und Rhetorik, mische und verschmelze aber auch Prosa, Genialität, Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie. Die Gesellschaft werde durch sie poeti-

1 | Friedrich Schlegel: Kritische Schriften. Hg. v. Wolfdietrich Rasch. München 2 1964, S. 38 (Athenäums-Fragmente).

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siert.2 Schlegels »progressive Universalpoesie« fordert eine Durchmischung und Verschmelzung aller literarischen Gattungen und geht sogar darüber hinaus, indem sie weitere Disziplinen einbezieht. Diese Form der Poesie wendet sich ab von allem Regelhaften, Einengenden. Das Sammeln von Wissenselementen aller Art und das ›In-Beziehung-Setzen‹ zu anderen, bereits vorhandenen Wissensinhalten werden somit zur wichtigen Voraussetzung für ihren progressiven Charakter. Dies entspricht der Grimm’schen Arbeitsweise des Sammelns und Kontextualisierens von kulturellen Überlieferungen und korrespondiert zugleich mit Ergebnissen aus der aktuellen Wissens- und Bildungsforschung. Die Kognitionswissenschaft betrachtet Wissen, das im Langzeitgedächtnis gespeichert wird, ebenfalls als Schemata im Sinne netzartig strukturierter Modelle.3 Dieser für das Grimm’sche Schaffen so zentrale Aspekt der Vernetzung bildet auch die Grundlage der Vermittlungsstrategie innerhalb der Grimmwelt Kassel. Netzwerke und vernetztes Denken sind Ausgangspunkt und Ziel der Vermittlung, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. In Kassel lebten die Brüder Grimm etwa dreißig Jahre lang. Sie schufen hier wesentliche Teile ihres Werks, und bis heute hat Kassel eine umfangreiche und wichtige Grimm-Sammlung. Darin befinden sich auch Jacob und Wilhelm Grimms Handexemplare der Kinder- und Hausmärchen von 1812 beziehungsweise 1815 mit handschriftlichen Anmerkungen und Korrekturen. Sie sind seit 2005 in der Liste des UNESCO-Weltdokumentenerbes (UNESCO Memory of the world) erfasst. Darüber hinaus haben die Brüder Grimm mit ihrem Werk, insbesondere mit dem Deutschen Wörterbuch und der Deutschen Grammatik, ein bis heute aktuelles Verständnis von Sprache eröffnet. Vor diesem Hintergrund entstanden die Planungen zur neuen Grimmwelt Kassel: Ab 2015 werden die Brüder Grimm in einer neuen Ausstellung im eigens errichteten Gebäude auf dem Kasseler Weinberg präsentiert (Abb. 1).4

2  |  Ebenda, S. 38f. 3 | Vgl. Katrin Beckers: Kommunikation und Kommunizierbarkeit von Wissen. Prinzipien und Strategien kooperativer Wissenskonstruktion. Berlin 2012, S. 5976. 4 | Bauherr ist die Stadt Kassel. Weiterführende Informationen zum Projektverlauf, URL: www.stadt-kassel.de/projekte/grimm-welt/, letzter Zugriff am 24.10.2014.

Die Ausstellung als Erfahrungsraum zwischen Assoziation und Zeugnis

Abbildung 1: Neubau der Grimmwelt Kassel nach einem Entwurf von kadawittfeldarchitektur, Aachen Sie richtet sich an ein breites Publikum von Kindern und Senioren über Familien und Schulklassen bis hin zu Kunst- und Sprachinteressierten sowie Touristen. Bei der Grimmwelt Kassel handelt es sich nicht um ein Dichterhaus, auch nicht um ein Literaturarchiv oder ein Museum, sondern um ein Forum und Ausstellungshaus, das sich der vielfältigen Vermittlung des Themas ›Grimm‹ annimmt. Das breite Schaffensspektrum der Brüder als Sammler, Wissenschaftler, Politiker und Rechtsforscher – um nur ihre wichtigsten Betätigungsfelder zu nennen – ermöglicht und fordert ebenso vielfältige Ansätze in der Vermittlung. Spielerische wie informative Ausstellungsformate und eine immer wieder neugierig machende Gestaltung sollen den Besuchern neue Zugänge zum facettenreichen Werk, zum gesellschaftlichen und politischen Leben der Brüder ermöglichen. Die dauerhafte Präsentation auf etwa 1.200 Quadratmetern Fläche wird durch Sonderausstellungen ergänzt werden, in denen auf etwa 300 Quadratmetern immer wieder neue Perspektiven und Themenfelder aus dem Grimm’schen Kosmos fokussiert und aufbereitet werden können. Unterschiedliche Vermittlungsstrategien – seien sie narrativ, assoziativ oder interaktiv – werden individuelle und den jeweiligen Inhalten entsprechende Zugänge schaffen und somit ein vielseitiges Ausstellungserlebnis ermöglichen. Eine attraktive Inszenierung soll die Besucher anregen, sich mit den Themen auseinanderzusetzen, und sie unterstützen, diese Moti-

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vation aufrechtzuerhalten, indem komplexe Inhalte spielerisch rezipierbar werden.5 Eine klar gegliederte und dennoch flexible Struktur, die aus der Grimm’schen Arbeitsweise heraus entwickelt wurde, gibt dafür den Rahmen, ohne eine lineare Abfolge vorzuschreiben. Der Besucher durchläuft eine Ausstellung, die ganz im Sinne der Grimm’schen Märchen Überraschungen und Perspektivwechsel bietet (Abb. 2).

Abbildung 2: Einblick in die geplante Ausstellung der Grimmwelt Kassel

L iter aturvermit tlung » für alle « Kultur soll für alle zugänglich sein. Kulturvermittlung ist dementsprechend eine kulturpolitische Aufgabe, die sich infolge der 68er-Bewegung mit ihren Forderungen nach Loslösung von institutionellen Bildungsautoritäten (»Unter den Talaren – der Muff von 1.000 Jahren«) in den 1970er Jahren zur Formel »Kultur für alle« steigerte.6 Gemeint ist hiermit in der Regel die Hinwendung zu einem Publikum aller Alters-, Einkommens5 | Ausstellungskonzeption: hürlimann + lepp, Berlin; Ausstellungsgestaltung: Holzer Kobler Architekturen, Zürich und Berlin. 6  |  Vgl. hierzu Oliver Scheytt: Kultur für alle und von allen – ein Erfolgs- oder Auslaufmodell? In: Birgit Mandel (Hg.): Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing. Eine Profession mit Zukunft. Bielefeld 2005, S. 25-30.

Die Ausstellung als Erfahrungsraum zwischen Assoziation und Zeugnis

und Bildungsschichten sowie zu Menschen mit verschiedenen Einschränkungen und unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit. Das Ziel lautet, Barrieren aller Art abzubauen. Doch ist »Kultur für alle« – auch in Anbetracht der Literaturvermittlung – überhaupt realisierbar? Die Darstellung und Vermittlung von Literatur ist grundsätzlich vor ganz eigene Herausforderungen gestellt, eignet sich das geschriebene Wort im Hinblick auf seinen Inhalt doch zunächst scheinbar wenig dafür, als Ausstellungsobjekt präsentiert zu werden. Texte werden in erster Linie gelesen oder vorgetragen, und ihre Erscheinungsformen sind neben dem Buch die theatrale Inszenierung sowie das Medium Film. Und doch gibt es eine hohe Zahl an Dichterhäusern in den jeweiligen Geburts- und Schaffensorten sowie Ausstellungen um fiktive oder reale literarische Protagonisten. Gemeinden und Kommunen identifizieren sich mit ihrem literarischen Erbe und würdigen es mit Gedenkstätten, Museen, Preisen und Veranstaltungen. Längst ist dabei der touristische Aspekt neben den kulturhistorischen getreten. Museen, Archive und Ausstellungshäuser arbeiten das literarische Erbe auf und machen es in Ausstellungen zugänglich. Seit den 1970er Jahren wächst dabei stetig das Bewusstsein um die Notwendigkeit angemessener Vermittlungsformen vor dem Hintergrund der Frage nach dem Zielpublikum. Ausgehend von der Forderung des Deutschen Kulturrats nach einer »kulturelle[n] Daseinsvorsorge«7 als Basis für die Teilhabe der Menschen an kulturellen Angeboten hält Wolfgang Schneider, Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und Herausgeber der Reihe Studien zur Kulturpolitik (Frankfurt am Main) und des Jahrbuchs für Kulturpolitik und ästhetische Praxis (Tübingen), mit dem Ziel der Verstetigung erfolgreicher Kulturvermittlung zehn Thesen fest. Gleich die ersten beiden Thesen thematisieren den Zusammenhang von Kulturvermittlung und Publikum: »1. Kulturvermittlung steht im Verhältnis von Kulturerbe, Innovation und Publikum. 2. Kulturvermittlung ist ein Kommunikationsangebot zwischen Produzenten und Rezipienten.«8 Das heißt für Kultureinrichtun7 | Stellungnahme des Deutschen Kulturrats vom 29.09.2004: Kultur als Daseinsvorsorge!, URL: www.kulturrat.de/detail.php?detail=217&rubrik=4, letzter Zugriff am 24.10.2014. 8  |  Wolfgang Schneider: Kulturvermittlung braucht Kulturpolitik … um neue Strategien ästhetischer Kommunikation zu entwickeln. In: Birgit Mandel (Hg.): Kulturvermittlung (Anm. 6), S. 40-48, hier S. 47.

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gen nichts anderes, als dass sie sich darüber bewusst werden müssen, wem sie was mit ihrem Angebot vermitteln möchten. Fast wortgleich konstatiert der Erziehungs- und Kulturwissenschaftler Max Fuchs, bis 2009 Vorsitzender der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung und bis 2013 des Deutschen Kulturrats: »Nach wie vor bleiben drei strategische kulturpolitische Ziele aktuell: Erhaltung des Kulturerbes, Innovation und Publikumsgewinnung. Es ist die Aufgabe einer jeglichen Kultureinrichtung, für sich selbst eine Balance dieser drei Ziele herzustellen.«9 Seine Forderung an die Kultureinrichtungen lautet also, das eigene Publikumsprofil aktiv zu erweitern und innovativ zu agieren. Er weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass dies nur im Rahmen einer kulturellen »Grundversorgung« möglich sei, die sich auf öffentliche Mittel stützen kann.10 Sobald kulturelle Angebote wirtschaftlich erfolgreich sein müssen, um auf dem Markt wettbewerbsfähig zu sein, greifen Marktmechanismen, die der Freiheit von Kunst und Kultur entgegenwirken. Die Profilierung von Kultureinrichtungen ist laut Fuchs notwendig, dürfe aber nicht allein vor dem Hintergrund finanzieller Zwänge geschehen. Diese Zwänge würden vielfach zur rein wirtschaftlichen Ausrichtung von Kultureinrichtungen führen.11 Museen, Theater und Ausstellungshäuser – um nur einige zu nennen – verlassen damit häufig den Schutzraum des finanziell abgesicherten Experimentierraums für Kommunikationsangebote an das Publikum und müssen auf bewährte publikumswirksame Formate zurückgreifen. Wolfgang Schneider fokussiert mit seiner dritten und vierten These ebenfalls das Publikum im Hinblick auf ein Recht an Teilhabe an einer progressiven Kultur: »3. Kulturvermittlung ist ein Beitrag zur Sicherstellung des Menschenrechts auf kulturelle Teilhabe« und »4. Kulturvermittlung braucht Sensibilität zur Erforschung der Gesellschaft, um neue Kulturen, neue Publika und neue Konzepte zu ermöglichen«.12 Vermittlung soll gewährleisten, dass Inhalte ein breites Publikum auch tatsächlich erreichen können. Wenn es im Zuge der Profilierung kultureller Angebote darum geht, tatsächliche und potenzielle ›Kulturnutzer‹ anzusprechen, erhält die Kulturvermittlung im besten Fall Orientierung aus der Besucherforschung. Hinweise gibt bei9  |  Max Fuchs: Kulturvermittlung und kulturelle Teilhabe – ein Menschenrecht. In: Birgit Mandel (Hg.): Kulturvermittlung (Anm. 6), S. 31-39, hier S. 37. 10  |  Ebenda, S. 37. 11  |  Vgl. ebenda, S. 37f. 12  |  Wolfgang Schneider: Kulturvermittlung braucht Kulturpolitik (Anm. 8), S. 47.

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spielsweise die Fokussierung auf ausgewählte Sinus-Milieus zwischen traditionellen und experimentellen Lebensauffassungen, ebenso wie zwischen den verschiedenen Einkommensschichten. Kaum eine Kultureinrichtung wendet sich dabei nur an eine bestimmte Zielgruppe. Vielmehr gilt vor dem Hintergrund der Verantwortung für die kulturelle Bildung das Bemühen um eine »Kultur für alle« und damit um eine Vielfalt des Angebots. Gleichzeitig erfordert die Profilierung von Kultureinrichtungen eine Wiedererkennbarkeit und Weiterentwicklung der Vermittlung. Dies ist wohl der Balanceakt zwischen Kulturerbe, Innovation und Publikumsgewinnung, wie ihn auch Max Fuchs anspricht. Gerade Literaturmuseen, Dichterhäusern und literarischen Gedenkstätten ist mit Perspektive auf den literarischen Text ein narratives Moment eigen. Abgeleitet vom sukzessiven Lesen liegt ihnen eine lineare Erzählstruktur nahe, Seite für Seite oder Raum für Raum. Ein kurzer Blick auf die Reihe der linear-biografischen Museen sei beispielhaft gestattet anhand des Hermann-Hesse-Museums Calw. Die Dauerausstellung verfolgte in den letzten drei Jahrzehnten in ihrem Aufbau eine streng biografische Reihung der Ereignisse, die – gerade bei Hermann Hesse – vielfach auch der Werkentwicklung entspricht. Eine Verschränkung von Leben und Werk in einer linearen Erzählung, welche die Ausstellung strukturiert, liegt an dieser Stelle durchaus nahe. Die Grimmwelt Kassel hingegen verfolgt keinen an der Biografie der Brüder ausgerichteten Ansatz, denn anders als bei Hermann Hesse wird hier weniger die eigene Biografie als Motor für die literarischen Leistungen inszeniert. Die Brüder Grimm stellen ihr Leben in den Dienst des Forschungsinteresses, weshalb die Ausstellung vom Werk ausgeht. Die Märchen hatten eine lange mündliche, teils auch bereits schriftliche Überlieferungstradition, bevor sie von Jacob und Wilhelm Grimm zusammengetragen und aufgeschrieben wurden. Die Brüder gingen dabei nicht von Dorf zu Dorf, um Menschen nach Geschichten zu fragen, sondern es gab literarische Vorlagen, vor allem französische und italienische, sowie ›Märchenzuträger‹ – Menschen, vielfach hugenottischer Herkunft, die in Nordhessen lebten und den Grimms die Märchen erzählten. In der Aufzeichnung der Grimms haben die Märchen einige Änderungen erfahren: Rotkäppchen verdankt ihnen ihr Überleben, denn zuvor ging ihr Missachten des mütterlichen Rats, sich nicht mit Fremden einzulassen, tödlich aus. Auch andere Erzählungen wurden so angepasst, dass sie als Erziehungstexte für Kinder tauglich wurden, indem sie entweder eine

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didaktische oder moralische Aussage erhielten oder für Kinder vermeintlich nicht geeignete Sujets ausgespart wurden: Rapunzel stellt in einer frühen Fassung des Märchens beispielsweise nach einigen Besuchen des Prinzen in ihrem Turm fest, dass ihr Kleid zu eng wird. In der endgültigen Fassung findet sich diese Anspielung auf eine Schwangerschaft nicht mehr. Doch trotz guten Ausgangs und wundersamer Rettungen wird den Märchen immer wieder vorgeworfen, sie seien grausam und Kindern deshalb möglicherweise nicht zuzumuten, weil sie Ängste auslösten, wenn von abgehackten Zehen, von der Erde verschluckten Bösewichten, verbrannten Hexen, ersäuften Wölfen und zu Tode gequälten Stiefmüttern gesprochen wird. Es geht rau zu, und die ›gerechte‹ Strafe für das Böse ist meist eine qualvolle und endgültige. Doch auch aus der Geschichte der Mythen ist die Dichotomie von Gut und Böse bekannt, von drakonischen und biblischen Strafen weiß man ebenfalls. Texte entstehen nicht voraussetzungslos, sie müssen vielmehr im Kontext anderer Texte und ihrer kulturellen Verankerung betrachtet werden.13 So sind die Grimm’schen Märchen in den Kontext eines grundlegend bürgerlichen Erziehungsanliegens zur Zeit ihrer Veröffentlichung zu stellen. Auch bei der Erstellung des Deutschen Wörterbuchs handelt es sich nicht um eine einsame Arbeit im Stillen, sondern um den Auf bau und die Aktivierung eines weitreichenden Netzwerks von Menschen, die mit den Grimms an diesem Projekt arbeiteten. Die Vernetzung blieb nicht nur auf den deutschsprachigen Raum beschränkt: Zahlreiche Begriffe und ihnen zugeordnete literarische Quellen sowie etymologische Herleitungen erreichten die Brüder Grimm von Forschern und Gelehrten auch aus dem Ausland. Sie selbst konnten das Werk nur bis zum Buchstaben ›F‹ begleiten, abgeschlossen wurde es schließlich im Jahr 1971 – bei gleichzeitigem Beginn der Neubearbeitung, die bis heute ständig erweitert wird. Was die Grimms hier begründet haben, ist ein sich stetig entwickelndes und verdichtendes Sprachforschungssystem und ein Jahrhundertprojekt. Es vernetzt einerseits Personen und andererseits Inhalte auf vielfältige Weise

13 | Vgl. Birgit Neumann u. Ansgar Nünning: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Grundbegriffe und Forschungsansätze zur Kontextualisierung von Literatur. In: Marion Gymnich, Birgit Neumann u. Ansgar Nünning (Hg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Trier 2006, S. 3-28.

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und wird deshalb sowohl die Grundlage für die Ausstellung als auch für die Vermittlungskonzeption der Grimmwelt Kassel bilden. Für Kassel ist die Grimmwelt eines der wichtigsten kulturellen Projekte der kommenden Jahre. Die Brüder Grimm sollen in Zukunft neben der documenta und dem UNESCO-Weltkulturerbe Bergpark Wilhelmshöhe mit der Stadt Kassel assoziiert werden. Dies entspricht nicht zuletzt auch der Profilierung der Region Nordhessen als ›Grimm-Heimat‹ und der zentralen Lage Kassels an der Deutschen Märchenstraße. Die Grimmwelt Kassel versteht sich dabei als ein Ort der erlebnisorientierten Wissensvermittlung, der sich an ein breites Publikum richtet. Die aktive und selbstmotivierte Wissensaneignung soll durch ›Aha-Effekte‹ belohnt, bestärkt und die Auseinandersetzung mit den angebotenen Inhalten somit zum Erlebnis werden. Das Erlebnis als Grundmuster der Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt ist als Zeitphänomen in nahezu allen Lebensbereichen angekommen. Vielfach wird vom ›Freizeit- oder Shopping-Erlebnis‹ gesprochen, Städte können hautnah und mit allen Sinnen ›erlebt‹ und Restaurantbesuche in angenehmer Atmosphäre als kulinarisches ›Erlebnis‹ beworben werden. In all diesen Redewendungen kennzeichnet das Erlebnis eine positive Erfahrung. Im Bereich der Wissensvermittlung kann die Orientierung an solcherart positiv besetzten Erfahrungen, die eine eigene Lernmotivation stärken, als Errungenschaft aufgefasst werden – ähnlich wie auch in Schulen das eigenmotivierte Lernen den Frontalunterricht vielfach ergänzt. Im Bereich der naturwissenschaftlich ausgerichteten Science Center ist diese Form der Vermittlungsangebote, die auf individuelle Lernerlebnisse zielt und die Besucher aktiv in die Vermittlung einbindet, nicht nur akzeptiert, sondern bereits seit ihren Anfängen in den 1960er Jahren sehr beliebt. Hier geht es nicht darum, ein Fachpublikum und die Forschungselite anzusprechen, sondern komplexe Sachverhalte allgemeinverständlich für ein interessiertes und breites Publikum aufzubereiten. Nicht die wissenschaftliche Dokumentation musealer Sammlungsinformationen steht im Vordergrund, sondern es werden Experimente zum selbständigen Ausprobieren sowie Erklärungen aus Bereichen der Lebenswirklichkeit des Laien angeboten. Die Besucher sind angehalten, sich die Inhalte durch ein aktives Handeln, beispielsweise durch Berühren und Bedienen, zu erschließen. Auf diese Weise werden sinnliche und assoziative, mediale und haptische, informative und wissenschaftliche Vermittlungsangebote eingesetzt. Dabei werden nicht zuletzt Schwellenängste gegenüber

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Wissenschaftseinrichtungen abgebaut. Die Übernahme solcher Strategien bietet auch eine Chance für die Vermittlung ›klassischer‹ geisteswissenschaftlicher Themen. Bislang jedoch werden insbesondere im Bereich der Literaturmuseen häufig traditionelle Vermittlungsformate mit inhaltlich qualitativ hochwertigen Ausstellungen gleichgesetzt: Umfangreiche Textangebote suggerieren fundierte Informationen. Da Textfülle der Literatur immanent ist, wird sie als vermeintlicher Qualitätsgarant häufig auch auf die Ausstellungspraxis von Literaturmuseen und -ausstellungen übertragen. Der Erziehungswissenschaftler und ehemalige Vorsitzende der Kommission Freizeitpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft Wolfgang Nahrstedt sieht dezidiert »Erlebniswelten« in der Lage, wichtige Lernmotivationen zu fördern, indem sie »Interesse wecken« und dadurch erst ermöglichen, »Kompetenz [zu] entwickeln«.14 Die Förderung der eigenen Lernmotivation hat sich im Rahmen von außerschulischen pädagogischen Angeboten wie in der Museums- und Erlebnispädagogik längst durchgesetzt. Wolfgang Nahrstedt erkennt Freizeitorte sogar als fünfte Säule im Bildungswesen an (neben Schulbildung, Berufsbildung, Hochschulbildung und Weiterbildung). Er betont das Potenzial von Erlebniswelten wie folgt: »Gut inszenierte ›Events‹ erweisen sich dabei als eine wirksame pädagogische Strategie: Sie bewirken in einer Gesellschaft von Spezialisten und Singles kommunikatives Lernen in Gruppen. ›Events‹ bewirken, wenn das Angebot stimmt, dass ›Inhalt bindet‹.«15 Lernerlebnisse sind dann besondere Vorkommnisse, die es wert sind, beachtet, abgespeichert, geteilt und weitererzählt zu werden. Damit sind sie ein lohnendes Ziel für Einrichtungen, die Wissen vermitteln möchten.

14 | Wolfgang Nahrstedt: Interesse wecken – Kompetenz entwickeln. Lernen in Erlebniswelten. In: Beatrix Commandeur u. Dorothee Dennert (Hg.): Event zieht – Inhalt bindet. Besucherorientierung von Museen auf neuen Wegen. Bielefeld 2004, S. 29-38. 15  |  Ebenda, S. 29.

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›E rlebnis und I nhalt‹ stat t ›E rlebnis versus I nhalt‹ »Event zieht – Inhalt bindet«: Diese vielfach zitierte Formel beschreibt in erster Linie die Chance, neue Besuchergruppen für Kultureinrichtungen etwa durch Museumsfeste, Theaterfestivals oder Kulturnächte zu begeistern und zum Wiederkommen zu animieren.16 Zwangsläufig stellt sich hier die Frage nach der Qualität der angebotenen ›Events‹. Auf einem Kongress der Bildungsinitiative Kinder zum Olymp der Kulturstiftung der Länder wurde 2013 die Frage nach der Qualität kultureller Bildung zum Leitthema erhoben.17 Dabei stand neben der Frage, nach welchen Kriterien Qualität bewertbar ist und bewertet werden soll, mithin also der Qualitätsbegriff selbst, immer auch die Frage im Zentrum, wer über diese Kriterien entscheidet. Neben den sehr diversen Inhalten müssen bei einer Bewertung die Rahmenbedingungen der einzelnen Einrichtungen und ihre Profile berücksichtigt werden. Richtet sich eine kulturelle Einrichtung speziell an Kinder und Familien, sind sicherlich andere Qualitätsmaßstäbe anzusetzen als an eine wissenschaftliche Bildungseinrichtung, die primär den Experten bedient. Zudem entscheiden sich die Besucher aus einer bestimmten Erwartungshaltung für den Besuch einer Einrichtung, weil sich diese – mehr oder weniger aktiv und bewusst – ein bestimmtes Profil gegeben hat. Wie das Zielpublikum und seine Erwartungen auch aussehen – immer geht es darum, das Publikum zu motivieren, sich Inhalte selbst zu erschließen oder gar, sich aktiv einzubringen. Bereits der Beginn der Eröffnungsrede Ich, Kultur, Kultur-Ich des Schriftstellers und Künstlers Feridun Zaimoglu lässt den Zuhörer daran teilhaben, wie sich der Ich-Erzähler einem literarischen Text auf ganz eigene Weise nähert: An einem heißen Sommervormittag neunzehnvierundsiebzig flog mir eine Fruchtfliege ins Auge und starb im Tränenwasser. […] Ich kam zu spät zur Schule und musste zur Strafe vorlesen. Das Auge tränte, die Buchstaben bekamen lange Hälse, das obere Halbrund des scharfen s rutschte in den unteren großen Bauch; der 16 | Vgl. hierzu den Sammelband Beatrix Commandeur u. Dorothee Dennert (Hg.): Event zieht – Inhalt bindet (Anm. 14). 17  |  Vgl. den Tagungsband Kulturstiftung der Länder, Kulturstiftung des Bundes u. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Kinder zum Olymp! Perfekt? Zur Qualität kultureller Bildung für Kinder und Jugendliche. Berlin 2014.

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Kopf des Buchstaben g fiel ihm auf den Schaufelfuß und ich sah ein Tonzeichen. Das m ging auf Stelen, das z kippte hintüber, das l verzog sich zum hohen Mast. Ich wurde von der Frau Lehrerin gerügt, weil ich mich verlas, der Klassenrüpel lachte höhnisch, Clara in der ersten Reihe zog ungehalten am Reißverschluss ihrer Federmappe. Ich war trotzdem berauscht, denn ich hatte das richtige Alphabet entdeckt. […] Noch am selben Tag streute ich mir Pfeffer ins Auge und klappte das Buch auf.18

Nun ist Pfeffer im Auge bei der Auseinandersetzung mit literarischen Texten meist hinderlich und schmerzhaft, doch findet der Ich-Erzähler gerade auf diesem Weg einen eigenen Zugang zum Text und zu dessen Zeichenhaftigkeit. Er vollzieht aus eigener Motivation heraus einen kreativen Perspektivwechsel. Dieses Angebot können Ausstellungen auch ohne brennende Augen machen. In der Auseinandersetzung mit Sprache und Literatur wurden bislang nur wenige großangelegte Versuche unternommen, diesen Weg zu beschreiten. Ein aktuelles Beispiel für eine gelungene Umsetzung ist jedoch die im Herbst 2013 eröffnete Dauerausstellung im Erweiterungsbau des Kleist-Museums in Frankfurt an der Oder mit dem Titel Rätsel. Kämpfe. Brüche. Die Kleist-Ausstellung. Hier wird das literarische Werk des Autors in seiner künstlerischen Eigenständigkeit gegenüber den biografischen Rahmenbedingungen gewürdigt. Im Bereich der Sonderausstellungen setzt sich diese moderne Ausstellungs- und Vermittlungspraxis bereits auch jenseits der großen und renommierten Häuser durch.19 Auch kleinere Institutionen, die als Wohnhaus, Geburtshaus oder als lediglich authentisch anmutende Dichterwohnung bislang vielfach im tatsächlichen 18  |  Feridun Zaimoglu: Ich, Kultur, Kultur-Ich. In: Kulturstiftung der Länder, Kulturstiftung des Bundes u. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Kinder zum Olymp! (Anm. 17), S. 8-14, hier S. 8. 19 | Vgl. das Gesamtergebnis der europäischen Museumsbefragung Vermittlungsstationen und Lernorte in Museen, die vom 30. März bis zum 20. September 2012 erfolgte. Diese englisch-deutsche Museumsbefragung wurde im Rahmen des EU-Projekts The Learning Museum Network Project von den Oberösterreichischen Landesmuseen mit 78 teilnehmenden Museen unterschiedlicher Sparten aus Österreich, Deutschland, der Schweiz, Großbritannien, Belgien, Dänemark, Schweden, Finnland, Irland und Rumänien durchgeführt. URL: www.lemproject. eu/WORKING-GROUPS/learning-facilities-and-learning-spaces-in-museums, letzter Zugriff am 04.11.2014.

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oder nachempfundenen Wohnumfeld als Literatenausstellung der Biografie des Autors nachgingen, erstellen im Zuge von Neukonzeptionen zunehmend Literaturausstellungen, die sich mit dem Werk des Schriftstellers befassen und nicht zwangsläufig von dessen Biografie ausgehen. Die Besucher schreiten oftmals nicht mehr kontemplativ in sich versunken einen vorgezeichneten Parcours durch eine Informations- und Exponatabfolge ab, sondern bekommen Angebote zur Auseinandersetzung präsentiert. Das können Objekte und Texte, aber längst auch multimediale und interaktive Stationen, Hands-ons oder Mitmachgelegenheiten sein. Gerade auch Literaturmuseen sind gut geeignet, diese Möglichkeiten zu nutzen. Das Medium der Literatur ist der Text, und dessen Inhalt ist im Gegensatz zur bildenden Kunst nicht von sich aus anschaulich. Häufig sieht man in musealen Präsentationen Bücher nur von außen oder auf der jeweils gerade aufgeschlagenen Seite. Der Betrachter bekommt von den Inhalten, für die das Exponat steht, immer nur einen kleinen Ausschnitt zu sehen. Die genuine Aufgabe der Vermittlung von Literatur sollte es also sein, die jeweiligen Inhalte und ihre Kontexte aufzuarbeiten, sodass sie rezipierbar werden. Es gilt, den Besucher zu motivieren, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen und Verbindungen herzustellen, sei es zu anderen Wissensinhalten oder auch zur eigenen Lebenswirklichkeit. Diese Notwendigkeit der Eigenmotivation zur Wissensaneignung ist vom Alter oder von der Bildungsschicht unabhängig – aktives Lernen bedarf deshalb der stetigen Aktivierung und Reaktivierung. Das Grimm’sche Werk sowie die Arbeitsweise legen vor dem Hintergrund des Gedankens des poetischen ›Allzusammenhangs‹ der Romantik ein solches Prinzip der Vernetzung und Kontextualisierung von Inhalten auch für ein Ausstellungskonzept nahe.

D ie A usstellung als erfahrbare W issensl andschaf t In jeder Ausstellung kann der Besucher einer vorgegebenen Route folgen, der eine eigens entwickelte Didaktik zugrunde liegt, oder von ihr abweichen und sich einen eigenen Weg suchen.20 Vielfach ist ein vorgegebener 20  |  Vgl. Martin Schuster: Lernen im Museum. In: Martin Schuster u. Hildegard Ameln-Haffke (Hg.): Museumspsychologie. Erleben im Kunstmuseum. Göttingen, Bern, Wien 2006, S. 83-102, hier S. 89.

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Weg durch eine Ausstellung im herkömmlichen Verständnis das sinnvollste Mittel zur Sicherstellung des Erkenntnisgewinns und Lernerfolgs. Ähnlich verhält es sich mit der Betrachtungszeit.21 Die Aufmerksamkeit kann gleichmäßig auf die dargestellten Inhalte verteilt und eine Ausstellung von dem Besucher auf diese Weise vollständig aufgenommen werden. Für jedes Ausstellungsangebot, unabhängig davon, ob es klassisch museal oder erlebnisorientiert ist, sollte jedoch bedacht werden, dass der Besucher eine individuelle Auswahl trifft. Der Ausstellungsraum der Grimmwelt Kassel wird zu einer begehbaren und zum Entdecken einladenden Wissenslandschaft. Die Struktur der Ausstellung wird deshalb das Glossar sein: Von A bis Z wird es der Systematik des Grimm’schen Wörterbuchs entsprechen, welches das Leben und die Arbeitsweise der Brüder wie kein anderes Werk repräsentiert. Die gewählten Oberbegriffe sind allesamt Lemmata aus dem Deutschen Wörterbuch. Diese auf die Grimms selbst zurückzuführende Struktur ermöglicht in der Vermittlung eine Wissensvernetzung, indem sie Kontexte eröffnet und das Themenfeld ›Grimm‹ facettenreich strukturiert. Darüber hinaus bietet sie Anknüpfungspunkte zur Vertiefung weiterführender Inhalte. Durch ihre Modularität ist sie innerhalb des inhaltlichen Grundgerüsts stetig veränder- und erneuerbar – und auch das ist für die Attraktivität von Ausstellungen langfristig nicht unwichtig. Das Glossar bildet ein Grundgerüst, das nunmehr mit Inhalten gefüllt werden kann. Dabei bleibt großer Gestaltungsspielraum. So können für unterschiedliche Inhalte verschiedene Möglichkeiten der Präsentation und Vermittlung gewählt werden, ohne dass der innere Zusammenhang der Ausstellung verloren geht; szenografische und inhaltliche Flexibilität werden ermöglicht. Die formale Vergleichbarkeit der Ausstellungsstruktur mit einer Mindmap verdeutlicht dies bildlich. So können verschiedene Vermittlungsmethoden, von der wissenschaftlichen Kontextualisierung von Originalen bis hin zur künstlerischassoziativen Präsentation, ein vielschichtiges Erfahrungsfeld schaffen. Die Angebote sprechen unterschiedliche Besucher an und können in ihrer Abwechslung zugleich die Aufmerksamkeit eines Besuchers aufrechterhalten. Ganz im Sinne des Gedankens des poetischen ›Allzusammenhangs‹ der Romantik wird der Ausstellungsbesuch von immer wieder neuen Angeboten der Wissensverknüpfung begleitet. Auf bereits 21  |  Vgl. ebenda, S. 90.

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vorhandene Information kann aufgebaut werden, ohne dass es eines zwingenden Nacheinanders bedarf. Eine Grundschulklasse wird in dieser Ausstellung ganz andere Schwerpunkte setzen können als eine weitgereiste Touristengruppe oder ein Germanistik-Seminar. Es geht um die dem jeweiligen Ausstellungsgegenstand angemessenen Mittel, die nicht bei einer linearen Erzählung im Modus des ›Es war einmal …‹ mit dem historischen Blick auf Leben, Werk und Wirkung stehenbleiben dürfen. Dabei soll der Intellekt ebenso angesprochen werden wie das Bedürfnis nach spielerischem Zugang. Die einzelnen Ausstellungsbereiche – allesamt mit Lemmata aus dem Grimm’schen Wörterbuch überschrieben und auf den ersten Blick in loser, weil nicht alphabetischer Reihenfolge – bieten Raum für Entdeckungen und eigene Wege. Die Grimmwelt Kassel schafft einen Ort, der als Ausstellungs-, Diskurs- und Erlebnisraum verstanden und genutzt werden kann. Auf diese Weise entfaltet sie ihre Wirkung im Kontakt mit den Besuchern: die Vermittlung wird zum Motor und Motivator. Einige beispielhafte Ausschnitte aus der aktuellen Ausstellungskonzeption sollen das veranschaulichen:

Ä wie Ärschlein Von Beginn an eine Lieblingsidee. In der Ausstellungskonzeption des Büros hürlimann + lepp heißt es dazu wörtlich: »Ärschlein steht für die ungeheure Poetik des Wörterbuchs, für den Reichtum an Wortwitz und die Kreativität der Etymologie. Das Grimm’sche Wörterbuch nahm als eines der wenigen und eines der ersten Wörterbücher auch vulgäre Sprache wie z.B. auch Schimpfwörter auf.«22 Vorstellbar für diesen Ausstellungsbereich ist hier eine Art Schimpfwörtertausch. Gegen ein eigenes Schimpfwort kann der Besucher ein Grimm’sches erhalten. Auch für Erwachsene wirkt das Übertreten eines gesellschaftlichen Tabus in einer Ausstellung sicherlich als Aufmerksamkeitsverstärker und bestärkt den Erlebnischarakter. Spielerisch und interaktiv wird hier transportiert, dass der eigene Wortschatz etwas Individuelles ist und durch verschiedene Faktoren wie Herkunftsregion, gesellschaftlichen Hintergrund und Alter mitgeprägt ist. Die historische Weiterentwicklung von Sprache, ihre Individualität und soziale Bedingtheit sind komplexe Sachverhalte, zu denen auf diese 22  |  hürlimann + lepp Ausstellungen: nicht veröffentlichte Ausstellungskonzeption zur Grimmwelt Kassel.

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Weise ein spielerischer Zugang ermöglicht wird. Die Schimpfwörter sind mithin eine Art ›Türöffner‹ zu sprachwissenschaftlichen Inhalten.

B wie Buch Das Buch steht – wie sollte es anders sein – unmittelbar oder mittelbar im Zentrum der Literaturvermittlung. Die Fülle der Grimm’schen Veröffentlichungen ist erheblich und beschränkt sich bei Weitem nicht auf die Märchen, die sich inzwischen wohl in Milliardenauflage und zahlreichen Sprachen über die ganze Welt verteilen, und das Deutsche Wörterbuch. Es kommen Sammlungen von Sagen verschiedener Herkunft, ebenso Mythen, Deutsche Rechtsalterthümer, eine Deutsche Grammatik und vieles mehr hinzu. Zudem arbeiteten sowohl Jacob als auch Wilhelm Grimm als Hof bibliothekare in Kassel. Bücher über Bücher begleiteten ihre Leben. Sie sind Träger eines spezifischen Inhalts und Schauobjekt zugleich. Die wertvollen Handexemplare der Märchen mit handschriftlichen Anmerkungen der Brüder Grimm sind eindrucksvolle Exponate (Abb. 3).

Abbildung 3: Handexemplar der Kinder- und Hausmärchen von 1812/1815 mit Korrekturen und Änderungen der Brüder Grimm (UNESCO Memory of the World) Faksimiles ermöglichen hier ein Blättern im Buch, da ein Anfassen der Originale aus konservatorischer Sicht nicht möglich ist. Andere Bücher

Die Ausstellung als Erfahrungsraum zwischen Assoziation und Zeugnis

hingegen können in die Hand genommen und wörtlich ›begriffen‹ werden. Das Buch als Objekt ist hier also ebenso Gegenstand der Betrachtung wie die Inhalte, die es birgt.

I wie Illuminieren Insbesondere die Märchen unterliegen einem starken Medienwandel. Sie gingen zunächst aus Mythen hervor, die mündlich überliefert wurden. Die Brüder Grimm haben sie auf- und umgeschrieben und in Buchform veröffentlicht – in der ersten Auflage noch ohne Illustrationen. Das ist heute schwer vorstellbar, hat doch jeder sofort Bilder vor Augen, wenn er an Frau Holle oder die sieben Zwerge Schneewittchens denkt. Über die letzten 200 Jahre hat sich eine eindrucksvolle Bandbreite an Illustrationen entwickelt. Den stehenden Bildern folgte der Film. Märchenverfilmungen sind zum eigenständigen Erzählformat geworden. Wenn man heute Kinder bittet, Aschenputtel zu erzählen, so geben sie in aller Regel den Film Drei Haselnüsse für Aschenbrödel wieder. Das Medium Film hat hier offenbar die Rolle der mündlichen Erzählung oder des Vorlesens übernommen. Die große Fülle an Neuverfilmungen der letzten Jahre – vom Kinderfilm bis zum Gruselschocker, der sich des Namens Grimm bedient – zeugt davon, wie sich die Verbreitung in das jeweils aktuelle niederschwellige Medium, heute also das Medium der bewegten Bilder, verlagert. Mit dem Medienwandel geht auch eine Veränderung der Ausstellungsexponate einher. Haben wir im Bereich Buch noch das Objekt als solches und auch im Bereich der Illustration noch vielfach das materielle Original, so sind wir spätestens mit dem modernen digitalen Film beim reproduzierten Medium angekommen. Die Zusammenstellung und der Zusammenschnitt verschiedener filmischer Aufnahmen ermöglichen einen Einblick nicht nur in die technische Entwicklung des Mediums, sondern ebenso in die jeweilige filmische Ästhetik der Zeit.

Z wie Zettel Die Brüder Grimm waren ›Großmeister‹ des ›Sich-Verzettelns‹. Sie legten für ihre Projekte, allen voran natürlich für das Deutsche Wörterbuch, gigantische Zettelsammlungen an, innerhalb derer sie notierten, ergänzten, korrigierten, assoziierten. Es entstand eine in sich vernetzte Papierfülle als flexible Wissensordnung, die heute für die meisten sicherlich

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nur noch digital zu bewältigen wäre. Mit großer Sorgfalt und Disziplin strukturierten die Grimms die Ergebnisse ihrer Forschungen in Notizbüchern, Manuskripten und auf unzähligen kleinen Zetteln in einer nie abzuschließenden Ordnung. Als Objekte sind diese Zettel ob ihrer Inhalte wie auch ihrer schieren Fülle eindrucksvoll. Gleichzeitig fordern sie eine Strukturierung mit den heutigen technischen Möglichkeiten, folglich eine Übersetzung in unsere eigene Lebenswirklichkeit, geradezu ein. Der Zettel wird in der Ausstellung zum strukturellen ›Elementarteilchen‹, er wird zum Symbol für die Arbeitsweise der Brüder Grimm und unsere heutige Beschäftigung mit ihrem Werk. Aus diesem Grund beginnt die Ausstellung der Grimmwelt nicht bei A und endet bei Z, sondern das Z bildet mit dem Lemma ›Zettel‹ den Ausgangspunkt der Ausstellung. Von dort aus entwickeln sich die Ausstellungsbereiche und Grimm’schen Lemmata nicht ihrer Reihenfolge im Alphabet nach weiter, sondern werden zum Sinnbild des kontextbezogenen und vernetzten Arbeitens der Brüder Grimm – ein Verfahren, das sich auf den Ausstellungsbesuch wie auch auf die Vermittlung in der Grimmwelt Kassel überträgt.

Bildnachweis Abbildung 1: kadawittfeldarchitektur, Aachen Abbildung 2: Holzer Kobler Architekturen, Zürich und Berlin Abbildung 3: Stadt Kassel (Foto: Daniel Rothen)

Was will der Kritiker im Museum? Versuch einer Entschleunigung Hubert Spiegel Es ist nun fast 240 Jahre her, dass Johann Wolfgang Goethe erstmals Weimarer Boden betreten hat.* Was danach geschah, bis sein Leben dort im Jahr 1832 endete, wissen wir. Aber was wäre wohl geschehen, wenn Goethe Weimar nie betreten hätte? Die historischen Tatsachen sind bekannt: Goethe hatte 1774 in Frankfurt den jungen Herzog kennengelernt, der ihm eine Einladung nach Weimar ankündigte. Nun wartete Goethe in Frankfurt auf den Boten Carl Augusts, und als dieser nicht kam, setzte er seinen Plan fort und machte sich auf den Weg nach Italien. Er war gerade einmal bis Heidelberg gekommen, da erreichte ihn der Bote doch noch. Goethe brach den italienischen Ausflug ab und reiste nach Weimar, wo er am 7. November 1775 gegen fünf Uhr morgens eintraf. Soweit die allen bekannte Geschichte. Was nun folgt, ist reine Spekulation. Nehmen wir einmal an, der Bote aus Weimar hätte Goethe verpasst. Goethe hätte seine begonnene Reise Richtung Süden fortgesetzt, wäre nach Italien gegangen und der noch junge Kontakt nach Weimar, soeben erst geknüpft und so abrupt abgebrochen, wäre nie wieder aufgenommen worden. Hätte dann im Jahr 2013 eine Tagung zum Thema Literaturvermittlung in Weimar stattgefunden? Das können wir nicht wissen. Es gab andere bedeutende Köpfe in der Stadt: Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland zum Beispiel. Aber ohne Goethe wäre Friedrich Schiller vermutlich nie nach Weimar gekommen, es gäbe keine Klassik Stiftung Weimar, kein Goethe- und kein Schillerhaus in dieser Stadt und auch kein Goethe- und Schiller-Archiv. *  |  Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags ist am 24. November 2013 auf den Online-Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen. URL: http://faz.net/ aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten/entschleunigung-das-museum-als-insel12676716-p4.html, letzter Zugriff am 14.01.2015.

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Fünf Millionen Blatt liegen dort in dem im Jahr 2012 nach umfangreicher Sanierung wiedereröffneten Archivbau. Bevor ich gleich auf das Goetheund Schiller-Archiv zurückkomme, machen wir einen kurzen Sprung von Weimar nach Istanbul. Ich möchte Ihnen zwei von insgesamt elf Paragrafen vorstellen, die der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk unter dem Titel Ein bescheidenes Museumsmanifest verfasst hat. Auch auf Pamuk, sein Manifest und das Museum, das damit zusammenhängt, werde ich noch zurückkommen. Wenn ich im Rahmen meiner Ausführungen nun von Museen und Archiven spreche, so bin ich mir durchaus bewusst, dass sich die einzelnen Institutionen unterscheiden. Dennoch werde ich vermutlich nicht immer ganz trennscharf formulieren. Zumindest in diesem Beitrag werde ich all diese Orte und Institutionen – Literaturmuseen, Archive, Dichterhäuser und literarische Gedenkstätten – weitgehend über einen Kamm scheren. Oder sagen wir lieber: über zwei Kämme. Ich meine den Kamm der literarischen Erinnerungs- und Gedenkkultur sowie den Kamm der Vermittlung von Literatur und Literaturgeschichte. Jetzt aber zum Manifest, zu Orhan Pamuks Bescheidenem Museumsmanifest: 1. In Museen, die wie der Louvre oder die Eremitage aus kaiserlichen oder königlichen Palästen entstanden sind, die dem Volk zugänglich gemacht wurden und sich danach zu Touristenattraktionen und nationalen Symbolen entwickelt haben, wird die Geschichte eines ganzen Volkes weit über die Geschichte des einzelnen gestellt. Dabei ist der einzelne zur Darstellung wahren Menschentums weit besser geeignet. 2. Zwischen dem Übergang von Palästen zu nationalen Museen und der Entwicklung vom Epos hin zum Roman besteht eine deutliche Parallele. Doch entsprechen zwar die alten Königsepen den Palästen, in denen ihre Helden lebten, aber staatliche Museen sind so gar nicht wie Romane.1

Wenn wir die äußere Hülle des Goethe- und Schiller-Archivs betrachten – dasselbe gilt übrigens ganz ähnlich für das wenige Jahre jüngere Gebäude des Schiller-Nationalmuseums in Marbach am Neckar –, dann fällt sofort der Einfluss feudaler Architektur auf (Abb. 1). 1  |  Orhan Pamuk: Ein bescheidenes Museumsmanifest. In: Ders.: Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul. München 2012, S. 54-57, hier S. 55.

Was will der Kritiker im Museum?

