Zeitgenössische amerikanische Soziologie [1. Aufl.] 978-3-8100-1672-0;978-3-322-97358-0

Nach der Ära der dominanten Großtheorien von Habermas und Luhmann befindet sich die deutsche Soziologie in einer Umbruch

329 20 34MB

German Pages 317 [309] Year 2000

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Zeitgenössische amerikanische Soziologie [1. Aufl.]
 978-3-8100-1672-0;978-3-322-97358-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages 1-7
Die amerikanische Soziologie zwischen globaler Ausstrahlung und nationaler Prägung (Hans-Peter Müller, Steffen Sigmund)....Pages 9-35
Front Matter ....Pages 37-37
Die Zukunft der Soziologie: Zentrifugalität, Konflikt, Akkomodation (Neil J. Smelser)....Pages 39-53
Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie (James S. Coleman)....Pages 55-83
Eine Fabel über die Sozialstruktur (Peter M. Blau)....Pages 85-98
Über die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie (Randall Collins)....Pages 99-134
Neofunktionalismus (Jeffrey C. Alexander)....Pages 135-144
Front Matter ....Pages 145-145
Das „stahlharte Gehäuse“ neu betrachtet: Institutioneller Isomorphismus und kollektive Rationalität in organisationalen Feldern (Paul J. DiMaggio, Walter W. Powell)....Pages 147-173
Ökonomisches Handeln und soziale Struktur: Das Problem der Einbettung (Mark Granovetter)....Pages 175-207
„Bringing the State Back In“: Analysestrategien in der derzeitigen Forschung (Theda Skocpol)....Pages 209-248
Private und öffentliche Religionen (José Casanova)....Pages 249-280
Kultursoziologie aus Sicht der Produktionsperspektive: Fortschritte und Ausblick (Richard A. Peterson)....Pages 281-312
Back Matter ....Pages 313-317

Citation preview

Hans-Peter MtillerlSteffen Sigmund (Hrsg.) Zeitgenossische amerikanische Soziologie

Hans-Peter Miiller/Steffen Sigmund (Hrsg.)

Zeitgenossische amerikanische Soziologie

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2000

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zeitgeniissische amerikanische Soziologie 1 Hans-Peter Miillerl Steffen Sigmund (Hrsg.). - Opladen : Leske + Budrich, 2000 ISBN 978-3-8100-1672-0 ISBN 978-3-322-97358-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-97358-0

© 2000 Springer Fachmedien Wiesbaden Urspriinglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 2000 Das Werk einschlie6lich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung au6erhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustirnrnung des Verlages unzulăssig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfăltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort .....................................................................................................

7

Bans-Peter Muller und Steffen Sigmund Die amerikanische Soziologie zwischen globaler Ausstrahlung und nationaler Pragung..............................................................................

9

I. Theoretische Grundorientierungen

Neil l. Smelser Die Zukunft der Soziologie: Zentrifugalitat, Konflikt, Akkomodation.....

39

lames S. Coleman Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie ......................

55

Peter M. Blau Eine Fabel iiber die Sozialstruktur .............................................. ...... ........

87

Randall Collins Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie........................

99

leffrey C. Alexander Neofunktionalismus................................................................................... 135

11. Institutionelle Analysen gesellschaftlicher Felder

Paul l. DiMaggio und Waiter W Powell Das "stahlharte Gehause" neu betrachtet: Institutioneller Isomorphismus und kollektive Rationalitat in organisationalen Feldern.............. .............. 147

Mark Granovetter Okonomisches Handeln und soziale Struktur: Das Problem der Einbettung...................................................................... 175

6

Inhalt

Theda Skocpol "Bringing the State Back In": Analysestrategien in der derzeitigen Forschung .................. ................... ............. .... ....... ....... ..... 209 Jose Casanova Private und 6ffentliche Religionen. ....................... ........... ............. ..... ....... 249 Richard A. Peterson Kultursoziologie aus Sicht der Produktionsperspektive: Fortschritte und Ausblick ............ ............... .... ............... ............... ..... ... ..... 281 Autorenverzeichnis.................................................................................... 313 Drucknachweise ............ ............. ......... ................... ......... ........ ....... ..... ... ... 317

Vorwort

Der vorliegende Band will einen Uberblick iiber die zeitgenossische amerikanische Soziologie geben. Sicher, jeder spricht mittlerweile Englisch, es ist die lingua franca und Wissenschaftssprache par excellence. MuB man da iiberhaupt noch englische Texte ins Deutsche iibertragen? Allerdings, denn erfahrungsgemaB haben Ansatze und Analysen dann eine groBere Chance, rezipiert zu werden, wenn sie im deutschen Sprachraum eingefiihrt sind. Das erhoht, wie es so schon heiBt, ihre AnschluBfahigkeit. Unsere Themenauswahl reprasentiert die Hauptlinien der amerikanischen Soziologie der letzten fiinfzehn lahre mit einer Fiille von Anregungen - theoretischer, methodischer und sachlicher Natur -, die befruchtend wirken konnen. Die Soziologie jenseits des Atlantiks, so das gangige Vorurteil, ist positivistisch, empiristisch und theoriefeindlich. Diese Einschatzung wirkt gleichsam wie ein Freibrief, sich mit den Ansatzen und Studien jenseits des Atlantiks hierzulande nicht ernsthaft auseinanderzusetzen. Die hier vereinigten Aufsatze bestechen durch ihren analytischen Charakter: Sie sind in der Regel theoretisch inspiriert, methodisch raffiniert und unterbreiten eine kompetente empirische Analyse. Zusammengenommen, so unsere Einschatzung, driicken sie die wesentlichen Trends und Tendenzen der amerikanischen Soziologie heute aus. Der Band hat eine langere Vorgeschichte. Wir danken Neil 1. Smelser flir Anregungen und Kritik zu unserer ersten Konzeption. Im wesentlichen wurde das Buch in den letzten beiden lahren fertiggestellt, als einer der beiden Herausgeber eine Gastprofessur in den USA wahrgenommen hat. Unser besonderer Dank gilt Thomas Heitmann und 10chen Steinbicker, ohne deren unermiidlichen Einsatz sich die Fertigstellung des Bandes noch weiter verzogert hiitte. Berlin und New York, August 1999

Die Herausgeber

Die amerikanische Soziologie zwischen globaler Ausstrahlung und nationaler Pdigung Hans-Peter Muller und Steffen Sigmund

w ozu

eine Anthologie iiber zeitgenossische amerikanische Soziologie am Ende des 20. Jahrhunderts? HeiBt das nicht Eulen nach Athen tragen? Unser Zeitalter wird ohnehin das "amerikanische Jahrhundert" genannt und das diirfte sich auch im nachsten Jahrtausend so schnell nicht andern. SchlieBlich leben wir in einer Ara globaler Interdependenz, und es stellt sich die Frage, ob es so etwas wie nationale Soziologien noch gibt und es folglich Sinn macht, sie in einem Band vorstellen zu wollen. Haben wir es nicht langst mit einer globalen Disziplin zu tun, einer Weltsoziologie in der Weltgesellschaft? Was wollen dann die sog. "indigenen" Soziologien, die auf Eigenart und Eigenstandigkeit pochen? Und konkreter: Wie sehen die Beziehungen zwischen amerikanischer und deutscher Soziologie aus? Was lehrt uns ihre Geschichte, und wie laBt sich die heutige Situation charakterisieren? In unserer Einfiihrung wollen wir kurz auf diese Fragen in umgekehrter Reihenfolge eingehen. Wir lassen uns von der Intuition leiten, daB die vorliegenden Aufsatze Initialtexte in der amerikanischen Diskussion waren und ihrerseits wichtige Debatten angestoBen haben, die im deutschen Kontext bisher kaum eine Rolle spielen. Sie reprasentieren ausschnitthaft zentrale Trends und Tendenzen der US-amerikanischen Soziologie seit den 80er Jahren. In der Zusammenschau ergeben sie ein "Bild" der amerikanischen Soziologie heute - aber, machen wir uns nichts vor: Die amerikanische Soziologie gibt es nicht, denn die fortgeschrittene Disziplin jenseits des Atlantiks ist enorm ausdifferenziert und hochspezialisiert, weit starker als die deutsche Soziologie. Auch sie kennt das Gefiihl der Krise ihrer disziplinaren Identitat (Erikson 1997), ganz so wie bei uns (Fritz-Vannahme 1996, Sigmund 1998). Und doch ist die amerikanische Soziologie ein Stiick weit "Vorbild" in ihrer Professionalitat, ihrer praktisch gewordenen Theorie, einer Mischung aus middle range-Orientierung, Methodenraffinesse und Feldbezug, in der analytischen Mikro-Makro-Orientierung, in ihrer kulturellen Wende, in ihrer teils historisch-komparativen Ausrichtung mit der Betonung des Politischen und des Staates und mit ihrem institutionellen Bezug. Rene Konig hatte schon recht, als er alle seine Mitarbeiter obligatorisch fiir mindestens ein Jahr in die Ver-

10

Hans-Peter Miiller und Steffen Sigmund

einigten Staaten schickte - nirgendwo kann man die Standards unserer Disziplin besser studieren (und internalisieren) als in diesem Land, das als klassisches Einwanderungsland amerikanische und glob ale, eigene und fremde Perspektiven kongenial verkniipft. Wenn es eine "Weltsoziologie" gibt, so unsere These, dann findet sie in den Vereinigten Staaten von Amerika statt. Theoretische, methodische und empirische Errungenschaften der 80er und 90er Jahre machen sie besonders anschluBfahig fiir die Soziologie in der iibrigen Welt. Die deutsche Soziologie, nach der Wiedervereinigung und nach dem Ende der hegemonialen Dominanz der GroBtheorien von Habermas und Luhmann ohnehin in einer Umbruchsituation und daher offen fiir Anregungen, kann sicherlich von manchen Entwicklungen, die der vorliegende Band vorstellen will, profitieren. Wir wollen diese Behauptung am Leitfaden des Fragekomplexes und der vier Komponenten - middle range theory und Mikro-Makro-Relationierung, der kulturellen Wende, der historisch-komparatiyen Ausrichtung und der Rolle des Staates sowie dem "new institutional ism" - illustrieren.

Globale, nationale oder "indigene" Soziologie? AIs genau vor 100 Jahren, im Wintersemester 1899, der amerikanische Journalist und Soziologe Robert Ezra Park an der Berliner Universitat die soziologischen Vorlesungen von Georg Simmel horte, markierte diese "systematische Unterweisung in die Soziologie" (Baker 1981: 264) eine entscheidende intellektuelle Weichenstellung in seiner Entwicklung zu einem der einfluBreichsten friihen amerikanischen Soziologen. Zugleich fOrderte die se fiir Park einmalige Erfahrung die Verbreitung des Simmelschen Werkes in den USA: Simmels "ungewohnlicher Rang, der einzige europaische Gelehrte zu sein, der im Verlauf des 20. Jahrhunderts auf die Soziologie in den Vereinigten Staaten einen deutIich sichtbaren EinfluB ausgeiibt hat" (Levine 1981: 32), wurde insbesondere von Robert E. Park begriindet und institutionell abgesichert. Nach der Publikation einzelner seiner Aufsatze in den ersten Jahrgangen des "American Journal of Sociology" durch Albion Small war es Park, der Simmels Soziologieverstandnis einen zentralen Platz im kollektiven Gedachtnis der sich konstituierenden amerikanischen Soziologie reservierte. Seine Lehrveranstaltungen an der Universitat Chicago, dem damals fiihrenden Soziologischen Department in den USA, vermittelten Simmels geistiges Erbe ebenso an die nachfolgenden Soziologiegenerationen weiter wie auch die auBergewohnlich umfangreiche Darstellung seiner Arbeiten im seinerzeit grundlegenden soziologischen Lehrbuch (vg!. ParkIBurgess 1921). Kaum dreiBig Jahre spater, im April 1929, verlieh die Philosophische Fakultat der Universitat Heidelberg die Doktorwiirde an Talc ott Parsons fiir seine Arbeit "Der Geist des Kapitalismus bei Werner Sombart und Max We-

Die amerikanische Soziologie

11

ber" (vgl. Schluchter 1980). Auch Parsons erhielt zentrale intellektuelle Anregungen von den friihen deutschen Soziologen, wobei insbesondere die Arbeiten von Max Weber nicht nur uniibersehbare Spuren in seinem Werk hinterlassen haben (Parsons 1937), sondern er war selbst durch die Ubersetzung zentraler Teile des Weberschen Oeuvres (Parsons 1947) in besonderem MaBe fiir dessen Verbreitung und Etablierung in der amerikanischen Soziologie verantwortlich (vgl. Parsons 1980). Diese beiden Beispiele zeigen anhand biographischer Details die enge Beziehung auf, die zu Beginn der Etablierung der Soziologie als einer eigenstandigen wissenschaftlichen Disziplin zwischen den Werken deutscher und amerikanischer Sozialwissenschaftler bestand l und sie verdeutlichen gleichzeitig den "EinfluB", den die deutsche Soziologie auf zwei der intellektuell und institutionell einfluBreichsten amerikanischen Soziologen dieses Iahrhunderts ausiibte. Doch war die se Beziehung keinesfalls unilinear. So offenbart ein Blick auf die Geschichte der emigrierten Soziologen der 30er und 40er Iahre (vgl. etwa Riemer 1981), die der Professionalisierung der Nachkriegssoziologen (vgl. Fleck 1996, BoltelNeidhardt 1998) oder etwa der wissenschaftliche Werdegang Niklas Luhmanns die groBe Bedeutung der amerikanischen Soziologie fiir die Chance des Uberlebens deutschen sozialwissenschaftlichen Denkens und Forschens, der Neubegriindung soziologischen Arbeitens an bundesrepublikanischen Universitaten oder der Entwicklung eines der ambitioniertesten zeitgenossischen soziologischen Theorieprogramme in Deutschland. Das wechselseitige, teilweise spannungsvolle Verhaltnis zwischen diesen beiden soziologischen Traditionen verweist iiber die jeweiligen biographischen Aspekte hinaus auf die in der soziologischen Geschichtsschreibung von Beginn an aufgeworfene Frage nach den nationalen Besonderheiten soziologischer Traditionen. So gaIt die Soziologie am Ende des 19. Iahrhunderts eindeutig als franzosische Wissenschaft, eine Auffassung, die etwa Durkheim vehement gegen konkurrierende sozialwissenschaftliche Ansatze vertrat (vgl. Heilbron 1995, Lepenies 1985, Miiller 1983). Karl Mannheim (1932/33) oder auch Werner Sombart (1923), wenngleich mit unterschiedlicher StoBrichtung, propagierten die Existenz einer originar "Deutschen Soziologie", eine Auffassung, die jiingst wiederentdeckt und argumentiert wurde (vgl. Kruse 1995, Lichtblau 1997). Talcott Parsons sprach in seiner Rede als Prasident der Amerikanischen Soziologischen Vereinigung (ASA) von der Soziologie als einer "American discipline" und verkniipfte damit auch noch einen quasi imperialen Wissenschaftsanspruch: "There is no doubt that we have the leadership now" (Parsons 1950).

Dies zeigt sich bspw. auch im Hinblick auf George Herbert Mead, vgJ. hierzu die Arbeiten von Joas (1980) und Wenzel (1988).

12

Hans-Peter Miiller und Steffen Sigmund

In den letzten Iahren gewann diese Frage nach der nationalen Besonderheit soziologischer Theorien und Ansatze erneut Offentliche Aufmerksamkeit und Resonanz. 2 Angesichts der tiefgreifenden Veranderungsprozesse in Mittel- und Osteuropa propagierten etwa Birgitta Nedelmann und Pjotr Sztompka in Analogie zu dem revolutionaren sozialen Wandel, der bei der Geburt der Soziologie Mitte des 19. Iahrhunderts Pate gestanden hatte, die Heraufkunft eines "goldenen Zeitalters der europaischen Soziologie" (Nedelmannl Sztompka 1993: 3). Die Soziologie kehre, so die These, nachdem sie sich lange Zeit in Amerika aufgehalten habe, zu ihren eigentiichen Wurzeln nach Europa zuriick oder, gewissermaBen in einem weiteren Schritt, zu ihren nationalen Kontexten, aus denen sie entstammt. Doch wie begriindet sich die se Bestimmung einer kontinentalen oder nationalen Identitat der Soziologie, wenn sie si ch ihrem eigenen wissenschaftIichen Anspruch nach auch als eine internationale und universelle Disziplin versteht? Einerseits ist sicherlich nicht zu leugnen, daB gerade die Soziologie - und die Wissenssoziologie als eine ihrer ausgewiesenen Subdisziplinen hat sich die Erforschung dieser Prozesse explizit auf ihre Agenda geschrieben - in besonderem MaBe durch das untrennbare BeziehungsverhaItnis zwischen den Forschern und ihren Gegenstanden gepragt ist. Die spezifischen technologischen, soziookonomischen, politischen oder auch inteIIektueIIen Kontextbedingungen pragen das kultureIIe und historische Milieu, aus dem sich dann die spezifische Wissenschaftsgestalt (Mannheim) der jeweiligen "nationalen" Soziologien entwikkelten. So betont etwa Raymond Aron (1953) in seiner Analyse der deutschen Soziologie immer wieder die Differenz zwischen der deutschen, stark philosophisch und geisteswissenschaftIich ausgerichteten Disziplin und der positivistischen und empirischen franzosischen Soziologie. Friedrich Ionas (1968) systematisiert in seiner bedeutenden Geschichte der Soziologie die Entwicklung der Soziologie entiang mehrerer landerspezifischer Ansatze, nachdem er sozialphilosophische Wurzeln freigelegt hatte. Die fundamentale erkenntnistheoretische Frage nach dem Verhaltnis zwischen nationalen Bedingungen und universeIIer soziologischer Analyse, die auch Donald Levine (1995) zum Ausgangspunkt seiner Visions of the Sociological Tradition mac ht, und die konstitutiv fUr die Ausbildung inteIIektueIIer Stile ist, wurde aber immer wieder gebrochen durch die Vielzahl aIIgemeiner FragesteIIungen, die iiber nationale Grenzen hinweg soziologische Forschung anleitete. Fiir die Durchsetzung und Binnenlegitimierung in den jeweiligen Landern kommt einer disziplinaren Selbstabgrenzung der Soziologie gegeniiber anderen Wissenschaften groBe Bedeutung zu, und sie gestaltet sich jeweils 2

Vgl. hierzu insbesondere die zuerst in "Theory: Newsletter of the Research Committee on Social Theory" (ISA) erschienene und spater von der Schweizerischen Zeitschrift fur Soziologie wieder aufgenommene Debatte urn den Stellenwert sogenannter nationaler Soziologien. Siehe Alexander (1995), Munch (1993, 1995), Levine (1996), Turner (1990, 1996).

Die amerikanische Soziologie

13

verschieden. Doch flihrt diese nationale Pragung der kognitiven, sozialen und historischen Identitat des Faches, zur Ausbildung spezifischer Traditionen und intellektueller Stile (Galtung 1983), oder schlieBt dies auch eine geographisch und nationalstaatlich begrundete Grenzziehung zwischen einzelnen Soziologietraditionen ein, eine Abgrenzung, die auf Eigenart und Eigenstandigkeit des soziologischen Denkens und Forschens abzielt? Dies verweist auf einen zweiten Aspekt der gegenwartigen Debatte um nationale Soziologien. Im Zuge der starken und umfassenden Institutionalisierung des Faches in Staaten, die nicht zu den etablierten klassischen Zentren soziologischen Forschens zu zahlen sind, ruckte die Frage nach der Rolle und Bedeutung sogenannter "indigener" Soziologien immer starker in den Mittelpunkt der Selbstthematisierung der Disziplin (Genov 1989, Mohanl Willke 1994, Albrow/King 1990). "Junge" nationale soziologische Traditionen stehen bei ihrer Konstitution und Etablierung vor der Alternative, sich an die kognitiven und institutionellen Muster der bestehenden, als universell giiltig angesehenen, quasi hegemonialen westeuropaischen oder US-amerikanischen Soziologielehren anzupassen und deren Forschungsansatze weitgehend zu iibernehmen, oder aber ihre autochthonen wissenschaftlichen Wurzeln zu entdecken und eigenstandige Theorien und Methoden mit dem Ziel einer originaren soziologischen Tradition zu entwickeln - sei es in Lateinamerika, Asien oder Afrika. 3 Hierbei solI die Betonung der Besonderheit weniger die Uberlegenheit einer nationalen Soziologie demonstrieren, als vielmehr auf eine gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher Traditionen drangen und zu einer wechselseitigen Kommunikation zwischen diesen Traditionen auffordern in der Absicht, einen Diskursraum zu schaffen, in dem

die globalen Fragestellungen auf der Basis eigenstandiger Ansatze und Forschungsperspektiven gemeinsam soziologisch bearbeitet werden konnen. Die Akzentuierung nationaler und "indigener" Soziologien einerseits und die Bedeutung eines universalistischen, weltumfassenden Wissenschaftsverstandnisses andererseits stehen aber nicht notwendigerweise auf KriegsfuB, wie unsere Gegeniiberstellung auf den ersten Blick vielleicht suggerieren mag. So unterstreichen die vielfaltigen Veroffentlichungen zu nationalen Soziologien4 zwar die jeweiligen Spezifika dieser Traditionen und heben mit Recht die Bedeutung der nationalen Kontexte flir die Institutionalisierung des Faches hervor; gleichzeitig zeigt sich jedoch immer wieder, daB im globalen Kontext eine Vielzahl von Ubereinstimmungen soziologischen Forschens5 3 4 5

Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten von Akinowo (1989, 1999), der den ambitionierten Versuch unternommen hat, eine eigenstlindige nigerianische Soziologie zu begrunden. Vgl. etwa Genov (1989), MohanIWillke (1994), Gans (1990), Meja/Misgeld/Stehr (1987), Lemert (1981). Vgl. etwa die Serie von Theoriekonferenzen, die ab Mitte der 80er Jahre den amerikanisch-deutschen Dialog zu fOrdern versuchten: Alexander et al. (1987), Miinch/Smelser (1992) und Haferkamp/Smelser (1992). Ahnlich auch BourdieulColeman (1991).

14

Hans-Peter Miiller und Steffen Sigmund

existieren. Wie sollte das auch anders sein, wenn die Soziologie als universale Disziplin einen Kern an Problemen, Theorien, Methoden und Analyseweisen ungeachtet etwaiger nationaler Grenzen reklamieren will. Sinn und Zweck der Auszeichnung "nationaler Soziologien" besteht deshalb in erster Linie in einer Synopse zentraler Trends innerhalb institutionell durchgesetzter und theoretisch ausdifferenzierter Wissenschaftstraditionen. So kann man heute sicherlich nicht mehr uneingeschrankt von einer deutschen oder amerikanischen Soziologie sprechen, sondern eher von Soziologien in Deutschland und Amerika. Ihre differentia specifica besteht gerade in der Einbettung in internationale Debatten, auch wenn dieses "embedding" mit einer je besonderen Eigenart in theoretischer Konzeptualisierung, methodischer Zugriffsweise und Analyse in den einzelnen Llindern einhergeht. Die nationalen Trends bezeichnen intellektuelle Orientierungen, Referenzpositionen oder Problemstellungen, die nicht nur die Dynamik der nationalen Diskurse beeinflussen, sondern gleichzeitig auch Optionen und Orientierungspunkte markieren, welche die soziologischen Debatten in anderen Llindern befruchten k6nnen.

Die deutsche Soziologie seit Ende der 60er Jahre Die Ver6ffentlichung von Heinz Hartmanns Modemer amerikanischer Soziologie Ende der 60er Jahre wie auch der wenige Jahre spater von Claus Miihlfeld und Michael Schmid herausgegebene Band Soziologische Theorie 6 sind gute Beispiele nicht nur fUr die allgemeine Beziehung unter nationalen Soziologien, sondern auch fUr das besondere Verhaltnis zwischen der amerikanischen und der deutschen Soziologie. Die Soziologie hatte sich in der Bundesrepublik bis Mitte der 60er Jahre weitgehend etabliert, die Zahl der Lehrstiihle wuchs kontinuierlich, die Forschungsinteressen galten in erster Linie zeitdiagnostischen Fragen der Industriearbeit oder der gesellschaftlichen Schichtung und Mobilitat. In theoretischer Hinsicht herrschten keine allgemein geteilten Grundorientierungen vor. Zum einen versuchte man die Werke der soziologischen Klassiker neu zu entdecken, wobei insbesondere die Arbeiten von Karl Marx und ab dem Heidelberger Soziologentag 1964 auch von Max Weber zunehmend Aufmerksamkeit erlangten; zum anderen erhielten viele Sozialwissenschaftler ihre soziologische Fachausbildung in den USA und wurden durch die Arbeiten von Talcott Parsons, Robert King Merton, Kingsley Davis oder George Caspar Homans gepragt. Blickt man 6

Daruber hinaus finden sich wahrend der 60er und 70er lahre weitere Sammelbande, die die internationalen Entwicklungen der Soziologie, insbesondere der amerikanischen Soziologie, dokumentierten. Vgl. etwa Tjaden (1971). Zentral fUr die meisten dieser Sammelbande war interessanterweise wiederum eine amerikanische Publikation: die Zusammenstellung der wichtigsten funktionalistischen und systemtheoretischen Aufsatze der 50er und 60er lahre durch DemerathIPeterson (1967).

Die arnerikanische Soziologie

15

aber auf die damaligen theoretischen Debatten zuriick, so zeigt sich die weitgehend selektive Wahrnehmung der arnerikanischen Soziologie, die Auseinandersetzung beschrankte sich zunachst weitgehend auf Fragen der Rollentheorie (Dahrendorf 1958) und des Funktionalismus im allgemeinen (Dahrendorf 1955, Mayntz 1970), des sozialen Wandels und der Modernisierung (Zapf 1969) im besonderen. Erst Heinz Hartmanns Sammelband ermoglichte es in systematischer Weise, die zeitgenossische amerikanische Soziologie trotz ihrer internen Ausdifferenzierung und der Vielfalt unterschiedIicher Ansatze - als eine in bezug auf zentrale soziologische Problemstellungen und Theoriekonzepte "nationale" Soziologie wahrzunehmen. Die Moglichkeit zu einer systematischen und kritischen Diskussion verstarkte noch die Bedeutung des StrukturfunktionaIismus als "starkste theoretische Orientierung" (Lepsius 1979: 51) fUr die bundesrepublikanische Soziologie. Dieser amerikanische Theorieinput in einer Situation der relativen Offenheit gegeniiber theoretischen Grundpositionen dynamisierte indes die soziologischen Debatten und nahrte das Interesse an soziologischer Theoriebildung und Methoden des Theorienvergleichs. 7 Der Strukturfunktionalismus im allgemeinen und die Parsonianische Theoriekonzeption im speziellen (vg!. Wenzel 1991) hatten zu dieser Zeit zwar schon langst den Zenit ihres Einflusses iiberschritten, sahen sich radikalen Kritiken ausgesetzt (Gouldner 1971), und ihre Wirkung als "orthodoxer Konsensus" (Atkinson 1971) lieB angesichts der Wiederentdeckung konflikttheoretischer, humanistischer oder auch interaktionistischer Ansatze nach; nichtsdestotrotz ging von dieser abstrakten Art soziologischen Denkens ein starker Impuls zur Theoriebildung und zur Entwicklung eigener theoretischer Konzeptionen aus. In diese Zeit faIlt die Wiederaufnahme wissenssoziologischer und phanomenologischer Ansatze etwa durch Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1967); gleichzeitig setzen jedoch auch die bis heute wirksamen Theorieprojekte einer FortfUhrung der klassischen "Kritischen Theorie" durch 1iirgen Habermas (1981) und der Ausarbeitung und Entwicklung einer eigenstandigen systemtheoretischen "Supertheorie" durch Niklas Luhmann (1984, 1997) ein, die sich in besonderem MaBe durch ihre kritisch-systematisierende Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Ta1cott Parsons profilierten. Die Notwendigkeit, den Blick iiber die nationale Theorietradition hinaus zu offnen, scheint in den letzten Jahren in Deutschland erneut von Bedeutung. Nachdem die von Habermas und Luhmann angestoBene Debatte iiber den Status der Soziologie zwischen Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie (1971) den theoretischen Diskurs der deutschen Soziologie iiber weite Strecken bestimmt hatte und auch ihre Hauptwerke zu Beginn der 80er Jahre auf groBe Resonanz in der soziologischen Offentlichkeit stieBen, scheint die teils dominierende, teils hegemoniale Wirkung ihrer Theoriepro7

Herausragende Beispiele hierfiir sind insbesondere die Arbeiten von Hondrich (1976) und HondrichIMatthes (1978).

16

Hans-Peter Muller und Steffen Sigmund

jekte spatestens seit Mitte der 80er lahre nachzulassen respektive eine Kanonisierung der jeweiligen Positionen einzusetzen, in deren Folge die Debatten zunehmend hermetischen Charakter annahmen. 8 Obgleich wahrend dieser Zeit kein neuer Entwurf, geschweige denn eine neue GroBtheorie auf den Plan tritt, laBt sich doch ein Wandel der theoretischen Interessen in viererlei Hinsicht konstatieren. Eine Vielzahl von Arbeiten sucht, erstens, wieder AnschluB an die klassischen soziologischen Problemstellungen, die nicht nur die Habermas-Luhmann Debatte pragten, sondern auch schon in der Diskussion urn den Strukturfunktionalismus von zentraler Bedeutung waren: die Verhaltnisbestimmung von Handeln und Struktur, Lebenswelt und System, Differenzierung und Integration oder Konflikt und Konsens. Ein Gutteil des theoretischen Diskurses macht dabei, zweitens, erneut Anleihen bei den einschlagigen Werken der soziologischen Klassiker (vgl. Schluchter 1979, loas 1980, 1992, Munch 1982, Srubar 1988), so daB allgemeine und historische Soziologie in unserem Fach eigentumlich verquickt werden. Eine Reihe von Forschern im Rahmen des Max-Planck-Instituts fi.ir Gesellschaftsforschung nimmt ferner das Problem gesellschaftIicher Differenzierung sowie der Eigenlogik sozialer Prozesse und gesellschaftIicher Teilsysteme wieder auf, urn die Strukturdynamik moderner Gesellschaften empirisch untersuchen zu konnen (vgl. Mayntz et al. 1988, Schimank 1985, 1996). Mitte der 80er lahre kommt es schlieBlich zu einer starkeren Rezeption zeitgenossischer franzosischer und englischsprachiger Ansatze, vor allem von Pierre Bourdieu und Anthony Giddens (Muller 1993, Sigmund 1999), die der Kultursoziologie und der Ungleichheitsforschung neue Impulse verleihen; daruber hinaus werden die Arbeiten lames Colemans (Esser 1991, 1993, MullerlSchmid 1998), der eine sozialtheoretische Grundlegung der Soziologie auf rational choiceBasis zu entwickeln suchte, breit diskutiert. Was bedeutet dieser Interessenwandel flir die nationale Gestalt der deutschen Soziologie? Ohne offenkundige Parallelen uberziehen zu wo 1len, scheint die gegenwartige Situation durchaus mit der Lage in den 50er und 60er lahren vergleichbar. LaBt sich mit Blick auf die 70er und 80er lahre von einer "Deutschen Soziologie" sprechen, die nicht nur von nationalen und internationalen Soziologen, sondern auch von der intellektuellen Offentlichkeit weitgehend mit den Arbeiten von Habermas und Luhmann gleichgesetzt wurde, und die in ihrer stark philosophischen Orientierung an die "Deutsche Soziologie" der 20er und 30er lahre erinnerte, so scheint die angemessene Kennzeichnung der 50er und 60er wie auch der 90er lahre starker mit dem Konzept einer Soziologie in Deutschland ubereinzustimmen, die sich durch eine Vielzahl konkurrierender Ansatze auszeichnet (Scheuch 1990, Buhl 1994). Das ist zum einen Folge der vollig verander8

VgI die Sammelbiinde zu den Ansiitze von Habermas und Luhmann von HonnethlJoas (1986) bzw. Haferkamp/Schmid (1987) sowie die Biinde von Honneth et al. (1989) und Baecker et al. (1987).

Die amerikanische Soziologie

17

ten gesellschaftlichen Bedingungen in Deutschland nach der Wiedervereinigung, die nicht nur das analytische und prognostische Selbstverstandnis der Soziologie ins Wanken brachte. Zum anderen beobachten wir eine noch starkere institutionelle und universitiire Ausdifferenzierung des Faches wahrend der letzten zehn Jahre, vor allem aufgrund der Schaffung neuer Lehrstuhle an ostdeutschen Universitaten, und zugleich erleben wir die Wiederkehr gesellschaftlicher Problemstellungen aus den 50er Jahren, wie etwa das Verhaltnis von Nation und Nationalismus. Daneben erMfnet das Ende einer quasi hegemonialen Beherrschung des soziologischen Diskurses durch Habermas und Luhmann gleichzeitig die Chance fur eine neue oder erneute Auseinandersetzung mit anderen, lange Zeit nicht oder nur sehr selektiv wahrgenommenen Ansatzen und Konzeptionen. Und auch hier zeigt sich, oh ne die Analogie zu den 60er Jahren zu sehr uberzustrapazieren, eine interessante Parallele. Die gegenwiirtigen Entwicklungen in der amerikanischen Soziologie werden, mit Ausnahme des Werkes von James Coleman (1990), hierzulande kaum wahrgenommen. 9

Die amerikanische Soziologie seit Anfang der 80er Jahre Sucht man die spezifische Gestalt, die grundlegende Eigenart der zeitgen6ssischen amerikanischen Soziologie im Sinne einer nationalen Soziologie zu bestimmen, so scheint dies auf Anhieb einer contradictio in adjecto gleichzukommen. Einerseits zeigt ein Blick auf die institutionellen, theoretischen und methodischen Entwicklungen der Soziologie in den USA eine enorme Spezialisierung und Fragmentierung, so daB angesichts eines "high level of intellectual diversity and high degrees of differentiation among a large mass of sociologists" (Turner 1989: 239) nur mehr schwer von einer gemeinsamen "nationalen Tradition" gesprochen werden kann. Diese Binnendifferenzierung hat im UmkehrschluB aber die paradoxe Folge, daB man aus einer externen Perspektive die amerikanische Soziologie mit guten Griinden als eine globale Soziologie bezeichnen kann. Nicht allein im Sinne der hemisphiirischen Vorherrschaft eines spezifischen Soziologieverstandnisses, wie es Heinz Hartmann ( 1973: Ill) etwa noch im Strukturfunktionalismus angelegt sah, sondern vielmehr aufgrund der Tatsache, daB die USA als klassisches Einwanderungsland siimtliche soziologischen Traditionen in sich aufnahmen und im Zuge ihrer permanenten Differenzierungsprozesse eine Vielzahl von 9

Ein Beispiel mag die se Behauptung illustrieren. Im Zuge der "institutionellen Wende" in den Sozialwissenschaften erfahrt der Begriff der Institution auch in Deutschland in den letzten lahren eine enorrne Renaissance. Trotzdem werden in vielen einschlligigen Publikationen die zeitgenossischen amerikanischen Autoren nur am Rande erwlihnt. Die Diskussion konzentriert sich oftmals auf die klassischen europliischen Urspriinge und Wurzeln des Begriffs (etwa von Hauriou oder Gehlen etc).

18

Hans-Peter Miiller und Steffen Sigmund

Institutionen und Feldern entwickelte (Oberschall 1972, Smelser 1988, Turner 1989), mit der Chance, daB sich diese Traditionen erhalten und in Auseinandersetzung mit bestehenden Ansatzen weiterentwickeln konnten. Ihre kosmopolitische und auch eklektizistische Grundausrichtung (Levine 1996: 278) verlieh der amerikanischen Soziologie damit den Charakter einer globalen Disziplin. Wie hat sich diese doppelte Gestalt der amerikanischen Soziologie ergeben? Heinz Hartmann (1973: Ill) hat anlaBlich der zweiten Auflage seiner Modernen amerikanischen Soziologie darauf hingewiesen, daB der von ihm noch in der ersten Auflage postulierte hegemoniale EinfluB der amerikanischen Soziologie bzw. des Strukturfunktionalismus quasi schon iiberholt sei und "in den USA eine weitere Pluralisierung der hauptsachlichen Bezugsrahmen soziologischen Denkens eingetreten sei". In der Folge der grundlegenden und radikalen Kritik an der Parsonianischen Soziologie und der gleichzeitigen Stiirkung der quantitativen Sozialforschung entwickelten sich eine Vielzahl von Bindestrich-Soziologien. Ihren analytischen Focus auf die Untersuchung spezifischer gesellschaftlicher Teilbereiche und Problemfelder wie Familie, Bildung, Urbanisierung, Devianz, Religion, Statuserhalt etc. gerichtet, wendete sich die soziologische Forschung von einer Theoriekonzeption, die abstrakte und generelle Aussagensysteme anstrebte, ab und der Vorstellung Mertons zu, wonach das Ziel soziologischen Forschens in der Aufstellung von Theorien mittlerer Reichweite bestiinde. Ihren institutionellen Ausdruck findet diese Entwicklung nicht nur in der Griindung vielfaltiger Journale und Assoziationen, sondern insbesondere auch in der zunehmenden Ausdifferenzierung der ASA in eine Vielzahl von Untersektionen (vgl. Smelser 1988 und in diesem Band, Turner 1989). Der theoretische Anspruch dieser Arbeiten ersch6pfte sich haufig darin, empirische Forschungsergebnisse zu generalisieren und ihnen den Status sozialer GesetzmaBigkeiten zuzusprechen (Halfpenny 1982, Turner 1985). Infolge des Wandels der theoretischen und analytischen Zielsetzung erfuhr die ohnehin schon traditionell auf quantitative Methoden ausgerichtete empirische Sozialforschung in den USA auch noch eine unerwartete theoretische Aufwertung. Dieser "instrumentelle Positivismus" der amerikanischen Soziologie, wie ihn Christopher G.A. Bryant (1985) charakterisierte, laBt sich an fiinf zentralen Merkmalen festmachen: ,,1. A preoccupation with the refinement of statistical technique; 2. A commitment to the use of surveys and the implicit nominalism inherent in this use; 3. A view of the cumulation of knowledge as best rendered through induction, verification and incrementalism; 4. A presumption of value neutrality as residing in the careful collection of facts and 5. A conception of research as best performed in large-scale team efforts" (Turner 1989: 233f.). Augenfiillig wird die Dominanz der quantitativen Forschung angesichts der publizierten Aufsatze in den vorherrschenden soziologischen Fachzeitschriften "American Sociological Review" und "American Journal of Sociology" seit Beginn der 70er Jahre. Schon der uniforme Aufbau der Artikel

Die amerikanische Soziologie

19

verweist auf ein hohes MaB an Standardisierung innerhalb der US-amerikanischen Soziologie (MUnch 1993, 1995); entscheidender jedoch ist die starke und offensichtliche ZurUckdrangung theoretischer Artike!' So bestatigt eine Ubersicht von Robert Hannaman (vg!. Turner 1989: 234) filr den Zeitraum von 1945-1985 diesen Trend deutlich filr die Zeit seit Ende der 60er Jahre. Waren bis dahin zwischen 60% und 70% der Artikel starker theoretisch oder qualitativ ausgerichtet, so zeigt seine Analyse, daB seit den 70er Jahren nur mehr 10-25% der veroffentlichten Artikel dieser Kategorie zuzuordnen sind, wahrend 70-80% der Arbeiten auf multivariaten Analysen beruhten. Neben der zunehmenden empirisch-quantitativen Orientierung und der permanenten Verfeinerung der Forschungsmethoden des Faches haben sich im Bereich der theoretischen Ansatze selbst Differenzierungsprozesse vollzogen, die einer weiteren Pluralisierung des Faches Vorschub leisteten (Alexander 1987). Speiste sich die Kritik an der Parsonianischen Version des Funktionalismus wahrend der 60er Jahre primar aus konfliktsoziologischen, wissenschaftstheoretischen, interaktionistischen und behavioristischen Quellen, so kam es in der Folge zu einer Verbreiterung der theoretischen Grundannahmen und zur Etablierung weiterer, distinkter Theorieansatze. Herbert Blumer (1969) oder Anselm Strauss (1978) etwa entwickelten den symbolischen Interaktionismus weiter, Forscher wie Ralph Turner oder Bruce Biddle (1966) arbeiteten die Rollentheorie aus, Erving Goffman (1974) unterbreitete in zahlreichen Studien seinen dramaturgischen Ansatz oder Harold Garfinkel (1967) und John Heritage (1984) trieben die Ethnomethodologie voran. All diese Entwicklungen starkten nicht nur die Tradition von George Herbert Mead, sondern verliehen dem Bereich mikrosoziologischer Analysen eine ganz neue, zentrale Bedeutung. Auch die Modifikationen des Behaviorismus durch George Homans (1974) und die rationalistisch-utilitaristischen Arbeiten James Colemans (1990 und in diesem Band) standen in ihrer explizit handlungstheoretischen Ausrichtung in deutlichem Widerspruch zu Parsons' Programm. Die Fortentwicklung und Ausarbeitung dieser Ansatze gingen einher mit einem wiedererwachten Interesse an den soziologischen Klassikern. Jeffrey Alexanders Theoretical Logic in Sociology (1983ff.), ein Meilenstein auf dem Weg zur RUckbesinnung auf die Klassiker, gab auch den StartschuB filr die erneute Beschaftigung mit den Arbeiten von Talcott Parsons. Randall Collins (1975) suchte dagegen den konfliktsoziologischen Ansatz zu vertiefen, indem er zum einen auf Webers Soziologie (CoIlins 1986a) zurUckgriff, zum anderen jedoch auch kultursoziologische Elemente von Durkheim und Goffman konstruktiv aufnahm. Daneben finden sich zahlreiche Ansatze, die den Niedergang der Parsonianischen Hegemonie zwar als befreiend empfunden hatten, gleichzeitig jedoch unbeirrt an der Pramisse einer theoretisch ausgerichteten Soziologie festhielten und ihre Analysen weitestgehend auf formalen und abstrakten Grundannahmen aufbauten. Hierfilr stehen etwa

20

Hans-Peter Muller und Steffen Sigmund

Peter M. Blaus (1977, 1984) makrosoziologische Analysen der Sozialstruktur ebenso wie die formalisierten Netzwerkstudien von Ronald Burt (1982, 1992) oder Harrison White (1992). Kurz und auf einen Nenner gebracht: Die amerikanische Soziologie der 80er Jahre stellt sich als eine hochgradig pluralisierte, institutionell ausgebaute und intellektuell differenzierte Disziplin dar. Zweifelsohne wird man weitgehende Fortschritte in einzelnen ihrer Teilbereiche konstatieren k6nnen, aber eben auch urn den Preis, daB es zu einer Art von "war of metatheories or world views" kam, "each of which appears from within as sufficient grounds for dismissing most of the rest of the field as profoundly misguided" (Collins 1986b: 1341). Ware dies das letzte Wort zum Charakter der amerikanischen Soziologie, muBte unsere Anthologie einfach die Vielfalt der Vielfalt widerspiegeln. Ein solches Potpourri ware kein besonders erhellendes Unternehmen und zudem in der Auswahl reichlich kontingent und willkurlich zugleich. Dies trifft jedoch aus unserer Sicht nicht zu. Denn trotz aller Differenzierung und Pluralisierung der Disziplin eint die amerikanische Soziologie ein Kern, eine Art gemeinsames HintergrundversHindnis, der soziologisches Arbeiten anleitet - wenn man so will, die Einheit in der Vielfa1t: Zunachst und an erster Stelle die bereits erwahnte, methodisch quantitative Ausrichtung des Faches, hinter der ein besonders rigoroses MethodenbewuBtsein aufscheint, wonach alle, auch noch so abstrakten Gegenstande empirisch erfaBt und intersubjektiv nachprutbar operationalisiert werden mussen. Methodische Sorgfalt gepaart mit intimer Feldkenntnis, so der kategorische Imperativ amerikanischen Professionalismus, sind das A und 0 erfahrungswissenschaftlichen Arbeitens; folglich werden weder Muhe noch Zeit gescheut, ja ein GroBteil der Kreativitat wird verausgabt, urn ein Problem methodenzuganglich oder regelrecht "methodengefiigig" zu machen. Und es braucht kaum angemerkt werden, daB Aufwand und Ertrag dabei haufig in einem auffiilligen MiBverhaltnis stehen. Wo die methodische Zange indes nicht erfolgreich genug angesetzt werden kann, liiBt man lieber das Problem ganzlich fallen, als si ch mit methodisch zweifelhaften, weil suboptimalen oder gar vollends dilettantischen L6sungen zu begnugen. An zweiter Stelle erst kommt ein neues theoretisches BewuBtsein, empirische Forschung stets in einen analytischen Bezugsrahmen einzubetten; ein Novum, das den instrumentellen Positivismus - stereotypisches Kennzeichen der amerikanischen Soziologie - ein Stuck weit relativiert. Immer noch schwach im Vergleich zur theoretischen Orientierung der europaischen und vor allem der deutschen Soziologie, in der der Kontakt zur Philosophie nie so radikal abgeschnitten wurde wie in den USA, folgt dieses theoretische BewuBtsein einer middle range-Logik, welche nicht nur Kraft und Reichweite der empirischen Verallgemeinerung beschrankt, sondern von vornherein auf einer engen Verknupfung von Theorem und Objekt beruht. Diese Engfiihrung von Konzeptualisierung und Gegenstand erlaubt eine empirienahe Theoriebildung eigener Art. Ihr sui generis-Charakter kommt am ehesten in Ab-

Die arnerikanische Soziologie

21

grenzung zu "Grand Theory" und "middle range theory" alter Ordnung zum Ausdruck. Parsons' GroBtheorie wollte durch ihre "four C's" (Muller 1997) bestechen: comprehensiveness, coherence, codification and creativity. Komprehensivitat folgte dem Ideal der Vollstandigkeit, wonach der theoretische Bezugsrahmen vis-a-vis der Realitat "analytisch erschopfend" zu sein hatte, wie es bei Parsons so schon hieB. Wer heute noch wissen mochte, was das bedeutete, schaue sich den technischen Apparat zur The American University (ParsonslPlatt 1973) an oder schlage nach bei einigen "Miinchiaden" des prominentesten deutschen Parsonianers. Koharenz bezog sich auf das Ideal der theoretischen Ordnung. Bevor nicht im Theoriegebaude groBreinegemacht und alle Relationierungen an Ort und Stelle aufgeraumt parat standen, brauchte man es mit einer theoretisch inspirierten Erfassung empirischer Muster gar nicht erst zu versuchen. Kodifikation verkorperte das Ziel einer "hoheren Synthese". Man nehme die besten Theorien seiner Zeit und benutze sie als analytischen Steinbruch fur den eigenen Bezugsrahmen - das, so Parsons (1937), ist die beste Gewahr dafur, eine komplexe und synthetische Theorie zu gewinnen. Das war bekanntlich die Strategie in der Structure of Social Action, in der er die Ansatze von Marshall, Pareto, Durkheim und Weber als Bausteine fUr seine voluntaristische Handlungstheorie hernahm. Kreativitat meinte das Ideal des theoretischen "Surplus" im Marxschen Sinne. Theoriebildung entlang der ersten drei "C" ist nicht nur eine Frage von Ordnung und Synthese und wenn man so will, ein StUck weit Selbstzweck. Vielmehr vermag ein solcher Bezugsrahmen selbst zu einer Quelle der Kreativitat zu werden, weil er theoretische Innovation und darnit neue Erkenntnisse eroffnet. Wir sehen nicht nur weiter als unsere Vorlaufer, sondern auch mehr. Und dieser Zuwachs an Breite und Tiefe markiert den theoretischen Mehrwert. Schon Merton (1968) und Mills (1967) hatten den Anspruch hinter der GroBtheorie als pratentios kritisiert und als unein16sbar entlarvt: der wichtigste Einwand von Merton bezog sich denn auch auf die unangemessene Parallelisierung von physikalischer und soziologischer Theorie - nicht nur ist das Ideal unerreichbar: die Modellierung der Sozialwissenschaften nach den Naturwissenschaften -, sondern selbst in der Physik haben wir es nicht mit einer Theorie, sondern einem Ensemble keineswegs widerspruchsfreier Theorien zu tun. Mills (1967: 172) urteilte noch unversohnlicher: "Grand theory is drunk on syntax, blind to semantics." Und doch hielt Merton bei aller Kritik an Parsons eisern am Ziel der Kodifikation fest, nur eben eine Etage tiefer: Middle range- Theorie a la Merton ist bescheiden in der AttitUde, aber ahnlich anspruchsvoll wie Parsons, wenn es urn das Geschaft der Kodifikation, also die Kanonisierung zur sociologia perennis, geht. Denn trotz aller Pluralisierungsrhetorik halt auch Merton unvermindert am Ideal einer facheinheitlichen Sozialtheorie fest, das nicht ein fUr allemal durch den genialen groBtheoretischen (Ent)Wurf eingelost, sondern nur durch die Karrnerarbeit einzel- und doch zentralbegrifflicher Systematisierung geleistet werden kann. Ein Beispiel: Mertons (1968) brillanter Aufsatz zur Anomie