Abbildung 1: Außenansicht des Goethe- und Schiller-Archivs Nicht ganz der Louvre, aber immerhin. Wir haben es ganz offensichtlich mit Repräsentationsbauten zu tun, die in Stil und Ausmaß an Schlösser oder doch zumindest an Landsitze oder ein Stadtpalais erinnern. Die Lage, erhöht über der Ilm und hoch über dem Neckartal, ist exponiert, die Innenausstattung alles andere als bürgerlich. Als das Goethe- und Schiller-Archiv 1896 eröffnet wurde, gab es darin einen Raum, wie man ihn in später errichteten Archiven vergeblich suchen wird: Es war ein Salon, eingerichtet nach den Wünschen und für die persönlichen Bedürfnisse von Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach. Sie hatte drei Jahre zuvor eine Skizze zu Papier gebracht, der Otto Minckert, der Architekt des Archivgebäudes, gefolgt ist, weil er ihr zu folgen hatte. Der Grund liegt auf der Hand: Die Großherzogin war die Bauherrin. Sie ließ das Gebäude über der Ilm für ihren persönlichen Besitz errichten. Das klingt seltsam, ist aber wahr: Walther von Goethe, der letzte Nachkomme des Dichters, bestimmte 1883 in seinem Testament den Staat Sachsen-Weimar-Eisenach zu seinem Erben. Walther von Goethe starb am 15. April 1885, und schon am Tag darauf besuchte Großherzog Carl Alexander das Haus am Frauenplan. Dabei handelte es sich jedoch nicht, wie man erwarten könnte, um einen Kondolenzbesuch. Der Großherzog, der Goethes Geburtstag zum Tag seines Regierungsantritts bestimmt hatte, kam, um Inventur zu machen. Vier Monate später begründete er das Goethe-Nationalmuseum. Das Großherzogliche Haus hatte die Häuser und Sammlungen Goethes

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geerbt, dessen ganzer schriftlicher Nachlass jedoch war in den privaten Besitz von Großherzogin Sophie übergegangen. Und nun passiert etwas Erstaunliches. Aber bevor ich dazu komme, will ich den Versuch wagen, Sie davon zu überzeugen, dass die bisherigen Ausführungen tatsächlich mit dem Thema Was will der Kritiker im Museum? Versuch einer Entschleunigung in Verbindung stehen. Was ich über die Geschichte des Goethe- und Schiller-Archivs weiß, weiß ich aus Anlass der Wiedereröffnung des Goethe- und Schiller-Archivs nach dreijähriger Sanierungsarbeit im Juli 2012, über die ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berichtete.2 Ich kam damals in den Genuss eines Rundgangs durch das Haus in Begleitung des Archivdirektors Dr. Bernhard Fischer. Ich gehe gern in Archive, Museen, Literaturhäuser und literarische Gedenkstätten. Jegliche Form von kultischer Dichterverehrung ist mir fremd, vielleicht interessiert mich das Thema deshalb so sehr. Aber mich interessiert mehr daran als der offensichtliche Aspekt der Verehrung. Ich gehe in Archive und Museen, um darüber zu schreiben. Das ist Teil meiner journalistischen Arbeit. Und ich gehe in Museen und Archive, weil ich sie als Reflexionsräume schätze. Diese Orte geben mir Anlass und Möglichkeit, über verschiedene Bereiche und Aspekte meiner Tätigkeit nachzudenken. Dabei geht es, um einige Stichworte zu nennen, um Bewertung, Historisierung, Überlieferung und Kanonisierung von Literatur. Es geht aber auch um Speichermedien, sich wandelnde Präsentationsformen, ökonomische Markt- und Rahmenbedingungen, um die gesellschaftliche Relevanz von Literatur und ihren Produzenten, um Begriffe wie Original, Handschrift, Autograf, Aura, Objekt oder Reliquie. Sie sehen, das ist ein weites Feld. Jetzt werden Sie vielleicht fragen, ob all dies mich nicht sehr weit von meinem Alltagsgeschäft in der Redaktion wegführt. Meine Antwort lautet: Ja und Nein. Archive und Museen sind für mich nicht nur Reflexionsräume, sondern auch Referenzräume. Das bedeutet nicht, dass ich ins Goethe- und Schiller-Archiv fahre, bevor ich mein Urteil über einen neuen Roman von Ralf Rothmann, John Burnside oder Kazuo Ishiguro fälle. Aber ich versuche durchaus, mir bei meiner täglichen Arbeit der Rolle bewusst zu sein, die die Literaturkritik im Geflecht jener Instanzen einnimmt, die beim vielschichtigen Prozess der Kanonisierung mitspielen. 2  |  Hubert Spiegel: Ein Palast für Goethes Papierkram. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Juli 2012, S. 3.

Was will der Kritiker im Museum?

Verlage, Kritiker, Museen, die Literaturwissenschaft, Archive und Akademien – vor allem solche, die Literaturpreise vergeben – sind allesamt Akteure im Prozess der Kanonisierung, den ich hier ganz wertfrei und gewiss nicht als Kampf begriff eines konservativen Literaturverständnisses verwende. Kurz und gut, warum nun geht der Kritiker ins Museum? Nicht zuletzt, um sich seines eigenen historischen Standortes bewusst zu werden und den Standort seines Metiers zu bestimmen. Museen reflektieren historische Prozesse und Entwicklungen und bilden diese ab. Mit dem Museum verbinden wir aber auch die Vorstellung von einer abgeschlossenen Epoche. Museen sind widersprüchliche Orte. Wir erfahren sie als Maschinen, die uns Zeitreisen ermöglichen, und zugleich als Orte, in denen der dynamische Prozess des kulturellen Wandels aufgehoben ist. Hier scheint die Zeit stillzustehen. Mit dem Soziologen Hartmut Rosa könnte man Museen und Archive als »Entschleunigungsinseln« verstehen.3 Rosa spricht in seinem Buch Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne von fünf Kategorien der Beharrung. Museen und Archive fallen meiner Ansicht nach sogar in gleich zwei dieser Kategorien. Sie sind »Entschleunigungsinseln« oder sogar »Entschleunigungsoasen«, um einen anderen schönen Begriff Hartmut Rosas zu gebrauchen, sie gehören aber auch in die Kategorie intentionaler Entschleunigung.4 Denn sie sind Orte, an denen Entschleunigung als Akzelerationsstrategie betrieben wird: »Solche Verlangsamungsstrategien können bisweilen unhintergehbare Voraussetzung für die weitere Beschleunigung anderer Prozesse sein. Sie werden sowohl von individuellen Akteuren als auch von gesellschaftlichen Organisationen eingesetzt.«5 Zumindest in diesem Sinne gehören Museen, Yoga und Anti-Stress-Kurse in dieselbe Kategorie. Aber auch Museen altern, und wenn dieser Alterungsprozess allzu augenscheinlich geworden ist, werden Rufe nach einer neuen Dauerausstellung immer dringlicher. Wie lange kann sich

3 | Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M. 2005, S. 143. 4  |  Er kategorisiert in »Natürliche Geschwindigkeitsgrenzen«, »Entschleunigungsinseln«, »Verlangsamung als dysfunktionale Nebenfolge«, »Zwei Formen intentionaler Entschleunigung« sowie »Strukturelle und kulturelle Erstarrung«. Vgl. ebenda, S. 138-153. 5  |  Ebenda, S. 149. Hervorhebung im Original.

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heute eine Dauerausstellung als »akzelerationsresistente Praxisform«,6 wie es bei Rosa heißt, halten, bevor sie sich dem Modernisierungsdruck ergeben muss? Zwanzig Jahre? Oder nur zehn oder fünfzehn? Wir kehren gleich zur Großherzogin Sophie zurück, doch möchte ich zuvor noch ein Beispiel für einen Beschleunigungsprozess aus der Literaturbranche geben. In den letzten zwei Jahrzehnten konnten wir drei verschiedene Konzentrationsprozesse beobachten: Zuerst im Bereich der Verlage, dann im Buchhandel und schließlich, abzulesen am Käuferverhalten, im Bereich des Verkaufs, der direkt die Autoren betrifft und für die Produktion nicht folgenlos ist. Die Anzahl der Buchkäufe bleibt in etwa konstant, verteilt sich aber auf immer weniger Titel. Wenn in einem Zeitraum x Hundert Millionen Bücher verkauft werden, aber davon fünfzig Millionen zum Beispiel auf die Harry-Potter-Bände entfallen, hat das spürbare Folgen für viele Schriftsteller. Der Umsatz verteilt sich auf immer weniger Akteure. Offensichtlich hat der Literaturbetrieb, wenn man diesen unscharfen Begriff hier verwenden mag, seit spätestens Mitte der 1990er Jahre einen spürbaren Ökonomisierungsschub erfahren, der sich zum Beispiel daran zeigt, dass zunächst unveröffentlichte Manuskripte und dann zunehmend Exposés ungeschriebener Bücher verauktioniert werden. Verleger bezahlen zum Teil hohe sechsstellige Beträge für Bücher, die noch gar nicht geschrieben sind. Mit diesem Befund konfrontiert, ist es hilfreich, ein wenig über die Geschäftsgepflogenheiten früherer Zeiten zu wissen. Wenn ich weiß, was Dorothea Kuhn in Cottas Verlagsarchiv, das übrigens den Gründungsbestand des Deutschen Literaturarchivs in Marbach ausmacht, über Goethes Preispoker im Zusammenhang mit seiner Ausgabe letzter Hand so alles herausgefunden hat, dann ist das hilfreich bei der Beurteilung des konstatierten Ökonomisierungsschubs.7 Die Ökonomisierung der Literatur, die zu Goethes Zeiten einsetzte, ist von Autoren seitdem immer wieder als ambivalent empfunden worden. Mancher sieht darin vor allem die Trivialisierung seines Metiers. Wenn ich wissen möchte, ob mit Ökonomisierungsschüben womöglich eine Re-Auratisierung bestimmter literarischer Bereiche einhergeht, dann komme ich al6  |  Ebenda, S. 143. 7  |  Vgl. Dorothea Kuhn (Hg.): Cotta und das neunzehnte Jahrhundert. Aus der literarischen Arbeit eines Verlages. Ausstellungskatalog Schiller-Nationalmuseum und Deutsches Literaturarchiv Marbach. Marbach a.N. 21995.

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lein im Archiv nicht weiter. Dann muss ich dorthin gehen, wo eine solche Re-Auratisierung möglicherweise stattfinden könnte. Welche Orte sind das? Welche Instanzen könnten in der Lage sein, eine Auratisierung, ReAuratisierung oder De-Auratisierung zu betreiben? Diese interessante Frage führt uns bald zu Orhan Pamuk, zunächst aber direkt zu Großherzogin Sophie zurück. Sie erinnern sich: Walther von Goethe stirbt, das Großherzogtum erbt die Häuser und Sammlungen, die Großherzogin den schriftlichen Nachlass. Und nun passiert Folgendes: Sophie lässt die so genannten Könneritz-Zimmer im Weimarer Schloss freiräumen und sämtliche Manuskripte, Entwürfe, Exzerpte, Tagebücher aus sechs Jahrzehnten, 13.400 an Goethe gerichtete Briefe, Kalendarien, Notizbücher und die Autografensammlung mit Stücken von George Washington, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven dort hinbringen. Viel ›Kruscht‹ also, wie der Schwabe Schiller gesagt hätte. Heute umfasst dieser Bestand etwa 240.000 Blatt. Bevor die Großherzogin im Herbst des Jahres 1885 den ersten Direktor des von ihr begründeten Goethe-Archivs beruft, bevor sie drei Philologen mit einer wissenschaftlich fundierten Gesamtausgabe, der Sophien-Ausgabe in 143 Bänden, beauftragt und den bereits erwähnten Entwurf für das Gebäude zu Papier bringt, bevor sie all das tut, zieht sie sich in ihre Gemächer zurück. Sie liest. Und sie liest mit dem Radiergummi in der Hand. Sie säubert Goethes schriftlichen Nachlass. Man kann sich die Spuren dieser Lektüre noch heute zeigen lassen – halbe Seiten in Goethes Notizbüchern kurzerhand ausradiert, ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod. Was mag dort gestanden haben? Klatsch, Tratsch, Erotisches, als diffamierend Empfundenes? Wen oder was wollte die Großherzogin schützen? Die Familie, den Hof oder Goethe selbst? Ein allgemeines sittliches Empfinden? Wie auch immer, was dort stattgefunden hat, war nicht einfach nur Zensur – es war ein literaturpolitischer Akt. Klassikerpflege mit dem großherzoglichen Radiergummi. Die Baukosten für das Archiv trug die Großherzogin übrigens aus ihrer Privatschatulle. Schillers Erben folgten dem Beispiel Walther von Goethes 1889 und gaben seinen Nachlass nach Weimar – auch dies eine vorausschauende literaturpolitische Handlung, die den drohenden archivarischen Alleingang Goethes verhindern sollte. Allianzen werden auch im Archiv geschlossen oder bekräftigt und erneuert. Ich darf noch einmal an Paragraf eins von Orhan Pamuks Museumsmanifest erinnern:

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In Museen, die wie der Louvre oder die Eremitage aus kaiserlichen oder königlichen Palästen entstanden sind, die dem Volk zugänglich gemacht wurden und sich danach zu Touristenattraktionen und nationalen Symbolen entwickelt haben, wird die Geschichte eines ganzen Volkes weit über die Geschichte des einzelnen gestellt. Dabei ist der einzelne zur Darstellung wahren Menschentums weit besser geeignet. 8

Das Goethe- und Schiller-Archiv ist Deutschlands ältestes Literaturarchiv und verdankt sich der Initiative einer Herrscherfamilie. Es erinnert wie beschrieben in seiner äußeren Hülle an einen feudalen Wohnsitz und kann doch bereits als eine Vorform dessen verstanden werden, was Orhan Pamuk fordert. Als Goethe-Archiv, wie es ursprünglich ja geplant war, hätte es die Geschichte eines Einzelnen über die Geschichte eines Volkes gestellt. An dieser Stelle müsste eigentlich ein Exkurs zur Marbacher Schillerhöhe folgen, die ja früh als eine Art schwäbischer Dichter-WG angelegt wurde mit Friedrich Schiller, Eduard Mörike, Ludwig Uhland, Gottfried Kerner – alle unter einem Museumsdach. Auch eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Dichtergedenkstätten und Wohnhäusern wäre reizvoll. So werfen etwa die Wohnhäuser Goethes und Schillers in Weimar und das Jünger-Haus in Wilflingen viele interessante Fragen auf, allen voran jene, ob wir es in diesen Häusern mit Authentizität am verbürgten Ort oder der Re-Inszenierung einer vom Dichter selbst schon betriebenen Inszenierung zu tun haben. Eines haben diese ehemaligen Dichterwohnstätten, die jetzt als Dichtergedenkstätten betrieben werden, gemeinsam: Sie sind akzelerationsresistente Praxisformen in Rosas Sinne. Als ich diese Formulierung zum ersten Mal las, habe ich mich gefragt, ob es nicht genau das ist, worum es auch unseren Gegenwartsautoren geht: akzelerationsresistente Praxisformen auszubilden. Mit anderen Worten: Wie werde ich ein Klassiker? Unter allen Instanzen und Institutionen, die zur Kanonisierung eines Autors oder eines seiner Werke beitragen, gehört die Literaturkritik zu den frühesten Akteuren. In der Chronologie des Kanonisierungsprozesses folgt sie auf den Verlag, der ein Manuskript zur Publikation angenommen hat und sich danach um einen möglichst ausgedehnten Vertrieb bemüht. So war es jedenfalls bis vor Kurzem, und noch immer ist ein solches Verfahren die Regel, auch wenn sich mittlerweile durch das Internet 8  |  Orhan Pamuk: Ein bescheidenes Museumsmanifest (Anm. 1), S. 55.

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neue, andere Verfahren zu etablieren beginnen. Der Traum des Autors, sich von allen anderen Akteuren der Literaturvermittlung gänzlich unabhängig zu machen und Herr über das eigene Werk – nicht nur im Prozess seiner Produktion, also im Schreibakt, sondern auch in der Vermarktung, der Distribution und schließlich der Rezeption – zu sein, ist alt und treibt mitunter seltsame Blüten, wie sich in Schriftstellertagebüchern und in Briefwechseln nachlesen lässt. In seinem Reisebericht Paris, 26./27. Oktober 1994 hat Siegfried Unseld festgehalten, was sich zutrug, als er Peter Handke besuchte, um ihm das erste Exemplar von dessen neuem Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht zu überreichen: Zwanzig Minuten lang wurde kein Wort gewechselt. Er berührte, streichelte das Buch, den Umschlag, las den Klappentext vorne und hinten, studierte die Titelseite, tastete das Papier, das ihm sehr gefiel, roch daran, blätterte, las und nickte zustimmend. Schließlich: ›wunderbar‹. […] Das freundlich verlaufende Gespräch geriet in eine Schwierigkeit, als Handke nach der Erstauflage fragte: 20.000. Warum so zaghaft? Schließlich seien seine Bücher früher immer mit 40.000 erstaufgelegt worden, und auch die ›Versuche‹ stets mit mindestens 25.000 Exemplaren. Ich wies auf die Vorbestellungen des Buchhandels hin, Reaktion des Marktes. Das wollte Handke nun nicht gelten lassen, und ich meine, er hat einen überzeugenden Gesichtspunkt, den wir uns zu eigen machen sollten: dies ist Literatur. Das ist die Restitution des Epischen. Das ist die Wiederherstellung des Erzählerischen. Er, Handke, ist überzeugt, daß sich der Markt dem fügen werde. Ich mußte ihm recht geben. 9

In der immateriellen Welt des Internets lassen sich Allmachtsfantasien von Literaturproduzenten leichter verwirklichen, und wahrscheinlich werden wir noch erleben, dass völlig erfolglose, weithin unbekannte Autoren sich ihre eigenen virtuellen Ruhmeshallen im Internet einrichten oder private digitale Dichterhäuser und Literaturmuseen entstehen: ein in Eigenregie des Namensgebers betriebenes Max-Müller- oder Gabi-Mustermann-Nationalmuseum im Netz. Und warum auch nicht? Was ist dagegen einzuwenden, wenn ein Autor den Vermittlungsinstanzen nicht vertraut, wenn ihm die Mühlen der Kanonisierung viel zu langsam mahlen und er nicht erst den späten Honig des Nachruhms kosten möchte? 9  |  Peter Handke. Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger u. Katharina Pektor. Berlin 2012, S. 640f.

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In den letzten Jahren mag mancher Autor, vor allem aber mancher noch nicht bekannte, geschweige denn etablierte Autor von literarischen Texten, sich das folgende Szenario ausgemalt haben: Er stellt seinen Text ins Netz, in der allein von ihm bestimmten Form. Dort wird er so häufig kostenpflichtig heruntergeladen, dass der Autor nicht nur wohlhabend, sondern auch so berühmt wird, dass die konventionellen Institutionen des Literaturbetriebs nicht umhinkommen, den Netzschriftsteller mit den Insignien des Erfolgs zu versehen: Es folgen Lesungen, Festivals, zahllose Auftritte, Interviews, literarische Preise und so weiter, bis es von der immateriellen Welt des Internets zurück in die materielle Welt der Gesamtausgaben und schließlich der Dichtergedenkstätten geht. Aber das Geschäft der konsequenten Selbstkanonisierung ist mühsam und auch so kostspielig, dass es vermutlich nur denen möglich ist, die es nicht mehr nötig haben – Nobelpreisträgern zum Beispiel. Günter Grass hat sich in Lübeck ein eigenes Denkmal gesetzt, das Günter Grass-Haus, und auch dafür gesorgt, dass heute in unmittelbarer Nachbarschaft dazu das Willy-Brandt-Haus steht, obwohl Brandt in einem ganz anderen Stadtteil Lübecks geboren wurde. Auch Standortpolitik ist Literaturpolitik. Noch anders stehen die Dinge im Fall von Orhan Pamuks Museum in Istanbul. Sein 2008 erschienener Roman Das Museum der Unschuld ist wohl der einzige Roman, dem ein eigenes, vom Verfasser selbst errichtetes Museum gewidmet ist, nämlich jenes Istanbuler Museum der Unschuld, dessen Entstehungsgeschichte im Buch ausführlich beschrieben wird.10 Im Roman ist das Museum das Monument der Liebe Kemals zu Füsun. In der Realität ist das Haus, das selbst in der an Attraktionen nicht gerade armen Metropole Istanbul eine Besonderheit darstellt, weit mehr: Es ist das Denkmal, das sich ein Dichter selbst errichtet hat, das kuriose Dokument einer ausufernden Sammelleidenschaft und das erste und einzige Museum für die Alltagskultur der westlich orientierten Türkei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wer die verschlungene, über drei Jahrzehnte währende Entstehungsgeschichte dieses einzigartigen Projekts der Weltliteratur nachvollziehen möchte, sollte den 2012 erschienenen Bildband Die Unschuld der Dinge zur Hand nehmen. Es handelt sich dabei um ein wunderschön gestaltetes Werk, das eine Art Museumskatalog und zugleich den reich illustrierten Bericht über die

10  |  Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld. München 2008.

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Genese dieses Projekts darstellt.11 Erst mithilfe dieses Bandes lässt sich ganz erfassen, was Orhan Pamuk eigentlich mit seinem ungewöhnlichen Projekt bezweckt und auf welch verschlungenen Wegen der Ehrgeiz eines Schriftstellers, die Obsession eines Sammlers, die Leidenschaft eines Ethnologen, der Stolz eines bekennenden Istanbulers und die alles überwölbende Melancholie eines Liebenden dabei ineinandergreifen. Das größte, teuerste und wichtigste Stück der Sammlung ist das Haus selbst: Es steht in der Çukurcuma-Straße in Istanbul (Abb. 2).

Abbildung 2: Außenansicht des Museums der Unschuld 11  |  Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1).

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Erbaut wurde das Gebäude 1897, gekauft hat es Orhan Pamuk 1999. Dann dauerte es noch einmal zwölf Jahre, bevor hier im Frühjahr des Jahres 2012 das lange angekündigte Museum der Unschuld eröffnet werden konnte. Damit ist Pamuks Traum wahr geworden: Das fiktive Wohnhaus der Romanheldin Füsun und das fiktive Museum, das die Romanfigur Kemal im Buch dem Andenken seiner großen Liebe errichtet – beide sind Wirklichkeit geworden. Triumphiert hier also die Literatur endlich einmal über die Realität? So einfach ist es nicht. Man kann das Museum besuchen, ohne den Roman vorher gelesen zu haben, und umgekehrt den Roman lesen, ohne sich für das reale Museum zu interessieren. Dass beides auch unabhängig voneinander existieren kann, gehörte früh zu Pamuks Plan, dessen Anfänge bis in das Jahr 1982 zurückreichen. Damals lernte Pamuk einen Osmanenprinzen kennen, einen Urenkel von Sultan Murat V., der lange im Exil gelebt und in Alexandria zuerst jahrelang als Kartenabreißer und schließlich als Leiter des Museums Villa Antoniadis gelebt hatte. Nun wollte er zurück in die alte Heimat, wusste aber nicht, womit er seinen Lebensunterhalt verdienen könne. Aus der Idee, der Prinz könne gleichsam als lebendes Inventar in jenem inzwischen zum Museum umgebauten Ihlamur-Pavillon arbeiten, den er in seiner Kindheit selbst bewohnt hatte, wurde zwar nichts, aber Pamuk hatte nun die Keimzelle für seinen Roman: Das Museum der Unschuld sollte von einem Menschen handeln, der in einem Museum Führer und Ausstellungsstück zugleich war. Viele Jahre lang hat Pamuk für sein Museum gesammelt und auf Flohmärkten und bei Trödlern Gegenstände gekauft, die in seinem Roman vorkommen sollten. Da damals jedoch die Kultur des Sammelns in der Türkei noch nicht verbreitet war und er nicht wie ein schrulliger Horter alten Plunders wirken wollte, verschwieg er die Gründe, aus denen er alte Fotografien, Werbeplakate, Lippenstifte, Zuckerdosen, Damenschuhe, Ohrringe und unzählige andere Objekte mehr kaufte, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Pamuk stattete damit nicht nur sein Museum aus, sondern trug zugleich auch das Inventar zusammen, mit dem sich die westlich orientierten Kreise der Istanbuler Jeunesse dorée der 1970er Jahre umgeben hatten. So entstand ein ebenso poetisches wie genaues Abbild türkischer Alltagskultur jener Jahre, das Pamuk sogar ideologisch unterfüttert. Die Philosophie des Museums, die Kemal im Roman entwickelt, hat ebenso Eingang in das Haus gefunden wie die mit Spuren von Lippenstift

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versehenen Zigarettenkippen, die Füsun geraucht und Kemal auf bewahrt hat, wie er alles auf bewahrte, womit die schöne Füsun in Berührung gekommen war: ihren Führerschein, ein Teeglas, eine Süßigkeit, die sie am Bosporus bei einem Straßenhändler gekauft hatte. Sogar die Lebensmittel, die im Roman vorkommen und typisch für jene Zeit waren, hat Pamuk aus Kunststoff nachbilden lassen und in seine Vitrinen gestellt. Manche davon gleichen Stillleben, andere erinnern an die Objets trouvés der Surrealisten bis hin zu den Collagen von Joseph Cornell. Was geschieht in Pamuks Museum mit der Materialität von Literatur? Was geschieht mit dem Begriff der Authentizität, wenn ein Schriftsteller Künstlern den Auftrag erteilt, Gegenstände herzustellen, die eine fiktive Romanfigur besessen hat? Ist der Entschluss Pamuks, die Dingwelt seines Romans, die eine Literarisierung der Dingwelt einer bestimmten sozialen Schicht Istanbuls in einer bestimmten historischen Epoche darstellt, im Museum materiell zu rekonstruieren und auszustellen, der Versuch, eine akzelerationsresistente Praxisform zu etablieren? Ganz bestimmt. Ist es der Versuch, sich zu Lebzeiten des Klassikerstatus zu versichern? Auch das. Ist das Museum, das eine westlich orientierte Alltagskultur dokumentiert und feiert, nicht auch eine dezidiert politische Aussage angesichts der Verhältnisse in der heutigen Türkei? Ich glaube schon. So möchte ich zum Abschluss noch zwei Paragrafen aus Pamuks Museumsmanifest zitieren. Zunächst Paragraf acht: Alle Subventionen, die großen, symbolträchtigen Museumsstätten zufließen, sollen statt dessen an kleine Museen gehen, in denen die Geschichten einzelner Menschen erzählt werden. Mit solchen Ressourcen sollen auch Privatpersonen gefördert und dazu angeregt werden, ihr Heim und ihre Geschichte zu ›musealisieren‹.12

Und Pamuks elfter und letzter Paragraf lautet: »Die Zukunft der Museen liegt in unseren Wohnungen und Häusern.«13 Das Literaturhaus Frankfurt ist übrigens vor einiger Zeit dazu übergegangen, Lesungen nicht mehr ausschließlich in den eigenen, recht prachtvollen Räumen zu veranstalten, sondern regelmäßig auch in den Privatwohnungen von Mitgliedern des Fördervereins des Literaturhauses.

12  |  Ebenda, S. 56. 13  |  Ebenda, S. 57.

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Wenn man Pamuks Manifest kennt, sieht man derlei Initiativen plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Bildnachweis Abbildung 1: Klassik Stiftung Weimar, Fotothek (Foto: Jens Hauspurg) Abbildung 2: All rights belong to The Museum of Innocence

II. Materialität in der Literaturvermittlung

Was bedeutet die Materialität der Literatur für die Literatur(-ausstellung)? Ein Versuch Sebastian Böhmer

Versteht man Literatur, wie es über einen sehr langen Zeitraum geschehen ist, als eine Folge codierter sprachlicher Zeichen, die im Prozess des Lesens verschwinden und etwas ›Inneres‹, beispielsweise Imagination auslösen, dann interessiert man sich für die Materialität der Literatur zunächst einmal nur im hegelianischen Sinne eines Trägers, der historisch zufällig und beliebig austauschbar ist. Dieser Speicher muss dann gepflegt werden, um das immaterielle ›Eigentliche‹, die Bedeutung, zu bewahren. Dass Schriftträger – beispielsweise Papier, Steine, Pergamente – materielle Objekte sind, wird zwar nicht vergessen, bleibt aber irrelevant, solange nur die Signifikate abruf bar bleiben. Auch ein Einfluss des Materials auf den metaphysisch konzeptualisierten Sinn wird negiert. Solche Formen der Materialitätsverkennung kommen besonders in Epochen vor, die den Sinn verherrlichen und die irdischen Dinge als bloße Signifikanten verachten. Einen Höhepunkt stellt sicher die Aufklärungsepoche mit ihren Folgeerscheinungen dar, exemplarisch der englische Chemiker Sir Humphrey Davy. Von ihm wird erzählt, dass er Bücher nach dem Lesen weggeworfen habe mit der Begründung, niemand hätte Zeit, ein Buch zweimal zu lesen.1 In den letzten vierzig Jahren haben sich verschiedene neue Fragestellungen entwickelt, die das Verhältnis von der Materialität eines Texts in Bezug auf dessen Sinn zu definieren versuchen. Wesentliche Impulse 1  |  Vgl. Derek J. de Solla Price: Little science, big science. Von der Studierstube zur Großforschung. Frankfurt a.M. 1974, S. 26.

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hierfür gingen von den Buchwissenschaften und der Editionsphilologie aus, weil diese Disziplinen sich schon per definitionem mit Materialität auseinandersetzen müssen. Auch die poststrukturalistische und dekonstruktivistische Philosophie hat sich seit den 1970er Jahren mit diesem Phänomen auseinandergesetzt, das heute als material turn in den Geistes- und Kulturwissenschaften kursiert und einen Teil einer weit gefassten Kritik an einer logozentristischen, also einer rein am Sinn und am (lautsprachbasierten) Denken interessierten Kulturkonzeption darstellt. Die Philosophen, das ist keine Überraschung, beschäftigen sich allerdings selten mit dem konkreten Material, also den Dingen selbst, sondern verbleiben gewöhnlich beim Sprechen beziehungsweise Schreiben über die Dinge. Für die Literaturwissenschaft könnte man das Jahrzehnt um 1990 als entscheidende Zeit nennen. Damals erschienen die Tagungsbände Materialität der Kommunikation (1988) und Schrift (1993), herausgegeben von Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer.2 In ihnen wurden die wichtigsten medien- und materialtheoretischen Forschungspositionen aus verschiedenen Disziplinen versammelt, welche die auch bis heute wesentlichen Fragen einer Materialität der Literatur zwar nicht beantworten konnten, sie aber zuallererst einmal stellten beziehungsweise zu stellen ermöglichten. Doch was meinen wir eigentlich, wenn wir von der Materialität der Literatur sprechen? Zunächst einmal ist es ein Bekenntnis, dass wir uns für die konkrete Manifestation von Materie als Schrift interessieren – nicht unbedingt, um mehr über den Sinn in oder hinter den Buchstaben zu erfahren, sondern um Kenntnisse über den Sinn der Buchstaben zu erlangen. Wir können uns der Materialität der Literatur mithilfe der Definition des Editionsphilologen und -theoretikers Per Röcken nähern. Materialität wird von ihm zunächst einmal als eine Klasse von Eigenschaften definiert, bezogen auf »chemisch-physikalische Eigenschaften der ›Überlieferungsträger‹, z.B. auf optisch wahrnehmbare Qualitäten der Schriftträger und Beschreibstoffe. Gesprochen wird also etwa von der Materialität der Manuskripte, des Typoskripts, des Drucks, des Buchs,

2  |  Hans Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M. 1988. Dies. (Hg.): Schrift. München 1993.

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des Papiers, der Tinte, der Texteinrichtung, der Schriftgestalt usw.«3 Ein das konkrete ›So-Sein‹ der Literatur ignorierender Materialitätsbegriff ist demnach leer. Schrift muss als geformte Materie aufgefasst werden und wird damit nach Michael Giesecke zu einer »informierten Materie oder materialisierten Information«.4 Dementsprechend sind beispielsweise auch das Buchformat und die Typografie Teile der Frage nach der Materialität, nicht bloß die benennbaren Papier- und Tintensorten. Denn die Tinte eines gedruckten Buchstabens ist eben nur Tinte, erst die typisierte Form macht die Materie überhaupt zum Buchstaben, der ja doch Bedingung der Möglichkeit ist, dass wir es mit Literatur zu tun haben. Mit Friedrich Kittlers witzigem Wort über die Figur des angehenden Dichters Anselmus aus E.T.A. Hoffmanns Goldnem Topf: »Man muß schon gut erzogen sein, um Handschriften überhaupt nicht als Tintenkleckse zu sehen.«5 Insofern kann Text nie immateriell konzeptualisiert werden, denn er existiert nicht außerhalb des Materials. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht gibt es verschiedene Möglichkeiten, sich dem Problemfeld von Sinn und Materialität der Dichtung, also einer sehr spezifischen Ausprägung der »informierten Materie«, zu nähern. Als erster von drei Ansätzen soll das genuin philologische Interesse vorgestellt werden, das als Analyse von Diskursivierungen von Materialität bezeichnet werden kann.

D iskursivierungen von M aterialität In verschieden motivierten Ansätzen haben die Philologien die Diskursivierung von Materialität in literarischen Texten analysiert. Die gemeinsame Frage lautet: Wie und zu welchem Zweck wird das Schreibmaterial

3  |  Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 22 (2008), S. 22-46, hier S. 35. 4  |  Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a.M. 4 2006, S. 38. 5  |  Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900. München 42003, S. 126.

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und überhaupt der Akt des Schreibens6 als dessen Bedingung literarisch dargestellt? Ausgehend von der sich in den 1980er Jahren etablierenden deutschen Medienwissenschaft lieferte zunächst Rüdiger Campe mit seiner Beschreibung der »Schreibszene« das wichtigste Stichwort hierzu,7 welches Martin Stingelin in sein Projekt Zur Genealogie des Schreibens aufnahm und methodisch und historisch ausdifferenzierte.8 Sein Interesse an literarischen Darstellungen des Schreibakts gilt dabei dem selbstreferenziellen Status der Literatur, wenn sie sich in solchen Szenen ihrer eigenen Produktionsbedingungen vergewissert. Vor dem Hintergrund einer poststrukturalistischen Forschungstradition richtet Stingelin seinen Blick daher besonders auf die diskursiven Rahmenbedingungen von Literatur und führt den produktiven Begriff des »Widerstands« ein.9 »Widerstand« meint, dass die Schreiber sich in der Erfahrung der Schreibtätigkeit einer imperfekten materiellen Wirklichkeit ausgesetzt sehen, die sie literarisch darstellen: So erlaubt die Feder beispielsweise keinen länger dauernden Schreibfluss, da sie immer wieder ins Tintenfass eingetaucht werden muss, und ihre merkwürdig kratzenden Geräusche können die Konzentration unterbrechen. Allerdings bringt dieser philologische Ansatz keine Erkenntnisse über ›reale‹ Materialität hervor, da er Signifikanten nur als Signifikate zur Kenntnis nimmt: Die Genealogen des Schreibens interessieren sich 6  |  Die mittlerweile klassische Definition des Schreibens als Praxis beziehungsweise »Geste« findet sich bei Vilém Flusser: »Um schreiben zu können, benötigen wir – unter anderen – die folgenden Faktoren: eine Oberfläche (Blatt Papier), ein Werkzeug (Füllfeder), Zeichen (Buchstaben), eine Konvention (Bedeutung der Buchstaben), Regeln (Orthographie), ein System (Grammatik), ein durch das System der Sprache bezeichnetes System (semantische Kenntnis der Sprache), eine zu schreibende Botschaft (Ideen) und das Schreiben.« Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf 1991, S. 33. 7  |  Vgl. Rüdiger Campe: Die Schreibszene. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt a.M. 1991, S. 759-772. 8  |  Vgl. Martin Stingelin: ›Schreiben‹. Einleitung. In: Martin Stingelin (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004, S. 7-21. 9  |  Ebenda, S. 12.

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(zumeist) nicht für Objekte und Schreibspuren in Archiven und Bibliotheken, sondern für Texte als Diskursphänomene. Insofern operieren sie gleichermaßen avanciert wie traditionell. Denn die Literaturwissenschaft beschäftigt sich ja traditionell mit Signifikaten, auch wenn diese über den Status von Signifikanten reflektieren und somit auf der rein geistigen Ebene verbleiben. Das änderte sich allerdings seit der Mitte der 1970er Jahre. Die eng mit der Editionsphilologie verbundene critique génétique machte sich damals auf die Suche nach ›realen‹ Signifikanten in den Archiven. Literarische Handschriften wurden als Zeugnisse von Schreibprozessen aufgefasst und im Sinne einer genealogischen Stufenfolge des Entstehungsprozesses wiederum auf die Signifikate bezogen.10 Das Material sei stets vor dem Autor da und bestimme dessen Schreibpraxis: Die Genese von Sinn, die in Stufen, Varianten, Be- und Überarbeitungen gespeichert ist, müsse daher zunächst einmal semiologisch verstanden und beschrieben werden. Es handelt sich bei der critique génétique also um eine topologische (etwa die Anordnung der Textelemente zueinander, Streichungen, Umstellungen betreffende) und chronologische (wann wurden welche Textelemente hinzugefügt oder gestrichen?) Dokumentation von Manuskripten, die letztlich aber sinnorientiert ist und das Material traditionell zeichentheoretisch überschaut. Das Material spricht, aber es spricht für den Sinn, den es bewahrt – oder offener formuliert: Es zeigt die ›SinnMöglichkeiten‹ an, die es mitbestimmt. Insofern handelt es sich um einen erweiterten Semantikbegriff, der aus der Befragung des Materials eine oder mehrere druckreife Fassungen schöpft. Die Leistung der critique génétique ist daher vor allem diskursiv als Hinterfragung von ahistorischen Kategorien wie Werk zu sehen. Solche Materialsemantik kann aber auch unabhängig vom Sinn der Schriftzeichen analysiert werden. Das ist der Versuch, beispielsweise Handschriften oder Drucke als materielle Artefakte anzuerkennen. Literaturwissenschaftlich ist das zunächst nicht offensichtlich, denn gewöhnlich zielt die Philologie auf eine Interpretation – und damit meine

10  |  Vgl. zu einer kritischen, ausführlichen Darstellung der critique génétique und der Schreibprozessforschung: Stephan Kammer: Figurationen und Gesten des Schreibens. Zur Ästhetik der Produktion in Robert Walsers Prosa der Berner Zeit. Tübingen 2003, S. 15-29 u. 89-106.

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ich nicht die hermeneutische Methode, sondern in einem sehr weiten Sinne: das Herstellen von Verständlichkeit – sprachlicher Zeichen.

M aterialsemantik Wie wirkt Materialität auf die Produktion und Rezeption von Sinn? Arbeitet das Material an der Bedeutung mit – oder arbeitet es gegen sie oder an seiner eigenen Bedeutung? Kann Material überhaupt als ›bedeutungslos‹ aufgefasst werden? Historisch betrachtet ist Materialsemantik seit circa 1800 diskursfähig: Im vorletzten Band des Athenaeums wird Friedrich von Matthissons im schlimmsten Sinne ›feierliches‹ Gedicht Basrelief am Sarkofage des Jahrhunderts hämisch rezensiert. Zuletzt wird es verspottet mit Worten, die die Eigenschaften des titelgebenden Sarkophags aufnehmen und witzig gegen das Gedicht kehren: »Die Kälte und Härte des Steins hat es, aber nicht einmal einer edlen Steinart: das Velin, worauf es gedruckt ist, stellt geglätteten Marmor weit besser vor.«11 Das Material repräsentiert also den ›Sinn‹ des Texts, den dieser in seiner sprachlich-dichterischen Dimension nicht einzulösen vermag. Eine Sprache für die Beschreibung von Materialität und Materialsemantik gibt es bereits: Die Editionsphilologie hat ein – freilich umstrittenes – Fachvokabular,12 und auch die Buchwissenschaft hat eins. Gerade diese ist eine Disziplin, die gezielt Materialsemantik innerhalb eines erweiterten Literaturbegriffs betreibt: Zum einen bezogen auf die repräsen11 | Anonym [August Wilhelm Schlegel]: Notizen [Über Matthisson, Voß und Schmidt]. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Dritten Bandes erstes Stück. Darmstadt 1973, S. 129-161, hier S. 142 (Fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1800). Velin ist eine sehr feine Papiersorte, die ähnlich aussieht wie Pergament, das wiederum dem Marmor ähnelt. 12 | Einer, der es wissen muss, Rüdiger Nutt-Kofoth, beginnt einen einschlägigen Text mit einem Seufzer: »Die Editionswissenschaft hat es mit ihrem Begriffsinstrumentarium nicht leicht.« Rüdiger Nutt-Kofoth: Textgenese und Textkritik. Zur Relevanz konjekturaler Verfahren bei der Repräsentation von Textentwicklung und Schreibprozess – mit einer terminologischen Perspektive. In: Anne Bohnenkamp, Kai Bremer, Uwe Wirth u.a. (Hg.): Konjektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie. Göttingen 2010, S. 207-220, hier S. 207.

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tative Wirkungsästhetik eines Buchs beispielsweise durch edles Material, zum anderen auf paratextuelle Phänomene des ›eigentlichen‹ Texts, der somit verschiedene Rezeptionsformen erfahren kann. So werden etwa Buchcover, Klappentexte und Seiteneinrichtungen als sinnproduzierende Deutungsaspekte, vor allem im Sinne einer Leserlenkung ›von außen‹, analysiert. Dennoch bleibt eine Sprache für materialsemantische Effekte in der Literatur noch ein Desiderat der Forschung. Darauf macht in weiterem Zusammenhang vor allem Hans Ulrich Gumbrecht aufmerksam, der ein potentes Angebot einer kulturphilosophischen Rahmung für eine Materialitätsdebatte unterbreitet.13 Gumbrecht unterscheidet mit kalkuliert scharfer Unschärfe zwischen Sinn- und Präsenz-Kulturen beziehungsweise -Phänomenen. Es geht ihm dabei um die Erkenntnis und Versprachlichung von einerseits reiner Geistigkeit, so wie sie das Abendland seit Plato, dann über das Christentum, René Descartes, die Aufklärung und Wilhelm Dilthey beherrscht und die in den Dingen immer nur den Repräsentanten von ›etwas anderem‹ sieht, und andererseits um körperlich-räumliche Phänomene, denen wir als sinnliche Wesen permanent ausgesetzt sind. Wenn eine Philosophie der Präsenz mit dem universalistischen Anspruch auftritt, bestimmte Effekte aller Phänomene, auch und vielleicht gerade künstlerischer, beschreibbar zu machen, dann wird die mit Hegel als unsinnlichst begriffene, stattdessen am stärksten mit Sinn verbundene Kunstform, die Literatur, die am schwierigsten zu integrierende sein. Sich also wieder ›geistlos‹ auf Buchstaben zu konzentrieren, bedarf einiger Mühen. Um darüber Klarheit zu erlangen, wie sich Literatur mit dem Begriff der Präsenz fassen lässt, müsste Literatur zunächst nicht mehr primär als ein Erlebnis der Imagination oder überhaupt der ›Innerlichkeit‹ definiert werden, sondern vielmehr als ein exteriores Phänomen, als Geschriebenes. Wenn sie jedoch nicht mehr durch Lesen (verstanden als die ›Über13  |  Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a.M. 2004 und ders.: Präsenz. Berlin 2012. Zu den folgenden Ausführungen vgl. Sebastian Böhmer: Wer hat Angst vor einer Philosophie der Präsenz? Hans Ulrich Gumbrecht blickt zurück nach vorn. Rezension über: Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz. In: IASLonline [19.11.2012], URL: www.iaslonline.de/index. php?vorgang_id=3169, letzter Zugriff am 16.07.2014.

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setzung‹ der Zeichen in Bedeutung), sondern durch Anschauen und beziehungsweise oder in ihrer performativen Dimension rezipiert wird (etwa durch Effekte des Klangs, des Rhythmus, durch gestisch-mimische Vermittlung), dann kann auch die wahrgenommene Schrift in ihrer Materialität als Auslöser einer Präsenzerfahrung dienen. Denn Präsenz meint ja nichts anderes als eine körperliche Reaktion auf ein körperlichräumliches Ereignis. Zwar nimmt Schrift immer Raum ein und lässt sich entsprechend beschreiben,14 aber sie als ›sinnloses‹ Objekt bloß anzuschauen, scheint aus literaturwissenschaftlicher Sicht problematisch. Denn sprachliche Zeichen in ihrer Materialität als vor allem physisch wirksam zu erleben, wird ihrem Leistungsumfang nicht gerecht, da das Schriftobjekt ja »nicht nur den Text [trägt]«, sondern, so Heike Gfrereis lapidar, auch »einen Inhalt« hat.15 Freilich gibt es auch hier gute Beispiele von Dichtungen, die genau dies wesentlich anders handhaben, zumindest wenn man »Inhalt« konventionell als rational erfassbaren Sinn versteht: Stéphane Mallarmé wäre ein solcher Fall oder auch die Konkrete Poesie. Natürlich gibt es eminente Materialitäten von Schrift, an denen die Forscher gar nicht vorbeikommen, beispielsweise bei Keilschriften. Aber wir haben uns – als vielleicht letzte Generation – an Papier als Trägermaterial so sehr gewöhnt, dass wir nur selten fragen, was dieses eine Blatt Papier vor uns ist und was es ›bedeuten‹ könnte. Dieser blinde Fleck resultiert aus dem Vergessen, dass der Gebrauch von Papier als Schreibmaterial nicht einfach eine historisch kontingente Form der Text-Speicherung ist, sondern dass, soweit die systematisch erfasste Einsicht der critique génétique, die Beschaffenheit jedes einzelnen Blattes als Signifikant bestimmte Produktions- wie auch Rezeptionsformen bedingt. Historisch

14  |  Für die Dimension der ›Schriftbildlichkeit‹, also die nicht lautlichen, sondern genuin grafischen Eigenschaften von Schrift, vgl. die forschungsbegründenden Arbeiten der Philosophin Sybille Krämer, vor allem: ›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift. In: Sybille Krämer u. Horst Bredekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. München 2003, S. 157-176. 15  |  Heike Gfrereis: Archiv. In: Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Hg. v. Marcel Lepper u. Ulrich Raulff. Erscheint voraussichtlich Stuttgart 2015.

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konzeptualisierte Phänomene wurden in der Forschung bereits beschrieben und mit Theorieangeboten versehen.16 Die Relevanz der Materialität für den Text lässt sich am Beispiel der Typografie zeigen, die im literarischen Diskurs seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt. Gegen Ende der Aufklärungsepoche, zu Zeiten eines exponentiell anwachsenden Buchmarkts, sind typografische Fragen zur Schriftgröße, zum Zeilenabstand oder zu den verfügbaren Papiersorten allgegenwärtig. So möchte Schiller seine längeren Verse nicht in zwei Zeilen gebrochen sehen, sondern plädiert für ein größeres Buchformat, welches es erlaubt, sie in einer Zeile zu drucken. Sonst müsse das Auge an den Anfang zurückgeführt werden, wodurch eine zeitliche Diskontinuität beim (lauten) Lesen der als distinkte Einheit konzipierten Zeichenfolge entstehe.17 Der ›Schrift-Raum‹ bestimmt das Auge, welches wiederum den Mund bestimmt und mit ihm die Entfaltung der Bedeutung des Geschriebenen in der Artikulation. Damit fußt der typografische Diskurs um 1800 allerdings auf der – vom abendländischen Vokalalphabet suggerierten – phonografischen Prämisse einer restlosen Umwandlung der Buchstaben in Laute. Die grafische Dimension wird zumeist so eingerichtet, dass die Lektüretätigkeit auf möglichst geringen Widerstand stößt. Die Buchstaben verschwinden dann beim (lauten wie stillen) Lesen und setzen die in ihnen gespeicherten ›reinen‹ Signifikate frei. 16 | Nur zwei Beispiele: Zum einen beschrieb Albrecht Koschorke den Liebesbrief als Körperersatz, mit all dem An-den-Busen-Drücken des Papiers, dem Küssen bestimmter Stellen, der Tränenschrift und vielem mehr. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. Zum anderen wurde von Friedrich Kittler der mit dem Begriff der »Psychophysik« verbundene Paradigmenwechsel in der Rezeption sprachlicher Zeichen im Aufschreibesystem von 1900 analysiert. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme (Anm. 5), S. 249-276. 17 | »Lateinische Schrift ist zu einer Prachtausgabe wohl nothwendig, aber sie dürfte freilich nicht gar zu klein gewählt werden, und eben darum würde auch das Format größeres Octav sein müssen, weil es nicht gut läßt, wenn die Verse gebrochen werden.« Schillers Werke. Nationalausgabe. 42 Bände. Begründet v. Julius Petersen. Fortgeführt v. Lieselotte Blumenthal. Hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik u. des Schiller-Nationalmuseums in Marbach v. Norbert Oellers. Weimar 1943ff. Bd. 32: Briefwechsel. Schillers Briefe. Hg. v. Axel Gellhaus. Weimar 1984, S. 21 (Brief an Crusius vom 10. März 1803).

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Der Berliner Verleger Johann Friedrich Gottlieb Unger ist der wichtigste Vertreter einer Typografie, die genau dies zu leisten vermag. Die von ihm entwickelte Unger-Type ist eine Hybridform aus gebrochenen, ›deutschen‹ Lettern, die eine sozusagen ›lateinische‹ Überformung erfahren: Er reduziert den Tintenanteil, verschlankt die Lettern und weitet die Abstände, sodass dem Auge ein möglichst rasches Überfliegen des Texts ermöglicht wird. Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre war 1795 die erste wichtige Veröffentlichung mit dieser Type, dann wollten vor allem die ersten Romantiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts genau diese Schrift für ihre Bücher, da sie den Signifikanten und mit ihm die reale Lesesituation vergessen macht und die ›reinen‹ Signifikate freisetzt.18 Dass es auch ganz andere Konzeptualisierungen gibt, zeigt die Diskussion hundert Jahre später. Stefan George ist hier zu nennen und auch Friedrich Nietzsche. Beide ließen ihre Druckwerke so einrichten, dass es gerade schwerfällt, sie zu lesen. Das ist die Apotheose der Langsamkeit und Lektüregenauigkeit, die aus einem Briefentwurf Nietzsches an Hermann Credner hervorgeht: Nun aber die Form-Fragen: denken Sie, bitte, mit mir darüber nach, wie wir diesem Buche ein möglichst vornehmes und ›unpopuläres‹ Gewand geben: so allein wäre es seinem Inhalte angemessen. Die neulich gesandte Probe von Du Bois-Reymond […] erlaubt trotzdem keine Anwendung auf den Fall meines Buchs [Jenseits von Gut und Böse, Anm. des Verfassers]: dies soll sehr langsam gelesen werden, es muß viel weniger auf einer Seite stehen, es muß auf den Gelehrsamkeits-Anspruch, wie er sich in einem so großen Formate ausdrückt, Verzicht leisten – und ich will’s endlich mit deutschen Lettern versuchen. Man bringt den Deutschen nicht anders dazu, die Form, die Sprache, den Geschmack eines Buches ernst zu nehmen. – Ich wollte vorschlagen: Wenig Zeilen c. 26, bequeme Intervalle (worin wesentlich der vornehme Eindruck eines Buches liegt) Mittelgroßes Format Feines Velin19

18  |  Vgl. Sebastian Böhmer: Die Leser von morgen. Typographie als Strategie der Leser-Konditionierung um 1800. In: TypoJournal 4 (2013): Das Schriftschaffen im deutschsprachigen Raum, S. 16-22. 19  |  Nietzsche Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. 20 Bände in drei Abteilungen. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin, New York 1975-2004.

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Das Material arbeitet hier mit an der Erschließung von Sinn, indem es die Rezeption steuert. Für Nietzsche ist – und das macht ihn modern – dabei auch der idealistische Anspruch aufgegeben, es gäbe einen und nur einen Sinn, den der Text transportiert und den die Materialität einfach speichert sowie abruf bar macht. Daher konnte der von ihm gepflegte philosophische Diskurs so folgenreich auf die Dichtung wirken.20 Materialität wird somit auf die Semantik des Texts bezogen, da sich diese durch den spezifischen Rezeptionsprozess verändert. Zwar besitzt jede Schriftkultur so etwas wie eine normierte Rezeptionssituation für Texte, und der überwältigende Großteil der Autoren schreibt dieser Norm und ihren Zielen gemäß, ebenso halten sich die Verleger an diese Vorgaben beim Drucken. Doch offensichtlich bedingt die ›gleiche‹ Buchstabenfolge in anderer Materialisation – das heißt in anderer Typografie, auf anderem Papier oder in einem anderen Buchformat – ein unterschiedliches, daher nicht zielgerichtetes, vielleicht mehr oder weniger gelingendes Lesen. Ist ein George-Gedicht in Garamond gesetzt ein anderes Gedicht? Ja, sonst hätte George sich nicht so viele Mühe mit seiner persönlichen HandschriftenType gemacht, die den Rezipienten in ein bestimmtes, eben nicht bereits eintrainiertes Verhältnis zum gedruckten Text setzt. Für eine Philologie, die der Materialität verpflichtet ist, müsste es gelingen, neue Analysemethoden zu entwerfen sowie einen Literaturbegriff zu entwickeln, der nicht zugleich die Abschaffung der Literaturwissenschaft als auch einer Geisteswissenschaft mit sich bringt. Ein Weg könnten Literaturausstellungen sein, in denen die Behandlung von Literatur als Objekt bei gleichzeitiger Beibehaltung ihrer Lesbarkeit, also ihrer sinntransportierenden Qualität, gewährleistet wird.

D ie A usstellbarkeit von L iter atur Das Problem der Ausstellbarkeit von Literatur liegt darin begründet, dass sie einen Literaturbegriff erfordert, den sie vielleicht selbst erst entwiAbt. 3, Bd. 3: Briefe Januar 1885–Dezember 1886. Berlin, New York 1982, S. 164 (Briefentwurf um den 27. März 1886). 20  |  Vgl. dazu die medientechnisch-philosophische Arbeit von Christof Windgätter: Rauschen. Nietzsche und die Materialitäten der Schrift. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 33 (2004), S. 1-36.

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ckeln kann. Denn bis heute ist die entscheidende Frage: Was stellt man aus? Handschriften, Bücher oder jede andere Form von Textträgern, die ihre materialsemantischen Eigenschaften im Sinne ästhetischer Ereignisse dinghaft zeigen? Oder sehen wir die Spuren von der Meister Hände, erleben also Aura und folglich evozierte Verehrung? Verstehen wir das gedruckte Werk ›besser‹, wenn wir die Dichterhandschrift betrachten? Das sind Ausstellungskonzepte und -ziele, die aus ganz anderen sozialen, medialen, (informations-)technologischen, epistemologischen und ideologischen Bedingungen als den unseren entstanden sind. Wenn Nietzsche und nach ihm vor allem Jacques Derrida und Kittler den Signifikanten aus einer überkommenen Sprachzeichen-Ideologie befreit haben, so müsste nun dementsprechend auch die ›reale‹ Materialität der Schrift aus ihrer inferioren Trägerfunktion ausgelöst werden. Für diese Abschaffung einer Metaphysik des Wissens und der ›Wahrheit‹ könnte es verschiedene theoretische Ansätze geben, die mit Gumbrechts Präsenz-Begriff kompatibel sind und eine Ausstellungspraxis der ›Diesseitigkeit‹ der Literatur fundieren.21 Die große Chance für eine Ausstellung, die der Materialität der Literatur gilt, liegt – im Gegensatz zu einer Ausstellung von Materialien der Literatur – darin, dass sie den Blick freigibt für Phänomene nicht der Wechsel-, sondern der Zugleichverhältnisse von Sinn und Material. Diese ließen sich dann jenseits sowohl eines Ausschließlichkeits- als auch eines zielgerichteten Abhängigkeitsverhältnisses beschreiben. Exemplarisch sind für solche materialbasierten Literaturausstellungen neben den Expositionen im Deutschen Literaturarchiv Marbach beispielsweise die Schau Der Brief – Ereignis & Objekt von 2008 im Freien Deutschen Hochstift zu nennen.22 Erst wenn wir akzeptieren, dass unser Begriff der Literatur die Dichotomie von Signifikat und Signifikant überwinden – oder: hintergehen – muss, ist eine Materialität der Literatur im Sinne eines neuen Literaturbegriffs denkbar. Kittler hatte diesen Punkt schon 1988 als Bedingung 21  |  Vgl. für erste Überlegungen mit Bezug auf Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche: Sebastian Böhmer: Wer hat Angst vor einer Philosophie der Präsenz? (Anm. 13). 22 | Dazu der maßstabsetzende Ausstellungsband: Anne Bohnenkamp u. Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Ausstellungskatalog Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. Frankfurt a.M. 2008.

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der Möglichkeit von Kommunikation überhaupt definiert: »Es gibt erstens keinen Sinn, wie Philosophen und Hermeneutiker ihn immer nur zwischen den Zeilen gesucht haben, ohne physikalischen Träger. Es gibt zum anderen aber auch keine Materialitäten, die selber Informationen wären und Kommunikation herstellen könnten.«23 Vielleicht kann in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Original weiterhelfen. Abschließend möchte ich daher behaupten, dass die gleiche Folge sprachlicher Zeichen beispielsweise in zwei verschiedenen typografischen Erscheinungen niemals derselbe Text ist. Das ist nun nicht neu, sondern historisch längst entfaltet, denn wie wir am Beispiel von Typografie und Buchausstattung gesehen haben, ist es offensichtlich für sehr unterschiedliche Schriftproduzenten ein Unterschied, ob ein Satz in Majuskeln und ohne Spatien in Stein gemeißelt dasteht oder uns fein arrangiert auf Dünndruckpapier vor Augen tritt. Er wird anders rezipiert, schon weil er durch sein Material ein anderes physisches ›So-Sein‹ in der Welt markiert, was wiederum eine andere Erschließung eines – und eben nicht ›seines‹ – Sinns bedeutet.24 Ich meine das aber in einem sehr viel weiteren Sinn: Auch gedruckte oder kopierte Texte sehen einfach nur sehr ähnlich aus und entfalten mitnichten den einen und selben, für alle immer gleichen Sinn. Serielle Uniformität täuscht Identität vor, wo nur große Ähnlichkeit ist. Diesem Phänomen ist auch die Buchwissenschaft meines Wissens nach noch nicht weiter nachgegangen, obwohl sie durch ihr paratextuelles Indivi23  |  Friedrich Kittler: Signal-Rausch-Abstand. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer: Materialität der Kommunikation (Anm. 2), S. 342. 24 | Remigius Bunia hat eine Unterscheidung von »Schriftzeichen« und deren »Realisation« vorgeschlagen (und kritisch diskutiert), welche für den hier eingeführten Textbegriff aufgrund ihrer quasi-platonischen Konzeption jedoch fruchtbar problematisiert werden müsste: »Das Schriftzeichen ist das, was an einer Erscheinung unabhängig von der konkreten Realisation wiederholbar ist.« Bunia markiert nun Schriftzeichen mit spitzen Klammern, die konkreten Realisationen mit doppelten spitzen Klammern und definiert: »So sind ‹‹a›› und ‹‹a›› Realisationen von ‹a›, […] In diesem Sinne sind schon ‹‹a›› und ‹‹a›› nicht identisch (denn es sind zwei verschiedene Realisationen an zwei verschiedenen Stellen des bedruckten Blattes), während ‹a› und ‹a› identisch sind.« Remigius Bunia: Fußnoten zitieren. In: Bernhard Metz u. Sabine Zubarik (Hg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Berlin 2008, S. 13-32, hier S. 14.

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dualisierungsstreben bereits auf der Spur genereller Einzigartigkeit ist.25 Dies ist analog für die Faksimiles im Handschriftenbereich zu denken, denn auch oder gerade Faksimiles, die bestimmte Formaspekte des Trägers besonders gut wiedergeben, erinnern uns immer nur daran, dass sie eben nicht die Originale sind: Sie haben nicht dieselbe Haptik, denselben Duft, dieselbe spezifische Textur und nicht dieselbe Geschichte. Technische Reproduzierbarkeit ermöglicht so gesehen die massenhafte Produktion von immer neuen Originalen. Die Kategorie des Originals wird damit obsolet, sie bleibt höchstens historisch-genealogisch interessant im Sinne einer Ersterscheinung. Der Fetisch des Originals ist ohnehin ein Mythos des Uranfänglichen, ein Relikt metaphysischer Imagination von Schöpfergenies und den von diesen produzierten Phänomenen in deren angeblich voller Potenz. Als seien diese, wie es Heidegger postulierte, in einen ihnen zugehörigen »Wesensraum« eingebettet.26 Ihre Potenz geht nach Heidegger im historischen Prozess unaufhaltsam verloren, sodass den Nachgeborenen, die den »Wesensraum« nicht mehr erleben können, nur Imaginationen vor zugleich gewaltigen wie traurig stimmenden Resten blieben.27 Aber der defizitäre Status der Literatur – und überhaupt jeder Kunst – außerhalb ihres angeblichen »Wesensraums« wäre erst einmal zu beweisen. Niemand hat jemals zeigen können, dass unsere Lektüre des Hamlet weniger ›wert‹ sein soll, weniger ästhetisch eindrucksvoll oder sinnleerer ist als seine Aufführung auf dem elisabethanischen Theater. Wenn nun Manuskripte, Drucke oder eine digitale Bildschirmschrift ausgestellt werden, so werden literarische Materialien in einem Raum vor Augen geführt, die an diesem und nur diesem raumzeitlichen Punkt rezipiert werden können. Damit kommen die Einzigartigkeit und Spezifik jeder Rezeption durch 25 | So in den Überlegungen von Ursula Rautenberg: »Denn auch der Text als Forschungsgegenstand des Literaturwissenschaftlers ist immer an ein Überlieferungsmedium gebunden, an das Sichtbar- und Hörbarmachen von Sprache.« Ursula Rautenberg: Zwei Königskinder? Überlegungen zum Verhältnis von Bibliophilie und Literaturwissenschaft. In: Philobiblon (1992), H. 2, S. 101-112, hier S. 103. 26  |  Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. In: Ders.: Gesamtausgabe. 102 Bände. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 1975ff. Abt. I: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Bd. 5: Holzwege. Frankfurt a.M. 61980, S. 172, hier S. 26. 27  |  Vgl. ebenda, S. 25-29.

Was bedeutet die Materialität der Literatur für die Literatur(-ausstellung)?

die Besonderheit des ›Hier und Jetzt‹ als gleichwertig zu Bewusstsein: Eine quantitativ messbare Immanenz, die dem Werk als isolierbarer, geschichtlicher Ursprungseinheit innewohnt, existiert nicht. Doch bis zu diesem Punkt ist es ein weiter Weg, wenn noch Bernhard Dotzler in seiner angriffslustig-klugen Paradoxierung von Literaturausstellungen auf jene ahistorisch erschöpf baren Idealrealisierungen zurückgreift und beispielsweise behauptet, dass es »tautologisch« und »redundant« sei, Literatur auszustellen.28 Ein schlagendes Beispiel sei die Konkrete Poesie, da sich deren Gedichte als spannungsreiche Laut-BildEnsembles bereits in der Buchdruckform ›voll‹ entfalten würden.29 Damit impliziert er eine Gleichheit von Sinn und Wirkung reproduzierter Texte auf der Basis einer vermeintlichen Übereinstimmung der Buchstaben, was wiederum einen Idealismus des Sinns in einem Reich reiner Geistigkeit voraussetzt. Diese eine existente ›Wahrheit‹, die hinter den Zeichen existieren soll, müsse durch die laute oder leise Lektüre rekonstruiert werden, also durch den Signifikanten hindurch. Eine solche Metaphysik haben wir aber doch glücklich abgeschafft. Es gibt keinen Text zweimal. Auch gedruckte Bücher und digitale Schriften sind Token in einer spezifischen ›Hier-und-Jetzt-Existenz‹ im Moment der Rezeption, denn etwas anderes als die jeweilige Begegnung haben wir nicht. Die Materialspezifik und die einzigartige Begegnung mit ihr schlagen sich dann eben auch in einem einzigartigen Rezeptionsprozess nieder, der nicht defizitär gegenüber einer ursprünglichen ›Wahrheit‹ oder ›Vollpotenz‹ konzeptualisiert werden kann. In der Helvetica-Type der Gesamtausgabe lässt Eugen Gomringers Gedicht schweigen andere ästhetische Erfahrungen und damit eben auch Sinnentfaltungen zu als ein Manuskript und wieder andere als eine mögliche ›Installation‹ dieser Worte an einer rückwärtig beleuchteten Glasplatte in einem musealen

28  |  Bernhard J. Dotzler: Die Wörter und die Augen. Zur Un-Möglichkeit der Visualisierung von Literatur. In: Anne Bohnenkamp u. Sonja Vandenrath (Hg.): WortRäume. Zeichen-Wechsel. Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen. Göttingen 2011, S. 39-51, hier S. 39. 29  |  Ebenda, S. 39-42. Vgl. für die Ausstellbarkeit von Konkreter Poesie den Beitrag von Anne Thurmann-Jajes in diesem Band.

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Kontext – auch wenn diese Rezeptionsheterogenität den vor allem produktionsinteressierten Dichter selbst übrigens eher wenig bekümmert.30 Es gibt nur konkrete Manifestationen von Texten an dem einen raumzeitlichen Punkt, an dem sie auf einen Rezipienten treffen. Zu Momenten solcher Einmaligkeit können Ausstellungen in hohem Maße durch ihre Fokussierung auf die unhintergehbare und unabspaltbare Materialität eines einmaligen literarischen Texts als Objekt beitragen. In Vitrinen oder an Wänden wird dem Text als lesbarem Sinn und als sinnlich erfahrbarem Material Genüge getan – und ein Konzept einer materialgerechten Literatur vor der Spaltung in Signifikat und Signifikant ist in der Praxis geleistet. Die Theorie müsste ihr, wieder einmal, folgen.

30 | Zumindest impliziert Eugen Gomringer diese Indifferenz in der Rezeption verschiedener Materialitäten seiner Gedichte in einem Brief an den Verfasser vom 14. Dezember 2013. Die erwähnte Version von schweigen in der Helvetica-Type ist – nun wiederum typografisch abgesprochen mit dem Autor – abgedruckt in: Eugen Gomringer: vom rand nach innen. die konstellationen 1951-1995. Wien 1995, S. 19. Mein Dank gilt Batya Horn von der Edition Splitter für ihre Hilfe.

Die Sprache und die Dinge Orhan Pamuks Museum der Unschuld Olaf Mückain

Das Museum der Unschuld steht für eine doppelte Autorschaft des 1952 in Istanbul geborenen Schriftstellers Orhan Pamuk. Er widmete sich gleichzeitig, phasenweise auch abwechselnd, dem Entstehen des Romans und den Vorbereitungen für das gleichnamige Istanbuler Museum. Beide, Buch und Museum, sind über eine Sammlung von Alltagsgegenständen, die Pamuk aus verschiedenen Quellen, auf Flohmärkten, in Antiquitätenhandlungen und bei Privatsammlern, erstanden und gesammelt hat, untrennbar miteinander verbunden.1 Die Sammlungsobjekte inspirierten Pamuk teilweise schon im Vorhinein zu der Romanhandlung und referieren im Museum stets auf sie. Einzelstücke verselbständigten sich bisweilen und fanden ohne Belegstellen im Roman Eingang in das Museum.2 Die Entstehung der Sammlung ist wiederum zentraler Handlungsstrang des Romans selbst.3 Die Idee zu seinem Museum der Unschuld kam Pamuk im Jahr 1982 durch die persönliche Begegnung mit dem Osmanenprinzen Ali Vâsıb Efendi, der jahrelang als Kartenabreißer und Museumsleiter in Alexandria gearbeitet hatte.4 Hieraus entwickelte sich die Vorstellung, dieser könne in dem musealisierten Ihlamur-Pavillon, den er einst als Kind selbst bewohnt hatte, als Museumsführer tätig werden. Aus dieser Idee leitete Pamuk das Konzept ab, dass ein und dieselbe Person 1  |  Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul. München 2012, S. 52. 2  |  Vgl. ebenda, S. 139. 3  |  Vgl. beispielsweise Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld. München 2008, S. 115. 4  |  Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 9.

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»nach vielen Jahren in einem Museum anhand von Gegenständen erläutert, wie [sie] einst gelebt hat. Die Idee zum Museum der Unschuld war geboren«.5 Das dualistische Konzept Pamuks ist ganzheitlich angelegt und zielt darauf, einen Mikrokosmos zu entfalten, in welchen der Leser beziehungsweise Besucher eintauchen kann, um zu einem hohen Grad die Wahrnehmungs- und Deutungsperspektive des Autors und Erzählers respektive des realen und des fiktiven Museumsgründers einzunehmen. Der Roman handelt auf zwischenmenschlicher Ebene von der Liebe des gut situierten Unternehmersohns Kemal Basmacı zu seiner entfernten Verwandten Füsun Keskin. Aufgrund einer seit Längerem geplanten Verlobung Kemals bricht Füsun jedoch den Kontakt ab und heiratet den Filmemacher Feridun. Kemal baut zu diesem Paar und zu Füsuns Familie eine enge Freundschaft auf, die er neun Jahre lang aufrechterhält, bis sich Feridun und Füsun trennen und diese sich erneut mit Kemal einlässt. Auf einer Europareise verursacht Füsun einen Autounfall, der für sie selbst tödlich endet und Kemal schwer verwundet zurücklässt. Kemal beginnt bereits bei der ersten Anknüpfung ihrer Liebesbeziehung damit, eine ausschließlich auf die Vergegenwärtigung Füsuns ausgerichtete Privatsammlung anzulegen. Initialgegenstand ist ein Ohrring Füsuns, den Kemal wie ein Liebespfand einbehält.6 Alle folgenden Sammlungsbestandteile scheinen in ähnlicher Weise als Ersatz für die Gegenwart der Geliebten und als Hoffnungsträger für die herbeigesehnte Wiedervereinigung zu fungieren oder die Erinnerung wachzuhalten.7 Der fetischhafte, geradezu surrealistisch anmutende und von Projektionen und Ersatzhandlungen begleitete Umgang Kemals mit den mit Füsun in Verbindung stehenden Gegenständen wird von der sinnlichen Liebe und deren Kompensation geleitet: Er sammelt »aus einem dunklen Trieb 5  |  Ebenda, S. 11. 6  |  Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 10 u. 83. 7  |  Es ist auch kein Zufall, dass ein weiterer Gebrauchsgegenstand, eine Damenhandtasche als Geschenk für Kemals Verlobte Sibel, gekauft in einem Geschäft, in dem Füsun arbeitet, den Auftakt der Liebesbeziehung bildet. Einzig dieses Objekt stellt ein Imitat dar, eine Fälschung, und verweist damit auf die ›falsche Frau‹ als Adressatin. Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 159 u. 209. Der Umtausch leitet folgerichtig die Liebe Kemals und Füsuns ein und damit das Anhäufen einer Unzahl an profanen ›Sekundärreliquien‹ aus dem Besitz oder aus der näheren Umgebung Füsuns.

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heraus, der ihnen [den Sammlern, Anmerkung des Verfassers] irgendeine Zumutung des Lebens zu lindern und gar wie eine Arznei zu wirken verspricht.«8 Nachdem er die Erinnerungsstücke hundertfach angehäuft und im Verlauf seines neun Jahre währenden, qualvollen Wartens auf Füsun im Appartement seiner Mutter versteckt hat, schickt sich Kemal zwanzig Jahre nach Füsuns Tod (im Jahr 1984 der erzählten Zeit) an, in deren Elternhaus das Museum der Unschuld einzurichten. Beide Rückzugsorte bilden einen hermetischen, in sich geschlossenen Mikrokosmos, der auf den Sammler wie eine Zeitkapsel wirkt.9 In ähnlicher Weise wie seine Sammlung spendet ihm der Besuch unzähliger Museen auf Reisen in alle Welt Anregung und Trost. Es sind namentlich die kleinen, originellen Häuser, die er bevorzugt.10 Über die Funktion eines Museums als Projektionsraum für Erinnerungen und Imaginationen hinaus erscheint das Museum bei Pamuk zugleich als Begegnungsort der Liebenden: Kunst und Museum als Surrogat für Liebe und zugleich als deren Voraussetzung und Quelle. Der Titel des Romans bezieht sich auf eine Passage, in der ein traditionelles Bingo-Spiel zu Silvester metaphorisch geschildert wird: Der Ich-Erzähler stellt das doppelbödige, distanziert-überlegene Spielen der Erwachsenen der unverfälschten, unmittelbaren Teilnahme des Kindes gegenüber. Er reklamiert für sich selbst jene kindliche »Unschuld«, die über das Spiel hinaus auch für seine Verliebtheit und die Sammlung an persönlichen Gegenständen aus dem Leben Füsuns gelte.11 Der Romantitel bezieht sich damit auf die unbefangene Art und Weise des Sammelns, eines nicht verstandesgeleiteten, sondern gefühlsbehafteten und durch innere Antriebe motivierten, gleichsam romantischen Suchens und Findens, auf dessen Tradition der Ich-Erzähler selbst verweist:

8  |  Ebenda, S. 536. Der Fetischcharakter von Kemals Objektbezug ist ausdrücklich Thema des Romans. Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 211 u. 230. 9  |  Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 381. 10  |  Vgl. ebenda, S. 536. 11  |  Vgl. ebenda, S. 9 u. 347-349.

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Wer sich ein bisschen mit dem Zusammenhang zwischen Kulturen und Museen auskennt, der weiß, dass hinter dem Wissen der westlichen Zivilisation, die der Welt ihren Stempel aufgedrückt hat, Museen stecken und dass die ersten echten Sammler, die später diese Museen begründeten und ihre Objekte klassifizierten und katalogisierten (die ersten Kataloge sind zugleich die ersten Enzyklopädien), bei der Aneignung der ersten Gegenstände meist gar nicht wussten, worauf ihr Tun einmal hinauslaufen würde, ja sich nicht einmal bewusst waren, dass sie überhaupt etwas sammelten.12

Erste reale Objekte hatte der Autor Pamuk bereits Mitte der 1990er Jahre erworben und seinen Roman zunächst als »Katalogroman« angelegt.13 Von diesem Konzept rückte er nach einigen Jahren zugunsten eines Liebesromans immer mehr ab, ohne jedoch die zentrale Stellung der Sammlungsgegenstände für die Geschichte und deren Protagonisten zu schmälern.14 Er vollendete den Roman nach Erhalt des Nobelpreises im Jahr 2006, während das im Jahr 2000 erworbene Museumsgebäude und seine Dauerausstellung erst im Frühjahr 2012 eröffnet wurden. Die Sammlungsgegenstände sind hier nach den Vorgaben Pamuks in schaufensterartigen Boxen arrangiert, die jeweils einem Romankapitel zugeordnet sind und größtenteils in Leserichtung von links nach rechts aufeinanderfolgen (Abb. 1).15 Das Dachgeschoss widmet sich den letzten vier Romankapiteln nach dem Unfalltod Füsuns und gehorcht somit einer anderen Logik. Es zeigt zugleich die vermeintliche Wohn- und Schlafkammer Kemals. Der Ensemblecharakter des Dachzimmers gemahnt an die Kulisse einer Literaturverfilmung oder an ein musealisiertes Dichterhaus. Die Nähe zur Gattung des Literaturmuseums offenbart sich darin, dass auch abstrakte Vorstellungen in das literarische Museumskonzept aufgenommen wurden: »Nicht nur Gegenstände, Ansichten, Bilder und Fotos, sondern auch

12  |  Ebenda, S. 83. 13  |  Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 17. 14  |  Vgl. ebenda, S. 18. 15  |  Am Beispiel der Einrichtung der Museumsbox zum 27. Romankapitel schildert Pamuk seine expografische Tätigkeit exemplarisch. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 136.

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Vergleiche und Metaphern werden in unserem Museum ernsthaft behandelt.«16

Abbildung 1: Einblick in das Museum der Unschuld Der vorliegende Beitrag widmet sich der einzigartigen Parallelaktion von Museum als Literatur und Literatur als Museum. Diese unmittelbare Entsprechung oder Spiegelung markiert einen Sonderfall sowohl der literarischen Gattung Roman wie auch des Literaturmuseums. Um dies gleichsam noch zu steigern, kehrt schließlich das reale Museum in Gestalt eines reich illustrierten Museumskatalogs abermals in Buchform wieder.17 Grundsätzlich weisen sowohl die fiktionale Literatur wie auch die Kulturinstitution Museum Kennzeichen einer ›Parallelwelt‹ auf. Pamuk bekennt sich in seinem autobiografischen Erinnerungsbuch Istanbul zu einem ausgeprägten Hang zu einer der Fantasie verschriebenen, durch eine Neigung zum Eskapismus motivierten »zweiten Welt«.18 Insofern ist es folgerichtig, dass dieser Schriftsteller sich nicht nur in zwei Disziplinen betätigt, die jeweils eine Welt für sich konstituieren, sondern darüber hinaus zugleich deren gegenseitige Reflexion vollzieht. Sowohl

16  |  Ebenda, S. 144. 17 | Vgl. ebenda. 18 | Vgl. stellvertretend für zahlreiche dahin lautende Bekenntnisse Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. München 2003, S. 367.

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Roman wie auch Museum erscheinen als eine Art ›Spiegel im Spiegel‹.19 Gleichwohl können und sollen Roman wie Museum nach dem Willen ihres Schöpfers voneinander unabhängig bestehen und wahrgenommen werden.20 In der folgenden Betrachtung richtet sich der Fokus in erster Linie auf die Besonderheiten des Museums: Es ist der Konzeption und Themenstellung nach als Literaturmuseum zu bezeichnen, nähert sich in seinem Erscheinungsbild jedoch einem kulturgeschichtlichen Spezialmuseum an und ähnelt zugleich den Kuriositätensammlungen in der Tradition fürstlicher Wunderkammern.21

D as D ing im Z entrum von R oman und M useum In Pamuks dualistischem Konzept sind die im Roman aneinandergereihten Sammelgegenstände nicht reine Fiktion, sondern größtenteils existent, in Istanbul gesucht und gefunden worden, und zwar nicht erst nach dem Verfassen des Romans, sondern vor und während des Schreibprozesses.22 Hieraus ergibt sich der singuläre Fall, dass eine Museumssammlung nicht nur das Nebenprodukt oder Zeugnis literarischer Schaffensprozesse ist, sondern diesen vielmehr bereits vorausgeht und vorgreift. Insofern nimmt das Museum der Unschuld eine Sonderstellung unter den textzentrierten Literaturausstellungen ein: Das sprichwörtliche ›Erzählen der Dinge‹ führt über den Museumskontext hinaus zu einem 19  |  In Kapitel 81 wird das Museum der Unschuld explizit zum Gegenstand des Romans. Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 527-536. 20  |  Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 18. 21  |  Zu den Kunst- und Wunderkammern seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit ihren Gegenständen aus Naturmaterialien, Gefäßen aus Edelmetall, Textilien, Keramiken, Medaillen, Bronzen, Waffen, technischen Geräten und vielem anderen mehr siehe Friedrich Waidacher: Handbuch der Allgemeinen Museologie. Wien ³1999, S. 83-85. Vgl. Pamuks Bekenntnis zu den Wunderkammern in Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 245 u. 254. 22  |  Es gibt jedoch bereits im Buch freie Erfindungen wie die Limonadenmarke Meltem sowie im Museum eine ganze Reihe von Nachbildungen, Vortäuschungen und Kopien etwa von Druckerzeugnissen, Filmaufnahmen sowie Lebensmitteln. Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 33f. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 80f.

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ganzen Roman.23 Umgekehrt bringt der Roman die Realien in extensiver Form zum Sprechen. Das Entdecken und Auswählen sowie die Aneignung der Gegenstände erfolgten bei Pamuk weitgehend aus der Haltung eines Flaneurs, wie er im 19. Jahrhundert durch Charles Baudelaire vorgeprägt und für das 20. Jahrhundert durch Walter Benjamin fortentwickelt wurde.24 Nicht von ungefähr schildert Pamuk seine endlosen Streifzüge durch die Straßen und Plätze Istanbuls seit seiner Jugend.25 Das scheinbar ziellose Umherschweifen der Person des Autors und seine unbestimmte Suche nach Halt, die eigentlich dem Mikrokosmos seiner Familie und dem Makrokosmos Istanbul als Gemengelage aus Tradition und Gegenwart gilt, fokussieren sich bei Kemal im Museumsroman auf das ›Liebesobjekt‹ Füsun sowie auf deren Verwandte gleichsam als Ersatzfamilie des Erzählers. Beide Strategien werden motiviert durch den tiefen Wunsch nach Nähe und Identifikation und zeigen zugleich Ansätze von Neugierde und Schaulust, wie sie auch dem musealen Ausstellungswesen inhärent sind. Die Anteilnahme, Empathie und Vorstellungskraft, die sowohl den Verfasser Pamuk wie auch seine Romanfigur Kemal in ihrer Haltung gegenüber Mensch, Ding und Lebensraum auszeichnen, werden im Kern auch vom Ausstellungsbesucher gefordert. Die sukzessive Sammeltätigkeit des Autors Pamuk, die den Schaffensprozess des Romans begleitet, verknüpft das zeitgebundene Moment des 23 | Vgl. in diesem Kontext auch Aleida Assmann: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M. 1988, S. 237-251. Thomas Thiemeyer: Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung. In: Museen für Geschichte (Hg.): Online-Publikation der Beiträge des Symposiums »Geschichts-Bilder im Museum« im Deutschen Historischen Museum Berlin, Februar 2011, URL: www.museenfuergeschichte.de/down loads/news/Thomas_Thiemeyer-Die_Sprache_der_Dinge.pdf, letzter Zugriff am 01.11.2014, S. 7. 24  |  Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Ders.: Gesammelte Schriften. 7 Bde. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 19721991, Bd. V, Teil 1 u. 2 (1982). Pamuk hat sich explizit mit Benjamin und dem Typus des Flaneurs befasst, vgl. Orhan Pamuk: Istanbul (Anm. 18), S. 277 u. 296. Die Referenz auf Baudelaire findet sich ebenda, S. 112. 25  |  Vgl. ebenda, S. 345-347.

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Schreibens und Erzählens mit der zeitlichen Abfolge des Anwachsens einer Sammlung, die wiederum narrative Spuren legt.26 Der Nachvollzug des Texts bei der Romanlektüre gerät demzufolge fast im wörtlichen Sinne zu einem ›(Auf-)Lesen‹, wohingegen im Museum alle Ausstellungsstücke denselben übergreifenden und in sich geschlossenen Kontext der Romanhandlung erhalten. Zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in den Roman waren die Objekte weitgehend arbiträr, bei der Einrichtung des Museums bereits literarisiert. Eingang in die Sammlung fanden vorzugsweise wertlose Gebrauchsgegenstände, Serienprodukte oder Abbildungen aus der Massenkultur, die Kemal im Roman anhäuft und die sich sodann im realen Museum wiederfinden (Abb. 2).

Abbildung 2: Einblick in eine Vitrine des Museums der Unschuld Ihren tieferen Sinn erlangen sie durch den Verweischarakter hinsichtlich der (vermeintlich) vormaligen Besitzerin und Benutzerin Füsun.27 Ein 26  |  Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 16f. u. 21. Vgl. auch Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 348. 27 | Bei Massenware steht die gleichsam sekundäre, dem Gegenstand erst durch die Spuren seiner Verwendung und durch die ihm zugeschriebene spezifische Bedeutung eignende »Erinnerungsveranlassungsleistung« (Gottfried Korff) gegenüber der Ausstrahlung eines originären Artefaktes, etwa bei einem der freien Kunst zugehörigen Objekt, im Vordergrund. Zum Faszinosum geraten die All-

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herausragendes Kuriosum bilden in diesem Zusammenhang die 4.213 sorgsam zu einem Relief arrangierten Zigarettenkippen Füsuns.28 Die Faszination an den Dingen teilt der Museumsbesucher mit der Romanfigur Kemal, weniger jedoch der Romanleser, für den sie ungreif bar und abstrakt bleiben müssen.29 Für Kemal ist seine Hinwendung zu der Geliebten ausschlaggebend für die Bedeutung der Besitzgegenstände, für den Museumsbesucher sind die Exponate zunächst Bedeutungsträger im Hinblick auf den literarischen Text. Eine Bedeutung erlangen die Ausstellungsstücke jedoch nicht allein text- oder autorgebunden, sondern sie dürfen und sollen in größerem Umfang auch kraft ihrer kulturgeschichtlichen Qualität zur Geltung gelangen, im Museum – also in Form ihrer sinnlich-materiellen Präsenz – noch mehr als im Roman, zumal die szenografischen Faktoren des Arrangements und der Atmosphäre die Anmutungsqualität der Objekte dort verstärken. Pamuk spricht der Ansammlung der Exponate im Museum eine Eigendynamik zu und behauptet, dass die Zusammenstellung neue Sinnbezüge hervorbringt. Mithin würde die Konstellation der Dinge im Museum eine Art variablen Metatext bedingen, der zwar nicht mit dem Kontext der Romanvorlage deckungsgleich sei, aber gleichfalls imaginative Kräfte freisetze und in einer der Poesie verwandten Qualität inspirierend wirke: »Das Museum baut auf der Annahme auf, dass Dinge, die völlig verschiedenen Zwecken dienten und für sich genommen höchst unterschiedliche Erinnerungen auslösen, einfach dadurch, dass man sie zusammenbringt, völlig neue

tagsdinge im Museum der Unschuld durch ihre Referenz auf Füsun, auf eine glückliche Vergangenheit der Romanfiguren sowie auf die jüngere Kulturgeschichte der Türkei. Gottfried Korff: Die Eigenart der Museumsdinge. In: Ders.: Museumsdinge. Deponieren – Exponieren. Hg. v. Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König u. Bernhard Tschofen. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 140-145, hier S. 143. 28  |  Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 228. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 422-427. 29  |  Bezeichnenderweise sind es die Museumsbesucher und nicht die Leser, welche im Museum der Unschuld konkrete Porträtfotos mit den Gesichtern der Hauptfiguren Kemal und Füsun erwarten. Vgl. Hubert Spiegel: Gespräch mit dem Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Macht Schluss mit den Repräsentationsmaschinen! Vom Roman zur Sammlung: Das Istanbuler »Museum der Unschuld« ist Europas Museum des Jahres. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Juni 2014, S. 11.

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Gedanken und Gefühle in uns hervorrufen.«30 Dieser geistig-schöpferische Ansatz steht unausgesprochen in der Tradition der surrealistischen Kunsttheorie der 1920er Jahre und ihrer Berufung auf Isidore Ducasse.31 Pamuk billigt seinem Museum also explizit einen gegenüber dem Roman eigenständigen Status zu, weil es in der Lage ist, ein dem literarischen Text vergleichbares, von ihm jedoch unabhängiges Sinngefüge hervorzurufen. Hierdurch bewahrt das Museum seinen spezifischen Reiz und bildet eine mit dem Roman koexistente Einheit, die ihre genuinen, vor allem auf die Sinne wirkenden Eigenschaften zur Geltung bringen kann. Pamuk wechselt vom Schriftsteller zu seiner ehemaligen Profession als Maler und Drehbuchautor, indem er das Museum als bewährte visuelle Vermittlungsform einsetzt, um der Zusammenstellung der Objekte sinnfällig Ausdruck zu verleihen, ohne indes in eine Verbalisierung zu verfallen. Man mag zu bedenken geben, dass die museale Dingwerdung und Verbildlichung der literarischen Erfindung, so sehr ein fiktionaler Text auch wie im vorliegenden Falle von der materiellen Gegenstandswelt angeregt worden sein mag, einen ›Sündenfall‹ darstellt, der mit der Verfilmung eines Romans zwar keineswegs gleichzusetzen, aber immerhin zu vergleichen ist, und dass Pamuks Museum unter diesem Gesichtspunkt die ›verlorene Unschuld‹ der Literatur verkörpert. Die filmische Umsetzung und mehr noch die museale Verdinglichung riskieren nach gängiger Vorstellung die Preisgabe der Fantasie des Rezipienten und heben ein Stück weit die Distanz zwischen Dichtung und Wirklichkeit auf.

Z wischen V erlust und B e wahrung : L ieben und S ammeln Implizit verteidigt Pamuk in seinem Roman die Auffassung, dass museale Sammeltätigkeit und ihr Nachvollzug in der Rezeption durch das Phänomen der menschlichen Liebe und Sehnsucht motiviert sind. Vermutlich würde er dies in anderer Form auch für die Produktion und Rezeption der literarischen Gattung Roman behaupten. Roman wie Mu30  |  Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 183. Vgl. zu diesem Kontext auch Thomas Thiemeyer: Die Sprache der Dinge (Anm. 23), S. 5. 31  |  Vgl. Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film. München 2006, S. 48.

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seum bringen das Absente zur Präsenz und können von Pamuk daher als Einheit gedacht werden. Sein Roman beschreibt eine tragisch-romantische Liebesgeschichte, die durch einen äußersten Wechsel von Nähe und Distanz gekennzeichnet ist. Der Objektfixierung des Liebenden und zugleich Sammelnden kommt dabei nicht nur Ersatzcharakter zu. In der Überzeugung des Ich-Erzählers – und wohl auch des Verfassers – ist das Glücksempfinden stets vom Glücksbewusstsein geschieden: Letzteres setze immer nur retrospektiv ein, wenn der Glücksauslöser selbst nicht mehr zugegen ist, und müsse deshalb über Gegenstände aufgerufen werden.32 Aus dieser Sicht stellen Liebesglück und persönliche Erfüllung ein Paradoxon dar, womit das ›Besitzen-Wollen‹, Zurschaustellen und eine gewisse Schaulust dem nach geltendem Maßstab mitnichten ›unschuldigen‹ Roman und der darin verhandelten Liebe inhärent sind.33 Das fortwährende Zusammenraffen von Alltagsgegenständen aus dem Leben seiner ›Traum-Frau‹ macht aus dem Ich-Erzähler Kemal einen geradezu manischen Sammler.34 Seine Kollektion erhält ihren Wert durch die Vorbesitzerin der Gegenstände beziehungsweise durch die Beziehung, die den Sammler mit ihr verbindet.35 Die Sammlungsgegenstände des Museums wie des Romans konservieren jedoch nicht nur Kemals Liebe, sondern wie oben angedeutet auch das kulturgeschichtliche Erbe Istanbuls und damit zugleich die Kindheit des türkischen Autors Pamuk, in der die früheren Epochen noch in vielen 32 | Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 83. Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 197. 33  |  Zu der seitens der Künstler des Surrealismus vertretenen, durch Inspiration, Assoziation und erotische Konnotationen gekennzeichneten Subjekt-Objekt-Beziehung vgl. Ingrid Pfeiffer u. Max Hollein (Hg.): Surreale Dinge. Skulpturen und Objekte von Dalí bis Man Ray. Ausstellungskatalog Schirn Kunsthalle Frankfurt. Ostfildern 2011. 34 | In der Tat kennt die Museologie ein vitales emotionales Erleben bei Sammlern, welches sich auch auf den Besucher übertragen kann und für das der Philosoph Gernot Böhme die Bezeichnung »Ekstasen de[r] Ding[e]« eingeführt hat. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt a.M. 1995, S. 31-34, hier S. 33. Vgl. Thomas Thiemeyer: Die Sprache der Dinge (Anm. 23), S. 4. 35 | »Meine Liebe zu Füsun erstreckte sich allmählich auf Füsuns ganze Welt, auf alles, was nur irgend mit ihr zu tun hatte, und die Museumsbesucher sollten sich dies immer vor Augen halten.« Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 383.

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Reflexen lebendig waren. Die literarische Fiktion ebenso wie das museale Sammeln erscheinen in diesem Kontext als der Versuch, etwas Verlorenes oder zumindest Entferntes zu bewahren und irgend verfügbar zu halten.36 Dies gilt sogar für die Vergangenheit eines Menschen, in erhöhtem Maße für die Kindheit und die Liebe: Dann wissen wir aber, dass jener gekennzeichnete Moment unwiderruflich vergangen ist, und das lässt uns leiden. Erträglich wird dieses Leiden einzig und allein, wenn uns von jenem goldenen Augenblick irgendein Gegenstand erhalten ist. Greifbare Überbleibsel glücklicher Momente rufen in uns die Erinnerungen daran, die Farben, die Freuden am Berühren und am Sehen, viel treuer zurück, als die Menschen dies könnten, die uns den Augenblick verschafft haben. 37

Es schiene ein lohnendes Unterfangen, die von Melancholie durchdrungene Poetik sowie von Schwermut geprägte Museologie Pamuks nicht allein mit dem türkischen Begriff des »hüzün« zu assoziieren, auf den sich der Autor eingehend beruft, sondern hierzu ergänzend den Terminus der ›Trauerarbeit‹ heranzuziehen.38 Verlust und Tod sind zentrale Motive des Romans; das ›Festhalten‹ an den Gegenständen wird neben vielen weiteren Belegen besonders im Romankapitel Der Trost der Dinge anschaulich.39 Möglich, dass ein Gleichklang von »hüzün« mit der diese Empfindung auslösenden zentralen Figur »Füsun« beabsichtigt ist. Diese Romanfigur fungiert für den Autor Pamuk nicht nur als Idealbild einer Frau, sondern zugleich als eine Art moderne Personifikation der Stadt am Bosporus. Sie kontrastiert die verlorene, missachtete und doch große osmanische Vergangenheit, die omnipräsent und doch unwiederbringlich vorüber ist, Pamuks gesamtem Roman zugrunde liegt und 36 | Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk (Anm. 24), S. 560. Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [deutsche Fassung 1939]. In: Ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 24), Bd. I, Teil 1 (1974), S. 471-508. 37  |  Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 82. 38  |  Zum Begriff »hüzün« Orhan Pamuk: Istanbul (Anm. 18), S. 112. Vgl. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie (1917). In: Sigmund Freud. Studienausgabe. 10 Bde. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Frankfurt a.M. 61989, Bd. 3: Psychologie des Unbewußten (1989), S. 193-212. 39  |  Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 171-175. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 138-141.

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die Folie für Kemals Liebe zu Füsun bildet.40 Diese Analogie zwischen Istanbul-Nostalgie und dem Begehren, einer unerreichbaren Frau nahe zu sein, gelangt in Pamuks Buch Istanbul offen – wenngleich in der Negation des kollektiven Verdrängens – zur Sprache: Das Streben nach Europäisierung schien weniger einem Modernisierungsdrang zu entspringen als vielmehr dem Wunsch, die mit quälenden Erinnerungen behafteten Überreste des untergegangenen Reiches so schnell wie möglich loszuwerden, so wie jemand nach dem Tod der schönen Geliebten schnell ihre Kleider, ihren Schmuck und die Fotos von ihr fortwirft, um von der Erinnerung nicht überwältigt zu werden. 41

Pamuk, der mit seinem zweigleisigen Konzept dem Istanbul der jüngeren Vergangenheit in Gestalt Füsuns ein Denkmal setzen wollte, ist diesem schöpferischen, an der Literatur ausgerichteten Museumsansatz treu geblieben, indem er Sammlung und Ausstellung nicht systematisch, sondern poetisch-assoziativ angelegt hat und seinen ursprünglichen Plan eines »Katalogromans« zugunsten eines Erzähltexts aufgab.42 Die Methode, die Art der Objektauswahl und die Szenografie entsprechen der thematischen Ausrichtung an einer vorbildhaften Synthese okzidentaler und orientalischer Traditionen. Sofern man geneigt ist, ›morgenländische‹ Einflüsse im Sinne Orhan Pamuks als stärker fantasiegeleitet denn rationalistisch aufzufassen, handelt es sich bei dem Museum um ein poetisches Haus im doppelten Sinne: einen Ort der Darstellung von Literatur ebenso wie einen sich poetisch-assoziativ präsentierenden Raum. Somit bleibt Pamuks bereits dem Roman inhärentes Museum seinem Wesen nach poetisch. Das gesamte Projekt zeugt von dem Bemühen, die Kulturgeschichte der Türkei im Allgemeinen und Istanbuls im Speziellen 40 | Explizit bedauert Pamuk die Missachtung nicht muslimischer, namentlich griechischer Traditionen sowie der eigenen osmanischen Vergangenheit. Vgl. Orhan Pamuk: Istanbul (Anm. 18), S. 199-204. 41  |  Ebenda, S. 40. 42  |  Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 15-18. Der Erzähler vertauscht im Roman das reale Abhängigkeitsverhältnis, indem er nicht etwa Kemal als Geschöpf des Verfassers Pamuk vorstellt, sondern diesen als Auftragnehmer und Katalogautor Kemals. Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 544-545.