22

Hans-Peter Muller und Steffen Sigmund

unternimmt eine mustergiiltige Systematisierung dieses Konzepts mit der uneingestandenen Implikation, von nun an und in aller Zukunft brauche man Durkheim, Guyau usf. nicht mehr zu lesen, sondern nur noch Merton. Wer indes mit den Schriften der beiden "unvollkommenen" Vorlaufer vertraut ist, wird sogleich merken, daB Merton die kritischen Dimensionen, welche etwa Durkheim am Herzen lagen, systematisch verfehlt, was ein fahles Licht auf das Kodifizierungsprogramm der middle range- Theorie, die abgespeckte Version der Grand Theory, wirft. Diese Dialektik von grandioser GroBtheorie mit ihrer Bewegung von oben nach unten und kleinteiliger, muhevoller Systematisierungsarbeit von der Pike auf mit der sympathischen Bewegung von unten nach oben ist der middle range- Theorie neuester Provenienz ziemlich fremd. Sie teilt kaum eine der vier "C's" mit der GroBtheorie; worum es ihr geht, sind wohldefinierte Konzepte wie Kultur, Institution, Einbettung etc. durch empirische Analysen zum Arbeiten zu bringen und ihren Nutzen zufOrderst in empirischen Studien zu demonstrieren. Erst dann und selbst da zogerlich, kann man versuchen, den analytischen Mehrertrag aus der gewahlten Perspektive zu ziehen. Der entscheidende Unterschied zur alten GroBtheorie laBt sich vielleicht wie folgt auf einen Nenner bringen: Grand theory versuchte jedem Untersuchungsobjekt seinen Stempel aufzudriicken und - gottgleich - dem in Frage stehenden Gegenstand seine ureigene Logik zu oktroyieren. Und dieser Oktroi wird mit einer ersten Erklarungsleistung folgenreich verwechselt. Man denke nur an die Gebrauchs- und MiBbrauchsweisen des AGIL-Schemas von Parsons und seiner Schiiler. Wer einmal nach dieser Logik zu denken begonnen hat, "sieht" die Welt stets durch die Brille der Vier-Felder-Logik. Zu einer solchen Vergewaltigung ist die middle range- Theorie neuer Ordnung gar nicht mehr in der Lage. Sie hat eine eingebaute Unfiihigkeit zu gottgleichen Errungenschaften, laBt daher die differentia specijica des in Frage stehenden Gegenstandes in der Regel unangetastet. Vielmehr versucht sie die Eigenart des Untersuchungsobjekts uber eine vernunftige Konzeptualisierung zu erschlieBen, die den Gegenstand in urn so hellerem Licht, aber im eigenen Glanze erstrahlen laBt. Die middle range- Theorie steuert die Analyse, ohne sie restlos zu dominieren. Wie das geschieht, wird anhand der Themen und Problemstellungen deutlich, derer sich die neue middle range-Tradition gemeinsam und doch aus einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven durchgangig annimmt. Neben dem rigorosen MethodenbewuBtsein und der moderaten Theoretizitat sind unserer Auffassung nach die se vier Themen- und Problembereiche das dritte, wesentliche Element im Kern des zeitgenossischen amerikanischen Soziologieverstandnisses. Im einzelnen handelt es si ch urn: 1. das MikroMakro-Problem und die verschiedenen Versuche, "Handeln" und "Struktur" angemessen zueinander in Beziehung zu setzen; 2. den enormen Bedeutungszuwachs kultursoziologischer Fragestellungen wahrend der 80er Iahre; 3. die Thematisierung des Staates als zentralem Akteur bei der Analyse politischer

Die amerikanische Soziologie

23

und sozialer Prozesse in historisch-komparativer Absicht; 4. die Wiederaufnahme institutionentheoretischer Analysen. Da diese vier Themen und Probleme unsere Textauswahl bestimmen, wollen wir sie abschlieBend niiher betrachten. "Bringing Theory Back In" - so konnte man in Analogie zu George Homans bertihmter Formulierung die neue theoretische Bewegung (Alexander 1988a) seit den 80er Jahren charakterisieren. Orientiert an konkreten empirischen Problemlagen ohne Anspruch auf eine synthetische GroBtheorie zielt ihr Bemtihen darauf ab, die konstitutive soziologische Problemstellung der Verhaltnisbestimmung von Handeln und Struktur neu aufzunehmen und diese beiden Grundkategorien nicht reduktionistisch aufeinander zu beziehen. Gerade die mikrosoziologischen Theorieperspektiven wie der symbolische Interaktionismus, die Ethnomethodologie oder die Austauschtheorie gerieten zunehmend in das individualistische Dilemma, gesellschaftliche Makroprozesse nicht adaquat analysieren zu konnen. Die systematische Ausblendung eines gesellschaftlichen Bereichs - spiegelbildlich laBt sich das auch im Hinblick auf eine Reihe struktureller Makrotheorien aufzeigen - ftihrte zu einer Reihe theoretischer Versuche, die statt einer einseitigen Reduktion die Verkntipfung oder gar Synthetisierung dieser beiden Ebenen anstrebten. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Verkntipfung von Mikro und Makro (Alexander et al. 1987, Knorr-CetinalCicourel 1981) ist nun keineswegs neu, war schon der soziologischen Klassik als Problem sehr wohl bewuBt; so suchte etwa Parsons diese Ebenen mit dem Verweis auf soziale Prozesse wie Sozialisation und Rollentibernahme, soziale Kontrolle und Sanktionierung zu integrieren. Doch es zeigte sich, daB die bestehenden Vermittlungsversuche aus unterschiedlichen Grtinden defizitar blieben und keineswegs in der Form unhinterfragt als selbstverstandlich tradiert werden konnten. Der Versuch, Mikro und Makro angemessen zu verschdinken, wie es Randall CoIlins (in diesem Band) mit Hilfe seiner Theorie ritueller Interaktionsketten, Jeff Alexander auf der Basis theoretischer Multidimensionalitat, Ronald Burt durch eine Verkntipfung von Einsichten des symbolischen Interaktionismus auf der Mikroebene mit Makromodellen sozialer Netzwerke oder die rational choiceAnsatze von James Coleman (in diesem Band) oder Michael Hechter anstrebten, bildeten einen gemeinsamen Fixpunkt amerikanischer Theoriedebatten. Aber nicht nur in den USA: Parallel und fast zeitgleich finden sich auch Entsprechungen in der europaischen Soziologie, denn Anthony Giddens' (1984) "structuration approach" oder Pierre Bourdieus (1979) praxeologischer Ansatz drehen sich ebenfalls urn das Problem von Handeln und Struktur, ohne den Anspruch auf eine GroBtheorie zu erneuern. Die Renaissance kultursoziologischer Fragestellungen seit Beginn der 80er Jahre, ein zweiter Schwerpunkt der zeitgenossischen amerikanischen Soziologie, ftihrte schlieBlich zur Grtindung einer kultursoziologischen Sektion innerhalb der ASA, die heute als eine der erfolgreichsten Sektionen gelten darf. Auch hier spielt die neugewonnene "Centrality of the Classics"

24

Hans-Peter Muller und Steffen Sigmund

(Alexander 1988c) eine wichtige Rolle, da insbesondere uber Durkheim und seinen Ansatz (Alexander 1988b) die Bedeutung von Kultur reflektiert wurde. Der rasch angewachsene und mittlerweile kaum noch uberschaubare Bereich kultursoziologischen Forschens (Muller 1994) gliedert sich zum einen in grundlagentheoretische Uberlegungen zu einer theoretisch angemessenen Konzeptualisierung der zentralen Analysekategorien (Alexander/Seidmann 1990, Munch/Smelser 1992, Wuthnow 1987, DiMaggio 1982, Kane 1991, Crane 1994, Smith 1998, Swidler 1986). Hier gilt es vor allem den klassischen Kulturbegriff, wie er bislang durch KroeberlParsons (1958) bestimmt war, zu uberwinden und ein angemessenes analytisches Fundament zu errichten. Zum anderen sticht die Fulle materialer empirischer Studien ins Auge, und zwar in so unterschiedlichen Problembereichen wie Fragen der sozialen Ungleichheit und der symbolischen Reproduktion von Statusdifferenzen, der Rolle von Moral, dem EinfluB der Medien oder der Bedeutung von Konsummustern. Ebenso wurde auch die klassische amerikanische Politische Kulturforschung von Almond und Verba (1963) wieder aufgenommen (ThompsonlEllislWildavsky 1990) und Studien zur Politischen Kultur einzelner Under (Bellah et al. 1985, Putnam 1993, Alexander/Smith 1993) angefertigt. Es zeigt sich, daB die Vielzahl empirischer Studien, die sowohl auf den Bereich der Produktion der Kultur (Coser 1978, Peterson 1979 und in diesem Band) wie auch auf den der Konsumtion von Kultur (DiMaggio/ Useem 1977) gerichtet waren oder aber auf die Frage nach dem EinfluB der Kultur auf Probleme sozialstruktureller Reproduktion, eine weitgehende Sensibilisierung der amerikanische Kultursoziologen fur theoretische Fragen und die weiterfiihrende Elaborierung ihres analytischen Instrumentariums zur Folge hatte. Im Zentrum ihrer Debatten standen Fragen wie die Verhaltnisbestimmung zwischen Kultur und Handeln oder der EinfluB von Kultur auf die Integration und den Wandel von Gesellschaften. Gemeinhin gelten die 60er Jahre als das goldene Zeitalter historischkomparativer Forschung in den USA, was an den beriihmten Studien von Reinhard Bendix (1956, 1978), Barrington Moore (1966) oder Samuel Huntington (1968) abzulesen ist. Auch in diesem dritten Feld soziologischer Forschung zeichnete sich nach einer zwischenzeitlichen Phase der Stagnation seit Mitte der 80er Jahre eine grundlegende Neuorientierung ab. Sie ist Folge einer erneuten Auseinandersetzung mit den Klassikern dieses Bereiches, sei es Karl Marx einerseits oder seien es Max Weber und Qtto Hintze andererseits. Die Arbeiten von Immanuel Wallerstein (1974), Perry Anderson (1980), Theda Skocpol (1979), Charles Tilly (1978) oder William H. Sewell Jr. (1980), gepragt von einer genuin historischen Perspektive, riickten gesellschaftliche Makroinstitutionen wie den Staat im besonderen oder strukturelle Prozesse wie kollektive Mobilisierung, Revolutionen, Kriege oder Konflikte im allgemeinen ins Zentrum ihrer Forschung. Explizit gegen evolutionistische Erkllimngsmodelle historischer Entwicklungen gerichtet, verfolgten sie eine stark historisch-komparativ angelegte sozialwissenschaftliche Forschung, welche die Besonderheit politi-

Die amerikanische Soziologie

25

scher Institutionen - wozu neben dem modernen Nationalstaat (EvanslRiischemeyerlSkocpol 1985) auch weitere Institutionen, wie etwa der Arbeitsmarkt oder die staatliche Sozialpolitik (SteinmofThelenILongstreth 1992), zu rechnen sind - in ihren jeweiligen spezifischen Kontexten aufzukHiren versucht. Gerade angesichts des Vedinderungsdrucks, der auf dem klassischen Nationalstaat am Ende des 20. lahrhunderts lastet, und der Frage, ob im Zuge von Globalisierungsprozessen der Staat noch in althergebrachter Form weiterbestehen kann, gewinnt die historisch informierte Makrosoziologie auch fUr die Analyse gegenwfutiger gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse an Bedeutung. Ebenso wie im Bereich der Kultursoziologie laBt sich eine interne Arbeitsteilung feststellen, die in der Offnung zu grundlagentheoretischen Fragen und der weiterfUhrenden Problematisierung soziologischer Grundbegriffe (Sewell 1992) oder in dem AnschluB an neuere Debatten iiber die Rolle und Funktion von Institutionen zum Ausdruck kam. Gleichzeitig entstehen eine Reihe wichtiger Studien zu historisch bedeutsamen Prozessen (vgl. etwa Hunt 1984, 1989, Riischemeyer et al. 1992). Dies verweist schlieBlich auf das vierte zentrale Problemfeld, das die Debatten der amerikanischen Soziologie der letzten 15 lahre beherrschte: die Entwicklung des sogenannten "New Institutionalism". Parallel in den Bereichen der Okonomie (Williamson 1975, 1985), der Politikwissenschaft (March! Olson 1989) und der organisationssoziologischen Theoriebildung (Perrow 1986) entstanden, hat der neue Institutionalismus eine kaum noch zu iiberschauende Vielzahl von Studien und Analysen hervorgebracht (Dobbin 1994). Wo es einen neuen Institutionalismus gibt, muB auch ein "alter" Institutionalismus existiert haben. In betonter Abgrenzung vom klassischen Vorganger, der sich weitgehend auf die Besonderheiten administrativer, rechtlicher und politischer Strukturen und deren organisationaler Entwicklung konzentrierte, analysierten eine Reihe jiingerer Soziologen und Okonomen wie Paul DiMaggio, WaIter Powell, Lynne Zucker und WaIter Scott das Wechselwirkungsverhaltnis zwischen sozialen Organisationen und ihrer Umwelt. Ein zentraler Befund ihrer Untersuchungen lautet, daB fiir die Organisationsentwicklung weniger Effizienziiberlegungen zentral sind (DiMaggiolPowell in diesem Band), wie gemeinhin angenommen, sondern Prozesse, die zur Herstellung oder Aufrechterhaltung von Legitimitat fUhrten. Der in den friihen Arbeiten angelegten Gefahr, das Problem der Einbettung (Granovetter in diesem Band) von Organisationen in ihren gesellschaftlichen und institutionellen Kontext unterzubewerten und somit den EinfIuB der Organisationen oder organisationaler Eliten auf die sozialen Strukturen zu vernachlassigen, wird in den neueren Beitragen Rechnung getragen. Es zeigte sich interessanterweise, daB sich auch hier eine den theoretischen Debatten urn die Relationierung von Mikro und Makro vergleichbare Tendenz durchsetzte, die Beziehung zwischen Organisationen und Gesellschaftsstruktur bzw. Institutionen rekursiv zu fassen. Institutionalisierungsprozesse sind als ein WechselwirkungsverhaItnis zwischen diesen beiden Bereichen zu konzipieren, das

26

Hans-Peter Muller und Steffen Sigmund

weder rein okonomisch, noch rein kognitivistisch oder rein politisch zu interpretieren ist. Vielmehr zielt der "New Institutionalism" in den letzten Jahren auf eine "sounder multidimensional theory" (Di MaggiolPowell1991) ab. Die vorgestellten vier zentralen Themen und Probleme - die Verbindung von Mikro und Makro, der Bedeutungszuwachs kultursoziologischer Fragestellungen, die Wiederentdeckung einer makrosoziologisch orientierten, historisch-komparativen Politischen Soziologie und der "New Institutionalism" - machen unserer Auffassung nach im Verein mit alter, aber noch verstarkter Methodenorientierung und neuer, aber moderater Theoretizitat die Struktur dessen aus, was heute als die typische Gestalt der zeitgenossischen amerikanische Soziologie wahrgenommen werden kann. Die Widerspriichlichkeit in der amerikanischen Situation zwischen interner Differenzierung und Fragmentierung einerseits und der gleichzeitigen Ausstrahlung als einer globalen Soziologie, die wir oben bereits notiert hatten, scheinen dieses Spannungsverhaltnis zu transzendieren, oh ne es aufzulosen. Denn alle diese vier theoretischen Schwerpunkte folgen bis zu einem gewissen Grad dem gemeinsamen Anliegen innerhalb der amerikanischen Soziologie, eine rekursiv ausgerichtete, grundbegrifflich und analytisch elaborierte soziologische Theorie zu entwickeln, die sich als besonders anschluBflihig flir empirische Studien erweist. Zur gleichen Zeit sind diese Ansatze auch in dreierlei Hinsicht ein Teil internationaler oder globaler Debatten innerhalb des Faches. Zunachst sind diese Diskussionen in besonderem MaBe der erneuten Auseinandersetzung mit den Klassikern der Disziplin geschuldet; sodann zeigt sich, daB einige Problemstellungen zeitgleich auch in Europa den Kern der theoretischen Auseinandersetzung bildeten; und schlieBlich geben diese Ansatze oftmals die entscheidenden Impulse fur neuere Entwicklungen innerhalb der Soziologie. Unsere Anthologie versucht, die geschilderten zentralen Trends und Tendenzen anhand ausgewahlter Texte zu Wort kommen zu lassen. Zusammengenommen ergeben sie ein Bild der zeitgenossischen amerikanischen Soziologie. Aber noch einmal: Es ware ein grobes MiBverstandnis, diese Textauswahl als ihr getreues und vollstandiges "Abbild" anzusehen. Reprasentativ sind die vorliegenden Texte vor allem flir unsere Interpretation der zeitgenossischen amerikanischen Soziologie. Und selbst daflir muBten wir, um den Rahmen einer solchen Auswahl nicht zu sprengen, auf einige einschlagige Arbeiten verzichten. Die von uns reprasentierten Autoren und Texte stehen nicht nur stellvertretend flir die vier skizzierten Trends in der amerikanischen Soziologie, sondern sie haben auch in exemplarischer Weise in diesen Debatten selbst mitgewirkt. Einigen der Aufsatze kommt in dieser Hinsicht bereits paradigmatischer Status zu, haben sie doch den Auftakt zu neuen Entwicklungen und Forschungsrichtungen gebildet und in den USA langanhaltende Debatten ausgelost. Da viele von ihnen in Deutschland kaum und wenn, dann haufig nur selektiv wahrgenommen wurden, sich aber gleichzeitig ein starkes Inter-

Die amerikanische Soziologie

27

esse an diesen Problemstellungen innerhalb der Soziologie (Muller 1992) entwickelt hat, hoffen wir mit diesen Texten einen Beitrag zur laufenden Diskussion zu leisten. Die amerikanische Soziologie kann am Ende dieses Jahrhunderts vielleicht ein wichtiger Impulsgeber fur die Weiterentwicklung der deutschen Soziologie darstellen, so wie dies in umgekehrter Richtung zu Beginn des Jahrhunderts der Fall war. Der Band gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil sind Texte zur grundlagentheoretischen Diskussion vereint; der zweite Teil geht exemplarisch auf die verschiedenen Anwendungsfelder und -bereiche ein. Neil Smelser gibt einen informativen Uberblick uber die amerikanische Soziologie. Er konstatiert neuerdings ein friedliches pluralistisches Nebeneinander von theoretischen Ansatzen und Schulen, das den alten weltanschaulichen Paradigmenkampf abgelost hat, und ein konstruktives Miteinander, wenn es urn die Bearbeitung gemeinsamer Grundprobleme geht. In gewisser Weise bestatigt Jeff Alexander dieses Bild, wenn er die theoretische Bewegung des Neofunktionalismus schildert. Viele der alten, scharfen Kritiken an Talcott Parsons sind relativiert worden und zentrale Fragen des totgesagten Funktionalismus auf die Tagesordnung zurUckgekehrt. James Coleman und Randall Collins nehmen gleichermaBen aus mikrosoziologischer Sicht, wenn auch mit je unterschiedlichem theoretischem Ansatz, das alte, von Parsons ins Zentrum seiner Gesellschaftstheorie gestellte Problem sozialer Ordnung wieder auf und machen es zum Ausgangspunkt ihrer eigenen theoretischen Bemuhungen. Coleman demonstriert uberzeugend, warum Parsons' voluntaristische Handlungstheorie scheitern muBte und entwickelt auf der Folie dieser Kritik seinen eigenen, "rational choice"-inspirierten Versuch einer mikromakro-relationierenden Handlungstheorie. Collins unterbreitet eine Theorie ritueller Interaktionsketten, mit der er glaubt, eine vom symbolischen Interaktionismus angeleitete Handlungstheorie ausarbeiten zu konnen, die das Mikro-Makro-Problem in den Mittelpunkt stellt. Peter Blaus Fabel uber die Sozialstruktur schildert anschaulich die Grundzuge seiner Strukturtheorie des Sozialen (vgl. Muller 1993). Seiner Auffassung nach ist das Mikro-MakroProblem eine reine Frage der Perspektive und des in Frage stehenden Problems und kein konstitutives Grundproblem der Soziologie, was im Mittelpunkt unserer Bemuhungen zu stehen hiitte. Im ubrigen ist er uberzeugt, daB sein Ansatz ohnehin fUr die zentralen Fragen eine theoretisch schlussige Antwort zu geben in der Lage ist. Im zweiten Teil stehen institutionelle Analysen gesellschaftlicher Felder im Mittelpunkt wie die Organisation, der Staat, die Religion und die Kultur. Die beiden einschlagigen Aufsatze von Paul DiMaggio und WaIter Powell sowie von Mark Granovetter verschaffen einen Einblick in den soziologischen Institutionalismus, wie er sich vor allem im Feld der sog. "Organization Studies" entwickelt hat. DiMaggio/Powell greifen die klassische Rationalitatsproblematik auf und verfolgen Rationalitatsstandards in organisationellen Feldern. Wie bereits erwahnt, finden sie viele Belege dafUr, daB im Zwei-

28

Hans-Peter Muller und Steffen Sigmund

felsfalle Legitimitat vor Effizienz im organisatorischen Handeln geht. Ein Befund, der diametral zentralen betriebswirtschaftlichen Theorien und Organisationsmodellen entgegensteht. Wahrend DiMaggiolPowell Max Webers beriihmte Formel vom "Gehause der Horigkeit" bemuhen, stutzt sich Granovetters Analyse auf Polanyis bekannte These von der Einbettung wirtschaftlichen Handelns in die Gesellschaft. An sich eine Trivialitat und weiter nicht bedeutsam, hat sich in modernen Gesellschaften die Wirtschaft so ausdifferenziert und die Wirtschaftswissenschaften haben rein okonomische Theorien der Wirtschaft entwickelt, daB es an den Sozialwissenschaftlern ist, daran zu erinnern, daB "nicht alles in der Okonomie okonomisch ist". Durkheims abgewandeltes Diktum ruckt das Verhiiltnis von Wirtschaft und Gesellschaft in den Mittelpunkt, und folgerichtig untersucht Granovetter sehr aufschluBreich die Beziehungen zwischen okonomischem Handeln und Sozialstruktur. In dem MaBe, wie der neue Institutionalismus auf dem Vormarsch ist, hat sich auch die Einbettungsperspektive durchgesetzt. Theda Skocpol gibt einen auBerst informativen Uberblick uber die historisch-komparative Forschung in den USA und diskutiert die wichtigsten Themen und Probleme in diesem Feld. Selbst eine der bekanntesten Protagonistinnen, zeigt sie auf, in welche Richtung sich dieses Feld in der Zukunft entwickeln sollte, urn weiterhin ein erfolgreiches und prosperierendes Forschungsgebiet zu bleiben. Jose Casanova diskutiert ausfUhrlich die verschiedenen Konnotationen der Unterscheidung von "privat-offentlich" und nutzt ihr Bedeutungsspektrum kongenial aus, urn die Probleme auszuleuchten, denen sich die Religion in den modernen Gesellschaften gegenubersieht. Sein Beitrag ist Ausdruck fUr das wiedererwachte Interesse an den Grundlagenfragen der Religionssoziologie. Richard Peterson, ein wichtiger Vertreter der amerikanischen Kultursoziologie, hat seit einigen Jahren eine Forschungsperspektive vorangetrieben, welche den Kulturbetrieb nicht aus der Konsumtionssphare heraus betrachtet, sondern die Produktion von Kultur minutios untersucht. Wie wird Kultur gemacht? Hinter diesem Ansatz, dessen wesentliche Studien Peterson in seinem Beitrag vorstellt, steckt nicht nur empirische Neugier auf den "Bauch" der Kultur, sondern die vieldiskutierte und haufig kritisierte Annahme, daB die Art und Weise der Kulturproduktion auch etwas uber ihre Eigenart verbindlich aussagt. Obgleich Peterson und seine Mitstreiter stets betont haben, daB ihre Perspektive einseitig ist und daher stets urn Rezeptions- und Konsumtionsstudien erganzt werden muB, haben sie ihren gewaltigen theoretischen Anspruch in den letzten Jahren relativieren mussen. Unsere Auswahl ist nur ein Ausschnitt aus dem reichhaltigen Reservoir der heutigen amerikanischen Soziologie, aber einer, der hoffentlich zum Weiterstudium anzuregen vermag.

Die amerikanische Soziologie

29

Literatur Akiwowo, Akinsola. 1989. "Building National Sociological Traditions in an African Subregion." In Nicolai Genov (Hg.) National Traditions in Sociology. London: Sage. Akiwowo, Akinsola. 1999. "Indigenous Sociology. Extending the Scope of the Argument." In International Sociology 14: 114-135. Albrow, Martin. 1987. "Sociology for one World." In International Sociology 2: 1-12. Albrow, Martin, Elisabeth King (Hg.) 1990. Globalization, Knowledge and Society. London: Sage. Alexander, Jeffrey C. 1983ff. Theoretical Logic in Sociology. 4 Bde. London: Routledge and Keagan Paul. - 1987. Sociological Theory since 1945. London: Hutchinson. - 1988a. "The New Theoretical Movement." In Neil Smelser (Hg.) Handbook of Sociology. London: Sage. Alexander, Jeffrey C. (Hg.) 1988b. Durkheimian Sociology: Cultural Studies. Cambridge: Cambridge University Press. Alexander, Jeffrey C. 1988c. "The Centrality of the Classics." In Anthony Giddens, Jonathan Turner (Hg.) Social Theory Today. Oxford: Blackwell. - 1995. "How National is Social Theory?" In Schweizerische Zeitschrift fUr Soziologie 21: 541-546. Alexander, Jeffrey c., Bernd Giesen, Richard MUnch, Neil Smelser (Hg.) 1987. MicroMacro Link. Berkeley, Los Angeles: Berkeley University Press. Alexander, Jeffrey C., Philip Smith. 1993. "The Discourse of American Civil Society." In Theory and Society 22: 151-207. Alexander, Jeffrey C., Steven Seidmann (Hg.) 1990. Culture and Society. Contemporary Debates. Cambridge: Cambridge University Press. Almond, Gabriel A., Sidney Verba. 1963. The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Princeton University Press. Anderson, Perry. 1980. Die Entstehung des absolutistischen Staates. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Aron, Raymond. 1953. Die deutsche Soziologie der Gegenwart. Stuttgart: Kroner. Atkinson, Dick. 1971. Orthodox Consensus and Radical Alternative. A Study in Social Theory. London: Hutchinson. Baecker, Dirk et al. (Hg.) 1987. Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Baker, Paul J. 1981. "Die Lebensgeschichten von W. I. Thomas und R. E. Park." In Wolf Lepenies (Hg.) Geschichte der Soziologie Bd. 1. Frankfurt a. M. : Suhrkamp. Bellah, Robert, et al. (Hg.) 1985. Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life. Berkeley: Berkeley University Press. Bendix, Reinhard. 1956. Work and Authority in Industry. Berkeley: University of California Press. Bendix, Reinhard. 1978. Kings or People. Power and the Mandate to Rule. Berkeley: University of California Press. Berger, Peter L., Thomas Luckmann. 1967. Die gesellschaftIiche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a. M.: Fischer. Biddle, Bruce J., Edwin J. Thomas (Hg.) 1966. Role Theory: Concepts and Research. New York: Wiley Blau, Peter M. 1977. Inequality and Heterogeneity. New York: Free Press. Blau, Peter M, Joseph E. Schwartz. 1984. Crosscutting Social Circles. New York, London: Academic Press.

30

Hans-Peter Muller und Steffen Sigmund

Blumer, Herbert. 1969. Symbolic Interactionism: Perspective and Method. Englewood Cliffs: Prentice Hall. Bolte, Karl Martin, Friedhelm Neidhardt (Hg.) 1998. Soziologie als Beruf. Baden-Baden: Nomos. Bourdieu, Pierre. 1979. Entwurf zu einer Theorie der Praxis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre, James S. Coleman (Hg.) 1991. Social Theory for a Changing Society. Boulder, CO: Westview Press. Bryant, Christopher G. A. 1985. Positivism in Social Theory and Research. New York: St. Martins Press. BUhl, Waiter. 1994. "Contemporary Sociology in Germany." In Ray P. Mohan, Arthur S. Wilke (Hg.) International Handbook of Contemporary Developments in Sociology. London: Mansel. Burt, Ronald S. 1982. Toward a Structural Theory of Action: Network Models of Social Structure, Perception and Action. New York: Academic Press. - 1992. Structural Holes: The Social Structure of Competition. Cambridge: Harvard University Press. Coleman, James S. 1990. Foundations of Social Theory. Cambridge: Belknap Press. Collins, Randall. 1975. Conflict Sociology. Toward an Explanatory Science. New York: Academic Press. - 1986a. Weberian Sociological Theory. Cambridge: Cambridge University Press. - 1986b. "Is 1980's Sociology in the Doldrums?" In American Journal of Sociology 91: 1336-1355. Coser, Lewis. A. (Hg.) 1978. "The Production of Culture." In Social Research 45 (Special issue). Crane, Diane (Hg.) 1994. The Sociology of Culture. Oxford: Blackwell. Dahrendorf, Ralf. 1955. "Struktur und Funktion. Talcott Parsons und die Entwicklung der soziologischen Theorie." In KOlner Zeitschrift flir Soziologie und Sozialpsychologie 7: 491- 519. Dahrendorf, Ralf. 1958. "Homo Sociologicus. Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle." In KOlner Zeitschrift flir Soziologie und Sozialpsychologie 10: 178-208 . Demerath, Nicholas J., Richard A. Peterson (Hg.). 1967. System, Change and Conflict. New York: The Free Press. DiMaggio, Paul. 1982. "Cultural Capital and School Success." In American Sociological Review 47: 189-201. DiMaggio, Paul, WaIter Powell. 1991. "Introduction." In W. Powell, P. Di Maggio (Hg.) The New Institutionalism in Organisational Analyses. Chicago: Chicago University Press. DiMaggio, Paul, John Mohr. 1985. "Cultural Capital, Educational Attainment and Marital Selection." In American Journal of Sociology 90: 1231-1261. DiMaggio, Paul, Michael Useem. 1977. "Social Class and Arts Consumption." In Theory and Society 5: 141 -161. Dobbin, Frank. 1994. Forging Industrial Policy. Cambridge: Cambridge University Press. Erikson, Kai (Hg.) 1997. Sociological Visions. Lanham, New York: Rowan & Littlefield. Esser, Hartmut. 1991. Alltagshandeln und Verstehen. Zum Verhaltnis erkliirender und verstehender Soziologie am Beispiel Alfred SchUtz und "Rational Choice". TUbingen: Mohr-Siebeck. Esser, Hartmut. 1993. Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt a. M., New York: Campus. Evans, Peter B., Dietrich RUschemeyer, Theda Skocpol (Hg.) 1985. Bringing the State Back. Cambridge. Cambridge University Press.

Die amerikanische Soziologie

31

Fleck, Christian (Hg.) 1996. Wege zur Soziologie nach 1945. Opladen: Leske + Budrich. Fritz-Vannahme, Joachim (Hg.) 1996. Wozu heute noch Soziologie? Opladen: Leske + Budrich. Galtung, Johan. 1983. "Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay iiber sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft." In Leviathan 11: 303-343. Gans, Herbert J. (Hg.) 1990. Sociology in America. London: Sage. Garfinkel, Harold. 1967. Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs, N.Y.: Prentice Hall. Genov, Nicolai. 1989. ,,National Sociological Traditions and the Internationalization of Sociology." In N. Genov (Hg.) 1989. National Traditions in Sociology. London: Sage. Genov, Nicolai (Hg.) 1989. National Traditions in Sociology. London: Sage. Giddens, Anthony. 1984. Constitution of Society. An Outline of the Theory of Structuration. Berkeley, Los Angeles: University of California Press. Goffman, Erving. 1974. Frame Analysis. New York: Harper Colophan. Gouldner, Alwin. 1971. The Coming Crises of Western Sociology. New York: Basic Books. Granovetter, Mark, Richard Swedberg (Hg.) 1992. The Sociology of Economic Life. Boulder: Westview Press. Habermas, Jiirgen. 1981. Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bande. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jiirgen, Niklas Luhmann. 1971. Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Haferkamp, Hans, Michael Schmid (Hg.) 1987. Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beitrage zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Haferkamp, Hans, Neil Smelser (Hg.) 1992. Social Change and Modernity. Berkley: University of California Press. Halfpenny, Peter. 1982. Positivism and Sociology: Explaining Social Life. London: Allen & Unwin. Hartrnann, Heinz (Hg.) 1973. Moderne amerikanische Soziologie. 2. Aufl. Stuttgart: Enke. Heilbron, Johan. 1995. The Rise of Social Theory. Cambridge: Cambridge University Press. Heritage, John. 1984. Garfinkel and Ethnomethodology. Cambridge: Polity Press. Homans, George Caspar. 1974. Social Behavior. Its Elementary Forms. New York: Harcourt. Hondrich, Karl Otto. 1976. "Entwicklungslinien und Mtiglichkeiten des Theorienvergleichs." In M. Rainer Lepsius (Hg.) Zwischenbilanz der Soziologie. Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand. Hondrich, Karl Otto, Joachim Matthes (Hg.) 1978. Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften. Darmstadt: Luchterhand. Honneth, Axe!, et al. (Hg.) 1989. Zwischenbetrachtungen im ProzeB der Aufklarung. Jiirgen Habermas zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Honneth, Axel, Hans Joas (Hg.) 1986. Kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hunt, Lynn. 1984. Politics, Culture and Class in the French Revolution. Berkley: University of California Press. Hunt, Lynn (Hg.) 1989. The New Cultural History. Berkeley: University of California Press. Huntington, Samuel. 1968. Political Order and Changing Societies. New Haven: Yale University Press. Joas, Hans. 1980. Praktische Intersubjektivitat. Die Entwick1ung des Werkes von G. H. Mead. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. - 1992. Die Kreativitat des Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

32

Hans-Peter Muller und Steffen Sigmund

Jonas, Friedrich. 1969. Geschichte der Soziologie. Reinbek: Rowohlt. Kane, Anne. 1991. "Cultural Analysis in Historical Sociology. The Analytic and Concrete Forms ofthe Autonomy of Culture." In Sociological Theory 9: 53-69. KnoIT-Cetina, Karin, Aaron Cicourel (Hg.) 1981. Advances in Social Theory and Methodology. Toward an Integration of Micro and Macro Sociology. London: Routiedge and Keagan Paul. Kroeber, Arnold L., Talcott Parsons. 1958. "The Concept of Culture and Social Sytem." In American Sociological Review 23: 582-583. Kruse, Volker. 1995. Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lamont, Michele. 1992. Money, Morals and Manners. The Culture of the French and the American Upper Middle Class. Chicago: Chicago University Press. Lemert, Charles (Hg.) 1981. French Sociology. Rupture and Renewal Since 1968. New York: Columbia University Press. Lepenies, Wolf. 1981. "Einleitung. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identitiit der Soziologie." In W. Lepenies (Hg.) Geschichte der Soziologie Bd. I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. - 1985. Die drei Kulturen. Miinchen: Hanser. Lepsius, M. Rainer. 1979. "Die Entwicklung der Soziologie nach dem 11. Weltkrieg." In Giinther Liischen (Hg.) Deutsche Soziologie seit 1945. Sonderheft 21 der KZfSS. Opladen: Westdeutscher Verlag. Levine, Donald. 1981. ,,simmels EinfluB auf die amerikanische Soziologie." In Wolf Lepenies, (Hg.) Geschichte der Soziologie Bd. 4. Frankfurt a. M. : Suhrkamp. - 1995. Visions of the Sociological Tradition. Chicago: Chicago University Press. - 1996. "On the National Question in Sociology." In Schweizerische Zeitschrift flir Soziologie 22: 13-17. Lichbach, Mark Irving, Alan S. Zuckerman (Hg.) 1997. Comparative Politics. Cambridge: Cambridge University Press. Lichtblau, Klaus. 1997. Kulturkrise und Soziologie urn die Jahrhundertwende. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas. 1984. Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. - 1997. Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Biinde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mannheim, Karl. 1932/33. "Review of Stuart Rice: Methods in the Social Sciences." In American Journal of Sociology 38: 273-282. March, James G., Johan Olson. 1989. Rediscovering Institutions. New York, London: The Free Press. Mayntz, Renate. (1970). "Kritische Bemerkungen zur funktionalistischen Schichtungstheorie." In David V. Glass, Rene Konig (Hg.) Soziale Schichtung und soziale Mobilitiit. Sonderheft 5 der Kolner Zeitschrift flir Soziologie und Sozialpsychologie. Koln Opladen: Westdeutscher Verlag Mayntz, Renate et al. (Hg.). 1988. Differenzierung und Verselbstiindigung. Zur Entwicklung gesellschaftIicher TeiIsysteme. Frankfurt am Main, New York: Campus. Meja, Volker, Dieter Misgeld, Nico Stehr (Hg.) 1987. Modern German Sociology. New York: Columbia University Press. Merton, Robert King. 1968. Social Theory and Social Structure. New York: Free Press. Meyer, John W., Brian Rowan. 1981. "Institutionalized Organisations: Formal Structures as Myth and Ceremony." In American Journal of Sociology 83: 340-363. Mills, Charles. W. 1967. "Grand Theory." In Nicholas Demerath, Richard A. Peterson (Hg.) System, Change and Conflict. New York: The Free Press. Mohan, Ray P., Artur S. WiIIke (Hg.) 1994. International Handbook of Contemporary Developments in Sociology. London: ManseII.

Die amerikanische Soziologie

33

Moore, Barrington. 1966. The Social Origins of Dictatorship and Democracy. Boston: Beacon Press. MUhlfeld, Claus, Michael Schmid (Hg.) 1971. Soziologische Theorie. Hamburg: Hoffman &Campe. MUller, Hans-Peter. 1983. Wertkrise und Gesellschaftsreform. Stuttgart: Enke. - 1992...German Sociology at the Beginning of the 90s." In Schweizerische Zeitschrift fUr Soziologie 3: 751-762. - 1993. Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs Uber soziale Ungleichheit. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. - 1994...Kultur und Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer neuen Kultursoziologie." In Berliner Journal fUr Soziologie 4: 135-156. - 1997 ...Grand Theory or Middle Range Theory? An Old Distinction Revisited." Paper presented at the Conference ..A Legacy of ,Verantwortungsethik'. TaIcott Parsons' ,Structure of Social Action after Sixty Years' .. at the University of Heidelberg. MS. New York. MUller, Hans-Peter, Michael Schmid (Hg.) 1998. Norm, Herrschaft und Vertrauen. Beitrage zu James Colemans Grundlagen der Sozialtheorie. Opladen: Westdeutscher Verlag. MUnch, Richard. 1982. Theorie des Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. - 1993 ...The Contribution of German Social Theory to European Sociology." In Birgitta Nedelmann, Piotr Sztompka (Hg.) Sociology in Europe: In Search of Identity. Berlin, New York: Waiter de Gruyter. - 1995 ...A Response to J. Alexander." In Schweizerische Zeitschrift fUr Soziologie 21: 447-555. MUnch, Richard, Neil J. Smelser (Hg.) 1992. Theory of Culture. Berkeley, Los Angeles: Berkeley University Press. Nedelmann, Birgitta, Pjotr Sztompka. 1993 ...Introduction." In Birgitta NedeJmann, Pjotr Sztompka (Hg.) Sociology in Europe: In Search of Identity. Berlin, New York: WaIter de Gruyter. North, Douglas. C. 1990. Institutions, Institutional Change and Economic Performance. Cambridge: Cambridge University Press. Oberschall, Anthony (Hg.) 1972. The Establishment of Empirical Sociology: Studies in Continuity, Discontinuity and Institutionalization. New York: Harper & Row. Park, Robert E., Ernest W. Burgess (Hg.) 1921. Introduction to the Science of Sociology. Chicago: Chicago University Press. Parsons, TaIcott. 1937. The Structure of Social Action. New York: Free Press. - 1947. Max Weber. The Theory of Social and Economic Organization. New York: Oxford University Press. - 1950...The Prospects of Sociological Theory." In American Sociological Review 15: 316. - 1964...Introduction." In Max Weber. The Theory of Social and Economic Organization. New York: Oxford University Press. - 1980...The Circumstances of my Encounter with Max Weber." In Robert K. Merton, Mathilde W. Riley (Hg.) Sociological Traditions from Generation to Generation. Norwood: Ablex. Parsons, TaIcott, Gerald Platt. 1973. The American University. Cambridge: Harvard University Press. Perrow, Charles. 1986. Complex Organizations: A Critical Essay. New York: McGrawHill. Peterson, Richard A. 1976. The Production of Culture. Beverly Hills: Sage. - 1979...Revitalizing the Cultural Concept." In Annual Review of Sociology 5: 137-166.

34

Hans-Peter Muller und Steffen Sigmund

Powell, Waiter, Paul DiMaggio (Hg.) 1991. The New Institutionalism in Organizational Analysis. Chicago: Chicago Univerity Press. Putnam, Robert D. 1993. Making Democracy Work. Princeton: Princeton University Press. Riemer, Svend. 1981. "Die Emigration der deutschen Soziologen nach den Vereinigten Staaten." In Wolf Lepenies (Hg.) Geschichte der Soziologie Bd. 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rtischemeyer, Dietrich et al. 1992. Capitalist Development and Democratic Change. Chicago: University of Chicago Press. Scheuch, Erwin K. 1990. "Von der deutschen Soziologie zur Soziologie in der Bundesrepublik." In Osterreichische Zeitschrift ftir Soziologie 15: 30-50. Schimank, Uwe. 1985. "Der mangelnde Akteurbezug systemtheoretischer ErkHirungen gesellschaftlicher Differenzierung." In Zeitschrift ftir Soziologie 14: 421-434. - 1996. Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. Opladen: Leske + Budrich. Schluchter, Wolfgang. 1979. Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Ttibingen: MohrlSiebeck. Schluchter, Wolfgang (Hg.) 1980. Verhalten, Handeln und System. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schudson, Michael. 1984. "How Culture Works. Perspectives from Media Studies for the Efficacy of Symbols." In Theory and Society 18: 152-180. Scott, W. Richard, John W. Meyer (Hg.) 1994. Institutional Environments and Organizations. Thousand Oaks: Sage. Sewell, Jr., William H. 1980. Work and Revolution in France. New York: Cambridge University Press. - 1992. "A Theory of Structure: Duality, Agency and Transformation." In American Journal of Sociology 98: 1-29. Sigmund, Steffen. 1998. "Soziologen in der Gesellschaft - ratlos?" In Berliner Journal flir Soziologie 8: 421-426. - 1999. Die Strukturierung der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag. Skocpol, Theda. 1979. States and Social Revolutions. New York: Cambridge University Press. Smelser, Neil l. 1988. "Introduction." In N. Smelser (Hg.) Handbook of Sociology. London: Sage. Smelser, Neil l., Richard Swedberg (Hg.). 1994. The Handbook of Economic Sociology. Princeton: Princeton University Press. Smith, Philip. (Hg.) 1998. The New American Cultural Sociology. Cambridge: Cambridge University Press. Sombart, Werner. 1923. Soziologie. Berlin: Pan. Srubar, IJya. 1988. Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheorie von Alfred Schtitz und ihr anthropologischer Hintergrund. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Steinmo, Sven, Kathleen Thelen, Frank Longstreth. 1992. Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analyses. Cambridge: Cambridge University Press. Strauss, Anselm. 1978. Negotiations: Context, Process and Social Order. San Francisco: Jossey-Bass. Swidler, Ann. 1986. "Culture in Action. Symbols and Strategies." In American Sociological Review 51: 279-286. Thompson Michael, Richard Ellis, Aaron Wildavsky. 1990. Cultural Theory. Boulder: Westview Press. Tilly, Charles. 1978. From Mobilization to Revolution. Reading, Mass.: Addison-Wesley. Tjaden, Karl H. (Hg.) 1971. Soziale Systeme. Neuwied: Luchterhand. Turner, Bryan S. 1990. "The Two Faces of Sociology: Global or National?" In Theory, Culture and Society 7: 343- 358.

Die amerikanische Soziologie

35

- 1996. "Sociological Theory in the Tension between Globalization and Localization: The MUnch-Alexander Debate." In Schweizerische Zeitschrift flir Soziologie 22: 19-23. Turner,lonathan. 1985. "In Defense of Positivism." In Sociological Theory 4: 32-44. - 1989. "Sociology in the United States: Its Growth and Contemporary Profile." In Nicolai Genov (Hg.) National Traditions in Sociology. London: Sage. Wallerstein, Immanuel. 1974. The Modern World System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World Economy in the Sixtheenth Century. New York: Academic Books. Wenzel, Harald. 1988. George Herbert Mead zur Einflihrung. Hamburg: Junius. - 1991. Die Ordnung des Handelns. Ta\cott Parsons Theorie des allgemeinen Handlungssystems. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. White, Harrison. 1992. Identity and Control. A Structural Theory of Social Action. Princeton: Princeton University Press. Williamson, Oliver E. 1975. Markets and Hierarchies. New York: Free Press. - 1985. The Economic Institutions of Capitalism. New York: Free Press. Wuthnow, Robert. 1987. Meaning and the Moral Order. Explorations in Cultural Analysis. Berkeley: University of California Press. Zapf, Wolfgang (Hg.) 1969. Theorien sozialen Wandels. Koln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch. Zucker, Lynne (Hg.) 1988. Institutional Patterns and Organizations. Cambridge, Mass.: Ballinger.

I. Theoretische Grundorientierungen

Die Zukunft der Soziologie: ZentrifugaliUit, Konflikt, Akkomodation Neil J. Smelser

1988 erschien ein Buch, das denselben Titel trug wie das heutige Symposium: Die Zukunft der Soziologie (BorgattalCook 1988a). Darin blickten etwa dreiBig Soziologen zuriick in die Vergangenheit, untersuchten die Gegenwart und sp1ihten in die Zukunft. Einige der Beitrage beschaftigten sich mit dem Fach als Ganzes, andere behandelten spezielle Ansatze wie die historische Soziologie, institutionenbezogene Teilbereiche wie die Medizinsoziologie, Teilgebiete, die sich mit sozialer Kontrolle und sozialem Wandel beschaftigen, oder aber auch mit der sozialen Schichtung, zum Beispiel den Rassenbeziehungen. Es war nicht iiberraschend, daB sich die Zukunft der Soziologie wie der sprichwortliche Elefant ausnahm, der von verschiedenen Leuten, die jeweils nur eines seiner K6rperteile ertasten, ganz unterschiedlich beschrieben wird, oder wie ein Tintenklecks im Rorschach-Test erschien, der zwar nur undeutliche objektive Merkmale aufweist, beim Betrachter aber eine Vielzahl idiosynkratischer Assoziationen auslOst. Der Leser jener Aufsatzsammlung bekommt den Eindruck, daB die Soziologie gleichzeitig an den Randern ausfranst (BorgattalCook 1988b), an theoretischer Vitalitat einbiiBt (Turk 1988) und vor der angewandten Forschung gerettet werden muB (Berk 1988). Auch die Zukunft der Teilgebiete wird sehr unterschiedlich beschrieben: die Demographie macht einen prosperierenden Eindruck (Pullum 1988), die Massenkommunikationsforschung scheint sich von ihrem Tief zu erholen (BallRokeach 1988), die Stadtsoziologie bleibt gegeniiber ihrem Gegenstand schwerflillig, in methodischer Hinsicht aber aktiv (Lee 1988), die Erziehungssoziologie wird anwendungsorientierter (Gordon 1988) und die Sozialpsychologie wird sich neben den Kognitionen nun auch mit Affekten, Emotionen und Motivation beschiiftigen (CookIPike 1988). Interessanterweise kam kein einziger der Seher zu dem SchluB, daB sich die Soziologie in Richtung Integration oder Synthese bewege. Statt dessen wurden allerorten gegenteilige Tendenzen ausgemacht, die eigentlich im Mittelpunkt jeder Zukunftsprognose dieses Faches stehen, auch in jener, die ich in diesem Aufsatz entwickeln mochte.