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mithilfe einer Mischung von westeuropäischen Traditionen (Museum, Sammlung, Diorama, Enzyklopädie) und orientalischen Ansätzen (bildhaftes Arrangieren, Adaptionen aus Westeuropa und den USA) zu erschließen. Dabei treibt der Autor ein raffiniertes, faszinierendes Spiel mit der literarischen Fiktion, indem er durch das Museum seine erdachte Geschichte, das darin antizipierte Museum und die Handelnden scheinbar Wirklichkeit werden lässt. Der Verweischarakter der Sammlung auf mehreren Ebenen bedingt für die Einrichtung des Museums eine besondere Anforderung, da der Besucher zunächst weder mit den Ausstellungsstücken selbst besondere Erwartungen verbindet noch diese auf eine bedeutende Persönlichkeit zurückbeziehen kann. Die einem Museum stets inhärente Kluft zwischen dem Hier und Jetzt und dem von ihm durch Raum und Zeit getrennten, einst realen Menschen oder Ereignis wird im Falle der Umsetzung von Texten in einer Ausstellung noch potenziert. Hier handelt es sich nicht nur um einen inzwischen abwesenden Bezugspunkt, sondern um eine grundsätzlich sinnlich nicht erfassbare, nicht anschauliche Bezugsgröße. Die von Ausstellungsmacher wie Besucher geforderte Transferleistung zwischen Objekt und Bedeutung wird noch erhöht, da Glaubwürdigkeit und Autorität des Verfassers und zugleich Museumsleiters sowie das Vertrauen seiner Adressaten für das Gelingen stets unabdingbar sind. Im Erfolgsfall birgt die Verdinglichung des Fiktiven infolge der Aktivierung und Bestätigung der Einbildungskraft einen besonderen Reiz. Darüber hinaus fungiert der auf die jüngere Vergangenheit Istanbuls abhebende kulturhistorische Aspekt der ausgestellten Sammlung als ›auratisches Vehikel‹ und vermag die Besucher auf einer konventionellen kulturhistorischen Ebene anzusprechen. Mit der Figur Kemals stellt Pamuk dem modernen westlichen Museumswissenschaftler einen vormodernen, primär emotional motivierten Sammlertypus gegenüber. Hier bekennt sich der Autor und Museumsgründer zu einem wesentlichen Movens für die Entstehung historischer Sammlungen und zu einer Zugangsweise, die in der heutigen, oft technokratisch und didaktisch ausgerichteten Zeit jüngst wieder verstärkt zur Geltung gelangt und eine Bereicherung der Museumsarbeit verspricht. Wie in der Liebe erlangt im Ausstellungskontext auch das unscheinbare Objekt Bedeutung. Es wird aufgewertet, sobald es mit der adorierten Person assoziiert wird, sodass man fast von einer Art Übertragung sprechen möchte. Ebenso vermag auch die Literatur das Banale durch die Macht

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der künstlerischen Darstellungsform zu adeln. Liebe und Fantasie, aber auch eine Kultur des Erinnerns, ermöglichen demnach eine Auf- und Umwertung des materiell, instrumentell und ökonomisch weitgehend wertlosen Sammelguts. Diesen Anspruch teilt der Romancier Pamuk mit dem Museumsmacher, wie er in seinem Museumskatalog Die Unschuld der Dinge in den beiden aufeinanderfolgenden Kapiteln Das Massaker an den Dingen und Die Dinge bewahren bekennt.43 Er stimmt darin mit dem so genannten Kompensationsmodell überein, demzufolge das Museum – vereinfacht gesagt – eine Auf bewahrungsanstalt für entsorgte Kulturgüter und einen Ort der Sicherung gegen Identitätsverluste darstellt.44 Die Kritik, dass der retrospektive Horizont nicht ohne einen Standort in der Gegenwart auskommt und überdies Perspektiven für die Zukunft mitdenken muss, hat Orhan Pamuk bereits adaptiert: Heute denke ich, dass ein angehender Maler oder Schriftsteller einen ähnlichen Blickwinkel einnimmt wie ein Sammler, der seine Tätigkeit aus einem Vakuum heraus angeht, denn trotz aller Geschichts- und Gedächtnisrhetorik wird der Sammler wohl nicht aktiv, um Spuren vergangenen Lebens zu bewahren, sondern um sich eine neue Identität und damit eine neue Zukunft zu schaffen.45

Diesen Anspruch setzte er auch in der Praxis um, indem er sein Museum in dem jahrelang eher vernachlässigten Stadtviertel Çukurcuma ansiedelte und Wert auf Partizipation der dort ansässigen Bewohner legte.46 Auch das unablässige Erkunden und Spurenlesen in der Bosporus-Metropole verbindet Pamuks Museumsarbeit zumindest entfernt mit sozialen Projekten und der Idee des Ecomuseums der 1970er Jahre.

43  |  Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 43-53. 44  |  Vgl. Thomas Thiemeyer: Die Sprache der Dinge (Anm. 23), S. 3. Im 82. Kapitel des Romans befasst sich der Autor mit dem fanatischen Sammeln. Diese Leidenschaft erscheint dort als ein Ausgleich auf individueller Ebene und ergänzt das gesellschaftlich dimensionierte Konzept der Kompensation. Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 536-539. Vgl. außerdem Pamuks Museumsmanifest, Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 54-57. 45 | Ebenda, S. 46. Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 539f. 46  |  Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 33.

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L iter atur und M useum Für den Schriftsteller Pamuk scheint ungeachtet der Analogie zwischen Roman und Museum die Literatur den Vorrang zu behaupten. Immerhin antizipiert das vor der Eröffnung erschienene Buch bereits das Museum, enthält schon die Figurenkonstellation und die Grundidee und setzt die Existenz des Museums aus der retrospektiven Erzählperspektive voraus. Das real existierende Museum bildet gewissermaßen die Verlängerung der Poesie in die Welt hinein. Vorstellungsgabe und Gestaltungskraft erscheinen an dieser Stelle nicht mehr prinzipiell voneinander geschieden. Der gleitende Übergang und die gesuchte Grenzverschiebung zwischen Ding- und Vorstellungswelt, Wach- und Traumbewusstsein werden durch die Etablierung des realen Museums auf die Spitze getrieben. Zwar gibt es in der Museumswelt ähnlich gelagerte Beispiele wie etwa das Buddenbrookhaus in Lübeck,47 doch erweist sich Pamuks Konzept als besonders kompromisslos, konsequent und gewagt. Er nimmt die Nähe zu einem Kuriositätenkabinett, zu Sammlerspleen und Kitsch in Kauf und wird belohnt: Das Museum der Unschuld in Istanbul wurde vom European Museum Forum (EMF) als Europäisches Museum des Jahres 2014 ausgezeichnet. Wurde Pamuks Museum für sein Wechselspiel von Dichtung und Wahrheit, von Objekt und Erzählung prämiert, verlässt sich das 2001 eröffnete und in einem Abschnitt der stauferzeitlichen Stadtmauer eingerichtete Nibelungenmuseum Worms ausschließlich auf einen medienbasierten Rundgang mit Bild, Filmausschnitten und vor allem Toneinspielungen (Abb. 3). Dieses der Nibelungensage und weiteren Mythen gewidmete Haus beschreitet gerade den umgekehrten Weg, indem es sich einzig und allein auf den literarischen Text, dessen Quellen und Vorstufen sowie literarische, rezeptionsästhetische und kulturgeschichtliche Folgeerscheinungen bezieht. Der konsequente Verzicht auf jegliche Exponate und Kopien ist vorwiegend durch die Tatsache motiviert, dass ein realgeschichtlicher 47 | Vorbildgebend für das häusliche Szenario in Thomas Manns Roman (Buddenbrooks, erschienen 1901) war das aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammende großbürgerliche Stadthaus der Großmutter Thomas Manns in der Lübecker Mengstraße 4, wo seit der Jahrtausendwende das Setting des Romans in der Beletage nachempfunden ist.

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Kern der Nibelungensage lediglich zu vermuten, keineswegs jedoch durch historisch oder archäologisch gesicherte Artefakte zu belegen und zu veranschaulichen ist. Die historische Verortung wirkt hier zu bindend, um eine freie, fantasiegeleitete Interpretation zu ermöglichen, und zugleich zu wenig verbindlich, um eine plausible Orientierung zu bieten.

Abbildung 3: Das Mythenlabor im Nibelungenmuseum Worms Im Abgleich des Istanbuler und des Wormser Museumskonzepts erscheinen zwei Punkte besonders signifikant: Zum einen erhält in beiden Ausstellungen die sprachliche Erläuterung einen besonderen Stellenwert. Bei Pamuk liegt sie in Form des Romans vor, für die Dauerausstellung in Worms wird sie als Audioführung vor Ort imaginiert. Dabei bezieht sich das Museum auf die lange orale Tradierung des Nibelungen-Epos, das erst um 1200 niedergeschrieben wurde. Zum anderen ist für beide Museen das Phänomen einer Personalisierung zu diskutieren. Im Falle des Nibelungenmuseums mutiert der – dem Kanon der mittelalterlichen Heldendichtung folgend – anonym gebliebene Dichter zum neuen ›Hausherren und Gastgeber‹ des Museums. Er übernimmt in der Audiotour die Rolle des ›Museumsführers‹ und ist hierin der Ursprungsidee Pamuks nicht gänzlich unähnlich. In beiden Fällen bewirkt der Einbezug vermeintlicher Hauptzeugen (Autor respektive Hauptfigur) einer Geschichte den erhöhten Anschein von Authentizität und eröffnet Räume für ein reizvolles Spiel mit Rollen und Perspektiven.

S ichtbarmachen des U nsichtbaren Sowohl die Liebesthematik des Romans wie auch der kulturelle Kosmos des Museums der Unschuld – die Alltagskultur wie die Realgeschich-

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te Istanbuls – markieren eine Art ›Suche nach der verlorenen Zeit‹ im Proust’schen Sinn.48 Während der Roman die Gegenstände in einer zeitlichen Abfolge vorstellt, leistet das Museum der Unschuld deren räumliche Zusammenstellung. So betrachtet müssen Roman und Museum einander wechselseitig ergänzen, um die Einheit von Raum und Zeit wiederherzustellen, die zunächst das Ziel der Verschmelzung der Liebenden im Roman ist. Sie ist aber wohl auch das verborgene Ideal der Verbindung zwischen Dichter und Publikum,49 genauer gesagt zwischen der Dichtung und dem Leser. Wie beschrieben erschaffen beim Museum der Unschuld Ausstellung und Roman durch ihre wechselseitigen Referenzen und die dadurch ausgelöste Irritation einen interferierenden, schwebenden Metatext, der die Fantasie verabsolutiert und die Zeit tendenziell aufhebt. Mitten im Museumsfoyer, und damit gleichsam an der bedeutungsvollen Schwelle der ›Museumsinitiation‹ jedes Besuchers, hat Pamuk mit der Darstellung einer großen Zeitspirale ein sprechendes Bild für seine literatur- und museumsgestützte Antithese zur raumzeitlich begrenzten, liebesfeindlichen Alltagswirklichkeit platziert.50 Literatur und Museum vermitteln als Kulturträger etwas über die Dimensionen von Raum und Zeit hinweg, das selbst nicht (mehr) un48  |  Marcel Proust findet bei Pamuk beiläufig Erwähnung, vgl. Orhan Pamuk: Istanbul (Anm. 18), S. 68. 49  |  Aus der Perspektive Kemals wird der Wunsch nach emotionalem Nachvollzug seiner Empfindungen durch die Museumsbesucher anhand der ausgestellten Objekte geäußert. Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 350 u. 365. 50  |  Vgl. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 253. Die Bedeutung des Museums und seiner Exponate für die Überwindung der Zeitgebundenheit und damit für die Ermöglichung von Begegnung spiegelt sich im Museumskatalog in der folgenden Beobachtung: »Doch gerade in Momenten, in denen die Zeit stillzustehen scheint, bemerken wir erst recht die Dinglichkeit der Dinge.« Der Überzeitlichkeit der Objekte im Museum korrespondiert im Roman das Phänomen des Wartens (ebenda, S. 129). Die Spirale steht für Wiederkehr, Begegnung und Vergegenwärtigung und richtet sich gegen eine einseitig-moderne lineare Zeitauffassung, die von Progression, Wachstum und Anstieg bestimmt ist. Auch die erstrebte Absolutsetzung des Augenblicks weist in diese Richtung. Vgl. Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld (Anm. 3), S. 306-313, 381f. u. 543. Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 9, 197 u. 252f.

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mittelbar gegenwärtig sein kann. Im Falle der Literatur dient eine Folge von Zeichen als Brücke zum Unsichtbaren. Im Museum mutiert ein an sich wertvoller oder auch belangloser Gegenstand zum Bedeutungsträger, zum ›Semiophor‹, wie Krzysztof Pomian das Exponat bezeichnet.51 Den Anspruch eines Museums, die Vergangenheit durch Exponate in die Gegenwart zu vermitteln, fasst Pamuk im Museumskatalog seines Hauses in die Forderung: »Jedes Ausstellungsobjekt, sei es ein Salzstreuer oder ein Zigarettenstummel, soll uns an die Augenblicke erinnern, in denen Zeit sich im Raum manifestiert.«52 Die genuine Ästhetik der Literatur beruht hingegen auf dem Zeichensystem der Sprache, nicht aber der äußeren Erscheinungsweise des Texts durch Faktoren wie Schrifttype oder -träger. Der Text stellt der Tendenz nach etwas vor (Repräsentation), der Ausstellungsgegenstand stellt etwas dar (Präsentation). Orhan Pamuks Museum der Unschuld ist angetreten, die Diskrepanz zwischen literarischer und musealer Arbeits- und Wirkungsweise spielerisch aufzuheben, ja auszuhebeln. Grundsätzlich bewegt sich das Ausstellen von Realien im Museum zwischen der ›Verdinglichung‹ (oder auch dem ›begreif baren DingfestMachen‹) von Geschichte sowie jenen Geschichten, welche die Gegenstände zu ›erzählen‹ haben. Während im Kunstmuseum das konkret präsente Werk im Brennpunkt der Aufmerksamkeit steht und didaktisch erschlossen werden will, nehmen in einer Literaturausstellung, die ein bestimmtes Werk behandelt, jene Zeugnisse, die dessen Entstehung, Wirkungsgeschichte, Inhalt sowie Autor vertreten, eine dienende und flankierende Funktion ein. Die Ausstellungsstücke sind dort nicht primäres Ziel, sondern Instrument der Erkenntnisvermittlung. Die Ausstellung erzählt dann weniger die Geschichte der Dinge als vielmehr die Geschichte mithilfe der Dinge. Pamuks Museum verfährt in diesem Kontext in seltener Weise folgerichtig und versammelt auf engem Raum in dichter Folge die Dinge dieser einen und keiner anderen Geschichte, als handele es sich dabei wahrhaftig um die Requisiten und Zeugnisse der Romanhandlung. Die Exponate des Museums der Unschuld bezeugen dem Anschein nach die Erzählung und in Wahrheit die Textgenese. Sie bildeten die primäre Quelle der Eingebung des Schriftstellers und bleiben fortan die Inspira51 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 3 1998, S. 50. 52  |  Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge (Anm. 1), S. 9.

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tionsquelle seiner Leserschaft wie seines Museumspublikums. Dass die Ausstellung ihre Eigendynamik entfaltet und die Exponate ähnlich dem surrealistischen Konzept von Poesie und Schöpfertum miteinander interagieren und dabei einen neuen poetischen Funken schlagen, erkennt und bekennt der Museumsgründer Pamuk: Bei der Gestaltung der Boxen wurde mir jedoch allmählich bewusst, dass die Dinge, die ich jahrelang gesammelt und im Roman beschrieben hatte, im Museum eine neue Bedeutung gewannen. Sobald sie in die Boxen kamen, redeten sie miteinander und sangen ein neues, ein anderes, ein über den Roman hinausgehendes Lied. […] Ich wollte aus den Dingen immer ein Bild formen, sie aber versuchten mir anscheinend etwas anderes zu sagen. […] und schon nach kurzer Zeit redeten die Dinge miteinander, wie sie es schon in den verstaubten Zimmern meiner Großmutter getan hatten. 53

Durch diese Einsicht in die Geltung der Objekte ist es Orhan Pamuk gelungen, nicht nur als Literaturnobelpreisträger 2006 zu reüssieren, sondern auch als Museumsgründer erfolgreich und anregend zu agieren.

Bildnachweis Abbildung 1 und 2: All rights belong to The Museum of Innocence Abbildung 3: Nibelungenmuseum Worms (Foto: Eichfelder Artworks) 53  |  Ebenda, S. 83.

Vom Klang und Bild der Poesie Strategien zur Präsentation und Vermittlung Konkreter und Visueller Poesie Anne Thurmann-Jajes Ausgehend von der menschlichen Wahrnehmung möchte ich abstrahierend Klang als Schallereignis, das ein Hörereignis generiert, Bild als Oberbegriff für alle Formen visueller Darstellungen und Poesie als verallgemeinernde Bezeichnung für Gedichte beziehungsweise lyrische oder poetische Texte einführen. Werke, die diese Bereiche vereinen, bezeichnet der Künstler und Verleger Dick Higgins als »[i]ntermedia«. In seinem 1966 veröffentlichten gleichnamigen Aufsatz Intermedia führt er aus: »Much of the best works being produced today seems to fall between media.«1 Daraus folgert Higgins: »Thus the happening developed as an intermedium, an uncharted land that lies between collage, music and the theatre. It is not governed by rules; each work determines its own medium and form according to its needs. The concept itself is better understood by what it is not, rather than what it is.«2 Diesen Werken gemeinsam ist die inhaltliche Ausrichtung auf ein weites Spektrum zugleich literarischer, künstlerischer und musikalischer Bezüge. In diesem Sinne stehen die Begriffe Klang, Bild und Poesie stellvertretend für alle Formen Konkreter, Visueller, Auditiver, Radiofoner und Digitaler Poesie. Sie beschreiben aber auch das interdisziplinäre Verhältnis, in dem Literatur im Zentrum für Künstlerpublikationen in der Weserburg Bremen verortet ist und das den zentralen Ansatzpunkt für ihre Präsentation und Vermittlung darstellt.

1  |  Dick Higgins: Intermedia. In: something else Newsletter 1 (1966), Nr. 1, S. 1. 2  |  Ebenda, S. 3.

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Im Folgenden werde ich vorab das Zentrum für Künstlerpublikationen, seine Archiv- und Sammlungsbestände, vorstellen. Ausgehend von der Darstellung der literarischen Bezüge von Künstlerpublikationen im Allgemeinen wird sodann die Konkrete und Visuelle Poesie als künstlerische und literarische Strömung im Zentrum stehen. Damit ist der übergreifende Kontext beschrieben, in dem die Ausstellung Poetry goes Art & vice versa im Jahr 2011 stattfand. Den zweiten Teil meiner Ausführungen bilden Thesen zur Präsentation und Vermittlung von Werken der Konkreten und Visuellen Poesie, deren Strategien am Beispiel der genannten Ausstellung vorgestellt werden.

A rchiv - und S ammlungsbestände im liter arischen K onte x t Das Zentrum für Künstlerpublikationen umfasst circa 50 verschiedene Archive, Nachlässe, Fonds, das heißt Teilnachlässe, und Sammlungen von Künstlerpublikationen beziehungsweise über 200.000 vervielfältigte, veröffentlichte und publizierte Kunstwerke, die ab Anfang der 1950er Jahre in aller Welt entstanden sind. Diese Bestände, die international zu den größten und bedeutendsten dieser Art zählen, zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln sowie Künstlerpublikationen weiter zu sammeln und als Kulturgut zu sichern, sind die zentralen Aufgaben des Zentrums. Im Kontext eines weiten Literaturbegriffs kann fast die Hälfte der Werke aus den Beständen des Zentrums für Künstlerpublikationen verortet werden. Es liegt ein umfassendes Verständnis von Literatur zugrunde, das von ihrem medialen Charakter – ihrer Schriftlichkeit, Bildlichkeit und Sprachlichkeit – ausgeht und in der konzeptionellen Wandlung zum künstlerischen Werk jede Art von Umsetzung, vom Text-Bild-Bezug bis hin zum Zertifikat, umfassen kann. So versteht sich ein großer Teil der über 3.000 vertretenen Künstler zugleich als Literaten und Musiker. Insbesondere die Künstlerfonds zu Gerhard Rühm, Franz Mon, Heinz Gappmayr, Marcel Broodthaers und Ruth Wolf-Rehfeldt sind im literarisch-künstlerischen Zwischenbereich angesiedelt und vermitteln einen fast vollständigen Überblick über ihre veröffentlichten, publizierten und vervielfältigten Kunstwerke.3 Spezielle Bestände bilden der Fond Bielefel3  |  Die Bestände umfassen jedoch nicht das jeweilige rein literarische Schaffen.

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der Colloquium Neue Poesie, mit den Tondokumenten der öffentlichen Lesungen des Colloquiums, und der Fond Konkrete Poesie von Lisbeth Crommelin, mit den von ihr im Kontext der Ausstellung klankteksten/konkrete poëzie/visuele teksten, sound texts/concrete poetry/visual texts, akustische texte/konkrete poesie/visuelle texte 1972 privat gesammelten Materialien. Eine Besonderheit stellt die Sammlung Artists’ Writings mit literarischen und theoretischen Schriften von Künstlern dar. Zu diesem Bestand zählen eher ›traditionelle‹ literarische Formen wie Essays, Hörspieltexte, Romane und Theaterstücke, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. Bestandsübergreifend sind literarisch-künstlerische Werke aus allen Ländern Europas, Nord- und Südamerikas, aus Australien und einigen asiatischen Ländern sowie aus zahlreichen Kunstströmungen vorhanden – von der Fluxus-Bewegung über die Mail Art und Konzeptkunst bis hin zur Konkreten und Visuellen Poesie. Die verschiedenen Konvolute zur Konkreten und Visuellen Poesie machen dabei den größten Teil der literarisch orientierten Bestände aus. Die vorhandenen literarischen Formen sind im übertragenen Sinne identisch mit den verschiedenen Gattungen der Künstlerpublikationen: Audio-Kassetten und Audio-CDs, Auflagenobjekte, Ephemera, Fernsehkunst, Film- oder Video-Editionen, Foto-Editionen, Grafiken, grafische Arbeiten, Künstlerbücher, Künstlerschallplatten, Künstlerzeitschriften, Künstlerzeitungen, Multimedia-Editionen, Multiples, Netzkunst und Radiokunst. Die Künstler beziehen für ihre literarisch-künstlerischen Werke alle Medien ein. Der Literatur-, aber auch der Kunstbegriff, von dem dabei ausgegangen wird, ist ein pragmatischer. Literatur ist das, was vom Künstler, Musiker und Schriftsteller als literarisches Werk auf der Grenze von bildender Kunst, experimenteller Musik und Literatur angesiedelt wird. Damit ist das literarische Werk gleichzeitig auch ein Werk der bildenden Kunst und gegebenenfalls der Musik. Sprache wird zum Gegenstand unterschiedlicher medialer Umsetzungen, oder anders ausgedrückt, Literatur wird Teil einer künstlerisch interdisziplinären Schaffensstrategie. Auf den Beständen des Zentrums für Künstlerpublikationen basieren sowohl die Forschung als auch alle Ausstellungen und Publikationen sowie die speziellen Vermittlungsaktivitäten und Veranstaltungen.4 Die 4  |  Pro Jahr werden circa vier bis sechs temporäre Ausstellungen konzipiert und umgesetzt. Die selbständigen Veröffentlichungen im Rahmen der Ausstellungen und Forschung summieren sich zurzeit auf circa 70 Titel.

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außerordentliche Materialvielfalt und -fülle ermöglicht wissenschaftliche Studien und übergreifende Ausstellungen, wie beispielsweise die Ausstellung Poetry goes Art & vice versa. Insofern gehört das Zentrum weltweit zu den wichtigsten Institutionen im Bereich der Künstlerpublikationen und besitzt als Museum, Forschungsinstitut und Archiv ein Alleinstellungsmerkmal, sowohl in Bezug auf seine Sammlungsbestände als auch auf seine wissenschaftliche Forschung.

P oetry goes A rt & vice versa Die Ausstellung Poetry goes Art & vice versa. Zur Entstehung und internationalen Entwicklung der Konkreten und Visuellen Poesie seit den 1950er Jahren fand vom 21. Mai bis zum 14. August 2011 statt und wurde von der Kulturstiftung des Bundes gefördert.5 Auf circa 800 Quadratmetern Ausstellungsfläche mit 14 Ausstellungssektionen beziehungsweise -räumen konnten die Entstehung der Konkreten Poesie – die sich parallel an vier Plätzen im Kreis von Eugen Gomringer in der Schweiz, durch die Aktivitäten der Noigandres-Gruppe in Brasilien sowie im Vorfeld der Wiener Gruppe in Österreich und im Umfeld von Öyvind Fahlström in Schweden gebildet hatte – sowie die unterschiedlichen Darstellungsformen, die sich international seit den 1960er Jahren aus ihr heraus entwickelt haben, mit circa 900 Arbeiten präsentiert werden. Unter dem Oberbegriff der Konkreten und Visuellen Poesie werden alle Formen Experimenteller, Konkreter, Visueller, Auditiver, Digitaler und Radiofoner Poesie subsumiert, die seit den 1950er Jahren bis Anfang der 1980er Jahre entstanden sind und die gleichnamige Kunstströmung charakterisieren. Während die Konkrete Poesie Anfang der 1950er Jahre entstand und durch Konstellationen, Wortreihen und Ideogramme charakterisiert ist, kamen bereits Anfang der 1960er Jahre visuelle und akustische Gestaltungselemente auf, die zur Visuellen, Auditiven und Radiofonen Poesie führten. Aufgrund der fortschreitenden künstleri5  |  Die Ausstellung des Zentrums für Künstlerpublikationen fand in Kooperation mit dem internationalen Literaturfestival Poetry on the Road, dem Institute for Cultural Studies in the Arts der Zürcher Hochschule der Künste, dem Forschungsverbund Künstlerpublikationen, der Universität Bremen und dem Museu de Arte Contemporânea der Universität São Paulo (MAC USP) statt.

Vom Klang und Bild der Poesie

schen Individualisierung, die eine Vielzahl unterschiedlichster weiterer Ausprägungen begründete, kann ab Anfang der 1980er Jahre nicht mehr generalisierend von Kunstströmungen gesprochen werden. So leiten sich beispielsweise bei Gerhard Rühm über 50 verschiedene Genres im weitesten Sinne aus der Konkreten Poesie ab. Diese bestehen teilweise bis zum Ende des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie 2002 weiter und werden aktuell von einer jüngeren Künstlergeneration wieder aufgegriffen. In der Konkreten und Visuellen Poesie wird »nicht mehr über etwas geschrieben, also beschrieben, sondern das Material Sprache führt sich selbst vor, ist sich selbst genug«.6 Das führt zur Fokussierung auf den einzelnen Buchstaben und das einzelne Wort und bedeutet gleichzeitig eine Reduzierung auf das Notwendigste, was ein Gedicht ausmacht. Die Konkrete und Visuelle Poesie zielt gleichermaßen auf die reine Essenz dessen, was Sprache ausmacht. Diese Beschäftigung mit der Materialität von Sprache basiert auf dem Herauslösen von Wort, Silbe, Buchstabe und Satzzeichen aus dem angestammten Umfeld, um in der Verbindung mit bildkünstlerischen sowie akustischen Praktiken neue literarisch-künstlerische Formen zu schaffen. So entstand eine neue, per se intermediale Qualität. Die kulturpolitischen Paradigmen der Konkreten und Visuellen Poesie liegen zum einen in der Abgrenzung zum nationalsozialistischen Gedankengut, das auch noch die Nachkriegsjahre in Deutschland und Österreich prägte, und zum anderen in den Freiheitsbestrebungen unter totalitären Regimen in den Ländern Osteuropas und Lateinamerikas. Die ästhetischen Voraussetzungen finden sich in den künstlerischen Strömungen der klassischen Avantgarde, wie dem Dadaismus, dem Konstruktivismus und der Konkreten Kunst. Letztere war insbesondere für die Künstler in der Schweiz und in Brasilien von großer Bedeutung. Die Forschungsfrage hinter der Ausstellung lautete: Wie kam es, dass die Konkrete Poesie gleichzeitig an vier verschiedenen Orten, trotz großer geografischer Entfernung und unterschiedlicher politischer, kultureller und sozioökonomischer Situationen entstand, sich international ausbrei6 | Michael Glasmeier: Auf der Suche nach dem einen Wort – Einführung in die konkrete Poesie. In: buchstäblich wörtlich wörtlich buchstäblich. Eine Sammlung konkreter und visueller Poesie der sechziger Jahre in der Nationalgalerie Berlin. Hg. v. der Nationalgalerie, Staatliche Museen, Preußischer Kulturbesitz Berlin. Berlin 1987, S. 8-16, hier S. 13.

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tete und dabei zahlreiche neue künstlerische Formen entwickelt wurden? Das Ziel der Ausstellung lag darin, die Entstehung und internationale Entwicklung der Konkreten und Visuellen Poesie als eine erste globale Kunstströmung nach dem Zweiten Weltkrieg sowie als Literaturströmung auf der Basis ästhetischer Prinzipien vorzustellen. Darüber hinaus galt es, die Vielschichtigkeit der Gattungen, Genres und intermedialen Bezüge bis zum Ende des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie 2002 aufzuarbeiten.

P r äsentationsstr ategien Die Präsentationsstrategien zur Umsetzung der Ausstellung basierten auf zwei Komponenten, zum einen auf der inhaltlichen Konzeption und zum anderen auf der partizipativen Vermittlungsdimension. Während in der inhaltlichen Konzeption die thematische Ausrichtung, die Auswahl der Werke, ihre Zusammenstellung beziehungsweise Anordnung, die räumliche Struktur und die Gestaltung bestimmt wurden, folgte in einem zweiten Schritt die Betrachtung und Verfeinerung dieser Konzeption unter dem Aspekt der partizipativen Vermittlungsdimension. Dabei wurde überlegt, welche Möglichkeiten und Ansätze einzelne Werke bieten und welche Kontexte oder Bezüge geschaffen werden können, um Besuchern das Verständnis zu erleichtern, sie direkt anzusprechen und, soweit möglich, aktiv werden beziehungsweise teilhaben zu lassen. Es geht dabei um die Vermittlungsdimension, die durch die Aufarbeitung des Themas und seine Präsentation erreicht werden kann, sowie die Nutzung der Vermittlungspotenziale, die dem Ausstellungsthema und den einzelnen Werken immanent sind. Diese beiden Komponenten bedingten und durchdrangen sich gegenseitig. Es galt, diese für die Ausgestaltung der Ausstellung konzeptionell, partizipativ und gestalterisch zu nutzen. In Abgrenzung dazu basierten die weiteren Vermittlungsstrategien auf der bereits installierten Ausstellung und der Überlegung, mit welchen Mitteln sie darüber hinaus vermittelt werden kann (vergleiche den letzten Abschnitt dieses Beitrags). Im Rahmen der oben genannten Zielstellung zeigte die Ausstellung Poetry goes Art & vice versa die Entstehung und Entwicklung der Konkreten und Visuellen Poesie anhand ausgewählter Werke. Insofern wurde für die Präsentation ein werkorientierter Ansatz verfolgt, also kein biografischer,

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der einzelne Künstlerpersönlichkeiten ins Zentrum rückt. Die Intention einer solchen Präsentation von Konkreter und Visueller Poesie bestand darin, dem breiten Publikum die Teilhabe am Kunstgeschehen und am musealen Geschehen zu ermöglichen und es in künstlerische Positionen einzuführen. Dabei sollten Hintergrundinformationen zur Verfügung gestellt, Zeitgeschichte und künstlerische Kontexte erfahrbar gemacht, eine Auseinandersetzung mit der Komplexität unserer Gesellschaft angeboten sowie Schulen, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen ein anschaulicher, unmittelbarer Zugang zu den Werken geboten werden. Konkrete und Visuelle Poesie sollte als etwas vermittelt werden, das mit dem Leben und den Erfahrungen der Menschen verbunden ist, um so Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die gezeigten Kunstwerke individuell bedeutsam werden konnten. Auf diese Weise wurden nicht nur die bereits erwähnte Abgrenzung zum Nationalsozialismus und der Protest gegen die Remilitarisierung in den 1960er Jahren, sondern auch die Gestaltung der Umwelt durch eine neue Sprache bei Eugen Gomringer thematisiert.7 Die Struktur der Ausstellungsräume folgte inhaltlich der Entstehung und Entwicklung der Konkreten und Visuellen Poesie von Anfang der 1950er Jahre bis zum Ende des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie 2002. Insofern bildete die Reihenfolge der Raumsegmente in der Ausstellung die zeitliche Entstehung und Entwicklung der Konkreten und Visuellen Poesie ab. Die ersten vier Räume der Ausstellung waren dem Beginn in den 1950er Jahren gewidmet, gegliedert nach den oben genannten Orten. Die Zeitschrift Spirale und die ersten gemeinsamen Veröffentlichungen der Künstler sowie die Magazine, Publikationsreihen und Anthologien zur Konkreten und Visuellen Poesie bildeten das Thema der nächsten beiden Raumeinheiten. Schreibmaschinenarbeiten, welche die ersten konkreten Gedichte überhaupt darstellten, wurden im anschließenden Raum ausgestellt. Es folgte ein Ausstellungsbereich zur Visuellen Poesie in der Mail Art, bei der sich Künstler weltweit gegenseitig Werke in Form von Schreibmaschinenarbeiten, Collagen und Kleingrafiken per Post zugeschickt haben. Die Ausdifferenzierung der künstlerischen Formen und 7  |  Siehe dazu Eugen Gomringer: poesie als mittel der umweltgestaltung (1969). In: Ders.: theorie der konkreten poesie. texte und manifeste 1954-1997. Wien 1997, S. 61-75 und ders.: das gedicht als gebrauchsgegenstand (1960). In: Ebenda, S. 30-31.

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Genres setzte sich in den fünf anschließenden Räumen fort. So wurden die vielen unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Visuellen Poesie wie auch der Lautpoesie und der Auditiven Poesie thematisiert. Des Weiteren konnte gezeigt werden, wie sich die Konkrete und Visuelle Poesie als Objekt, Grafik und Edition sowie im Film, im Video und als Digitale Poesie manifestierte. Die Präsentation des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie bildete den Abschluss des Ausstellungsparcours. Die architektonische Gestaltung setzte auf Raumdurchblicke beziehungsweise Blickachsen und damit kulissenartige Anordnungen der Werke, sodass vielfältige Bezüge und Beziehungen zwischen den präsentierten Werken ermöglicht wurden. Um die prozessorientierte Wahrnehmung zu fördern, wurde kein streng chronologischer Weg durch die Ausstellung festgelegt, sondern auf eine Bezüge herstellende oder vernetzende Präsentation gesetzt. Sie wurde auch dadurch erreicht, dass die Raumgestaltung dem Besucher neben dem Aufenthalt im (Ausstellungs-)Raum zudem eine beobachtende Position außerhalb dieses Raums ermöglichte, indem einzelne Raumsequenzen von einer Halbetage aus überblickt werden konnten (Abb. 1).

Abbildung 1: Blick in die Ausstellung Poetry goes Art & vice versa (2011), Zentrum für Künstlerpublikationen in der Weserburg, Bremen Die Raumstruktur ermöglichte den Besuchern, sich selbst die Entstehung, die Vernetzung, die Weiterentwicklung und Diversifizierung der Konkreten und Visuellen Poesie zu erschließen. Die Ausstellungspräsen-

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tation verlangte, um mit Jacques Rancière zu sprechen, »nach Zuschauern, die als Interpreten aktiv sind und die versuchen, ihre eigenen Übersetzungen zu erfinden, um die Geschichten sich anzueignen und ihre eigenen Geschichten daraus zu machen«.8 Überschriften, die einzelne Raumsegmente charakterisierten, halfen bei der Orientierung. Ein besonderes Präsentationselement bildeten grau gestrichene Wandstreifen mit einer Einfassung aus circa drei Zentimeter breiten Naturholzstreifen in Verbindung mit Naturholzvitrinen, die nur in den ersten vier Räumen beziehungsweise zu den vier Entstehungskontexten der Konkreten Poesie eingerichtet wurden (Abb. 2).

Abbildung 2: Blick in den Themenbereich Brasilien der Ausstellung Poetry goes Art & vice versa (2011), Zentrum für Künstlerpublikationen in der Weserburg, Bremen In diesen Vitrinen wurden Anthologien, Künstlerbücher und Künstlerzeitschriften gezeigt, bei denen das grundsätzliche Präsentationsproblem darin bestand, dass von ihnen in der Regel nur das Cover oder eine aufgeschlagene Doppelseite gezeigt werden konnte. Ein Durchblättern war aus konservatorischen Gründen nicht möglich. Da diese Publikationen aus der Anfangszeit aber besonders wichtig sind, sollte mehr aus ihrem Inneren gezeigt werden. So wurden einzelne Werke ganz oder teilwei8  |  Jacques Rancière: The Emancipated Spectator. Ein Vortrag zur Zuschauerperspektive. In: Texte zur Kunst 58 (2005), S. 34-51, hier S. 51.

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se, das heißt einzelne Kapitel oder Seiten, faksimiliert und direkt auf die grauen Flächen geklebt. Während sich das Werk in der Vitrine befand, waren die faksimilierten Seiten darüber an der Wand in unmittelbarer Korrespondenz zu sehen. Für die Besucher waren die Zusammenhänge, wenn sie vor der Vitrine standen, selbsterschließend. Die faksimilierten Seiten unterschieden sich von den grafischen Arbeiten an der Wand nicht nur dadurch, dass sie auf den grauen Flächen klebten, sondern auch durch das Fehlen von Rahmen. Insofern wurde deutlich, dass es sich hier um die Präsentation von faksimilierten Arbeiten handelte, die so von den Kunstwerken selbst zu unterscheiden waren. Auf diese Weise konnte beispielsweise Dieter Roths Zeitschrift Poterie (Nr. 1, 1967), deren Bindung es noch nicht mal zuließ, sie geöffnet zu präsentieren, vollständig faksimiliert zugänglich gemacht werden. Um Beziehungen in der internationalen Entwicklung der Konkreten und Visuellen Poesie aufzeigen zu können, wurde bereits bei der Auswahl der Objekte darauf geachtet, dass in den einzelnen Raumsektionen Künstler aus verschiedenen Ländern mit ihren Werken vertreten waren. Dies galt jedoch nicht für die Ausstellungsräume speziell zu den vier Entstehungsländern Schweiz, Brasilien, Österreich und Schweden. Auf diese Weise wurde die lokale Entstehung und die anschließende internationale Verbreitung der Konkreten und Visuellen Poesie vermittelt. Die vernetzende Präsentationsweise bezog sich auch auf die Werke einzelner Künstler. So waren verschiedene Arbeiten von Augusto de Campos nicht nur im Ausstellungsbereich zu Brasilien, sondern beispielsweise auch im Kontext der Künstlerzeitschrift Spirale, der Grafik-Editionen, der Anthologien und der Digitalen Poesie zu sehen. Die einzelnen Kunstformen, wie das Künstlerbuch, waren ebenfalls in mehreren Sektionen der Ausstellung integriert. Durch diese ineinander verwobenen Bezüge konnte die Konkrete und Visuelle Poesie in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit aufgezeigt und verstanden werden. Diese Strategie manifestierte sich ferner in den unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Gedichte: Sie traten in der Ausstellung in Form aufgeschlagener Buchseiten, als Grafiken, als Objekte, als Hörspiele, als Multimedia-Editionen, als Postkarten, als Plakatgedichte oder als Faksimiles auf. In den verschiedenen Sektionen wurde der Betrachter für die verschiedenen medialen Darstellungsformen und damit zusammenhängenden ›Materialitäten‹ von literarischen Werken sensibilisiert: Dabei konnte unmittelbar deutlich werden, dass sich ein Gedicht als immaterielles, akustisches Werk von einer Erschei-

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nungsweise in materieller Buchform auch im Hinblick auf den zu vermittelnden Inhalt unterscheidet. Durch die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Gedichtmanifestationen, die sich beim Gang durch die Ausstellung zwangsläufig ergaben, wurde die Konkrete Poesie in ihrer Stellung zwischen experimenteller Literatur, bildender Kunst und Neuer Musik für den Besucher erfahrbar. Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit Whisper Piece (1969) von Bob Cobbing, die in Form einer SchreibmaschinenEdition im Writers Forum herausgegeben wurde (Abb. 3).

Abbildung 3: Bob Cobbing, Whisper Piece. In: Writers Forum Folder Nr. 6. London: Writers Forum, 1969. Sammlung ASPC/Zentrum für Künstlerpublikationen in der Weserburg, Bremen Gleichzeitig setzte der Künstler die Schreibmaschinendarstellung akustisch um und trug die dabei entstandene Lautpoesie unter dem Titel Whississippi beim Fylkingen Festival im Schwedischen Rundfunk vor,

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wodurch das Werk zum Radiokunstwerk wurde. Die Visuelle Poesie wandelte sich auf diese Weise zu einem akustischen Kunstwerk. Zusätzlich gab Cobbing die Anleitung zur auditiven Umsetzung, die auch als visuelle Partitur angesehen werden kann, als Künstlerbuch heraus. Die gemeinsame Präsentation der drei Arbeiten machte zum einen die im Werk angelegte Multimedialität als ein besonderes Phänomen der Visuellen und Konkreten Poesie deutlich. Zum anderen wurde dadurch die gegenseitige Verweiskraft der medialen Umsetzungen genutzt. Bei dieser Werkpräsentation konnte folglich die werkimmanente Vermittlungsdimension genutzt werden. Ein weiteres Beispiel aus der Ausstellung ist das aus drei einzelnen Filmen bestehende Werk 3 Kinematographische Texte von Gerhard Rühm, das aufgrund seiner Intermedialität ein besonderes Vermittlungspotenzial besitzt: »In diesen Filmen wird die Bewegung zur Poesie, und die Poesie gerät in Bewegung, wodurch sich die Produktionsbedingungen des einen Mediums im anderen darstellen. Poesie wird als Film und Film als Poesie dargestellt. Bedeutung generiert sich durch die Form, die Umsetzung. Jeder der drei Filme als solcher wird zu einem konkreten Gedicht.«9 Diese intermediale Verfasstheit kennzeichnet die literarisch-künstlerischen Arbeiten der Konkreten und Visuellen Poesie im Allgemeinen – sie verleiht den einzelnen Genres der Konkreten, Visuellen, Auditiven oder Digitalen Poesie einen eigenständigen künstlerischen Status. Die Trennung in Träger (Film, Papier, Buch) und Inhalt (Gedicht) besteht nicht, da sie eine künstlerische Einheit bilden. Die damit verbundene künstlerische Materialität der Konkreten und Visuellen Poesie, die sich in Künstlerbüchern, Künstlerzeitschriften, Künstlerfilmen, Grafiken und Objekten manifestiert, stellt eine besondere Vermittlungsdimension dar, die literarischen Werken in der Regel nicht innewohnt.

V ermit tlungsstr ategie Die Vermittlung der aufgebauten Ausstellung erfolgte auf der Basis einer kuratorischen und personalen Vermittlung, einschließlich museumspä9  |  Anne Thurmann-Jajes: »Text – Bild – Musik«. Zum widersprüchlichen Verhältnis von Intermedia und Intermedialität in der Konkreten Poesie. In: David Bathrick u. Heinz-Peter Preußer (Hg.): Literatur inter- und transmedial. Inter- and Transmedial Literature. Amsterdam, New York 2012, S. 261-277, hier S. 277.

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dagogischer Vermittlungsaktivitäten, sowie durch begleitende Veranstaltungen und Publikationen. Die kuratorische Vermittlung der Ausstellung manifestierte sich in erläuternden Texten in der Ausstellung. Zu jeder der 14 verschiedenen Ausstellungssektionen wurde einleitend ein kurzer und prägnanter Text verfasst, zentrale Werke erhielten eine erweiterte Bildunterschrift mit erklärenden Sätzen. Darüber hinaus stellten Führungsblätter und ein Flyer, die mitgenommen werden konnten, ergänzende Informationen bereit. Die personale Vermittlung umfasste Führungen, Workshops, ein Universitätsseminar sowie museumspädagogische Aktivitäten in Form von schulischen Angeboten und Ferienkursen für Kinder und Jugendliche. Die Vermittlung von umfassenden Hintergrundinformationen beziehungsweise ergänzenden Inhalten zur Ausstellung sowie zu einzelnen Künstlerpersönlichkeiten, die über die Ausstellungstexte hinausgingen und die einer rein kognitiven Vermittlung entsprachen, sollte im Rahmen von Führungen und Workshops, im Symposium und Seminar sowie in den Katalogtexten ausführlich angesprochen und dargestellt werden. Die Ausstellung wurde auf diese Weise nicht mit Informationen überfrachtet, den ästhetischen und sinnlichen Erfahrungen der Besucher war genügend Raum gegeben. Solche ergänzenden Informationen betrafen beispielsweise die kritische Auseinandersetzung mit oder die fast schon ›feindselige‹ Rezeption der Konkreten Poesie seitens einiger Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger10 sowie die politischen und kulturellen Beweggründe, welche die Entstehung der Konkreten Poesie bedingten. Die Konzeption der Ausstellung sah keine dokumentarische Präsentation, sondern eher eine ›Sinnesgeschichte‹ vor. Die Vermittlung der verschiedenen Formprinzipien, etwa des Ein-Wort-Gedichts, des Figurengedichts, des Ideogramms, des Dialektgedichts, der Konstellation und Reihung, von Textmontagen und Schriftobjekten sowie der verschiedenen auditiven und visuellen Ausdrucksmittel, erfolgte in Workshops, in denen mit künstlerischem Material gearbeitet wurde. Dabei konnten, ergänzend zur kognitiven Auseinandersetzung, die unterschiedlichen literarischen und ästhetischen Qualitäten der ausgestellten Werke vermittelt werden. Anlässlich der Ausstellung wurden zudem verschiedene Veranstaltungen konzipiert und umgesetzt, um sie zu ›verlebendigen‹ und den Be10  |  Siehe dazu Hans Magnus Enzensberger: Regression als Fortschritt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Juli 1960, o.p.

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suchern authentische Begegnungen mit Künstlern und Wissenschaftlern zu ermöglichen. Dazu zählten ein Konzert mit Gerhard Rühm, ein Vortrag von Klaus Peter Dencker zur Optischen Poesie, eine Lesung Eugen Gomringers zu seinen Sonetten im Rahmen des internationalen Literaturfestivals poetry on the road und das Symposium zur internationalen Verbreitung und Diversifizierung der Konkreten Poesie. Durch Vorträge der Künstler Gerhard Rühm, Franz Mon, Jean-François Bory und Eugen Gomringer sowie die Diskussion mit ihnen und den beiden ebenfalls anwesenden Künstlern Klaus Peter Dencker und Timm Ulrichs wurde die Konkrete und Visuelle Poesie in ihren verschiedenen Entstehungszusammenhängen lebendig. Als Zeitzeugen und Protagonisten stellten sie die gesellschaftlichen und kulturgeschichtlichen Kontexte der 1950er und 1960er Jahre und damit die künstlerischen Bedingungen vor. Zudem wurden zahlreiche Führungen angeboten, in deren Rahmen auch zeitgenössische Poetry Slammer auftraten. Zu den Publikationen gehört eine Dokumentation des Symposiums mit allen Vortragstexten und eine Multimedia-Edition zum Werk Gerhard Rühms.11

Bildnachweis Abbildung 1 und 2: Zentrum für Künstlerpublikationen in der Weserburg, Bremen (Foto: Bettina Brach) Abbildung 3: Bob Cobbing, Whipser Peace, Writers Forum Folder Nr. 6. London: Writers Forum, 1969, ASPC/Zentrum für Künstlerpublikationen in der Weserburg, Bremen 11  |  Anne Thurmann-Jajes (Hg.): Poesie – Konkret. Poetry – Concrete. Zur internationalen Verbreitung und Diversifizierung der Konkreten Poesie. On Concrete Poetry’s Worldwide Distribution and Diversification. Köln 2012. Anne ThurmannJajes (Hg.): begegnung der besonderen art. gerhard rühm. eine multimediale edition. Bremen 2013.