40

Neil1. Smelser

Warum die Prognosen so sehr differieren, ist leicht zu erkliiren. Zum einen werden sich die verschiedenen Teilgebiete zukiinftig noch stiirker unterscheiden, hinsichtlich ihrer Entwicklung und ihrer Position innerhalb des Faches. Zum anderen wird jeder Zukunftsdeuter von seinen eigenen Praferenzen und Vorurteilen beeinfluBt, was sich urn so stiirker auswirkt, als man iiber die Zukunft tatsachlich nichts weiB. Und schlieBlich basiert eine solche Vorhersage vor allem auf selektiven Annahmen iiber StabiliHit oder Veranderung von Parametern, die das Fach und seine Teilgebiete beeinflussen. !ch werde in diesem Aufsatz eine eigene Prognose wagen, und zwar in drei Schritten: als erstes werde ich allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen herausarbeiten, von denen die Soziologie beeinfluBt wird, darunter auch Tendenzen in der akademischen Ausbildung. Davon ausgehend will ich zweitens auf die generelle Richtung, in die sich das Fach entwickeln k6nnte, hinweisen. Und drittens geht es urn m6g1iche Konfliktpunkte und Ansatze fUr Akkomodation und Integration. Das von mir entworfene Bild wird vielschichtig sein, mit einer Vielzahl unabhangiger, konvergenter und divergenter Tendenzen. !ch beziehe mich vor allem auf die amerikanische Soziologie, weil ich sie am genauesten kenne. Aber einige meiner Beobachtungen lassen sich verallgemeinern und - in unterschiedlichem AusmaB - auf andere Lander iibertragen.

Einige Aspekte gesellschaftlichen Wandels Die Soziologie hat von jeher auf soziale Krafte und Veranderungen reagiert und war andererseits immer einem gewissen gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, weil ihr Gegenstand - Sozialverhalten, Institutionen und Kultur - gesellschaftlich sensible Bereiche beriihrt, in normativer, ideologischer wie moralischer Hinsicht. Dariiber hinaus verandert der soziale Wandel auch laufend den Forschungsgegenstand der Soziologie selbst. In ihren Analysen und Erklarungsmodellen muB sie daher versuchen, mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten. Wenn man in die Zukunft der Soziologie blicken will, muB man daher Art und Richtung jener Veranderungen spezifizieren, die am ehesten die Entwicklung des Faches bedingen werden. In diesem Sinne lassen sich folgende Tendenzen unterscheiden: Der bereits seit lahrhunderten im Gang befindliche ProzeB der gesellschaftlichen Differenzierung wird anhalten. Die immer weiter wachsende Komplexitat wird auch in Zukunft Integrationsprobleme zur Folge haben und die Bedeutung integrativer Agenturen (z.B. Regierungen) stiirken. Die traditionellen Aufgaben des Staates - Sozialleistungen, Verwaltung, und aktive Wirtschaftspolitik - werden auch in Zukunft nicht verschwinden. Deshalb wird das von Jiirgen Habermas (1975) beschriebene "politisch administrative System" ebenfalls weiterbestehen, auch wenn vie 1-

Die Zukunft der Soziologie

41

leicht die Zweifel zunehmen, ob sein EinfluB auf die Lebensbedingungen der Menschen wirklich so bedeutend ist. Die Internationalisierung von Produktion, Handel, Migration und Verkehr wird weiter zunehmen, und mit ihr die wechselseitige Abhangigkeit der einzelnen Staaten. Die Nationalstaaten geraten dadurch in eine paradoxe Situation: Einerseits entgleitet den Regierungen die direkte Kontrolle iiber die Rahmenbedingungen von Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr, andererseits fordert man von ihnen verstiirkte Aktivitaten, urn den gesellschaftlichen Folgen der Internationalisierung entgegenzuwirken. (Die se Entwicklungen - und die zwei bereits erwahnten - legen nahe, daB die Bedeutung des Staates nicht abnehmen wird, und das trotz der Tendenz zu Deregulierung und Privatisierung in den westlichen Marktwirtschaften und der EinfUhrung marktwirtschaftlicher Prinzipien in ehemals sozialistischen Landern). Im wirtschaftlichen Bereich bleiben neue Technologien - vor allem Informationstechnologien - auf dem Vormarsch und werden - in unterschiedlichem AusmaB - die Dominanz des Dienstleistungssektors sowie Produktivitat und Freizeitanteil noch erhOhen. Die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung - inklusive der soziologischen - wird dort bestehen bleiben, wo sie bereits vorhanden ist, und dort zunehmen, wo sie noch diirftig ist. Grundlage dieser Entwicklung ist der fortgesetzte weltweite Drang nach Demokratisierung inklusive freier MeinungsauBerung und ungehinderter Forschung. Fortschritte in dieser Richtung werden langfristig nicht aufzuhalten sein, trotz Phasen des Riickfalls und der Repression. Gleichzeitig werden Regierungen auch verstiirkt Forschungsmoglichkeiten fUr Wissenschaftler bereitstellen und verbessern. In der Regel werden si ch die Regierenden von der Wissenschaft Daten und Erkenntnisse erhoffen, die fUr sie von Nutzen sind. Doch die politischen Aufgaben sind so komplex, daB unklar ist, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse zu ihrer Losung beitragen konnen, und zwar aufgrund der ersten drei eben genannten gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen. Diese okonomischen und politischen Veranderungen werden den Erwartungsdruck gegeniiber der Wissenschaft nach Zweckdienlichkeit erhOhen und die Bedeutung angewandter Forschungsinstitute sowie praxisnaher Ausbildung stiirken; gleichzeitig wird aber auch das Riickzugsgefecht der Universitaten und Colleges hinsichtlich ihres Auftrags zum grundsatzlichen Streben nach Wissen und Wahrheit schiirfer werden. Diese verschiedenen Tendenzen sind bedeutende Determinanten der zukiinftigen Entwicklung der Soziologie, aber auch anderer sozialwissenschaftlicher Facher. Im weiteren Verlauf werde ich auf die Bedeutung der einzelnen Aspekte naher eingehen. Einschrankend muB gesagt werden, daB ihr EinfluB allgemeiner Natur ist - weshalb keine exakten Vorhersagen moglich sind -

42

Neil J. Smelser

und daB er durch eine komplexe Wechselwirkung mit der Tradition des Faches und seiner autonomen Entwicklung vermittelt wird.

Zentrifugalitiit und ahnliche Tendenzen Viele der m6glichen Entwicklungen in der Soziologie lassen sich mit dem Begriff "ZentrifugaliHit" umschreiben, ein Konzept, das Spezialisierung, Differenzierung und Fragmentierung beinhaltet und, wie bereits angedeutet, sowohl von auBeren Faktoren als auch von fachinternen Prozessen beeinfluBt wird. Anwendungsorientierung

Die meisten der eben erwahnten Tendenzen sprechen flir eine verstarkte Anwendungsorientierung der Soziologie. GroBen Anteil daran haben die Forderungen der Politik und deren WissenschaftsfOrderung. Aber auch in anderen groBen Organisationen kann der Bedarf an Verhaltens- und Sozialwissenschaftlern steigen. Dadurch wird wahrscheinlich die schon lange wahrende Entfremdung, wenn nicht sogar v6llige Trennung von Theorie und Praxis bzw. zwischen Grundlagen und Anwendung noch verscharft werden. Diese Entwicklung wird sich in den Arbeitsmarktstatistiken niederschlagen, weil mehr Soziologen ihren Lebensunterhalt in der Praxis verdienen werden - an staatlichen Stellen, an Fachschulen, in anwendungsorientierten Forschungsinstituten, aber auch in der Wirtschaft und anderen Organisationen 1 - als an Universitaten und Colleges. Vielleicht erleben wir tatsachlich eine deutlichere organisatorische Differenzierung: Auf der einen Seite Theoretiker und Grundlagenforscher an den Universitaten - und andererseits Empiriker und angewandt Forschende an Fachschulen und in anderen auBeruniversitaren Organisationen. Diese Differenzierung mag sich auch bis in die Berufsverbande und Soziologievereinigungen erstrecken und die Kluft zwischen akademischer und angewandter Soziologie vertiefen2 •

2

Die einzige Ausnahme unter den amerikanischen Fachschulen bilden vielleicht die Medizinschulen, die sich noch nicht von der EntUiuschung liber die heftigen Bemlihungen in den 50er und 60er Jahren, Sozial- und Verhaltenswissenschaftler in ihre Lehrkorper zu integrieren, erholt haben. Flir die USA kann das bedeuten, das die "American Sociological Association", die lange von akademischen Soziologen dominiert wurde, sich nun eher in die Richtung der "American Psychological Association" entwickelt, in der klinisch oder sonstwie angewandt arbeitende Psychologen vorherrschen.

Die Zukunft der Soziologie

43

Der Zwang zum permanenten Schritthalten mit dem gesellschaftlichen Wandel

Wie bereits erwahnt, ist die Geschichte der Soziologie einesteils von der Anpas sung an den sozialen Wandel und die dadurch entstehenden Probleme gepragt. Hier nun einige Beispiele dieses Mechanismus: Im Bereich der Familiensoziologie werden neue Forschungsschwerpunkte entstehen: Stiefelternschaft, Haushalte mit mehreren Berufstatigen, W 0chenend-Ehen und die familialen Auswirkungen neuer Beschaftigungsformen wie die Heimarbeit am Computer. Die Religionssoziologie wird sich verstarkt mit dem Fundamentalismus und anderen Phanomenen auseinandersetzen, welche die "Sakularisierungshypothese" der Modernisierungstheorie in Frage stellen, aber auch mit neuen Formen religioser Konflikte sowie verschiedenen Manifestationen "privatisierter" Religionen (Shupe/Hadden 1988). Im Bereich der Medizinsoziologie wird man sich zunehmend mit den Problemen groBer medizinischer Organisationen, den Auswirkungen eines Uberangebots an Arbeitskraften und den zukunftigen okonomischen und ethischen Folgen der Medizintechnologie fUr die Praxis zuwenden. Die Soziologie sozialer Bewegungen wird sich noch starker von der Untersuchung revolutionarer Bewegungen abwenden und statt dessen soziale Bewegungen als zielorientiertes politisches Verhalten und Bestandteil der burgerlichen Gesellschaft auffassen, und beobachten, wie der Staat und andere gesellschaftliche Akteure Mechanismen institutionalisieren, urn auf diese Bewegungen zu reagieren und sich ihnen anzupassen. In der theoretischen Soziologie werden der Staat als System, die Bewaltigung der Instabilitat komplexer Gesellschaften sowie soziale Integration wichtige Themen bleiben. Auch erscheint es wahrscheinlich, daB der Marxismus weiter an Boden verlieren wird, da die okonomischen Klassen als die Basis fUr Schichten, GruppenbewuBtsein und gesellschaftlichen Protest weiter schwinden werden. Und schlieBlich wird sich die theoretische Soziologie auch auf die Phanomene wechselseitiger internationaler Abhangigkeit, internationaler Konflikte und Globalisierung konzentrieren. Diese letzte Prognose stutzt sich vor allem auf die Tatsache, daB die internationale Dimension weiter an Bedeutung gewinnen (Europa stellt ein deutliches Beispiel fur diese Entwicklung dar) und daB die Wissenschaft sich darum bemuhen wird, die bestehenden Dependenz-Theorien und die Auffassung von der Welt als umfassendem Sozialsystem (deren geschichtliche Besonderheit und entsprechenden Beschrankungen bereits anerkannt sind) weiter zu modifizieren und noch uber sie hinauszugehen. Angesichts neu entstehender sozialer Probleme wird sich die Forschung auch dem internationalen Sextourismus, der gesellschaftlichen Epidemiologie von HIV, neuen Formen beruflicher und technologischer Risiken und der gesellschaftlichen Dimension der UmweltzerstOrung zuwenden.

44

Neil J. Smelser

In alIen diesen Fallen wirken zentrifugale Krafte, weil in soziologischen Teilgebieten neue, langfristige Forschungsschwerpunkte entstehen mit neuen, spezialisierten Untergruppen von Forschern mit gemeinsamen Interessen, und in einigen Fallen werden sich sogar vollig neue Teilgebiete bilden. Diese Entwicklung wird den traditionellen Hang zu Spezialisierung und Fragmentierung innerhalb der Soziologie noch verstarken.

Komplexitatssteigerung durch neue Theorien Theoretische Turbulenzen der 60er und 70er Jahre fiihrten in verschiedenen soziologischen Teilgebieten zu neuen Ansatzen (zum Beispiel die Dependenz-Theorie oder die Ethnomethodologie) und zur Wiederbelebung alterer Theorien (beispielsweise neomarxistische und neoweberianische Ansatze). AuBerdem neigt jede neue Theorie dazu, in ein bestimmtes Teilgebiet einzudringen und abweichende bzw. konkurrierende Zugange zum jeweiligen Gegenstand zu generieren. Beispiele lieBen sich hierfiir unter anderem in den Bereichen Familie, Devianz und Sozialokologie finden (Smelser 1988: 824). Da die Wechselwirkung zwischen neu entstehenden Themen und Teilgebieten und sich herausbildenden theoretischen Schwerpunkten und Verlagerungen rasch fortschreitet, wird dieser ZersplitterungsprozeB anhalten und eine Art zweidimensionales Gitter zur Folge haben, wobei die eine Dimension die Teilgebiete und die andere die theoretischen Ansatze darstellen. Aktivitaten an den Randern Angesichts der Tendenz zu Spezialisierung und Zersplitterung konnte man annehmen, daB die Soziologie daran ginge, Spezialgebiete wie Demographie, Sozialpsychologie oder Stadtentwicklung und -wandel als separate Organisationseinheiten (z.B. als universitare Fachbereiche) auszugliedern. Ahnliches geschah beispielsweise in der Biologie, wo sich die Teilgebiete Biochemie, Genetik, Biophysik und Molekularbiologie zu neuen Fachbereichen entwickelt haben. In der kurzen Geschichte der Sozialwissenschaften ist dergleichen noch kaum vorgekommen. Ein moglicher Kandidat fiir eine Abspaltung, die Demographie, ist bei einigen Gelegenheiten als unabhangiger Fachbereich organisiert worden, doch nur in wenigen Fallen wurde daraus eine Dauereinrichtung. Die Demographen neigen eher dazu, sich bereits existierenden Fachbereichen (Soziologie, Wirtschaftswissenschaft, Statistik) oder Fachschulen (fiir Medizin oder offentliche Gesundheit) anzuschlieBen, statt neue Einheiten zu bilden. Warum die Organisationsstrukturen so starr sind, ist nicht vo1lig klar, die Griinde liegen aber wahrscheinlich in der institutionellen Tragheit der Universiiliten, dem Selbsterhaltungstrieb der Fachbereiche und der Notwendigkeit einer abgrenzenden Eti-

Die Zukunft der Soziologie

45

kettierung der Wissenschaftsbereiche, urn auf dem Arbeitsmarkt ffir Sozialwissenschaftler bestehen zu konnen. Im Vergleich dazu herrscht an den intellektuellen Grenzen des Faches mehr Bewegung. Die Geschichte der Soziologie offenbart einen kontinuierlichen Wissensexport in andere Facher. Ein Beispiel dafUr ist das Entstehen einer verhaltensorientierten Politikwissenschaft in den 50er und 60er Jahren, die sich sehr stark aufmethodische Verfahren (z.B. die Umfrage), spezifische theoretische Begriffe (Modernisierung) und eine generelle theoretische Orientierung (strukturfunktionalistisch) stiitzte - dies alles lieh man sich von der Soziologie aus. Ahnlich verhielt es sich bei der in den letzten drei Jahrzehnten aufgekommenen und sich etablierenden neuen Sozialgeschichte und in jiingerer Vergangenheit auch bei der neueren Geschichte der Familie, die sich soziologischer Paradigmen und Theorien sowie demographischer Methoden bediente. Solche Vorgange scheinen die fachspezifischen Grenzen sowohl der Soziologie als auch anderer Disziplinen verschwimmen zu lassen, so daB sich die politische und die historische Soziologie nicht eindeutig einem Fach zuordnen lassen. Es gibt aber auch Beispiele, wo Wissen in die Soziologie importiert wurde. Die soziologische Beschaftigung mit Familie und Sozialisation der 40er und 50er Jahre war von der Psychoanalyse und der aus der Anthropologie stammenden Kultur- und Personlichkeitsforschung beeinfluBt. Homans hat fUr seine verhaltenstheoretische Soziologie explizit psychologische Lerntheorien und okonomische Theorien iibernommen (Homans 1974). Konkretere Beispiele sind die Ubernahme von Konzepten aus der Ehe- und Familienforschung durch den "National Council on Family Relations", die Aneignung der Industriesoziologie durch Psychologen und die Verlagerung der Erforschung von formalen Organisationen von der Soziologie hin zu Fachschulen fUr Betriebswirtschaft. Im Bereich der soziologischen Theorie stellen die Arbeiten Gary Beckers zur Zeit vielleicht die groBte Herausforderung dar (Becker 1976). Becker ist Wirtschaftswissenschaftler an der Universitat von Chicago und versucht seit zwei Jahrzehnten, okonomische Prinzipien auf viele andere Bereiche zu iibertragen, die urspriinglich nicht Gegenstand wirtschaftswissenschaftlicher Betrachtung waren: z.B. Rassendiskriminierung, Verbrechen, Erziehung, Mutterschaft oder Heirat. Das Grundprinzip seiner Methode ist es, dauerhafte Praferenzen zu postulieren und die Auswirkungen rationaler Wahl und Kalkulation im Lichte dieser Praferenzen zu analysieren. Becker hat in sein Programm einige neue Elemente integriert, wie beispielsweise die Kosten der Informationssuche, wodurch klassische Annahmen iiber die vollstandige Kenntnis der Marktbedingungen ersetzt wurden. Bisher waren die Einfliisse okonomischer Theorien auf die Soziologie recht bescheiden. Homans' Theorie ist eine Facette der "mikrosoziologischen Revolution" der 60er und 70er Jahre, hat aber weder bedeutende theoretische Arbeiten hervorgebracht noch wurde sie von anderen gewinnbringend empi-

46

Neil J. Smelser

risch eingesetzt. Die Untersuchung "kollektiver Entscheidungen" (die Analyse sozialer Strategien anhand modifizierter, aus der Wirtschaftswissenschaft stammender Prinzipien) hat einige Soziologen angesprochen, dominiert wurde dieser Forschungsbereich aber von Politologen und Wirtschaftswissenschaftlern. Der EinfluB Beckers auf die Soziologie war vor allem bei den Demographen spiirbar - besonders jenen, die sich mit Fertilitat beschaftigten -, recht begrenzt war er indes im Bereich Familie, Erziehung oder Verbrechen. Anderseits hat sich sein Ansatz auch negativ ausgewirkt, da einige Soziologen recht feindselig darauf reagierten. Jedenfalls ist zu erwarten, daB sich die Diskussion iiber okonomische Theorien in der Soziologie bald freundlicher gestalten wird. James Colemans Arbeiten iiber Rational Choice, die Anwendung einer rationalen Entscheidungslogik bei der Beschaftigung mit Netzwerken und anderen Bereichen und eine neue Zeitschrift namens "Rationality and Society" werden die Aufmerksamkeit auf diese Theorierichtung lenken. AuBerdem wird die gerade in der Entstehung begriffene Soziookonomie, die si ch vor allem in den Arbeiten Etzionis (1988) abzeichnet und teilweise die Rational Choice-Theorie und den "okonomischen Imperialismus" attackiert, die Debatte anheizen. Es ist trotzdem nicht zu erwarten, daB dieses theoretische Fremdgut viel soziologisches Terrain erobern konnen wird. Das Fach ist groB, komplex und theoretisch betrachtet ein pluralistisches Gebilde. Die meisten Soziologen werden auch zuktinftig ihren Vorlieben folgen und/oder eine Art theoretischen Eklektizismus beibehalten. Trotzdem wird ein Dialog iiber die VerheiBungen und Begrenzungen rationaler Modelle ein wichtiger Bestandteil der soziologischen Landschaft des nachsten Jahrzehnts sein. Interdisziplinare Zusammenarbeit

Akademische Facher wie die Soziologie besitzen eine spezifische institutionelle Wirklichkeit, die Jahr fUr Jahr reproduziert und erneuert wird: durch Lehrveranstaltungen fiir Studenten, die Verleihung akademischer Titel, ihre Legitimation verteidigende Fachbereiche, die innerhalb der Universitaten iiber bestimmte Ressourcen verfiigen, durch Forschungsinstitute und wissenschaftliche Zeitschriften mit fachspezifischen Namen, und nach fachspezifischen Prinzipien strukturierte Berufsvereinigungen. Die institutionelle Aufrechterhaltung akademischer Facher entwickelt eine solche Eigendynamik, daB wir geneigt sind, diese Facher fast als "soziale Tatbestande" im Durkheimschen Sinn zu betrachten. Doch viele Arbeiten von Sozialwissenschaftlern widersprechen dieser Sicht, denn wenn man sie eingehender betrachtet, erkennt man, daB es darin urn Problemstellungen geht, die sich nicht genau einer Disziplin zuordnen lassen: beispielsweise die unterschiedliche Verteilung von Belohnung und

Die Zukunft der Soziologie

47

Macht in der Gesellschaft oder Ursprung und Auswirkungen revolutionarer Bewegungen. Wissenschaftliche Arbeiten solcher Art sind interdisziplinar (oder multidisziplinar), weil die Forscher Daten, Konzepte und Theorien aus verschiedensten Fachern verwenden, theoretische Ansatze entwickeln, die eine Synthese verschiedenartigster Quellen darstellen oder sogar tatsachlich mit Kollegen aus anderen Fachern zusarnmenarbeiten. In einer neueren Untersuchung vielversprechender Forschungsansatze in den Verhaltens- und Sozialwissenschaften karn eine von der "National Academy of Sciences/National Research Council" (GersteinlLuce/SmelserlSperlich 1988) ernannte nationale Forschungsgruppe zu dem Ergebnis, daB die innovativsten und dynamischsten dieser Ansiitze interdiszipliniiren Charakter hatten. Die Soziologie betreffende Beispiele dieses Berichts umfaBten die Themen Gesundheitsverhalten, Information und Entscheidungsfindung, und die Internationalisierung des sozialen, okonomischen und politischen Lebens. Die Forschungsgruppe sprach die Empfehlung aus, daB Wissenschaftsforderung und die Entwicklung der Forschungsinfrastruktur in den kommenden Iahrzehnten auch interdisziplinare Gesichtspunkte beriicksichtigen sollten. Aus Sicht einer akademischen Wissenschaft ist interdiszipliniire Zusammenarbeit ein Teil jener zentrifugalen Kriifte, die ich angesprochen habe. Interdisziplinaritat bedeutet eine Aufweichung strenger Fachbezogenheit zugunsten umfassenderer Losungen wissenschaftlicher Probleme. Zudem erschwert sie es, Forschungsarbeiten einem bestimmten Fachgebiet zuzuordnen und ein Fach wie die Soziologie als ein unterscheidbares, erkennbares "Ding" zu definieren. FaSt man das bisher Gesagte zusarnmen, scheint es, als ob die verschiedenen zentrifugalen Krafte zukiinftig noch zunehmen werden: die Anwendungsorientierung, das Schritthalten mit gesellschaftlichen Veranderungen und neu auftauchenden sozialen Problemen, der Theorienpluralismus, das Ausfransen der Fachgrenzen, die Interdisziplinaritat. Sollte dies so sein, wird es noch schwieriger, die Soziologie und auch andere sozialwissenschaftliche Facher als unverwechselbare und eine geistige Einheit darstellende Gebiete zu charakterisieren. Die zentrifugale Diffusion wird weiterwirken, vor allem auch im Kontext der organisatorischen und institutionellen Wirklichkeit akademischer Fiicher und Berufsverbande, ihrem Hang zu Tragheit und Kontinuitat. Dadurch werden die Diskrepanzen und sogar Widerspriiche zwischen dem intellektuellen und dem institutionellen Gesicht der Soziologie noch verstiirkt werden.

Aspekte der Spannung und des Konflikts Wann immer die eben angefiihrten zentrifugalen Kriifte eine erkennbare theoretische Position, einen neuen Teilbereich, einen Forschungsbrennpunkt oder eine methodische Innovation hervorbringen, ist auch die Moglichkeit

48

Neil 1. Smelser

fiir inteIlektueIle und organisatorische Konflikte gegeben. Viele Soziologen, aber auch andere Wissenschaftler betrachten ihr Fach - ob sie damit nun richtig liegen oder nicht - als eine Art intellektuelles Revier, das man zu erweitern trachtet und das gegen Eindringlinge und Invasoren verteidigt werden muB. Auch gegeniiber den Spezialgebieten, mit denen sie sich identifizieren, haben sie ein iihnlich besitzergreifendes Verhiiltnis. Die Konflikte konnen aggressiven Charakter annehmen, vor allem auf Seiten derer, die sich fUr innovativ halten und ein Territorium erobern wollen, oder aber defensiyen Charakter, auf Seiten jener, die sich auf polemische Weise angegriffen oder sonstwie von ihren Konkurrenten bedriingt fUhlen. Was auf dem Spiel steht - die Beute der Gewinner, der Verlust der Unterlegenen - ist wissenschaftIiches und inteIlektueIles Renommee und eine wie auch immer geartete groBere Macht innerhalb des Faches. Vielleicht mehr Forschungsgelder, groBere Popularitiit bei den Studenten, EinfluB auf die Vergabe von Lehrstiihlen im Fachbereich, eine vorrangige Position bei wissenschaftlichen Konferenzen und mehr Moglichkeiten zum Publizieren. Bei diesen Konflikten werden Strategien eingesetzt, die die wissenschaftliche Qualitiit des eigenen Ansatzes, Forschungsgebietes oder der im Vergleich mit anderen bevorzugten Methode demonstrieren sollen. Oder man beweist mit Argumenten und/oder Behauptungen, daB das eigene Forschungsgebiet wissenschaftlich oder gesellschaftlich von Bedeutung ist; bzw., daB es "im Kommen" ist, jedenfalls den Zenit nicht schon iiberschritten hat wie die Forschungsfelder der anderen. Doch die Beweise sind in der Regel spiirlich und die aus dies en Strategien folgenden Aussagen lassen auch keine eindeutigen wissenschaftlichen Verifikationen oder Widerlegungen zu, was ihre Verwendung aber eher fordert. Weiter oben habe ich behauptet, daB aufgrund der veriinderten Bediirfnisse und Anspriiche von Politik und Gesellschaft, die empirischen Methoden und Zweckorientierungen sich in Richtung "Mainstream" entwickeln und Theorie und Grundlagenforschung in den Hintergrund treten wiirden. Allgemein betrachtet ist das sicher richtig, urn aber einen genaueren Vorgeschmack von den Brennpunkten zukiinftiger Konflikte und Spannungen zu bekommen, muB man sie in sich iiberschneidende Gegensatzpaare aufdroseln: Wissenschaftlich vs. humanistisch. Forschung und Ergebnisse werden entweder auf die normativen Grundsiitze des einen oder anderen WissenschaftsmodeIls bezogen; oder aber man orientiert sich an humanistischen Werten wie Gleichberechtigung, soziale Gerechtigkeit, Moral oder an anderen Dimensionen der Conditio Humana von Personen, Institutionen oder Gesellschaften, die man untersucht. Das erste Prinzip griindet sich auf den Wunsch der Soziologie, sich als Wissenschaft zu legitimieren, letzeres hat seinen Ursprung in den philosophischen und reformistischen Wurzeln der Soziologie.

Die Zukunft der Soziologie

49

Wertfrei vs. kritisch/engagiert. Diese Dimension ist dem Gegensatz "wissenschaftlich vs. humanistisch" sehr ahnlich, bezieht sich aber direkter auf die moralische Raltung des Forschers. Allgemeine Forschung vs. policy-orientierte Forschung. In der Praxis ist diese Unterscheidung nur schwer aufrechtzuerhalten und sollte wohl eher als eine Art Kontinuum betrachtet werden, je nachdem wie stark sich die Forschung an einem expliziten gesellschaftlichen Anliegen oder an einem policy-Problem orientiert. Beziiglich der Forschungsmethoden wird man vor allem unterscheiden zwischen quantitativ-statistischen Analysen systematisch erhobener Daten und einer Reihe anderer Verfahren, einschlieBlich ethnographischer Studien, Archiv- und Geschichtsforschung und der Methode der systematischen Darstellung in vergleichenden Gesellschaftsuntersuchungen. Auch im theoretischen Bereich kommt es zu einer Unterscheidung zwischen formal-mathematischen Theorien (beispielsweise die Ubernahme okonometrischer Theorien, Computersimulationen, etc.) und verschiedenen qualitativen Ansatzen zur Analyse der Geschichte soziologischen Denkens und der moralischen, politischen und ideologischen Dimensionen soziologischen Wissens. In alIen dies en Fallen ist zu erwarten, daB sich die Wagschale eher in Richtung der jeweils ersten Alternative neigen wird, weil sich die Soziologie immer noch urn wissenschaftliche Anerkennung bemiiht; aber auch aufgrund der Forderungen der Politik und anderer Institutionen nach quantitativer, angewandter und am offentlichen Interesse orientierter Forschung. Diese grundsatzlichen Probleme spielen sowohl beim Konflikt zwischen einzelnen Teilgebieten (z.B. Familiensoziologie, Erziehungssoziologie) als auch beim Konflikt zwischen verschiedenen Theorieansatzen (z.B. phanomenologische Soziologie, neomarxistische Soziologie) eine Rolle. Was die theoretischen Auseinandersetzungen angeht, habe ich den Eindruck, daB sich seit den 60er, 70er und 80er Jahren die Atmosphare verandert hat. Theoretische Konflikte gab es damals wie heute, aber der Ton scheint mittlerweile ein anderer geworden zu sein. Der Theoriebereich der amerikanischen Soziologie (und teilweise auch in anderen Landern) war damals gepragt von erbitterten polemischen Angriffen und Rechtfertigungen und der unterschwelligen Auffassung, die Konkurrenten wiirden exklusive Perspektiven ohne Chancen flir Anpassung oder Synthese vertreten. Reute hat man dagegen eher den Eindruck eines friedvollen Pluralismus, wonach die einzelnen Perspektiven sich gegenseitig tolerieren und nebeneinander bestehen. Es sind sogar leichte Anzeichen von Annaherung und Synthese auszumachen, auf die ich noch eingehen werde. "Friedvoller Pluralismus" bedeutet auch, daB keine bestimmte Perspektive eindeutig vorherrscht, wovon ich wirklich iiberzeugt bin, auch wenn manche das Gegenteil behaupten. Zudem glaube ich, daB diese subtilere wissenschaftliche Streitkultur in den nachsten Jahrzehnten wei-

50

Neil 1. Srnelser

terbestehen wird; und sei es nur deshalb, weil rnit der Institutionalisierung eines friedvollen Pluralisrnus die Erwartungshaltung einhergeht, daB die Vertreter neuer oder wiederbelebter theoretischer Ansiitze in erster Linie eine unter vielen Sichtweisen vertreten, ohne Anspruch auf theoretische Vorherrschaft.

Integration und Synthese Was ich bisher ausgefUhrt habe, wird rneiner Meinung nach die Zukunft soziologischen Arbeitens in den niichsten zehn oder zwanzig lahren hauptsiichlich bestirnrnen. Aber diese Prognose ware unvollstiindig, ohne ein paar gegenliiufige integrative oder synthetische Strornungen zu erwiihnen. Obschon schwiicher, sind sie nicht unwesentlich. Auch hier werde ich rnich vor allern auf die Lage in den Vereinigten Staaten beziehen, weshalb rneine Anrnerkungen nicht ohne weiteres auf andere Staaten iibertragbar sind. Die Thernen Integration und Synthese lassen sich auf zwei Ebenen diskutieren: organisatorisch/institutionell und intellektuell. Auf organisatorischer Ebene driingen viele Kriifte auf Kontinuitiit des Faches und Akkornodation divergenter Strornungen. Der wichtigste Aspekt ist hier vielleicht die Existenz der universitiiren Fachbereiche, die fUr die Ausbildung von Soziologen zustiindig sind. Die Fachbereiche werden ihre organisatorische Unabhiingigkeit innerhalb des universitiiren Rahrnens bewahren, zurnindest irn groBen und ganzen, und auch weiterhin unter der Bezeichnung "Soziologie" auftreten. Zudern bezeichnen sich jene Studenten, die dort ausgebildet wurden, in der Offentlichkeit als Soziologen; und zwar vor allern aus Wettbewerbsgriinden, weil ein Sozialwissenschaftler oh ne die se fachspezifische Bezeichnung, die iiber seine Ausbildung Auskunft gibt, auf dern Arbeitsrnarkt benachteiligt ist. Innerhalb der Fachbereiche lassen sich drei Anpassungstendenzen unterscheiden. Zurn einen ist es fUr einen Akaderniker an der Universitiit od er am College sehr schwierig, seinen Fachbereich zu verlassen, sich einern anderen anzuschlieBen oder als unabhiingiger Dozent innerhalb der Institution zu arbeiten. Zweitens fUhlen sich die Fachbereiche, die in der un iversitaren Prestigehierarchie rnoglichst weit oben rangieren wollen, genotigt, die ganze Bandbreite des Faches abzudecken und sich urn Vielfalt und Ausgewogenheit zu berniihen (urn darnit der Diversitiit theoretischer und rnethodischer Ansiitze gerecht zu werden). Und drittens sind die Fachbereiche auch gezwungen, in ihrer Lehre ein bestirnrntes theoretisches und rnethodisches Basiswissen zu verrnitteln - sie rniissen die klassischen und zur Zeit fUhrenden Theorieansiitze abdecken und dafUr sorgen, daB die Studenten die wichtigsten Methoden der Sozialforschung kennen und beherrschen. Wenn ein Fachbereich die se Aspekte vernachliissigt, wird sein Ruf als Hort soziologischer Lehre sicher leiden. Die drei genannten Zwiinge sorgen fUr eine organi-

Die Zukunft der Soziologie

51

satorische Einheit innerhalb der Fachbereiche und fur ein gewisses MaB an Zusammenarbeit und Konsens innerhalb der Lehre. Anpassungstendenzen gibt es auch in den Berufsverbanden. Die "American Sociological Association" ist gewissen Spannungen zwischen den spezialisierten Abteilungen (beispielsweise Medizinsoziologie, Theorie, Erziehungssoziologie) und der organisatorischen Fuhrung (in Form des Vorstandes) ausgesetzt. Gleichzeitig muS man auch bedenken, daB die Bildung von Abteilungen an sich schon eine AnpassungsmaBnahme darstellt, indem der Differenzierung soziologischer Interessengebiete Rechnung getragen und ihnen eine sinnvolle intellektuelle Grundlage zur Verfiigung gestellt wird, wahrend sie dadurch aber auch im Soziologenverband gehalten werden. Es gibt noch andere Faktoren, die der Aufspaltung eines vielgliedrigen Soziologenverbandes entgegenwirken, unter anderem die betrachtlichen Kosten beim Aufbau einer neuen Organisation und ihrer Infrastruktur, oder auch der Verlust einer einheitlichen Fachlobby fur den Kampf urn Forschungsgelder oder wenn es darum geht, auf das Fach betreffende Gesetze einzuwirken. Auf intellektueller Ebene soUte man nicht mehr Integrations- und Synthesewillen vorhersagen als gegenwmige Entwicklungen gerechtfertigt erscheinen lassen. Aber einige Anzeichen dafur gibt es doch. Im groBen und ganzen ist das Klima eines friedvollen, pluralistischen Nebeneinanders einem integrativen Denken und einer Zusammenarbeit fOrderlicher als die Atmosphare erbitterter Polemik fruherer Iahrzehnte. Die unterschiedlichen Bemuhungen urn eine gemeinsame Basis und theoretische Beriihrungspunkte, aber auch die empirische Verknupfung von Mikro- und Makroebene, die sich in den letzen Iahren abzeichnete, waren noch vor zwanzig Iahren kaum moglich gewesen. Davon abgesehen sind noch einige spezifische Beobachtungen angebracht. Meiner Einschatzung nach sind so ehrgeizige Versuche einer theoretischen Synthese, wie Parsons sie Mitte des Iahrhunderts unternahm, nicht in Sicht. Einerseits erschwert die zunehmende Komplexitat und Zentrifugalitat des Faches die Errichtung umfassender Gedankengebaude. Andererseits muBte sich Parsons' Ansatz in den 60er und 70er Iahren grundlegender Kritik steUen, weshalb die in jenen Iahrzehnten ausgebildeten Soziologen dieser Theorierichtung weder sonderlich wohlwollend gegenuberstehen noch sie besonders gut kennen. In den letzten fiinfzig Iahren hat sich das Zentrum fundierten theoretischen Denkens zudem von den Vereinigten Staaten nach Europa verlagert. Das beweisen Arbeiten von Soziologen wie Alain Touraine, Pierre Bourdieu, Jiirgen Habermas, Niklas Luhmann und Anthony Giddens. Ein GroBteil des derzeitigen theoretischen Denkens in den USA wird von diesen Koryphaen beeinfluSt. Andere, bescheidenere Entwicklungen in Richtung Anpassung und Integration sind im Bereich des Verhaltnisses von Mikro- und Makroebene zu erwarten, aber auch in anderen Bereichen. Die Tagungsreihe zum "Micromacro-link", zur Modernisierungstheorie und zur Kulturtheorie, die von den

52

Neil J. Smelser

Theoriesektionen der "American Sociological Association" und der "Deutschen Gesellschaft fUr Soziologie" gemeinsam veranstaltet wurden, haben hier vielleicht beispielhaften Charakter. Und schlieBlich fUhrt interdisziplinare Forschung iiber spezielle analytische Themen und empirische Phanomene noch zu einer anderen Art von Synthese. Wenn beispielsweise Wirtschaftswissenschaftler, Psychologen und Soziologen in gemeinsamer Forschung zu empirischen Ergebnissen und theoretischen Formulierungen iiber individuelles Verhalten angesichts von Risiko und Unsicherheit kommen, wirkt dieses Wissen insofern vereinheitlichend, weil es bestimmte Phanomene zu erklaren versucht, die in unterschiedlichen fachspezifischen Forschungsfeldern von Interesse sind. Alle diese Aspekte stellen verschiedene Arten von Ausgleich gegeniiber den besagten zentrifugalen und fragmentierenden Tendenzen dar. Ich habe in diesem Beitrag versucht, globale Aussagen iiber die Soziologie zu vermeiden, wie etwa: "Ein Fach in der Krise", "Ein Fach im Niedergang", "Ein Fach mit neuer Dynamik". Statt dessen wollte ich der Komplexitat des Faches Rechnung tragen, indem ich eine Reihe wahrscheinlicher, in verschiedene Richtungen wirkender Entwicklungen herausgearbeitet habe. Deshalb ist es auch unangebracht, nun nach einer umfassenden SchluBbemerkung zu suchen. Aber eine allgemeine Aussage moge mir erlaubt sein: Die Soziologie hat nicht gerade einen leichten Weg vor sich. Immer schon ein Fach mit Identitiitsproblemen, werden die se in Zukunft noch wachsen aufgrund der Entwicklungen, die ich beschrieben habe. Gleichzeitig konfrontiert die augenscheinliche organisatorische und institutionelle Kontinuitat des Faches sowie die einheitliche Berufsbezeichnung der in ihm Tatigen immer wieder mit der Identitatsfrage. Nach der Identitat der Soziologie in einer Zeit suchen zu miissen, in der die gemeinsame Basis offenbar im Schwinden begriffen ist, stellt eine nicht unbedingt willkommene Herausforderung dar.

Literatur Ball-Rokeach, Sandra S. 1988. "Mass Systems and Mass Communications." In E. E Borgatta, K. S. Cook (Hg.) The Future of Sociology. Newbury Park, Calif.: Sage. Becker, Gary S. 1976. The Economic Approach to Human Behavior. Chicago: University of Chicago Press. Berk, Richard A. 1988. "How Applied Sociology Can Save Basic Sociology." In E. F. Borgatta, K. S. Cook (Hg.) The Future of Sociology. Newbury Park. Calif.: Sage. Borgatta, Edgar E, Karen S. Cook (Hg.) 1988a. The Future of Sociology. Newbury Park, Calif.: Sage. 1988b. "Sociology and Its Future." In E. E Borgatta, K. S. Cook (Hg.) The Future of Sociology. Newbury Park, Calif.: Sage. Cook, Karen S., Kenneth C. Pike. 1988. "Social Psychology: Models of Action, Reaction, and Interaction." In E. F. Borgatta, K. S. Cook (Hg.) The Future of Sociology. Newbury Park, Calif.: Sage.

Die Zukunft der Soziologie

53

Etzioni, Amitai 1988. The Moral Dimension. New York, Basic Books. Gerstein, Dean R., Richard D. Luce, Neil J. Smelser, Sonja Sperlich (Hg.) 1988. The Behavioral and Social Sciences: Achievements and Opportunities. Washington D.e.: National Academy Press. Gordon, Leonhard 1988. "Sociology of Education." In E. F. Borgatta, K. S. Cook (Hg.) The Future of Sociology. Newbury Park, Calif.: Sage. Habermas, Jiirgen. 1975. Legitimation Crisis. Boston: Beacon Press. Homans, George C. 1974. Social Behavior: Its Elementary Forms. New York: Harcourt, Brace, Jovanovich. Lee, Barrett A. 1988. "Urban Sociology." In E. F. Borgatta, K. S. Cook (Hg.) The Future of Sociology. Newbury Park, Calif.: Sage. Pullum, Thomas W. 1988. "Demography." In E. F. Borgatta, K. S. Cook (Hg.) The Future of Sociology. Newbury Park, Calif.: Sage. Shupe, Anson, Jeffrey F. Hadden. 1988. "Sociology of Religion." In E. F. Borgatta, K. S. Cook (Hg.) The Future of Sociology. Newbury Park, Calif.: Sage. Smelser, Neil J. (Hg.) 1988. Handbook of Sociology. Beveriy Hills: Sage. Turk, Herman 1988. "Sociological Theory." In E. F. Borgatta, K. S. Cook (Hg.) The Future of Sociology. Newbury Park, Calif.: Sage.

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie1 lames S. Coleman

Das uneingeloste Versprechen einer Handlungstheorie Talcott Parsons unternahm mit The Structure of Social Action (1937) einen ersten Versuch, im Zuge der Erweiterung des Rationalitiitsmodells der Okonomie und der Systematisierung des geschichtswissenschaftlichen Konzepts zielorientierten Handelns, eine, wie er es nannte, voluntaristische Handlungstheorie auszuarbeiten. Er fiihrte damit die handlungstheoretische Perspektive, die die Grundlage eines groBen Teils der europiiischen Sozialtheorie war, in die amerikanische Soziologie ein, und erweiterte hierdurch die theoretische Perspektive, wie er sie bei Max Weber, Alfred Marshall und Vilfredo Pareto - drei der vier von ihm untersuchten Theoretiker - gefunden hatte. Dieser Ansatz, eine Form des methodologischen Individualismus, sucht die Sozialtheorie in einer Theorie individuellen Handelns zu begriinden. Auch Sozialphilosophen des 17., 18. und 19. lahrhunderts wie Hobbes, Smith, Locke, Rousseau und Mill2 teilten - mit geringfiigigen Abweichungen - diese Vorstellung menschlichen Handelns: Individuen handeln zielorientiert und zweckgerichtet, werden von Interessen (oder "Werten", je nach Theorie), Belohnungen und den von der sozialen Umwelt ausgehenden Zwiingen geleitet. Warum suchten diese und andere Theoretiker ihr Werk handlungstheoretisch zu begriinden, obgleich sie sich doch in erster Linie ftir makrosoziale Phiinomene wie die Funktionsweise politischer und okonomischer Systeme oder langfristige soziale Wandlungsprozesse interessierten? Die handlungstheoretische Perspektive war entscheidend, da nur sie eine Verkntipfung individueller Absichten mit makrosozialen Konsequenzen ermoglichte, so daB sowohl die Funktionsweise von Gesellschaft als auch der Motor des sozialen Wandels auf die zweckgerichteten individuellen Handlungen zurtickgefiihrt

2

Ich danke Douglas Anderton, Gary Becker, Daniel Bell, Thomas Coleman, YongHak Kim, Michael Hechter, Barbara Heyns, Edward Laumann, Robert Merton, Alan Sica und Zdzislawa Walaszek flir hilfreiche Kommentare zu frliheren Fassungen. Obwohl Karl Marx von einer kontinentalphilosophischen Tradition beeinfluBt war, teilte er doch teilweise diese Sicht. Flir eine Diskussion des methodologischen Individualismus bei Marx siehe EIster (1985: 5-18).

56

James S. Coleman

werden konnten, die wiederum in bestimmten institutionellen und strukturellen Settings eingebunden waren, von denen spezifische Handlungsanreize ausgingen und dadurch das Handeln letztlich formten. Eine solche Begriindung ermoglicht es der Sozialtheorie nicht nur, einen Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft herzustellen, sondem dariiber hinaus eine Konzeption vorzustellen, wie das Gesellschaftssystem durch den menschlichen Willen geformt wird. 3 Entscheidend aber war, daB dies eine Verbindung zwischen einer positiven Sozialtheorie und einer normativen Sozialphilosophie ermoglichte, mit Hilfe derer die individuellen Interessen unmittelbar mit ihrer Verwirklichung bzw. ihrem Scheitem in Beziehung gesetzt wurden. 4 Die Entwicklung dieses Theorieprogramms aus dem Jahre 1937 schlug jedoch fehl, denn Parsons verfolgte diesen auBerordentlich ehrgeizigen und integrativen Ansatz in seinen folgenden Arbeiten nicht systematisch weiter. In Toward a General Theoriy of Action (1951), The Social System (1951), Working Papers in the Theory of Action (1953) und im zweiten Teil der Einfiihrung zu Theories of Society (1961) gab Parsons die Handlungstheorie (obwohl zwei der Arbeiten diesen Anspruch noch im Titel trugen) nach und nach auf und entschied sich statt dessen dafiir, Gleichgewichtszustande und Entwicklungsphasen sozialer Systeme zu bestimmen. Parsons war zu diesem konzeptionellen Sprung auf die Systemebene vermutlich deshalb gezwungen, da es ihm nicht gelang, in theoretischer Hinsicht das systemische Handeln aus der Gesamtheit individueller Handlungen abzuleiten, so daB er sich von nun an mit der Klassifizierung der gesellschaftlichen Gleichgewichtszustiinde beschaftigte. Hierdurch (und aufgrund des Fehlens zeitgenossischer Konkurrenten, die sozialtheoretisch auf vergleichbarem Abstraktionsniveau argumentierten) 10ste er die Verbindungen zu friiheren Sozialtheoretikem, zu der politischen Philosophie, der politischen Okonomie und der Rechtstheorie. Die soziologische Theorie schlug den Weg eines einfachen Funktionalismus ein, eine Art von Sozialtheorie, die jede Institution und jede soziale Konfiguration durch 3

4

Einige Gesellschaftstheoretiker akzeptierten oder verwarfen diesen Ansatz aufgrund der optimistischen Uberzeugung, daB Individuen das Funktionieren des Gesellschaftssystems beeinflussen konnen, bzw. der pessimistischen Einstellung, daB ihnen das nicht moglich ist und sie statt dessen bloBe Produkte ihrer Umwelt sind. Aber der theoretische Standpunkt ist aus logischer Sicht von der Beantwortung dieser Frage unabhiingig. Der methodologische Individualismus ist vollig vereinbar mit der Anerkennung des Einflusses gesellschaftlicher Zwiinge auf das Verhalten. Ein gutes Beispiel flir die gegenseitige Befruchtung der positiven Theorie und der normativen Sozialphilosophie lieferte die Friihlingsausgabe 1985 der Zeitschrift Social Philosophy and Policy, die dem Thema "Ethik und Okonomie" gewidmet war. Darin untersuchten Philosophen und Okonomen mit gleichen Konzepten die Moral des Marktes und anderer okonomischer Institutionen. Eine auf konzeptuellen Gemeinsamkeiten basierende Zusammenarbeit mit der Soziologie kann man sich gegenwiirtig nur schwer vorstellen, wohl vor allem, weil die soziologischen Konzepte sich nicht auf eine Handlungstheorie griinden.