Die Aura in der (Literatur-)Vermittlung Die Inszenierung einer Faust-Ausgabe in der Ausstellung Lebensfluten — Tatensturm im Goethe-Nationalmuseum Anja Thiele In den aktuellen museologischen Überlegungen spielt das Konzept der Aura nach wie vor eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, die Wirkungsweisen von musealen Präsentationen zu beschreiben und damit das Potenzial des Museums als Ort der Vermittlung hervorzuheben.1 Die Herausgeberinnen des jüngst erschienenen Sammelbandes Kaf kas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur kommen zu dem Ergebnis, dass die Aura »ein wichtiger Terminus technicus, ein zentrales Motiv, ja, ein zentrales Anliegen für viele der auf dem Gebiet der Literaturvermittlung Schaffenden« bleibt.2 Aber was verbirgt sich hinter diesem Konzept der Aura? Und inwiefern ist es möglich, auch jenseits einer mythischen Weltanschauung mit diesem Begriff die oben genannten Parameter insbesondere im Hinblick auf die Literaturvermittlung zu beschreiben?

1 | Vgl. Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld 2013, S. 7-21, hier S. 12. Gottfried Korff: Anmerkungen zur aktuellen Situation des Museums (Einleitung zur 2. Auflage). In: Ders.: Museumsdinge. Deponieren – Exponieren. Hg. v. Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König u. Bernhard Tschofen. Köln, Weimar, Wien 22007, S. IXXXIV, hier S. XVII. 2  |  Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff: Einleitung (Anm. 1), S. 12.

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A ur a -K onzep tionen Als ›Aura‹ von Walter Benjamin erstmals um 1930 als ästhetische Reflexionskategorie herangezogen wurde,3 hatte der Begriff bereits eine lange Bedeutungsgeschichte hinter sich. Ursprünglich meinte das griechische Wort Aura ›Lufthauch‹ oder ›sanfter Wind‹.4 Allerdings fand es bereits in der Antike in verschiedener Weise als Metapher Verwendung, etwa für den Atem im Sinne von ›Lebenshauch‹ oder für die Öffentlichkeit.5 Mit der Übernahme ins Lateinische wurde die Bedeutung des Begriffs erneut um die des ›Lichtglanzes‹ erweitert, von der sich in der Vormoderne schließlich seine mystische Verwendung im Sinne eines den einzelnen Menschen umgebenden ›Leuchtens‹ ableitete, die bis heute noch gebräuchlich ist. Genau genommen meint Aura in diesem Kontext die »fragile[-], räumlich diffuse[-] materielle[-] Ausstrahlung« eines lebendigen Körpers oder auch einer Gottheit, die dessen übernatürliche beziehungsweise göttliche Autorität legitimiert.6 Walter Benjamin, der sich seit 1927 in mehreren Texten auf heterogene Weise mit der Aura auseinandersetzte, eröffnete eine weitere Bedeutungsdimension, indem er den Begriff auf ästhetische Phänomene bezog.7 Es gibt jedoch nicht das eine Benjamin’sche Aura-Konzept, sondern vielmehr »mehrere, mitunter schwer vereinbare Hinsichten« auf ein spezielles Wahrnehmungsphänomen.8 Nach Peter Spangenberg müssen 3  |  Vgl. Peter Spangenberg: Aura. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhard Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel. Stuttgart 2010 [Studienausgabe]. Bd. 1: Absenz – Darstellung. Stuttgart 2010, S. 400-416, hier S. 404. 4  |  Vgl. ebenda, S. 402f. 5  |  Vgl. ebenda, S. 403. 6 | Ebenda. 7 | Laut Josef Fürnkäs findet sich der Begriff der Aura bei Benjamin zum ersten Mal 1927 in verschiedenen Protokollen zu oftmals gemeinschaftlich durchgeführten Drogenexperimenten. Hier verweist Aura noch im Sinne der Kabbalisten auf den ›Äther‹, der jeden Menschen umgibt. Die erste Erwähnung des Begriffs im kulturgeschichtlichen Kontext findet sich bei Benjamin 1931 in der Studie Kleine Geschichte der Photographie. Vgl. Josef Fürnkäs: Aura. In: Benjamins Begriffe. 2 Bde. Hg. v. Michael Opitz. Frankfurt a.M. 2000. Bd. 1, S. 95-146, hier S. 106f. 8  |  Ebenda, S. 103.

Die Aura in der (Literatur-)Vermittlung

bei Benjamin mindestens zwei divergierende Definitionsebenen der Aura unterschieden werden: Einerseits plausibilisiere er die Aura als einen subjektiven Erfahrungsmodus, als »basales, ganzheitliches Erfahrungsmuster […], das auf historisch-ästhetische Wahrnehmungsgegenstände – Kunstwerke – übertragen werden kann«, andererseits beschreibe er die Aura »als objektinhärente[-] Qualität, die diese Kunstwerke auszeichnet und bei der Beschäftigung mit ihnen wirksam wird«.9 Die am breitesten rezipierte und bis heute geläufigste Definition, auf die ich mich im Folgenden beziehen möchte, ist die zweite Variante des Benjamin’schen Aura-Konzepts. Hier wird Aura als eine Konfiguration von Eigenschaften angesehen, die den jeweiligen Trägern innewohnt. Benjamin legt diese Definition insbesondere in seinem berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1935 beziehungsweise 1936 dar: Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.10

Mit dieser Definition bestimmt der Philosoph die Aura in erster Linie als eine spezifische Qualität von Kunstwerken, um sie von (nicht auratischen) Reproduktionen zu unterscheiden. So kommt er zu dem hinlänglich bekannten Schluss: »Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.«11 Zwar erkennt er die Aura auch als Eigenschaft von Naturphänomenen an, Menschen oder Situationen jedoch bleiben ausgeschlossen. In dieser Argumentation wird die Aura »ausschließlich als ko-präsente Eigenschaft eines singulären, physisch anwesenden Objekts«, etwa eines Kunstwerks, gedacht.12 Aus 9  |  Peter Spangenberg: Aura (Anm. 3), S. 405f. 10 | Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften. 7 Bde. in 14 Teilbänden. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1972-1999. Bd. 1.2: Abhandlungen. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1974, S. 431-508, hier S. 440. 11  |  Ebenda, S. 438. 12  |  Peter Spangenberg: Aura (Anm. 3), S. 409.

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Benjamins Argumentation im Kunstwerk-Aufsatz lassen sich laut Josef Fürnkäs drei zentrale Kriterien für ein auratisches (Kunst-)Objekt ableiten: Materialität, Authentizität beziehungsweise Echtheit sowie Singularität.13 Alle drei Kriterien sind argumentativ eng miteinander verknüpft und lassen sich nur schwer voneinander trennen. Aus pragmatischen Gründen sollen sie dennoch als heuristische Kategorien zur späteren Analyse der Inszenierungsstrategien im Goethe-Nationalmuseum Weimar dienen und deshalb an dieser Stelle näher vorgestellt werden. Hervorzuheben ist zunächst das Kriterium der materiellen Anwesenheit des Kunstwerks. So betont Benjamin das »Hier und Jetzt« des Originals, das heißt sein »einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet«.14 Nur dem materiell anwesenden Gegenstand könne die Aura innewohnen, denn die »physische[-] Struktur«15 verweise stets auf die Geschichte des Kunstwerks: auf sein Alter und die Veränderungen, denen es im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist, sowie auf die »wechselnden Besitzverhältnisse, in die es eingetreten sein mag«.16 Damit geht untrennbar die Authentizität beziehungsweise Echtheit einher: »Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus.«17 Ein in einer Barockkirche befindliches Fresko ist an seinen Ort gebunden, während die Reproduktion auch an Orte gelangt, die dem Original nicht erreichbar sind. Nach Benjamin besitzt aber eben nur das echte Kunstwerk die ›Autorität‹ der historischen Zeugenschaft: »Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft.«18 Das in der Kirche befindliche Fresko verweist also durch seinen spezifischen Ort stets auf seine jeweilige historische Einbettung, auf den so genannten »Traditionszusammenhang«.19 Die ursprüngliche historische

13  |  Vgl. Josef Fürnkäs: Aura (Anm. 7), S. 118. Peter Spangenberg: Aura (Anm. 3), S. 409. 14 | Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Anm. 10), S. 475. 15  |  Ebenda, S. 437. 16 | Ebenda. 17 | Ebenda. 18  |  Ebenda, S. 438. 19  |  Ebenda, S. 441.

Die Aura in der (Literatur-)Vermittlung

Funktion von Kunst sieht Benjamin im Kultbild verkörpert.20 Es wurde eigens zum Zweck eines magischen beziehungsweise religiösen Rituals geschaffen – man denke erneut an das Kirchenfresko. Entscheidend ist, dass diese Verbindung zur Ritualfunktion beim auratischen Kunstwerk trotz des geschichtlichen Funktionswandels der Kunst in Benjamins Auffassung immer erhalten bleibt: Selbst die »profansten Formen des Schönheitsdienstes« sind immer als »säkularisiertes Ritual« erkennbar.21 Die Funktion der Aura wird hier also magisch-theologisch fundiert. Die oben genannten Kriterien – das »Hier und Jetzt« des Originals, seine Einmaligkeit und Echtheit sowie die geschichtliche Zeugenschaft – fasst Benjamin schließlich in dem Begriff der »Einzigkeit« zusammen.22 Diese Singularität stellt das Kunstobjekt in direkten Gegensatz zur Reproduktion: Die Reproduktionstechnik […] löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. […] [Dieser Prozess führt] zu einer gewaltigen Erschütterung des Tradierten – einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist. 23

In den massenweise vervielfältigten Reproduktionen ist die historische Kontinuität zwischen Kunst und religiösem Ritual aufgelöst und die Verbindung zum Kultwert des Originals endgültig eliminiert. Folglich könne die Reproduktion keine Aura mehr entfalten.24 Somit geht Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz von einer »selbstreferentiellen« Aura des Erfahrungsgegenstands aus.25 In dieser Lesart werden Materialität, Authentizität und Singularität des auratischen (Kunst-)Objekts als ontologisch gegeben und dem Objekt inhärent aufgefasst. Dieses 20 | Vgl. ebenda. 21 | Ebenda. 22 | Ebenda. 23  |  Ebenda, S. 438. 24 | Wie bereits das zuvor zitierte Zitat deutlich macht, beklagt Benjamin den Verlust der Aura nicht nostalgisch, sondern erkennt darin im Gegenteil auch emanzipatorische Potenziale. Der Film und andere massenhafte Vervielfältigungen von Kunstwerken verweisen für ihn auf die demokratischen Chancen der Massenkultur. Vgl. ebenda, S. 459f. 25  |  Peter Spangenberg: Aura (Anm. 3), S. 401.

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Aura-Konzept wird aber aus Perspektive derjenigen Denkansätze fraglich, die den subjektiv oder sozial konstruierten Charakter von Wirklichkeit betonen. Sozialkonstruktivistische Theorien etwa widersprechen der Sichtweise von a priori gegebenen, stabilen Strukturen einer erkennbaren Welt, die unabhängig vom Subjekt existieren.26 Zwar hatte auch Benjamin, wie geschildert, in anderen Aufsätzen die Aura schon als einen Rezeptionsmodus plausibilisiert, die konstruktivistischen Ansätze jedoch greifen weiter. Das Konzept der Performativität etwa, das aus der Linguistik stammt, hat seit den 1990er Jahren in den Kulturwissenschaften große Popularität erfahren.27 Theorien des Performativen liegt die Auffassung zugrunde,28 dass die soziale Realität – in diesem Fall etwa die Wirkweise eines (Kunst-)Objekts – grundsätzlich erst durch symbolische Handlungen, wie etwa Sprechakte oder Inszenierungsstrategien, hervorgebracht wird.29 Diese Theorien bestreiten, »dass das Objekt eine feststehende Bedeutung besitzt, die der Betrachter nur wahrnehmen, aber nicht beeinflussen kann«.30 Allein die Art und Weise, wie Objekte oder Texte zur Aufführung kommen beziehungsweise inszeniert werden, sei zentral für deren Wirkung. Die Theorien der Performativität können – folgt man Thomas Thiemeyer oder Uwe Wirth – auch auf das Konzept der Aura übertragen werden. Demnach sei Aura keine objektinhärente, ontologische Qualität der Gegenstände, sondern entstehe erst durch eine bestimmte Art und Weise der Inszenierung.31 Die Aura ist 26  |  Vgl. ebenda, S. 402. 27  |  Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 33. 28 | Erika Fischer-Lichte geht von einem »ausdifferenzierte[n] Theoriefeld« des Performativen aus, das man nicht unter einer einzelnen Theorie subsumieren kann. Sie nennt verschiedene Ansätze wie die Sprachphilosophie John L. Austins, die Kulturphilosophie Judith Butlers oder die auf Victor Turner zurückgehenden Ritualtheorien, die allesamt verschiedene Theorien des Performativen anbieten. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität (Anm. 27), S. 37. 29 | Vgl. Sybille Krämer u. Marco Stahlhut: Das »Performative« als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie. In: Paragrana 10 (2001), S. 35-64, hier S. 35f. 30 | Thomas Thiemeyer: Zwischen Aura und Szenographie. Das (Literatur-)Museum im Wandel. In: Burckhard Dücker u. Thomas Schmidt (Hg.): Lernort Literaturmuseum. Beiträge zur kulturellen Bildung. Göttingen 2011, S. 60-71, hier S. 65. 31 | Vgl. ebenda, S. 67. Uwe Wirth: Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt? In: Anne Bohnenkamp u. Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume. Zeichen-Wechsel.

Die Aura in der (Literatur-)Vermittlung

folglich, wie ich anhand eines Beispiels aus der Literaturvermittlung darlegen möchte, der Effekt spezifischer – in diesem Fall musealer – Inszenierungs- und Vermittlungsstrategien.

D ie aur atische I nszenierung einer Faust I-A usgabe Anhand der Inszenierung einer Faust I-Ausgabe innerhalb der Dauerausstellung Lebensfluten – Tatensturm im Goethe-Nationalmuseum Weimar lässt sich zeigen, wie durch gezielte Vermittlungsstrategien ein Objekt ›auratisiert‹ werden kann, wie also die Qualitäten eines Objekts in der musealen Inszenierung für den Betrachter hervorgehoben werden und dabei zugleich auf das immaterielle literarische Werk als solches verweisen.32 Die Ausgabe des Faust I, hier eine Weimarer Ausgabe aus dem Jahr 1887, wird innerhalb der Ausstellung an zentraler Stelle positioniert: Sie befindet sich in einem Raum im zweiten Stock der Ausstellung, der vom Mittelpunkt des Museums, der so genannten ›Faust-Galerie‹, durch ein Fenster hindurch einsichtig, jedoch nicht unmittelbar zugänglich ist. Die ›Faust-Galerie‹ verbindet als zentraler Treppenaufgang die beiden Etagen der Ausstellung. Sie unterscheidet sich konzeptionell grundlegend von den anderen sieben Ausstellungssektionen (›Genie‹, ›Gewalt‹, ›Welt‹, ›Liebe‹, ›Kunst‹, ›Natur‹ und ›Erinnerung‹), da sie sich ausschließlich dem literarischen Werk Faust widmet. Die Ausgabe des Faust I liegt mit aufgeschlagenen Seiten in dem angrenzenden, schwarz gestrichenen Raum und ist in ihrer Positionierung zur ›Faust-Galerie‹ hin ausgerichtet. In einer Pultvitrine wird die Ausgabe zusammen mit einer Bleistiftzeichnung Goethes präsentiert (Abb. 1).

Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen. Göttingen 2011, S. 53-64, hier S. 60. 32 | Die Ausstellung Lebensfluten – Tatensturm, die am 28. August 2012 eröffnet und unter der Leitung von Wolfgang Holler und Bettina Werche kuratiert wurde, ist als Dauerausstellung im Goethe-Nationalmuseum Weimar konzipiert. Vgl. Wolfgang Holler, Gudrun Püschel u. Bettina Werche (Hg.): Lebensfluten – Tatensturm. Die Ausstellung im Goethe-Nationalmuseum. Ausstellungskatalog. Weimar 2012.

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Abbildung 1: Ausgabe des Faust I in der Ausstellung Lebensfluten – Tatensturm, Goethe-Nationalmuseum Weimar Beide Medien – Buch und Zeichnung – treten durch das Ausstellungsarrangement deutlich aus dem Raum hervor, der allein ihrer Präsentation gewidmet ist. Bezeichnenderweise handelt es sich bei dem Buch nicht um ein besonders spezifisches Einzelstück – etwa um die Erstausgabe von 1808 oder ein Exemplar aus Goethes Besitz –, sondern um eine historische Buchausgabe. Das hier ausgestellte Buch des Faust I – und damit stellvertretend das literarische Werk – erlangt seinen besonderen Stellenwert in der Ausstellung allein durch die auratische Inszenierung. Die konkreten Präsentationsstrategien sollen nun anhand der Benjamin’schen Kriterien Singularität, Authentizität und Materialität dargestellt werden. Wie oben angedeutet, wird das einzelne materielle Buch als singulär inszeniert, um auf die Einzigartigkeit des literarischen Werks Faust im Allgemeinen abzuheben. Die Singularität von Goethes kanonischem Werk wird dabei bereits durch seine Positionierung innerhalb der gesamten Ausstellung evident. Dem Faust ist – als einzigem literarischen Werk Goethes in der Ausstellung – mit der ›Faust-Galerie‹ ein eigener Raum gewidmet, der von den Kuratoren als »Rückgrat« und Zentrum der Ausstellung konzipiert ist.33 33  |  Wolfgang Holler: Lebensfluten – Tatensturm. Goethe ausstellen. In: Wolfgang Holler, Gudrun Püschel u. Bettina Werche (Hg.): Lebensfluten – Tatensturm (Anm. 32), S. 11-19, hier S. 16.

Die Aura in der (Literatur-)Vermittlung

Er ermöglicht Blicke in die verschiedenen Abteilungen der Ausstellung, womit verdeutlicht wird, dass Faust das zentrale Werk in Goethes Schaffen darstellt, das ihn lebenslang begleitete. Die Präsentation der historischen Faust I-Ausgabe ist eng in dieses Konzept eingebunden: Sie befindet sich, wie erwähnt, in einem gesonderten Raum, der als Fortsetzung der ›Faust-Galerie‹ verstanden werden kann. Er ist komplett in Schwarz gehalten, in seiner Mitte steht eine übergroße, verglaste Pultvitrine. Das Buch wird aufgeschlagen in der Vitrine präsentiert, die Handzeichnung Goethes ist ihr entgegengesetzt, also vom Raumeingang aus unmittelbar einsehbar, zugeordnet. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird somit vollständig auf die beiden einzigen Objekte im Raum konzentriert, wodurch der Eindruck der Singularität der ausgestellten Ausgabe – und auch des literarischen Werks – hervorgerufen wird. Diese Blicklenkung wird auch durch die Beleuchtungssituation forciert: Die Exponate in der Vitrine sind ausgeleuchtet und erstrahlen gleichsam in dem ansonsten völlig dunklen Raum. Im Gegensatz zu den Exponaten in den anderen Räumen, die durch Zitate und Erläuterungen in Form von Wandtexten und im Medienguide begleitet werden, sind dem Faust I kaum Paratexte beigeordnet: Einzig eine kleine Texttafel mit Objektdaten verweist auf den Autor, den Titel, die Datierung und die besitzende Institution des Exponats; im Medienguide zur Ausstellung findet sich kein Eintrag. Das Buch, so wird hier durch die Inszenierungsstrategie suggeriert, steht stellvertretend für das singuläre kanonische Werk, das offenbar keinerlei Erklärung bedarf. Im Gegensatz zu dieser kuratorischen Setzung, die die Faust I-Ausgabe zusammen mit der Zeichnung in einem einzelnen Raum konzentriert, werden andere Ausstellungsobjekte in Objektarrangements gemeinsam in Vitrinen präsentiert, um formale, ästhetische oder inhaltliche Korrespondenzen oder Entwicklungen hervorzuheben. Eine Ausgabe von Goethes Wahlverwandtschaften etwa wird in der Ausstellung als ein Exempel präsentiert, das Goethes Beschäftigung mit dem Thema ›Liebe‹ veranschaulichen und bezeugen soll.34 Das Buch erhält keine eigene Vitrine oder gar einen separaten Raum, sondern befindet sich zusammen mit

34  |  Es handelt sich dabei um folgende Ausgabe: Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. Upsala 1812. Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

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fünf weiteren Exponaten in einer der zahlreichen Wandvitrinen der Ausstellungssektion ›Liebe‹ (Abb. 2).35

Abbildung 2: Sektion ›Liebe‹ in der Ausstellung Lebensfluten – Tatensturm, Goethe-Nationalmuseum Weimar Jene Ausgabe der Wahlverwandtschaften wird unter dem Motto »Verbotene Liebe im Drama und Roman« unter anderem zusammen mit einem illustrierenden Kupferstich von Heinrich Schmidt, aber auch mit einer Ausgabe von Goethes Lustspiel Stella. Schauspiel für Liebende sowie zwei dazugehörigen Illustrationen von Daniel Berger nach Daniel Nikolaus Chodowiecki beziehungsweise Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld gezeigt.36 Die Ausgabe der Wahlverwandtschaften steht hier im Vergleich zur Faust I-Ausgabe nicht stellvertretend für das literarische Werk als solches, sondern in erster Linie für eine zentrale inhaltliche Dimension, das Motiv der (verbotenen) Liebe. Auch durch die reihende Form der Präsentation wird verhindert, dass die Ausgabe als singuläres Werk in ihrer 35 | In der Ausstellungssektion ›Liebe‹ befinden sich darüber hinaus Teile von Goethes Erotica-Sammlung, etwa Gemmenabdrücke mit erotischen Motiven, aber auch Briefe des Dichters an seine Ehefrau und Geliebten oder Porträtzeichnungen von Christiane Vulpius. 36  |  Vgl. Charlotte Kurbjuhn: Verlassen und vereinigen. Schwierige Liebschaften in Goethes literarischem Werk. In: Wolfgang Holler, Gudrun Püschel u. Bettina Werche (Hg.): Lebensfluten – Tatensturm (Anm. 32), S. 139-141, hier S. 140f.

Die Aura in der (Literatur-)Vermittlung

einzigartigen Materialität wahrgenommen wird. Stattdessen wird der Charakter des Exemplarischen aufgrund der Koppelung an illustrierende oder erklärende Objekte und der Einordnung in einen thematischen Gesamtzusammenhang hervorgehoben. Im Gegensatz zur Faust I-Ausgabe wird die Ausgabe der Wahlverwandtschaften eben nicht als ein »Reizobjekt« ausgestellt, das »aus sich heraus« funktionieren soll, sondern vielmehr auf seine »historische Zeugenschaft« und seine »Funktion als Verweis oder Beleg« reduziert.37 Auch im Vergleich zu der Inszenierung anderer Werke Goethes innerhalb der Ausstellung wird einsichtig, dass es eben nicht die konkrete Faust I-Ausgabe ist, der per se eine Aura inhärent ist beziehungsweise die quasi ontologisch Authentizität und Einzigartigkeit verbürgt, sondern dass jene Attribute dem literarischen Werk als solchem durch die Strategien der Vermittlung zugeschrieben und in der Rezeption evoziert werden sollen. Ebenso wie die Einzigartigkeit ist auch die Authentizität das Ergebnis der Inszenierung: Das aufgeschlagene Buch – anhand der vergilbten Seiten und der Frakturschrift auch für den Laien als historisches Exemplar erkennbar – wird in Bezug auf Goethe als authentisch präsentiert, indem ihm eine spezifische Zeichnung zugeordnet wurde. Inhaltlich korrespondieren beide Objekte: Sie beziehen sich auf die Erscheinung des Erdgeistes in der Nacht-Szene des Dramas. Liest man in den Seiten des aufgeschlagenen Buchs (gezeigt werden V. 485-529), so stößt man auf das für die Ausstellung titelgebende Zitat: »In Lebensfluten, im Thatensturm, wall’ ich auf und ab, webe hin und her!«38 Die Zeichnung führt 37  |  Thomas Thiemeyer: Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung. In: Museen für Geschichte (Hg.): Online-Publikation der Beiträge des Symposiums »Geschichts-Bilder im Museum« im Deutschen Historischen Museum Berlin, Februar 2011, URL: www.museenfuergeschichte.de/down loads/news/Thomas_Thiemeyer-Die_Sprache_der_Dinge.pdf, letzter Zugriff am 01.11.2014, S. 6. Thiemeyer stellt hier die Frage, »ob Dinge, die nicht wie Gemälde oder Skulpturen für die Rezeption gemacht wurden, als Reizobjekte im Museum aus sich heraus funktionieren, oder ob ihr einziger Daseinszweck in ihrer historischen Zeugenschaft, also in ihrer Funktion als Verweis oder Beleg, besteht«. 38 | Johann Wolfgang von Goethe: Faust I. Weimar 1887, S. 32. Die Tatsache, dass der Titel der Ausstellung ein Zitat aus Faust I ist, verweist erneut auf die herausragende und singuläre Rolle, die Faust als literarisches Werk für die Konzeption der gesamten Ausstellung einnimmt.

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skizzenhaft den monströsen Erdgeist, der dem Faust durch das Fenster seines Studierzimmers erscheint, vor Augen.39 Im Gegensatz zu der Präsentation der Wahlverwandtschaften und weiterer Werke wird hier jedoch nicht die Illustration eines anderen Künstlers gewählt, sondern eine von Goethes ›eigener Hand‹. Die so erzeugte Authentizität überträgt sich auf das Buch. Als zweiter Authentizitätsmarker kann der konkrete Ort gelten, an dem sich die Ausgabe befindet – nämlich die Ausstellungsräume, die räumlich unmittelbar an Goethes ehemaliges Wohnhaus anschließen, in dem er mehrere Jahrzehnte gelebt hat und in dem weite Teile des Faust entstanden sind. Fernerhin wurde für die Ausstellung eigens eine Ausgabe ausgewählt, die vor Ort in Weimar gedruckt wurde – auch das verleiht dem Buch einen authentischen Charakter. Nicht zuletzt wird die Materialität, also die physische Anwesenheit des abstrakten literarischen Werks an diesem Ort, durch die bewusste Inszenierung dieser konkreten Faust I-Ausgabe hervorgehoben. Dies macht bereits die Ausstellungssituation des Buchs hinter Glas in der übergroßen Pultvitrine deutlich: Denn die Tatsache, dass man es nicht berühren darf, verweist ex negativo auf seine materielle Gegenwart. Darüber hinaus wird die historische Buchausgabe als materieller Gegenpart einer digitalen Präsentation gegenübergestellt. In der ›Faust-Galerie‹ wird nämlich – als einzigem Ort in der Ausstellung – mit Digitalität operiert. Inmitten des Treppenhauses befindet sich ein Terminal, an dem der Besucher Stichworte aus Goethes Drama wählen kann. Die willkürlich aneinandergereihten Stichworte lassen sich beliebig oft und in wahlloser Reihenfolge anklicken, woraufhin jeweils die zugehörige Textpassage aus Goethes Werk auf einer Installation erscheint. Der Raum, in dem die Faust I-Ausgabe präsentiert wird, liegt genau hinter dieser Wortinstallation. Dabei wird durch ein Fenster eine dezidierte Blickachse eröffnet: Die Präsentationsfläche der digitalen Installation und das aufgeschlagene, hell erleuchtete einzelne Buch werden für den Besucher zugleich wahrnehmbar (Abb. 3).

39  |  Illustration zu ›Faust. Eine Tragödie‹. Erscheinung des Erdgeistes, 1810/12 oder 1819, Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Bleistift, 22,1 x 17,4 cm, Klassik Stiftung Weimar, Museen, GGz/1367.

Die Aura in der (Literatur-)Vermittlung

Abbildung 3: Blickachse über die Faust I-Ausgabe zur Installation der ›Faust-Galerie‹ in der Ausstellung Lebensfluten – Tatensturm, Goethe-Nationalmuseum Weimar Dabei steht das materielle Buch, das als einzigartig, physisch greif bar und authentisch inszeniert wird, über dem digitalen Text – der Reproduktion –, die zufällig, beeinflussbar und wiederholbar ist. Erneut wird also in dieser Kontrastierung, gerade weil sie an die Benjamin’schen Reflexionskategorien von auratischem Kunstwerk und Reproduktion denken lässt, das auratische Moment des materiellen Buchs – und damit wie beschrieben auch des literarischen Lebenswerks Goethes – hervorgehoben. In diesem Sinne scheint es nur schlüssig, dass der Raum, in dem die Faust I-Ausgabe kultisch-auratisch inszeniert wird, der Ausstellungssektion ›Erinnerung‹ zugeordnet ist.

D as P otenzial der A ur atisierung Es bleibt zu fragen, was Museen dazu motiviert, im Rahmen der Vermittlung von Literatur als musealem Objekt das auratische Moment wie beschrieben zu inszenieren. Ein Grund hierfür liegt sicherlich, wie oben angedeutet, in den neuen Dimensionen und Qualitäten von medialen ›Reproduktionen‹ durch die zunehmende Digitalisierung: Das ehemalige, materiell fundierte, Leitmedium Buch büßt mehr und mehr sei-

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nen Stellenwert ein. Wie Peter Spangenberg betont, rückt im Zeitalter der massenmedialen Kommunikation die Suche nach Erfahrungen von (materieller) Authentizität in den Vordergrund.40 Sowohl die analogen audiovisuellen als auch die digital-interaktiven Massenmedien gewähren solche jedoch nur selten. Da Authentizität und Singularität auch in der modernen Gesellschaft eng miteinander verknüpft werden, schließen sich »die routinemäßige Reproduktion von hochgradig strukturähnlichen Medienangeboten« und »die intendierte Authentizität einer durch sie vermittelten Erfahrung« weitgehend aus.41 Es ist daher nicht verwunderlich, dass der eigene Körper ein großes Experimentierfeld der modernen Selbsterfahrung darstellt. Er wird als Erlebnismedium eingesetzt, um möglichst authentische – in diesem Fall unmittelbare – Erfahrungen zu machen.42 Auch Aura-Erfahrungen – etwa anhand von Kunstwerken in einem Museum – können als besonders authentisch erlebt werden, da sie subjektive Wahrnehmungen sind, die als solche »nicht mitteilbar, sondern nur sinnlich erlebbar und einzigartig« sind:43 Sie sind körperliche Erfahrungen. Dieser Argumentation liegt die bereits von Benjamin angeführte Vorstellung zugrunde, dass Aura nicht nur eine dem Objekt innewohnende Qualität sein kann, sondern insbesondere einen »Modus subjektiver Erfahrung« beschreibt.44 Sowohl der Museologe Gottfried Korff als auch der Philosoph Dieter Mersch vertreten die Position, dass nicht mehr das Objekt selbst auratisch ist, sondern vielmehr die Rezeptionssituation.45 So wird auch die Faust I-Ausgabe im Goethe-Nationalmuseum erst durch die Rezeptionssituation, die durch die Inszenierungsstrategien (etwa die zentrale Positionierung des Buchs, seine Kontrastierung und Aufwertung gegenüber der Digitalität, das spezielle Ausstellungsarrangement in der Glasvitrine in dem ansonsten leeren, dunklen Raum) geschaffen wird, auratisch wahrnehmbar. Im Museum können all jene Benjamin’schen 40  |  Vgl. Peter Spangenberg: Aura (Anm. 3), S. 415. 41  |  Ebenda, S. 402. 42 | Vgl. ebenda. 43  |  Thomas Thiemeyer: Zwischen Aura und Szenographie (Anm. 30), S. 66. 44  |  Peter Spangenberg: Aura (Anm. 3), S. 405. 45 | Vgl. Gottfried Korff: Anmerkungen zur aktuellen Situation des Museums (Anm. 1), S. XVII. Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002.

Die Aura in der (Literatur-)Vermittlung

Kriterien des Objekts, die die Aura konstituieren beziehungsweise befördern – die Singularität, die Authentizität und die Materialität, mithin der Traditionszusammenhang des Exponats –, gezielt hervorgehoben werden. Dies kann als Alleinstellungsmerkmal einer (Literatur-)Vermittlung im Museum in Abgrenzung zu anderen Orten der Literaturvermittlung betrachtet werden. Nicht zuletzt wird über die subjektive Wahrnehmung der Aura eine »Wertpräferenz« des Objekts geschaffen:46 Die Aura hebt »die Bedeutsamkeit eines auratischen Erfahrungsgegenstandes gegenüber dessen lebensweltlicher Normalität« und, so lässt sich anfügen, gerade auch gegenüber dem Überangebot von um Aufmerksamkeit konkurrierenden audiovisuellen und digitalen Kommunikations- und Wahrnehmungsangeboten hervor.47 Die Aura-Erfahrung ist, zusammengefasst, ein performativer Akt, verstanden als eine sinnliche, körperliche Erfahrung von Wertigkeit. In Zeiten der digitalen Medien ermöglichen Museen durch die Auratisierung von materiellen Gegenständen also nicht allein geistige Reflexion, sondern gerade auch ein solch sinnliches Erleben. Davon ausgehend können wiederum Reflexionsprozesse über die unterschiedlichen Funktionen und Potenziale verschiedener Medien angestoßen werden, die jenseits eines schlichten Kulturpessimismus argumentieren.

Bildnachweis Abbildung 1, 2 und 3: Klassik Stiftung Weimar, Fotothek (Foto: Maik Schuck) 46  |  Peter Spangenberg: Aura (Anm. 3), S. 401. 47 | Ebenda.

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III. Literaturvermittlung als Ereignis

Zwischen »buchdruck-schwärzlichem Gewande« und »Allgewalt der sinnlichen Empfindung« Literatur als Ereignis Christiane Heibach

In einem Interview zu Beginn der 1980er Jahre verbannte der Dichter Charles Bukowski lakonisch die großen Romane der Literaturgeschichte pauschal als »dullest of things« in das Mausoleum der leblosen Künste.1 »[A]ll I get is a damn headache and boredom«, beschreibt er seine Abwehrreaktion auf das Lesen, hält aber zugleich dagegen: »Poetry itself contains as much energy as the Hollywood industry, as much energy as a stageplay on Broadway – all it needs is practitioners who are alive to bring it alive.« Nicht etwa die Qualität der Sprache oder der Erzählstrategien sind also das Kriterium für Bukowskis Urteil, sondern es ist die blutleere Unsinnlichkeit des geschriebenen Worts, die Wahrheit und Realitätsnähe vermissen lässt. Einziges Heilmittel ist nach Bukowski eine Art ›Reenactment‹ des gedruckten Texts durch die Verkörperung lebender und lebendiger Performer. Bukowski gehörte zu einer Generation von Schriftstellern, die in den 1960er und 1970er Jahren gegen die tradierten Erzählformen rebellierten und dabei den mündlichen Vortrag wie auch die Performance aufwerteten: Die so genannte Beat Generation mit William S. Burroughs und Allen Ginsberg steht ebenso für solche Tendenzen wie die Konkrete Poesie. Ihre Protagonisten vertieften mit ihren experimentellen Schreibund Vortragsweisen eine Kluft, die seit der Durchsetzung der Literatur als buchgebundene Kunst die ästhetische Arbeit am Wort durchzieht und 1 | Interview mit Charles Bukowski auf der DVD Poetry in Motion (1982/2002). Ron Mann (Regie und Produktion). 91 Minuten. Toronto. Transkription und Hervorhebung – auch im Folgenden – durch die Verfasserin.

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auf eine grundlegende mediale Polarisierung verweist. Dabei steht auf der einen Seite die Literatur im Medium des Buchs, also Literatur als eine lineare, materiell fixierte Aneinanderreihung zumeist schwarzer Buchstaben auf weißem Grund. Auf der anderen Seite versteht sich die Poesie – denkt man beispielsweise an die verschiedenen Traditionen des mündlichen Vortrags von der Rhetorik bis zum Minnesang und zu den Vorleseabenden in den Salons – immer auch als performativer Akt der Verkörperung, der von Menschen für Menschen als Ereignis präsentiert wird. Beide Formen werden in der öffentlichen Diskussion häufig als unvereinbare Gegensätze verstanden und mit kulturellen Wertungen verbunden: Dabei werden das multimediale ›Event‹ zumeist als popkultureller Auswuchs einer buchfeindlichen Fernseh- und Computergeneration und das die Hochkultur vertretende Buch gegeneinander ausgespielt. Doch wie kommt es überhaupt zur Konfrontation dieser beiden medialen Konzepte? Hierfür ist es hilfreich, zurück in die Geschichte zu blicken, denn der Grundstein für diese Polarisierung, die naturgemäß auch die Literaturvermittlung in Museen und Archiven tangiert, wurde schon lange vor der Entwicklung audiovisueller technischer Medien gelegt. Es handelt sich nämlich nicht nur um unterschiedliche mediale Strukturen, vielmehr stehen sich zwei verschiedene Formen des Weltzugangs gegenüber: Die eine ist gekennzeichnet durch interaktionsintensives gesamtsinnlich-affektives Erleben, das sich im Hier und Jetzt, also in der physischen Präsenz und Aktivität entfaltet. Die andere Form besteht im primär intellektuellen, abstrakten und imaginativen Erfassen von sprachlichästhetischer Gestaltung im Buch. Dieses kann ebenfalls sinnliche und emotionale Intensität entwickeln, die allerdings weniger im psychophysischen Erleben eines Ereignisses, sondern im imaginativen Nachempfinden des Gelesenen wurzelt. Ästhetische Sprache – und dies hat die Literaturwissenschaft lange Zeit vergessen – ist somit nicht zwangsläufig auf das Buch angewiesen. Als transmediale Sprachkunst kann sie sich vieler Medien bedienen, wodurch gleichzeitig eine Vielfalt von Ästhetiken (zum Beispiel akustische Sprachkunstformen) entsteht, die es in ihrer Spezifik noch zu entdecken gilt. Obwohl genau diese mediale Vielfalt der Poesie über Jahrhunderte hinweg der ›Normalfall‹ war, wurde sie schließlich überlagert von der medialen Erfolgsgeschichte des Buchs.

Literatur als Ereignis

D ie D urchse t zung der L iter atur als ›B uchkunst‹ Unser bis heute dominierendes Verständnis von Literatur als Buchliteratur wurde in der Zeit um 1800 geprägt, als die einzelnen Künste für autonom erklärt wurden. Dass Literatur und Poesie inhärent mit dem Buch als Medium verknüpft werden, ist so gesehen eine recht junge Entwicklung. Noch in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts formulierten beispielsweise Gotthold Ephraim Lessing im Laokoon (1766) und Johann Gottfried Herder im Vierten Kritischen Wäldchen (1769) ästhetische Theorien, die die Poesie noch nicht auf ein Medium festlegen, allerdings ihre imaginative und abstrakte Kraft gegenüber der Sinnlichkeit der anderen Künste hervorheben. Lessing entwickelte seine Argumentation der ästhetischen Unterschiede zwischen bildender Kunst und Poesie entlang des Zeit-Raum-Paradigmas und ordnete der Poesie als »artikulierte Töne in der Zeit« die spezifische (wenn auch teilweise zu imaginierende) akustische Qualität des Sprachklangs zu.2 Herder sah in der Poesie sogar die synästhetische Kunstform par excellence, die sich als einzige unter den Künsten keinem der fünf Sinne und damit auch keinem Medium zuordnen lässt, weil sie ihre Kraft vor allem in der Einbildungskraft entwickelt, wo alle sinnlichen Eindrücke zusammenfinden.3 Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller unterschieden in ihrer gemeinsam verfassten Kurzprogrammatik Über epische und dramatische Dichtung (1797) den Rhapsoden vom Mimen und kamen zu dem Schluss, dass der Literatur die monomediale Rezitation des Rhapsoden gerechter wird als die multimediale des Schauspielers: Ersterer übersieht das Geschehene mit »ruhiger Besonnenheit«, mit der er die Zuschauer in seinen Bann zieht, »damit sie ihm gern und lange zuhören«, während die »sinnliche[-] Gegenwart« 2 | Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke in drei Bänden. München 1974. Bd. 2: Kritische Schriften. Philosophische Schriften. München 1974, S. 7-166, hier S. 91. 3 | Für Herder sind die Künste grundsätzlich jeweils einem Sinn und einem Medium zugeordnet: Die Malerei dem Auge und dem Licht, die Musik dem Ohr und dem Schall und die Plastik dem Tastsinn sowie der Hand beziehungsweise der Haut. Vgl. Johann Gottfried Herder: Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1985-2000. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a.M. 1993, S. 247-442.

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des Mimen »viel lebhaftere Wirkungen wagen« kann, aber auch durch die multisensoriellen Eindrücke die Aufmerksamkeit vom Gesprochenen ablenkt.4 Für Lessing und Herder sowie für Goethe und Schiller sind die Künste durch ihre sinnliche und mediale Verfasstheit unterschieden, die Poesie allerdings ist noch nicht auf ein Medium festgelegt. Aufgrund der besseren Speicher- und Distributionsmöglichkeiten wurde jedoch das Buch – trotz der Affinitäten aller genannten Autoren zum Theater – zunehmend als Medium für die Dichtung prämiert. Die Frühromantiker entwickelten schließlich eine eindeutige Präferenz zugunsten des geschriebenen Wortes, weil dieses den höchsten Grad an Abstraktion und damit den meisten Spielraum für die Einbildungskraft bot: »Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg« für Novalis,5 aber auch für Ludwig Tieck, Wilhelm Heinrich Wackenroder und die Brüder Schlegel. Die Einbildungskraft steht für diese Autoren nicht mehr in enger Beziehung zur Wahrnehmung durch die äußeren Sinne, sondern hat sich in Behauptung ihrer Eigengesetzlichkeit von der Außenwelt zu lösen, um die zum Programm erhobene Poetisierung der Welt mit größtmöglicher Autonomie des künstlerischen Schaffens zu realisieren. So wird die Wahrnehmung durch die äußeren Sinne abgewertet zugunsten der Erhebung der Einbildungskraft zum autonomen kreativen Organ: »Die Einbildungskraft ist der wunderbare Sinn, der uns alle Sinne ersetzen kann – und der so sehr schon in unsrer Willkühr steht. Wenn die äußern Sinne ganz unter mechanischen Gesetzen zu stehn scheinen – so ist die Einbildungskraft offenbar nicht an die Gegenwart und Berührung äußrer Reitze gebunden.«6 Was Novalis hier 4 | Johann Wolfgang Goethe u. Friedrich Schiller: Über epische und dramatische Dichtung. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. v. Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp-Renken u.a. Frankfurt a.M. 1985-1999. Abt. I, Bd. 18: Ästhetische Schriften 17711806. Hg. v. Friedmar Apel u. Hendrik Birus. Frankfurt a.M. 1998, S. 445-456, hier S. 447. 5 | Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub. In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. 3 Bde. Hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. Nachdruck Darmstadt 1999. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. v. Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1999, S. 225-285, hier S. 232. 6  |  Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen (1798). In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe (Anm. 5), S. 311-424, hier S. 423.

Literatur als Ereignis

im Hinblick auf eine neue Epistemologie der inneren Sinne formulierte, manifestierte sich in der medialen Festlegung der Poesie als Buchkunst, die nicht nur durch das schon bei Goethe und Schiller anklingende Ideal der Befreiung der Einbildungskraft von zu vielen multimedialen Eindrücken motiviert war,7 sondern auch konkrete pragmatische Gründe hatte. Wenn August Wilhelm Schlegel beispielsweise anmerkte, dass »die großen Meisterstücke der bildenden Künste […] nur an Einem oft weit entlegnen Orte gegenwärtig« sind, während »die Poesie aber […] für jedermann aller Orten, und zu allen Zeiten leicht zugänglich, und daher die gefälligste Gefährtin des Lebens« ist,8 dann betonte er einen Aspekt, der nicht nur für die Verfügbarkeit, sondern auch für die Verbreitung der Literatur entscheidend ist: Der Buchdruck ermöglichte es den Autoren, sich Absatzmärkte zu erschließen, denn die Forderung nach der Autonomie der Künste, die die ästhetische Diskussion in Klassik und Romantik durchzog, implizierte zugleich auch die Notwendigkeit, dass die Künstler von ihren Werken leben konnten und nicht auf Auftragsarbeiten und Mäzene angewiesen waren. Die Befreiung der Künste von externen Mächten hatte die Ökonomisierung ihrer Produkte zur Folge und brachte damit neue Zwänge mit sich, indem das Buch zur Ware wurde und bestmöglich verkauft werden sollte.

7  |  Aus dieser Kontrastierung von Einbildungskraft und multimedialer Sinnlichkeit resultierte auch das gespaltene Verhältnis der Romantiker zum Theater. Obwohl nahezu alle romantischen Autoren Theaterstücke schrieben, ist ihre Einstellung dem Theater gegenüber weitgehend ambivalent. Zum einen wird die Qualität des Theaters bemängelt, da weder Schauspieler noch Stücke hochwertig genug seien, zum anderen die Einschränkung der Macht des Dramatikers durch die zahlreichen an der Aufführung Beteiligten – er ist nicht mehr Herr über sein Werk. Zum Dritten ist den Romantikern der sinnliche Appell der Aufführung suspekt, weil er das Primat der inneren Einbildungskraft bedroht. Vgl. dazu ausführlicher Christiane Heibach mit zahlreichen Belegen: Multimediale Aufführungskunst. Medienästhetische Studien zur Entstehung einer neuen Kunstform. München 2010, S. 89-105. 8 | August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. In: Ders.: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Begr. v. Ernst Behler u. Frank Jolles. Hg. v. Claudia Becker. Paderborn, München, Wien 1989ff. Bd. 1: Vorlesungen über Ästhetik I (1798-1803). Hg. v. Ernst Behler. Paderborn, München, Wien 1989, S. 475-483, hier S. 477f.