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

57

ihre Funktionen zu erkHiren vermochte. Der theoretische Ort der Individuen blieb hierbei jedoch unbeachtet, sofern diese nicht von Normen abwichen, und sozialer Wandel konnte nicht thematisiert werden, es sei denn innerhalb des theoretisch willkurlichen Rahmens des AGIL-Schemas. Insofern bot es auch keine M6g1ichkeit zur normativen Bewertung sozialer Institutionen und sozialer Systeme, denn man gelangte nicht auf die Ebene der Individuen, deren Zufriedenheit (oder Unzufriedenheit) uns die verliilllichste Grundlage fUr die Bewertung sozialer Konfigurationen liefert. Robert Merton entwickelte in Social Theory and Social Structure (1968) die funktionale zur strukturfunktionalistischen Analyse weiter. Indem er zeigte, daB eine soziale Form fur einige Akteure positive Funktionen ("Eufunktionen") haben kann, wiihrend sie fUr andere eher dysfunktional ist, richtete er die Aufmerksamkeit wieder auf die sozialen Akteure. Indem er zudem verdeutlichte, daB der Fortbestand einer Form von den Handlungen jener Akteure abhangig war, fUr die sie positive Funktionen erfiillte, fUhrte er schlieBlich auch das Konzept zielorientierten Handelns wieder ein. Doch beseitigten diese Modifikationen gleichzeitig die theoretische Besonderheit der funktionalen Analyse - ihr hom60statisches Prinzip, soziale Konfigurationen nicht durch deren unmittelbare Ursachen, sondern durch ihre Wirkungen zu erkHiren - so daB ein theoretischer Ansatz entstand, der sich hinsichtlich seiner 10gischen Grundlagen nicht von anderen unterschied. In der Folge nahm die Disziplin jedoch nicht die von Parsons liegengelassene Handlungstheorie wieder auf, sondern sie ging von der funktionalen Erkliirung durch letzte Ursachen iiber zu einer ErkHirung durch unmittelbar gegebene Griinde, d.h. zur klassischen Kausalananlyse. Die bedeutendste direkte Kritik an Parsons' Funktionalismus stammte von George C. Homans und druckte sich exemplarisch im Titel eines seiner Aufsatze aus: "Bringing Men Back In". Homans (1958) fUhrte die Akteure wieder ein und legte eine Handlungstheorie vor, die weitaus expliziter als alle bisherigen soziologischen Ansatze von der Zielorientiertheit des Handelns ausging. Doch reichte dieser Ansatz kaum uber den Bereich der Sozialpsychologie und der Kleingruppenforschung hinaus, und verlor deshalb auch rasch wieder ihren EinfluB; denn Homans ging vom zielorientierten Handeln zu einem Reduktionismus uber, der sich kaum vom operanten Konditionieren unterschied, wie es B.F. Skinner an Tauben demonstriert hatte. Fur Homans lag, wie auch schon fUr Parsons, das grundlegende Problem der soziologischen Theorie in einer Verbesserung ihrer handlungstheoretischen Grundlagen. Da Parsons fur dieses Problem keine L6sung fand, gab er den Versuch einer theoretischen Grundlegung auf der Mikroebene auf, und richtete sein Interesse auf die Makroebene. Homans schlug den entgegengesetzten Weg ein und ging vom zielorientierten Handeln zum reduktionistischen Behaviorismus uber, wahrend Merton schlieBlich Parsons' funktionale Theorie modifizierte, indem er sie von der Begrundung durch letzte Ursachen 16ste, ohne sie aber explizit auf der Mikroebene zu verankern.

58

James S. Coleman

Auch die spliter folgende Kritik am Funktionalismus (vor allem die "Konflikttheorie") verblieb auf der Ebene der Kollektive und der Systeme, und scheiterte an einer Theorie zielorientierten individuellen Handelns. Obwohl das von Parsons 1937 entworfene Konzept vielversprechend war, blieb es letztlich unvollendet. Es ist hilfreich, an dieser Stelle die Pramissen meines Ansatzes zu verdeutlichen. Den Funktionalismus als Theorie des sozialen Zusammenlebens abzulehnen, eine Theorie zielorientierten Handelns als Grundlage der Sozialtheorie aber zu akzeptieren, impliziert, Ziele gleichzeitig anzuerkennen und abzulehnen. Man weist sie auf der Ebene des Systems zuriick, nicht jedoch auf der Ebene ihrer Bestandteile, der Akteure. Insoweit stellt eine Handlungstheorie als Grundlage von Sozialtheorie in der Tat eine funktionale Theorie auf der Ebene der Akteure dar: Der Akteur wird als zielgerichtet Handelnder begriffen, Handlungen werden durch ihre (antizipierten) Konsequenzen verursacht. Zielorientiertes Handeln der Individuen kann fUr Soziologen einen Ausgangspunkt darstellen, da sie im Gegensatz zu Psychologen, fUr die die psychische Organisation der Individuen das zentrale Problem darstellt, von einem psychisch stabilen Individuum ausgehen. Aber ebenso wie Psychologen ihr Problem aus den Augen verlieren wiirden, wenn sie von einem intern psychisch stabilen Individuum ausgingen, gilt dies fUr Soziologen, sobald sie die Zwecke und das zielgerichtete Handeln von Gesellschaften als Einheiten voraussetzten. Es mag wohl zutreffen, daB es fUr manche Untersuchungen durchaus sinnvoll ist, korporative K6rperschaften, wie etwa formale Organisationen, als zielgerichtet Handelnde zu betrachten, obgleich die Kohlirenz dieses Handelns in anderen soziologischen Forschungs- und Theoriebereichen selbst wiederum liuBerst problematisch erscheint. Wenn ich es recht sehe, sollte eine theoretisch angemessene Vorgehensweise Vorstellungen von Zwecken, Zielgerichtetheit und Hom60stase nicht zuriickweisen (wie dies im Falle von Kausalanalysen, die auf der Ebene der Systeme verbleiben, der Fall ist), sondern sie sollte deren Anwendung auf die Ebene der Akteure im sozialen Systems begrenzen, und dies nicht mit dem System gleichsetzen. Systeme bestehen aus Akteuren, und ihr Handeln oder Verhalten ist die emergente Folge der interdependenten Handlungen derjenigen Akteure, die das System konstituieren. Vereinfacht lautet die Regel folgendermaBen: Zweck und Zielgerichtetheit sind so lange hilfreiche Elemente der Theoriebildung, so lange sie nicht mit der Einheit oder dem System gleichgesetzt werden, dessen Verhalten erkllirt werden solI. Sie miissen vielmehr den Systemelementen zugeschrieben werden, die aus soziologischer Perspektive als Akteure innerhalb des Systems, also entweder als Personen oder korporative Akteure, begriffen werden. Dabei entstehen zwei grundlegende theoretische Probleme: Wie verkniipfen sich die zweckgerichteten Handlungen der Akteure zu Systemverhalten, und wie werden diese umgekehrt von den aus dem Systemverhalten

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

59

resultierenden Zwangen geformt? Gemeinsam weisen beide Probleme auf den komplexen Sachverhalt hin, den die funktionale Analyse zu lOsen suchte: die Beschreibung, wie sich das soziale System weiterentwickelt und immer wieder sein Gleichgewicht auslotet. Eine auBerst ungliickliche Folge der Aufgabe des handlungstheoretischen Projektes war, daB der Kontakt zu einem Fach verloren ging, das eigentlich in enger Verbindung zur Sozialtheorie stehen sollte: das Verfassungs- bzw. Allgemeine Recht. Man kann sogar die These aufstellen, daB das Recht - als System von Regeln mit hoher innerer Konsistenz und grundlegenden Prinzipien - ebenso Anspruch auf die Konstituierung einer Sozialtheorie hat wie jedweder Kern soziologischer Prinzipien. Jedes Prazedenzrecht beruht beispielsweise auf einer impliziten Handlungstheorie. So griindet das moderne europaische Recht (sowohl das englische Common Law als auch die kontinentaleuropaische Rechtsordnung) auf der Vorstellung, daB Individuen Ziele verfolgen und iiber Rechte und Interessen verfiigen, die fiir ihr Handeln verantwortlich sind. 5 Noch im Mittelalter war dies in Mitteleuropa keineswegs die dem Handeln unterstellte Theorie: Ziinfte, Haushalte und andere soziale Einheiten waren die damals verantwortlichen Akteure, die zielorientiert Interessen verfolgten und mit Rechten ausgestattet waren, so daB Individuen fUr das Recht kaum eine Rolle spielten. A.hnlich lag der Fall auch bei informellem Recht, das die Beziehungen nomadischer Stamme oder Clans regelte. So bezieht sich beispielsweise die Vorschrift "Auge urn Auge, Zahn urn Zahn" nicht auf individuelle Vergeltung, sondern auf Vergeltung an einem beliebigen Mitglied des schuldigen Clans. Die der modernen Wirtschaftstheorie und der westlichen Rechtstheorie zugrundeliegenden Handlungstheorien stimmen in vielerei Hinsicht iiberein (vor allem im Bereich der Rechte, aber z.B. auch im Vertrags- und Auftragsrecht). Okonomen wie Joseph Schumpeter oder Friedrich Hayek k6nnen daher problemlos zwischen 6konomischer Theorie und Rechtsphilosophie wechseln, und beide Gebiete wurden hierdurch bereichert. Auch iibte Richard Posners The Economic Analysis of Law (1977) einen starken EinfluB auf die Rechtstheorie aus. Doch das Fehlen einer Handlungstheorie als gemeinsamer Diskussionsgrundlage verhindert einen ahnlich fruchtbaren Austausch zwischen der Soziologie und der Rechtswissenschaft. 6 5

6

Eine Folge davon ist, daB sich das Recht mit Gemeinschaftstaten recht schwer tut, vor allem im Strafrecht, wenn einer Gruppe vorgeworfen wird, eine Straftat begangen zu haben. Bei wem liegt die Verantwortung? Nur bei der Gruppe selbst oder auch bei einigen Mitgliedem? Wenn letzteres der Fall ist, dann bei welchen? Und warum? Flir eine Untersuchung dieser Problematik siehe Hopt/feubner (1985), Coleman (1985) oder Stone (1975). Wenn sich die soziologische Organisationstheorie auf eine Handlungstheorie (in der Rechte, Interessen und Verantwortungen eine groBe Rolle spieien) berufen konnte, konnte sie wichtige Beitrage zur Rechtstheorie in diesem Bereich liefem. Es gibt bereits Anfange eines solchen Austausches. Scheppele (1988) beschliftigt sich in dieser Weise mit der juristischen Auseinandersetzung mit dem Thema "Information".

60

James S. Coleman

Der Wendepunkt in der empirischen Sozialforschung und der Bedeutungsgewinn des individualistischen Behaviorimus In dem MaBe, in dem in der Soziologie die funktionale Theorie auf der Ebene des Kollektivs an Bedeutung gewann, entwickelte sich die empirische Forschung in die entgegengesetzte Richtung, wobei die 40er Jahre eine Art Wendepunkt in der empirischen Sozialforschung darstellten. Hatten bis zu dieser Zeit Gemeindestudien in der Art der Middeltown-Untersuchungen die empirische Methode bestimmt, so kam es in der Folge neuer Forschungsmethoden zu einer Konjunktur der Umfrageforschung. Zu den ersten dieser neuen Untersuchungen geh6ren The American Soldier von Stouffer et al. (1949), Lazarsfelds Studien The People's Choice (1944), die er in Zusammenarbeit mit Berelson und Gaudet verfaBte, und Radio Research, 1941 (1941), gemeinsam mit Stanton. Diese ersten nach der methodischen Wende entstandenen Studien enthielten noch Elemente des alten Forschungsprogramms. So stammten beispielsweise die Stichproben in Lazarsfelds friiher Umfrageforschung an der Columbia Universitat fast immer aus Gemeinden, man versuchte (wenn auch nicht immer erfolgreich), die Gemeindestruktur in die Analyse mit einzubeziehen. In The American Soldier fand die Sozialstruktur durch die Organisationsstruktur des Militlirs Eingang in das Umfragedesign. In einigen wenigen Fallen lehnte sich die Forschung an die Theorieentwicklung an, so etwa Merton und Kitts Arbeiten iiber Bezugsgruppen (1950), die sich auf die Analyse von The American Soldier stiitzten. Obwohl die empirische, statistische Umfrageforschung in hohem MaBe individualistisch ausgerichtet war, fehlte ihr ein Element, urn die Verbindung zu einer handlungstheoretisch fundierten Sozialtheorie herzustellen. Es fehlte die Betonung einer explizit "zielorientierten" oder "intentionalen" Orientierung. Die deskriptiven Gemeindestudien der amerikanischen Soziologie vor der methodischen Wende hatten zielorientiertes Handeln als notwendigen Aspekt beriicksichtigt, denn sie wollten beschreiben, wie die gesellschaftlichen Bedingungen die Handlungsorientierung der verschiedenen Menschen beeinflussen, und wie die se individuellen Handlungsorientierungen innerhalb der bestehenden Beziehungsstrukturen gemeinsam das Handlungssystem hervorbringen, welches in das Handeln der Gemeinde miindet. Doch die Umfrageforschung, die von statistischen auf kausale Zusammenhange schloB, schien wenig Gespiir und Interesse flir die Intentionen und Absichten der Individuen zu haben. Lazarsfeld, einer der Pioniere auf diesem Gebiet, hatte groBes Interesse an einer Handlungstheorie. 7 Nichtsdestotrotz war es sein Aufsatz iiber die Logik kausalen SchlieBens in der Umfragefor7

Siehe z.B. seine "Historical Notes on the Empirical Study of Action" (1972) und seinen gemeinsam mit Oberschall publizierten Aufsatz iiber Max Webers empirische Arbeiten (1965). Ein GroBteil der Arbeiten von Lazarsfeld iiber Wahlentscheidung und Konsumentenverhalten driickt diese Handlungsorientierung aus.

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

61

schung (KendalllLazarsfeld 1950), der spatere Arbeiten beeinfluBte, und nicht sein Aufsatz "The Art of Asking Why" (1935) oder seine Arbeit zur Analyse von Ursachen. Die darauf folgenden Arbeiten auf der Grundlage von Umfragedaten haben immer starker die "kausale Erklarung von Verhalten" in den Mitte1punkt gertickt, wobei die Ursachen entweder in den sozialen Merkmalen des Individuums oder den Besonderheiten der Umwelt des Individuums gesehen wurden, oh ne Rekurs auf eine das Geschehen beeinflussende Handlungsorientierung des Akteurs. Zweck oder Intention waren aus diesen Analysen zwar nicht vollstandig verschwunden, sie wurden jedoch auf post hoc-Erklarungen reduziert, die ein intuitiv tiberzeugendes Set von Grtinden liefern k6nnen, warum die kausale Struktur die Form annimmt, die sie hat. In einer so1chen Analyse bemiBt sich der Erklarungsgewinn gew6hnlich am AusmaB erklarter Abweichung vom Verhalten, das durch diese Merkmale "erklart" werden solI. So zeigt sich beispielsweise, daB bei der kausalen Modellierung individuellen Statuserwerbs oder Schulerfolgs jene Variablen, die innerhalb des kausalen Modells zusammengenommen die Abweichungen des Statuserwerbs und Schulerfolgs erklaren, soziale oder Umweltfaktoren sind. Eine Analyse gilt dann als erfolgreich, wenn sie einen groBen Teil der auftretenden Varianz erklaren kann. Ein zweiter wichtiger Aspekt, der den Ubergang von Gemeindestudien zur Umfrageforschung markiert, und der in der Disziplin fast unbemerkt blieb, ist ein Wechsel der Analyseeinheit von der Gemeinde zum Individuum. In vielen Arbeiten, die auf diesen Wechsel folgten, verschob sich das Hauptaugenmerk von sozialen Prozessen innerhalb der Gemeinde, die das Verhalten des Systems formen, hin zu psychologischen oder demographischen Prozessen. In dem MaBe, in dem die Umfrageforschung ihre Vorherrschaft sichern konnte, richteten die Forscher ihr Interesse immer starker auf das individuelle Verhalten. Stichproben von Gemeinden oder Organisationen wurden durch landesweite Stichproben ersetzt, das Schneeballverfahren starb noch in den Kinderschuhen,8 und der mtihevolle Versuch, mit der Umfrage8

1956 hielt ich an der Universitat von Chicago ein Seminar zu diesem Verfahren. Leo Goodman war einer der Teilnehmer, interessierte sich dafUr und schrieb einen Aufsatz (1961) Uber statistische SchluBfolgerungen in Schneeballstichproben, aber das war auch schon das Ende der statistischen Weiterentwicklung. Es gab viele frUhe Versuche. neue statistische Verfahren so zu modifizieren. daB sie bei der Analyse 80zialer Systeme eingesetzt werden konnten. Was Soziologen damals an der Columbia Universitat diesbezUglich versuchten. ging in zwei verschiedene Richtungen. Im einen Fall verwendete man die Umfragedaten. urn soziale Subsysteme zu charakterisieren; Beispiele sind The Adolescent Society (Coleman 1961) und Union Democracy (LipsetITrow/Coleman 1956: v.a. Anhang 1). Andererseits gab es Versuche. formalere Analyseverfahren zu entwickeln. Ein Beispiel dafiir ist einer meiner Aufsatze. der passenderweise ..Relational Analysis: The Study of Social Organization with Survey Methods" (1958) hieB. Es ist eine interessante FuBnote der Wissenssoziologie. daB keine der auf das Fach einwirkenden gesellschaftlichen und geistigen Krafte die

62

James S. Coleman

forschung zu Aussagen ilber Gemeinwesen, Organisationen oder soziale Subsysteme zu gelangen, wurde vom statistischen Ehrgeiz, "Populationen" zu beschreiben und das Verhalten "unabhangig ausgewahlter" Mitglieder der Population zu analysieren, verdrangt. Wahrend sich die Sozialtheorie damit zu einem auf der kollektiven Ebene verharrenden Funktionalismus entwickelte, gab der groBte Teil der empirischen Forschung die Analyse der Funktionsweise von Kollektiven auf, und konzentrierte sich auf die Analyse individuellen Verhaltens. Die empirische Sozialforschung, die zur beherrschenden Methode in der Soziologie wurde, war filr die Sozialtheorie aus zwei Griinden von nur begrenztem Nutzen. Erstens verfilgte sie ilber keine Handlungstheorie, weil sie "Handeln" durch "Verhalten" ersetzte und dariiber hinaus jeden Rekurs auf Ziele oder Intentionen aus ihren Kausalerklarungen ausschloB; zweitens konzentrierte sie si ch auf die Erklarung individuellen Verhaltens an sich, und gelangte dabei selten auf die Ebene der Gemeinde oder anderer sozialer Systeme. Es stellt sich natilrlich die Frage, wie es in einer Disziplin, deren Gegenstand das soziale System ist, zu einer solch radikalen Wende und zu einer Fokussierung auf individuelles Verhalten kommen konnte. Die Antwort liegt zum Teil in der Entwicklung neuer Techniken. Denn seit den 40er Jahren ermoglichten die statistischen Mittel zur Konstruktion von Erhebungen und zur Analyse von Daten quantitativ prazise Aussagen ilber Stichproben voneinander unabhangiger Individuen und den von ihnen reprasentierten Populationen, sowie die Analyse derjenigen Faktoren, die individuelles Verhalten beeinflussen. Es gab keine vergleichbare Entwicklung von Instrumenten zur Analyse des Verhaltens interagierender Systeme von Individuen oder zur Erfassung der aus dem Zusammenwirken individueller Handlungen entstehenden Systemeffekte. Der ungleich hohere Anspruch an Komplexitat, der an solche Instrumente gestellt werden muB, stellt nach wie vor ein groBes Hindernis flir ihre Entwicklung dar (obgleich sich einige Methoden, wie etwa die sogenannte "Netzwerkanalyse" in diese Richtung entwickeln). Das bedeutet, daB wir nun einerseits ilber sehr weit entwickelte Methoden zur Analyse des Verhaltens unabhangiger Einheiten (zumeist Individuen) verfiigen, andererseits aber kaum ilber Methoden, die systemisches Verhalten, das aus den ineinandergreifenden Handlungen der Systemelemente resultiert, erfassen. Dieser technische Fortschritt der Umfrageforschung zum Studium individuellen Verhaltens (und die darauffolgende Entwicklung von Computern zur Datenanalyse) halfen, die Sozialforschung und die Tradition der Demographieforschung einander anzunahern. Der EinfluB der demographischen Entwicklung so1cher Analyseverfahren gefOrdert hat. Meine eigenen Bemtihungen in diesem Bereich wurden 1965 durch das Bedtirfnis des Staates nach geseJlschaftspolitischer Forschung beendet, die dann zu Equality of Educational Opportunity (Coleman et al. 1966) ftihrte.

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

63

Tradition hat sogar dazu gefiihrt, daB sich die soziologische Forschung noch sHirker dem Studium der Individuen zuwandte, was in Forschungsarbeiten zur sozialen Schichtung am deutlichsten wird. 9 Technischer Fortschritt und die Weiterentwicklungen der Disziplin konnen die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf individuelles Verhalten aber nur zum Teil erkHiren. Hinzu kommt ein Wandel der Gesellschaftsstruktur, ein Wandel, der das Verhaltnis von Sozialforschung und Gesellschaft entscheidend verandert hat.

Gesellschaftlicher Wandel und Veranderungen im Verhaltnis von Sozialforschung und Handeln10 Wahrend sich Talcott Parsons Mitte des Jahrhunderts von seinem Versuch abwandte, die Sozialtheorie auf handlungstheoretischer Grundlage weiter zu entwickeln, und die empirische Sozialforschung die Techniken der Umfrageforschung und der statistischen Analyse entdeckte, vollzogen sich auch in der amerikanischen Gesellschaft Veranderungen, die fiir die Sozialforschung weitreichende Konsequenzen mit sich brachten. Diese Veranderungen (die mit einiger Verzogerung auch in Europa zu beobachten waren) markierten einen ProzeB, in dem sich die Nation von einer Vielzahl ortlich begrenzter, vor allem auf sich selbst bezogener Gemeinwesen, zu einem sozialen Raum transformierte, dessen Hauptaugenmerk nicht mehr auf dem Lokalen sondern auf dem Nationalen lag. Die Industrie veranderte sich in vielen Produktionsbereichen: Statt lokaler Firmen, die fiir einen lokalen Markt produzierten, entstanden nationale Untemehmen, die ihre Produkte auch landesweit verkauften. Gleichzeitig entstanden iiberregionale Kommunikationsmedien. Landesweit erscheinende Zeitschriften wurden ein bedeutendes Medium und steigerten in den 30er Jahren ihre Auflagen. Ein weiteres wichtiges Medium war das Radio. Diese Medien trugen durch die Werbung nicht nur zur Entstehung landesweiter Mlirkte bei, was wiederum der nationalen Industrie zugute kam, sondem sie bildeten selbst nationale Mlirkte und lenkten die Aufmerksamkeit der gesamten BevOlkerung auf spezifische gemeinsame Themen. AIs Folge dieser Veranderungen entstanden neue soziologische Problemstellungen: Probleme der Entstehung nationaler Mlirkte und eines nationalen Publikums, d.h. Probleme der Marktforschung wie auch der Publikumsforschung. Die auf diese Weise neu entstandenen Forschungsfragen unterschie9

In der Demographie gelangt man durch einfaches Anhaufen von individuellem Verhalten von der Mikro- auf die Makroebene. Nur in manchen Bereichen, wie beispielsweise dem Problem der Zweigeschlechtlichkeit (das nie gelost werden konnte), miissen sich Demographen eines etwas komplizierteren Tricks bedienen. 10 !ch habe diese Veriinderungen an anderer Stelle ausfiihrlicher behandelt (Coleman 1978,1980b).

64

James S. Coleman

den sich erheblich von den frtiheren. Von nun an ging es urn Probleme bestimmter Akteure innerhalb der Gesellschaft, und die Forschungsergebnisse waren von unmittelbarem Interesse ftir jene Akteure, die sich daran ausrichten wollten. Waren friihere Forschungsprojekte, die oft von uneigenntitzigen Forschem oder philanthropen Sponsoren angestoBen wurden, haufig nur als "Beitrag zum Wissen", ohne explizite Handlungsrelevanz, gedacht, so beinhalteten sie doch sehr hliufig eine implizite Theorie des Verhliltnisses von Forschung und Praxis, das auf der Prlimisse beruhte, daB allein die Feststellung eines bestimmten gesellschaftlichen MiBstandes oder Problems schon Heilungskrlifte mobilisieren wtirde. Die Middletown-Untersuchung, Lloyd Warners Yankee City-Studie oder auch Zorbaughs Gold Coast and the Slum, all diese Untersuchungen gingen von dieser Voraussetzung aus, die auch nach Lynds Knowledge for What (1939), einer Kritik der angewandten Forschung nach der methodischen Wende, bestimmend blieb. Die neue, angewandte Sozialforschung wurde im Gegensatz hierzu von korporativen Akteuren angestoBen und beruhte auf einer anderen Prlimisse. Forschung sollte direkt auf Probleme bezogen sein, die fiir die korporativen Akteure selbst von unmittelbarem Interesse waren, und ihnen bedeutsame Informationen liefem konnte. Dieser Wandel fiihrte nicht nur einen neuen Bestandteil in die makrosoziale Organisation ein - die Sozialforschung stellte hierftir systematische Mittel ftir einen InformationsrtickfluB zu groBen, in der Gesellschaft agierenden korporativen Akteuren bereit -, sondem es entwikkelte sich auch ein neues Verhliltnis zwischen Sozialforschung und Handeln. Die prinzipielle Ausrichtung dieser friihen Sozialforschung, die sich auf das individuelle Verhalten konzentrierte, lag im Bereich der Markt- und Publikumsforschung. Sie zeigt sich in besonderem MaBe in Lazarsfelds Arbeiten, wird aber auch deutlich angesichts der wachsenden Zahl von Forschungsprojekten zur Massenkommunikation an mehreren Universitliten wahrend der 40er und 50er Jahre. Doch war dies nur die erste Stufe der Transformation. Der Wandel der Interaktionsstruktur der amerikanischen Gesellschaft von personlichen und lokalen zu unpersonlichen und nationalen Interaktionen ftihrte in den 60er Jahren zu einem entsprechenden VerlinderungsprozeB hinsichtlich der Struktur der Verantwortlichkeiten, von der personlichen und lokalen zur unperson lichen und nationalen Verantwortung. Die verlinderte Kommunikationsstruktur erzeugte einerseits neue Anspriiche gegentiber der Regierung und fiihrte andererseits zur Ubemahme von Verantwortlichkeiten durch die Regierung, Verlinderungsprozesse, die vor dem Wandel der Interaktionsstruktur nicht entstanden wliren. Einige dieser Verantwortlichkeiten, wie etwa soziale Sicherheit oder ArbeitsbeschaffungsmaBnahmen entstanden schon in den 30er Jahren zu Beginn der Verlagerung der lokalen hin zu den nationalen Interaktionen. Ein spliterer Schub ging 1964 von Lyndon B. Johnsons Gesetzgebung zur "Great Society" aus: dem "Civil Rights Act" von 1964, dem "Elementary and Secondary Education Act" von 1965, dem "Office for

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

65

Economic Opportunity", dem Headstart-Programm, Medicare und einer Reihe anderer Innovationen. Mit diesen MaBnahmen entstand eine neuer Zweig innerhalb der Sozialforschung, die Sozialpolitikforschung. Sie nahm unterschiedliche Formen an, deren Bezeichnungen in den 60er Iahren noch unbekannt waren: groBangelegte Sozialexperimente, ProzeBevaluation, Ergebnisevaluation, geplante Unterschiede, Interventionsforschung und nationale Uingsschnittstudien. Das Ergebnis dies er Vedinderungen ist schlieBlich, daB sich ein iiberwiegender Teil der angewandten Sozialforschung (nicht nur in Amerika, denn diese Veranderungen traten auch in Europa aut) urn politische Problem16sungsstrategien bemiihte und so konzipiert war, daB sie groBen korporativen Akteuren handlungsrelevante Informationen lieferte - vor allem der Regierung, aber auch Firmen, Gewerkschaften und verschiedenen gemeinniitzigen Vereinigungen. Dieses veranderte Verhiiltnis von Sozialforschung und sozialem Handeln wirft sowohl in sozialtheoretischer wie auch in normativer Hinsicht eine Reihe von Fragen auf. Die Aufgabe der Sozialtheorie besteht darin, Informationen in die Handlungstheorie zu integrieren, die sowohl die Korperschaften auf der Ebene der Gesellschaft, als auch deren Klienten, die Personen, betreffen. Zielorientiertes Handeln erfordert Information, und innerhalb einer Sozialstruktur, in der Information wertvoll, d.h. ein knappes Gut ist, kann die VerfUgung hieriiber die Machtverteilung beeinfIussen. So initiieren und gestalten Korperschaften die Sozialpolitikforschung in der Regel in einer Art und Weise, die es ihnen erlaubt, ihre Interessen besser zu verfolgen. In der asymmetrischen Gesellschaftsstruktur, die sich in dies em Iahrhundert herausgebildet hat, fiihren natiirliche soziale Prozesse (angesichts des Problems, die Kosten fiir ein offentliches Gut zu bezahlen) zu einer asymmetrischen Informationsverteilung und verstarken somit das Machtgefalle zwischen kollektiven Akteuren und Einzelpersonen. 1l Dies verweist unmittelbar auf das normative Problem, da es die Frage nach der Verteilung von Informationsrechten und der Art und Weise, wie diese Verteilung die Interessen von Personen beriihrt, aufwirft. Die Gesetzgebung hat sich mit derartigen Fragen bereits befaBt (z.B. in den USA mit dem "Freedom of Information Act" von 1974), doch wurden sie nicht in eine normative Theorie der Initiierung von Policy-Forschung, ihres Designs und ihrer Verbreitung integriert. Beruht das politische System einer Gesellschaft auf dem Prinzip der Demokratie, so bezeichnet dieses Prinzip die WertPramisse fUr eine normative Theorie der Verteilung von Informationsrechten im Bereich der Policy-Forschung. Wenn eine solche Theorie weiter entwickelt ist, kann sie nicht nur zur Grundlage einer juristischen Theorie iiber Informationsrechte werden, sondern auch die Durchfiihrung von Sozialpolitikforschung anleiten. Insofern 11

Flir eine eingehendere Diskussion siehe Coleman (1982), Habermas (1971).

66

lames S. Coleman

befindet sich die Soziologie in einer reflexiven Lage: Die Sozialtheorie k6nnte die RoUe der Sozialpolitikforschung in der GeseUschaft bestimmen. Es gibt einige Beitdige, die eine solche Theorie starken, von denen der bemerkenswerteste sicherlich Duncan Mac Rae, Irs. (1985) Buch Policy Indicators: Links between Social Sciences and Public Debate ist. Wenn ich es recht sehe, kann die Sozialtheorie diese positive und normative Herausforderung nicht annehmen, bis sie die von ihr aufgegebene Handlungstheorie wiederentdeckt. Was ich in diesem und dem vorausgehenden Kapitel beschrieben habe, ist eine komplexe Zusammenfassung der Vedinderungen der Sozialstruktur, der Sozialforschung und des Verhaltnisses dieser beiden zueinander; Veranderungen, die sich mit einer angemessenen Orientierung auf die Sozialtheorie erfassen lassen. !ch habe insbesondere folgende Veranderungen beschrieben: 1. Die Gesellschaft hat sich individualisiert und die Individuen verfolgen Lebenswege, die von der Familie und der Gemeinschaft losgelOst sind. 2. Der Mainstream der Sozialforschung ist von der Erklarung der Funktionsweise sozialer Systeme (z.B. von Gemeinden) zur Erklarung individuellen Verhaltens iibergegangen. Eigenschaften sozialer Systeme wurden weitgehend auf den Status von Faktoren reduziert, die individuelles Verhalten beeinflussen, selten werden sie selbst zum zentralen Untersuchungsgegenstand. Diese Wende hin zur Erklarung individuellen Verhaltens war teilweise die unmittelbare Folge des Wandels der Sozialstruktur, teilweise aber auch die indirekte Folge der durch neue Forschungsmethoden angeregten Umfrageforschung. 3. Gleichzeitig mit der Verlagerung des Forschungsinteresses vom sozialen System auf das Individuum veranderte sich auch das dominante Erklarungsmuster in der Sozialforschung. Bisher hatte das zielorientierte individuelle Handeln, das durch verschiedene Zwange begrenzt war, die Funktionsweise des sozialen Systems erklart. An dessen Stelle trat eine Form des Behaviorismus, bei der verschiedene externe Bedingungen des individuellen BewuBtseins herangezogen werden, urn Verhaltensveranderungen erklaren zu konnen. Dieser Wechsel folgte zwangslaufig der Ausrichtung des Erkenntnisinteresses auf individuelles Verhalten, denn auf der Ebene individuellen Handelns erscheint eine zielbezogene Erklarung solange als trivial ("Er vollzog Handlung x, urn Ziel Y zu erreichen"), solange nicht komplexe psychologische Fragestellungen miteinbezogen werden; wodurch si ch jedoch das soziologische Problem in ein psychologisches verwandelt. 12 4. Die Wende zum Individualismus wurde in der westlichen Gesellschaft von einer zunehmenden strukturellen Asymmetrie begleitet, in der die 12

Mit "psychologischer Komplexitiit" beziehe ich mich hier auf Arbeiten, die von Freud bis Kahneman und Tversky (1979) reichen, solange sie nur das Individuum als ziel- und zweckorientiert betrachten.

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

5.

67

Beziehung zwischen den groBen korporativen Akteuren (Korporationen, Regierungen) einerseits, und den Individuen (nicht Gemeinden, nicht Nachbarschaften oder Familien) andererseits, nicht mehr durch direkte Kommunikation, sondern durch Massenmedien hergestellt wurde. Auf der Grundlage dieser Sozialstruktur entstand, als Teil der Verbindung zwischen korporativen Akteuren und Personen, ein neuer Typ der Sozialforschung, zunachst in Gestalt der Marktforschung, spater in Form der Sozialpolitikforschung. Indem die Sozialforschung somit nicht llinger auBerhalb der Gesellschaft stand, vielmehr die Beziehungen zwischen kollektiven Akteuren und Personen veranderte, wirkte sie - vor allem im Dienste korporativer Akteure - zum ersten Mal unmittelbar auf das Funktionieren der Gesellschaft ein. Sie wird nicht nur Teil der Soziologie, sondern auch Gegenstand der Sozialtheorie, gewissermaBen Teil von deren umfassenderen Aufgabe, die Verbindung zwischen Akteuren unterschiedlichen Typs sowie verschiedenster GroBe und Macht zu beschreiben.

Diese Aufgabe kann jedoch nur von einer Sozialtheorie geleistet werden, die zwei Kennzeichen besitzt. Erstens muB sie explizit anerkennen, daB soziales Handeln nicht nur des Verbs "handeln" bedarf, sondern auch eines Subjekts, dem Akteur. Zweitens muB sie den Ubergang von der Mikro- zur Makroebene zufriedenstellend erklliren konnen, d.h. den Ubergang vom zweckgerichteten Handeln individueller Akteure zur Funktionsweise eines Handlungssystems. Der Diskussion dieser zweiten Aufgabe werde ich mich im folgenden zuwenden.

Das Mikro-Makro Problem Vermutlich beruhte Parsons' Programm von 1937 auf der Bestimmung der Mlingel derjenigen Theoretiker, iiber deren Arbeiten er hinaus gelangen wollte. Er erkannte, daB man vor allem an den handlungstheoretischen Grundlagen selbst ansetzen miiBte und beschrieb umfassend die hierfiir notwendigen Modifikationen (Parsons 1937: 77-82). Spater versuchte er, mit Hilfe der Psychoanalyse eine Personlichkeitstheorie zu entwickeln, die seine Theorie des Handelns fundieren konnte. Was jedoch weder Parsons noch andere, die vergleichbare Versuche unternahmen, erkannt haben, ist, daB das groBte theoretische Hindernis einer Sozialtheorie, die handlungstheoretisch fundiert ist, nicht in der weiteren Verbesserung der Handlungstheorie selbst zu suchen ist, sondern in der Art und Weise, wie das zielgerichtete Handeln der Individuen miteinander verkniipft wird, urn ein soziales Phlinomen zu erzeugen. Insofern Parsons mit dem Schritt von der Personlichkeit zur Kultur explizit versuchte, von der individuellen auf eine soziale Ebene zu gelangen, vernachlassigte er diejenigen strukturellen Konfigurationen, die festlegen, was auf

68

James S. Coleman

der sozialen Ebene aus einer Kombination der individueUen Handlungen resultiert (siehe z.B. ParsonslBales/Shils 1953: Kap. 1,2). Dieses Mikro-Makro Problem wird von europaischen Soziologen manchmal als Vermittlungsproblem bezeichnet, in der (National-)Okonomie heiBt es irrefUhrenderweise Aggregationsproblem, und in der Politikwissenschaft, ein weiteres Beispiel, das Problem sozialer Wahl. Es geht urn den ProzeB, durch den individueUe Prliferenzen zu koUektiven Entscheidungen werden; durch den Unzufriedenheit in Revolution umschlagt; gleichzeitig auftretende Furcht bei den Mitgliedern einer Menge zur Massenpanik flihrt; durch den Prliferenzen, die Verfligung liber private Gliter und Tauschm6glichkeiten zusammen Marktpreise und eine Umverteilung von Gtitern erzeugen; durch den aus individuellen Leistungen innerhalb von Organisationen ein gesellschaftliches Produkt entsteht; durch den der geringere Nutzen, den Eltern von ihren Kindern haben, zur Aufl6sung von Familien fUhrt und durch den Interessenunterschiede schlieBlich zu offenem sozialen Konflikt fUhren (oder auch nicht). Eine M6glichkeit, die RoUe des Mikro-Makro Problems in der Sozialtheorie zu bestimmen, besteht darin, unterschiedliche Typen dieser Beziehung in der Soziologie zu untersuchen. So besteht das grundlegende Problem der Soziologie darin, Aspekte der Funktionsweise eines Sozialsystems zu erklliren. In einem kausalen Diagramm kann es auf der Makro-Ebene als der Effekt einer Variable auf eine andere verstanden werden, wie etwa der EinfluB einer religi6sen Doktrin auf das 6konomische System (so z.B. Max Webers aUgemeine These in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus). Dies laBt sich folgendermaBen darstellen: (Protestantische) religiose Doktrin



(Kapitalistisches) okonomisches System

••

Abbildung 1: Makro-Beziehung: Methodologischer Holismus

Ein Teil der Sozialtheorie und der Sozialforschung beruhen ausschlieBlich auf Beziehungen dieser Art. Sie bringen hierdurch einen methodologischen Holismus zum Ausdruck, der in v611igem Gegensatz zum methodologischen Individualismus steht, der die Soziologie in einer Handlungstheorie verankert sieht. Eine der gr6Bten Schwachstellen der Theoriebildung und Forschung, die auf solchen Makro-Beziehungen basiert, ist die Unzulanglichkeit der Daten. Normalerweise treten auf der Makroebene, sowohl innerhalb eines einzelnen sozialen Systems im Zeitverlauf als auch zwischen verschiedenen Systemen, zu wenig Variationen auf, urn die se Beziehungen empirisch liberprtifen zu k6nnen. n Unter der Prlimisse einer funktionalistischen Theorie und einer 13

Dieser Nachteil zeigt sich sogar im Bereich okonomischer Aktivitiit, wo Veriinderungen sehr viel hiiufiger auftreten als in anderen Gesellschaftsbereichen. Die Analy-

69

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

homoostatischen Bestimmung des Systems (was die Moglichkeit immanenten Wandels ausschlieBt), besteht ein weiteres kaum begreif- und erkHirbares Problem darin aufzuzeigen, weshalb eine bestimmte Beziehung eher EinfluB gewinnt als eine andere. Eine dritte UnzuHinglichkeit resultiert schlieBlich daraus, daB ein solcher Ansatz die Existenz eines sozialen Systems immer schon voraussetzen muB und sich Fragen wie dem Hobbesschen Problem sozialer Ordnung nicht zuwenden kann. Ein zweiter theoretischer Ansatz zu den zentralen Problemen der Soziologie besteht darin, gerade nicht auf der Makroebene zu bleiben, sondern sich vielmehr auf die Ebene individuellen Handelns zu begeben, urn von dort aus wieder auf die Makroebene zuriickzukehren. Dieser Ansatz, der methodologische Individualismus, HiBt sich wie folgt darstellen: Makro-Ebene

Mikro-Ebene

(Protestantische) religiose Doktrin

(Kapitalistisches) okonomisches System

\~.I

Individuelle Werte

Individuelle Orientierungen zu okonomischem Verhalten

Abbildung 2: Makro-Mikro-Makro-Beziehungen: Methodologischer Individualismus

Dieses Diagramm verdeutlicht sowohl Parsons' Prograrnm als auch die Ursache seines Scheiterns. Parsons erkannte, daB sich die Arbeiten der von ihm untersuchten Theoretiker mit Beziehungen auf der Ebene des Sozialsystems befaBten (wie in Diagramm 1), und diese sich in der Folge den Beziehungen auf der Ebene der Individuen zuwandten (wie in Diagrarnm 2)14, wobei sie sich auf dieser Ebene (Beziehung Typ 1 in Diagramm 2) weitgehend auf die gleiche Handlungstheorie bezogen. Parsons' Vorschlag, eine allgemeine Sozialtheorie zu entwickeln, zielte nun darauf ab, die handlungstheoretische Perspektive weiterzuentwickeln, auf der die Beziehungen von Typ 1 beruhten. se der Wirtschaftszyklen der 30er und 40er Jahre, die die Veriinderungen von Variablen der Makroebene in Beziehung setzen wollte und somit die Veriinderung bestimmter Variablen aufgrund der Veriinderung anderer vorhersagen wollte, erwies sich als unfruchtbar. Obwohl es in der Okonomie immer noch Versuche gibt, solche Analysen durchzufiihren, hat sich ihre Niitzlichkeit noch nicht gezeigt. 14 DaB er hier Durkheim einbezogen hat, scheint nicht richtig zu sein, da Durkheims Arbeiten die Gestalt des ersten Diagrarnrns haben und nur Beziehungen auf der Makroebene einbeziehen, oder Makro-Mikro-Beziehungen des zweiten Typus in Diagrarnrn 2.

70

James S. Coleman

Es ist aber die Beziehung von Typ 3, die sieh als die groBte intellektuelle Htirde herausstellt, und dies sowohl flir die empirisehe Forsehung als aueh ftir eine Theorie, die Beziehungen auf der Makroebene tiber den Rtiekgriff auf das Konzept des methodologisehen Individualismus behandelt. So veransehaulieht zum Beispiel Max Weber in seiner Analyse von Protestantismus und Kapitalismus die Auswirkungen der Protestantisehen Ethik auf individuelle Werte (Beziehung von Typ 2), und ferner, wiederum qua Ansehauung, wie diese Werte die individuellen Orientierungen in bezug auf okonomisehes Verhalten beeinfIussen. Er vermoehte indes nieht aufzuzeigen, wie diese individuellen Orientierungen zusammenwirken, urn die Struktur der okonomisehen Organisation zu erzeugen, die wir Kapitalismus nennen (wenn dies tiberhaupt Folge jenes Zusammenwirkens ist).1 Vergleiehbares gilt aueh fUr Marx. Das Kernsttiek seiner Theorie besteht in einer Beziehung vom Typ 2, wonaeh die Produktionsmittel die Makrovariable bezeiehnen, und das individuelle BewuBtsein von den okonomisehen und den sozialen Interessen die Mikrovariable (ein Zusammenhang, der in seiner Feststellung "Das Sein bestimmt das BewuBtsein" zum Ausdruek kommt). Die Marxsehe Theorie ist an der Stelle am sehwaehsten, an der sie zu erklliren versueht, wie die derart erzeugten gemeinsamen Interessen in ein klassenbewuBtes soziales Handeln transformiert werden, d.h. in eine Beziehung vom Typ 3. Urn die Veranderungen auf der Makroebene aufzeigen zu konnen, muB sieh jede historisehe Forsehung tiber makrosoziale Systeme zwisehen der Makro- und der Mikroebene hin- und herbewegen. Aber es gibt eharakteristise he Verktirzungen, die einige Historiker benutzt haben, urn die in diesem ProzeB enthaltenen soziologisehen Probleme zu umgehen. Eine hiervon ist die "Gesehichte der groBen Manner", eine Theorie, die makrosoziale Veranderungen als Ergebnis der Handlungen einer einzelnen Person bestimmt. Eine zweite ist die "Versehworungstheorie der Gesehiehte", wonaeh makrosoziale Veranderungen das beabsiehtigte Ergebnis des Kalkiils einer bestimmten Gruppe von Akteuren sind, und nieht die emergente (und oft unbeabsichtigte) Folge der Interaktionen zwisehen Akteuren, die zahlreiche differierende Zweeke verfolgen. (Der Ausdruek "unbeabsiehtigte Folge" erinnert daran, 15

Es ist natiirlich nicht imrner so, daB Beziehungen des dritten Typs einfach ignoriert werden. Ein lehrreicher Fall ist hier Mertons "Puritanism, Pietism, and Science", wo er die selbe These aufstellt wie Weber, nur daB er Kapitalismus durch Wissenschaft ersetzt (Merton 1968: Kap. 20). Obwohl Merton seinen kritischen empirischen Test als einen zahlenmaBigen Vergleich von Protestanten und Katholiken im Wissenschaftsbetrieb betrachtete, zeigt er (fast zufallig), wie eine groBe Anzahl von Protestanten Institutionen entstehen lassen, die die wissenschaftliche Aktivitat fOrdern (wie die "Royal Society" in England oder puritanische Akademien). SoJche Belege verdeutlichen die Entwicklung des Wissenschaftssystems, weil das System ebenso von den Institutionen wie von den Individuen abhangt. Belege dieser Art fehlen in Webers Protestantischer Ethik.

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

71

daB Mertons Modifikationen des Funktionalismus in die selbe Richtung wiesen, die hier vorgeschlagen wird, er es aber versaumte, die Akteure und eine Handlungstheorie explizit in die Sozialtheorie wieder einzuftihren). Wenn das Problem des Ubergangs von der Mikro- zur Makroebene, wie es im Typ 3 von Diagramm 2 dargestellt ist, ernsthaft Gegenstand der Sozialtheorie werden solI, so muB zunachst festgestellt werden, daB es sich dabei nicht urn ein, sondern urn mehrere Probleme handelt. Indem man davon ausgeht, daB Interessen oder Ziele von Akteuren in unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen konnen, und dies wiederum unterschiedliche soziale Prozesse und unterschiedliche Institutionen zur Folge hat, kann man si ch diesen Problemen nahern. Ein Blick auf einige Beispiele soIcher Beziehungen, Prozesse und Institutionen veranschaulicht, worum es mir geht. 16 Eine erste Konfiguration ist jene voneinander unabhangiger Akteure, die ihre je eigenen Interessen und Ziele verfolgen, wobei jeder tiber Ressourcen verftigt, die zur Verwirklichung der Interessen der anderen beitragen konnen. Die Handlungen zielorientierter Akteure in dieser Konfiguration von Interessen und Ressourcen sind soIche sozialen Austauschs, und falls einige dies er Austauschprozesse ineinandergreifen, konnen wir von einer Marktinstitution sprechen. 17 Am deutlichsten zeigt sich dies am Beispiel okonomischer Markte, doch gibt es noch viele weitere: das Werben urn einen Partner und Heiratsmarkte (siehe Waller 1938 flir eine Beschreibung soIcher Markte und Becker 1981 flir eine Theorie der Heiratsmarkte), Arbeitsmarkte, der Markt, urn wissenschaftlichen Status zu gewinnen, oder der Markt flir den Zugang zu Universitaten (siehe Roth 1984 flir eine Beschreibung der Institution, die zu einem Markt fUr medizinische Niederlassungen fUhrt). Den paradigmatischen Theorieansatz zum Mikro-Makro Problem in der okonomischen Theorie stellt die Gleichgewichtstheorie dar, die aufzeigt, wie individueller Besitz und Praferenzen im Rahmen eines wettbewerbsorientierten Austausches zusammenwirken und ein Gleichgewicht der Preise und der Gtiterverteilung hervorbringen. Sehr wenig Aufmerksamkeit wurde bislang den gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen zuteil, die den Rahmen flir die Markte bilden, obwohl doch die experimentellen Arbeiten von Plott und Smith (1978) hier einen ersten Anfang gemacht haben, und auch die Netzwerktheorie (siehe Laumann 1986) moglicherweise hierzu einen Beitrag leisten kann.

16

17

In einem Kommentar zu einer friiheren Fassung dieses Beitrags pHidierte Gary Bekker flir eine grundsatzliche Unterscheidung zwischen sozialen Phanomenen, die zweckgerichtetes Handeln von Individuen getrennt einbeziehen (inklusive Markte und "principal-agent"-Beziehungen), und so1chen, die eine Komponente offentlicher Giiter aufweisen und Trittbrettfahrerprob1eme und Probleme kollektiven Entscheidens beriicksichtigen. Der Einfachheit halber gehe ich hier nicht auf die Tatsache ein, daB es notig ist, die Austauschprozesse dUTCh bestimmte MaBnahmen in Gang zu halten, aber auch andere Besonderheiten von Marktinstitutionen lasse ich hier unerwahnt.

72

James S. Coleman

Diese Konfiguration von Interessen und Ressourcen, in der zwei oder mehrere Akteure miteinander in einer Beziehung sozialen Austausches stehen, trifft man auBer im Fall von Mar-kten noch in einer Vielzahl weiterer Kontexte, denn sie ist Bestandteil vieler Institutionen (z.B. Peter Blaus (1964) Untersuchung informellen Tauschs in formalen Organisationen oder Homans (1958) klassischer Aufsatz zu sozialem Tausch in kleinen Gruppen). Eine zweite Konfiguration laBt sich von dieser ersten mit Hilfe der beiden Begriffe des Marktes und der Hierarchie abgrenzen. Im Gegensatz zum Markt als einem Beziehungsgefiige voneinander unabhangiger Akteure, stellt eine Hierarchie ein Geflecht von Beziehungen dar, in dem die Handlungen eines Akteurs unter der Kontrolle eines anderen stattfinden, und die der Verwirklichung der Interessen des Kontrollierenden dienen. Die hieraus resultierende Beziehung kann als ein Herrschaftsverhaltnis beschrieben werden, und Institutionen, die aus einer Anzahl miteinander zusammenhangender Herrschaftsbeziehungen bestehen, stellen formale Organisationen oder Herrschaftsstrukturen dar. In der Regel entstehen sie dadurch, daB sich ein Akteur - der Unternehmer oder Vorgesetzte - auf eine Reihe von Austauschprozessen einlaBt, die ein kohar-entes Produkt erbringen sollen und durch die er (wie auf dem Arbeitsmarkt) die Kontrolle iiber die Handlungen anderer erlangt. 18 Die auf diese Weise entstehenden Institutionen sind mit charakteristischen Problemen konfrontiert. Eines, das als "Agency" oder Vertretungsproblem beschrieben worden ist, besteht darin, daB der Vorgesetzte oder Chef eine Anreizstruktur entwickeln muB, die den Handelnden dazu bringt, die Interessen des Vorgesetzten bestmoglich zu verwirklichen. Entsprechend zeigt sich jedoch auch das Problem, daB der Handelnde selbst seine eigenen Interessen verwirklichen muB.19 Weitere charakteristische Probleme formaler Organisationen stellen aus handlungstheoretischer Perspektive jene der Entscheidungsfindung im Management dar, die Probleme der Koordination und andere Fragen der Organisation betreffen. Ein betrachtlicher Teil der Literatur der Organisationstheorie beschaftigt sich hiermit. Ebenso wie in der "Agency"-Theorie ist es nicht das manageriale Handeln allein, sondern deren Interaktion mit dem zweckgerichteten Handeln der Untergebenen, welche das systemische Handeln einer Organisation ausmacht. Innerhalb eines handlungstheoretischen Bezugsrahmens kommt es zu einer anderen Art von Herrschaftssystem, wenn eine gewisse Anzahl vonein18

19

Ein entscheidender Unterschied zwischen "individualistischen" politischen Philosophen wie Hobbes oder Locke und "kolIektivistischen" ist, daB letztere soIche Austauschprozesse fUr ilIegitim halten, es sei denn, der Unternehmer ist das KolIektiv, d.h. der Staat. Flir eine Diskussion dieses Aspekts siehe MacPherson (1964). Probleme von Agency sind ein Bereich, wo eine fruchtbare Zusammenarbeit der Soziologie mir der Rechtswissenschaft und der Okonomie denkbar ist. Eine Uberblicksarbeit bietet hier McDonald (1984). Mit Autoritatsfragen setzt sich Coleman (1980a) auseinander.

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

73

ander unabhangiger Akteure vertraglich auf einen Teil ihrer Rechte zugunsten einer zentralen Autoritat verzichtet, da sie sich hiervon einen Vorteil versprechen. Das ist die in der politischen Philosophie klassische Perspektive der Vertragstheoretiker auf das Hobbessche Problem der Ordnung, die nicht nur auf Gesellschaftssysteme, sondem auch auf die verschiedensten freiwilligen Vereinigungen wie etwa Gewerkschaften, Berufsverbande und Vereine angewandt wird. Wenn Herrschaftssysteme auf diese Weise entstehen, so ergeben sich hieraus bestimmte theoretische Folgeprobleme: am Ausgangspunkt eines solchen Systems stehen voneinander unabhangige Akteure, und es stellt sich die Frage, wie es unter diesen unabhangigen Akteuren zu einer Verfassungsgebung kommt, und wie die Verteilung von Rechten und Pflichten unter den Mitgliedem aussieht. Ein zweites Problem kann als das Trittbrettfahrerproblem beschrieben werden, bei dem gerade die Gemeinsamkeit der Interessen darauf hindeutet, daB die Handlungen jedes einzelnen dem gemeinsamen Ziel dienen und es somit im eigenen Interesse liegen kann, seinen Beitrag zum gemeinsamen Gut gerade nicht zu leisten. Die klassische Arbeit zu diesem Problemkreis ist Maucur Olsons The Logic of Collective Action (1965). Ein drittes allgemeines Problem ist das der sozialen Wahl, d.h. wie man zu kollektiven Entscheidungen oder systemischem Handeln gelangen kann, wenn das Recht zu korporativem Handeln nicht bei einer Person konzentriert ist. Kenneth Arrows hat mit Social Choice and Individual Values (1970) die klassische Arbeit hierzu vorgelegt. Dies sind Problemstellungen, die weite Bereiche der Politikwissenschaft stark beschaftigen, wobei ein groBer Teil formaler theoretischer Arbeit hierzu unter der allgemeinen Bezeichnung "Public Choice" geleistet wurde (siehe z.B. die Beitrage in der Zeitschrift Public Choice). Der revolutionare Umsturz eines existierenden Herrschaftssystems stellt schlieBlich den dritten moglichen Ursprung von Herrschaftssystemen dar. Ein zentrales Problem der Revolutionstheorie aus der Perspektive zweckgerichteter Akteure sind die Bedingungen, unter denen Untergebene sich erheben, vor allem im Gefolge der Organisationsprobleme, die aus dem Trittbrettfahrersyndrom resultieren (die Tatsache, daB ein potentieller Unterstiitzer der Revolution die Friichte der Revolution genieBen mag, unabhangig ob er hierzu einen Beitrag leistet). Obwohl noch am Anfang, wird ihre Entwicklung durch einige Forscher vorangetrieben, deren Beitrage von historischen Arbeiten iiber gesellschaftliche Umwalzungen (wie z.B. jene von Tilly 1975), iiber Studien gegenwmiger sozialer Bewegungen (z.B. LeiteslWolf 1970, Oberschall 1973, Popkin 1979), bis hin zu psychologischen Untersuchungen zur eingeschrankten Aufmerksamkeit bei der Entscheidungsfindung in Kleingruppen (z.B. terroristische Gruppen) reichen. Welchen Verlauf nehmen Revolutionen von ihrem Beginn bis zur Etablierung einer neuen stabilen Herrschaftsordnung? Wenngleich die Revolutionstheorie dieses Problem als Sonderfall einer Konfliktdynamik innerhalb

74

James S. Coleman

eines sozialen Systems betrachten kann, verlangt eine handlungstheoretisch fundierte Sozialtheorie empirische Studien und die Weiterentwicklung der Theorie. Eine dritte Konfiguration, neben unabhangigen Akteuren in Austauschbeziehungen (in Markten und anderswo) und Herrschaftsstrukturen, besteht in gemeinsamen Interessen unabhangiger Akteure. Diese gemeinsamen Interessen konnen, wie im Falle der Verfassungsgebung gezeigt wurde, die Voraussetzungen fiir Trittbrettfahrerverhalten bilden, zugleich aber auch zur Entstehung sozialer Normen fiihren. Wahrend die meisten Sozialtheorien auBerhalb des methodologischen Individualismus die Existenz sozialer Normen schlicht als gegeben voraussetzen, ignorieren Ansatze des methodologischen Individualismus die Existenz sozialer Normen vollstandig. Das entscheidende theoretische Problem besteht darin, den ProzeB aufzuklaren, wie durch individuelles Handeln Normen (und Sanktionen) erzeugt werden; ein Thema, das bislang kaum bearbeitetet wurde, obwohl Ullmann-Margalit (1977) einen Anfang gemacht hat und auch ich mich mit dieser Thematik beschaftigt habe (Coleman 1986). Neben dieser allgemeinen Klassifikation von Konfigurationen individueller Interessen und Ressourcen, die zu Markten, Herrschafts- oder Normsystemen fiihren, gibt es noch weitere, die nicht nur bei der Entstehung stabiler Strukturen, die wir Institutionen nennen, eine RoUe spielen, sondern auch bei dynamischen Prozessen oder Ubergangszustanden. Das Vertrauen eines Akteurs gegeniiber einem anderen ware beispielsweise eine Beziehungsform, die gegenseitige EinfluBname erlaubt; Kommunikationsstrukturen, die den InformationsfluB ermoglichen oder verhindern, eine andere. Die Reproduktion der Bevolkerung und geographische Migration, zwei zentrale Prozesse aus dem Bereich der Demographie, lassen sich ebenfaUs dies em allgemeinen Typus zuordnen. Diese Darstellung der verschiedenen Konfigurationen, Prozesse und Institutionen beansprucht nicht vollstandig zu sein. !ch habe lediglich einige Richtungen aufgezeigt, in die sich eine Sozialtheorie, die auf einer Theorie zielgerichteten Handelns beruht, entwickeln muB - was in einigen Fallen auch schon geschieht -, wenn sie den Ubergang von der Mikro- zur Makroebene zu fassen versucht, an dem Parsons scheiterte. Hierzu konnen sowohl qualitative und historische Arbeiten als auch quantitative Forschung oder formale Modelle beitragen. 20 Entscheidendes Kriterium fiir die Beantwortung des von ihnen geleisteten Beitrages ist, ob sie weitere Aufschliisse iiber die in Diagramm 2 dargestellten Beziehungen ermoglichen, vor allem iiber die am schwersten faBbare dieser drei Beziehungen, die Mikro-Makro Beziehung (Typ 3).

20 Ein Beispiel fUr eine qualitative Arbeit, die das versucht, ist Michael Hechters The Microfoundation of Macrosociology (1983).

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

75

Empirische Forschung und Handlungstheorie Die empirische Sozialforschung vor der beschriebenen Wende in den Vereinigten Staaten der 40er Jahre (und in weiterer Forschung seither) war von einer Alltagstheorie zweckgerichteten Handelns beherrscht. Der prototypische Forschungsansatz innerhalb der amerikanischen Soziologie war die Gemeindestudie, die sich auf ethnographische Daten sttitzte und bei der die Grtinde, auf denen das Handeln der Akteure basiert, viel von dem erkUirten, was als Funktionsweise der Gemeinde beschrieben wurde. Dies verdeutlicht das folgende Zitat aus der Middletown-Studie tiber die Bedeutung der Kleidung fUr Schtiler der Highschool: "Da eines der Hauptkriterien fUr die Aufnahme in den exklusiven Madchenclub die Anziehungskraft auf Jungen ist, bekommt ein einfach gekleidetes Madchen die Macht dieses Tabus doppelt zu sptiren, solange es ihr nicht gelingt, eine ,Aufforderung' zu erhalten. ,Wir brauchen Jungen fUr den Weihnachts-Tanzabend, deshalb nehmen wir jene Madchen auf, die uns die Jungen bringen', erklarte ein alteres Mitglied des exklusivsten Madchenclubs der Highschool" (LyndlLynd 1929: 163). Die Sozialforschung nach der methodischen Wende war im wesentlichen statistischer Natur und darauf ausgerichtet, individuelles Verhalten zu erklaren, sie ersetzte jedoch zweckgerichtete Erklarungsansatze durch kausale, auf statistischen Beweisen beruhende Erklarungen. Dieser Wandel kann etwa durch den ProzeB beschrieben werden, in dem der statistische Zusammenhang zwischen Variablen, das grundlegende Werkzeug der Beschreibung und Analyse, an die SteIle des sinnvoIlen Zusammenhangs von Ereignissen getreten ist. In der Regel resultierte der "Bedeutungszusammenhang" aus dem Zusammenwirken der Intentionen und Zielen eines einzelnen Akteurs oder dem Zusammenwirken mehrerer Akteure. 21 Die reichhaltigen und detaillierten Beschreibungen, die das Verstehen sozialen Handelns forderten, steIlten haufig einen Vorteil dieses Forschungsansatzes dar; die Unfahigkeit, tiber Beschreibungen des Systems hinauszugelangen, urn analytische Fragen stellen und beantworten zu konnen, erwies sich hingegen oft als entscheidender Nachteil. Im Kontext der in der quantitativen Sozialforschung verbreiteten kausalen Erklarungsmodelle, wonach das Verhalten von individuellen Merkmalen und sozialen Bedingungen beeinfluBt ist, erscheint es in der Tat seltsam, diese Forschungsprobleme unter dem Aspekt zweckgerichteten Handelns anzugehen. Wenn eher individuelles denn Systemverhalten erklart werden soIl, hat das aIlgemein tibliche Verstandnis von "Zielen" tatsachlich zwei ent21

In anderen Fallen entstanden diese Verkniipfungen auch auf andere Weise, zum Beispiel durch den objektiven Zusammenhang zwischen den Ereignissen selbst. Aber eine Textanalyse bei einer der friihen Gemeindestudien wiirde zeigen, daB erst die subjektiven Gemiitslagen der Akteure eine Verkniipfung von Ereignissen ermoglichte, die ansonsten als unabhangig betrachtet worden waren.

76

James S. Coleman

scheidende Mangel fUr die Erklfuung von Handeln, gleich, wie ausgefeilt die Analyse der Griinde auch sein mag (ein in den 40er und 50er Jahren entwikkelter Erklfuungsansatz, bei dem die Teilnehmer einer Umfrage nach den Griinden ihres Handelns befragt wurden, und diese dann in die Analyse einbezogen wurden). Zum einen werden dabei nur diejenigen Aspekte beriicksichtigt, derer sich der Handelnde bewuBt ist. Zum anderen miissen aber auch die Erklarungen des Akteurs selbst als ein soziales Handeln mit einem Ziel betrachtet werden, das innerhalb des Kontextes der angegebenen Griinde oder Absichten zu verorten ist. Die Handlungstheorie kann jedoch auch in ganz anderer Weise zur Analyse individuellen Handelns herangezogen werden. Bei der Analyse von Umfragedaten, die sich auf individuelles Verhalten beziehen, sehen sich Okonomen einer Reihe ahnlicher Probleme gegeniiber wie Soziologen. Sie benutzen dazu aber statistische Verfahren, die sich von jenen unterscheiden, die Soziologen zur Analyse der selben oder vergleichbarer Daten anwenden. Ein Soziologe, der die Berufstatigkeit von Frauen mittels statistischer Analysen untersuchen mochte, wird beispielsweise verschiedene mogliche ,Determinanten' wie Alter, Familienstand, Anzahl und Alter der Kinder, Einkommen des Ehemannes etc. und die relativen Auswirkungen dieser Faktoren auf die weibliche Berufstatigkeit als Erklfuung anbieten. Ein Okonom mit derselben Fragestellung wird die Sache anders angehen und von einer Nutzenfunktion ausgehen, wonach jede Frau versuchen wird, ihren Nutzen zu maximieren (siehe beispielsweise Heckmann 1974, Mincer 1974).22 Wenn ihre Hausarbeit von groBerem Wert ist als der Lohn aus einer Berufstatigkeit, wird sie keine Arbeit aufnehmen; falls dies nicht der Fall ist, wird sie sich Arbeit suchen, d.h. man hat es hier mit einem besonderen Fall individueller Nutzenmaximierung zu tun. In diesem Handlungsmodell liefert die Nutzenfunktion Stoff fUr Auseinandersetzungen und an dieser Stelle kommen einige derjenigen Variablen ins Spiel, die ein Soziologe einfUhren wiirde. Im Endeffekt konnte die okonometrische Analyse des Okonomen der Regressionsanalyse des Soziologen sehr ahnlich sein, wobei die jeweiligen Interpretationen jedoch stark voneinander abweichen werden. In der soziologischen Analyse beeinflussen die Variablen die "Aufnahme einer Berufstatigkeit", wohingegen in der Analyse des Okonomen die Variablen den Wert der Hausarbeit beeinflussen. Die Entscheidung, eine Tatigkeit aufzunehmen, beruht dann auf einem Vergleich dieses Wertes mit dem auf dem Arbeitsmarkt zu erwartenden Lohn. Die Vor- und Nachteile dieser beiden Ansatze einer empirischen Handlungsanalyse wurden bisher kaum sorgfaitig beurteilt. Zweifellos haben beide aber ihre Vorziige: der offenere Zugang, der den Mechanismus, durch den eine Variable ein bestimmtes Verhalten erzeugt, nicht erkliirt, und das starker theoretisch strukturierte Modell, welches spezifiziert, wie eine Variable Han22

Manchmal schreibt man auch dem Haushalt die Nutzenfunktion zu.

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

77

deln beeinfluBt. Aus der Sicht der Sozialtheorie hat der 6konomische Ansatz jedoch noch weitere SUirken; indem er sich auf eine zielorientierte Handlungstheorie (Nutzenmaximierung) stiitzt, besitzt er gr6Bere Vorhersagekraft, wie sich Handeln unter gewandelten Rahmenbedingungen verandert (z.B. wie sich die weibliche Berufstatigkeit verandert, wenn sich der Wert ihrer Zeit auBerhalb der Berufswelt andert). Zusatzlich hat dieser Ansatz den Vorteil, daB er mit den konzeptionellen Grundlagen eines groBen Teils der Sozialtheorie seit den Naturrechts-Philosophen des 17. Iahrhunderts iibereinstimmt. Keiner der beiden von mir dargestellten Ansatze geht jedoch iiber eine Bestimmung des Mikro-Makro Problems, wie ihn Beziehungstyp 1 reprasentiert, hinaus. Es bleibt die Frage, ob systematische und auf Daten der individuellen Ebene basierende quantitative Forschung nur fUr Erkliirungen individuellen Verhaltens bedeutsam ist, oder auch fiir Aussagen iiber deren soziale Konsequenzen, also Beziehungen des dritten Typs. Urn der Antwort auf diese Frage naher zu kommen, bietet sich eine Vergleich der Studien Opportunity and Change von Featherman und Hauser (1978) und Inequality von Iencks et al. (1972) an. Widmete sich die erste einem Problem auf der Ebene der Individuen - der Frage individuellen Statuserwerbs: Was sind die Determinanten des beruflichen Status einer Person? -, so lag die Problemstellung bei Iencks et al. auf der Ebene der Gesellschaft. Sie gingen der Frage nach, ob eine Erh6hung des gesellschaftlichen Bildungsniveaus die bestehenden Einkommensunterschiede vermindert. Es war dieser Unterschied in der Fragestellung, aufgrund derer Iencks' Buch auch auBerhalb der Sozialwissenschaften Aufmerksamkeit erlangte, wiihrend sich fiir die Arbeit von Featherman und Hauser in erster Linie soziologische Ungleichheitsforscher interessierten. Beide Biicher widmeten sich dem Verhaltnis von Bildung und Berufschancen, doch waren die leitenden Forschungsfragen auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. Iencks' Arbeit wurde zu einem Meilenstein der quantitativen Sozialforschung, denn er problematisierte die Frage nach der Auswirkung des Bildungsniveaus einer Gesellschaft auf die in ihr vorhandenen Einkommensunterschiede auf der Ebene des Gesellschaftssystems und nicht auf der der Individuen, wie im Falle von Typ 1 oder 2. Die in der quantitativen Soziologie iiblichen Forschungsmethoden fiihrten jedoch beide Untersuchungsteams zu einer ahnlichen Analyse auf der Ebene der Individuen. Iencks und seine Mitarbeiter fragten nach den Auswirkungen des h6heren Bildungsniveaus eines Individuums auf dessen Einkommen, unter der Voraussetzung, daB die Bildung aller anderen konstant bleibt. Obwohl sie damit eine Frage auf gesellschaftlicher Ebene formulierten, beantworteten sie eine Frage des ersten Typs: we1che Effekte hat eine Veranderung des Bildungsniveaus auf das Einkommen der Personen (wenn man die Einkommen aller anderen Personen konstant halt)? Doch liefert die Antwort keine Information fUr eine Frage, die notwendig ist, urn Fragestellungen auf der Ebene der Gesellschaft beantworten zu k6nnen: Wie wirkt sich eine Veranderung des Bildungniveaus eines Individuums auf sein Einkommen aus, wenn sich die Bildung

78

James S. Coleman

alter anderen auf dem selben Arbeitsmarkt ebenfalts iindert?23 Erst mit der Beantwortung dieser den Kontext mit einbeziehenden Frage wird eine Behand lung gesellschaftlicher Probleme m6glich. 24 Dieses Beispiel verdeutlicht die notwendigen Schritte zur Untersuchung von Beziehungen des dritten Typs. Der Schritt von der Mikro- zur Makroebene umfaBt in diesem Fall einen potentiell starken Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau einer Person und jenem der anderen innerhalb desselben Kontextes, ein Zusammenhang, der als Wettbewerbseffekt beschrieben werden kann. Urn eine Mikro-Makro-Beziehung von Typ 3 zu analysieren, mussen die m6glichen Zusammenhange spezifiziert, modelliert (genauer als ich es hier getan habe) und dann uberpriift werden. In diesem Fall kann man eine solche Untersuchung mittels quantitativer Analyse individuellen Verhaltens beginnen, wie sie die Soziologen kennen. Eine Analyse der Auswirkung von Bildung auf das Einkommen erfordert die Einbeziehung einer kontextuellen Variable, - dem Bildungsniveau der anderen in demselben Kontext (d.h. demselben Wettbewerbsmarkt). 1st der Koeffizient fur die kontextuelle Variable null, dann impliziert dies, daB die Relation auf der individuellen Ebene zwischen Bildung und Einkommen auf die gesellschaftliche (oder zumindest Markt-) Ebene verweist, und demnach eine einfache Aggregation der Einzelresultate genugt. Dies hatte zur Folge, daB der Ertrag aus Bilclung auf cler individuellen und auf der gesellschaftlichen Ebene gleich ist. Ein Koeffizient ungleich null impliziert, daB die Beziehung von Typ 3 komplizierter ist und eine einfache Aggregation nicht ausreicht. 25 (Ein nega23

Die Okonomen bezeichnen das aIs generelles GIeichgewichtsproblem, im Gegensatz zu einem partiellen Gleichgewichtsproblem. In einem Markt basiert das partielle Gleichgewichtsprob\em auf der Frage, wie ein Lieferant das Produktionsniveau verandert, wenn sich der Preis verandert, oder wie ein Konsument das Nachfrageniveau verandert, wenn sich der Preis verandert. Dies sind Probleme vom Typ 1. Probleme vom Typ 3 teiIen Okonomen in der RegeI in zwei Teile: Sie erstellen Nachfrage- und Angebotskurven fUr den Markt; dann bringen sie sie zusammen, urn das Preis- und Angebotsgleichgewicht (das allgemeine Gleichgewicht) zu bestimmen, falls diese beiden TeiIe aIs Komponenten eines Marktes fungieren. 24 Der Unterschied zwischen der Frage auf individueIIer und auf geseIIschaftIicher Ebene hangt eng mit dem von Okonomen postuIierten Unterschied zwischen der privaten Ertragsrate aus BiIdung und der offentIichen Ertragsrate aus BiIdung zusarnmen, denn wenn sich das Bildungsniveau aIIer verandert - obwohI das hOhere BiIdungsniveau zu hOherer Produktivitat fiihrt -, wird sich das Einkommen des einzelnen nicht verandern, weiI auch die Produktivitat der gesamten Volkswirtschaft gIeich bleibt. 25 Ein einfaches geometrisches ModeII dieses Aspekts des Arbeitsmarktes konnte konstruiert werden, indem man auf der X-Achse das durchschnittIiche BiIdungsniveau angibt, und die Kosten von BiIdung (z.B. Lohn pro BiIdungseinheit) auf der YAchse. Die partieIIe Gleichgewichtsgerade stellt die Nachfrage nach ausgebiIdeten Arbeitnehmern dar und wiirde nach rechts unten abfallen; das Angebot an ausgebiIdeten Arbeitnehmern wiirde nach rechts oben steigen. Das allgemeine Gleichgewicht befande sich am Schnittpunkt dieser beiden Kurven. Die Verschiebung dieses Gleichgewichtspreises, wenn sich das durchschnittliche BiIdungsniveau verandert,

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

79

tiver Koeffizient, der gleich groB ist, nur mit anderem Vorzeichen wie der Koeffizient des individuellen Bildungsniveaus, impliziert, daB die gesellschaftliche Ertragsrate von Bildung gleich null ist). Ein explizites Modell, wodurch diese Interdependenz ein soziales Ergebnis zeitigt, ware dann notwendig. Wettbewerb ist nattirlich nur eine Form der Interdependenz individueller Handlungen. Im Fall von Einstellungsanderung oder Wertewandel wiirde das Modell, das individuelles Handeln mit dem Verhalten des Systems verkniipft, nicht Wettbewerb beinhalten, sondern vielleicht Vertrauen oder EinfluB. Eine Veranderung auf der Makroebene, die (mittels einer Beziehung von Typ 2) den Wandel individueller Werte direkt beeinfluBt, kann durch Verstarkung letztlich einen viel deutlicheren Effekt haben.26 Die Beziehung von Typ 3 zeigt, wie es dazu kommt. DaB es Soziologen nicht gelingt, solche Modelle zu entwickeln und zu tiberpriifen, erklart vielleicht zum Teil, weshalb sie Phanomene wie den EinfluB der Massenmedien auf Normen nicht erfassen k6nnen. Eine soziale Norm ist eine Variable auf der Makroebene, die zwar auf individuellen Werten beruht, aber nicht mit ihnen gleichzusetzen ist. Meine Beschreibung dessen, was notwendig ist, urn mit quantitativen Daten Beziehungen des dritten Typs zu untersuchen, stellt lediglich die Skizze eines Forschungsprogramms dar. Ein solches Prograrnm verandert die Philosophie, das Design und die Analysemethoden der auf individuellen Daten basierenden quantitativen Forschung, doch die Anderungen sind notwendig, wenn man auf der Grundlage solcher Daten das Verhalten sozialer Systeme und nicht nur jenes von Individuen untersuchen will. Mit Hilfe der empirischen Forschung ist es aber auch m6glich, einen Schritt iiber die Analyse isolierter Mikro-Makro-Beziehungen hinauszugehen und zur Untersuchung eines Handlungssystems zu gelangen. Das ist es, was Historiker und Ethnographen traditioneller Weise mit qualitativen Daten taten (ein noch immer lehrreiches Beispiel, das die Nachbarschaft als soziales System behandelt, ist Street Corner Society von Whyte [1943]). Diese Forschungsarbeit hat deskriptiven Charakter und erhebt keinen theoretischen Anspruch, obgJeich sie durchaus Einsichten flir die Theoriebildung bereithaIt. Urn auf der Grundlage quantitativer Daten systemisches Handeln zu analysieren, braucht man jedoch ein formales theoretisches Modell, das indidriickt sich aus im Regressionskoeffizienten einer Regression der Durchschnittseinkommen auf die durchschnittliche Bildung in geschlossenen Arbeitsmarkten. Wenn die Arbeitsmiirkte offen sind, laSt sich eine so\Che Analyse nicht durchfiihren. In anderen Bereichen lassen sich ahnliche Probleme auf diese Weise analysieren, beispielsweise was den schulischen Lernerfolg anbelangt (zum Beispiel der Preis in Schulnoten fUr einen bestimmten Lernfortschritt). 26 Die Umfrageforschung zur Untersuchung so\Cher Interdependenzen wurde zum ersten Mal eingesetzt bei Katz und Lazarsfelds Personal Influence (1955) und Coleman, KatzIMenzels Medical Innovation (1966), aber da ein konkretes Konzept fehlt, wie individueller Wan del rnit gesellschaftlichen Veranderungen verkniipft ist, waren diese Versuche nicht sehr erschtipfend.

80

James S. Coleman

viduelle Handlungen mit der Funktionsweise des Systems in Beziehung setzt. 27 Einige Forschungsarbeiten haben sich mit der Funktionsweise von Gemeinden beschaftigt (siehe Marsden 1981, MarsdenILaumann 1977, Pappi/Kappelhoff 1984), doch bisher wurden kaum mehr als Anfange gemacht. Man kann tatsachlich behaupten, da~ die Soziologie hier an eine der wichtigsten Grenzen zwischen Forschung und Theorie st6Bt. Die von mir beschriebenen Mangel der Sozialforschung behindern aber nicht nur die Entwicklung der Sozialtheorie, sie sind zum Teil auch fiir die dramatische Schieflage verantwortlich, in der bestimmte gesellschaftliche Probleme - ohne iiberzeugende Beitrage von Soziologen - formuliert und angegangen werden. So fiihrten zum Beispiel der gesunde Menschenverstand und einfache psychologische Modelle zur Vorschrift fiir Lehrer, die Kinder einzeln anzuleiten und auf deren individuelle Bediirfnisse zu achten. Das Fehlen soziologischer Theorie und Forschung, die zeigte, wie miteinander zusammenhangende individuelle Handlungen die soziale Struktur und Kultur im Klassenzimmer erzeugen, und die se ihrerseits wiederum Motivation und Lernen beeinflussen, hat zur Folge, daB solche irrefiihrenden Anweisungen nicht hinterfragt werden. Ein weiteres Beispiel sind die einfachen Modelle des perfekten Marktes in der Wirtschaftswissenschaft, die Empfehlungen einer Strategie unbegrenzten Freihandels nach sich ziehen. Es werden nur "wirtschaftliche Konsequenzen" beriicksichtigt, Folgen fiir soziale Institutionen werden hingegen ignoriert. Wenn Politiker Bedenken dieser Art wieder in die Diskussion einbringen, tun sie dies oh ne die intellektuelle Fiihrung durch Sozialtheorie und Sozialforschung.

Schlu8folgerung Talcott Parsons' Versprechen einer voluntaristischen Handlungstheorie aus dem Jahr 1937 blieb unverwirklicht und seit dieser Zeit haben si ch Sozialtheorie und Sozialforschung weit voneinander entfernt. Dieser Zustand resultiert vor allem daraus, daB die Struktur einer Sozialtheorie, die auf einer Handlungstheorie beruht, nicht analysiert wurde. Wenn die Ursachen dieser Entfremdung aufgezeigt werden, wie ich das hier getan habe, werden auch die Richtungen produktiver Theoriebildung und theoriefordernder Forschung (sowie die Tatsache, daB dadurch der gesellschaftliche Beitrag der Soziologie an Bedeutung gewinnt) offensichtlich. Die letzten beiden Kapitel zielten darauf ab, die Richtung hierfiir aufzuzeigen.

27

FUr eine Arbeit, die ein so1ches Modell zu entwickeln versucht, siehe Coleman (1986).

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

81

Literatur Arrow, Kenneth. 1970. Social Choice and Individual Values. 2. Aufl. New Haven Conn.: Yale University Press. Becker, Gary S. 1981. A Treatise on the Family. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Blau, Peter. 1964. Power and Exchange in Social Life. New York: Wiley. Blau, Peter, Otis D. Duncan. 1967. The American Occupational Structure. New York: Wiley. Coleman, James S. 1958. "Relational Analysis: The Study of Social Organization with Survey Methods." In Human Organization 17 (4): 28-36. 1961. The Adolescent Society. New York: Free Press. 1978. "Sociological Analysis and Social Policy." In Tom Bottomore, Robert Nisbet (Hg.) A History of Sociological Analysis. New York: Basic. 1980a. "Authority Systems." In Public Opinion Quarterly 44: 143-63 1980b. "The Structure of Society and the Nature of Social Research." In Knowledge: Creation, Diffusion, Utilization 1 (3): 333-50. 1982. The Asymmetric Society. Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press. 1985. "Responsibility in Corporate Action: A Sociologist's View." In Klaus J. Hopt, Gunther Teubner (Hg.) Corporate Governance and Directors' Liabilities. Berlin: de Gruyter. 1986. Individual Interests and Collective Action. Cambridge: Cambridge University Press. Coleman, James S., Elihu Katz, Herbert Menzel. 1966. Medical Innovation. Indianapolis: Bobbs-Merrill. Coleman, James S., et al. 1966. Equality of Educational Opportunity. Washington, D.C.: Government Printing Office. Elster, Jon. 1985. Making Sense of Marx. Cambridge: Cambridge University Press. Featherman, David L., Robert M. Hauser. 1978. Opportunity and Change. New York: Academic Press. Goodman, Leo A. 1961. "Snowball Sampling." In Annals of Mathematical Statistics 32: 148-70. Habermas, Jiirgen. 1971. Toward a Rational Society. London: Heinemann. Hechter, Michael. 1983. The Microfoundations of Macrosociology. Philadelphia: Temple University Press. Heckman, James J. 1974. "Effects of Child-Care Programs on Women's Work Effort." In Journal of Political Economy 82, pt. 2: S136-S163. Homans, George. 1958. "Social Behavior as Exchange." In American Journal of Sociology 63: 597-606. Hopt, Klaus J., Gunther Teubner (Hg.) 1985. Corporate Governance and Directors' Liabilities. Berlin: de Gruyter. Jencks, Christopher, et. al. 1972. Inequality. New York: Basic. Kahneman, Daniel, Amos Tversky. 1979. "Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk." In Econometrica 47: 263-91. Katz, Elihu, Paul F. Lazarsfeld. 1955. Personal Influence. Glencoe, Ill.: Free Press. Kendall, Patricia L., Paul F. Lazarsfeld. 1950. "Problems of Survey Analysis." In Robert K. Merton, Paul F. Lazarsfeld (Hg.) Continuities in Social Research. Glencoe, Ill.: Free Press. Laumann, Edward. 1986. "Social Network Theory." In Siegwart Lindenberg, James Coleman, Stefan Nowak (Hg.) Approaches to Social Theory. New York: Russell Sage.

82

lames S. Coleman

Lazarsfeld, Paul F. 1935. "The Art of Asking Why." In National Marketing Review 1: 3243. 1972. "Historical Notes on the Empirical Study of Action." In Qualitative Analysis: Historical and Critical Essays. Boston: AlIyn & Bacon. Lazarsfeld, Paul F., Bernard Berelson, Hazel Gaudel. 1944. The People's Choice. New York: Duell, Sloan, & Pierce. Lazarsfeld, Paul F., Anthony R. OberschalI. 1965. "Max Weber and Empirical Social Research." In American Sociological Review 30: 185-92. Lazarsfeld, Paul F., Frank N. Slanton (Hg.) 1941. Radio Research, 1941. New York: Duell, Sloan, & Pierce. Leites, Nathan, Charles Wolf, Ir. 1970. Rebellion and Authority. Santa Monica, Calif.: Rand. Lipset, Seymour, Martin Trow, James Coleman. 1956. Union Democracy. Glencoe, Ill.: Free Press. Lynd, Robert. 1939. Knowledge for What? Princeton, N.J.: Princeton University Press. Lynd, Robert, Helen Lynd. 1929. Middletown. New York: Harcourt Brace. McDonald, Glenn. 1984. "New Directions in the Economic Theory of Agency." In Canadian Journal of Economics 17: 415. MacPherson, Crawford B. 1964. The Political Theory of Possessive Individualism. Oxford: Oxford University Press. MacRae, Duncan, Jr. 1985. Policy Indicators: Links between Social Science and Public Debate. Chapel Hill: University of North Carolina Press. Marsden, Peter V. 1981. "Introducing Influence Processes into a System of ColIective Decisions." In American Journal of Sociology 86: 1203-35. Marsden, Peter V., Edward O. Laumann, 1977. "Collective Action in a Community Elite: Exchange, Influence Resources and Issue Resolution." In R. I. Liebert, A. W. Imershein (Hg.) Power, Paradigms and Community Research. Beverly Hills, Calif.: Sage. Merton, Robert K. 1968. Social Theory and Social Structure. New York, London: Free Press. Merton, Robert K., Alice S. Kitt. 1950. "Contributions to the Theory of Reference Group Behavior." In Robert K. Merton, Paul F. Lazarsfeld (Hg.) Continuities in Social Research. Glencoe, Ill.: Free Press. Mincer, Jacob. 1974. Schooling, Experience, and Earnings. New York: Columbia University Press. OberschalI, Anthony. 1973. Social Conflict and Social Movements. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-HalI. Olson, Mancur. 1965. The Logic of Collective Action. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Pappi, Franz, Peter Kappelhoff. 1984. "Abhangigkeit, Tausch und Kollektive Entscheidung in einer Gemeindeelite." In Zeitschrift fUr Soziologie 13 (2): 87-117. Parsons, Ta1cott. 1937. The Structure of Social Action. New York: McGraw-Hill. The Social System. 1951. Glencoe, Ill.: Free Press. Parsons, Ta1cott, Robert F. Bales, Edward A. Shils. 1953. Working Papers in the Theory of Action. Glencoe, Ill.: Free Press. Parsons, Talcott, Edward Shils (Hg.) 1951. Toward a General Theory of Action. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Parsons, Ta1cott, Edward Shils, Kaspar Naegele, and Jesse Pitts. 1961. Theories of Society. Glencoe, Ill.: Free Press. Plott, Charles R., and Vernon Smith. 1978. "An Experimental Examination of Two Exchange Institutions." Review of Economic Studies 45 (February): 133-53.

Sozialtheorie, Sozialforschung und eine Handlungstheorie

83

Popkin, Samuel L. 1979. The Rational Peasant. Berkeley, Los Angeles: University of California Press. Posner, Richard A. 1977. The Economic Analysis of Law. 2d ed. Boston: Little, Brown. Roth, Alvin. 1984. "The Evolution of the Labor Market for Medical Interns and Residents: A Case Study in Game Theory." In Journal of Political Economy 92: 9911016. Scheppele, Kim L. 1988: Legal Secrets: Equality and Efficiency in the Common Law. Chicago: University of Chicago Press. Stone, Christopher. 1975. Where the Law Ends. New York: Harper & Row. Stouffer, Samuel A., Arthur A. Lumsdaine, Marion Harper Lumsdaine, Robin M. Williams, Jr., M. Brewster Smith, Irving L. Jams, Shirley A. Star, Leonard S. Cottrell, Jr. 1949. The American Soldier. Princeton, NJ.: Princeton University Press. Tilly, Charles, Louise Tilly, Richard Tilly. 1975. The Rebellious Century, 1830-1930. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Ullmann-Margalit, Edna. 1977. The Emergence of Norms. Oxford: Clarendon. Waller, Willard. 1938. The Family: A Dynamic Interpretation. New York: Gordon. Whyte, William F. 1943. Street Corner Society. Chicago: University of Chicago Press.

Eine Fabel iiber die Sozialstruktur Peter M. Blau

AIs das Raumschiff endlich zur Landung auf Stern 8R ansetzte, erwartete niemand, dort irgendwelche Bewohner anzutreffen. SchlieBlich war das bereits die 964. Mission zu einem anderen Stern, und nie hatte man irgendwelche Formen von Leben gefunden - abgesehen vielleicht von den Steinen, die man von der 804. Mission nach Hause gebracht hatte und auf denen versteinerte Einzeller gewesen sein sollen, wie manche Wissenschaftler behaupteten, andere bestritten dies jedoch. Aber iiberraschenderweise stieS man diesmal doch auf Lebewesen, die sich auch sofort versammelten, als das Raumschiff gelandet war. Sie sahen eigentlich nicht aus wie Menschen, waren aber gewiB menschenahnlicher als irgendwelche Einzeller. Die beiden Soziologen an Bord des Raumschiffs machten sich sofort an die Arbeit und studierten diese Lebewesen auf 8R (die Aytarier, wie sie jemand spontan nannte), wahrend die anderen Wissenschaftler ihren spezifischen Aufgaben nachgingen. Soweit die Soziologen das beurteilen konnten, glichen sich die Aytarier bis auf zwei Merkmale. Sie unterschieden si ch lediglich nach Farbe und Gr6Be. Einige von ihnen waren blau, andere griin, und ihre Gr6Be variierte zwischen 25 und 75 Zentimetern. Hinsichtlich des Geschlechts und des Alters waren keine Unterschiede auszumachen. Zwar verstrich auch fiir die Aytarier die Zeit, dies veranderte sie jedoch nicht, so daB sie weder alterten noch irgendwann starben, und sich deshalb auch nicht fortpflanzen muBten. (Herauszufinden, wie die Aytarier ihren Organismus regenerierten, war die Aufgabe der mitgereisten Biologen.)

Charakteristische Kennzeichen der aytarischen Dorfer ond Inseln Wahrend sich die Individuen nur hinsichtlich eines dichotomen und eines kontinuierlichen Merkmals voneinander unterschieden, zeigten sich mit Blick auf die kleinen D6rfer, in denen sie lebten, fiinf kontinuierliche Merkmale, nach denen sich die Bev61kerung unterscheiden lieS. Erstens unterschieden sich die

86

Peter M. Blau

Dorfer hinsichtlich der GroBe ihrer Population (vg!. Abbildung 1). Zweitens war das Verhaltnis von griinen und blauen Einwohnem in den Dorfem verschieden, wobei einige vor allern aus blauen (D), andere iiberwiegend aus griinen (A) Aytariem bestanden, wiihrend in weiteren Dorfem die BevOlkerung farblich ausgewogener verteilt war (B, C). Drittens unterschieden sich die Dorfer hinsichtlich der durchschnittlichen KorpergroBe ihrer Bewohner (am groBten in Dorf A und am kleinsten in Dorf D). Viertens bestanden Differenzen hinsichtlich der GroBenunterschiede: in rnanchen Dorfem waren alle Einwohner iihnlich groB (A), derngegeniiber zeigte sich in anderen (B, C) eine groBe Variationsbreite. Da die KorpergroBe der einzige quantitative Unterschied bei den Aytariem war, konnten die GroBen die Kleinen beherrschen, indern sie sie einfach unterdriickten. Am ausgepragtesten zeigte sich die Ungleichheit in Ortschaften rnit wenigen groBen und vielen sehr kleinen Individuen (B). Und schlieBlich unterschieden sich die Dorfer in dern AusrnaB, in dern GroBe und Farbe zusamrnenhingen. In einigen Dorfem beobachteten die Soziologen groBe und kleine Individuen sowohl innerhalb der Gruppe der Griinen wie auch der der Blauen (C), in anderen Dorfem dagegen waren die rneisten groBen Aytarier griin und die Mehrzahl der Kleinen blau (A, B), oder urngekehrt (D). Abbildung 1: Bevolkerungsstruktur in vier Dorfem A

Grtin: Blau: 1. 2. 3. 4. 5.

B

C

D

6 3/3 am kleinsten 0,33:0:67 0,83

6 3/3 mitteI 0,33:0,33:0,33 0,00

12 3/9 klein 0,50:0,50:0 0,50

[flli] [IbJ [lliJ ~ ......... ........ .

Bevoikerung 4 Griln/Blau 3/1 Mittlere KorpergroBe groB GroBenverteiIung 0,75:0,25:0 Korrelation (Gamma) 1,00

Wahrend die Soziologen die dernographischen Besonderheiten der Dorfer erforschten, hatten die Geographen eine Landkarte des Stems 8R erstellt, auf der zu erkennen war, daB das Raurnschiff auf einer von vielen, durch Wasser voneinander getrennten Inseln gelandet war. In den von den Technikem gebauten Booten untemahrnen die Soziologen Fahrten zu den anderen Inseln, urn dort ihre BevOlkerungsstudien fortzusetzen. Die Individuen auf den anderen Inseln sahen genauso aus wie jene auf der ersten Insel und unterschieden sich lediglich in Farbe und GroBe. Doch die Soziologen erkannten schnell, daB die Differenzen in der BevOlkerungsstruktur der Inseln in rnindestens acht Kategorien unterteilt werden konnten. Die Inseln, wie auch die Dorfer auf ihnen, unterschieden sich nach der BevolkerungsgroBe (1), dern Verhaltnis von blauen und griinen Aytariem (2), der durchschnittlichen KorpergroBe der Individuen (3), den GroBenunterschieden zwischen den Aytariem auf einer Insel (4) und dern Korrelationsgrad zwischen

Eine Fabel iiber die Sozialstruktur

87

GroBe und Farbe der Individuen (5). Dariiberhinaus unterschieden sich die Inseln jedoch auch in bezug auf die Verteilung der unterschiedlichen Aytarier auf die verschiedenen Dorfer (vgl. Schaubild 2). Die Soziologen entdeckten drei derartiger Unterschiede zwischen den Inseln: (6) Das Verhaltnis von blauen zu griinen Aytarieren - beispielsweise eins zu zwei - auf einer Insel resultierte in einigen Fallen daraus, daB die selbe Verteilung (1 : 2), auch innerhalb der meisten Dorfer bestand und sich kaum Unterschiede zwischen ihnen zeigten (I). In anderen Fallen hingegen war dieses Verhilltnis die Folge groBer Farbunterschiede zwischen den Dorfern, die intern wiederum ein hohes MaB an Farbhomogenitat aufwiesen. So entstand die Verteilung etwa dadurch, daB ein Drittel der Dorfer hauptsachlich von blauen, zwei Drittel demgegeniiber im wesentlichen von griinen Aytarieren bewohnt wurden (11). (7) Das AusmaB an GroBenunterschieden auf einer Insel kann sowohl Folge der GroBenvariationen innerhalb eines Dorfes sein wie auch der, die zwischen den Dorfern bestand. Im einen Fall resultiert es aus ahnlichen GroBenunterschieden innerhalb der meisten Dorfer, wobei zwischen ihnen kaum ein Unterschied in bezug auf die durchschnittliche GroBe der Bevolkerung besteht (I). Im anderen Fall ist es die Folge groBer Differenzen, die zwischen den Dorfern hinsichtlich der durchschnittlichen GroBe der Aytarier besteht. Denn einige Dorfer werden vor allem von groBen Aytariern bewohnt, wahrend auf anderen mittel groBe leben und auf wiederum anderen hauptsachlich kleine (11). (8) Auch das AusmaB des Zusammenhangs von Farbe und GroBe der Bewohner auf einer Insel ist das Ergebnis der Kombination zwei sich widersprechender Bedingungen: auf der einen Seite, falls Farbe und GroBe innerhalb der meisten Dorfer in einem vergleichbaren Verhaltnis zueinander stehen, resultiert aus dieser Tatsache der Korrelationsgrad der gesamten Insel (I). Auf der anderen Seite entsteht diese Korrelation auch in dem Fall, wenn es zwar innerhalb der Dorfer nur einen geringen Zusammenhang zwischen GroBe und Farbe gibt, einige Dorfer jedoch hauptsachlich von groBen griinen und andere hauptsachlich von kleinen blauen Aytariern bewohnt werden (11). Abbildung 2: Bevolkerungsstruktur auf zwei Inseln I.

Griln: Blau:

6. GrilnIBlau 7. Verteilung Korpergro13e 8. Korrelation (Gamma)

Variationen innerhalb der Dorfer

Il .... lL.

H. Variationen zwischen Dorfem

Il ll::::.. III III

1:2 0,33 :0,33 :0,33 1,00

1:2 0,33:0,33:0,33 1,00

88

Peter M. Blau

ZusammengefaBt HiBt sich sagen, daB die demographischen Charakteristika der beiden Inseln gleich sein konnten, obwohl sie sich hinsichtlich ihrer okologischen Struktur stark unterscheiden. Eine Insel mit einem ausgewogenen Verhaltnis von blauen und griinen Einwohnern kann aus Dorfern bestehen, die auch alle ein ausgewogenes Farbenverhaltnis aufweisen, oder aber aus farblich vollig homogenen Dorfern, von denen die eine Halfte nur aus blauen, die andere Halfte nur aus griinen Einwohnern besteht. Und genauso kann das AusmaB der GroBenunterschiede auf zwei Inseln gleich sein, obwohl auf der einen die GroBenunterschiede innerhalb der Dorfer sehr groB sind, auf der anderen dagegen sehr gering. Ein deutlicher Zusammenhang zwischen Farbe und GroBe auf einer Inse1 - zum Beispiel daB die Blauen generell groBer als die Griinen sind - kann bedeuten, daB es solch ein Verhaltnis in den meisten Dorfern gibt; aber es kann ebenso der Fall sein, daB Farbe und GroBe in den meisten Dorfern in keiner solchen Relation zueinander stehen, sondern manche iiberwiegend von groBen blauen, andere vor allem von kleinen griinen Aytariern bewohnt werden.