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D ie U mkehr der P r ämissen : V om monomedialen B uch zum multimedialen E reignis Für die Romantiker war – so der in aller Kürze zu formulierende Hauptgedanke – die innere Einbildungskraft das ästhetische Produktions- und Rezeptionsorgan schlechthin, während die äußeren Sinne in den Hintergrund rückten. Es war daher aus ihrer Sicht auch nicht notwendig, weitere medientheoretische Unterscheidungen (außer der zwischen Monound Multimedialität der Darstellung) einzuführen. Demnach sind alle monomedialen Künste in der Lage, die Einbildungskraft zu aktivieren – dies gilt für die bildende Kunst, die Musik und die Literatur gleichermaßen. Diesem Primat der Einbildungskraft haben wir nicht zuletzt die enorme Ausdifferenzierung der Darstellungsstrategien in den einzelnen Künsten zu verdanken: Dazu gehört die Durchsetzung der Instrumentalmusik genauso wie die Loslösung der Malerei und der Literatur vom Mimesiszwang und vom Diktat der Realitätsnähe. Und daraus folgt noch Weiteres: Von dem Zeitpunkt an, als das Buch zum wichtigsten Literaturmedium avancierte und damit die Struktur Autor – Werk – Leser etabliert wurde, begann die Reflexion über die Konsequenzen dieser medialen Festlegung. Der Wegfall der direkten Interaktionsmöglichkeiten, die Monosensualität der Rezeption, die Linearität des Schreib- und Erzählvorgangs sowie die standardisierte Textgestalt wurden zum Gegenstand der ästhetischen Subversion. Wenn E.T.A. Hoffmann beispielsweise in seinen Lebens-Ansichten des Katers Murr (1819/1821) zwei Biografien verwob, die ohne Übergänge und kohärente Anschlüsse einander scheinbar willkürlich ablösen, dann war ihm dies nur möglich, indem er die Regeln des Buchs explizit missachtete (und die Schuld dem nachlässigen Drucker, also dem Sklaven des Mediums, anlastete). Genau daraus aber speiste sich auch die Raffinesse des Erzählens, die der Buchliteratur neue darstellerische Optionen eröffnete. Das Bestreben der Künstler, sich – kaum dass sich Gestaltungsprinzipien etabliert hatten – dafür zu engagieren, diese zu durchbrechen, kann als eine der zentralen Antriebskräfte ästhetischer Innovationen angesehen werden. So nimmt es nicht wunder, dass die von der Romantik präferierte Monomedialität recht schnell wieder angefochten wurde: Dem Primat der Einbildungskraft und der Abstraktion des Buchs wurde die Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmungskraft entgegengestellt und mit ihr die Multimedialität der theatralen Aufführung als Ereignis. Zum wichtigs-

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ten Protagonisten dieser Gegenströmung entwickelte sich Richard Wagner: Beeinflusst durch die Anthropologie Ludwig Feuerbachs basierte sein Menschenbild inhärent auf der Komplementarität von Körper und Geist. Kunst müsse demnach zwangsläufig multimedial sein, denn nur so werde sie der komplexen sinnlichen wie geistigen Anlage des Menschen gerecht. Aus dieser Grundthese über die Komplementarität des Körpers und des Geistes leitete Wagner eine differenzierte Produktions- und Darstellungsästhetik ab, die gesellschaftskritische, anthropologische und kulturhistorische Argumentationsstränge miteinander verbindet.9 Dabei prangerte er die von der Romantik betriebene Fixierung der Dichtung auf das Buch wortgewaltig an: Diese führe zu einer leblosen Vertrocknung des lebendigen Wortes, während die Musik – gemeint ist das Konzept der romantischen Instrumentalmusik – sich dramatische Kompetenzen der Darstellung anmaße, die ihr nicht zustünden. Wagner setzte an das eine Ende der Bandbreite ästhetischer Ausdrucksformen die monomedialen Literaten, die »nebeln und webeln […] in buchdruck-schwärzlichem Gewande«,10 an das andere die »Allgewalt der sinnlichen Empfindung« im Zusammenspiel von Wort, Tanz und Musik, die er für das Kunstwerk der Zukunft zum Prinzip erhob.11 Die zunehmende Ablösung des Wortes von der leiblichen Verkörperung war für ihn gleichbedeutend mit einer Geschichte des kulturellen Niedergangs, die er von der Antike bis zur Gegenwart nachzeichnete: Die einsame Dichtkunst – dichtete nicht mehr; sie stellte nicht mehr dar, sie beschrieb nur; sie vermittelte nur, sie gab nicht mehr unmittelbar; sie stellte wahrhaft Gedichtetes zusammen, aber ohne das lebendige Band des Zusammenhaltes; sie regte an, ohne die Anregung zu befriedigen; sie reizte zum Leben, ohne selbst zum Leben zu gelangen; sie gab den Katalog einer Bildergalerie, aber nicht die Bilder selbst. Das winterliche Geäste der Sprache, ledig des sommerlichen Schmuckes des lebendigen Laubes der Töne, verkrüppelte sich zu den dürren lautlosen Zei9 | Vgl. dazu ausführlich Christiane Heibach: Multimediale Aufführungskunst (Anm. 7), S. 140-170. 10 | Richard Wagner: Über musikalische Kritik. Briefe an den Herausgeber der »Neuen Zeitschrift für Musik« (1852). In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe in 16 Bänden. Leipzig o.J. 6. Aufl. Bd. 5, S. 63. 11  |  Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft (1848/49). In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen (Anm. 10), Bd. 3, S. 66.

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chen der Schrift: statt dem Ohre teilte stumm sie sich nun dem Auge mit; die Dichterweise ward zur Schreibart, – zum Schreibstil der Geisteshauch des Dichters.12

Diese für Wagner geradezu skandalöse Trennung der Künste konnte aus seiner Sicht nun nicht mehr durch eine Rückkehr zum alten Zustand behoben werden. Stattdessen stellte Wagner ihr ein neues, seiner Meinung nach zeitgemäßes Konzept multimedialer und damit mehrsensoriell rezipierbarer Kunst entgegen, das wiederum auf den Leistungen der Einzelkünste auf baut: Diese bestehen nach Wagner in der Ausdifferenzierung ihrer jeweiligen Funktionen, so etwa durch die Zuordnung der Dichtung zum Verstand oder der Musik zum Gefühl. Darauf auf bauend musste nun ein Konzept für die Zusammenführung von Dichtung und Musik entwickelt werden, das es ermöglichte, Auge und Ohr sowie Sinne und Gefühl gleichermaßen anzusprechen, um dem holistischen Menschenbild gerecht zu werden. Nur dadurch ist für Wagner die Grundbedingung ›unmittelbarer Verständigung‹ gegeben, die oberstes Ziel aller Künste sein sollte. Im Mittelpunkt seiner Produktionsästhetik steht daher das Drama – und zwar nicht als schriftfixiertes, auf die Bühne zu transferierendes Werk, wie es noch die Romantiker konzipiert hatten, sondern als verkörpertes multimediales Ereignis auf der Bühne mit eigener performativer Gesetzmäßigkeit: Nur im vollendetsten Kunstwerke, im Drama, vermag sich daher die Anschauung des Erfahrenen vollkommen erfolgreich mitzuteilen, und zwar gerade deswegen, weil in ihm durch Verwendung aller künstlerischen Ausdrucksfähigkeiten des Menschen die Absicht des Dichters am vollständigsten aus dem Verstande an das Gefühl, nämlich künstlerisch an die unmittelbarsten Empfängnisorgane des Gefühles, die Sinne, mitgeteilt wird.13

Mit diesem Verständnis einer Zusammenführung von Poesie und Musik in der multimedialen Aufführungskunst, das Wagner selbst in seiner ästhetischen Praxis umzusetzen versuchte, kehrte er die Paradigmen der Romantik um: Die Sinnlichkeit ist gleichgesetzt mit der Unmittelbarkeit 12 | Ebenda, S. 105f. Hervorhebungen im Original. 13 | Richard Wagner: Oper und Drama. Das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen (Anm. 10), Bd. 4, S. 78. Hervorhebungen im Original.

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des Erlebens, die zu erreichen er sich zum Ziel setzte. Da diese Unmittelbarkeit jedoch durch mediale Strategien ›gemacht‹ werden muss, also eigentlich medial vermittelt ist, setzt sie komplexe ästhetische Transformationen voraus.14 Deren Elemente und Prozesse zu identifizieren und zu beschreiben machte sich Wagner zur Aufgabe und formulierte damit eine erste Ästhetik der Multimedialität. Diese hatte die unmittelbare Verständigung zum Ziel: Hierfür muss, so Wagner, alles, was das Drama kommunizieren möchte, sinnlich wahrnehmbar gemacht werden. Nicht nur Dichtung und Musik, sondern auch Orchester und schauspielerischsängerische Darstellung sowie Bühnengestaltung bedürfen daher der gegenseitigen Bezugnahme und Synchronisation, damit sie das Publikum emotional ansprechen und in ihren Bann ziehen können. Wagners Verständnis von Kunst als unmittelbarer Ansprache der Sinne und damit als Gefühlskommunikation markiert eine Rückkehr zum multimedialen, sich materiell manifestierenden Ereignis, das gleichzeitig ästhetisch gegenüber der Romantik enorm aufgewertet wurde. Die im 20. Jahrhundert stattfindende Entwicklung der theatralen Aufführung zum Regietheater mit eigener ästhetischer Berechtigung ist nur eine Konsequenz daraus. Wagner erweist sich damit als Vordenker dessen, was in der aktuellen Literatur-, Theater- und Medienwissenschaft seit einiger Zeit diskutiert wird: der Bedeutung von Ereignishaftigkeit und Performanz. Damit etabliert sich eine alternative Position zur Auffassung von künstlerischen Werken als statischen, abgeschlossenen Komplexen, die als solche interpretatorisch erschlossen werden können.

D ie › performative W ende ‹ Knüpfte Wagner das ästhetische Ereignis an die Aufführung, so wurde das Performative, das Ereignishafte, in den letzten Jahrzehnten als ein Grundcharakteristikum nahezu aller Kunstformen entdeckt. Die Verkündung des performative turn erfolgte zwar aus der Disziplin der Theaterwissenschaft heraus,15 der Begriff des Performativen hat jedoch seinen Ursprung 14 | Vgl. Christiane Heibach: Multimediale Aufführungskunst (Anm. 7), S. 171212. 15 | Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004, S. 31-42.

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in der Sprachwissenschaft. John Langshaw Austin führte ihn für solche Sprechakte ein, die gleichzeitig den Charakter von Handlungen haben, wie etwa die Aussage ›ich taufe Dich …‹.16 Für die Literatur wurde der Begriff der Performativität im Zusammenhang mit der poststrukturalistischen These von der différance (der sich immer weiter aufschiebenden und nie zu fixierenden Bedeutung der Signifikanten) eingeführt, die von Jacques Derrida entwickelt und von Paul de Man auf die Praxis der Interpretation angewendet wurde.17 Schon Umberto Eco verwies zu Beginn der 1960er Jahre auf die unendliche Semiose, also die immer wieder neu ansetzende und nie abgeschlossene Auslegungsarbeit bei der Rezeption literarischer Werke, sowie auf die Struktur ›offener Kunstwerke‹, die weder in ihrer Materialisierung noch in ihrer Interpretation abgeschlossen sind.18 Die Rezeptionsästhetik griff diese Idee der performativen Leistung des Interpreten auf und sah sie in der Literatur paradigmatisch umgesetzt: Die ›Leerstellen‹ des Texts, so Wolfgang Iser, seien Angebote an den Rezipienten, selbst interpretativ aktiv zu werden und sich so als Koautor zu verstehen.19 Blieb die Frage nach der Materialität von Literatur hier noch unberührt, so veränderte sich dies mit den Erweiterungen der poetischen Medien: Die Konkrete Poesie transzendierte das Buch einerseits durch Verbildlichung des Texts, andererseits durch seine Sonifizierung. Sie brachte somit medienhybride Formen hervor, die sich in der Aufführung als Ereignis manifestieren und erst da voll entfalten. Solche medialen Transfers erzeugen andere Arten von Performativität als diejenigen, die durch Verschiebungen sprachlicher Bedeutung im Text entstehen. Sie sind in der Präsentation multimedial und in ihrer Rezeption an das gesamtphysische Erleben einer Präsenzsituation gebunden. Dies gilt bereits für das Urmodell der Lautpoesie, die Ursonate von Kurt Schwitters, und wurde später performativ ausgearbeitet in Konzertereignissen, wie sie beispielsweise John Cage in den 1960er und 1970er Jahren realisierte. Dessen auf James Joyces Text Finnegans Wake basierendes mediales Hybridprojekt 16  |  Vgl. dazu Uwe Wirth: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität. In: Ders. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002, S. 9-60. 17 | Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt a.M. 1988. 18 | Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a.M. 1973. 19 | Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976.

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Roaratorio (1979) integrierte beispielsweise nicht nur musikalische und sprechkünstlerische Gestaltung, sondern auch theatrale Elemente: Die Aufführenden waren in einem fabrikhallenartigen Raum auf einer Bühne sowie auf einer Art erhöhter Galerie, die sich um den Zuschauerraum zog, verteilt. Die Zuschauer standen darunter in der Mitte des Raumes, waren von den Musikern umgeben und wurden so nahezu physisch von der Musik, dem von John Cage vorgetragenen Sprechgesang und den begleitenden Geräuschen umhüllt.20 Die Literatur lieferte in diesem Fall das Wortmaterial, das von Cage wiederum performativ verfremdet wurde: Aus Textelementen von Finnegans Wake bildete er nach einer speziellen zufallsbasierten Methode neue Texte. Es fand also keine einfache mediale Übertragung von Literatur in Stimme (im Sinne einer Lesung) statt, sondern eine radikale mediale Transformation: Cage arbeitete mit zwei verschiedenen Arten von Ereignishaftigkeit, indem er a) aus zufälligen (aber regelgeleiteten) Prozessen einen neuen Text mit eigener ästhetischer Berechtigung erzeugte, der b) erst in der spezifischen Räumlichkeit und im Verbund mit dem komplexen musikalischen und lautlichen Arrangement seine Wirkung erlangte, also von vornherein auf die Aufführung hin konzipiert war. Dass Literatur zum multimedialen Erlebensraum und zum Ereignis strebt, zeigt sich selten in so radikaler Form, zunehmend aber in der Verbreitung und Publikumswirksamkeit zahlreicher Formate wie multimedialer Lesungen oder Poetry Slams. Dabei wird die ästhetische Gesamtstruktur im Vergleich zum ›Normalfall Buch‹ grundlegend verändert – sowohl was die mediale Gestaltung des Werks als auch was dessen Rezeption betrifft. Für Dieter Mersch liegt das Charakteristische am Ereignis vor allem in dessen Kontingenz und Indeterminiertheit: Handlungen sind durchweg intentional bestimmt […]. Dagegen geschehen Ereignisse nichtintentional. Unter einer ›Ästhetik des Performativen‹ wäre entspre20 | Peter Greenaways Dokumentation Four American Composers (1983, 220 Minuten, London) enthält Ausschnitte der Live-Performance in London (ab Minute 00:42:10). Vgl. zu einer ausführlichen Beschreibung und Interpretation des Werks Petra Maria Meyer: Die Stimme und ihre Schrift. Graphophonie der akustischen Kunst. Wien 1993, S. 193-201. Zur Geschichte der akustischen Ästhetik von Literatur und Poesie vgl. die eingehende Studie von Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. Berlin 2001.

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chend eine Ereignisästhetik zu verstehen, die nicht so sehr im Medialen, also in den Prozessen der Inszenierung und Darstellung wurzelt, als vielmehr in Geschehnissen, die widerfahren. 21

Für Erika Fischer-Lichte steht hingegen der präsentische Charakter der Aufführung als Ereignis im Mittelpunkt. Dieser führe unter anderem dazu, dass der Repräsentationscharakter, das ›Stehen für etwas‹, das im semiotischen Verständnis der Künste immer mitschwingt, nicht mehr gegeben sei: Das Performative sei zunächst einmal nur der sich manifestierende Prozess als ästhetisches Ereignis mit eigener Gesetzmäßigkeit.22 Dieses Verständnis macht die Aufführung überhaupt erst zu einer eigenständigen Kunstform und unterscheidet sie beträchtlich von den Kunstformen, die mit dauerhaften Speichermedien arbeiten und zeitresistente Werke produzieren.23 Für Fischer-Lichte liegt der Kern des Performativen daher auch in der multisensoriellen und interaktionsintensiven Präsenzerfahrung. Dieser sei insofern affektive Intensität zu eigen, weil sie das ästhetische Erleben strukturell an das Alltagserleben annähere: So sind bei Performances beispielsweise Aktionen inhärent mit den Personen der Performer verbunden (zum Beispiel durch den Einsatz des eigenen Körpers, dessen Leistungs- und Leidensfähigkeit in manchen Performances in die Extreme getrieben wird). Dies macht emotionale wie auch physische Grenzerfahrungen von Akteuren und Publikum möglich, die in der kontemplativ-reflexiven Rezeption ›statischer‹ Kunst allenfalls in der Imagination stattfinden.24 Bleibt bei Letzterer daher die Grenze zwischen Kunst und Leben weitgehend erhalten, so verschwimmt sie bei ästheti21  |  Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002, S. 9. 22  |  Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen (Anm. 15), S. 255-261. 23  |  Vgl. dazu auch Christiane Heibach: Multimediale Aufführungskunst (Anm. 7), S. 231-356. 24 | Dies gilt insbesondere für Aufführungsformen jenseits des theatralen Rahmens: Performances, Happenings und Aktionen betten Interaktionsprozesse zwischen Aufführenden und Publikum in den realen Raum ein und beruhen teilweise auf der Transformation der Zuschauer zu Akteuren. Paradigmatisch hierfür sind die Happenings aus den 1960er und 1970er Jahren von Wolf Vostell sowie die Performances von Marina Abramović mit Ulay, die häufig an die Grenzen der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit der Ausführenden gingen.

Literatur als Ereignis

schen Erfahrungen, die Präsenz und möglicherweise auch eigenes Agieren mit zwangsläufig realen Folgen voraussetzen. Die gegenwärtige Multimedialisierung von Literatur legt nahe, die etablierte Begrifflichkeit zu hinterfragen. Wie oben erläutert, ist unser Verständnis von Literatur weitgehend an das Medium des Buchs gebunden. Sprache hingegen ist als Zeichensystem zunächst transmedial und ›materialisiert‹ sich in verschiedenen Medien. Ich plädiere daher dafür, in diesem Zusammenhang von ›Sprachkunst‹ zu sprechen. Diese kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, die jeweils in enger Korrelation zu ihren Medien stehen. Sie kann sich als Buchstabenfolge in statischen Medien materialisieren, die durch bestimmte Strategien, wie etwa des Cut-ups oder der Kombinatorik, performativ gestaltet werden.25 Ebenso aber kann sie sich als verkörperte Sprache in Stimme und physischer Darstellung sowie als bewegliche Schrift in Holografie, Video und digitalen Medien, die oftmals ein räumliches Erleben und Agieren implizieren, ereignen. Je nach medialer Struktur verändern sich die Eigenschaften der Sprache und mit ihnen die Prozesse des Rezipierens. Insbesondere die aufführungsorientierten Manifestationen, die Raum und Sprachkunst miteinander koppeln, gehen mit einer stärkeren physischen Aktivierung des Rezipienten einher, als dies im Leseprozess oder auch bei der Präsentation statischer Objekte im musealen Raum der Fall ist. Sprachbasierte Multimediainstallationen zielen so auf eine Immersionserfahrung ab: In der Installation Text Rain von Camille Utterback und Romy Achituv etwa können die Betrachter über die physische Bewegung Buchstaben auf einer Leinwand spielerisch zu Sätzen eines Gedichts formen, sodass sich eine ganz andere Beziehung zum sprachkünstlerischen Objekt als etwa beim Lesen entfaltet (Abb. 1).

25 | Paradigmatisch hierfür sind experimentelle Buchgestaltungen, wie beispielsweise die Cent mille milliards de poèmes des Oulipo-Mitglieds Raymond Queneau, der ein Buch mit Sonetten vorlegte, bei denen die Zeilen in Streifen geschnitten sind, sodass man jede Zeile jeder Seite miteinander kombinieren kann. Zu derartigen Experimenten bis hin zu durch Software generierten Gedichten vgl. Florian Cramer: Exe.cut(up)able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts. Paderborn 2011.

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Abbildung 1: Camille Utterback und Romy Achituv, Text Rain, 1999, interaktive Installation (Detail) Diese Installation existiert nicht mehr unabhängig vom Körper des Rezipienten, sondern wird mit der Handlung des Betrachters verknüpft. Die Ereignishaftigkeit von Sprachkunst wird also von den jeweiligen Medienkonstellationen und deren Darstellungsprinzipien bestimmt. Daran knüpfen sich naturgemäß auch spezifische Rezeptionsmodi, die über die traditionell intellektuelle und imaginative Verarbeitung der ›Buchliteratur‹ hinausgehen. Das psychophysische Erleben tritt hinzu, das sich als entscheidend auch für die Frage nach der Präsentation von Literatur im musealen oder sogar archivalen Ausstellungsraum erweist. Denn dort gilt es, den Benutzer nicht nur intellektuell, sondern auch affektiv anzusprechen. Damit ist eine »Ästhetik der Immersion« gefordert, die, so Laura Bieger, »eine Ästhetik des emphatischen körperlichen Erlebens und keine Ästhetik der kühlen Interpretation« ist. Sie entfalte sich genau dort, wo »Welt und Bild sich überblenden« und die Besucher durch körperliche Bewegung im Raum affektiv involviert werden.26 26 | Laura Bieger: Ästhetik der Immersion: Wenn Räume wollen. Immersives Erleben als Raumerleben. In: Gertrud Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld 2011, S. 75-95, hier S. 75.

Literatur als Ereignis

Bewegung, Raum und Affektivität – diese Aspekte sind nach Hermann Schmitz Elemente eines Phänomens, das zwar für jegliche Ereignishaftigkeit entscheidend ist, sich aber als so diffus erweist, dass es bisher kaum Eingang in die Wissenschaften gefunden hat: die Atmosphäre. Atmosphären, so der Phänomenologe Schmitz, werden in erster Linie synästhetisch und gesamtleiblich gespürt und durch vorreflexive Momente affektiver Betroffenheit erlebt, bevor sie reflexiv analysiert werden können.27 Atmosphären sind, so der an Schmitz anschließende Philosoph Gernot Böhme, »das erste Seiende« und »die Anregung eines gemeinsamen Zustandes von Subjekt und Objekt«.28 Sie sind daher auch zentral für das Erleben des Performativen: Nicht umsonst beruht dessen Ästhetik genau auf der Erzeugung von spezifischen Atmosphären, die eine nonverbale, affektive Resonanzbeziehung zwischen Publikum und Bühnenakteuren begründen. »Der performative Raum ist immer zugleich ein atmosphärischer Raum«, schreibt Fischer-Lichte.29 Diese Formulierung verweist allerdings gleichzeitig auf ein Grundproblem der Theorien zur Atmosphäre: Sie bestimmen diese rein situativ und verorten sie im Raum, wobei die zeitliche Dimension vernachlässigt wird. So werden Atmosphären weitgehend als etwas Unveränderliches, Homogenes behandelt und Prozesse des Umschlagens oder auch der Interferenz nicht weiter berücksichtigt. Diese sind für eine nähere Bestimmung des Verhältnisses von Atmosphären und Ereignis beziehungsweise Performanz jedoch unerlässlich.

A usblick : P erformanz und A tmosphäre im muse alen K onte x t Das Bewusstsein für die enge Kopplung von Performativität und Atmosphären kann auch für die Gestaltung von Ausstellungen wichtig werden. Hierzu bedarf es allerdings einer Erweiterung der bestehenden Ansätze sowohl in Bezug auf die Atmosphären- wie auch die Performanztheorien in bestimmte Richtungen, die zum Abschluss dieses Beitrags noch kurz angerissen werden sollen. Zunächst ist in Erinnerung zu rufen, dass das 27  |  Vgl. Hermann Schmitz: Der Raum, der Leib und die Gefühle. Ostfildern 1998. 28 | Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001, S. 56. 29 | Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen (Anm. 15), S. 200.

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Ereignis und dessen Atmosphäre sich zumindest teilweise der Kontrolle der Anwesenden entziehen und daher einen emergenten, nicht intentionalen Charakter haben. Ein ästhetisches Ereignis ist aber immer auch ein gestaltetes Ereignis, zielt also durch seine mediale Struktur auf eine gewisse Wirkungsweise ab. Daher steht die Atmosphäre im Spannungsfeld zwischen Emergenz und intentionalem medialem Arrangement. Letzteres kann auch den musealen Raum konstituieren, ist aber als Interaktionsphänomen, eben als von den Besuchern erlebte und mitgestaltete Atmosphäre, wiederum nur begrenzt steuerbar. Ein Konzept von Atmosphären-Interferenzen kann jedoch weiter gehende Erkenntnisse über das Zusammenwirken der verschiedenen medialen Schichtungen einer Ausstellung ermöglichen, die den inszenatorischen Strategien zugrunde liegen. Hierbei gilt es, nicht nur die Elemente der Ausstellungsgestaltung, sondern auch ihre Relationen sowie Prozesse der wechselseitigen Beeinflussung zu berücksichtigen. Der Museumsraum kann als Hybridraum beschrieben werden, als ein Raumtypus, den Michel Foucault als »Heterotopie« bezeichnet:30 Dabei handelt es sich um einen funktional definierten Raum, der durchschritten, erlebt, aber dann auch wieder verlassen wird. Es ist nach Foucault ein Raum des Übergangs und der Transformation, in dem das normale Zeitempfinden aufgehoben ist, der aber immer affektiv erlebt wird. Räume sind somit generell »mit Qualitäten aufgeladen« und zumindest partiell »von Phantasmen bevölkert«,31 kurz: Sie erzählen uns Geschichten. Gut gestaltete Museums- und Ausstellungsräume zielen genau darauf ab, Beziehungen zwischen dem Raum und seinen Elementen aufzubauen, die narrative Qualität entfalten sowie über multisensorielle Ansprache Immersion und Aufmerksamkeit erzeugen können. Dabei müssen gewisse Paradoxien überwunden werden, die aus dem spezifischen Hybridcharakter des Museumsraums resultieren: So ist er zum einen situativ erlebbar, gleichzeitig aber zum anderen auch auf Dauer und Konstanz angelegt, die das Erleben wiederholbar machen sollen. Das Gleiche gilt für den Raum der Ausstellung – auch wenn Letztere häufig nur von kürzerer Dauer ist. Museums- und Ausstellungsräume sind öffentlich, zielen 30 | Michel Foucault: Der andere Raum. In: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1993, S. 34-46, hier S. 39. 31 | Ebenda, S. 37.

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aber – anders als beispielsweise Aufführungen mit ihrem Appell an ein Zuschauerkollektiv – auf die individuelle, stille Rezeption ab. Museumsund Ausstellungsgestaltung orientierten sich daher jahrzehntelang an den Paradigmen der kontemplativ-imaginativen Rezeption, wie sie sich mit der Buchkultur als ›Normalfall‹ etabliert hatte. Diese wird jedoch mit der kulturellen Karriere des Ereignisses von der Forderung nach multimedialen Präsentationen abgelöst, die mit Modi gesamtsinnlichen Erlebens gekoppelt sind und die den Museums- und Ausstellungsbesuch zum umfassenden Ereignis machen sollen. Damit stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Herstellbarkeit von Atmosphäre und Ereignishaftigkeit: Atmosphären entfalten sich aus medialen Konstellationen und Interaktionsprozessen gleichermaßen und gründen in einem multimodalen Wahrnehmungskonzept, das affektives gesamtleibliches Erleben mit intellektueller Reflexion verbindet. Der intentionale Einsatz von Atmosphären im musealen Raum verlangt daher die Reflexion von Interferenzprozessen, denn die Komplexität des Atmosphärischen impliziert Heterogenität und qualitative Veränderungen (beispielsweise von einer ruhigen zu einer hektischen Atmosphäre). So treffen zumeist schon im erweiterten musealen Raum verschiedene Atmosphärentypen aufeinander: Die spezifische (Ausstellungs-) Raumatmosphäre mit ihren sinnlichen Qualitäten, die durch Lichteinfall, akustische, haptische und olfaktorische Merkmale gekennzeichnet ist, tritt in ein Wechselspiel mit den ›paramusealen‹ Elementen wie etwa dem Museumscafé und -shop sowie dem Eingangsbereich. Hinzu kommen dann Faktoren, die Teil der eigentlichen Ausstellungsatmosphäre sind, wie etwa die Art und Anordnung der Objekte, die Vitrinen und ihre Beleuchtung oder die Gestaltung der Beschriftung. Und schließlich ist da noch die Aura der Objekte beziehungsweise die spezifische Atmosphäre installativer, performativer Exponate zu nennen. Im Falle von Literaturausstellungen ist dieser Aspekt besonders spannend, denn die Exponate können sehr unterschiedlichen Charakter annehmen. So unterscheidet Susanne Lange-Greve in diesem Zusammenhang »Reliquien«, die für sich selbst stehen, von dokumentarischen sowie kontexterzeugenden Exponaten, die eine Aussage illustrieren oder inszenieren.32 Zwangsläufig ist besonders der erste Typus an etwas gebunden, das mit dem Begriff 32 | Vgl. Susanne Lange-Greve: Literarisches in Szene setzen: Literatur ausstellen, darstellen, erproben. In: Sabiene Autsch, Michael Grisko u. Peter Seibert (Hg.): Ate-

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der Aura bezeichnet werden kann, der dem der Atmosphäre verwandt, aber nicht gleichzusetzen ist.33 Der zweite Typus hingegen wirkt weniger durch sich selbst, sondern schafft inhaltliche Zusammenhänge. Die Art und Weise, wie die Exponate zueinander in Beziehung gesetzt werden, ist damit auch durch die Zuschreibung eines bestimmten kulturellen Status bestimmt – ein weiterer Faktor, der zu berücksichtigen ist, wenn es um die Frage nach der atmosphärischen Gestaltung geht. Je nach medialer Beschaffenheit wird auch die Präsentation und damit Vermittlung von Sprachkunst in Archiven und Museen jeweils unterschiedliche Strategien der Bezugnahme und Kontextualisierung erfordern. Wenn die sprachkünstlerischen Ereignisse grundlegend performativ-aufführungsorientiert sind (wie etwa die akustische Sprachkunst, die multimediale Aufführung oder die Installationskunst), dann sind andere Herangehensweisen gefordert als bei der performativen Inszenierung der materiell-statischen schriftgebundenen Literatur. Insgesamt können versuchsweise folgende Atmosphärentypen in Bezug auf das Ausstellungswesen differenziert werden: Zunächst wäre da eine Art ›Grundatmosphäre‹, die vorwiegend von der Ausstellungsgestaltung geprägt wird. Daneben gibt es die spezifische Aura der Objekte sowie die Atmosphäre, die aus der Anordnung und Bezugnahme der Exponate aufeinander emergiert – beide schwingen mit der Grundatmosphäre zusammen. Und schließlich entsteht eine spezifische situative Atmosphäre durch die jeweiligen Interaktionsprozesse mit und zwischen den Besuchern, die die Grundatmosphäre jeweils neu aktualisiert und modifiziert. Die Interferenzen dieser Atmosphärenformen können jeweils wieder eine situative Gesamtatmosphäre erzeugen, die veränderlich und in ihrer Dauer sehr variabel ist. Völlig determiniert werden können diese atmosphärischen Emergenzen nicht, aber – und das ist letztlich das Wesen jeder gestalterischen Tätigkeit – es kann ihnen eine Richtung gegeben werden, die diese Prozesse der Wechselwirkung zwischen Atmosphärentypen in lier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten. Zur aktuellen Situation von Künstlerund Literaturhäusern. Bielefeld 2005, S. 121-129, hier besonders S. 124. 33 | »Aura«, so Katerina Kroucheva und Barbara Schaff, ist »ein zentrales Motiv, ja, ein zentrales Anliegen für viele der auf dem Gebiet der Literaturvermittlung Schaffenden«. Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld 2013, S. 7-21, hier S. 12.

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Rechnung stellt. Ebenso können die Elemente identifiziert und bewusst in Relation zueinander gesetzt werden, um eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen beziehungsweise zu intendieren. Je komplexer und umfassender der Blick auf das Atmosphärische ist, desto klarer wird gleichzeitig, dass es keine komplett determinierte Inszenierung geben kann – und genau das mag eine wichtige Erkenntnis aus der Betrachtung des Atmosphärischen und Ereignishaften sein: Ausstellungen müssen Leerstellen bieten können, die von den Besuchern gefüllt werden, und sie müssen auch Erholungsphasen von gesamtsinnlicher Immersion und Interaktion ermöglichen. Die kontemplative Rezeption hat nach wie vor ihre Berechtigung, und das gilt vielleicht besonders für Literaturausstellungen, die ihre verschiedenen Objekte einerseits multimedial präsentieren, andererseits aber den Sprachkunstwerken als solchen Geltung verschaffen wollen. Leerstellen und imaginative Spielräume sind genauso atmosphärische Elemente wie multimediale Arrangements.34 Da das Gestalten einer Ausstellung nicht allein das einzelne Objekt betrifft, sondern dessen Kontextualisierung durch die Herstellung von Relationen, haben wir es also mit einer grundlegend atmosphärischen Tätigkeit zu tun. Atmosphären sind Phänomene des ›Dazwischen‹, die sich auf der Basis von gegebenen Konstellationen entwickeln und in Interaktionsmomenten entfalten. Das Wissen um die Vielfalt der Faktoren und um den transmedialen Charakter der Sprachkunst kann dazu beitragen, der Literatur die von Bukowski geforderte Dynamik zu geben, die – auch im musealen Präsentationsraum – zu Aktualisierungen und neuen Bedeutungszuschreibungen einlädt, ohne dass sie jedoch zum allüberwältigenden Spektakel wird.

Bildnachweis Abbildung 1: Photo courtesy of the artist 34 | Für Wagner beispielsweise wäre diese Vorstellung unerträglich gewesen – sein Konzept der multimedialen Aufführung beruht auf einer Determination aller Komponenten zum richtigen Verständnis des Kunstwerks; Leerstellen und Interpretationsspielräume haben hier keinen Platz.

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Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung (nicht nur) im Deutschunterricht Marion Bönnighausen Heiner Goebbels betonte als Intendant des internationalen Kunstfestivals Ruhrtriennale die Widersinnigkeit aller Intentionen, Bildung zu vermitteln: »Bildung lässt sich nicht zielgerichtet vermitteln und ist etwas, was man dem Subjekt nicht abnehmen kann. Bildung muss sich selbstverantwortlich entwickeln – aus dem freien Willen heraus, sich in Auseinandersetzungen mit dem noch nicht gekannten Teil der Welt zu begeben.«1 Die Vermittlung von Literatur, Film und Theater als ›Gegenstände‹ kultureller Bildung ist vor diesem Hintergrund insbesondere in schulischen Kontexten durchaus problematisch. Denn zwischen der Individualität der ›sich Bildenden‹ (in der herkömmlichen Auffassung ›der zu Bildenden‹) und dem gesellschaftlichen Bildungsauftrag, zwischen der Vieldeutigkeit des Texts und der Formulierung von Unterrichtszielen, die grundsätzlich Ordnungscharakter haben, klaffen Widersprüche.2 Diese Widersprüche identifiziert Michael Baum als grundlegende Paradoxien des Deutschunterrichts, die es auszuhalten gelte, die jedoch beständig reflektiert und immer wieder neu aufeinander bezogen werden müssten.3

1  |  Heiner Goebbels: Editorial. In: Kultur Ruhr (Hg.): Programmheft ruhr/triennale. No Education. Gelsenkirchen 2013, S. 28. 2 | Vgl. Michael Baum: Die verdrängte Paradoxie oder Warum die Literaturdidaktik die Dekonstruktion vergaß. In: Ders. u. Marion Bönnighausen (Hg.): Kulturtheoretische Kontexte für die Literaturdidaktik. Baltmannsweiler 2010, S. 107-123, hier S. 118f. 3 | Vgl. ebenda, S. 119.

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Ich möchte in meinem Beitrag darüber nachdenken, wie, im Bewusstsein der prinzipiellen Unmöglichkeit einer Vermittlung von Bildung, inner- und außerhalb des Deutschunterrichts Räume geschaffen werden können, die Schülern ästhetische Erfahrungen im Umgang mit Film, Theater und vor allem Literatur ermöglichen. Anknüpfungspunkt meiner Überlegungen ist ein weiterer scheinbar unaufhebbarer Gegensatz, der in der schulischen Auseinandersetzung mit (literarischen) Kunstwerken durch die Gegenüberstellung einer affektiv bestimmten Subjektivität des Erlebens und einer kognitiven Analyse der Materialität des Kunstwerks erzeugt wird. Eine solche Dichotomisierung steht der Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen im Wege. Auch wenn innerhalb der Forschung bislang nicht hinreichend geklärt ist, was genau unter ästhetischer Erfahrung zu verstehen ist, lässt sich als Konsens mit Georg W. Bertram festhalten, dass ästhetische Erfahrung eine besondere und komplexe Form der Erfahrung in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken bedeutet.4 Sie ist hierbei als ein Selbstverständigungsprozess zwischen Subjekt und Kunstobjekt zu verstehen, in dem die Lesenden, Hörenden und Zuschauenden gleichermaßen ihr Verhältnis zum Kunstwerk, zu der sie umgebenden Welt und damit zu sich selbst reflektieren, ordnen und neu bestimmen. Dies geschieht, indem sie das Risiko eingehen, durch Verfremdung, Verrätselung, Schock oder Distanzierung eine neue Perspektive auf die Welt und damit auf sich selbst zu bekommen.5 Ästhetische Erfahrungen sind somit »interaktive, konstruktive Akte«, die »nicht auf intellektuellkognitive Erfahrungsqualitäten beschränkt« bleiben, sondern auch »die Ebene der Sinneswahrnehmungen und Gefühle« umfassen.6 Bernhard Rank und Christoph Bräuer sprechen zudem von »primärer Erfahrung« im Sinne eines subjektiven, nicht verbalisierbaren Erlebens, zumeist ausgelöst durch Irritationsprozesse.7 Diese Irritationen sind Ausdruck und gleichermaßen Auslöser dafür, dass Bedeutungszuweisungen nicht 4 | Vgl. Georg W. Bertram: Kunst. Eine philosophische Einführung. Stuttgart 2005, S. 292. 5 | Vgl. ebenda, S. 196-210. 6  |  Bernhard Rank u. Christoph Bräuer: Literarische Bildung durch literarische Erfahrung. In: Gerhard Härle u. Bernhard Rank (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anders, als frei werden.« Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler 2008, S. 63-87, hier S. 70. 7 | Ebenda, S. 74.

Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung

automatisiert vorgenommen werden, sondern sich an dem Material des Kunstwerks brechen.8 Ästhetische Objekte manifestieren sich »durch die Spannung zwischen Material und Signifikant«,9 sodass ästhetische Erfahrung als ein »Zaudern« zwischen beiden Polen beschrieben werden kann, wie Christoph Menke in Anlehnung an Paul Valéry und Roman Jakobson hervorhebt.10 Dies kennzeichnet den eigentümlichen (Zwischen-)Status ästhetischer Objekte und bestimmt gleichermaßen deren Rezeption.11 Die mit der Irritation einhergehende de-automatisierte Wahrnehmung der Materialität des Kunstwerks wiederum ist keineswegs das Ergebnis einer ausschließlich kognitiv gesteuerten Analyse, sondern widerfährt dem Rezipienten in der Konfrontation beziehungsweise Interaktion mit dem Kunstwerk als ein Ereignis, das durch die subjektive Komponente auch durchaus affektiv bestimmt ist. Zu überlegen ist also, inwieweit Materialität und Ereignis die entscheidenden Komponenten aller Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung bilden und wie sich durch die Einbettung in eine phänomenologische Rezeptionstheorie beide Dispositive aufeinander beziehen lassen, um so einen Spielraum für ästhetische Erfahrung (nicht nur) im Deutschunterricht zu ermöglichen.

M aterialität – V erstörung und D urchbrechung einer illusionären G eschlossenheit Veranschaulichen möchte ich die Bedeutung der Materialität eines Kunstwerks für ästhetische Erfahrungen anhand eines berühmten Dramas, das gern als Gegenentwurf zum aufklärerischen Postulat von Kommunikation und Humanität in Johann Wolfgang Goethes Iphigenie auf Tauris gelesen wird: Heinrich von Kleists Penthesilea, dessen gleichnamige

8 | Vgl. Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt a.M. 1991, S. 63. 9 | Ebenda, S. 64. 10 | Ebenda, S. 52. 11 | Vgl. ebenda, S. 64.

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Protagonistin sich Goethe zufolge in einer »so fremden Region« bewege, dass er sich mit ihr nicht befreunden könne.12 Betrachten wir zunächst einmal diese »fremde[-] Region« unter Rückgriff auf die Deutungen Gabriele Brandstetters: Das Grundgefüge des Dramas ist durch eine fundamentale Störung der Ordnung bestimmt. Das Amazonenheer greift die Griechen ohne ersichtlichen Grund an und (zer-)stört das bestehende Gefüge, so wie Penthesilea schließlich mit ihrer Liebe und der daraus resultierenden extremen Gewalttat – der Ermordung ihres geliebten Achilles – die Ordnung des Amazonenstaats destruiert.13 Mit der Tötung des Achilles im 23. Auftritt erreicht die Störung der Ordnung ihren Höhepunkt. Sie ist (durchaus in der Tradition des antiken Theaters) nicht als Handlungselement implementiert, sondern wird aus drei Perspektiven und in Form der Teichoskopie im Text vor Augen geführt: Sie spiegelt sich im ausdrücklich formulierten »Entsetzen!« der Berichterstatterin (V. 2598),14 im Blick der anderen, die auf ihr Gesicht schauen, sowie im Bericht der Meroe, die den Blick ihrer Zuhörerinnen und damit auch den imaginativen Blick der Leser auf sich selbst zieht, auf ihre gorgonenhafte Erstarrung als Reaktion auf das Gesehene (»Und wie ihr steht, zu Steinen starr’ ich euch«, V. 2604).15 Allen Perspektiven ist gemeinsam, dass ein unvorstellbares Geschehen als szenisches Bild sprachlich beschworen wird, die Protagonistinnen also das Geschehen nicht mimetisch verkörpern, sondern ihre Körper und Gesichter als Projektionsfläche für die Blicke der Umstehenden, für deren imaginative Bilder des Geschehens zur Verfügung stellen.16 Als die ungeheuerliche 12  |  Johann Wolfgang Goethe: Werke. 143 Bde. in 4 Abt. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimarer Ausgabe. Weimar 1887-1919. Abt. IV, Bd. 20: Januar 1808–Juni 1809. Weimar 1896, S. 15-16, hier S. 15 (Brief an Heinrich von Kleist am 1. Februar 1808). 13 | Vgl. Gabriele Brandstetter: Penthesilea. »Das Wort des Greuelrätsels«. Die Überschreitung der Tragödie. In: Walter Hinderer (Hg.): Interpretationen. Kleists Dramen. Stuttgart 1997, S. 75-115, besonders S. 103-105. 14 | Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. 20 Bde. in 4 Abt. Hg. v. Roland Reuß, Peter Staengle u. Ingeborg Harms. Brandenburger Ausgabe. Basel, Frankfurt a.M. 1988-2010. Abt. I, Bd. 5: Penthesilea. Hg. v. Roland Reuß. Basel, Frankfurt a.M. 1992, S. 7-191. Die Versangaben finden sich fortan im Fließtext. 15 | Vgl. auch Gabriele Brandstetter: Penthesilea (Anm. 13), S. 90. 16 | Vgl. ebenda, S. 93.

Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung

und dadurch auch unaussprechliche Gewalttat (»O meine Lippe zittert auszusprechen, | Was du gethan […]«, V. 2952f.) doch in Worte gefasst werden muss, um für Penthesilea (und damit für Leser und Zuschauer) nachvollziehbar zu werden, wird deutlich, dass das Muster, das der Beziehung von Achilles und Penthesilea zugrunde liegt, sprachlich codiert ist.17 Achilles selbst spricht es deutlich aus, wenn er in aufeinanderfolgenden Äußerungen bekennt: »Mein Will’ ist, ihr zu thun, muß ich dir sagen, | Wie ich dem stolzen Sohn des Priam that« (V. 1513-1514) und »Sag’ ihr, daß ich sie liebe« (V. 1520). Die metaphorische Substitution von Kampf und Liebe, Tod und Sexualität wird durch das System der Sprache mit seiner immanenten Klangordnung und Zeichenstruktur motiviert. Penthesilea bedient sich zur Deutung des Geschehens etwa der rhetorischen Figur der Paronomasie und bezieht die sich im Klang ähnelnden Wörter »Küsse, Bisse« trotz ihrer unterschiedlichen Bedeutung aufeinander: »– So war es ein Versehen. Küsse, Bisse, | Das reimt sich […]« (V. 2981-2982). Das »Versehen« erwächst aus der sprachlichen Verfasstheit, sodass die symbolische Ordnung der Zeichen und somit die Stellvertreterfunktion der Sprache außer Kraft gesetzt wird. Der performative Akt der Rede selbst stellt schon den Vollzug dar, Gabriele Brandstetter spricht von der »Materialität des Körperlichen in der Evokation der Sprache«.18 In diesem Sinne ist auch der spätere Tod Penthesileas »buchstäblich«.19 Die Schockmomente, die ein solches Drama erzeugt, basieren auf dieser ›Buchstäblichkeit‹ und damit auf der Materialität der Sprache und ihrer performativen Kraft. Die verstörende Fremdheit erwächst allein aus der Verankerung der ungeheuerlichen Tat in der materiellen Dimension der Sprache selbst. Die Inszenierung eines solchen Lesedramas auf einer Theaterbühne stellt eine besondere Herausforderung dar, die bislang nicht viele Regisseure angenommen haben. Hans Neuenfels komponiert in seiner berühmten Inszenierung der Penthesilea aus dem Jahre 1981 am Berliner Schiller Theater (1983 in seinem Film Heinrich Penthesilea von Kleist dokumentiert)20 eine Seelenlandschaft aus Ängsten und verdrängten Sehnsüchten, sodass Penthesileas Ringen um Verständnis, ihr Um17 | Vgl. ebenda, S. 110. 18 | Ebenda, S. 112. 19 | Ebenda, S. 113. 20 | Vgl. Heinrich Penthesilea von Kleist (1983). Hans Neuenfels (Regie). 144 Minuten. Deutschland.

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gang mit der Wahrheit sowie ihren Liebesgefühlen für die Betrachter beobachtbar und nachvollziehbar werden.21 Wenn er am Ende Penthesilea als hechelnde Hündin auf der Bühne inmitten von blutigen Requisiten, die Wahnbilder und Sexualverbrechen suggerieren, umherkriechen lässt, gründet das Befremden der Zuschauer auf einem Abscheu vor der auf diese Weise präsentierten Mischung aus Apathie und Wahnsinn. Während die Verstörung durch das Drama auf der Gleichsetzung von Kampf und Liebe, Tod und Sexualität durch sprachliche Muster beziehungsweise der Hervorbringung von Gewalt durch sprachliche Strukturen beruht, zielt der ästhetische Darstellungsmodus dieser Theateraufführung auf Verstörung durch die Präsentation seelischer Abgründe mittels drastischer theatralischer Mittel ab. Ein solcherart motiviertes Befremden als notwendiger Bestandteil ästhetischer Erfahrung bedeutet sowohl im Drama als auch in der theatralen Umsetzung die Durchbrechung einer vermeintlichen illusionistischen Geschlossenheit und damit eine Distanzierung der Rezipienten gegenüber dem Kunstwerk aufgrund und gleichzeitig infolge der Wahrnehmung seiner materialen Verfasstheit. Dieser Zusammenhang lässt sich am Beispiel eines anderen künstlerischen Mediums, des Films, verdeutlichen. Dieses Medium scheint in besonderer Weise durch die Illusion einer vermeintlichen Geschlossenheit gekennzeichnet zu sein, da seine Realität mit der Wirklichkeit verwechselt werden kann, wenn man Film als eine Möglichkeit sieht, »mechanisch die Wirklichkeit zu reproduzieren«.22 In dem Fall wird jedoch die grundsätzliche Materialität des Films nicht wahrgenommen. Es wird nicht erkannt, dass es im Film Zeit- und Raumsprünge anstelle eines raum-zeitlichen Kontinuums gibt, dass Filmbild- und Sehfeldbegrenzung nicht übereinstimmen, Farb- und Lichtgestaltung divergieren und der Film als ein Ineinander von Raum- und Flächenbild eine künstliche 21 | In einer solchen Psychologisierung liegt auch immer die Gefahr einer Verharmlosung. Es wäre interessant zu sehen, ob die forcierte Sprachlichkeit des postdramatischen Theaters mit seiner Entfaltung diskursiver Gewalt nicht die besondere sprachliche Materialität des Dramas in adäquate theatrale Mittel hätte überführen können, indem eben nicht eine psychologisch ausgeleuchtete Figur in den Mittelpunkt gestellt wird. 22 | Rudolf Arnheim: Film als Kunst. In: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 1995, S. 179-203, hier S. 179. Hervorhebungen im Original.

Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung

Konstruktion ist. Dies hat zur Folge, dass die Raumwirkung der Filmbilder, verglichen mit der Fähigkeit der Netzhaut, nur sehr dürftig ausfällt, wodurch eine stärkere Betonung der perspektivischen Überschneidung entsteht.23 Rudolf Arnheim begründet die Leistung eines Filmesehenden, die Darstellung von Welt auf der Leinwand als naturgetreue Abbildung zu akzeptieren, mit der »partiellen Illusion«,24 da der Zuschauer die technische Verfasstheit von Film und damit dessen Materialität ausblendet. Das ›Gemachtsein‹, das dem Film wie jeder anderen Kunstform zu eigen ist, wird dabei jedoch nicht wahrgenommen. Aber gerade in dieser Wahrnehmung von Materialität liegt das große Potenzial ästhetischer Erfahrung, indem dadurch Momente der Irritation, des Innehaltens und der De-Automatisierung von Wahrnehmung erzeugt werden.

E reignis – P hänomenologische B e tr achtungen Das Entsetzen und Befremden ob der ungeheuerlichen Tat Penthesileas entsteht nicht nur aus dem beschriebenen Geschehen heraus, sondern durch die Gewalt, die in Kleists Drama durch die Sprache selbst erzeugt wird. Grenz- und Schockerfahrungen werden hier im Sinne einer ästhetischen Überwältigung ausgelöst, mit Klaus-Peter Philippi gesprochen: »Kunst ist Gewalt – oder sie ist nicht.«25 Die performative Kraft, die in der Sprache liegt und Gewalt ausübt, kann uns als ästhetische Erfahrung direkt ›berühren‹, sodass wir uns ihr kaum entziehen können.26 Kunst wird folglich dadurch zum Ereignis, dass sie sich nicht einfach vollzieht, sondern indem sie demjenigen, dem sie bemerkbar wird, »widerfährt«.27 Da ästhetische Ereignisse sich regelrecht aufdrängen, indem sie mit Irritationen einhergehen, verändern sie den Sinn der jeweiligen Situation 23 | Vgl. ebenda, S. 180-194. 24 | Ebenda, S. 198. 25 | Klaus-Peter Philippi: Gewalt in der Literatur – Literatur als Gewalt? In: Julia Dietrich u. Uta Müller-Koch (Hg.): Ethik und Ästhetik der Gewalt. Paderborn 2006, S. 27-55, hier S. 49. 26 | Vgl. Martin Seel: Ereignis. Eine kleine Phänomenologie. In: Nikolaus MüllerSchöll (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld 2003, S. 37-47, hier S. 45. 27 | Ebenda, S. 39. Hervorhebung im Original.

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und bewirken eine Umstellung der Orientierung des Rezipienten. Kunstwerke versteht Martin Seel dabei als »Ereignis-Objekte […], die eine Unterbrechung, Umpolung und Transposition der Verläufe der Wahrnehmung und des Verstehens bewirken«.28 Ein solches Verständnis, das ästhetische Erfahrung vor allem als Affektation begreift, als etwas, das das rezipierende Subjekt ›berührt‹,29 entspricht einer phänomenologischen Betrachtungsweise. Bernhard Waldenfels hebt die körperliche Dimension eines solchen ›Berührtwerdens‹ von Ereignissen im sprachlichen Gebrauch hervor, die sich in Wendungen wie ›Ins-Auge-Springen‹ oder ›Hervorstechen‹ ausdrückte.30 Die Reaktion des Rezipienten hat den Charakter einer »Response«, einer Erwiderung, wobei sich das »Doppelereignis von Pathos und Response« nicht voneinander trennen lasse:31 Es gehe nicht um ein funktionales Kausalgeschehen im Sinne von Ursache und Wirkung, auch nicht um ein Zusammenwirken von Pathos als Autopoiesis und Response als Reflexivität,32 sondern ausschlaggebend für Erfahrungsprozesse sei die besondere zeitliche Dimension. Pathos und Response seien stets ungleichzeitig, in ihrer Raumzeitlichkeit gegeneinander verschoben: »Ich antworte auf etwas, das mir auffällt; etwas fällt mir auf, indem ich darauf antworte.«33 Dem phänomenologischen Verständnis zufolge ist das Verstehen an die primär vorgängige Sinnlichkeit des Erfahrens gebunden, sodass in der Wahrnehmung selbst Sinn entsteht.34 Dabei werden Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gefühle nicht rein subjektiv aufgefasst, weshalb nicht zwischen objektiven Tatsachen und subjektiver Aufnahme unterschieden werden kann. Die Phänomenologie geht vielmehr davon aus, dass »Seinsgehalt und Zugangsart der Erfahrung unzertrennlich zusammengehören«.35 Dass sich der Wahrnehmung etwas anbietet, geht vom 28 | Ebenda, S. 45. 29 | Vgl. Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Berlin 2010, S. 27. 30 | Vgl. ebenda, S. 110. 31 | Ebenda, S. 111. 32 | Vgl. ebenda. 33 | Ebenda, S. 112. 34 | Vgl. ebenda, S. 147. 35 | Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt a.M. 1997, S. 66.

Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung

Blick des Rezipienten selbst aus, der sich jedoch am (Kunst-)Gegenstand ausrichtet, welcher wiederum die Grenzen der Wahrnehmung vorgibt. Das »Prinzip aller Prinzipien« Edmund Husserls, »daß jede originär gegebene Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär (sozusagen in seiner leibhaftigen Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich gibt […]«,36 wertet damit Gefühle wie Hass, Liebe, Furcht nicht als lediglich subjektive Reaktionen ab. Es macht sie stattdessen zu »Weisen, die Welt zu entdecken. Es sind die Dinge, die sich uns plötzlich als hassenswerte, sympathische, entsetzliche, liebenswerte enthüllen«, so Jean-Paul Sartre in seinem Essay zur Phänomenologie Husserls.37 Karl Heinz Bohrer akzentuiert die Besonderheit der zeitlichen Dimension in der ästhetischen Erfahrung durch die Kategorie der ›Plötzlichkeit‹, wobei er ästhetische Erfahrungen stets von einem Werturteil begleitet sieht. Hierbei macht er zwei zeitlich unterschiedliche Schichten aus, die jedoch synthetisch miteinander verbunden sind: In der ersten Phase der Antizipation findet das phänomenologisch konturierte Ereignis zwischen Subjekt und Objekt als eine intuitiv-imaginative Handlung statt. Dieses Ereignis begründet bereits ein elementares Wertverhältnis, unabhängig von einer intellektuell begründeten Legitimation.38 Die erkenntnistheoretische Paradoxie liegt darin, dass es für eine Urteilsbildung notwendig wäre, das Kunstwerk in seiner Gesamtheit und seiner Kontextualität zu kennen, die entscheidende Sinnentscheidung sich aber bereits in dieser ersten Phase der Antizipation vollzieht.39 Aufgrund der Einbettung in das historische Bewusstsein des Rezipienten wird Bohrer zufolge der Akt der Antizipation nicht zu einem bloß subjektiven freien 36 | Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. 1. Halbband: Text der 1.-3. Auflage [1913, 1922, 1928]. Neu hg. v. Karl Schuhmann. Den Haag 1976 (= Hua III,1), S. 51. 37  |  Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität. In: Ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 19311939. Hg. v. Bernd Schuppener. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 33-37, hier S. 36. 38 | Vgl. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M. 1981, S. 31. 39 | Vgl. ebenda, S. 32.

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Assoziieren und damit nicht beliebig. Stattdessen wird diese Matrix kultur- und bewusstseinsgeschichtlicher Daten der Moderne in der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk als zweite reflexive Schicht »im Akt der Antizipation virulent«.40 Ausgehend von der eigenen Gegenwart werden Texte, Filme oder Theaterstücke damit auf ihr »zeitreflexive[s] Bewußtseinsniveau« überprüft, sodass das Neue, das Unerhörte, das Nie-Empfundene, das Inkommensurable wahrgenommen wird.41 Auch wenn diese Suche nach einem theoriefähigen Kontext und dessen Verankerung in einer romantischen Vorstellung von Moderne durchaus bemüht wirkt, ist es die Leistung dieses Ansatzes, die erste, imaginative Schicht des plötzlichen Ereignisses nicht durch eine folgende relativierende reflexive Schicht zu entmündigen, wie es seit Immanuel Kant geschehen ist. Die literaturwissenschaftlich bis heute gültigen Konstrukte, bei denen durchaus auch »de[r] artikulierte[-] Leseraugenblick«42 als Teil der ästhetischen Erfahrung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat, zielen Bohrer zufolge letztlich auf textlinguistische Strukturwahrnehmung (Wolfgang Iser), auf die Vorstellung eines ontologischen Kunstwerks (Roman Ingarden), auf die Bestätigung ästhetischer, philosophischer und ethischer Normen (Hans-Georg Gadamer), auf eine von der Bewertung getrennte textlinguistische Strukturanalyse (Siegfried J. Schmidt) oder auf eine strikte Unterscheidung zwischen einer imaginativen und einer reflexiven Schicht (Hans Robert Jauß) ab.43 Um das Dispositiv Ereignis als Bestandteil ästhetischer Erfahrung beispielhaft zu verdeutlichen, möchte ich auf theatrale Räume zurückgreifen, die in ihrer spezifischen Materialität Schülern zum Ereignis werden können. Ästhetische Erfahrung als ein ereignishaftes ›Berührtwerden‹ durch die (Selbst-)Verständigung mit dem Kunstwerk aufgrund von Irritationen auf sinnlich-materialer Basis wird in Theateraufführungen evident, da die Zuschauer die Aufführung selbst mitbestimmen. Sie geht aus dem Handeln aller Anwesenden hervor, aus deren Agieren und Reagieren; Erika Fischer-Lichte spricht von der »leiblichen Ko-Präsenz aller Beteiligten«.44 Die ästhetische Erfahrung wird hier gleichsam als 40 | Ebenda, S. 35. 41 | Ebenda, S. 36. 42 | Ebenda, S. 31. 43 | Vgl. ebenda, S. 31-34. 44  |  Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 54.

Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung

»kollektive[-] Erfahrung« verstanden, die aus einem gemeinsamen ›Wir‹ entsteht: »Zuschauen im Theater heißt Teilhaben und ein Teil sein.«45 Phänomenologischen Prämissen zufolge kann die Wahrnehmung einer Aufführung dabei »nicht auf die Ermittlung von Bedeutungen, Interpretationen, Aussagen oder Regie-Absichten reduziert werden«.46 Vielmehr hat Jens Roselt zufolge das subjektive »Schauspiel der Aufmerksamkeit« des einzelnen Zuschauers einen wichtigen Part auf allen Ebenen der Perzeption: »Die Konzentration auf diese intellektuelle und auf das Verstehen gerichtete Dimension führt zur Verdrängung all jener ambivalenten Zuschauerhaltungen, von denen die Faszination für das Theater geprägt sein kann: Aufregung, Unterhaltung, Langeweile, Spannung, Aggression, Erotik oder Aspekte wie Gefühle, Assoziationen und Biografisches.«47 Ein Beispiel für einen solchen »Ermöglichungsraum«48 ästhetischer Erfahrung kann das Projekt No Education sein, das im Rahmen der Ruhrtriennale von 2012 bis 2014 stattfand. Es versammelte in jedem Jahr rund 100 Kinder und Jugendliche aus Gesamt- und Realschulen des Ruhrgebiets, die als Festivaljury für die Aufführungen die Children’s Choice Awards vergaben und »das gesamte Festivalprogramm einer kritischen Prüfung« unterziehen sollten, wie es im Programmheft heißt.49 Eine zentrale Aussage aus dem phänomenologisch basierten Programm No Education zeigt eine Möglichkeit auf, wie Kunst zum Ereignis werden kann: Für die Ohren und Augen von heute kann die Begegnung mit zeitgenössischer Kunst Fremdheit bedeuten oder eine chaotische Erfahrung auslösen. Wir hören eine Sprache, deren Vokabular, deren Syntax wir nicht kennen. No Education eröffnet ein Terrain, in dem Nicht-Wissen oder Nicht-Verstehen zu keiner schmerzhaften oder ausgrenzenden Erfahrung führen, sondern ein neues, sinnliches 45  |  Jens Roselt: Stile des Zuschauens. In: Marion Bönnighausen u. Gabriela Paule (Hg.): Wege ins Theater. Spielen, Zuschauen, Urteilen. Berlin 2011, S. 65-80, hier S. 73 u. 70. 46 | Ebenda, S. 71. 47 | Ebenda, S. 71f. 48 | Gerhard Härle: Literarische Bildung im Spannungsfeld von Erfahrung und Theorie. In: Ders. u. Bernhard Rank (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anders, als frei werden.« (Anm. 6), S. 39-62, hier S. 48. 49 | Kultur Ruhr (Hg.): Programmheft ruhr/triennale. Gelsenkirchen 2013, S. 14.

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Verstehen entzünden. Es gibt keinen Grund, einem Zuschauer Komplexität zu ersparen und sei er noch so jung. Jede Überforderung kann die Wurzel einer tiefen Erfahrung sein. 50

M aterialität und E reignis – E in W eg zur ästhe tischen E rfahrung Materialität und Ereignis treffen sich in dem phänomenologischen Konzept von ästhetischer Erfahrung, indem Fühlen und Denken sowie der materielle Körper des Kunstwerks und des Rezipienten als Bestandteile ästhetischer Erfahrung gleichermaßen und gleichberechtigt aufeinander bezogen werden. Das Bewusstwerden der materiellen Grundlagen eines Kunstwerks bedeutet das Gewahrwerden seines ›Gemachtseins‹ und ist verbunden mit einer Distanzierung, meist auch einer Irritation, da die Illusion eines abbildhaften Wirklichkeitsbezugs durchbrochen wird. Diese Erfahrung geschieht immer in einem Verständigungsprozess mit dem Kunstwerk, ist aber stets auch subjektiv und durchaus affektgeleitet. Gefühle werden nach diesem Konzept jedoch nicht im Sinne der Emotionspsychologie verstanden. Die Psychologisierung und Moralisierung der Gefühle seit dem 18. Jahrhundert führten dazu, dass Gefühle zu einem beobachtbaren Verhalten wurden, dabei jedoch ›bloß‹ subjektiv blieben. »Reine Subjektivität«, so hingegen Hartmut Böhme, »ist eine Hohlform, sie ist leer und abstrakt (wie schon Hegel erkannte)«.51 Die Phänomenologie begreift Gefühle im Rückgriff auf Johann Gottfried Herder im Sinne eines sinnlichen Spürens, wobei das ›Spüren‹ und ›Tasten‹ von Substanzen auch den Sinn erschließt.52 Böhme stellt heraus, dass damit alle Gefühle ein ›Berührtwerden‹ oder Ertasten sind, alle Wahrnehmungen Kontaktwahrnehmungen.53 Das ereignishafte ›Berührtwerden‹ von einem Kunstwerk hat der Phänomenologie zufolge Erkenntnischarakter.

50 | Kultur Ruhr (Hg.): Programmheft ruhr/triennale. No Education (Anm. 1), S. 12. 51 | Hartmut Böhme: Gefühl. In: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim, Basel 1997, S. 525-548, hier S. 540. 52 | Vgl. ebenda, S. 533. 53 | Vgl. ebenda, S. 534.

Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung

Das Verständnis von Materialität und Ereignis als Dispositiven ästhetischer Erfahrung ermöglicht in unterschiedlichen Kontexten und auf verschiedenen Ebenen, ästhetische Erfahrung inner- und außerhalb des Deutschunterrichts zu initiieren und zu fördern. Im phänomenologischen Sinne kann ein möglicher Ereignischarakter in der Erstbegegnung mit Literatur (oder Film oder Theater) ernst genommen werden, ohne dass Wissen vorausgesetzt werden muss. Gleichzeitig entbindet das Ernstnehmen von ästhetischer Erfahrung als Ereignis nicht von einer präzisen und detaillierten Auseinandersetzung mit der Materialität von Kunstwerken, um zu erkunden, wodurch die Brüche und Irritationen ausgelöst werden. Wenn die Begegnung mit Literatur im Deutschunterricht von den Dispositiven Materialität und Ereignis ausgeht, kann deutlich werden, dass die im Literaturunterricht häufig zu beobachtende alleinige Beschränkung auf Handlungsaspekte und Figurencharakterisierungen in ihrer zeitgeschichtlichen Kontextuierung genau diejenige illusionäre Abbildung von Wirklichkeit als vermeintlich bruchlose Ganzheit beschwört, deren Durchbrechung erst Literarizität ausmacht. Um Letztere nachvollziehbar zu machen, müssten hingegen die subjektiv erfahrene Ereignishaftigkeit des Kunstwerks über Brüche und Leerstellen sowie die Auseinandersetzung mit der materialen Beschaffenheit als Auslöser dieser Irritationen im Zentrum stehen. Die Offenheit, mit der ein Kunstfestival ermöglicht, dass »junge Menschen Räume erobern für ästhetische Erfahrungen, Austausch und Experiment«,54 könnte ein Vorbild auch für einen innovativen Umgang mit Literatur, Theater und Film im Deutschunterricht sein. Die Voraussetzung dafür ist, dass man nicht davon ausgehen sollte, dass sich ästhetische Erfahrung grundsätzlich in einem Spiralcurriculum entwickeln lässt und »erst Kennerschaft zu einer tiefen künstlerischen Erfahrung« befähigt, nachdem man sich »klassische[n] Programme[n] der kulturellen Bildung und Vermittlung« unterworfen hat.55 Stattdessen sollten Jugendliche ermutigt und ermächtigt werden, »sich in das Dickicht der Zeichen vorzuwagen, ihr intuitives Wissen zum Einsatz zu bringen und zu erzählen, was sie erlebt haben«.56 Die Akzeptanz von Schülern als »selbstbewusste 54  |  Kultur Ruhr (Hg.): Programmheft ruhr/triennale. No Education (Anm. 1), S. 30. 55 | Ebenda, S. 6. 56 | Kultur Ruhr (Hg.): Programmheft ruhr/triennale (Anm. 49), S. 12.

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Akteure: als Kunstexperten«57 ist die Voraussetzung dafür, ästhetische Erfahrung durch ein phänomenologisch gestütztes Zusammendenken von Materialität und Ereignis (nicht nur) im Deutschunterricht zu ermöglichen und zu fördern.

57 | Ebenda.

Der Turm von Uwe Tellkamp auf der Bühne Romanbearbeitungen als Literaturvermittlung Jens Groß

Im Theater wird Literatur auf die Bühne gebracht und somit über alle Sinne erfahrbar. Sie wird interpretiert und arrangiert. Diese Form der Literaturvermittlung umfasst nicht nur das Drama, sondern auch – und in jüngster Zeit immer öfter – Romane, für die Bühnenfassungen erarbeitet werden. Im Grunde ist diese Praktik so alt wie das Theater selbst, und dennoch treibt sie einigen Kritikern des gegenwärtigen Feuilletons regelmäßig die Zornesröte in die Gesichter. Mein Beitrag wird sich der Romanbearbeitung auf dem und für das Theater widmen, der »epischen Seuche«, wie man es beim Kritiker Gerhard Stadelmaier immer wieder nachlesen kann.1 Rein theatergeschichtlich kann man sich über die Ablehnung von Romanbearbeitungen für die Bühne nur wundern, gingen doch seit jeher die Theaterstoffe aus den großen Epen der Literatur hervor. Alle großen griechischen Tragödienschreiber haben einzelne Elemente aus bekannten Werken, vor allem aus der Ilias oder der Odyssee, herausgelöst, übertragen, bearbeitet und zugespitzt. Aber auch spätere Theaterautoren wie zum Beispiel William Shakespeare haben häufig auf schon existierende, mehr oder weniger bekannte Prosavorlagen zurückgegriffen und sie zu

1 | Gerhard Stadelmaier: Heraus mit euch, ihr Feiglinge, ihr seit erzählt! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Juli 2010, S. 35. In diesem Artikel überprüft Stadelmaier die Spielpläne der Spielzeit 2010/2011 in den deutschsprachigen Theatern. Sein Befund: »In Frankfurt sind nur ungefähr zwanzig Prozent des Spielplans episch verseucht, an den Münchner Kammerspielen dagegen gut achtzig, im Berliner Gorki Theater an die neunzig Prozent.«

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erfolgreichen Theaterstücken umgearbeitet.2 Diese Praxis, sich der vorhandenen (Prosa-)Literatur als Dramatiker zu bedienen, wurde und wird seit über 2.000 Jahren am Theater ununterbrochen fortgesetzt, ob nun Johann Wolfgang Goethe eine neue Iphigenie oder einen neuen Faust oder ob Bertolt Brecht Schweyk im Zweiten Weltkrieg oder Heiner Müller Quartett oder Zement veröffentlicht. Die großen Stoffe beruhen sehr oft auf der Grundlage der ›Wiederverwertung‹ und Weiterverarbeitung, oder sagen wir besser: auf dem jeweiligen Weitererzählen von bekannten Geschichten. Der Wunsch nach diesem Weitererzählen ist das älteste und wichtigste Instrument der Menschheit, um Erfahrungen zu sammeln, um diskutieren, archivieren und damit die Grundlage eines kulturellen Gedächtnisses generieren zu können – kurz: um zu überleben. Woher rührt dann die gegenwärtige Verurteilung dieser Praxis in Bezug auf die Theaterbühnen, zumindest wenn es um das Weitererzählen eines Romans geht? Zumal es kaum grundlegende Diskussionen über Literaturverfilmungen gibt. Der Film gilt als dokumentarisches Medium. Dort wird in der Regel die Illusion erzeugt, man befände sich in der Zeit und im Raum eines Romans. Der Zuschauer kann sich auf eine scheinbar dokumentarische – und damit werktreue? – Wiedergabe eines Stoffs einlassen. Im Theater ist das grundsätzlich nicht möglich. Hier wird alles ›behauptet‹, von vornherein in Metaphern und Zeichen übersetzt. Hier wird eindeutig Kunst ›gemacht‹. Folgerichtig kommt an dieser Stelle die in Deutschland besonders ausgeprägte Diskussion des 18. Jahrhunderts um das Originalgenie mit ins Spiel. Vor allem in diesem Land hält sich hartnäckig die Mär, dass ›echte‹ Kunst eben originär und völlig autark für sich stehen und der Dichter ein aus sich selbst schöpfendes Genie sein müsse. Wäre dies tatsächlich das Ideal der Künstler und ebenso der Rezipienten, würde sich die Arbeit in Museen und Archiven völlig erübrigen. Dass dem nicht so ist, weiß man an diesen Institutionen als Orten der Literaturvermittlung ebenso, wie es auch den Künstlern selbst bewusst ist, die sich, wie oben beschrieben, immer wieder gerne aus den Archiven vergangener Kunst bedienen, um Gegenwärtiges aus dem Archetypischen heraus zu erzählen.

2  |  Vgl. Hermann Wiegmann: Abendländische Literaturgeschichte. Würzburg 2003, S. 283-289, besonders S. 286f. Für den Othello-Stoff greift Shakespeare beispielsweise auf eine Vorlage von Cinthio zurück.

Der Turm von Uwe Tellkamp auf der Bühne

Am Theater benutzen wir diese Technik vollkommen selbstverständlich bei jeder Inszenierung eines so genannten ›Klassikers‹. Der Grund, warum ein Stück von Shakespeare nach über vierhundert Jahren nicht längst vergessen ist, beruht darin, dass es offensichtlich jeder Generation immer wieder aufs Neue gelingt, aus dem alten Stoff einen jeweils aktuellen und damit gesellschaftsrelevanten Aspekt herauszuarbeiten. Hinzu kommt, dass bekannte und beliebte Titel und Stoffe unbestritten besser als Transportmittel für gewünschte Botschaften geeignet sind als unbekannte, da zum einen mehr Zuschauer in die Theater kommen, zum anderen auch die Chance besteht, dass der Rezipient aufgrund des Bekanntheitsgrads eines Werks zumindest eine Ahnung davon hat, zu was sich die künstlerische Aussage eigentlich verhält. Und da hat Stadelmaier nicht einmal unrecht, wenn er schreibt: »Die Stoffe liegen entweder im Bewährten, das man ausbeutet, oder im Bestsellerischen, an das man sich hängt«, weshalb sich gegenwärtige Theater oft und gerne auch an den millionenschweren Investitionen der multimedialen Vermarktungsstrategien großer Verlage beteiligen.3 Doch geht es hier natürlich um eine ganz andere Art der Ausbeutung, als es der Kritiker unterstellt. Einerseits bieten große Romanstoffe den multimedial geschulten jungen Regisseuren eine wesentlich größere ästhetische und inhaltliche Freiheit als die meisten – immer noch traditionell dialoglastigen und modernen Ästhetiken hinterherhinkenden – neueren Theaterstücke. Andererseits geht es bei der Entscheidung für einen Romanstoff oft um einen regionalen Faktor, um ein Buch, das die Geschichte einer Stadt oder Region einfängt, um einen Autor, der möglicherweise in der Stadt eines Theaters lebt oder gelebt hat. Gutes Theater hat immer etwas mit den Menschen zu tun, die man in einer bestimmten Stadt oder Region erreichen möchte und erreichen kann. Insofern unterscheiden sich Theaterinszenierungen in Deutschland deutlich von Film und Fernsehen, die sich an ein viel breiteres Publikum wenden. Noch sind deutsche Stadttheater insofern unabhängig, dass sich verschiedene Städte jeweils eigene Versionen, Bearbeitungen und Inszenierungen von denselben Ausgangsstoffen vornehmen können. Damit suchen und finden sie sehr spezifische Fragen und Antworten zur literarischen Vorlage, die sich direkt an ihre erreichbaren Zuschauer richten. So sind beispielsweise 2009 von den Theatern in Dresden und Wiesbaden zwei grundver3 | Gerhard Stadelmaier: Heraus mit euch (Anm. 1), S. 35.

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schiedene Romanadaptionen von Uwe Tellkamps Der Turm in Auftrag gegeben worden,4 die dann 2012 in Potsdam und Dessau ihrerseits nachgespielt und völlig anders interpretiert worden sind. Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land ist ein tausendseitiger Roman, der im Jahr 2008 im Suhrkamp Verlag erschienen ist und sowohl in Deutschland, aber auch weit über die Grenzen hinaus als der erste gelungene Nachwenderoman gefeiert wurde.5 Der Inhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen: Im Mittelpunkt des preisgekrönten Romans von Uwe Tellkamp stehen die Dresdner Arztfamilie Hoffmann, ihre Verwandten und ihr Leben in den letzten sieben Jahren der DDR. Es ist gekennzeichnet von den kleinen und großen Problemen des DDRAlltags. Der Familienvater Richard Hoffmann ist angesehener Chirurg, seine Frau Krankenschwester. Man kann niemandem trauen, findet nur schwer einen privaten Rückzugsort. Und das angestrebte Medizinstudium des Sohnes Christian ist nur durch politisch korrektes Verhalten möglich. Die Familie will sich mit dieser frustrierenden Lebenssituation nicht abfinden, überlegt sogar, in den Westen zu gehen, arrangiert sich dann aber doch irgendwie mit ihrem Leben in der DDR unter Zuhilfenahme von Hausmusik, Büchern, ausgelassenen Feiern und Seitensprüngen. Mit dem Wissen um ein außereheliches Verhältnis setzt die Staatssicherheit Richard unter Druck.6

Das Buch wurde überraschenderweise auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ebenso wie in den westlichen Bundesländern gleichermaßen gefeiert und gewann fast alle möglichen literarischen Auszeichnungen der 4  |  Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land nach dem Roman von Uwe Tellkamp, für die Bühne eingerichtet von Jens Groß und Armin Petras, Regie: Wolfgang Engel, Uraufführung am 24. September 2010, Staatsschauspiel Dresden, Rechte beim Suhrkamp Verlag Berlin, Theater und Medien; sowie Der Turm nach dem Roman von Uwe Tellkamp, Bühnenfassung von John von Düffel, Regie: Tilman Gersch, Erstaufführung der Fassung am 20. November 2010, Hessisches Staatstheater Wiesbaden, Rechte beim Suhrkamp Verlag Berlin, Theater und Medien. 5 | Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Frankfurt a.M. 2008. 6 | Ankündigungstext des Staatsschauspiel Dresden, URL: www.staatsschau spiel-dresden.de/service/das_staatsschauspiel_dresden/der_turm/, letzter Zugriff am 30.10.2014.

Der Turm von Uwe Tellkamp auf der Bühne

Saison. Nur in Dresden selbst, in der Stadt, in welcher der Roman angesiedelt ist, blieb die Aufnahme reserviert bis kritisch. Das Staatsschauspiel Dresden hatte dennoch schnell reagiert und sich die Bearbeitungsrechte für die Bühne sofort nach Erscheinen des Romans gesichert. Der Theaterregisseur Armin Petras und ich (damals Dramaturg des Hauses) wurden von dem Intendanten Wilfried Schulz gebeten, gemeinsam eine Bühnenfassung zu erarbeiten. Dass Armin Petras und mich eine langjährige Arbeitsbeziehung verband, war nicht der alleinige Grund für diese Doppelung der Bearbeiter. Vielmehr war der Umstand bedeutend, dass ich aus dem früheren Bundesgebiet komme und Armin Petras in der DDR sozialisiert worden ist. Unsere unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben in der DDR bestimmen den Grundton dieser Bearbeitung. Da wir uns oft nicht in der Wertung der Geschehnisse einigen konnten, suchten wir besonders nach Textpassagen und Erzählsträngen, in denen sich die Erfahrungen unserer unterschiedlichen Biografien deckten. Fündig wurden wir im Wesen des deutschen Bildungsbürgertums und in der grundsätzlichen Frage nach dessen Geschichte und Verfasstheit sowie der generellen Anpassungsfähigkeit – über zwei Diktaturen hinweg. Und genau das war das Kalkül des Intendanten, als er uns gemeinsam mit dieser Aufgabe betraut hatte. Dem Staatsschauspiel ging es nicht darum, einfach eine Dresdner Geschichte nachzuerzählen, sondern das Archetypische aus dem Spezifischen herauszuschälen, aus einer historisch anmutenden Erzählung eine Parabel für das Jetzt und die Zukunft zu machen. Anders gesagt: Das Theater interessierte durchaus die Frage, welche Aussagekraft der Roman, der einen bestimmten historischen Mikrokosmos beschreibt, darüber hinaus für den Makrokosmos enthält. Damit ging das Interesse der Bearbeitung aber auch über den eigentlichen Roman hinaus. Schnell wurde klar, dass eine Bearbeitung (vor allem eines so umfangreichen Werks) eben keine Kopie sein kann. Wie jede Lektüre und der Bericht davon schon immer eine subjektive Interpretation eines Werks darstellen, kann es bei der Bearbeitung eines Romans für eine Bühnenfassung nicht darum gehen, ihn eins zu eins abzubilden. Vielmehr ist durch Hervorhebung einzelner Motive oder Figuren sowie durch Weglassen von Erzählsträngen etwas Neues zur Diskussion zu stellen. Nichts anderes bedeutet Literaturvermittlung im Theater: die Förderung der Auseinandersetzung, der Diskussion und des Dialogs mit und um Litera-

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tur. Das Theater ist vielleicht der letzte öffentliche Raum, in dem der ursprüngliche Polisgedanke der Antike noch Abend für Abend gelebt wird. Denn hier wird öffentlich verhandelt, abgestimmt und darüber befunden, welches Thema oder welche Ästhetik gesellschaftsrelevant ist oder nicht. Ob man dafür neue Bilder für alte Texte sucht, ob man Bilder aus Filmen neu übersetzt oder eben neue Texte oder Anleihen aus Epen oder Romanen nimmt, ist im Grunde egal. Wichtig ist das Bewusstsein, dass sich Menschen auf die Bühne stellen, um Dinge öffentlich zu verhandeln, um mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen. Mit der Dresdner Inszenierung konnte das Staatsschauspiel diese Intention realisieren. Sie wurde zu einem Theaterereignis, wie es die Stadt Dresden schon lange nicht mehr erlebt hatte. Schon Wochen vor der Premiere sprach man kaum über etwas anderes. Alle Karten für die Uraufführung am 24. September 2010 im Großen Haus waren innerhalb von Stunden verkauft. Und zwei Jahre lang hielt das Interesse fast ungebrochen an und führte zu Rekordzuschauerzahlen im Theater.7 Es gab literarische Führungen im Stadtteil Weißer Hirsch, in dem der Roman zum größten Teil spielt, es gab viele, kaum zu beendende Zuschauergespräche nach den Vorstellungen, in denen die Dresdner ihre Erfahrungen aus dieser Zeit erzählten. Vor der Premiere kursierten kleine Zettel mit den Namen der möglicherweise real gemeinten Persönlichkeiten hinter den Figuren des Schlüsselromans: Die ganze Stadt war vor der Uraufführung skeptisch erregt. Viele Dresdner hatten Angst, dass die im Roman verschlüsselten Namen auf der Bühne realiter ausgesprochen werden, dass sie oder Familienangehörige erkannt werden könnten. Andere mutmaßten, dass eine Inszenierung dieses Stoffs unweigerlich auf eine überzogene Kritik der DDR hinauslaufen müsse und damit Dresden und seine Bürger diskreditiere. Das Theater wurde von besorgten Zuschauerbriefen sogar vor einem möglichen Aufschrei der Empörung und Protesten gewarnt.

7  |  »Erfolgreichste Inszenierungen [der Spielzeit 2010/2011, Anm. des Verfassers] waren Bühnenfassungen der Romane ›Reckless‹ von Cornelia Funke und ›Der Turm‹ von Uwe Tellkamp.« Dresdner Nachrichten online, 6. Juli 2011, URL: www.dnn-online. de/dresden/web/regional/kultur/detail/-/specific/Mehr-als-210-000-ZuschauerSchauspielhaus-Dresden-verbucht-Rekordergebnis-1191614108, letzter Zugriff am 07.11.2014.

Der Turm von Uwe Tellkamp auf der Bühne

Nichts von alledem geschah: Als Bearbeitern ging es uns niemals darum, die vergangenen politischen Verhaltensweisen im Einzelnen zu kritisieren. Vielmehr wollten wir eine exemplarische Geschichte auf die Bühne bringen, eine Familiengeschichte, die vor allem auch eine Gesellschaftsgeschichte ist, die so oder ähnlich überall auf der Welt unter schwierigen politischen Verhältnissen hätte geschehen können. Wir arbeiteten für die Bühnenfassung das Verhältnis von Macht und Ohnmacht heraus, um dabei auch die vielleicht grundsätzlich zum Opportunismus neigende Seite des deutschen Bildungsbürgertums deutlich werden zu lassen. Durch das Festhalten an alten Idealen – etwa an der Liebe zu Kunst und Musik – kann es sich sogar noch kleine, lebenswerte Inseln in unterschiedlichen Diktaturen auf bauen und darin überdauern, gibt dadurch aber auch die Glaubwürdigkeit eines aufklärerischen Ideals preis, wofür man es einst begründet hatte. Die Bühnenfassung formulierte in Anlehnung an die Tradition des ostdeutschen Theaters, wie es etwa durch Bertolt Brecht geprägt worden war, ein politisches Tableau. Insofern gestattete die Fassung einen eher distanzierten Blick auf einen gesellschaftlichen Ausschnitt und seine politischen Konstanten zu einer bestimmten Zeit. Viele Figuren sind in unserer Fassung Funktionsträger, die als Typen in den meisten Gesellschaftsformen in unterschiedlichen Bezeichnungen immer wieder auftauchen. Auch dort, wo die Familiengeschichte individuelle Züge und Charaktere aufzuweisen hat, versuchten wir eher, das Private als notwendiges Gegenstück des Politischen in seinen rituellen und wiederkehrenden Mustern kenntlich zu machen, als das Mitempfinden mit den einzelnen Schicksalen zu ermöglichen. Uwe Tellkamp hat in seinem Roman drei Erzähler und damit drei unterschiedliche Erzählperspektiven eingesetzt. Man kann die Geschichte aus dem Blickwinkel des Arztes Richard Hoffmann, aus dem seines heranwachsenden Sohnes Christian oder aus der Perspektive des Lektors Meno Rohde heraus verfolgen. Die beiden erstgenannten Erzähler notieren eine subjektive, psychologisch grundierte Sichtweise des Geschehens aus ihrer jeweiligen Betroffenheit heraus. Meno Rohde hingegen ist es als Lektor gewohnt, mit kreativen Individuen einerseits und den Anforderungen des Staatsapparats andererseits umzugehen. Für ihn ist es selbstverständlich, die Dinge ohne großes persönliches Interesse eher von außen zu betrachten und analytisch und sezierend zu beurteilen. Dieser Blickwinkel kommt dem Erzählton unserer Theaterfassung am nächsten. John

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von Düffel hat sich für seine Wiesbadener Fassung hingegen für die Perspektive von Christian Hoffman entschieden, die am geeignetsten scheint, den Zuschauer über eine mögliche Identifikation mit dem Protagonisten zum Mitfühlen und Miterleben der Geschichte zu gewinnen. Beide Perspektiven sind im Roman bereits vorhanden, radikalisieren aber in einer Bühnenfassung die jeweilige Strategie der Wirkungsabsichten. Mit einem einfachen dramaturgischen Mittel wurde von uns die zentrale Ambivalenz von Privatem und Politischem hervorgehoben. Auf der Bühne haben wir den Roman, der sich über sieben Jahre erstreckt und an sehr vielen Schauplätzen verortet ist, im klassischen Prinzip der Einheit von Raum, Zeit und Handlung erzählt. Die ganze Geschichte spielt auf der Bühne in einer der riesigen Villen des Stadtteils Weißer Hirsch in einer einzigen Nacht, in welcher der etwas skurrile Hausherr seine Räumlichkeiten gleichzeitig einer Parteiversammlung und einer privaten Familienfeier zur Verfügung stellt. Manche Figuren müssen auf beiden Feierlichkeiten sein, andere versuchen tunlichst der anderen Seite aus dem Weg zu gehen. Theatralisch wurde damit aber sofort vermittelbar, wie schwer es in der DDR war, zum einen den Erwartungen der Partei zu entsprechen, zum anderen einen privaten Rückzugsort zu finden, an dem man sich sicher sein konnte, dass einen niemand hört, überwacht oder bespitzelt. Für Dresden hat sich dieser Weg der Bearbeitung als der richtige herausgestellt. Mit Wolfgang Engel inszenierte einer der renommiertesten Dresdner Hausregisseure aus den 1980er Jahren der DDR. Er wusste, von welcher gesellschaftspolitischen Situation der Roman erzählt, und verstand, welche Intention die Bearbeiter verfolgten. Ihm gelang es, einen DDR-Alltag abzubilden, ohne dabei ›ostalgisch‹ zu sein. Maßgeblich zum Gelingen trug das Bühnenbild von Olaf Altmann bei: Eine überdimensionale Wand, bestehend aus Balkonen, türmte sich im Bühnenportal auf, verbunden durch Leitern und Geländer (Abb. 1). Mittels dieser Konstruktion wurden die grundlegenden Motive der Bearbeitung – Annäherung und Distanz sowie Konfrontation und Isolation als Ausdruck des Verhältnisses von Macht und Ohnmacht – verbildlicht. Das jeweils individuelle, durchaus sehr unterschiedliche Verhältnis zur Macht bei den Figuren wurde auf diese Weise deutlich: Während die einen eine feste Positionen einnehmen, lavieren andere gefährlich, immer dem Abgrund nah. Die beste Hanglage, wie sie der Stadtteil Weißer Hirsch besitzt, wurde als ein Auf und Ab für Kraxler zwischen den Wel-

Der Turm von Uwe Tellkamp auf der Bühne

ten offensichtlich. Und da diese Balkonkonstruktion in keiner Weise auf den im Stadtteil vorherrschenden Jugendstil verwies, begriffen die Zuschauer sehr schnell, dass es sich bei der Inszenierung nicht (nur) um einen Kommentar zur realen Vergangenheit handelte, sondern dass viel grundsätzlichere Fragen aufgeworfen wurden, die unser aller soziales Zusammenleben betreffen.

Abbildung 1: Inszenierung Der Turm am Staatsschauspiel Dresden Literaturvermittlung im Theater heißt aber auch, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, einen literarischen Stoff und die durch ihn ausgelösten Fragen über eine Zuspitzung dem Publikum näherzubringen. Dass dabei in einer anderen Stadt auch mit anderen Mitteln ähnliche Zielstellungen, wie etwa die Relevanzdiskussion mit dem eigenen Publikum, verfolgt werden können, bewies fast zeitgleich die zweite Bühnenbearbeitung des Romans von John von Düffel für das Hessische Staatstheater Wiesbaden. Wie schon erwähnt, hatte diese Bearbeitung einen ganz anderen Weg für ihre Nacherzählung gewählt, indem sie sich für eine psychologisch gedeutete Geschichte rund um die Wahrnehmungsachse des heranwachsenden, jugendlichen Protagonisten Christian entschied, der im Laufe der sieben erzählten Jahre erwachsen wird. Aus der Sicht des Heranwachsenden wirkt die politische Geschichte, in die er zufällig hineingeboren wurde, gleichzeitig unendlich fremd und fern als auch übermächtig. Durch die Betonung der Schmerzpunkte der zur Veränderung

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gezwungenen Hauptfigur wird der Kampf eines gerade reifenden Individuums gegen die herrschende, sanktionierende Gesellschaftsordnung für jeden Zuschauer persönlich nachvollziehbar und wird ihn an seine eigene Jugend und seine eigenen Kämpfe des Erwachsenwerdens erinnern. Für die Wiesbadener Zuschauer verzichtete von Düffel weitgehend auf die Schilderungen der DDR-Nomenklatur sowie auf spezifische Dresdner Phänomene und Ortsbeschreibungen. Es bleibt im Wesentlichen eine große Familiengeschichte, aber sie wird nicht mehr als ein Rädchen in einer alles bestimmenden politischen Landschaftsstruktur gesehen, sondern das Hauptinteresse richtet sich hier auf die individuellen Handlungsmöglichkeiten Einzelner. Aber auch John von Düffel versuchte, übersetzbare, archetypische Phänomene aus dem Roman herauszulesen, die aber den Traditionen der westdeutschen Seh- und Denkgewohnheiten entgegenkamen. Auch diese Inszenierung wurde zu einem großen Zuschauererfolg. Vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen zu Romanbearbeitungen für die Bühne als Form der Literaturvermittlung lässt sich abschließend ein Vergleich zu Museen und Archiven ziehen. Es hat sich an all diesen verschiedenen Orten der Literaturvermittlung offenbar die Einsicht durchgesetzt, dass es nicht mehr nur darum gehen kann, ein Originalmanuskript in eine Glasvitrine zu legen und darauf zu warten, dass ehrfurchtsvolle Besucher kommen und staunen. Literatur vermitteln bedeutet heute vielmehr, Literatur lebendig zu erhalten, sie in allen gesellschaftlich relevanten Darstellungsmöglichkeiten an die Frau, den Mann und das Kind heranzutragen. Sie muss für die gegenwärtigen Fragen und Umstände anschlussfähig, nachvollziehbar und zugänglich gemacht werden. Meiner Meinung nach geht es darum, die Literatur endgültig aus den Fängen des alten Ideals des hehren Elfenbeinturms zu befreien und alles dafür zu tun, dass man mit ihr in jeder erdenklichen Art frei umgehen kann. So können spielerisch immer wieder neue Diskussionen angeregt werden. Literaturvermittlung hat heute in erster Linie dafür zu sorgen, dass man die Geschichten und Schicksale, die unterschiedlichsten Wahrnehmungen von Menschen (ohne Wahrheitsdekret) weitererzählt. Literatur soll sinnlich (er)lebbar werden, um sie und uns am Leben zu erhalten.

Bildnachweis Abbildung 1: Staatsschauspiel Dresden (Foto: M.©Horn)

Das Für und Wider der Fiktion Literaturvermittlung zwischen Immersion und Reflexion Britta Hochkirchen

Ausstellungen, Museen und Archiven wird heute eine konstitutive Funktion im Erkenntnisprozess zugeschrieben: Sie gelten nicht länger als Orte, die lediglich bestehendes Wissen weitergeben, sondern als Medien, die selbst Wissen produzieren.1 Diese Konzeption der Vermittlung als Generierung von Wissen verändert nicht zuletzt auch den Anspruch an den Rezipienten und das Verständnis seiner Rolle im Zuge des Vermittlungsakts. Die Haltung und Position, die von ihm eingenommen beziehungsweise ihm innerhalb des Vermittlungsakts zugedacht werden, müssen neu überdacht werden. Die aktuelle Vermittlungspraxis in Ausstellungen, Museen und Archiven findet sich dabei ebenso wie die theoretischen Überlegungen zu diesem Feld einem Widerspruch ausgesetzt: Einerseits soll jede Form der Vermittlung ein hohes Maß an Selbstreflexivität aufweisen, indem auf die Mittel zur Hervorbringung einer Interpretation verwiesen wird, oder mehr noch: indem die inhärente Funktionsweise der Vermittlung im Vermittlungsprozess selbst thematisiert wird. Insbesondere sollen die vermittelnde Instanz, der – wenn man so möchte – Urheber oder Autor des Vermittlungsakts, und die durch diese Instanz vorgegebene Perspektive, die dem Rezipienten nahegelegt wird, markiert werden. Die Kenntnis darüber, wer 1 | Gottfried Korff definiert das Museum als »Institution, die nicht nur als Speicher, sondern als Generator […] funktioniert«. Gottfried Korff: Speicher und/oder Generator. Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum (2000). In: Ders.: Museumsdinge. Deponieren – Exponieren. Hg. v. Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König u. Bernhard Tschofen. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 167178, hier S. 174.

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spricht, ermöglicht demnach eine Distanz zum Inhalt der Vermittlung wie zur Vermittlung selbst. Andererseits wird in der Literaturwissenschaft seit Ende der 1960er Jahre im Rückgriff auf die Schriften Roland Barthes’ und Michel Foucaults die Rolle einer individuellen Autorinstanz für die Bedeutungskonstitution eines Texts infrage gestellt. Mit dem »Tod des Autors« werden gleichzeitig der Leser und der literarische Text als Sinnproduzenten aufgewertet.2 Der literarische Text besitzt demnach keine inhärente, vom Autor intendierte Sinndimension, die es zu entschlüsseln gilt, stattdessen konstituiert sich seine Bedeutung erst aktuell und niemals endgültig im Zuge der jeweiligen Rezeption. Wird auf diese Weise auch in der Ausstellung die Rolle des Objekts und des Rezipienten in ihrer Bedeutung generierenden, aktualisierenden Funktion gestärkt, verliert die Vermittlung selbst ihren autoritativen Charakter. Sie gewinnt an Lebendigkeit, indem sie den Rezipienten dazu auffordert, die Sinnstiftung aus seiner Erfahrungswelt heraus vorzunehmen. Als Sinnproduzent nimmt er auf diese Weise die Position des Autors ein. Die Verlebendigung der Vermittlung durch die Stärkung der konstruktiven epistemischen Kraft des Rezipienten muss so jedoch zwangsläufig zu einer Schwächung der selbstreflexiven Dimension der Vermittlung führen. Diese kann den Herstellungsprozess von Bedeutung nicht schon reflektieren, da er als ihr nachträglich und in seiner subjektiven Vielfalt als nicht prognostizierbar verstanden wird. In diesem Beitrag soll der Widerspruch in der aktuellen Debatte um Vermittlung im Rahmen von Ausstellungen, Museen und Archiven im Hinblick auf die Rolle, die dem Rezipienten zugesprochen wird, auf theoretischer Ebene hinterfragt werden. Ein spezielles Augenmerk gilt dabei der Literaturvermittlung, die sich durch die eigene Medialität von Literatur immer schon mit dem tradierten Rezeptionsmodus ihres Vermittlungsgegenstands auseinandersetzen muss: dem Lesen. Der Vermittlung kann die Aufgabe zukommen, diesen herkömmlichen Prozess zu spiegeln, zu irritieren oder zu unterlaufen. So geht es im Folgenden also nicht um das Aufzeigen spezifischer Inhalte, die es nach den eingangs skizzierten widersprüchlichen Auffassungen zu vermitteln gälte, sondern um die Frage der jeweiligen theoretischen Fundierung der unterschiedlichen ge2 | Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez u. Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185-193. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt a.M. 1988, S. 7-31.