Okologische Struktur und soziale Beziehungen Ganz besonders interessierten sich die Soziologen fur die sozialen Beziehungen der Aytarier. Ihre Untersuchung der okologischen Struktur der Dorfer und Inseln hatte deshalb eher vorbereitenden Charakter. Die Linguisten hatten inzwischen ein Worterbuch und eine Grarnmatik der aytarischen Sprache erstellt, wodurch es nun moglich wurde, mit ihnen zu kommunizieren, anstatt nur zu ziihlen, wie viele man mit welchen Merkmalen an den verschiedenen Orten entdecken konnte. Aus Gesprachen mit den Aytariern erfuhren die Soziologen, daB die meisten es vorzogen, sich mit ihresgleichen zu treffen: Blaue Aytarier hatten vor allem Kontakt zu anderen blauen, griine trafen sich eher mit griinen. Und ein unverhaltnismiiBig groBer Anteil der Sozialbeziehungen fand zwischen Individuen iihnlicher GroBe statt. Doch trotz dieser Priiferenzen sah man doch recht haufig Aytarier verschiedener GroBe oder Farbe zusammen. Wenn man sie nach den Griinden fragte, erhielt man Antworten wie diese: "Zumindest hat er die gleiche Farbe wie ich, und in meiner GroBe gibt es hier niemanden. " "Klar ist me in Freund griin, aber mir ist die GroBe wichtiger als die Farbe." "Mir ist es wirklich egal, wie groB jemand ist, solange er nur blau ist, Griine kann ich namlich iiberhaupt nicht ausstehen." "In anderen Dorfern habe ich schon Freunde in meiner Farbe, die ahnlich groB sind. Aber hier, wo die meisten ganz anders sind, kann ich nicht so

Eine Fabel iiber die Sozialstruktur

89

wahlerisch sein. AuBerdem habe ich festgestellt, daB einige von ihnen wirklich recht nett sind." "Welche Farbe jemand hat, ist mir vollig wurscht, aber was ich iiberhaupt nicht ertrage, ist, wenn die GroBe nicht paBt." Aufgrund dieser Antworten kamen die Soziologen zu dem SchluB, daB Zusammensetzung und okologische Struktur der Dorfer die sozialen Beziehungen der Aytarier unabhangig von ihren psychologischen Praferenzen beeinflussen. (Da sie groBe Bewunderer von George C. Romans waren, erschien den Forschern die se These ketzerisch. Auch hatten sie Bedenken wenn auch keine allzu groBen -, daB Dennis Wrong (1961) ihnen eine iibersozialisierte Sicht von den Aytariern vorwerfen konnte.) Die Wahrscheinlichkeit, daB blaue Aytarier - oder solche mit einer anderen Eigenschaft - Freunde haben, die sich von ihnen unterscheiden, sind in denjenigen Gemeinden, in denen sie eine kleine Minderheit bilden, groBer, als in solchen, in denen sie die Mehrheit darstellen. Die Wahrscheinlichkeit, Freunde in einer Fremdgruppe zu finden, wird bei einer geringen GemeindegroBe erleichtert, da insbesondere fUr die Minderheit die Chance, Mitglieder der eigenen Gruppe auszuwahlen, in kleinen Orten geringer ist als in groBen. Die Tendenz, Kontakte zu Fremdgruppen aufzubauen, nimmt jedoch ab, wenn Farbe und GroBe - oder eine andere individuelle Eigenschaft - substantiell miteinander zusammenhangen, denn hierdurch verstarken sich die Einfliisse verschiedener Eigengruppenpraferenzen. Wie alle Theoretiker neigten auch unsere beiden Soziologen dazu, iiber ihre empirischen Daten hinaus zu verallgemeinem. Sie beschlossen, auf der Grundlage ihrer Beobachtungen der Aytarier, die nur zwei unterscheidbare Merkmale aufweisen, eine Theorie der sozialen Beziehungen der durch eine Vielzahl von Merkmalen gekennzeichneten Menschen auf der Erde auszuarbeiten. Das zentrale Konzept ihrer Theorie nannten sie "Parameter der Sozialstruktur", wobei sie mit "Parameter" diejenigen Unterschiede zwischen den Individuen bezeichneten, die unmittelbaren EinfluB auf die sozialen Beziehungen besaBen; in bezug auf die Aytarier waren dies Farbe und GroBe, wahrend die Erdbewohner durch vieWUtige menschliche Attribute ausgezeichnet sind. "Sozialstruktur" bezieht sich in diesem Ansatz auf die Verteilung der Individuen hinsichtlich verschiedener sozialer Merkmale und auf die Relationen zwischen diesen Verteilungen. Insofern ist die Struktur eines aytarischen Dorfes durch das Verhaltnis von Blauen zu Griinen, die GroBenunterschiede zwischen den Bewohnern und das AusmaB, in dem Farbe und GroBe zueinander in Beziehung stehen, definiert. Neben diesen drei Faktoren bestimmt sich die Sozialstruktur einer Insel iiber das MaB, indem diese das Ergebnis von Differenzen innerhalb der Dorfer oder zwischen den Dorfern ist. Demgegeniiber ist die Struktur von Gemeinden und Gesellschaften auf der Erde bedeutend komplexer, da sich die Menschen nicht nur auf Grundlage von zwei, sondern einer Vielzahl von Parametern voneinander unterscheiden, die gleichzeitig auch das

90

Peter M. Blau

soziale Leben beeinflussen, wie etwa Alter, Geschlecht, Rasse, Bildung, Beruf, Einkommen, Gesundheit, Autoritat, urn nur einige zu nennen.

Tbeorie Die zentrale Aussage dieser Theorie lautet, daB eine positive Korrelation der Parameter die Beziehungen zwischen den Gruppen hemmt, d.h. je stacker die Parameter positiv korrelieren, desto seltener sind Verbindungen zwischen Personen, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Merkmale unterscheiden. Dieses Theorem basiert auf der Annahme, daB Individuen Kontakte zur Eigengruppe bevorzugen. So haben zum Beispiel die meisten Ehepaare einen ahnlichen religiosen, ethnischen und klassenspezifischen Hintergrund, wie Hollingshed (1950) fUr die USA und Murdock (1949) fUr die meisten Under der Erde gezeigt haben. Natlirlich ist nicht jede Eigengruppe fUr jedes Individuum von Bedeutung. So hatten etwa einige Aytarier eine starke Praferenz fUr die Farbe, nicht aber flir die GroBe, wahrend es bei anderen genau umgekehrt war. In einigen Dorfern waren alle Blauen groBer als alle Grtinen, so daB GroBe und Farbe vollstandig korrelierten. Und deshalb hatten in diesen Gemeinden selbst jene Aytarier, denen die Farbe eigentlich egal war, nur mit Individuen gleicher Farbe Kontakt; und aus dem selben Grund pflegten jene, die der KorpergroBe an sich keinerlei Bedeutung beimaBen, trotzdem nur Umgang mit Aytariern ihrer GroBe. Auf der Erde, wo viel mehr als zwei Parameter die sozialen Beziehungen der Menschen beeinflussen, wacen diese Tendenzen noch ausgepragter. Nehmen wir einmal den ungewohnlichen Fall an, daB jeder Mensch nur hinsichtlich eines Parameters eine Eigengruppenpraferenz besaBe: manche Leute nur hinsichtlich der Rassenzugehorigkeit, andere nur bezliglich des Bildungsniveaus oder des Berufes. Da Rassenunterschiede, neben einer Reihe weiterer Merkmale, besonders stark mit Unterschieden hinsichtlich des Bildungsniveaus oder des Berufes korrelieren, wlirden die meisten deshalb doch nur mit Personen Kontakt haben, die alle diese Merkmale mit ihnen teilen, obwohl jeder nur hinsichtlich eines einzigen Parameters Praferenzen besitzt. Von der SchluBfolgerung ihres ersten Theorems waren die beiden Soziologen besonders fasziniert. Sie definierten, daB sich Parameter dann liberschneiden, wenn sie gar nicht oder nur schwach zusammenhangen oder moglicherweise - im Fall von Statusabstufungen wie Bildung oder Einkommen - in negativer Relation zueinander stehen. Aus diesem ersten Theorem laBt sich ableiten, daB sich liberschneidende Parameter Beziehungen zu Fremdgruppen fOrdern und dies ungeachtet der Annahme, daB alle Individuen zumindest hinsichtlich bestimmter Parameter in der Regel Beziehungen zur Eigengruppe bevorzugen, wahrend keiner von ihnen in bezug auf irgendein Merkmal Beziehungen zu einer anderen Gruppe bevorzugt. Sich liber-

Eine Fabel iiber die Sozialstruktur

91

schneidende Parameter implizieren, daB Individuen, die aufgrund der Ubereinstimmung eines Parameters derselben Gruppe angehoren, hinsichtlich anderer Parameter unterschiedlichen Gruppen oder Schichten angehOren konnen, und daB somit diese Eigengruppenpdiferenz in bezug auf andere Merkmale Kontakte zu Fremdgruppen zur Folge hat. Die zahlreichen sich iiberschneidenden sozialen Unterschiede machen es fiir die Menschen praktisch unmoglich, Beziehungen zu Personen zu entwickeln, die mit ihnen hinsichtlich aller Merkmale iibereinstimmen. Deshalb zwingt die Wahl von Eigengruppenkontakten hinsichtlich der ihnen wichtigsten Merkmale die Individuen dazu, in bezug auf andere Merkmale auch zu Fremdgruppen Beziehungen zu unterhalten. Ungeachtet ihrer psychologise hen Praferenzen hangt das AusmaB der Eigengruppenkontakte in einer Gemeinde deshalb, kurz gesagt, von der Struktur der gesellschaftlichen Positionen ab, insbesondere vom Grad, in dem sich die gesellschaftlichen Positionen iiberschneiden. Es bleibt jedoch die Frage, ob nicht eine starke Abneigung dagegen, Beziehungen zu Personen mit einem spezifischen Merkmal einzugehen, die Eigengruppenpraferenzen der Mitglieder mit bestimmten anderen Merkmalen iiberlagern. Konnen nicht beispielsweise die ausgepragten Vorurteile gegeniiber Farbigen einen WeiBen dazu bringen, daB er mit Farbigen iiberhaupt nichts zu tun haben mochte, gleichgiiltig iiber wieviele gemeinsame Merkmale sie ansonsten verfiigen? Das ist sicher der Fall, andert aber nichts am Argument. Denn eine starke Abneigung gegen eine bestimmte Fremdgruppe und die entsprechende Vorliebe fiir die komplementare Eigengruppe sind Ausdruck der gleichen Implikationen fiir die Rangordnung der Vorlieben und die Anzahl der Kontakte. Alle Menschen sind natiirlich frei, in ihren Beziehungen ihre ausgepragtesten Abneigungen gegeniiber Fremdgruppen und ihre deutlichen Praferenzen gegeniiber der Eigengruppe zum Ausdruck zu bringen, gleich ob sie nun ethnisch, religios, bildungsbezogen oder soziookonomisch motiviert sind. Wenn sich jedoch viele Parameter iiberschneiden, beschrankt dies zugleich ihre Freiheit, auch noch andere als die vordringlichsten Kriterien zu beriicksichtigen, und sie sind deshalb gezwungen, beziiglich weiterer Praferenzen auch mit Fremdgruppen in Kontakt zu treten. Wahrend die Aytarier, die sich nur in zwei Merkmalen unterscheiden, ihre Sozialkontakte auf diejenigen Mitaytarier beschranken konnen, die ihnen sowohl in Farbe als auch in GroBe gleichen, kommen die Menschen dagegen nicht umhin, mit anderen in Beziehung zu treten, die sich in vielerlei Hinsicht von ihnen unterscheiden, es sei denn, sie leben in Gemeinden, wo alle Parameter stark korrelieren und es keine Uberschneidungen gibt.

92

Peter M. Blau

Die Struktur der Inseln Da sich unsere beiden Soziologen bisher nur mit den strukturellen Einfliissen der Dorfgemeinschaft auf die sozialen Beziehungen beschiiftigt hatten, fragten sie sich nun, inwieweit auch die strukturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Inseln die se wiederum beeinflussen. AIs eingefleischte Theoretiker beabsichtigten sie, die Unterschiede zwischen den Inselstrukturen zu verallgemeinern und auf die komplexeren Strukturen der Erde zu iibertragen. Da die Inseln unter anderem auch durch die charakteristischen Merkmale der Dorfer gekennzeichnet waren, sollte das erste Theorem und die sich hieran anschlieBenden SchluBfolgerungen sowohl fiir die Dorfer wie auch fiir die Inseln gelten. Je schwacher also der Zusammenhang zwischen Farbe und GroBe auf einer Insel insgesamt ist, desto wahrscheinlicher miiBten Kontakte zwischen Aytariern sein, die sich hinsichtlich Farbe oder GroBe unterscheiden. AIs sie diese Hypothese empirisch iiberpriiften, bestatigte sich diese Tendenz, allerdings war sie auf den Inseln bedeutend schwacher als in den Dorfern ausgepragt. Die beiden Forscher schluBfolgerten hieraus, daB die Verteilung der Inselbewohner auf die Dorfer zweifellos ihre sozialen Beziehungen beeinflussen miisse, und daB diese Einfliisse fiir die Unterschiede von Insel- und Dorfstrukturen verantwortlich seien. Obwohl die Aytarier auch herumreisten und Freunde in anderen Ortschaften besuchten, hatten sie doch die meisten freundschaftlichen Kontakte in ihren Heimatgemeinden. Das iiberraschte die Soziologen iiberhaupt nicht, weil sie sich an Robert Merton (1948) sowie an Leon Festinger (1950) und dessen Kollegen erinnerten, die auf der Erde herausgefunden hatten, daB physische Nahe fiir Freundschaften von groBer Bedeutung ist. Da die meisten Aytarier sich ihre Freunde innerhalb des eigenen Dorfes suchten, mutmaBten die Soziologen, daB soziale Unterschiede innerhalb eines Dorfes Beziehungen zu Fremdgruppen stiirker hemmen als soziale Unterschiede zwischen verschiedenen Dorfern. Dementsprechend sagten sie auch voraus, daB die Haufigkeit von Kontakten zwischen Inselbewohnern, die sich in Farbe oder GroBe unterscheiden, von innerdorflicher Varianz stiirker negativ beeinfluBt wiirde als von der Varianz der beiden Merkmale zwischen verschiedenen Dorfern. AuBerdem erwarteten sie, daB die Haufigkeit von Fremdgruppenkontakten der Inselbewohner eher durch die grundlegende Beziehung zwischen Farbe und GroBe der Individuen innerhalb der Dorfer negativ beeinfluBt wird, als durch die grundlegende okologische Beziehungen zwischen dem Farbenverhiiltnis und der durchschnittlichen GroBe innerhalb jeden Dorfes. Mit groBem Eifer fiihrten die beiden Sozialforscher eine Umfrage durch, urn ihre Annahmen zu iiberpriifen. Aber sie erwiesen sich alle als falsch. GroBe Unterschiede und vor allem deutlich korrelierte Unterschiede innerhalb der Dorfer verminderten Fremdgruppenkontakte, d.h. Beziehungen zwischen Aytariern, die sich in Farbe oder GroBe unterschieden, waren also in

Eine Fabel iiber die Sozialstruktur

93

jenen Dorfern seltener, wo solche Unterschiede existierten, als in solchen, in denen geringere Unterschiede vorherrschten. Vergleicht man jedoch nicht die Dorfer miteinander, sondern die Inseln, dann zeigte sich, daB auf jenen Inseln, auf denen die groBten Unterschiede innerhalb der Dorfer beobachtet werden konnten, seltener Beziehungen zu anderen Gruppen unter denjenigen Aytarieren, die sich in Farbe und GroBe unterschieden, existieren, als auf den Inseln, auf denen geringere Unterschiede innerhalb und groBere zwischen den Dorfern bestehen. Diese Ergebnisse verbliifften die beiden Soziologen auf Stern 8R sehr. Sie zerbrachen sich den Kopf, was sie bei ihren theoretischen Uberlegungen nur falsch gemacht hatten. SchlieBlich glaubten sie, den Fehler gefunden zu haben. Die Tatsache, daB sich die meisten Kontakte innerhalb der Dorfer abspielen, hatte sie zu dem SchluB verleitet, daB die innerdorflichen sozialen Unterschiede Fremdgruppenkontakte sHirker beeintrachtigen als die Unterschiede zwischen den Dorfern. Aber die se SchluBfolgerung war falsch, weil sie den EinfluB der raumlichen Verteilung der Aytarier auf ihre Sozialkontakte auBer Acht lieBen und ignorierten, daB die Verteilung der Inselbewohner auf die Ortschaften Teil der Sozialstruktur einer Inset ist. Denn die Struktur einer Gesellschaft ist mehr als die Summe der einzelnen Dorfstrukturen und umfaBt auBerdem die Unterschiede und Beziehungen zwischen den Dorfern. Die verschiedenen Dorfer, in denen die Aytarier leben, stellen somit ein drittes Merkmal neben der GroBe und der Farbe dar, welches die Eigengruppenbeziehungen innerhalb der Dorfgrenzen festigte, wenngleich aus vollig verschiedenen Griinden. Es war zweifellos die physische Nahe, die innerdorfliche Kontakte sehr viel wahrscheinlicher machte als Kontakte zu Bewohnern anderer Ortschaften, obgleich sich natiirlich auch einfach aufgrund der ausgedehnten sozialen Bindungen innerhalb der Dorfer Praferenzen entwickelten, mit Mitbewohnern des eigenen Dorfes in Kontakt zu treten. Wenn Aytarier unterschiedlicher Farbe oder GroBe in den selben Dorfern leben, diejenigen, denen sie hinsichtlich dieser beiden Merkmale ahnlich sind, jedoch in anderen Dorfern einer Insel, dann sind die innerdorflichen Unterschiede am groBten und die Unterschiede in der Zusammensetzung verschiedener Dorfer am geringsten. In einer solchen Situation erhoht das nahe Zusammenleben von blauen und griinen, kleinen und groBen Aytariern zumindest fUr einige von ihnen die Moglichkeiten von Sozialkontakten sehr stark, vermindert gleichzeitig die Auswirkungen von Gruppenunterschieden und Eigengruppenpraferenzen hierauf und fOrdert Fremdgruppenkontakte. Wenn andererseits Aytarier, die sich beziiglich Farbe oder GroBe unterscheiden, iiberwiegend in unterschiedlichen Dorfern leben, sind die Dorfer intern recht homogen, wahrend zwischen den Dorfern groBe Differenzen existieren. Unter solchen Bedingungen verst1irkt die physische Distanz die hemmenden Effekte von Eigengruppenpraferenzen oder Fremdgruppenaversionen und vermindert dadurch die Wahrscheinlichkeit von Beziehungen zwischen unahnlichen Aytariern. Im ersten Fall fOrd ern Eigengruppenpraferenzen - fUr

94

Peter M. Blau

andere Blaue, andere Grtine, oder andere rumlicher GroBe - Verbindungen zwischen Bewohnern verschiedener Ortschaften, weil die Mitglieder jeder Gruppe auf die Dorfer verteilt sind. Im zweiten Fall dagegen hemmen die selben Eigengruppenpraferenzen Kontakte zu anderen Ortschaften, weil sich jede Gruppe auf ein bestimmtes Dorf konzentriert und es dadurch einfacher wird, Eigengruppenpraferenzen im eigenen Dorf zu befriedigen. Dieselbe Korrelation von Farbe und GroBe innerhalb einer Inselpopulation kann das Ergebnis sich widersprechender okologischer Strukturen sein und sich deshalb auch unterschiedlich auf die sozialen Beziehungen auswirken. Die Soziologen entdeckten glticklicherweise zwei Inseln, auf denen Farbe und GroBe der Bewohner annahernd im selben VerhaItnis standen - die meisten Blauen waren klein, die meisten Grtinen groB. Diese Korrelation kam aber durch sehr unterschiedliche Verteilungen zwischen den Dorfern zustande. Auf Insel Alpha waren die grtinen Aytarier in alIen Dorfern tendenziell groBer als die blauen. Auf Insel Beta waren manche Dorfer tiberwiegend von groBen Grtinen und andere von kleinen Blauen bewohnt, was fUr die Gesamtbevolkerung der Insel eine Korrelation der beiden Merkmale ergab, obwohl die geringen innerdorflichen GroBenunterschiede nicht mit den Farbunterschieden in Beziehung standen. Kontakte zwischen groBen Grtinen und kleinen Blauen waren auf Insel Alpha haufiger, wo sie in den selben Dorfern lebten, als auf Beta, wo die raumlichen Distanzen die trennende Wirkung der Gruppenbarrieren verstarkten.

Gesellschaftsstruktur Urn diese SchluBfolgerungen auf menschliche Gesellschaften tibertragen zu konnen, analysierten die Soziologen entgegengesetzte Extreme. Sie nahmen an, daB in zwei Gesellschaften in etwa die gleichen Zusammenhange zwischen Bildungsniveau, Beruf und Einkommen bestehen. In der ersten Gesellschaft korrelieren diese drei individuellen Merkmale allerdings innerhalb jeder Gemeinde, wahrend sich das durchschnittliche Bildungsniveau, der berufliche Status und das Einkommen in ihnen kaum unterscheidet, auftretende Unterschiede somit nicht korrelieren. In der zweiten Gesellschaft gibt es zwischen den einzelnen Gemeinden hingegen groBe und deutlich korrelierende Unterschiede hinsichtlich dieser drei Variablen, wahrend die individuellen Unterschiede innerhalb der Gemeinden klein sind und nicht miteinander zusammenhiingen. (Obwohl in der Praxis solche extremen Konstellationen nicht auftreten, konnte sich theoretisch fUr beide Gesellschaften die gleiche Korrelation der drei Variablen ergeben.) Diese Differenzen implizieren, daB in der ersten Gesellschaft verschiedene soziookonomische Schichten in ein und denselben hochgradig stratifizierten Gemeinden zusammenleben, wahrend sie in der zweiten tiberwiegend in unterschiedlichen, ihrer Klassenstruktur nach aber weitgehend ho-

Eine Fabel iiber die Sozialstruktur

95

mogenen Ortschaften wohnen. Obwohl die Verfestigung dreier Statusunterschiede in den Gemeinden der ersten GeselIschaft Kontakte zwischen Menschen aus unterschiedlichen Schichten erschwert, ist dieser Effekt aufgrund ihrer raumlichen Nahe doch geringer als in der zweiten GeselIschaft, in der die Schichten in unterschiedlichen Ortschaften leben und die raumliche Trennung die hemmenden Konsequenzen der Statusunterschiede auf die Sozialkontakte noch verstarkt. Abermals zeigt sich, daB sich in der ersten GeselIschaft die gemeinsamen Interessen und die Eigengruppenpraferenzen bei Mitgliedem derselben Schicht giinstig auf die Entstehung sozialer Beziehungen zwischen verschiedenen Gemeinden, auf die ihre Mitglieder verteilt sind, auswirken, wohingegen sie in der zweiten GeselIschaft, in der sich die klassenspezifische Zusammensetzung der Gemeinden deutlich voneinander unterscheidet, Kontakte zwischen den Gemeinden beschranken. Diese Uberlegungen fUhrten zu einem weiteren Theorem: Je starker soziale Unterschiede und die Korrelationen zwischen ihnen innerhalb einer GeselIschaft in die Gemeinden und Nachbarschaften eindringen, desto eher kommt es zu Kontakten jeglicher Art, d.h. zwischen Gruppen, zwischen Schichten, Gemeinden und Nachbarschaften. Die beiden Soziologen beendeten ihre Theoriebildung mit dem Verweis auf ein Paradoxon. Denn, obwohl sie von der Annahme ausgegangen waren, daB die sozialen Beziehungen der Individuen sowohl von ihren Eigengruppenpraferenzen als auch von gemeinsamen Interessen und Fremdgruppenabneigungen bestimmt sind, und hieraus folgt, daB soziale Unterschiede die Entstehung sozialer Beziehungen verhindem, impliziert diese Annahme ebenfalIs, daB bestimmte strukturelIe Bedingungen, insbesondere sich iiberschneidende Parameter, die Beziehungen zwischen Individuen mit unterschiedlichen Merkmalen und Positionen fordem. Auch wenn alIe Individuen ihre Sozialkontakte auf die Eigengruppe beschranken wiirden und in bezug auf jene sozialen Attribute, die ihnen am wichtigsten sind, Kontakte zu anderen Gruppen vermeiden, ware es aufgrund der vielen sich iiberschneidenden Parameter in komplexen Gesellschaften unmoglich, volIstandig auf Fremdgruppenkontakte zu verzichten. Zudem folgt aus der Tatsache komplexer Uberschneidungen, daB es in bezug auf alIe Merkmale zu Fremdgruppenkontakten kommt, es sei denn, daB die selben sozialen Unterschiede fUr alle Mitglieder einer Gesellschaft in alIen erdenklichen Situationen die selbe Bedeutung besitzen. In groben Umrissen sind dies die von den beiden Soziologen auf Stem 8R entwickelten Thesen. Sie betrachteten ihre urspriingliche Aufgabe dort fUr beendet und brannten nun darauf, zur Erde zuriickzukehren und ihre Strukturtheorie an den Menschen zu iiberpriifen. Aber sie muBten warten, bis auch die anderen Wissenschaftler ihre Forschungen beendet hatten. AIs sie ihren KolIegen von ihren SchluBfolgerungen erzahlten, bezweifelten diese die praktische Relevanz dieser Art formaler GeselIschaftstheorie. Die beiden Soziologen versuchten deshalb, die Wartezeit bis zum Abflug zu nutzen und iiber die politischen Implikationen ihrer Theorie nachzudenken.

96

Peter M. Blau

Politische Implikationen Freunde und Bekannte zu haben, deren Lebenshintergrund und Erfahrungen sich von den eigenen unterscheiden, reduziert Vorurteile und erhoht die Objektivitat und Toleranz, wie Georg Simmel (1908) in seiner Analyse des Fremden und Edward Laumann (1973) in seiner Forschung iiber Freundschaft herausfanden. Mitglieder kleiner Minderheiten haben haufiger Fremdgruppenkontakte, und dies wirkt nicht nur intellektuell anregend, sondern erweitert auch den Horizont, worauf schon Veblen mit Verweis auf die intellektuellen Leistungen solcher Minderheiten wie beispielsweise der Juden hingewiesen hat. Wenn sich Fremdgruppenkontakte so positiv auswirken, sollte ihre Forderung vor allem in Demokratien ein vordringliches politisches Ziel sein, da Beschrankungen auf die Eigengruppe oft auch zu Konflikten mit den demokratischen Grundsatzen flihren. In der Regel versucht man diesem Ziel dadurch niiherzukommen, daB man durch Erziehung und wissenschaftliche Informationen Vorurteile abbaut, wie jene Programme veranschaulichen, die Loyd A.Cook (1950) und auch Gunnar Myrdal (1944) untersuchten. Zahlreiche Studien - beginnend mit den klassischen iiber die autoritiire Personlichkeit (Adorno et al. 1950) und denen von Jacob Moreno (1934) - zeigten jedoch, daB viele Vorurteile gegeniiber Fremdgruppen aus der friihen Kindheit stammen, tiefverwurzelt sind und deshalb nicht ohne weiteres verandert werden konnen, indem man die Menschen spater lehrt, toleranter zu sein. Eine weitere Moglichkeit, Fremdgruppenkontakte zu fordern und dadurch Gruppenvorurteile abzubauen, folgte nach Ansicht unserer beiden Soziologen aber auch aus ihrer Theorie. Sie schlugen vor, strukturelle Veranderungen einzuleiten, die dafiir sorgen, daB sich Parameter, d.h. soziale Unterschiede, deutlicher iiberschneiden und die Gemeinden und Wohnviertel einer Gesellschaft stiirker durchziehen, urn so die Menschen, trotz ihrer Vorlieben flir die eigene Gruppe, zu haufigeren Fremdgruppenkontakten zu bringen. Je unabhangiger die beruflichen und okonomischen Positionen der Menschen von ihrer sozialen Herkunft werden, desto deutlicher iiberlagern sie sich mit religiosen, ethnischen und soziookonomischen Aspekten ihres Lebenshintergrundes, was hinsichtlich dieser Variablen wiederum Kontakte mit anderen Gruppen fordern sollte. Je weniger ausgepragt die raumliche Trennung der Rassen und Schichten ist, desto stiirker dringen Rassen- und Klassenunterschiede in Gemeinden und Nachbarschaften ein, wodurch sich die Haufigkeit von Kontakten zwischen Menschen unterschiedlicher soziookonomischer oder ethnischer Abstammung erhohen. Die beiden Soziologen vermuteten auch, daB die soziale Integration einer groBen und komplexen Gesellschaft voraussetzt, daB ihre verschiedenen Bestandteile nicht isoliert voneinander bleiben, sondern durch vielfaltige individuelle Kontakte verbunden werden. Obwohl starke Bindungen an die Eigengruppe den Individuen das Geflihl geben konnen, sozial integriert zu sein, flihren sie doch zu einer Fragmentierung der Gesamtgesellschaft in vonein-

Eine Fabel iiber die Sozialstruktur

97

ander unabhangige Teile. Funktionale Interdependenz geniigt hier nicht, urn die Einzelteile zu einem sinnvollen, gemeinschaftlichen Ganzen zu einen. Vielmehr sind fUr eine Integration regelmaBige Kontakte zwischen Mitgliedern der verschiedenen Gesellschaftssegmente notwendig. Insofern ist der Integrationsgrad einer Gesellschaft durch das AusmaB der Fremdgruppenkontakte in ihr definiert. Politische MaBnahmen, die dafiir sorgen, daB si ch die Parameter stlirker iiberschneiden und die Substrukturen durchziehen, fOrdern demnach auch die Integration der Gesellschaft. Die erheblichen sozialen Unterschiede in unserer und anderen Gesellschaften haben schlieBlich wichtige politische Fragestellungen zur Folge. Es ist uns weniger als anderen Industrienationen gelungen, die okonomischen Unterschiede zu reduzieren, nichtsdestotrotz sind andere Unterschiede, z.B. hinsichtlich Bildung oder Macht, in anderen Landern noch groBer als in den USA. In allen Landern laBt sich die Tendenz feststellen, daB verschiedene Statusunterschiede - beziiglich Bildung, Beruf, Einkommen, Prestige oder Macht - korrelieren. Die meisten Bemiihungen, die Unterschiede zu verringern, konzentrieren sich jedoch auf eine spezifische Form: in den USA versucht man vor allem, die Bildungsunterschiede auszugleichen, wahrend in sozialistischen Landern demgegeniiber die Einkommensunterschiede im Mittelpunkt des Interesses stehen. Solch einseitige Bemiihungen ignorieren aber die positiven Korrelationen zwischen den verschiedenen Formen von Statusunterschieden; so wie beispielsweise die Rassendiskriminierung im Berufsleben den Zusammenhang von Bildung, Beschliftigung und Einkommen verstlirkt, oder die Beschaftigung auf der Grundlage von Qualifikation, sich auf den Zusammenhang von Bildung mit Beruf und Einkommen auswirkt. Kann von der hier beschriebenen Theorie auch abgeleitet werden, daB es wichtiger ist, die Konsolidierung multipler Statusdifferenzen aufzulosen, indem Wege gefunden werden, die Korrelation von verschiedenen Formen hierarchischer Unterschiede abzubauen, als die eine oder andere Form der Ungleichheit zu verringern, urn Ungleichheit insgesamt zu reduzieren und die Integration verschiedener Klassen zu verbessern?

Nachtrag Dieser Aufsatz basiert auf den Aufzeichnungen jener beiden Soziologen und wir erhielten sie zusammen mit anderen wissenschaftlichen Berichten, kurz bevor der Funkkontakt mit Mission 964 abbrach. Wir wissen nicht, was passiert ist. Wir wissen nicht, ob die Teilnehmer der Mission immer noch auf Stern 8R sind, ob sie auf eigene Faust versucht haben, 8R zu verlassen, oder ob sie - was wahrscheinlich ist - leider umgekommen sind. Am Ende ihrer Aufzeichnungen haben unsere beiden Soziologen versucht, ihre Theorie mathematisch zu formulieren. Da dieser Versuch nicht abge-

98

Peter M. Blau

schlossen war, habe ich ihn hier nicht wiedergegeben, da mir die mathematischen Hihigkeiten fehlen, ihn zu vollenden. Ansonsten habe ich ihre Aufzeichnungen sinngemaB wiedergegeben, wenn auch mit eigenen Worten. Das einzige, was ich hinzugefiigt habe, ist eine Liste der zitierten Autoren und deren Werke.

Literatur Adorno, Theodor W., Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, Richard N. Sanford. 1950. The Authoritarian Personality. New York: Harper. Cook, Loyd A. 1950. College Programs in Intergroup Relations. Washington: American Council of Education. Festinger, Leon, Stanley Schacter, Kurt W. Back. 1950. Social Pressures in Informal Groups. New York: Harper. HoIIingshead, August B. 1950. "Cultural Factors in the Selection of Marriage Mates." In American Sociological Review 15: 619-27. Homans, George C. 1961. Social Behavior: Its Elementary Forms. New York: Harcourt Brace Jovanovich. Laumann, Edward O. 1973. Bonds of Pluralism. New York: Wiley. Merton, Robert K. 1948. "The Social Psychology of Housing." In Wayne Dennis et aI., Current Trends in Social Psychology. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press. Moreno, Jacob L. 1934. Who Shall Survive? Washington: Nervous and Mental Disease Publishing Company. Murdock, George P. 1949. Social Structure. New York: Macmillan. Myrdal, Gunnar. 1944. An American Dilemma. New York: Harper. Simmel, Georg. 1908. Soziologie. Leipzig: Duncker & Humblot. Veblen, Thorstein B. 1919. "The Intellectual Pre-eminence of Jews in Modern Europe." In Political Science Quarterly 34: 33-42. Wrong, Dennis 1961. "The OversociaIized Conception of Man." In American Sociological Review 26: 184-93.

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie 1

Randall Collins

Mikrosoziologie ist die detaillierte Analyse dessen, was die Menschen im FIuB ihres unmittelbaren Erlebens denken, sagen und tun. Die Makrosoziologie beschaftigt sich demgegentiber mit umfassenden und langfristigen sozialen Prozessen, die oftmals wie sich selbst erhaltende Entitaten behandelt werden, so zum Beispiel "Staat", "Organisation", "Schicht", "Wirtschaft", "Kultur", oder "Gesellschaft". In den letzten lahren laBt sich der Aufschwung einer "radikalen", d.h. empirisch-genauen und/oder phanomenologisch informierten Mikrosoziologie konstatieren. So entstand die sogenannte radikale Mikrosoziologie (Garfinkel 1967, Cicourel 1973) - die genaue und detaillierte Beobachtung des Alltagslebens - teilweise aufgrund des Einflusses der Phanomenologie auf die empirische Sozialforschung, teilweise aber auch im Zuge der Anwendung neuer Forschungstechniken, wie Tonbandund Videoaufzeichnungen, we1che die M6glichkeit schufen, Alltagssituationen sekundengenau zu analysieren. In der Folge kam es zu detaillierten Analysen von Gesprachen (Sacks/Schegloffllefferson 1974), von nonverbalen Interaktionen (Goffman 1971: 3-61), zur Konstruktion und Verwendung von organisationsspezifischen Datensatzen (Cicourel 1968, Clegg 1975) und zu neuen Einsichten, wie sich umfassendere soziale Strukturen aus mikrosozialen Elementen zusammensetzen. Diese radikale Mikrosoziologie entwickelte sich aber - unter Bezeichnungen wie "Ethnomethodologie", "kognitive Soziologie", "Sozialphanomenologie", etc. - in unterschiedliche Richtungen weiter, wobei meiner Ansicht nach nicht die phanomenologische Analyse von Begriffen, sondern eine ultra-detaillierte empirische Forschung fUr den Fortschritt der Soziologie als einer empirischen Wissenschaft am vielversprechendsten ist. So1ch eine Mikroanalyse leistet eine Reihe von Beitragen fUr den gesamten Bereich der Soziologie. Zum einen den starken Impuls, wonach alle Makrophanomene in Verkntipfungen von Mikroereignissen zu tibersetzen sind und diese Vorge!ch danke Aaron Cicourel, Paul DiMaggio, Arlie Hochschild, Charles Perrow und Norbert Wiley flir ihre Kommentare zu friiheren Fassungen dieses Artikels.

100

Randall Collins

hensweise den Blick daflir 6ffnet, daB die empirische Wirklichkeit sozialer Strukturen als Muster sich wiederholender Mikrointeraktionen zu fassen sind. Durch die Ubersetzung in Mikroereignisse laBt sich ein Bild der komplexen Abstraktionsebenen gewinnen, wie sie kausale Erkllirungsmodelle verwenden. Zum anderen besteht der Beitrag der radikalen Mikrosoziologie in der Entdeckung, daB das tatsachliche Alltagsverhalten nicht kognitiv-rationalistischen Modellen der Entscheidungsfindung folgt, sondem soziale Interaktion beruht vielmehr auf stillschweigendem Verstandnis und auf Vereinbarungen, so daB Selbstverstandlichkeiten weder erkllirt noch hinterfragt werden mtissen. Dies impliziert nicht nur die Uberwindung von Erklarungsansatzen, die sich aufNormen, Regeln oder Rollen berufen, sondem macht auch die erhebliche Modifikation jeglicher Modelle sozialen Austausches notwendig, so daB groBe Teile der soziologischen Theorie in Frage gestellt werden. Denn diese Traditionen waren nicht besonders erfolgreich bei der Weiterentwicklung soziologischer Erklarungsprinzipien, und dies meiner Ansicht nach aufgrund eines unangemessenen Akteurmodells. Statt dessen brauchen wir einen Mikromechanismus, der repetitive Handlungen, aus denen sich die soziale Struktur zusammensetzt, in der Weise erklliren kann, daB die Interaktionen wie auch die sie begleitenden Kognitionen auf nicht kognitiven Grundlagen basieren. Ich werde versuchen aufzuzeigen, daB rituelle lnteraktionsketten einen solchen Mechanismus darstellen. Solche Ketten von Mikro-Begegnungen generieren die grundlegenden Erscheinungsweisen sozialer Organisation Herrschaft, Eigentum, Gruppenzugeh6rigkeit -, indem sie "mythische" kulturelle Symbole und emotionale Energien hervorbringen und reproduzieren. Durch eine solche Zerlegung der sozialen Struktur in rituelle Interaktionsketten wird die Mikrosoziologie zu einem wichtigen Werkzeug flir die Erklarung sowohl der Tragheit wie auch der Dynamik makrosozialer Strukturen.

Die Raum-Zeit-Tabelle Es ist sinnvoll, die empirischen Grundlagen von Mikro- und Makrokategorien anhand einer Raum-Zeit-Tabelle zu veranschaulichen (siehe Tabelle 1). Auf der einen Dimension sind die durch den Soziologen beobachtbaren Zeitintervalle angegeben, die von wenigen Sekunden, tiber Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, bis hin zu lahren und lahrhunderten reichen. Auf der anderen Achse befinden sich die betrachteten Personen innerhalb des physischen Raums: von einer Person, die mit ihrem K6rper nur wenig Raum beansprucht, tiber kleine Gruppen, gr6Bere Gruppierungen und Menschenansammlungen, bis hin zur Betrachtung der Population groBer Gebiete. In die Zellen der Tabelle habe ich die Art der Analyse eingetragen, mit Hilfe derer die Soziologen den jeweiligen Ausschnitt von Raum und Zeit untersuchen.

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

101

Es wird deutlich, daB der Unterschied zwischen der Mikro- und der Makroebene nur ein gradueller ist und mindestens zwei Dimensionen aufweist. Betrachtet man die Analyseebenen in dieser Tabelle, so zeigt sich, daB je weiter man nach rechts und nach unten geht, die mikrosoziologische Orientierung abnimmt, wahrend die makrosoziologische Orientierung auf denjenigen Ebenen geringer ist, die weiter links und weiter oben stehen. Mikro und Makro sind hinsichtlich der zeitlichen wie der raumlichen Dimension relative Begriffe, und die Unterscheidung zwischen ihnen laBt sich als ein Paar kontinuierlicher Variablen bestimmen. AuBerdem zeigt sich, daB die soziologische Mikroanalyse vor kurzem die Ebene gewechselt hat: Beispielsweise hat sich der symbolische Interaktionismus traditionellerweise mit Situationen beschaftigt (wenngleich teilweise auch mit langerfristigen Prozessen - so z.B. Becker 1963, BucherlStrauss 1961, Dalton 1959), die im Bereich von Minuten bis Stunden angesiedelt waren. Die radikale Mikrosoziologie, wie beispielsweise die ethnomethodologische Gesprachsanalyse oder die mikroethologischen Untersuchungen von Augenbewegungen, verlegten die Analyse auf die Ebene von Sekunden (z.B. Schegloff 1967); und die phanomenologische Soziologie nahert sich in ihrer extremsten Form sogar einem Platonismus oder Mystizismus an, wenn sie si ch auf das augenblickliche "Jetzt" am auBersten linken Rand der Tabelle - konzentriert. Streng genommen bezieht sich die tatsachliche Bedeutung von "empirisch" auf die obere, linke Ecke der Tabelle. Wahrend Sie, der Leser, etwa an ihrem Tisch oder in ihrem Wagen sitzen, od er an ihrem Briefkasten stehen, befinden sie sich in dieser Mikrosituation (oder moglicherweise auch etwas we iter unten in der linken Spalte), und niemand kann sich jemals in einer anderen empirischen Situation als dieser befinden. Alle Erscheinungen der Makroebene setzen sich aus solchen Mikroerfahrungen zusammen. Dartiber hinaus kann man von den Zellen der auBersten linken Spalte behaupten, daB sie in diesem besonderen Sinn empirisch sind, da alle in einer gegenwartigen, physischen Welt existieren; wahrend man alle Zellen rechts davon als analytische Konstrukte bezeichnen muB. In den wenigen Sekunden, die Sie zum Lesen dieses Abschnitts benotigen, konstruieren Sie die Realitat all dieser Makrokategorien, indem Sie an sie denken. Dies bedeutet jedoch nicht, daB ihnen jeglicher empirische Bezug fehlt, dieser ist jedoch weitaus komplexer und indirekter als die unmittelbare Mikroerfahrung. Wir alle erfahren unser Alltagsleben als eine Folge von Mikrosituationen. Btindelt man all diese Sequenzen individueller Erfahrungen in der Welt, dann wtirden sie die Gesamtheit aller moglichen soziologischen Daten ergeben. DaB radikale Mikrosoziologen in letzter Zeit Tonband- und Videoaufzeichnungen benutzen, verweist auf eine Hinwendung zu diesen Primardaten.

Territoriale Gesellschaft (10'°_10'3 m 2)

Gemeinschaft (1 06-1 09 m 2)

Menge/Organisation (102 _105 m 2)

Augenkontakt- - Rituale Studien, Mikro- - GruppenKonversationsdynamik analysen - Austausch - Verhandeln

-

kleine Gruppe (0,3-10' m 2)

- Massenverhalten

- Bedeutsame Ereignisse - Arbeit - Repetitives und intermittierendes Verhalten

Kognitive & emotionale Prozesse

eine Person (0,1-0,3 m2)

Minuten/Stunden (102-104 sec)

Sekunden (10°-10' sec)

RAUMACHSE

Tabelle 1: Zeit und Raum als Ebenen soziologischer Analyse

- Karrieren - Lebensgeschichten

Jahre (107 _108 sec)

- Genealogien

Jahrhunderte (109 sec)

Politische, ako- - Langfristiger nomische, desozialer Wandel mographische & stratifikatorische Muster (Mobilitatsraten etc.) - .Kulturen" -

Gemeinschaften

- OrganisationsFormale Organisationen geschichte - Soziale Bewegungen

-

WochenlMonate (10 6 sec)

ZEITACHSE Tage (105 sec)

Vl



§:

n

~

Cl.

~

§

f3

-

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

103

Die Strategie der Ubersetzung in Mikroereignisse Die Ubersetzung aller soziologischen Konzepte in Aggregate von Mikrophiinomenen erMfnet eine Reihe von Fortschritten. So zeigt sich zunachst in erkenntnistheoretischer Perspektive, daB strenggenommen so etwas wie "Staat", "Wirtschaft", "Kultur" oder "soziale Schicht" in der Wirklichkeit iiberhaupt nicht existiert. Dies sind bloBe Ansammlungen von Individuen, die in bestimmten Mikrosituationen handeln - Ansammlungen, die kurzerhand auf einen Begriff gebracht werden. Dies wird unmittelbar deutlich, wenn man empirisch priift, wie die Forscher ihre makrosozialen Objekte untersuchen: Sie verlassen nie ihre Mikrosituationen, sondern sie haufen Zusammenfassungen im Zuge unterschiedlicher Kodierungs- und Ubersetzungsprozesse auf, bis sie einen Text erhalten, der eine Makrorealitat reprasentiert und iiber all den Mikrosituationen steht, aus denen er hervorgeht (Garfinkel 1967, Cicourel 1975). Und dies unabhiingig davon, ob der Forscher nun Gesprache mit Informanten fUhrt, standardisierte Fragebogen verwendet, oder sich gar auf eigene Beobachtungen verlaBt. In jedem Fall kommt es zu einer Reihe stillschweigender Verkniipfungen zwischen den tatsachlichen Erfahrungen und der Art und Weise, wie sie schlieBlich berichtet werden. In noch viel groBerem MaBe trifft das fUr die Verwendung von historischem Material zu, denn dieses wird gewohnlich aus friiheren schriftlichen Berichten konstruiert, die bereits in ihrer urspriinglichen Fassung zahlreiche Erlauterungen zum unmittelbaren ErfahrungsfluB enthielten. Die Soziologie kommt ohne solche Makroverkniipfungen auch gar nicht aus, denn es wiirde viel zu lange dauern, alle Mikroereignisse, aus denen sich umfassendere soziale Muster zusammensetzen, nachzuerzahlen; dies ware dariiber hinaus mit Sicherheit ermiidend und wenig erfolgversprechend. Trotzdem miissen wir uns nicht mit dem vollstandigen Informationsverlust aus der empirischen Erfahrungsebene abfinden und uns statt dessen mit abgehobenen Abstraktionen begniigen. Denn wenn Makrophiinomene aus einer Anhaufung und Wiederholung vieler, si ch gleichender Mikroereignisse bestehen, konnen wir aus der Menge dieser grundlegenden Mikrobausteine Stichproben ziehen und sie als empirische Basis aller anderen soziologischen Konstruktionen verwenden. Die Bedeutung dieses ersten Punktes liegt folglich darin, daB soziologische Konzepte nur dann empirische Bedeutung gewinnen k6nnen, wenn man sie auf eine Stichprobe typischer Mikroereignisse ruckbezieht, aus denen sie sich aujbauen. Daraus folgt, daB die Uberpriifung der empirischen Giiltigkeit soziologischer Aussagen letztlich von ihrer Ubersetzung in Mikroereignisse abhiingt. Auf der Grundlage dieses MaBstabes hatten alle bisherigen soziologischen Erkenntnisse reinen Versuchscharakter. Doch heiBt dies natiirlich nicht, daB sie nicht manchmal - wenn auch nicht immer - niitzliche Annaherungen darstellen, denn der Erfolg einer Ubersetzung in Mikroereignisse ist

104

Randall Collins

meiner Ansicht nach der Test, ob eine makrosoziologische Aussage eine niitzliche Annaherung oder eher eine irrefUhrende Verdinglichung darstellt. 2 Eine zweite Implikation hiervon ist natiirlich, daB sich in einem soziologischen Erklarungsmodell die handelnden Personen immer in Situationen auf der Mikroebene befinden. Soziale Muster, Institutionen und Organisationen sind bloBe Abstraktionen individuellen Verhaltens und Zusammenfassungen von Verteilungen verschiedener mikrosozialer Verhaltensweisen in Zeit und Raum. Es ist nicht so, daB diese Abstraktionen und Zusammenfassungen keinerlei Wirkungen besaBen. Falls es den Anschein hat, als ob sie Ausdruck einer kontinuierlichen Realitat seien, dann deshalb, weil die Individuen, die fUr ihre Entstehung verantwortlich sind, ihr Mikroverhalten oftmals wiederholen; und falls die "Strukturen" sich wandeln, dann deshalb, weil die Individuen, die sie hervorbringen, ihr Mikroverhalten andern. Dies heiBt jedoch nicht, daB kausale Erklarungen vollstandig auf Mikrosituationen beruhen. An anderer Stelle versuchte ich zu zeigen (Collins 1981), daB die Mikroiibersetzung vielfaltiger kausaler Prinzipien nicht nur eine Reihe reiner Mikroprinzipien, sondern auch einen Rest an Makrobeziehungen mit sich bringt. Individuen in Mikrosituationen stellen selbst Makrobeziige zu anderen Situationen her, ebenso wie sie sich auf abstrakte oder verdinglichte soziale Gebilde beziehen. Die Wirkungen der Mikrosituationen auf die Individuen sind aufgrund der Wiederholung von Mikroerfahrungen oft kumulativ, so daB auBenstehende Beobachter die Prinzipien der jeweiligen Mikrosituation nur erschlieBen konnen, wenn sie andere Mikrosituatio2

Ein neueres Beispiel ware die Kontroverse iiber reputations- und entscheidungsbezogene Modelle kommunaler Macht, bei der es urn die Vorziige von eher mikrooder eher makrosoziologischen Modellen geht. Das entscheidungsbezogene Modell konzentriert sich auf bestimmte Mikroereignisse und nimmt flir sich einen groBeren empirischen Realismus in Anspruch. Seine Fiirsprecher kritisieren am reputationsbezogenen Modell, daB es Hypostasierungen und Illusionen des Common sense-Diskurses so behandelt, als waren sie verlaBliche Abbilder der sozialen Wirklichkeit. Die Verfechter eines reputationsbezogenen Modells dagegen kritisieren am entscheidungsbezogenen, daB es groBere Muster gar nicht erfassen kann, vor allem weil man sich ganz auf die wirklich getroffenen Entscheidungen beschrankt und jene ignoriert, die nie zur Sprache gekommen sind, einschlieBlich institutioneller Arrangements, die nie in Frage gestellt und implizit dadurch geschiitzt werden, weiJ sie als selbstverstandlich betrachtet werden (BachrachIBaratz 1962). Die eher makrosoziologische Theorie verspricht hier einen groBeren Erklarungswert, ist aber empirisch weniger gut abgesichert. Doch man kann sie retten, indem man sie in eine Ansammlung von Mikrobegriffen iibersetzt. Einen Versuch in diese Richtung unternahmen Laumannl MarsdenlGalaskiewicz (1977), die eine wichtige Verbindung aufzeigen zwischen den bloBen Makrozusammenfassungen von Handlungen gemessen nach der Reputationsmethode und der tatsachlichen Ausiibung dieser Macht, indem sie gezeigt haben, daB es Netzwerke von angesehenen und einfluBreichen Personen gibt, die politische Angelegenheiten informell unter sich besprechen und dadurch eine generelle Verhaltensorientierung erreichen, die vermutlich selbstverstandliche Routinehandlungen ebenso umfaBt wie explizite Entscheidungen.

Dber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

105

nen zum Vergleich heranziehen. Dariiber hinaus gibt es drei reine Makrovariablen:'Die Verteilung der Individuen im physischen Raum; die Zeit, d.h. die Dauer, die soziale Prozesse beanspruchen (einschlieBlich der zeitIichen Muster intermittierenden oder wiederholten Verhaltens); sowie die Anzahl der beteiligten Individuen. Mit anderen Worten, es gibt einige nicht reduzierbare Makrofaktoren, wenngleich nur eine begrenzte Anzahl. Alle Erscheinungsweisen von Makrostrukturen oder -ereignissen lassen sich in die Form der Aggregation von Mikroereignissen iibersetzen. Sofem Kausalitat bedeutet, die Bedingungen anzugeben, unter denen bestimmte soziale Prozesse ablaufen, ist klar, daB sowohl die unabhangigen wie die abhangigen Variablen - "die Bedingungen" wie "die tatsachlichen sozialen Prozesse" - zusammengesetzte Begriffe sind. Beide beziehen sich zumindest minimal auf eine vom Beobachter getroffene Auswahl sich wiederholender Mikroereignisse. Unabhangige und abhangige Variablen lassen sich in dem Sinne als Aggregate bestimmen, als sie ein raum-zeitliches Arrangement einer bestimmten Anzahl verschiedener Mikroakteure umfassen. AuBerdem miissen mehrere Makrostichproben - im Sinne von "Kontrollvariablen" - verglichen werden, urn iiberhaupt eine kausale Aussage treffen zu konnen. Urn in irgendeinem empirischen Fall das beobachtete Verhalten vollstandig erkliiren zu konnen, miissen zum Vergleich sowohl eine groBe Bandbreite anderer Situationen, als auch Aussagen, die das Verhalten in einer Situation mit dem in anderen Situationen zueinander in Beziehung setzen, herangezogen werden. Zum Beispiel kann das Verhalten eines Individuums in einer bestimmten Situation durch Verhalten zu anderen Zeiten und an anderen Orten bedingt sein, so daB man metaphorisch von einem organisationalen "Netzwerk" sprechen kann. Aber indem man soIche Muster findet (und ich denke, wir haben eine Reihe soIcher Muster gefunden, wenngleich etwas verschleiert in soIchen Aussagen wie "der soziale Klassenhintergrund beeinfluBt Einstellungen gegeniiber x" (z.B. Collins 1975: 73ff.», zeigt sich noch nicht ihre Dynamik, es bedeutet nur die Bezugnahme auf eine beobachtete Korrelation zwischen einem Verhalten in einer bestimmten, sich wiederholenden Situation und einem Verhalten in anderen Situationen. Notwendig ist es aber, den Mechanismus aufzukliiren, durch den die Bedingungen - d.h. bestimmte Konstellationen von Mikrosituationen - die Handelnden motivieren, si ch in einer gewissen Weise zu verhalten. Dieser Mechanismus sollte sowohl erklaren, warum sie sich in spezifischen Situationen so verhalten, als auch, warum gewisse Mikroverhaltensweisen unter den Individuen iiber Zeit und Raum verbreitet sind und dadurch die Makrostrukturen entstehen lassen. Ein solcher Mechanismus sollte au6erdem durch unterschiedliche Auspragungen seiner Variablen in der Lage sein, das repetitive Verhalten - statische oder regelmaBig reproduzierte Sozialstruktur - ebenso wie strukturelle Veranderungen hervorzubringen. Die zweite These lautet demnach: Sowohl die Dynamik als auch die Tragheit mufJ in jedem kausalen Erklarungsmodell der Sozialstruktur mikro-

106

Randall Collins

situational begrundet werden konnen, wobei die makrosozialen Bedingungen durch situationsspezijische Motivierung der Handelnden hindurch wirken. Ansammlungen von Mikrosituationen auf der Makroebene bilden den Kontext und das Resultat dieser Prozesse, aber die eigentliche Energie ist mikrosituationaler Art. Die Konzeption eines solchen Mikromechanismus steht jedoch noch aus, und gerade hier hilft die einschlagige Forschung der radikalen Mikrosoziologie weiter.

Die mikrosoziologische Kritik an rationalistisch.kognitiven und austauschtheoretischen Modellen Ein groBer Teil der klassischen ethnomethodologischen Forschung wollte zeigen, daB im Alltag die Sinnhaftigkeit des Handelns in der Regel nicht in Frage gestellt wird. Garfinkels (1967) bahnbrechende Experimente verdeutlichen, daB es die Menschen aus der Fassung bringt, wenn man die gew6hnlich unausgesprochenen Aspekte des Verhaltens hinterfragt oder verletzt. Wir gehen davon aus, daB es Dinge im Leben gibt, die man nicht erklaren muG. Jedoch hat diese Haltung weitaus tiefere Griinde: Es ist faktisch unmoglich, all die stillschweigend anerkannten Grundlagen gesellschaftlicher Konventionen zu explizieren; versucht man dies aber doch, so merkt man schnell, daB man mit seinen Erklarungen in einen infiniten RegreG zu geraten droht. Cicourel (1973) hat einige der Grundlagen der Indexikalitat sozialer Kommunikation aufgezeigt. Viele Kommunikationselemente beinhalten nonverbale Anteile, die mit Worten gar nicht vollstandig wiedergegeben werden k6nnen. Und auch das Sprechen selbst (im Gegensatz zum Inhalt des Gesprochenen) ist durch eine Struktur gekennzeichnet, die in eine Verbalisierung mundet, ohne selbst verbalisiert werden zu k6nnen. Aus all dem folgt, daB Sozialverhalten letztlich nicht von Kognitionen geleitet wird. Vielmehr wird Ereignissen eine kognitive Bedeutung erst retrospektiv zugeschrieben, und zwar dann, wenn Schwierigkeiten aufgetaucht sind, denen man durch eine "Erklarung" begegnen m6chte (ScottJLyman 1968). Diese Perspektive stellt eine Reihe konventioneller Erklarungen sozialen Verhaltens in Frage, denn Werte und Normen werden zu zweifelhaften Konstrukten. So belegt etwa die ethnomethodologische Forschung, daB Menschen viele der sozialen Regeln, die ihr Verhalten leiten, gar nicht verbalisieren k6nnen. Dies gilt urn so mehr fur die tieferen Schichten stillschweigenden Verstehens, beispielsweise fUr Situationen, in denen bestimmte Typen von Oberflachen-Regeln angemessen sind (Cicourel 1973). Normative Konzepte werden vor allem in retrospektiven Begriindungen oder als Konstrukte des Beobachters betrachtet und es gibt keine eindeutigen Belege, daB sie das spontane Verhalten der Akteure leiten (siehe Deutscher 1973, Cancian 1975).

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

107

Ebensowenig ist es fUr Individuen moglich, sich, kognitiv zu verhalten, indem die externen Situationen mit den innerlich formulierten Regeln zusammengebracht werden. 3 Ahnliche Uberlegungen wecken Zweifel, ob es angemessen ist anzunehmen, daB Verhalten durch Situationsdefinitionen oder Rolleniibernahme geleitet wird. Diese Konzepte implizieren, daB Verhalten kognitiv von wohldefinierten verbalen Vorstellungen bestimmt ist. Aber wenn die gebrauchlichste Haltung jene ist, NormaliHit so weit wie moglich vorauszusetzen, selbst angesichts der Abwesenheit eines erkennbaren Bedeutungszusammenhangs, und wenn Bedeutung vor allem retrospektiv als Teil von Gesprachssituationen zugeschrieben wird, dann heiBt das, daB die unmittelbar gegebenen Situationen nicht explizit definiert werden miissen, damit die Menschen sich in ihnen zurechtfinden. Wenn es statt dessen wirklich ein nicht zuriickfUhrbares, unausgesprochenes Element von Kommunikation und Kognition gibt, dann lassen sich Situationen und Rollen niemals vollstandig definieren, und man muB fiir die Bestimmung dessen, was das Verhalten wirklich leitet, auf einer anderen Ebene suchen. Mit diesen Schwierigkeiten haben auch die Austauschtheorien zu tun. Denn die Evidenz der Mikrosituationen bedeutet keineswegs, daB die gewohnte kognitive Einstellung eine ist, in der die Akteure ihre moglichen Belohnungen kalkulieren; im Gegenteil, die meisten Personen handeln die langste Zeit auf der Grundlage einer angenommenen Normalitat, die nicht Gegenstand bewuBter Reflexion ist. Umfassende Untersuchungen von Gesprachen in der Arbeitswelt zeigen etwa, daB der vorherrschende Charakter in den meisten Interaktionen darin besteht, die organisatorischen Routinen als gegeben hinzunehmen. Beziehungen, in denen etwas ausgehandelt wird, sind groBtenteils auf externe Kontakte beschrankt, z.B. auf Kontakte zwischen leitenden Angestellten und Kunden (Clegg 1975). Die ethnomethodologischen Ergebnisse belegen dariiber hinaus auch, daB selbst dort, wo Austausch stattfindet, er vor dem Hintergrund eines stillschweigenden Verstehens erfolgen muB, das weder bewuBt gemacht noch in Frage gestellt wird. Eine vergleichbare Argumentation hat schon Durkheim (1947) gegeniiber den Sozialvertragstheorien ins Feld gefiihrt: Er wies darauf hin, daB jeder Vertrag we i3

Man kann natiirlich versuchen, Normen oder Regeln als nicht verbalisierbare oder unbewuBte Muster, die sich im Verhalten der Menschen manifestieren, konzeptuell zu retten. Aber "Normen" solcher Art sind reine Konstrukte des Beobachters. Es ist deshalb ein verbreiteter, aber irrefiihrender Taschenspielertrick, anzunehmen, daB die Handelnden diese "Regeln" auch kennen und ihr Verhalten an ihnen orientieren wiirden. Normative Ansiitze haben in den letzten fiinfzig lahren deshalb so geringe Fortschritte gemacht, weil sie eine Beschreibung des Verhaltens mit dessen Erkliirung gleichsetzen. Aber der dem Verhalten zugrundeliegende Mechanismus muB erst noch entdeckt werden. Da die se Art von MiBbrauch so naheliegt, bin ich der Meinung, daB der Begriff "Norm" in der soziologischen Theorie nicht mehr verwendet werden sollte.

108

Randall Collins

tere unausgehandelte Verpflichtungen in sich birgt, wie etwa die implizite Verpflichtung, sich an den Vertrag zu halten. Auch innerhalb der Austauschtheorie selbst entstanden vergleichbare Schwierigkeiten (Heath 1976). So gibt es bestimmte Arten von Kalkulationen, die Akteure auf einer rein rationalen Basis gar nicht anstellen k6nnen. Man kann etwa nicht rational zwischen alternativen Giitern wahlen, wenn keine gemeinsame MaBeinheit existiert. Dies ist im Alltag haufig der Fall, wenn es urn Giiter wie Status, Komfort oder Zuneigung geht, die kein direktes monetares Aquivalent besitzen. Das Problem spitzt sich noch zu, wenn es urn die Einschatzung des erwarteten Nutzens unterschiedlicher Handlungsverlaufe geht, denn die Wahrscheinlichkeit eines angestrebten Gutes muB mit seiner relativen Erwiinschtheit multipliziert werden, d.h. es gilt zwei inkommensurable Skalen zu kombinieren. Hinzu kommt, daB es unm6glich ist, in einer bestimmten Situation abzuschatzen, wie wahrscheinlich es ist, die eigenen Ziele zu erreichen, wenn man die wirkliche Verteilung der Ergebnisse nicht kennt. Die Anwendbarkeit eines Austauschmodells ist jedoch noch aus anderen Griinden beschrankt: Bei bestimmten Austauschprozessen, beispielsweise zwischen Mitgliedern von Organisationen oder zwischen Personen, bei denen sich aufgrund wiederholten Austauschs von Geschenken eine dauerhafte Verbindung entwickelt hat, bleibt kein Raum zum Verhandeln, denn durch einmal fUr alle Zeiten getroffene Ubereinkunft wird auch die M6glichkeit alternativer Partner ausgeschlossen. All dies zeigt, wie sehr die Anwendbarkeit des Austauschmodells eingeschrankt ist. Die Forschungsergebnisse der empirischen Mikrosoziologie und die Selbstkritik der Austauschtheorie ahneln sich stark und verweisen auf die selben zugrundeliegenden Bedingungen. Wenn das BewuBtsein auf ein paar wenige, vergleichsweise einfache Operationen beschrankt ist, dann ist es den Menschen nicht m6glich, eine Gedankenkette, die mehr als ein paar Glieder umfaBt, zu verfolgen, weder in die Zukunft gerichtet mit Blick auf ihre Folgen, noch zuriick in die Vergangenheit mit bezug auf ihre Voraussetzungen. Die meisten Handlungsverlaufe miissen deshalb als selbstverstandlich gegeben hingenommen werden. In March und Simons (1958) neorationalistischem Ansatz bleibt dem Akteur, der eine Reihe komplexer Handlungen iiberwachen muB (z.B. bei der Fiihrung von Organisationen), nur die M6glichkeit, sich mit dem Gegebenen zufriedenzugeben, die meisten Handlungsketten zu ignorieren, solange sie bestimmten routinisierten Ablaufen geniigen, und sich statt dessen auf die am schwersten vorhersagbaren und problematischsten Bereiche zu konzentrieren. Im Grunde handelt es sich urn die gleiche Vorgehensweise, die Ethnomethodologen in Alltagsgesprachen vorgefunden haben: Die Menschen stellen den Wahrheitsgehalt und die wirkliche Bedeutung der meisten AuBerungen so lange nicht in Frage, wie keine schweren MiBverstandnisse oder Konflikte auftauchen; erst wenn das passiert, versuchen sie die Probleme durch retrospektive Erklarungen zu 16sen.

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

109

Williamson (1975) hat daraus einige Konsequenzen ftir die okonomische Theorie gezogen. Wie die Ethnomethodologen geht auch er davon aus, daB die Rationalitat der Menschen begrenzt ist und deshalb alle komplexen oder konflikttrachtigen Verhandlungen auBerst kostspielig und langwierig - potentiell sogar endlos - werden konnen, wenn man sich nicht auf eine selbstverstandliche oder nicht verhandelbare Verstandigungsgrundlage sttitzen kann. Insofern begtinstigen offene Markte ftir Arbeit oder Waren in vielerlei Hinsicht Organisationen, das heiBt, die Wiederholung von Austauschprpzessen unter einmal ausgehandelten Bedingungen. Das ist wirtschaftlich effizienter, als wenn man die Beziehungen zwischen den Angestellten oder zwischen Herstellern und Zulieferern standig neu aushandeln wtirde, unabhangig vom Komplexitatsniveau der jeweiligen Aufgaben. Dieses Argument lauft darauf hinaus, daB als strukturelle Folge der kognitiven Merkmale, wie sie von Mikrosoziologen dargestellt werden, die Austauschprozesse offener Markte durch unhinterfragte Routineprozesse in organisationalen Netzwerken ersetzt werden Wenn Organisationen an die Stelle von Markten treten, bedeutet das jedoch nicht, daB man die mikrosozialen Grundlagen der sozialen Struktur nicht mehr nachweisen muB. Ausgehend von der Einsicht, daB ihre begrenzte Rationalitat die Menschen in vielen Lebensbereichen dazu zwingt, sich eher auf Routinen zu beziehen denn auf Verhandlungsprozesse, bleibt die Frage, weshalb es tiberhaupt organisationale Routinen gibt, und bis zu welchem Grad die se stabil bleiben. Jede Organisation beinhaltet Herrschaft in dem Sinne, daB bestimmte Personen die Macht besitzen, Anweisungen geben zu k6nnen, und andere diese auszufiihren haben. Grundlage der Herrschaft ist eine Kommunikationskette. Die auBerste Sanktion, zu der ein leitender Angestellter der unteren Ebene gegentiber einem Untergebenen greifen kann, ist, mit anderen in der Managementhierarchie zu kommunizieren, um dem Mitarbeiter seinen Lohn vorzuenthalten. In einer militarischen Organisation besteht die Sanktion darin, tiber Befehle zu kommunizieren, um ZwangsmaBnahmen gegen den ungehorsamen Soldaten zu verhangen. Die militarische Praxis liegt der zivilen zugrunde. Auf Bezahlung oder Zugang zu Besitz basierende Kontrollketten beziehen sich letztendlich auf das Gewaltmonopol des Staates. Deshalb mtissen die mikrosozialen Verhaltensweisen, aus denen sich jede organisationale Routine speist, ein gewisses Verstandnis flir die Befehlsketten beinhalten, die bei Storung der Routine Sanktionen nach sich ziehen konnen. Routinehandlungen konnen demnach nicht unter volliger Ausblendung moglicher Kontingenzen ablaufen. Vielmehr gibt es zahlreiche Belege aus Organisationsstudien, die beobachten, daB Angestellte, Vorgesetzte, Kunden und Verkaufer darum kampfen, Kontrolle auszutiben oder sich ihr zu entziehen, daB Manager Koalitionen bilden, daB Belegschaft und leitende Angestellte um EinfluB ringen, oder daB BefOrderungen und Laufbahnen Gegenstand weitreichender Manover sind (Roy 1952, Lombard 1955, Dalton 1959,

110

Randall Collins

Glaser 1968). Bedenkt man das Wesen der Macht, so iiberrascht dies nicht. Sanktionen wirken eher indirekt und zeitlich verzogert, und die begrenzten kognitiven Kapazitaten Offnen in Situationen, die eine komplexe Koordinierung benotigen oder Unsicherheit mit sich bringen, den Raum fUr Verhandlungen innerhalb der Routinen. Mag Routine aus kognitiver Sicht wiinschenswert sein, so tritt sie jedoch nicht immer ein. Wenn es zu Zusammenbriichen kommt, dann kann eine bestehende Routine die Akteure nicht davon abhalten, miteinander auszuhandeln, welche Routinen kiinftig etabliert werden sollen. Selbst wenn Sanktionen angewandt werden, wird der Verhandlungscharakter der Macht offensichtlich. Die Grundlage privater Macht- und Besitzverhaltnisse ist die wiederum auf der Macht des Militars aufruhende politische Herrschaft. Politische und militarische Herrschaft basieren allerdings auf einem sich selbst verstarkenden ProzeB der Herstellung von Loyalitat oder Illoyalitat. Ein politischer Fiihrer - selbst ein Diktator - verlaBt sich darauf, daB andere seine Befehle befolgen, und dies beinhaltet, daB Untergebene dazu benutzt werden, andere Untergebene zu disziplinieren. Insofern hat ein politischer Fiihrer nur insoweit Macht, als er oder sie fiir machtig gehalten wird, insbesondere von denjenigen innerhalb einer organisationalen Befehlskette (vgl. Schelling 1963: 58-118). Fiir weniger diktatorische Fiihrer und fUr informelle Verhandlungen auf unteren Organisationsebenen hangt die Macht noch offensichtlicher von akkumuliertem Vertrauen anderer ab (Banfield 1961). Die Herrschaft in Organisationen basiert demnach auf den gemeinsam geteilten Orientierungen der Gruppenmitglieder und ist ausgerichtet auf den Umfang, den diese gemeinsamen Orientierungen einnehmen. Die Mitglieder einer Organisation iiberwachen nicht nur wechselseitig ihre GefUhle, sondern auch diejenigen gegeniiber den Inhabern der Machtpositionen. Die letzte Grundlage von Routinen ist eine weitere Ebene des impliziten Aushandelns. Und hier kommen wir zur Crux dieser Thematik. Sowohl die neorationalistische Selbstkritik als auch die Erkenntnisse der Mikrosoziologie stimmen darin iiberein, daB komplexe Kontingenzen nicht rational kalkuliert werden konnen und sich die Akteure deshalb auf stillschweigende Annahmen und organisatorische Routinehandlungen verlassen miissen. Aber die tatsachlichen Strukturen der sozialen Welt - vor allem jene, die sich auf die Netzwerke der Aufrechterhaltung von Macht- und Besitzverhaltnissen konzentrieren - haben zur Folge, daB sich die Individuen hinsichtlich ihrer Gruppenloyalitat bestandig wechselseitig iiberwachen. Da die soziale Welt verschiedene Arten von Herrschaft und unterschiedliche Koalitionen umfassen kann, wird ihre Uberwachung zu einer auBerst komplexen Aufgabe. Wie ist dies angesichts der beschrankten kognitiven Kapazitaten von Akteuren iiberhaupt moglich? Die Losung besteht darin, daB die Verhandlungen implizit ablaufen, und zwar auf einer anderen Ebene als der einer Verwendung bewuBt gesteuerter

Ober die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

111

verbaler Symbole. Ich gehe davon aus, daB dieser Mechanismus eher emotional denn kognitiv ist. Individuen tiberwachen die Einstellungen der anderen gegentiber sozialen Koalitionen, und folglich auch hinsichtlich dem Grad an Untersttitzung flir Routinen, indem sie das AusmaB an Vertrauen und Begeisterung gegentiber bestimmten Ftihrern und Aktivitaten ersptiren, oder das AusmaB an Furcht vor dem Angriff einer starken Koalition bzw. das AusmaB an Verachtung flir eine schwache. Diese emotionalen Energien werden innerhalb einer Gruppe durch Ansteckung weitergegeben, durch Prozesse, die in etwa wie diejenigen Verhandlungen funktionieren, die auf Markten zu Preisen flihren. Deshalb mochte ich zeigen, daB die Vorteile von Marktmodellen bei der Verkntipfung von Mikrointeraktionen und Makrostrukturen auch oh ne die Nachteile traditioneller Austauschtheorien gentitzt werden konnen.

Soziale Strukturen als Mikrowiederholungen in der physischen Welt Wie laBt sich aus der Mikroperspektive eine "soziale Struktur" bestimmen? Der ProzeB der Mikrotibersetzung bezieht sich vor allem auf das sich wiederholende Verhalten von Menschen an spezifischen Orten, wobei sie bestimmte physische Objekte benutzen und mittels einer Vielzahl ahnlicher symbolischer Ausdrticke immer wieder mit bestimmten Personen kommunizieren. Die am leichtesten zu identifizierenden Bestandteile dieser Wiederholungen sind physischer Natur: Es sind bestimmte Orte und Objekte, die im Mittelpunkt der dauerhaftesten Wiederholungen stehen. So finden die meisten der repetitiven Strukturen okonomischer Organisationen in bestimmten Fabriken, Btirogebauden, Lastwagen usw. statt, und der tiberwiegende Teil desjenigen repetitiven Verhaltens, aus dem Familienstrukturen entstehen, folgt der Tatsache, daB bestimmte Leute tagtaglich die gleichen Raumlichkeiten bewohnen, daB die selben Frauen und Manner in den selben Betten schlafen, dieselben Korper bertihren, daB dieselben Kinder gektiBt, geflittert und auch getadelt werden. Der "Staat" existiert aufgrund der Wirksamkeit von Gerichtssalen, in denen immer wieder Richter sitzen, aufgrund der Existenz von Polizeiprasidien, von denen aus die Polizisten immer wieder Streife fahren, aufgrund von Kasernen, in denen immer wieder Soldaten untergebracht werden, und aufgrund von Versammlungssalen, in denen Politiker immer wieder zusammenkommen. Nattirlich findet zwischen diesen Menschen auch symbolische Kommunikation statt, und diese steht in einer besonderen Beziehung zur ,,strukturiertheit" der Gesellschaft; doch worauf ich beharren mochte ist, daB Wiederholungen nicht in erster Linie durch den Inhalt dieser symbolischen Kommunikation erklart werden konnen. Die soziale Struktur ist nicht die An-

112

Randall Collins

sammlung von Bedeutungen in den Kopfen der Menschen, wie dies auch die Ergebnisse der empirischen mikrosoziologischen Kognitionsforschung belegen. Die soziale Struktur leitet sich von den sich wiederholenden kommunikativen Handlungen ab und nicht vom Inhalt des Gesagten. Diese Inhalte sind oft mehrdeutig und falsch, sie werden oft nicht von jedem verstanden und auch nicht vollsHindig erklart. Die Menschen haben manchmal (wenn nicht sogar in der Regel) keine genaue Vorstellung vom politischen Staat, dem sie sich unterordnen, von der Organisation, in der sie arbeiten, oder von ihrer Familie und ihrem Freundeskreis, mit dem sie sich verbinden. Aber obgleich die Strukturiertheit der Gesellschaft nicht kognitiv sondern physisch begriindet ist, hindert uns dieses Unvermogen nicht daran, sehr viele ordnungsgemaBe Wiederholungen auszufUhren. Denn es bedarf keinesfalls einer kognitiven Karte der vollstandigen sozialen Struktur oder auch einer einzelnen Organisation im Kopf der Akteure, sondern es geniigt, eine eingeschrankte Routine fUr diejenigen Orte und mit denjenigen Personen auszuhandeln, denen man dort fUr gewohnlich begegnet. Die von den Ethnomethodologen dokumentierte Begrenztheit der menschlichen Kognition verdeutlicht, warum die soziale Ordnung notwendigerweise fUr alle Beteiligten physisch und raumlich bestimmt sein muB. Das mag zwar in Anbetracht der philosophischen und antimaterialistischen Ausrichtung dieser Tradition paradox erscheinen, es steht aber in Einklang mit den wichtigsten Beispielen indexikaler Aussagen, die von Ethnomethodologen zitiert werden (Garfinkel 1967): Begriffe wie "du", "ich", "hier" und "dieses" sind unaufhebbar an einen bestimmten Kontext gebunden, da Handlungen immer an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit stattfinden. Der nicht zum Ausdruck zu bringende Kontext, von dem jeder abhangt und auf dem das gesamte stillschweigende Verstandnis beruht, ist die physische Welt einschlieBlich des eigenen Korpers, wie er von einer spezifischen Position innerhalb derselben aus gesehen wird. 4 Andererseits ist natiirlich klar, daB die physische Welt nicht statisch ist. Menschen kommen und gehen, Haushalte entstehen oder lOsen sich auf. Be4

Ein Phanomenologe wiirde dagegen einwenden, daB Individuen und Situationen nicht einfach als physische Merkmale in Zeit und Raum betrachtet werden konnen, weil sie immer durch eine kognitive Struktur definiert sind, welche die unrnittelbare Situation transzendiert. Anders ausgedriickt: ohne ein die Situation transzendierendes Konzept wissen wir nichts iiber das Individuum und die Situation. Ich glaube, daB wir es hier (wie in FuBnote 3) rnit einer Verrnischung der Beobachter- und der Akteursperspektive zu tun haben. Es ist der auBenstehende Beobachter, der das Individuum als "Biirger" oder "Ehemann" bezeichnen mochte, und die Situation als "Zuhause" oder "Arbeitsplatz". Meiner Ansicht nach denken die Handelnden die meiste Zeit iiberhaupt nicht an solche Konzepte, sondern befinden sich einfach physisch an bestimmten Orten, handeln auf bestimmte Weise bzw. sprechen. Nur wenn diese physische und emotionale Routine unterbrochen wird, begeben sich die Menschen auf die ihnen von Phanomenologen zugeschriebene Ebene und fangen an, makrokonzeptuelle "Erklarungen" ihres Verhaltens anzubieten.

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

113

rufsHitige wechseln ihre Arbeitsstelle, Politiker werden ersetzt, neue Freundschaften entstehen, wahrend andere enden. Und auch aus historischer Sicht sind die Muster nicht konstant. Vieles, was wir historisch mit dem Begriff "struktureller Wandel" fassen, bezeichnet sich vedindernde Muster physischer Organisation: die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz, Politiker, die in unterschiedlicher Zahl und Frequenz ersetzt werden, usw. Die Mikrorealitat jeder "sozialen Struktur" ist meiner Ansicht nach einfach ein Muster sich wiederholender Kontakte von Menschen in Abhangigkeit von bestimmten physischen Orten und Objekten; und das ist so, weil die kognitiven Kapazitaten der Menschen gar keine andersgeartete Organisationsform zulassen. Diese kognitiven Fahigkeiten bewahren die Individuen jedoch nicht davor, die Natur ihrer sozialen Ordnung systematisch verzerrt wahrzunehmen, indem sie auf einer symbolischen Ebene unzutreffende Behauptungen dariiber aufstellen. Hierauf werde ich spater zuriickkommen. Nun stellt sich jedoch die Frage, warum die Menschen immer in denselben Gebauden leben, dieselben Werkzeuge benutzen und mit denselben Leuten reden. Die Antwort habe ich zum Teil schon gegeben: Routinen entstehen, weil die Welt zu komplex ist, urn alles (oder auch nur sehr vieles) standig neu aushandeln zu konnen. Meistens ist es einfacher, sich an das Vertraute zu halten. Doch dies ist nur der Beginn einer Antwort. Es bleibt aufzuklaren, warum gerade jene Menschen sich an diesen bestimmten Orten aufhalten. Und da sie nicht ewig dort bleiben, miissen wir uns fragen, warum sie sie verlassen (wenn sie es denn tun) und wohin sie dann gehen. Dariiber hinaus sollte der Mechanismus, der erklaren kann, wann sie sich wegbewegen bzw. wann sie bleiben, auch erkHiren konnen, wie sie kommunizieren und sich verhalten werden gegeniiber den Menschen, denen sie tagtaglich an denselben Orten immer wieder begegnen. Eine Moglichkeit der Makrosoziologie, die se Mikrowiederholungen zu erklaren, basiert auf dem Verstandnis von Herrschafts- und Besitzverhaltnissen; darauf, aus welchen Griinden sich die Vorstellung der Moglichkeit, die Verletzung bestimmter Muster repetitiven Verhaltens zu sanktionieren, entwickelt. lemand, der in eine Fabrik einbricht oder ein Auto stiehlt, lauft Gefahr, hierfiir verhaftet und eingesperrt zu werden. Befolgt man die Anweisungen des Vorgesetzten nicht, riskiert man die Kiindigung. Aus Sicht einer konsequenten Ubersetzung in die Mikroperspektive miissen wir trotzdem fragen: Inwieweit denken Menschen wirklich in den einzelnen Augenblicken ihres Lebens an diese Moglichkeiten, wenn sie die Herrschafts- und Besitzverhaltnisse respektieren oder wenn sie gegen sie verstoBen? DaB Macht- und Besitzverbaltnisse durch die Existenz von Sanktionen aufrechterhalten werden, steht auBer Frage, denn dies sind Mikroereignisse, die gelegentlich vorkommen. Aber ihre Zahl ist verglichen mit der Gesamtzahl an Mikroereignissen verschwindend gering. Aus dem oben erlauterten Modell menschlichen Erkenntnisvermogens folgt auch, daB Menschen meist weder die kontingenten Folgen abschatzen noch sich auf explizite Regeln des Handelns be-

114

Randall Collins

rufen; sie handeln, indem sie sie stillschweigend voraussetzen und sich der formalen Aspekte unseres Handelns nur bewuBt werden, wenn etwas strittig ist. Es ist nicht so, daB Menschen keine Regeln formulieren oder Kontingenzen abschatzen konnten, aber es gibt keine bewuBte Vorgabe, wann man die Regeln beachten solI, und keine bewuBte Regel, wann man die Kontingenzen abschatzen solI und wann nicht (siehe CicoureI1973). Statt dessen haben wir es meiner Meinung nach mit einem Muster zu tun, demgemaB sich die Menschen gegeniiber physischen Objekten und ihren Mitmenschen auf eine Weise verhalten, die Routinen entstehen laBt. Normalerweise denken sie nicht daran, daB dieses Routinehandeln dazu beitragt, die Macht- und Besitzverhaltnisse aufrechtzuerhalten, obwohl ein mit analytischen Fahigkeiten begabter Beobachter genau zu dies em SchluB kommen konnte. Menschen folgen Routinen, weil sie ihnen natiirlich oder angemessen erscheinen. Dariiber hinaus zeigt sich, daB die Routinen sehr variabel sein konnen, in Abhangigkeit der Beschreibungen eines Beobachters von den Besitz- und Herrschaftsverhaltnissen. Manche Leute achten ganz genau darauf, ja nicht auf den Rasen fremder Leute zu treten, wahrend andere Biiromaterial ihrer Firma mit nach Hause nehmen, wobei sie sich in beiden Fallen keine Gedanken hieriiber machen. Jemand zuckt zusammen, wenn se in Vorgesetzter urn etwas bittet, einen anderen bringt das iiberhaupt nicht aus der Ruhe, wiederum ohne auf allgemeine Formulierungen, Regeln oder Rollen fiir beide Verhaltensweisen zuriickzugreifen. Diese Verhaltensvariationen finden si ch unter Umstanden auch in Fallen, in denen die Akteure sich der Herrschafts- und Besitzverhaltnisse sowie der spezifischen Regeln durchaus bewuBt sind. M.E. geht es darum, eine Erklarung zu finden, warum ein so1ches symbolisches BewuBtsein entsteht, wenn es entsteht. Und diese Erklarung bewegt sich wiederum im Bereich der Gefiihle: Menschen berufen sich zu bestimmten Zeitpunkten auf bewuBte soziale Konzepte, weil die emotion ale Dynamik ihres Lebens sie dazu motiviert. Die zugrundeliegende emotionale Dynamik ist meiner Ansicht nach auf das Gefiihl hin zentriert, Mitglied in verschiedenen Vereinigungen zu sein. Kurzgesagt basiert Eigentum (Zugang zu bzw. AusschluB von bestimmten Orten oder Dingen) auf dem Gefiihl, we1che Personen an we1che Orte gehOren bzw. nicht gehOren. Dem wiederum liegt ein Gefiihl zugrunde, welche Gruppen machtig genug sind, urn jene, die ihre Rechte verletzen, zu bestrafen. Herrschaft ist ahnlich organisiert: sie beruht auf dem Gefiihl, we1che Personen mit we1chen Gruppen oder Koalitionen in Verbindung stehen; aber auch, wie ausgedehnt die se Koalitionen sind und we1che Moglichkeiten sie besitzen, die Anspriiche ihrer Mitglieder durchzusetzen. Aber beides sind Variablen: es gibt keine inharente, objektive Entitat namens "Eigentum" oder "Herrschaft", sondern nur verschiedenartige Empfindungen der Menschen an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten gegeniiber der Macht dieser ihre Interessen durchsetzenden Koalitionen. Es kann auch Mitgliedsgruppen geben, die wenig oder gar keinen Anspruch auf Eigentum oder Herrschaft er-

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

lIS

heben - einfach "informelle" oder "horizontale" Gruppen, zum Beispiel Freunde oder Bekannte, deren SolidariUit Selbstzweck ist. Das allgemeinste Erklarungsmodell menschlichen Sozialverhaltens muB all diese M6glichkeiten beinhalten. Es sollte genau beschreiben: Wodurch wird jemand Mitglied einer Koalition? Was bestimmt die Ausdehnung einer Koalition und wie stark ist ihr innerer Zusarnmenhalt? Wie schatzen Individuen die Macht einer Koalition ein? Meiner Ansicht nach bestimmen die Antworten auf diese Fragen, wie Freundes- oder Statusgruppen entstehen, in welchem AusmaB Macht- oder Besitzroutinen aufrechterhalten werden, und wer innerhalb dieser Strukturen andere beherrscht. Der zugrundeliegende Mechanismus ist ein ProzeB emotionaler Gruppenidentifikation, der als rituelle Interaktionskette dargestellt werden kann.

Eine Theorie der Ketten von Interaktionsritualen Der Mikroperspektive zufolge finden alle Prozesse, die filr die Entstehung und Beurteilung von Mitgliedschaft in Koalitionen bedeutsam sind, primar im Rahmen von durch Konversation gekennzeichneten Interaktionssituationen statt. Aber keine dieser Situationen steht filr sich allein, jedes Individuum durchlebt vielmehr sehr viele Situationen, so daB man genaugenommen davon sprechen kann, daB das Leben eine Kette von Interaktionssituationen darstellt (man k6nnte es auch als eine Kette von Gesprachen bezeichnen). Die Menschen, mit denen man redet, haben in der Vergangenheit mit anderen gesprochen und werden sich auch kiinftig wieder mit anderen Leuten unterhalten. Sucht man demzufolge ein angemessenes Bild der sozialen Welt zu zeichnen, so besteht es aus einem Biindel individueller Ketten von Interaktionserfahrungen, die sich im FIuB der Zeit immer wieder im Raum iiberkreuzen. AIs Folge der momentanen Gefilhle der Individuen und in Abhangigkeit vom Charakter der Situation, in der sie sich gerade befinden (bzw. der letzten, an die sie si ch erinnern, oder einer kurz bevorstehenden, die sie antizipieren), entsteht die Dynarnik der Mitgliedschaft einer Koalition, die wiederurn von den vorausgegangenen Interaktionsketten aller Beteiligten beeinfluBt wird. In der Regel sind nicht die involvierten Gefilhle der manifeste Inhalt einer Interaktion, sondern jede ernsthafte Unterhaltung konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf den Realitatsgehalt der Gesprache (Goffman 1967: 113116); wobei dies auch die konkrete Arbeit sein kann, die man in diesem Moment gerade verrichtet. Aus der Perspektive der sozialen Mitgliedschaft sind an einer Unterhaltung weniger die Inhalte, als vielmehr der Grad bedeutsam, in dem es den Gesprachspartnern gelingt, sich gemeinsarn auf die se Inhalte zu konzentrieren. Der Inhalt ist nur ein Vehikel, mit dessen Hilfe die Mitgliedschaft stabilisiert werden kann, wobei man demzufolge jede Unter-

116

Randall Collins

haltung, die sich auf eine gemeinsame Wirklichkeit bezieht, als ein Ritual betrachten und als "Mythos" bezeichnet konnte, gleich ob dieser GesprachsMythos nun wahr oder falsch ist. Der Mythos bzw. Inhalt ist ein heiliger Gegenstand im Durkheimschen Sinn, der fUr jene, die ihn wirklich respektieren, die Zugehorigkeit zu einer Gruppe signalisiert. Nur wer erfolgreich in der Gesprachswirklichkeit aufgeht, wird in die Gruppe derer aufgenommen, die an die Wirklichkeit der Konversation glauben. In den Begriffen des Durkheimschen Modells religioser Riten (Durkheim 1954, siehe auch Goffman 1967) laBt sich eine Unterhaltung dann als Kult bezeichnen, wenn alle Glaubigen dieselbe moralische Solidaritiit empfinden. Tatsachlich bildet die Unterhaltung den Bezugspunkt der moralischen Solidaritat: diejenigen die daran glauben, sind gut; die Verteidigung des Glaubens und damit auch der Gruppe, ist Ausdruck der Rechtschaffenheit; bose ist es, nicht an die die Gruppe integrierenden kognitiven Symbole zu glauben, oder sie gar zu hinterfragen. Wie banal, speziell oder esoterisch die Gesprachsinhalte auch sein mogen, die kognitiven Symbole haben eine groBe Bedeutung fiir die Gruppe und werden von ihr verteidigt, weil sie das Vehikel darstellen, durch das die Gruppe geeint wird. Aber nicht alle Gesprache sind im gleichen MaBe erfolgreiche Rituale. Einigen gelingt es, Individuen dauerhafter und fester aneinander zu binden als anderen. Manche Gesprache finden erst gar nicht statt. Von den Unterhaltungen, die erfolgreich bei der Hervorbringung einer gemeinsamen Wirklichkeit sind, lOsen manche ein Gefiihl egalitiirer Verbundenheit bei den Gesprachspartnern aus, wahrend andere wiederum Rangunterschiede in Form von Macht- bzw. Unterordnungsgefiihlen zur Folge haben. Die Variabilitat dieser Typen ist in der Tat wesentlich fiir die Produktion und Reproduktion einer geschichteten Sozialstruktur. Ein Gesprachsritual ist somit ein Mechanismus, der variierende Grade an Solidaritat und personlicher Identifikation mit unterschiedlich wirkungsvollen Koalitionen hervorbringt. Was macht nun den Erfolg eines Gesprachsrituals aus, und auf welche Arten von Koalitionen beruft es sich? Meiner Ansicht nach umfaBt es folgende Aspekte: (1) Den Teilnehmern an einem erfolgreichen Gesprachsritual muB es gelingen, sich auf eine gemeinsame kognitive Wirklichkeit zu beziehen. Dazu miissen sie iiber ahnliche kommunikative und kulturelle Ressourcen verfUgen. 5 Ein erfolgreiches Gesprach muB nicht egalitiir ablaufen; wenn beispielsweise ein Gesprachspartner fiir die Hervorbringung der kulturellen Wirklichkeit maBgeblich ist, wahrend die anderen sich vor allem in der Rolle der Zuhorer befinden, dann handelt es sich in diesem Fall urn ein Herrschaft und Unterordnung erzeugendes Ritual. (2) Den Gesprachspartnern muB es auch gelingen, eine gemeinsame emotion ale Atmosphiire aufrechtzuerhalten. 5

Bourdieu (1977), BourdieuIPasseron (1977) schliigt ein iihnliches Konzept vor: "kulturelles Kapital". jedoch bezieht sich dieses mehr auf die von der herrschenden gesellschaftlichen Schicht legitimierte Kultur.

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

117

Zumindest miissen alle willens sein, momentan Solidaritlit zu schaffen, denn auch die emotionale Beteiligung kann geschichtet sein, und die Gruppe dadurch in emotion ale Fiihrer bzw. Anhlinger unterteilen. Diese beiden Bestandteile - kulturelle Ressourcen und emotionale Energien - stammen aus friiheren Interaktionserfahrungen der Individuen und dienen dazu, die Muster zwischenmenschlicher Beziehungen zu verlindern oder zu reproduzieren. Zu den wichtigsten dieser Muster zlihlen GefUhle beziiglich des Verhliltnisses von Personen gegeniiber Eigentum und erzwungenen Herrschaftsverhliltnissen. Die Art und Weise, wie Individuen an diese Koalitionen gebunden sind, ist die entscheidende Determinante dafiir, wer von ihnen dominiert und wer sich unterordnet. Kommunikative Ressourcen: Besondere Gesprlichsstile und -themen implizieren Zugehorigkeiten zu verschiedenen Gruppen. Die vorangegangenen Ketten von Interaktionsritualen, die erfolgreich ausgehandelt wurden, iiberfUhren bestimmte Gesprlichsinhalte in Symbole der Solidaritlit. Die Bandbreite dieser Inhalte habe ich andernorts bereits diskutiert (Collins 1975: 11431). So verweisen beispielsweise Fachgesprliche auf die Zugehorigkeit zu Berufsgruppen, politische und andere ideologische Gesprliche beziehen sich auf konkurrierende stehende politische Koalitionen, Gesprliche iiber Kultur verweisen auf Gruppen mit unterschiedlichen Geschmacksurteilen, allgemeine Diskussionen bringen unterschiedliche intellektuelle oder nichtintellektuelle Schichten hervor, wlihrend Tratsch und personliche Gesprliche auf spezifische, manchmal auBerst intime Mitgliedschaften hinweisen. Wiederum ist es nicht von Bedeutung, ob das Gesagte wahr oder falsch ist, sondern nur, ob es in diesem Moment akzeptiert wird und als Wirklichkeit geteilt wird - denn hierdurch wird es zu einem Symbol fUr GruppenzugehOrigkeit. Der Inhalt der Gesprliche ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam fUr die Reproduktion der Sozialstruktur. Einige Gesprlichsthemen sind generalisiert: sie beziehen sich auf Ereignisse und Einheiten, die von der unmittelbaren Situation abstrahieren. Gesprliche iiber Technik, Politik, Religion und Kultur zlihlen zu dieser Kategorie. Deren soziale Wirkung besteht m.E. darin, eine Vorstellung dessen, was man als Statusgruppenzugehorigkeit bezeichnen konnte, zu reproduzieren: die gemeinsame Teilhabe an einer horizontal organisierten kulturellen Gemeinschaft, die Einstellungen und Uberzeugungen teilt und ihnen groBe Bedeutung zumiBt. Ethnische Gruppen, Klassen (sofern sie kulturelle Gemeinschaften darstellen) und eine Reihe weiterer besonderer kultureller Gruppen konnen diesem Modell zugeordnet werden. Erfolgreiche Gesprache iiber solche Themen lassen ein Gefiihl der Gemeinsamkeit entstehen, obwohl dabei auf keine spezifischen oder personlichen Bindungen an bestimmte Organisationen oder an Macht und Eigentum Bezug genommen wird. Eine andere Art von Gesprlichsthemen laBt sich als partikutarisiert bezeichnen: sie beziehen sich auf bestimmte Personen, Orte und Dinge. Solche Gesprliche konnen praktische Anweisungen (jemanden zu bitten, etwas fUr

118

RandaIl CoIl ins

jemanden zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu tun), politische Uberlegungen zu spezifischen Strategien (wie im Fall der Po1itik einer Organisation) oder aber auch Tratsch und personliche Geschichten umfassen. Ein Tei1 dieser partikularisierten Gesprache dienen der Produktion und Reproduktion informeIler Beziehungen (Freundschaften). Aber paradoxerweise spielt die se Art der Unterhaltung auch bei der Reproduktion von Herrschaftsund Besitzverhaltnissen - und insofern von Organisationen - eine entscheidende RoIle. 6 Denn wie gezeigt, existieren Herrschafts- und Besitzverhaltnisse als physische Routinen, deren mikrosoziale Wirklichkeit aus Menschen besteht, die das Recht mancher nicht hinterfragen, sich in bestimmten Gebauden aufzuhalten, Anweisungen zu geben, usw. Insofern werden Herrschafts- und BesitzverhaItnisse immer dann aktualisiert, wenn sich Menschen auf jemandes Haus, Biiro, Auto beziehen, wie auch dann, wenn jemand eine bestimmte Anweisung erteilt und der Empfanger zumindest flir diesen Moment die Wirklichkeit dieser Anweisung anerkennt. Hier muB man erneut betonen, daB Anweisungen nicht immer befolgt werden, aber flir die Aufrechterhaltung der Struktur als einem wirklichen sozialen Muster sind nicht die tatsachlichen Handlungskonsequenzen ausschlaggebend, sondern die Situation, in der das Gesprachsritual stattfindet. 7 Wie schon angedeutet, differiert die Intensitat sehr, mit der sich Individuen diesen Ritualen unterziehen. Wir miissen deshalb diejenigen Bedingungen genauer aufklaren, die dazu fiihren, daB die innerorganisationale Kommunikation mehr oder weniger akzeptiert und reproduziert wird oder auf Widerstand stoBt. Dies bringt uns zum zweiten Bestandteil von Ritualen, den emotionalen Energien. Emotionale Energien 8 : Geflihle beeinflussen die Teilnahme an Ritualen auf verschiedene Weise. Damit ein Gesprachsritual eine gemeinsame Realitat erzeugen kann, muB bei den Interaktionspartnern zumindest ein gewisser 6

7

8

Im Gegensatz dazu werden in Bernsteins Theorie sprachlicher Codes (1971-75) restringierte (partikularisierte) Codes als Kommunikationsform der unteren Schichten betrachtet, wiihrend Mittel- und Oberschicht vor allem einen elaborierten (generalisierten) Code verwenden. Bernsteins Theorie beschiiftigt sich in erster Linie mit Klassenkulturen und vernachliissigt die Bedeutung partikularisierter Codes bei der Entstehung und Aufrechterhaltung bestimmter Organisationen. Die hoheren Schichten verwenden verstarkt einen generalisierten Code, benutzen aber auch eine partikularisierte Sprache, die fiir die Aufrechterhaltung der von ihnen kontrollierten Organisationen von entscheidender Bedeutung ist. Ich glaube, das ist die Bedeutung von Goffmans (1959) Konzept des Biihnenverhaltens in Organisationen. Das Formulieren von Regeln ware demnach ein Spezialfall der Biihnendarstellung; seine Bedeutung liegt nicht darin, daB die Organisationsregeln das Verhalten direkt bestimmen wiirden, sondern daB sie auch zu Gespriichsinhalten werden, die manchmal dazu benutzt werden, die Haltung von Mitgliedern gegeniiber miichtigen Koalitionen innerhalb der Organisation zu iiberpriifen. Einige alternative Emotionstheorien finden sich bei Kemper (1978), Schott (1979) und Hochschild (1979).