Das Für und Wider der Fiktion

wünschten Rezeptionshaltungen. Vorerst lassen sich diese Rezeptionshaltungen, die den Akt der Vermittlung begründen beziehungsweise durch ihn hervorgerufen werden sollen, mit den gegensätzlichen Schlagworten von Nähe und Distanz, Identifikation und Alterität sowie Immersion und Reflexion bezeichnen. Im Rückgriff auf Wolfgang Isers wirkungsästhetische Überlegungen werde ich einen Vorschlag unterbreiten, wie sich diese beiden konträren Pole, die als Forderungen an die Vermittlung herangetragen werden, miteinander verbinden lassen. Dies kann nicht dadurch geschehen, dass die sinnstiftende Rolle des Autors verneint und schlicht durch diejenige des Lesers ersetzt wird, wie es in der Nachfolge von Barthes und Foucault nahegelegt werden könnte. Auch geht es nicht darum, die autoritativen Setzungen, auf denen jede Vermittlung basiert, gänzlich auszustellen, um so die inhärenten Bedeutung gebenden Strukturen bewusst werden zu lassen, wie es der Ruf nach Transparenz und nach der Kritikfähigkeit des Rezipienten fordert. Stattdessen, so meine These, lässt sich die durch Iser formulierte Trennung zwischen der »Textstruktur« einerseits und der »Aktstruktur« andererseits sowie deren spezifisches Zusammenspiel als Grundlage nutzen,3 um über eine Vermittlung nachzudenken, die beiden Forderungen – sowohl nach Offenlegung autoritativer Strukturen als auch nach Anerkennung der Sinnproduktion durch den Rezipienten – gerecht wird. Ausgangspunkt ist Isers Konzept der ›Leerstelle‹, das die Gleichzeitigkeit beider Rezeptionsmodi herausfordert sowie in ihrer wechselseitigen Bestimmung reflektierbar werden lässt und somit eine theoretische Grundlage bietet, die es für die Praxis zu erproben gilt.

E in - und A usschluss des R ezipienten Worauf zielen die widersprüchlichen Forderungen nach einer spezifischen Rezeptionshaltung innerhalb des Vermittlungsprozesses? Worauf berufen sie sich? Und wie verhalten sie sich jeweils zu der Forderung, Ausstellungen, Museen und Archive als Erkenntnismedien zu verstehen? Im Rückgriff auf die Sprechakttheorie John Langshaw Austins und ihre Verbreitung im performative turn hat sich das Verständnis von Vermittlung – ob in Form der Ausstellung selbst, durch einen Audioguide 3 | Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1994, S. 61.

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oder eine personale Führung – als performativem Akt verfestigt, der als Handlung immer schon eine Interpretation und Setzung impliziert.4 Entsprechend hält die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal für Ausstellungen fest, was sich auf alle Formen der Vermittlung übertragen lässt: Eine »Exposition – im umfassenderen, allgemeinen Sinne von ›einen Gedanken exponieren‹ wie auch im spezifischen Sinn von ›ausstellen‹ – zeigt auf Objekte und macht im Vollzug dieser Gebärde eine Aussage«.5 Nach Andreas Käuser geht Vermittlung in und durch Ausstellungen zudem »eine enge Beziehung zum Herstellen und Darstellen als kreativer, poetischer Tätigkeit ein«.6 Aus Sicht der empirischen Kulturwissenschaft ist deshalb die Bedeutung der Dinge, die in Museen und Archiven vermittelt werden – zu denken ist hier etwa an eine historische Buchausgabe oder Gegenstände aus einem Dichternachlass –, keine fixe, der Vermittlung vorgängige Größe, sondern sie wird durch die »jeweiligen Kontextualisierungen« sowie das dreidimensionale Arrangement der Objekte innerhalb des Vermittlungsakts überhaupt erst geschaffen.7 Museen und Archive sind somit als Erkenntnisorte zu verstehen, die »den Status der Dinge veränder[n]«, indem beispielsweise »Archivalien« zu »Quellen und Anschauungsobjekte[n]« werden.8 Damit wird vor allem die mediale Qualität des Vermittlungsobjekts betont, wie sie von Krzysztof Pomian 4 | John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Stuttgart 1979. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004, besonders S. 31-42. 5 | Mieke Bal: Sagen, Zeigen, Prahlen. In: Dies.: Kulturanalyse. Hg. v. Thomas Fechner-Smarsly u. Sonja Neef. Frankfurt a.M. 2002, S. 72-116, hier S. 77. 6 | Andreas Käuser: Sammeln, Zeigen, Darstellen. Zur Modernität und Medialität von Ausstellungen. In: Sabiene Autsch, Michael Grisko u. Peter Seibert (Hg.): Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten. Zur aktuellen Situation von Künstler- und Literaturhäusern. Bielefeld 2005, S. 13-26, hier S. 21. 7 | Anke te Heesen u. Petra Lutz: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort. Köln, Weimar, Wien 2005, S. 11-24, hier S. 17. 8 | Thomas Thiemeyer: Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung. In: Museen für Geschichte (Hg.): Online-Publikation der Beiträge des Symposiums »Geschichts-Bilder im Museum« im Deutschen Historischen Museum Berlin, Februar 2011, S. 4, URL: www.museenfuergeschichte.de/down loads/news/Thomas_Thiemeyer-Die_Sprache_der_Dinge.pdf, letzter Zugriff am 01.11.2014. Hervorhebungen im Original.

Das Für und Wider der Fiktion

mit dem Begriff der »Semiophoren« hervorgehoben wurde.9 Objekte vermitteln demnach zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Die Weise, in der sie das tun, ist dabei aber nicht festgeschrieben,10 sondern wird eben durch die jeweilige Präsentation und damit Vermittlung bestimmt. Das Objekt ist seiner ursprünglichen Herkunft entnommen und wird in neue Kontexte gesetzt. Solche Kontexte werden in expositorischen Vermittlungssituationen etwa durch Objektarrangements oder eine Zitatauswahl geschaffen. Durch die Veränderung des Umfelds, in dem das Objekt präsentiert wird, wandelt sich auch die Bedeutung oder Botschaft, die dem Objekt vermeintlich ›entspringt‹. Sie ist eben nicht substanziell gegeben, sondern wird konstruiert, sie ist keine inhärente Qualität, sondern wird von außen an das Objekt herangetragen. Deshalb muss Vermittlung immer in ihrer Bedeutung stiftenden Funktion begriffen werden. Eine ›unschuldige‹, ›neutrale‹ oder gar ›objektive‹ Form des Ausstellens und Vermittelns, die die Bedeutung nicht durch den Akt selbst herstellt, ist unmöglich. Allein die Auswahl des (Nicht-)Gezeigten ist der Vollzug einer Setzung. So hat Brian O’Doherty bereits 1976 für das Ausstellen von bildender Kunst die Auffassung kritisiert, nach der sich die weiße Wand des Galerieraums, des White Cube, gegenüber den ausgestellten Werken und deren Bedeutungsdimension neutral verhalte.11 Ganz im Gegenteil beschreibt er den Galerieraum grundsätzlich als Ort der Transformation, die jeden Gegenstand seines ursprünglichen funktionalen Zusammenhangs enthebt und ihm einen neuen ökonomischen und kulturellen Wert beimisst, kurz: ihm eine Bedeutung zuschreibt.12 Mit dem Begriff der ›Inszenierung‹ werden ebenjene zugrunde liegende, auf eine bestimmte Bedeutung der Objekte zielende Autorschaft sowie der intendierte Fiktionsmodus des Vermittlungsformats Ausstellung hervorgehoben. Eine Inszenierung im musealen Raum kennzeichnet für Gottfried Korff eine »ästhetisch bewußte Rahmung […], Rahmung als Organisation der An9 | Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 4 2013, S. 50. 10 | Vgl. dazu auch Gottfried Korff: Fremde (der, die, das) und das Museum. In: Ders.: Museumsdinge. Deponieren – Exponieren (Anm. 1), S. 146-154, hier S. 150. 11  |  Vgl. Brian O’Doherty: In der weißen Zelle. Hg. v. Wolfgang Kemp. Berlin 1996, S. 88. 12 | Vgl. Markus Brüderlin: Die Transformation des White Cube. In: Brian O’Doherty: In der weißen Zelle (Anm. 11), S. 138-166, hier S. 146.

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schauung, mit dem Ziel, die Lesart der Objekte zu befördern«.13 Mit der Betonung der »Lesart« klingt bereits an, dass die Vermittlungsformate selbst als Texte verstanden werden können. Dabei teilen sie mit der Fiktionalität ein zentrales Merkmal der Literatur,14 eine Gemeinsamkeit, die auch Korff hervorhebt: »Das Korrelat zum Gebrauch fiktionaler Elemente in der narrativ-literarischen Darstellung der Vergangenheit bietet in Ausstellungen und Museen die Inszenierung, das Objektarrangement.«15 13  |  Gottfried Korff: Speicher und/oder Generator (Anm. 1), S. 173. Hervorhebung im Original. Korff prägt an anderer Stelle die Formel »Was angestrebt wird, ist die Interpretation qua Inszenierung«. Gottfried Korff: Zur Eigenart der Museumsdinge. In: Ders.: Museumsdinge. Deponieren – Exponieren (Anm. 1), S. 140-145, hier S. 144. Vgl. für eine frühe, stärker szenografisch argumentierende Position der Inszenierung mit Blick auf Ausstellungen Ulrich Paatsch: Konzept Inszenierung. Inszenierte Ausstellungen – ein neuer Zugang für Bildung im Museum? Ein Leitfaden. Heidelberg 1990, besonders S. 8. Zur Intention, die jeder Inszenierung zugrunde liegt, sowie zu deren Ausrichtung auf ein Publikum vgl. Martin Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs. In: Josef Früchtl u. Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt a.M. 5 2013, S. 4862, besonders S. 49-50. 14 | Zur Fiktionalität der Literatur vgl. Jonathan Culler: Was ist Literatur und ist sie wichtig? In: Ders.: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart 2002, S. 31-63, hier S. 47-50. 15 | Gottfried Korff: Zur Eigenart der Museumsdinge (Anm. 13), S. 143. Vgl. für den Vorschlag, den Roman »für die Vermittlung von Vergangenheit im Museum zu nutzen« und dementsprechend erzähltheoretische Analysemethoden auch für die Museumsanalyse anzuwenden Heike Buschmann: Geschichten im Raum. Erzähltheorie als Museumsanalyse. In: Joachim Baur (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Bielefeld 2010, S. 149-169, hier S. 149. Vgl. auch Julia Nitz: The Reconstruction of the Past in Museums. A View from Narratology. In: Sabine Coelsch-Foisner u. Douglas Brown (Hg.): The Museal Turn. Heidelberg 2012, S. 173-187. Nach Korff ist es aber die besondere Leistung einer Exposition, nicht narrativ, sondern anschaulich zu wirken: »Und diese, in der fragmentarischen Überlieferung gründende, Fiktion wird im Museum nicht qua Narrativität […] hergestellt, sondern qua Anschauung, durch Objektarrangements, die sich zu Bildern, zu begehbaren Bildern, fügen«. Gottfried Korff: Speicher und/oder Generator (Anm. 1), S. 171.

Das Für und Wider der Fiktion

Aus der Perspektive der Semiotik lassen sich Vermittlungsformate wie etwa Ausstellungen als Zeichen verstehen, die vom Rezipienten – ähnlich wie bei einer Lektüre – erschlossen werden müssen.16 In den unterschiedlichen Arten der Vermittlung kommen je eigene medial unterschiedlich hervorgebrachte Narrative zum Einsatz, die eine Interpretation katalysieren.17 Entsprechend ist jede Form der Literaturvermittlung autonom, da sie, wie Christian Metz herausgestellt hat, aufgrund ihrer eigenen Semiotik Aspekte von Literatur und deren Kontexte nicht ›eins zu eins‹ abbilden kann. Literaturvermittlung gehe folglich nicht in ihrer Referenzialität auf, sondern behaupte als Verfahren eine eigene Bedeutung stiftende Funktion.18 Mit der Autonomie der Zeichen, die den Vermittlungsakt maßgeblich bestimmt, gewinnt die Funktion des ›lesenden‹ Rezipienten eine enorme Aufwertung, da die Kommunikation und mithin die durch sie zu transportierende Botschaft nicht mehr ausschließlich durch einen ›auktorialen Vermittler‹, wie etwa den Kurator, abgesichert wird, sondern sich die Bedeutungskonstitution in der Interaktion von Vermittler, Rezipient und der Vermittlung als Medium sowie den Medien der Vermittlung ereignet.19 Durch den »interpretierend-aktualisierende[n]« Zugriff jeder Vermittlung auf ihre zu vermittelnden Gegenstände wird die Aktivität des Rezipienten innerhalb des Akts der Bedeutungskonstitution herausgefordert, denn erst in einer ›Begegnung‹ mit dem Rezipienten, in der Interaktion, »wird der Zeuge aussagefähig«.20 Die solcherart betonte 16 | Christian Metz spricht deshalb vom Besuch einer Ausstellung als »Lektüre eines dreidimensionalen Raumtextes«. Christian Metz: Lustvolle Lektüre. Zur Semiologie und Narratologie der Literaturausstellung. In: Anne Bohnenkamp u. Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume. Zeichen-Wechsel. Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen. Göttingen 2011, S. 87-99, hier S. 88f. 17 | Vgl. ebenda, S. 96f. 18 | Vgl. ebenda, S. 88. 19 | Vgl. Thomas Thiemeyer: Zwischen Aura und Szenografie. Das (Literatur-)Museum im Wandel. In: Burckhard Dücker u. Thomas Schmidt (Hg.): Lernort Literaturmuseum. Beiträge zur kulturellen Bildung. Göttingen 2011, S. 60-71, hier S. 61. Thiemeyer spricht dabei dezidiert vom »auktoriale[n] Kurator«, der verabschiedet wird (ebenda). 20 | Gottfried Korff: Speicher und/oder Generator (Anm. 1), S. 170. Für Korff gehört das Exponieren zum »Modus der Aktualität«, der ein Verhältnis zur Vergangenheit stiftet und damit ein wichtiger Bestandteil der Museumsarbeit ist.

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Bedeutung produzierende Rolle des Rezipienten wird den Ansprüchen einer rezeptionsästhetisch fundierten Vermittlungspraktik gerecht, die etwa durch Anschlussstellen an die Lebenssituation des Rezipienten eine Verlebendigung des musealen und archivalen Raums anstrebt: Dieser wird so zum Erkenntnisort, an dem Wissen – entsprechend der eingangs genannten Forderung an das Museum als Erkenntnismedium – vom Rezipienten produziert wird.21 Innerhalb dieses Akts der Wissensproduktion ist er jedoch räumlich Teil des Arrangements, aus dem er Erkenntnis ziehen kann: »Der Besucher wird Teil eines Erlebnisses und bleibt nicht auf Distanz zu den Dingen.«22 Diese körperlich-sinnliche Einbettung, ja Vereinnahmung, die mit dem Prinzip der Immersion zu vergleichen ist, weckt Unbehagen bei denjenigen, die kritische Distanz als Notwendigkeit für jede Wissensproduktion betrachten. Die Fiktionalität der Vermittlung und die Aufnahme des Bedeutung stiftenden Betrachters in ebenjenes ›Textgewebe‹ verhindern eine distanzierte, reflektierte Haltung des Betrachters, den »emanzipierte[n] Zuschauer«,23 im Sinne der Forderung nach einem Museum »als Ort des kritischen Diskurses«.24 Das Anliegen, dem Rezipienten eine kritische Distanz zum Akt der Vermittlung zu ermöglichen, richtet sich gegen die Forderung, dass der Rezipient gänzlich in seiner Bedeutung stiftenden Funktion aufgehen und dabei möglichst wenig durch Distanzierungsmittel, die wie die aus der Erzähltheorie bekannten Fiktionssignale wirken, irritiert oder desillusioniert werden soll. Die impliziten Deutungen und Positionierungen dürften demnach nicht markiert werden, da sie ansonsten als erkennbar autoritative Deutungsvorgaben der autonomen Sinnproduktion des Rezipienten entgegenwirkten. Für eine repräsentationskritische Vermittlung, die dem Rezipienten Transparenz auf die Setzungen gewähren möchte, ist es laut Mieke Bal aber wichtig zu wissen, »[w]er spricht?«.25 Sie beklagt, dass Museen im Rahmen ihrer Vermittlungsleistung nicht »ihre 21 | Gottfried Korff verweist ebenfalls auf die sinnproduzierende Rolle des Rezipienten in Museen. Ebenda, S. 173. 22 | Thomas Thiemeyer: Zwischen Aura und Szenografie (Anm. 19), S. 65. 23 | Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 2009. 24 | Christian Metz bezieht sich hier auf Boris Groys. Christian Metz: Lustvolle Lektüre (Anm. 16), S. 99, Anm. 46. 25 | Mieke Bal: Sagen, Zeigen, Prahlen (Anm. 5), S. 77.

Das Für und Wider der Fiktion

eigene Stimme offenbaren«: »Am Ende der evolutionären Leiter ist ein durchgängig sprechendes ›Ich‹ selbst abwesend im Inhalt der Schaustellungen, abwesend in den ›Zeigungen‹, welche die Schaukästen des Museums sind. Das Zeigen wird, wenn es auf das Erzählen der eigenen Geschichte verzichtet, zur zur Schau stellenden Prahlerei.«26 Bal verweist damit auf die Sprechakte, die jeder Vermittlungsleistung unterliegen. Als Sprechakt fungieren die unterschiedlichen Gesten der Vermittlung zugleich direktiv, indem sie »Sieh hin!« bedeuten, und assertiv im Sinne des »So ist es«.27 Uwe Wirth spricht in diesem Zusammenhang im Rückgriff auf Charles Sanders Peirce von »degenerierte[r] Indexikalität«, da sich hier etwas nicht im Sinne einer »genuine[n] Indexikalität« zeigt, sondern dem Zeigen eine Intention zugrunde liegt.28 Die Zeigemedien und Rahmungen, die den Rezipienten in eine bestimmte (verstehende) Position bringen und auf diese Weise seine Perspektive auf das zu Vermittelnde beeinflussen, bleiben als Bedeutung konstituierende Mittel verborgen, werden unsichtbar in der Botschaft, die sie so kraftvoll vermitteln. Kritisiert wird – wie von Bal vorgetragen – die jeder Vermittlung zugrunde liegende ›Rhetorik‹, welche die Herstellung von Bedeutung verbirgt, wodurch diese dann naturalisiert, das heißt als gegeben akzeptiert wird. Der ephemere Charakter der Vermittlung lässt dabei das deiktische Zeigen als Bedeutung gebende Qualität vergessen.29 Vermittlung als deiktische Praxis ist nämlich stets verhüllt doppeldeutig: Sie zeigt etwas als ›So ist es!‹, indem gezielt Strategien und Methoden zum Einsatz kommen, die jedoch nicht offengelegt werden; ins Licht der Aufmerksamkeit rückt allein der

26 | Ebenda, S. 116. 27 | Uwe Wirth: Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt? In: Anne Bohnenkamp u. Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume (Anm. 16), S. 53-64, hier S. 54. 28 | Uwe Wirth: Spuren am Rande zwischen genuiner und degenerierter Indexikalität. In: Heike Gfrereis u. Marcel Lepper (Hg.): Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger. Göttingen 2007, S. 181-195, hier S. 184. Vgl. zum Zusammenspiel von Zeigen und Sichzeigen auch Günter Figal: Zeigen und Sichzeigen. In: Ebenda, S. 196-207. 29  |  Vgl. Hubert Locher: Worte und Bilder. Visuelle und verbale Deixis im Museum und seinen Vorläufern. In: Heike Gfrereis u. Marcel Lepper (Hg.): Deixis (Anm. 28), S. 12.

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Inhalt oder die Botschaft. Die Vermittlung des Themas verdeckt damit die »semiotische Struktur« der Vermittlung selbst.30 Um es dem Rezipienten zu ermöglichen, eine kritische Haltung in der Auseinandersetzung zu entwickeln, und den musealen Raum zum Erkenntnismedium werden zu lassen, muss aber – so lautet die konträre Forderung – eine reflexive Dimension in die Vermittlung integriert werden: Die ›Herstellung‹ der Vermittlung, die eingesetzten Mittel des Zeigens und Sagens müssen sichtbar werden.31 Eine solcherart ausgestellte Metaisierung macht die ideologischen, historischen, aber auch literatur- und erkenntnisästhetischen Prämissen transparent, von denen die Vermittlung ausgeht und die damit auch den Rezipienten zu den Gegenständen und Inhalten in spezifischer Weise positionieren.32 Die Benennung der Zeigemittel bringt diesen in eine zum Inhalt distanzierte Position, aus der heraus er sich reflexiv zum Gezeigten und zur Bedeutungszuweisung positionieren kann – er wird kritikfähig. Hier liegt aber just der Widerspruch zu der Forderung nach einer Aktivierung der Sinnproduktion beim Rezipienten, da in den nun markierten Zeigemitteln, in der Hervorkehrung und Bewusstmachung der Inszenierung, der Bedeutung gebende Autor der Vermittlung wiederum betont wird. Die Kenntnis der autoritativen Setzungen und Zeigungen einer Vermittlung führt zwar einerseits zur kritischen Distanzierung, unterbindet aber andererseits das ›Eintauchen‹ des sinnproduzierenden Rezipienten in die Vermittlungssituation. Die Markierung der Fiktion ist gleichzusetzen mit dem reflexiven Bewusstsein des Rezipienten vom Prozess der Bedeutungskonstitution des zu vermittelnden Gegenstands und des Akts der Vermittlung selbst. Jedoch ist eine Vermittlung ohne Zeigegesten 30  |  Christian Metz: Lustvolle Lektüre (Anm. 16), S. 89. Vgl. dazu auch Oliver Ruf: Literaturvermittlung, Literaturausstellung, »ästhetische Erziehung«. In: Katerina Kroucheva u. Barbara Schaff (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld 2013, S. 95-141, hier S. 105-107. 31  |  Für eine pointierte Darstellung dieser Position vgl. Uwe Wirth: Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt? (Anm. 27), S. 53f. 32 | In der Metaausstellung Wie stellt man Literatur aus? Sieben Positionen zu Goethes Wilhelm Meister, die 2010 im Frankfurter Goethe-Haus stattfand, wurden unterschiedliche Zugänge zu einem literarischen Text nebeneinandergestellt. Die Dokumentation der Ausstellung findet sich in: Anne Bohnenkamp u. Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume (Anm. 16), S. 285-338.

Das Für und Wider der Fiktion

genauso unmöglich wie eine Vermittlung, die ihre Bedeutung konstituierenden Prozesse in Gänze markiert. Denn die Setzungen, die über die performativen Akte der Vermittlung vorgenommen werden, geschehen nicht allein intentional, sodass sie sich in ihrer jeweiligen Rahmung markieren lassen, sondern sie »widerfahren« dem Rezipienten auch als Ereignisse.33 In der Debatte um die Rolle des Rezipienten in den Erkenntnismedien Ausstellung, Museum und Archiv herrschen folglich zwei konträre Auffassungen darüber, auf welche Haltung beziehungsweise Position des Rezipienten gegenüber dem zu produzierenden Wissen die Vermittlung abzielen soll. Auf der einen Seite wird der Rezipient – gleich einem Autor – als Sinnproduzent verstanden, der aus der ihn umgebenden Situation heraus Bedeutungszuschreibungen vornimmt. Er wird also durch den immersiven Einschluss in den Kontext zur Sinnproduktion befähigt. Insofern sollen die Gesten der Vermittlung zurückgenommen werden, um als erkennbare Fiktionssignale und autoritative Gesten – kurz: als Mittel der Distanzierung – den Prozess der Aktualisierung und Sinnstiftung nicht zu beeinflussen oder zu stören.34 Diese Auffassung steht im Widerspruch zu dem Bemühen auf der anderen Seite, eine kritikfähige Haltung des Rezipienten zu ermöglichen, der über das ostentative Ausstellen der Vermittlungsgesten in reflexiven Abstand zum Thema und zum Vermittlungsakt selbst gebracht werden soll. Er wird als Beobachter zweiter Ordnung von der Bedeutungskonstitution selbst ausgeschlossen. Durch die selbstreflexive Betonung der Bedeutungszuschreibung wird die »konstruktive[-] Tätigkeit des Rezipienten« zurückgedrängt,35 zugunsten eines Bewusstseins von den Operationen, die jeder Bedeutungszuweisung unterliegen.

33  |  Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002, S. 9. 34  |  Heike Gfrereis betont zu Recht, dass »[j]ede Ausstellungsdidaktik, jede Ausstellungstechnik […] den ausgestellten Gegenstand zum Verschwinden« bringt. Heike Gfrereis: Nichts als schmutzige Finger. Soll man Literatur ausstellen? In: Heike Gfrereis u. Marcel Lepper (Hg.): Deixis (Anm. 28), S. 86f. 35  |  Peter Seibert: Literaturausstellungen und ihre Geschichte. In: Anne Bohnenkamp u. Sonja Vandenrath (Hg.): Wort-Räume (Anm. 16), S. 32.

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W olfgang I sers K onzep t der ›L eerstelle ‹ als G ar ant einer dynamischen R ezep tion Vor dem Hintergrund dieser scheinbar unvereinbaren Forderungen nach einer spezifischen Haltung und Positionierung des Rezipienten innerhalb beziehungsweise außerhalb des Vermittlungsakts soll im Folgenden mit Wolfgang Isers Konzept der ›Leerstelle‹ ein Modell skizziert werden, das den Rezipienten als sinnproduzierende Kraft herausfordert, zugleich aber die Anschlussstelle für diese individuelle Sinnproduktion markiert und damit reflektierbar macht. Bereits Gottfried Korff hat auf die von Iser gestärkte sinnstiftende Funktion des Rezipienten aufmerksam gemacht, deren Potenzial auch für das Museum genutzt werden könne: »[D]er Betrachter ist Produzent, in der Rezeption der Dingarrangements wird er Sinnproduzent – analog zu Wolfgang Isers ›Appellstruktur der Texte‹«.36 Es wird darüber hinaus aber zu zeigen sein, dass mit Isers ›Leerstelle‹ ein geeignetes Konzept für eine theoretische Synthese vorliegt, die gleichzeitig sowohl die Konstitutionskraft des Rezipienten in Bezug auf den aktuell gestifteten Sinn als auch seine Kritikfähigkeit herausfordert und diese beiden Ansprüche in ihrer Spannung wahrnehmbar werden lässt. Diese Dynamik offenbart sich im Vermittlungsprozess durch ein ›Changieren‹ der Rezeptionshaltung zwischen der Immersion in den Akt der Vermittlung und damit in den sinnstiftenden Akt und einer Beobachterperspektive mit Blick auf die Bedingungen dieser Setzungen. Isers Wirkungsästhetik schließt insofern an die Überlegungen einer sinnstiftenden Funktion des Betrachters an, da er davon ausgeht, dass »Bedeutungen literarischer Texte […] überhaupt erst im Lesevorgang generiert« werden.37 Ähnlich, wie nach performativem Verständnis nicht nur der Kurator die Bedeutung setzt, sondern diese von den Objekten und Rezipienten gleichermaßen mitbestimmt, ja produziert wird, versteht auch Iser jegliche Bedeutung als »Produkt einer Interaktion von Text und Leser«.38 Bedeutung ist folglich keine Qualität des 36 | Gottfried Korff: Speicher und/oder Generator (Anm. 1), S. 173. Vgl. für eine Übertragung der Iser’schen Wirkungsästhetik auf das Vermittlungsformat Ausstellung auch Heike Buschmann: Geschichten im Raum (Anm. 15), S. 159-165. 37 | Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975, S. 228-252, hier S. 229. 38 | Ebenda, S. 7.

Das Für und Wider der Fiktion

literarischen Texts, sondern ereignet sich erst im Zusammentreffen mit dem Rezipienten. Für das Nachdenken über Vermittlungspraktiken und die Positionierung des Rezipienten innerhalb oder eben außerhalb der Vermittlung ist vor allem Isers Unterscheidung zwischen »Textstruktur« und »Aktstruktur« von Interesse.39 Sie ermöglicht es, sowohl die »Wirkungsbedingungen« der Literatur – und in unserem Zusammenhang: ihrer Vermittlung – als auch die Bedeutungsstiftung durch den Rezipienten in ihrem jeweiligen wirkmächtigen Potenzial sowie in ihrem Wechselspiel zu betrachten und zu begreifen.40 Dabei ist es gerade die Haltung des Rezipienten, die durch die Gleichzeitigkeit beider Strukturen definiert wird: »Die Leserrolle bestimmt sich als eine Textstruktur und als eine Aktstruktur.« 41 Iser betont, dass jedem Text eine »von seinem Autor entworfene perspektivische Hinsicht auf Welt« zugrunde liegt.42 Mit »Wirkungsbedingungen« sind folglich jene autoritativen Gesten gemeint, die auch die Vermittlung stets bestimmen. Der literarische Text ist also nicht als Abbild einer gegebenen Welt zu verstehen, sondern konstituiert sie überhaupt erst in Form einer Setzung.43 Die »Textstruktur« entspricht somit der performativen Dimension jeder Vermittlung, die als Akt Interpretationen hervorbringt. Wenn Iser davon ausgeht, dass die »Textstruktur« den Rezipienten intentional dazu bringt, einen »Blickpunkt einzunehmen«,44 dann ist dies mit der durch Vermittlungsformate stets vorgegebenen »Einstellung« gegenüber den zu vermittelnden Gegenständen beziehungsweise Inhalten zu vergleichen.45 Nach Iser wird jener vorgegebene Blickpunkt oder jene vorgegebene Perspektive als Sinndimension jedoch nur realisiert, indem sie der Betrachter mit seinen individuellen Erfahrungen ausfüllt:46 Somit offenbart jeder Text eine Spannbreite von »Aktualisierungsmöglichkeiten« und Rollenange39 | Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens (Anm. 3), S. 61. 40 | Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte (Anm. 37), S. 230. 41 | Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens (Anm. 3), S. 61. 42 | Ebenda, S. 61. 43 | Vgl. ebenda. 44 | Ebenda, S. 62. 45 | Andreas Käuser: Sammeln, Zeigen, Darstellen (Anm. 6), S. 20. 46 | »Der Sinn literarischer Texte ist nur vorstellbar, da er nicht explizit gegeben ist und folglich nur im Vorstellungsbewußtsein des Empfängers vergegenwärtigt werden kann.« Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens (Anm. 3), S. 63.

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boten.47 Die »Textkohärenz« wird folglich erst durch die Interaktion von »Textstruktur« und »Aktstruktur« innerhalb der Leserrolle hergestellt,48 wobei beide laut Iser nicht ineinander aufgehen.49 Wird auf diese Weise – übertragen auf die Vermittlung – der rezeptionsästhetischen Forderung nach der sinnstiftenden Rolle des Rezipienten innerhalb des Erkenntnismediums Ausstellung zwar einerseits entsprochen, indem er selbst die Sinnkohärenz produziert, so ist andererseits durch die »Textstruktur« eine Perspektive, ein Blickpunkt immer schon vorgegeben. An dieser Stelle setzt für die Vermittlungsformate, wie oben erläutert, die Kritik derjenigen ein, die diese subtile, intentionale Interpretation markieren möchten. So soll eine kritische Distanz des Rezipienten ermöglicht werden, die sich in einem Bewusstsein von der jeweiligen Herstellung von Bedeutung manifestiert. Isers Konzept der ›Leerstelle‹ vermag diese Divergenz aufzulösen, da es beide Modi der Rezeption – die immersive wie die beobachtend-kritische – in eine interagierende Dynamik versetzt. Mit Blick auf den literarischen Text stellt Iser die ›Leerstelle‹ als eine Funktion vor, die als »Umschaltelement zwischen Text zum Leser« zu verstehen ist. Als Grundfunktion der »Textstruktur« fordert sie »die Vorstellungen des Lesers zum Mitvollzug der im Text angelegten Intention« heraus:50 Sie wirkt als ›Appell‹ an den Leser, der Sinnstiftung nachzukommen. Die ›Leerstelle‹ ergibt sich nach Iser aus der markierten »Bestimmtheit« der unterschiedlichen »Ansichten«,51 indem »dort, wo Textsegmente unvermittelt aneinander stoßen, [...] die erwartbare Geordnetheit des Textes« irritiert beziehungsweise unterbrochen wird.52 Die ›Leerstelle‹ dient als markierter Anschluss im Sinne einer Adaptierbarkeit für den Rezipienten. Laut Iser handelt es sich bei der ›Leerstelle‹ aber weniger um die Markierung einer »Komplettierungsnotwendigkeit« als vielmehr um die einer »Kombinationsnotwendigkeit«, die durch den

47 | Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte (Anm. 37), S. 230. 48 | Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens (Anm. 3), S. 287. 49 | Vgl. ebenda, S. 65: »Daraus folgt, daß die Leserrolle des Textes historisch und individuell unterschiedlich realisiert wird, je nach lebensweltlichen Dispositionen sowie dem Vorverständnis, das der einzelne Leser in die Lektüre einbringt.« 50 | Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte (Anm. 37), S. 248. 51 | Ebenda, S. 235. 52 | Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens (Anm. 3), S. 302.

Das Für und Wider der Fiktion

Rezipienten geleistet werden muss.53 Sie ist immer dort auszumachen, wo unterschiedliche Einstellungen und Perspektivierungen, die von der »Textstruktur« vorgegeben werden, unvereinbar aufeinandertreffen. Diese Differenzen müssen mit dem Ziel einer »Textkohärenz« durch den Rezipienten miteinander versöhnt werden. Die ›Leerstelle‹ stellt dabei ihre eigene Struktur selbst aus, indem sie den Bruch markiert. Sie lässt die Differenz kenntlich werden und fungiert dadurch einerseits als ›Appell‹ an die aktive Sinnkonstitution des Betrachters, andererseits an dessen beobachtende Wahrnehmung gegenüber der vorgegebenen »Textstruktur«. Damit verbindet die ›Leerstelle‹ widersprüchliche Rezeptionsmodi, indem der Rezipient zur Bedeutungsproduktion aufgefordert wird, folglich innerhalb der Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Ansichten eine aktive Rolle einnimmt, gleichzeitig aber auch in Distanz zu diesen Aktivierungs- und Perspektivierungsstrategien gebracht wird, sodass sie für ihn beobachtbar werden. Auch Iser betont diese reflexive Qualität der ›Leerstelle‹: »So sind wir zwar während der Lektüre durch unsere Vorstellungen im Text befangen, zugleich aber bringt die Kollision unserer Vorstellungen eine latente Bewußtheit hervor, die unsere Vorstellungen begleitet, wodurch wir potentiell in ein Verhältnis zu ihnen gesetzt sind. Wir können das, was wir erzeugen, dann im Prinzip auch beobachten.«54 Es ist diese Möglichkeit der Verhältnissetzung, die eine Kritikfähigkeit des Rezipienten ermöglicht, indem er die sinnproduzierende Tätigkeit und deren Voraussetzungen beobachtend reflektieren kann. Dabei hält eine solcherart verstandene ›Leerstelle‹ die Spannung zwischen den markierten Stellen der »Wirkungsbedingungen« einerseits und der Bedeutungsproduktion des Rezipienten andererseits in einer dynamischen Schwebe. Der Sinn wird im Interaktionsprozess zwischen Text und Rezipient gestiftet und in jedem einzelnen Akt neu verhandelt. Dieser Prozess wird durch das Konzept der ›Leerstelle‹ als ›doppelter Akt‹ ersichtlich, indem die Immersion des Rezipienten in die Bedeutung stiftende Vermittlung und seine Beobachterposition gegenüber dieser Vermittlung und der sie konstituierenden Prämissen vorangetrieben werden. Vor diesem Hintergrund scheint es lohnend, das Konzept der ›Leerstelle‹ mit Blick auf seine Funktion innerhalb der »Textstruktur« in der 53 | Ebenda, S. 284. 54 | Ebenda, S. 293.

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Literaturvermittlung anzuwenden. Nach Heike Buschmann eröffnet der Einsatz von ›Leerstellen‹ dem Rezipienten in kulturhistorischen Museen die Möglichkeit, »Kausalzusammenhänge« selbstständig zu erschließen.55 Das Konzept der ›Leerstelle‹ wurde bereits von Wolfgang Kemp auf die rezeptionsästhetische Analyse von Gemälden übertragen.56 Kemp unterscheidet in Bezug auf die bildende Kunst zwei ›Leerstellen‹: Demnach gibt es neben der ›inneren Leerstelle‹, die den »bildinternen Kommunikationszusammenhang« betrifft, auch eine ›äußere Leerstelle‹, die als »Intervall zwischen zwei Bildern« mit je eigenen inhärent vorgegebenen Perspektiven im Sinne einer »Auslassung« wirkt.57 Übertragen auf die Vermittlungsformen – allen voran diejenige der Ausstellung – würde dies bedeuten, ein Nebeneinander von konkurrierenden Einstellungen und Perspektiven auf der Ebene der Vermittlungsgegenstände wie auch auf der Ebene der Zeigemedien zu konstruieren, um die »Kombinationsnotwendigkeit« für den Rezipienten offensichtlich werden zu lassen.58 Die »Textstruktur« der Vermittlung kann dabei analog oder quer zu derjenigen der zu vermittelnden Literatur stehen und damit eine weitere Differenzebene kennzeichnen. Durch solche Differenzmarkierungen wird hier weniger eine Komplettierung durch den Rezipienten, sondern vor allem dessen Kombinationskraft aus dem eigenen Erfahrungshorizont heraus gefordert,59 die seine aktive Sinnstiftungs- ebenso wie seine Beobachterrolle im Zuge der Vermittlung einschließt. Dabei ist es die spezifische Dynamik, die in der Gleichzeitigkeit der aktiven, sinnproduzierenden Teilhabe innerhalb der Vermittlung und der Beobachtung dieses Vermittlungsakts und seiner Konstituenten aus der Distanz begründet liegt, die Ausstellungen, Museen und Archive zu Erkenntnismedien in doppelter Hinsicht werden lässt: Das Verhältnis des Rezipienten zum Gegenstand wird durch 55 | Buschmann erläutert den konkreten Einsatz von ›Leerstellen‹ in kulturhistorischen Museen anhand von zwei Beispielen. Vgl. Heike Buschmann: Geschichten im Raum (Anm. 15), S. 161f. 56 | Vgl. Wolfgang Kemp: Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitigkeiten. Schwierige Aufgaben für die Bilderzählung. In: Ders. (Hg.): Der Text des Bildes. Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung. München 1989, S. 62-88, besonders S. 67. 57 | Ebenda, S. 67. 58 | Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens (Anm. 3), S. 284. 59 | Vgl. ebenda.

Das Für und Wider der Fiktion

eine »bestimmte Textstruktur vorgegeben« und zugleich durch den Akt konstituiert, in dem der Rezipient diese Bestimmungen kombiniert sowie mit seinen Vorstellungen ausfüllt und aktualisiert.60

60 | Ebenda, S. 62.

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Autorinnen und Autoren

Sebastian Böhmer ist wissenschaftlicher Koordinator des Landesforschungsschwerpunkts Sachsen-Anhalt Auf klärung – Religion – Wissen. Zuvor war er bei der Klassik Stiftung Weimar und dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach tätig. Nach seiner Dissertation zu den Reiseberichten des Fürsten Pückler-Muskau (Fingierte Authentizität, 2007) legte er medien- und materialphilologische Publikationen unter anderem zu Goethes Italienischer Reise und dessen Autografensammlung, zu Georg Forster und der ›gefährdeten Aufklärung‹, zur Typografie um 1800, Schillers Maria Stuart sowie Thomas Manns Fiorenza vor. Marion Bönnighausen ist Professorin für Germanistik/Literatur- und Mediendidaktik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Publikationen: Theater intermedial. Medien im Deutschunterricht (gemeinsam mit Gabriela Paule, 2009); Kulturtheoretische Kontexte für die Literaturdidaktik (gemeinsam mit Michael Baum, 2010); Literatur für die Schule. Ein Werklexikon zum Deutschunterricht (gemeinsam mit Jochen Vogt, 2014). Arbeitsschwerpunkte: Intermedialität, Theater- und Dramendidaktik, ästhetisches Lernen, Mediendidaktik, Leseforschung. Heike Gfrereis ist Leiterin der Abteilung Museum im Deutschen Literaturarchiv Marbach, zuständig für das Schiller-Nationalmuseum und das Literaturmuseum der Moderne sowie deren Publikationen und Literaturvermittlungsangebote. Kuratorin unter anderem der beiden Dauerausstellungen sowie zahlreicher Wechselausstellungen (etwa zu Ordnung, Kassiber, Randzeichen, Zettelkästen, Robert Gernhardt, Goethes Wilhelm Meister, Franz Kafka, Ernst Jünger, W.G. Sebald und Friedrich Schiller). Honorarprofessorin der Universität Stuttgart. Publikationen zur Literatur um 1800 und 1900 sowie zur Literatur- und Ausstellungstheorie.

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Zwischen Materialität und Ereignis

Jens Groß ist Chefdramaturg und stellvertretender Intendant am Schauspiel Köln und Gastprofessor am Deutschen Literaturinstitut Leipzig für Szenisches Schreiben. Er hat gemeinsam mit Armin Petras die Bühnenfassung zu Uwe Tellkamps Der Turm für das Staatsschauspiel Dresden geschrieben, die dort 2010 uraufgeführt wurde. Christiane Heibach ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Medienästhetik und Medienepistemologie. Sie ist derzeit als Senior Researcher am Institut Experimentelle Design- und Medienkulturen der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel tätig, wo sie mit einem interdisziplinären Team an einem Pilotprojekt zu Atmosphäre und Digitalen Medien arbeitet. Zu ihren Publikationen gehören unter anderem: Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens (Hg., 2012); Multimediale Aufführungskunst. Medienästhetische Studien zur Entstehung einer neuen Kunstform (2010); Literatur im elektronischen Raum (2003). Britta Hochkirchen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte an der Universität Bielefeld. Redakteurin der Zeitschrift für Kunstgeschichte. Zuvor war sie wissenschaftliche Volontärin am Stabsreferat Forschung und Bildung der Klassik Stiftung Weimar. Dissertation zu Jean-Baptiste Greuzes Darstellungen der verlorenen Unschuld als Bildkritik der Aufklärung (Publikation in Vorbereitung). Elke Kollar ist Kulturvermittlerin an der Klassik Stiftung Weimar. Tätigkeitsschwerpunkte: Literaturvermittlung, politisch kulturelle Bildung, internationale und interkulturelle Begegnungen und Projektentwicklung. Sie studierte Germanistik mit dem Schwerpunkt Literaturvermittlung (Nebenfach Psychologie) und arbeitete 2003 bis 2010 als freie Kuratorin, Museumspädagogin, Projektmanagerin und Autorin. Olaf Mückain ist wissenschaftlicher Leiter der Museen Worms, darunter auch des Nibelungenmuseums, und Kurator des Museums Heylshof in Worms. Zu seinen Publikationen gehören unter anderem: »Wohin wir steuern, weiss niemand.« Wilhelm Gerstel in Krieg und Gefangenschaft, in: Bildhauer sehen den Ersten Weltkrieg (gemeinsam mit Stefan Moebus, 2014); Zwei Gemäldezyklen für den französischen Hof. In: Ausstellungskatalog Peter Paul Rubens, Von der Heydt-Museum Wuppertal (2012); Wilhelm Gerstel. Das Frühwerk (2010).

Autorinnen und Autoren

Peter Seibert ist Professor für Literatur und Medien an der Universität Kassel. Projekte: ›Theater und Fernsehen‹ im Sonderforschungsbereich Bildschirmmedien an der Universität Siegen. DFG-Projekt zu ›Ausstellungsästhetik‹. Publikationen zur Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, unter anderem zum Literarischen Salon, zur Mediengeschichte der Literatur und zu Literaturausstellungen. Hubert Spiegel ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Kulturreporter, Literatur- und Theaterkritiker sowie verantwortlicher Redakteur für die Frankfurter Anthologie. Träger des Alfred-KerrPreises für Literaturkritik und Mitglied verschiedener Literaturpreisjurys. Zu seinen Publikationen gehören unter anderem: Lieber Lord Chandos. Antworten auf einen Brief (2002); Kaf kas Sätze (2009); Marcel Reich-Ranicki und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (2013). Anja Thiele promoviert derzeit über Erinnerung und Verdrängung des Nationalsozialismus und der Shoah in der deutschen Nachkriegsliteratur. Sie hat Germanistik, Kunstgeschichte, Philosophie und Kommunikationswissenschaft an der Universität Erfurt und der Friedrich-SchillerUniversität Jena studiert. Anne Thurmann-Jajes ist Leiterin des Zentrums für Künstlerpublikationen in der Weserburg Bremen. Sprecherin des Forschungsverbunds Künstlerpublikationen; Dozentin an der Universität Bremen; Chefredakteurin des Online-Magazins Setup4. Kuratorin zahlreicher Ausstellungen sowie Autorin und Herausgeberin einer Reihe von Ausstellungskatalogen und anderen Publikationen. Darunter zuletzt: Manual für Künstlerpublikationen (mit Susanne Vögtle, 2010); Poesie – Konkret | Poetry – Concrete (Hg., 2012); begegnung der besonderen art. gerhard rühm. eine multimediale edition (Hg., 2013). Susanne Völker ist Projektleiterin und Geschäftsführerin der Grimmwelt Kassel. Zuvor war sie Leiterin der Museen der Stadt Calw und Kuratorin verschiedener Ausstellungen, darunter Idole (2009/2010) und Licht und Farbe – Hermann Hesse als Maler (2012/2013). Sie studierte Kunstgeschichte, Philosophie, Rechtswissenschaften und Museumsmanagement an den Universitäten Hamburg und Wien.

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Edition Museum Sophie Elpers, Anna Palm (Hg.) Die Musealisierung der Gegenwart Von Grenzen und Chancen des Sammelns in kulturhistorischen Museen 2014, 218 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2494-6

Katerina Kroucheva, Barbara Schaff (Hg.) Kafkas Gabel Überlegungen zum Ausstellen von Literatur 2013, 328 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2258-4

Museumsverband des Landes Brandenburg e.V. (Hg.) Entnazifizierte Zone? Zum Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus in ostdeutschen Stadt- und Regionalmuseen März 2015, 240 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2706-0

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3) ANZ2762.p 388756288558

Edition Museum Luise Reitstätter Die Ausstellung verhandeln Von Interaktionen im musealen Raum April 2015, ca. 264 Seiten, kart., farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2988-0

Ulli Seegers Ethik im Kunstmarkt Werte und Sorgfaltspflichten zwischen Diskretion und Transparenz Januar 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2625-4

Stapferhaus Lenzburg, Sibylle Lichtensteiger, Aline Minder, Detlef Vögeli (Hg.) Dramaturgie in der Ausstellung Begriffe und Konzepte für die Praxis 2014, 134 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2714-5

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3) ANZ2762.p 388756288558

Edition Museum Felix Ackermann, Anna Boroffka, Gregor H. Lersch (Hg.) Partizipative Erinnerungsräume Dialogische Wissensbildung in Museen und Ausstellungen 2013, 378 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2361-1

Monika Kaiser Neubesetzungen des Kunst-Raumes Feministische Kunstausstellungen und ihre Räume, 1972-1987 2013, 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2408-3

Karin Mihatsch Der Ausstellungskatalog 2.0 Vom Printmedium zur Online-Repräsentation von Kunstwerken Mai 2015, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2959-0

Nadine Pippel Museen kultureller Vielfalt Diskussion und Repräsentation französischer Identität seit 1980 2013, 274 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2549-3

Leo von Stieglitz, Thomas Brune (Hg.) Hin und her – Dialoge in Museen zur Alltagskultur Aktuelle Positionen zur Besucherpartizipation Januar 2015, 144 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2761-9

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3) ANZ2762.p 388756288558