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

119

Grad an gemeinsamer Stimmung vorhanden sein. Denn je groBer dieser emotionale Gleichklang ist, desto wirklichkeitsnaher wird das jeweilige Gesprachsthema erscheinen und desto ausgepragter wird dann auch die Solidaritat innerhalb der Gruppe sein (siehe CoBins 1975: 94f., 153f.). Die emotionale Bereitschaft ist deshalb eine wichtige Voraussetzung fiir eine gelungene Interaktion, sie dient als eine Art Maschine, die ihrerseits wiederum die vorhandenen GefUhle verstiirkt und fiir das Gelingen neuer emotionaler Stimmungen und Solidaritatsgefiihle verantwortlich ist. Insofern sind emotion ale Energien wichtige Ergebnisse an jedem Punkt ritueBer Interaktionsketten. Emotionale Solidaritat ist m.E. der Gewinn, den das Individuum aus giinstigen Gesprachsressourcen gewinnen kann. Falls gelungene Interaktionsrituale (IR) ein SolidaritatsgefUhl zur Folge haben, ist eine Schichtung innerhalb der Verkettung von IR wie auch zwischen den Koalitionen eine weitere Konsequenz des emotionalen Geschehens. Gesprachsrituale konnen sowohl egalitiir als auch asymmetrisch sein, was sich jeweils unterschiedlich auf die Schichtung auswirkt. Egalitiire Rituale haben zur Folge, daB Gruppenmitglieder akzeptiert und Nichtmitglieder abgelehnt werden; die Schichtung besteht hier in Form einer Koalition gegeniiber Ausgeschlossenen oder auch in der Dominanz einer Koalition iiber eine andere. Asymmetrische Gesprache, in denen eine Person die emotionale Energie (und damit die kulturelle Wirklichkeit) bestimmt, wahrend die anderen das Publikum darstellen, weisen eine interne Stratifikation auf. Der meiner Ansicht nach wichtigste emotionale Bestandteil einer Interaktion ist ein Minimum an positiven GefUhlen gegeniiber den Anderen. Das Zusammengehorigkeitsgefiihl reicht von einer minimalen Zurschaustellung von Zuneigung bis hin zu warmherziger gegenseitiger Verbindung und leidenschaftlichen gemeinsamen Aktivitaten. Woher ruhren nun solche Gefiihle? Sie entstehen durch friihere Erfahrungen innerhalb der IR-Ketten. Ein Individuum, das in einer Interaktion Akzeptanz erfahrt, gewinnt positive emotionale Energie, die sich gewohnlich in Vertrauen, Herzlichkeit und Begeisterung ausdriickt. Erwerben Individuen diese in einer Situation, dann besitzen sie damit Gefiihlsressourcen, die hilfreich sind fUr eine erfolgreiche Verhandlung iiber mogliche Zugehorigkeit in den folgenden Interaktionen. Solche Ketten - sowohl positiver wie negativer Art - durchziehen das Leben aller Individuen. 9 Betrachten wir noch einmal die moglichen Varianten dieses Basismodells. Die entscheidenden Bedingungsfaktoren fUr die Entstehung emotionaler Energie sind folgende: a)

Jede Erfahrung einer erfolgreichen Aushandlung des Mitgliedschaftsrituals erhOht das emotionale Vertrauen, wahrend es bei MiBerfolg oder Zuriickweisung sinkt.

9

Flir die Vergangenheit impliziert dies aber keinen infiniten RegreB; es verweist nur auf die Tatsache, daB Kinder in eine emotionale Interaktion hineingeboren werden und daB die weiteren Gefiihlsverfassungen auf der Anfangssituation aufbauen.

120

Randall Collins

b) Das Vertrauen, das man erhaIt, ist urn so groBer, je machtiger die jeweilige Gruppe ist, innerhalb derer ritualisierte Solidaritat erfolgreich ausgeubt wird. Die Macht der Gruppe definiert sich uber die Menge physischen Eigentums, zu dem man sich Zugang verschaffen kann, die Zahl ihrer Mitglieder und ihre physische Starke (Anzahl der Kampfer, Gewaltmittel). c) Je intensiver die Gefuhlsregungen in einem IR sind, desto groBer ist die hieraus resultierende emotionale Energie fUr die Teilnehmer. Eine mit einem hohen Grad an emotionaler Energie aufgeladene Gruppensituation fUhrt demnach zu einem starken emotionalen Zugewinn fUr die Beteiligten. Die GefUhlsregungen sind bei IR besonders intensiv, in denen ein Konflikt mit AuBenstehenden eine Rolle spieIt: als tatsachlicher Kampf, als rituelle Bestrafung oder, angesichts eines geringeren Grades an Intensitat, als symbolische Denunziation von Feinden (einschlieBlich verbaler Auseinandersetzungen). d) Eine dominante Position innerhalb eines IR erhoht die emotionale Energie, eine untergeordnete reduziert sie, und je extremer die Unterordnung, desto geringer die emotionale Energie.

Interaktionen als Markte fUr kulturelle und emotionale Ressourcen Wie gelingt es Personen in einer bestimmten Interaktionssituation, rituelle Mitgliedschaft zu erlangen und aus welchen Griinden kann dies miBlingen? Und warum nimmt eine bestimmte Person in einem Interaktionsritual eine dominante oder eine untergeordnete Position ein? Ursache hierfUr ist das Zusammenspiel der emotionalen und kulturellen Ressourcen aller Beteiligten, und diese sind wiederum bedingt durch friihere Erfahrungen, die Individuen in IR-Ketten gemacht haben. Jede Begegnung laBt sich mit einem Marktplatz vergleichen, auf dem diese Ressourcen stillschweigend verglichen und Gesprachsrituale verschiedenen Solidaritats- und Stratifikationsgrades ausgehandelt werden. Die Marktposition jedes einzelnen hangt von seinen in fruheren Interaktionen gesammelten emotionalen und kulturellen Ressourcen ab. Die verschiedenen Arten emotionaler und kultureller Ressourcen wirken zusammen. Da die emotionalen Energien Ergebnis erfolgreicher oder miBlungener fruherer IR sind, tragt auch die Menge kultureller Ressourcen zur Menge der emotionalen Energie bei. In der entgegengesetzten Richtung ist dieser Effekt geringer ausgepragt: je mehr emotionale Energie (Vertrauen, soziale Warme) man besitzt, desto starker ist man befahigt, neue kuIturelle Ressourcen zu sammeln, indem man erfolgreich in neue Gesprachssituationen eintritt, in denen Kommunikationspartner mit geringem Vertrauen even-

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

121

tuell unfiihig sind, die ihnen zur Verfilgung stehenden kulturellen Ressourcen einzusetzen. Kulturelle und emotionale Ressourcen andern sich im Lauf der Zeit, jedoch mit unterschiedlichen Rhythmen. Allgemein betrachtet sind emotionale Energien weit unbestiindiger als kulturelle Ressourcen und konnen sich sowohl zum positiven wie zum negativen veriindern. Nimmt man an einer Reihe von Situationen teil, in denen man eindeutig akzeptiert wird oder die man gar dominiert, oder in denen die Gefuhle sehr intensiv sind, kann sich die eigene emotionale Energie sehr schnell steigern. Der Rhythmus politischer und religioser Massenbewegungen basiert auf einer solchen Dynamik. Auf der anderen Seite kann die eigene emotionale Energie durch eine Reihe von MiBerfolgen oder Unterordnungen naturlich auch sehr schnell wieder sinken. Im Gegensatz hierzu sind kulturelle Ressourcen weitgehend stabil und veriindern si ch vor allem positiv. Aber man muB hier wiederum zwischen generalisierten und partikularisierten kulturellen Ressourcen unterscheiden. Erstere wachsen normalerweise uber die Zeit und nur sehr langsam. Moglicherweise vergessen Individuen einige generalisierte Informationen, aber da sie als gemeinsame Gesprachsthemen immer wieder auftauchen und dadurch reproduziert werden, findet ein Verlust an generalisiertem kulturellen Wissen wahrscheinlich nur dann statt, wenn jemand filr lange Zeit seine gewohnte Gesprachsumgebung verliiBt. Und auch in diesem Fall dauert es lange, denn das Erinnerungsvermogen macht generalisierte kulturelle Ressourcen zu einem stabilisierenden Faktor in Sozialbeziehungen. Im Gegensatz dazu sind partikularisierte kulturelle Ressourcen potentiell weniger dauerhaft. Partikularisierte Gespdichshandlungen (eine bestimmte

Anweisung geben, urn Rat fragen, eine bestimmte organisationspolitische Strategie aushandeln, mit Freunden scherzen, usw.) sind unbestiindig. Die durch sie entstehenden Bindungen sind nur dann von Dauer, wenn die Handlungen oftmals wiederholt werden. Partikularisierte kulturelle Ressourcen spielen vor allem als mikrosoziale Grundlage von Eigentum, Herrschaft und Organisationen, aber auch von engen person lichen Beziehungen eine wichtige Rolle. Das Verhliltnis von Individuen zu bestimmten physischen Objekten, das die Besitzverhaltnisse konstituiert, wird in gew6hnlichen, filr selbstverstandlich erachteten Begegnungen reproduziert - in IR mit partikularisiertem Inhalt. Das gleiche gilt filr die mikrosoziale Reproduktion von Macht und Organisationen. Partikularisierte Gespriichsressourcen unterscheiden sich von generalisierten wie auch von emotionalen Ressourcen, da man sie sich nicht nur in den eigenen Unterhaltungen aneignet, sondern weil sie auch unabhiingig von einem selbst zirkulieren. Wenn andere Menschen si ch in partikularistischer Weise uber einen anderen unterhalten, konstituieren sie damit seine Reputation. Deshalb ist die eigene Reputation eine partikularisierte Gespriichsressource, die in den Gespriichen anderer zirkuliert. Fur die Ubersetzung von Mikrosituationen auf die Makroebene sind die wichtigsten Formen von Re-

122

Randall Collins

putation diejenigen Teile des Gesprachs, in denen Personen mit bestimmten Titeln identifiziert werden ("der Vorsitzende", "seine Frau"), ihnen eine Organisationszugehorigkeit zugeschrieben wird ("er arbeitet fiir General Electric"), oder in denen jemand aufgrund von Herrschaft oder Macht eine bestimmte Reputation erlangt ("Ich kam in sein Buro", ,,sie gab eine Mitteilung heraus, mit der Anweisung ... "). Die verfiigbaren wie die partikularisierten Konversationen, die in Form von Reputationen zirkulieren, konstituieren im Prinzip die Sozialstruktur der Besitz- und Herrschaftsverhiiltnisse. Verglichen mit generalisierten Gesprachen sind partikularisierte Gesprache eher fluchtig, obwohl sie zumeist sich selbst und somit auch die sozialen Routinen reproduzieren. Die meiste Zeit uber befinden sich die Individuen in denselben organisationalen und Eigentum sichernden Routinen, sowohl durch die partikularisierten Gesprachsrituale, an denen sie teilnehmen, als auch durch so1che, in denen sie Gegenstand der Gesprache sind. Aber dieser FluB partikularisierter kultureller Ressourcen kann sich durchaus abrupt verandern, vor allem im Falle der Reputationen. Auf einer eingeschrankten und lokalen Ebene ereignet sich dies recht hiiufig: Eine Person tritt eine neue Arbeitsstelle an, eine bekannte Person zieht an einen anderen Ort urn - die gewohnte Form der partikularisierten Gesprachsformen und Reputationen wird plotzlich beendet und eine neue spezifische soziale Wirklichkeit entsteht. In der Regel versHirken partikularisierte Gesprachsinhalte die Grundlage physischer Routine, auf die wir uns infolge unserer beschrankten kognitiven Kapazitaten in so groBem Umfang verlassen miissen. Doch aus dem gleichen Grund ist die besondere Struktur organisationalen Verhaltens - auch die so groBer Organisationen wie dem Staat - grundsatzlich sehr unbestandig: Sie werden nicht von irgendwe1chen allgemeingiiltigen Regeln oder einer spezifischen Kultur aufrechterhalten, sondern von kurzfristigen partikularisierten IR, die sehr unvermittelt einen neuen Gehalt bekommen konnen. Diese mikrosoziale Basis der Herrschafts- und Besitzverhaltnisse impliziert, daB diese Routinen zwischen langen Phasen relativ stabiler Mikroreproduktion und dramatischen Episoden der Umwalzung hin und her wechseln. Wenn wir uns deshalb fragen, was die Veranderungen dieses Musters bedingt (wann bestimmte Individuen hinzutreten oder weggehen, unter welchen Bedingungen das gesamte Muster der Herrschafts- und Besitzverhaltnisse gleichbleibt oder sich verandert), finden wir eine dem Markt vergleichbare Dynamik. Individuen aktualisieren Herrschafts- und Besitzmuster aufgrund ihrer emotionalen Energien und kulturellen Ressourcen, die aus friiheren Ketten von IR stammen, und die auch die Reputation einschlieBen, bestimmten Herrschaftsritualen und physischen Orten anzugehoren. Der relative Wert dieser Ressourcen kann von Begegnung zu Begegnung differieren, da sich auch die Zusammensetzung der Teilnehmer verandert. Wenn man auf jemanden trifft, dessen emotionale und kulturelle (einschlieBlich reputationsbezogene) Ressourcen groBer oder kleiner als die eigenen sind, wird auch die eigene Fahigkeit, rituelle Mitgliedschaft und Gesprachsdominanz zu generie-

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

123

ren, steigen oder sinken; und dies hat wiederum ein Anwachsen oder Schwinden der eigenen emotionalen Energie zur Folge. Wenn diese Energieveranderungen den Punkt erreichen, an dem man willens und in der Lage ist, rituelle und physische Positionen innerhalb der Herrschafts- und Besitzverhaltnisse zu verandern, dann werden sich auch die eigene Reputation und weitere partikularisierte Gesprachsressourcen schlagartig wandeln. Generalisierte kulturelle Ressourcen konnen sich in einer langen Reihe von Interaktionen aufbauen, doch vollzieht sich dies nur recht langsam. Obwohl IR marktahnlichen Charakter besitzen, sollte man doch darauf hinweisen, daB der Mechanismus, durch den Individuen aufgrund ihrer Marktposition motiviert werden, kein Vorgang rationaler Abwagung ist. Wie oben erwiihnt, besteht eine grundlegende Schwierigkeit der rationalistischen Austauschmodelle darin, daB die Individuen aufgrund des Fehlens einer gemeinsamen Metrik verschiedene Giiter nicht vergleichen konnen, noch konnen sie die Werte vervielfachen mit Hilfe einer Metrik, welche die Wahrscheinlichkeit, verschiedene Giiter zu erlangen, miBt. Wenn aber die Individuen durch je nach Situation unterschiedliche emotion ale Energien motiviert werden, dann ist die bloBe Menge emotionaler Energie der gemeinsame Nenner, welcher die Attraktivitat von Alternativen bedingt, und zugleich ein Pradiktor dafiir, ob ein Individuum iiberhaupt eines der Giiter anstreben wird. Individuen miissen folglich nicht Wahrscheinlichkeiten berechnen, urn unterschiedliche Grade von Vertrauen zu spiiren, die sie dann in verschiedene Ergebnisse umsetzen. Nicht die unterschiedlichen Giiter miissen miteinander verglichen werden, sondern nur die jeweilige emotionale Atmosphare der Situationen, in den en diese Giiter verfiigbar sind. lO Und ebensowenig miissen sie den Wert ihrer verschiedenen (generalisierten und partikularisierten) kulturellen Ressourcen in jeder Situation abschatzen. Diese wirken sich vielmehr automatisch auf die Gesprachsinteraktion aus, und die Ergebnisse werden automatisch in eine Zu- oder Abnahme der emotionalen Energie iibersetzt. Der grundlegende Mechanismus lauft somit nicht bewuBt ab. In der Form kultureller Ressourcen laBt sich das BewuBtsein vielmehr als eine Serie von Inputs in jede Situation bestimmen, welche die eigene emotionale Einschatzung der verschiedenen verfiigbaren und unterschiedlich attraktiven Gruppenzugehorigkeiten beeinfIuBt. Natiirlich konnen Individuen manchmal auch iiber ihre sozialen Wahlentscheidungen refIektieren und sich vielleicht sogar der Differenz zwischen ihren kulturellen und emotionalen Ressourcen und jenen der Mitglieder bewuBt werden. Aber meiner Ansicht nach wiirden 10 Es mag natiirlich vorkommen, daB Menschen sich in Situationen befinden, in den en verschiedene Quellen der Anziehung bzw. AbstoBung sich gegenseitig ungefahr ausg1eichen. In solchen Fallen sagt die Theorie der IR-Ketten voraus, daB ihr Verhalten tatsachlich unbeweglich wird - sie werden so lange in der physischen Routine, in der sie sich zu der Zeit gerade befinden, verharren, bis die Energiebilanz rnit Interaktionspartnern sie dazu veranlaBt, die Routine zu verlassen.

124

RandaIl CoIlins

die bewuBten Entscheidungen genau gleich ausfaIlen wie die unbewuBten. 11 Die eigene VorsteIlung von "Entscheidung" oder "Willen" basiert auf dem Energiezuwachs - dem Grad an Selbstvertrauen -, der das Ergebnis einer umfassenderen Dynamik ist. Das ModeIl der Ketten von IR lost ein weiteres lang anhaltendes Problem der sozialen Tauschtheorien: Aus welchen Grtinden revanchieren sich Menschen fUr ein Geschenk? Eigeninteresse ist keine ausreichende ErkHirung hierfUr, denn der AustauschprozeB steIlt nur bis zu dem Punkt eine Belohnung dar, an dem die Individuen wissen, daB es zu einer reziproken Handlung kommen wird. Theoretiker fanden es deshalb erforderlich, auf solche Behauptungen zurtickzugreifen wie etwa "was Brauch ist, wird Pflicht" (Blau 1964) oder sie bezogen sich auf eine angebliche "Reziprozitatsnorm" (Gouldner 1960, siehe auch Heath 1976). In beiden Fallen ist es die Selbstverstandlichkeit des Verhaltens, die erkliirt werden muB; wobei die Bezeichnung dieses Verhaltens als Norm lediglich eine Beschreibung darstellt. Das ModeIl der IR-Ketten geht davon aus, daB Geftihle der Solidaritat in sozialen Koalitionen grundlegend sind. Wenn zwei Individuen ein gemeinsames GefUhl der Mitgliedschaft empfinden, werden sie auch das Bedtirfnis versptiren, auf Geschenke mit Geschenken zu reagieren, denn das Geschenk und seine Erwiderung sind Symbole ftir den Fortbestand der gemeinsamen Mitgliedschaft. Dieses ModeIl hat den Vorteil, die Gabe eines Geschenks und deren Erwiderung nicht als eine Konstante, sondern als eine Variable zu betrachten: Individuen werden in dem MaB Geschenke erwidern, in dem die emotion ale Dynamik der Mitglieder in einer bestimmten Koalition fUr sie attraktiv sind. Und aufgrund der gleichen Bedingungen werden sie sich auch dazu entschlieBen, Geschenke zu machen oder eben nicht. Die oben angefUhrten Variablen soIlen insofern das AusmaB an tatsachlich praktizierter Reziprozitat erklaren. Die Gesamtheit von IR kann deshalb als marktahnlich beschrieben werden. Was sich in jeder Begegnung abspielt, ist bedingt von dem, was sich in den IR-Ketten jedes Teilnehmers abspielte, die wiederum durch die Erfahrungen der damaligen Beteiligten beeinfluBt war, und so fort. Dieses umfassende Aggregat an Begegnungen produziert etwas, das man als eine Folge kultureIler und emotionaler "Preise" bezeichnen konnte, zu denen die Indivi11

Hochschild (1979) hat gezeigt, daB Menschen manchmal doch tiber ihre Geftihle nachdenken und die se so zu beeinflussen versuchen, daB sie der jeweiligen Situation angemessen sind. DaB ihre Geftihle nicht von vornherein "richtig" sind, laBt si ch meiner Ansicht nach durch den marktbezogenen Wert verschiedener Situationen innerhalb ihrer IR-Ketten erklaren. Was Hochschild beschreibt, sind moglicherweise Situationen, in denen die Individuen zwischen zwei verschiedenen Formen von Ressourcen hin und her gerissen sind oder wo die Interaktionen sehr ambivalente Ergebnisse zur Folge haben. Solche Situationen konnten auftreten, wenn sich die Marktposition einer Person von einem frtiheren Gleichgewichtszustand entfernt und sich noch kein neues Gleichgewicht etabliert hat (siehe die Diskussion weiter unten).

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

125

duen die IR sowohl des unterschiedlichen Grades an Solidaritat untereinander als auch der Herrschaft ubereinander aushandeln konnen. Ich sage "Folge von Preisen", weil nur bestimmte Kombinationen von Individuen ein Ritual erfolgreich kreieren konnen, und verschiedene Kombinationen werden "Geschafte" zu unterschiedlichen Preisen aushandeln. Es gibt viele verschiedene Mlirkte dieser Art, die gieichzeitig nebeneinander operieren. Zum einen gibt es einen relativ tragen Markt fUr rituelle Wiederholungen innerhalb von Organisationen ("Positionen") und fUr die Darstellung von Besitz. Obwohl es sich bei den Mikroritualen, die fUr die Reproduktion solcher Strukturen ausschlaggebend sind, zum groBen Teil urn Wiederholungen handelt, versuchen Individuen durchaus ihre Position zu verandern. Die Motivation, in einer Position zu bleiben oder diese zu verlassen, und die Wahrscheinlichkeit, dann akzeptiert zu werden, hangen von der Gesamtheit der IR-Ketten ab, die sich in ihrem Leben physisch uberschneiden. Informelle Veranderungen der Beziehungen innerhalb einer Organisation sind ahnlich determiniert - Veranderungen, durch die Vorgesetze an EinfluB gewinnen oder verlieren, informelle Verbundete gewinnen oder verlieren, Mitarbeiter mehr oder weniger Begeisterung und Gehorsam zeigen. Auf einer anderen Ebene sind die Markte fur personliche Freundschaften zu verorten, etwa fUr horizontale Koalitionen zwischen Angestellten verschiedener Organisationen, die nicht mit der direkten Durchsetzung von Herrschafts- und Besitzverhliltnissen zwischen den Teilnehmern in Verbindung stehen. Solche Mlirkte sind dazu fahig, sich sehr viel schneller und kontinuierlicher zu bewegen als solche, innerhalb derer die ,Strukturen' der Organisation zur Darstellung gebracht werden, denn die informellen Gesprachspartner mussen nicht die komplexeren und speziell eingebetteten Besitzverhaltnisse und organisationalen Positionen verandern. Beide Markttypen operieren jedoch nach einem ahnlichen Mechanismus. Auf dem Markt, auf dem es urn die Positionen innerhalb der Organisation geht, versuchen die Individuen mehr EinfluB innerhalb der Organisationsroutine zu erlangen oder die se Routine zugunsten einer besseren zu verlassen, mit dem Ziel, daB die Gesamtheit ihrer Erfahrungen in der Kette von IR emotional positiv bewertet ist. Auch in den Mlirkten fur horizontale Allianzen (ob nun personlich oder wirtschaftlichlpolitisch) werden Individuen, die verglichen mit ihren alltaglichen Interaktionspartnern einen relativen UberschuB an emotionaler Energie erfahren, entweder nach mehr Dominanz streben oder aber si ch nach neuen Interaktionsfeldern umsehen. Solche Individuen werden jedoch unter Umstanden an die Grenzen stoBen, die ihnen ihre Ressourcen setzen: Situationen, in denen ihre Interaktionspartner ebenso viel oder mehr Ressourcen besitzen, wodurch ihr emotionaler UberschuB stagniert oder reduziert wird. Aus einer abstrakten Perspektive laBt sich fUr solche Mlirkte ein Gleichgewichtszustand vorstellen, von dem aus die besonderen Personen vorausbestimmt werden konnen, mit denen die Individuen ihre rituellen Interaktionen

126

RandalI Collins

eingehen werden, so daB auch alIe emotionalen und kulturelIen Ressourcen statisch reproduziert werden. Es mag sinnvolI sein, einen so1chen Gleichgewichtszustand anzunehmen, aber nur, wenn wir ihn als eine Entwicklungstendenz aggregierter Interaktionsmiirkte betrachten, die noch durch eine Reihe weiterer Prozesse beeinfluBt werden. Die Situation wird nie vollig stabil sein, da die Individuen permanent eine Auf- oder Abwertung ihrer kulturellen Ressourcen und emotionalen Energien erfahren. BuSt beispielsweise ein Vorgesetzter emotionale Energie ein (durch seinen schlechten Gesundheitszustand oder veranderte familiiire Interaktionen), dann fiihrt dies zu geringen Energiezuwachsen bei den ihm untergeordneten Mitarbeitern, die dadurch wiederum ihren EinfluB in anderen Interaktionen erhohen konnen. So1che Prozesse fiihren zumindest zu lokalen Destabilisierungen des mikrointeraktionalen Gleichgewichts. Der Gleichgewichtszustand ist ein Muster, dem sich die Interaktionen immer wieder annahern, wobei sie gleichzeitig dauerhaft Gegenstand von Storungen sind. Viele dieser Storungen bleiben ortlich und zeitlich begrenzt und beeinflussen in ihren Wirkungen das makrosoziale Organisationsmuster nicht. Andere aber werden sich weiter ausbreiten und langfristige Konsequenzen nach sich ziehen. Im folgenden werde ich darlegen, we1che aggregierten Mikroprozesse eine starke Reproduktion oder eine deutliche Veranderung der Makrostrukturen bewirken k6nnen.

MakrostrukturelIe Auswirkungen Das hier vorgestelIte ModelI geht davon aus, daB weitreichende soziale Veranderungen auf einem oder mehreren der folgenden Mikromechanismen beruhen: Umfassende Wandlungen in der Menge oder der Verteilung (a) generalisierter kulturelIer Ressourcen, (b) partikularisierter kulturelIer Ressourcen, oder (c) emotionaler Energien. a) Die generalisierten kulturellen Ressourcen einer groBeren Population konnen sich aufgrund der Einfiihrung neuer Kommunikationstechnologien verandern, oder aber aufgrund der Tatsache, daB sich mehr Individuen auf die Produktion und Verbreitung generalisierter Kultur spezialisiert haben. Zu alIen Zeiten haben Schreibgerate, Massenmedien sowie religiose und padagogische Organisationen unterschiedlicher GroSe neue kulturelIe Ressourcen in GeselIschaften eingefiihrt oder deren Verteilung erhOht. Man kann sich zumindest zwei Arten strukturelIer Auswirkungen hiervon vorstelIen: Einerseits kann sich dieser kulturelIe Zuwachs vor alIem in bestimmten BevOlkerungsschichten konzentrieren, die dadurch in die Lage versetzt werden, ihre Erfolgsrate in IR auf Kosten anderer zu erhohen, neue organisationale Bindungen aufzubauen um dadurch eventuelI emotionale und reputations bezogene Vorteile zu erlangen. Andererseits kann der Zuwachs an generali-

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

127

sierten kulturellen Ressourcen auch gleichrnaBig der gesamten Population zuteil werden, wodurch in der ganzen Gesellschaft der Mobilisierungsgrad zunehrnen wird, sich anzustrengen und neue rituelle Interaktionsverbindungen auszuhandeln. Obwohl niernand verglichen rnit den anderen etwas dazu gewinnt, wird doch das gesarntgesellschaftliche AusrnaB der Organisationsentwicklung in dieser Gesellschaft zunehrnen. Man konnte verrnuten, daB friihe Stadien dieses Prozesses zu wirtschaftlichen Aufschwiingen oder zurn Anwachsen politischer und/oder religioser Bewegungen beitragen. In spateren Stadien kann es, sofern die Verbreitung generalisierter Kulturgiiter weiter expandiert, zu einer Abwertung dieser kulturellen Verbreitung und in der Folge zu einer Einschrankung politischer und okonornischer Aktivitaten kornrnen (Collins 1979). b) Partikularisierte kulturelle Ressourcen definieren Individuen in Relation zu bestimmten physischen Besitztiirnern und Herrschaftskoalitionen. Wodurch kann die gesarnte Struktur dieser Ressourcen verandert werden? Meiner Ansicht nach ist die Unbestandigkeit partikularisierter Kultur vor allern flir die Reputation jener Individuen von Bedeutung, die aufgrund von Ritualen den rnachtigsten Koalitionen angehOren. Wie bereits erwilint, wiederholen sich Gesprache, die sich auf Reputationen beziehen und sind lokal beschrankt. Aber rasche Urnwalzungen der personlichen Reputation sind Kennzeichen bedeutender Veranderungen politischer und religiOser Macht. Personen werden als rnachtig (oder als "charisrnatisch") angesehen, wenn sie durch ein drarnatisches Ereignis - das in der Regel den Erfolg in einer Konfliktsituation rnit einschlieBt - die Aufrnerksamkeit von vielen auf sich ziehen. Die schnelle und weitHiufige Verbreitung ihrer neuen Reputation verleiht ihnen die sich selbst verstarkende Macht, die groBte, und darnit dorninanteste Koalition der jeweiligen Gesellschaft zu beherrschen. Urngekehrt verlieren Menschen ihre Macht auch aufgrund drarnatischer Ereignisse Skandale oder Niederlagen in Konfliktsituationen -, die unrnittelbar die Verbreitung ihrer negativen Reputation zur Folge haben. Die Veranderung partikularisierter kultureller Ressourcen hat verschiedene Irnplikationen flir die Dynarnik sozialen Wandels. Solche Veranderungen verlaufen diskontinuierlich und wechseln sich rnit Phasen der Routine ab; sie sind durch drarnatische Ereignisse bedingt, die flir eine Vielzahl von Personen sichtbar sind, wobei hochdrarnatische Beispiele hierfiir Konflikte, insbesondere gewaltsarne Konflikte sind. Und dies ist auch der Grund daflir, daB Kriege oft zu Revolutionen oder anderen abrupten gesellschaftlichen Veranderungen fiihren (siehe Skocpol 1979). Die Politik ist eine entscheidende EinfluBgroBe, urn Eigenturn wie auch viele weitere Routineaspekte des sozialen Lebens sicherzustellen, denn Politik besteht aus kontinuierlich organisierten Koalitionen, die irn Falle von Konflikten rnobilisiert werden konnen. Diese Koalitionen beziehen ihre Macht aus der rnoglichst Offentlichkeitswirksamen und flir sie giinstigsten Publizierung der Drarnatik der politischen Konflikte und verleihen darnit verschiedenen Personen bestirnrnte Re-

128

Randall Collins

putationen als machtig, schurkisch oder unfahig. Politik als Kampf urn Reputation und Ansehen beruht auf der Kontrolle der Mittel zur Verteilung von Reputationen. c) Emotionale Energien stellen innerhalb dieser Prozesse den wichtigsten Mechanismus dar. Veranderungen der generalisierten wie auch der partikularisierten kulturellen Ressourcen wirken sich deshalb auf das individuelle Verhalten in Mikrosituationen aus, weil sie deren emotion ale Energien beeinflussen. Die Veranderung der Reputation eines Politikers beispielsweise ist nur dann wirklich effektiv, wenn die Geriichte eine emotionale Komponente besitzen, wenn sich die Infragestellung des Gefilhls, wer nun die herrschende Koalition darstellt, durch die ganze Gesellschaft fortpflanzt. Deshalb steigt der Marktwert dieser Koalition bis zu dem Punkt, ab dem sie Furcht unter denen verbreitet, die ihr nicht angehOren. Konflikte, Kriege und Politik sind typische AuslOsesituationen von Emotionen. Je scharfer die Auseinandersetzung, desto groBere Mengen emotionaler Energie flieBen durch die Netzwerke der Mikrosituationen, aus denen sich die Makrosstruktur aufbaut. Phasen sich schnell verandernder Ressourcen fiir Reputationen werden filr die Organisation sozialer Netzwerke besonders bedeutend, da diese Netzwerke Vehikel filr eine rasche Verbreitung emotionaler Energien darstellen. Es gibt aber auch Bedingungen, die das gesamte Niveau der emotionalen Energie einer Gesellschaft verandern. Neben der Durchsetzung neuer Kommunikationstechnologien und der Etablierung Spezialisten filr die Praktiken generalisierter Kultur konnte man an die Einfilhrung neuer, Emotionen produzierender "Technologien" denken, einschlieBlich der Veranderungen der Anzahl von Spezialisten, die filr die Herstellung dieser Emotionen verantwortlich sind. Aus dieser Perspektive wird deutlich, daB der Wandel der materiellen Bedingungen deshalb so bedeutsam sind, da sie die Zahl der Menschen verandern konnen, die sich aus rituellen Absichten zusammenfinden, oder weil sie die Fahigkeiten der Individuen beeinflussen, Eindriicke zu verarbeiten und sie zu inszenieren (Collins 1975: 161-216, 364-80). Solche Technologien der Inszenierung reichen von den Monumentalbauten und verschwenderischen sakralen sowie politischen Zeremonien der Pharaonen bis hin zu den verschiedenen Politikstilen unserer Tage. In der gleichen Weise kann man die Religionsgeschichte als eine Reihe immer neuer Erfindungen zur Erzeugung von Gefilhlen betrachten, von schamanischen Zauberritualen iiber Gemeindegottesdienste bis zu einsamen Meditationen und Gebeten. Die Entwicklung der Organisationsformen - von stammesgeschichtlichen, iiber patrimonial-feudalistische bis zu biirokratischen - ist insofern bedingt durch Veranderungen in den unterschiedlichen Quellen der Verarbeitung emotionaler Erlebnisse. Die unterschiedlichen Kombinationen dieser zu einer bestimmten Zeit verfilgbaren Gefiihlstechnologien und der Grad ihrer Konzentration bzw. Verbreitung innerhalb der jeweiligen Population, sind entscheidende Faktoren beim Kampf urn die Macht in einer spezifischen historischen Gesellschaft.

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

129

So wird zumindest in groben Umrissen ein Bild der Statik und Dynamik von Makrostrukturen deutlich. Es lassen sich relativ langsame makrosoziale Wandlungsprozesse nachweisen, die von neuen Emotionstechniken oder der gesteigerten Produktion von generalisierten kulturellen Ressourcen oder emotionalen Energien angetrieben werden. In Zeiten dramatischer Konflikte kommt es dagegen zu episodischen Veranderungen der partikularisierten kulturellen Ressourcen, vor allem in den Reputationen der Fiihrer der machtigsten politischen, militiirischen oder religiosen Koalitionen. Die langsamen Prozesse, die entweder bestimmte privilegierte Gruppen erfassen oder sich gleichmaBig in der Gesellschaft ausbreiten, bringen lange Phasen der Organisationsentwicklung und der Mobilisierung der Menschen mit sich, welche die Strukturen der Gesellschaft, ihre Beweglichkeit wie ihre Konflikttrachtigkeit verandert. Die raschen, episodischen Prozesse losen revolutioniire Phasen aus, deren dramatische Konflikte die Aufmerksamkeit auf neue machtige Koalitionen lenken, welche die Organisations- und Eigentumsmuster, wie auch die darin bestehende spezifische Verteilung der Personen verandern konnen.

Schlu8bemerkung Das hier vorgestellte Modell ist auBerst abstrakt und kann nicht die detaillierten Varianten ritueller Interaktionen oder die Komplexitat von Verhandlungsprozessen in Konversationen und von emotionalen Energien beschreiben. LieBen sich die se Varianten in ein allgemeines Modell integrieren, dann stiege auch dessen Erkliirungswert betrachtlich. Ebenso miiBten auf der Makroebene noch viele Auswirkungen genauer ausgearbeitet werden, indem man alle Makromuster in "Miirkte", die auf der Ebene der Mikrointeraktionen liegen, iibersetzt, und die aus generalisierten und partikularisierten kulturellen Ressourcen und emotionalen Energien bestehen. Aber ich hoffe, daB das Modell auch in dieser Ungenauigkeit deutlich macht, welche Vorteile es hatte, mikro- und makrosoziologische Beschreibungen in ein gemeinsames Erkliirungsmodell zu integrieren. Dies hatte beispielsweise zur Folge, daB "Entitaten" wie "Personlichkeit" oder "Einstellungen", die bislang im Individuum verortet wurden, nun als Handlungsweisen begriffen werden, die si ch in Gesprachssituationen ergeben, und die auch nur insoweit stabil sind, insoweit die Individuen die selben Interaktionssituationen immer wieder durchlaufen. Charismatische Personlichkeiten sind aus dieser Sicht Personen, die sich im Brennpunkt eines Rituals befinden, das Emotionen produziert und eine groBe Koalition zusammenhalt. Ihr Charisma verandert sich im selben MaB, wie auch die Rahmenbedingungen fUr die auBergewohnliche Dominanz ihrer Koalition sich andern. Ubertragen auf einen kleineren MaBstab konnte man annehmen, daB diejenigen Individuen als so-

130

Randall Collins

zial aufstrebend gekennzeichnet werden konnen, deren kulturelle Ressourcen sie durch eine Reihe von IR fiihren, und die darin erlangten Erfahrungen ihre emotionalen Energien - und damit auch ihr Vertrauen und ihre Motivation ansteigen lassen. Ab dem Punkt, an dem sie an IR teilnehmen, in denen sie keine Vorteile fiir ihre emotionale Energiebilanz mehr erzielen konnen, werden sie auch nicht mehr weiter aufsteigen. Urn nun noch ein weiteres Anwendungsgebiet dieses Modells zu nennen, so zeigt sich, daB sowohl das Wirtschaftswachstum als auch die Zyklen von Aufschwung und Rezession zu einem betriichtlichen Teil durch Veriinderungen der emotionalen Energie in der Arbeitnehmerschaft oder aber bei den Unternehmern bedingt sind. Solche Erkliirungen spezifischer Phiinomene miissen sowohl von der Mikro- wie der Makroebene her ausgearbeitet werden. Und die Verbindung zwischen den beiden Ebenen kann meiner Meinung nach durch einen neuen Forschungsansatz hergestellt werden. Generalisierte und partikularisierte Gespriichsressourcen existieren nur dadurch, daB sie von den Menschen in Gespriichen ausgedriickt werden; die emotionalen Energien werden durch den Rhythmus und den Tonfall ausgedriickt, in dem gesprochen wird. Dementsprechend konnte man eine Makrostichprobe der Verteilung von Mikroressourcen erheben, und zwar indem man Unterhaltungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen iiber einen liingeren Zeitraum sammelt. Eine solche Forschungsmethode wiirde sich deutlich von der gegenwiirtig vorherrschenden Konversationsanalyse unterscheiden, die nur einzelne isolierte Gespriiche detailliert analysiert. Die vorgeschlagene Forschungsmethode wiirde eher einer Stichprobenuntersuchung iihneln, aber anstatt durch Interviewerfragen Eigenberichte auszulOsen, wiirden die natiirlichen Gespriiche mittels Tonband oder Video aufgezeichnet. Technische Hilfsmittel ermoglichen es vie 1leicht, die emotionalen Energien des Gespriichsrhythmus und des Tonfalls wie auch der Korperhaltungen zu bestimmen. Auch generalisierte und partikularisierte Gespriichsressourcen konnten durch diese Aufnahmen erfaBt werden, indem man die verbalen Inhalte klassifiziert. Mit solchen Daten sollte es moglich sein aufzuzeigen, wie die Ketten von IR faktisch operieren, wie sie das situative Verhalten des einzelnen beeinflussen und wie sich ihre Auswirkungen summieren und sozialen Wandel bzw. Stabilitiit zur Folge haben.

Zusammenfassung Zur Konstruktion eines kausalen Erkliirungsmodells von Makrostrukturen als Aggregate von Mikrosituationen wurden folgende Prinzipien vorgeschlagen: 1.

Wahrhaft empirisch konnen soziologische Konzepte nur durch ihre Ubersetzung in typische, ihnen zugrundeliegende Mikroereignisse werden.

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie 2. 3. 4.

5. 6.

7.

8.

9.

10.

11.

131

Dynamiken wie Tragheiten jeder Kausalerklarung sozialer Struktur miissen mikrosituational bestimmt werden; alle Makrobedingungen wirken nur durch die Beeinflussung der situativen Motivationen des Akteurs. Die kognitive Kapazitaten von Menschen sind begrenzt; Akteure verlassen sich deshalb angesichts komplexer Kontingenzen sozialer Koordination in der Hauptsache auf stillschweigende Annahmen und Routinen. Die Routinen eines jeden Individuums organisieren sich urn bestimmte physische Orte und Objekte, eingeschlossen die physischen Korper anderer Personen. Die Summe dieser physischen Routinen macht zu jedem gegebenen Zeitpunkt die Mikrorealitat von Besitzverhaltnissen aus. Autoritat ist eine Art von Routine, in welcher bestimmte Individuen die Mikrointeraktionen mit anderen Individuen dominieren. Welchen Routinen gefolgt wird, ist eine Frage von eigenniitzigen Manovern und Konflikten. Festhalten an und Veranderung von Routinen werden bestimmt vom stillschweigenden Beobachten der Macht sozialer Koalitionen seitens des Individuums. Konversationen sind Rituale, die Uberzeugungen von gemeinsamer Realitat hervorbringen, die wiederum zu Symbolen der Gruppensolidaritat werden. Individuelle Ketten von Gesprachserfahrungen iiber Zeit (IRKetten) erzeugen sowohl soziale Koalitionen als auch die kognitiven Vorstellungen der Menschen iiber die Sozialstruktur. Themen von Konversation implizieren Gruppenzugehorigkeit. Generalisierte Ressourcen von Konversation (unpersonliche Themen) reproduzieren die Bindungen horizontaler Statusgruppen. Spezifische Konversationen stellen Besitz und organisatorische Position der Individuen dar und untermauern die konkrete Sozialstruktur durch die Zirkulation von Uberzeugungen iiber sie, was die Reputation bestimmter Individuen einschlieBt. Eine Begegnung ist ein "Marktplatz", auf dem Individuen stillschweigend konversationale und emotion ale Ressourcen aus friiheren Begegnungen vergleichen und in Ubereinstimmung bringen. Individuen sind motiviert, Konversationsrituale mit bestimmten Individuen auszuftihren oder zu verweigern, je nachdem, ob sie vor dem Hintergrund friiherer IR der jiingeren Vergangenheit vorteilhafte oder unvorteilhafte emotion ale Energien aus dieser Interaktion erfahren. Annahme oder Verweigerung der Individuen in einem IR steigert bzw. vermindert ihre emotionalen Energien (soziales Vertrauen). Ahnliche Effekte entstehen durch Erfahrungen von Uber- oder Unterordnung in einem IR. Diese emotionalen Wirkungen werden gewichtet entsprechend der Intensitat emotionaler Erregung in jedem IR sowie der Macht der jeweiligen Zugehorigkeitskoalition (ihre Kontrolle iiber Besitz und GewaIt). Es gibt verschiedene Ritualmarkte, die gleichzeitig nebeneinander operieren: ein relativ trager Markt von Personen, die in bestimmte Besitz-

132

12.

13.

14.

15.

Randall Collins und Organisationspositionen eintreten oder sie verlassen; ein sHirker fluktuierender Markt inforrneller Solidaritat innerhalb von Organisationen und unter Individuen auBerhalb von organisierten Beziehungen; und einen sehr langfristigen Markt flir Wachstum und Verfall der Organisationen selbst. Auf einem jeden Markt werden Individuen ihrer personlichen Moglichkeiten gewahr durch den Grad ihrer emotionalen Energie. Sie bevorzugen vorteilhaftere IR, bis sie einen personlichen Gleichgewichtszustand erreichen, wo ihre kulturellen und emotionalen Ressourcen mit denen ihrer Partner iibereinstimmen oder von diesen iibertroffen werden. Die Sozialstruktur ist einem standigen Wandel auf der Mikroebene unterworfen; dennoch tendiert sie insgesamt zur Stabilitat, solange individuelle Fluktuationen emotionaler und kultureller Ressourcen lokal und temporar bleiben. Tiefgreifender Wandel der Sozialstruktur ist die Folge von Veranderungen einer der drei Arten von Mikroressourcen: (a) Vermehrung der allgemeinen kulturellen Ressourcen, die durch neue Kommunikationsmedien od er die gestiegene Aktivitat religioser oder plidagogischer Spezialisten hervorgebracht wird, flihren zur Steigerung der GroBe formbarer Gruppenkoalitionen und somit des Spielraums von Organisationsstrukturen. (b) Partikularisierte kulturelle Ressourcen verandern sich flir die gesamte Gesellschaft, wenn dramatische (meist konflikthafte) Ereignisse die Aufmerksamkeit einer groBen Zahl auf einzelne Individuen lenken, damit rapide Veranderungen ihrer Reputation bewirken und die Organisationszentren von Machtkoalitionen verlagern. (c) Neue "rituelle Technologien", einschlieBlich Veranderungen in der Materie des Eindrucksmanagements und in der typischen Dichte sowie dem Fokus von Begegnungen, verandern die Qualitat der Emotionen in der gesamten Gesellschaft. Solche Veranderungen rufen einen Wandel im Wesen sozialer Bewegungen wie auch in den Dynamiken politischen und okonomischen Handelns hervor. Konversationsressourcen und emotionale Energien konnen direkt als Kommunikation entlang einer zeitlichen Achse und iiber eine Population verteilt erhoben werden; kulturelle Ressourcen finden sich in Themen der Konversation, emotionale Energiepegel in Ton und Rhythmus der Rede.

Uber die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie

133

Literatur Bachrach, P., Morton S. Baratz. 1962. "Two Faces of Power." In American Political Science Review 56: 947-52. Banfield, Edward C. 1961. Political Influence. New York: Free Press. Becker, Howard S. 1963. Outsiders. New York: Free Press. Bernstein, Basil. 1971-75. Class, Codes, and Control. 3 Bande. London: Routledge & Keegan Paul. Blau, Peter M. 1964. Exchange and Power in Social Life. New York: Wiley. Bourdieu, Pierre. 1977. Outline of a Theory of Practice. New York: Cambridge University Press. Bourdieu, Pierre, Jean-Claude Passeron. 1977. Reproduction in Education, Society, and Culture. Beverly Hills, Calif.: Sage. Bucher, Rue, Anselm Strauss. 1961. "Professions in Process." In American Journal of Sociology 66: 325-34. Cancian, Francesca. 1975. What Are Norms? London: Cambridge University Press. Cicourel, Aaron V. 1968. The Social Organization of Juvenile Justice. New York: Wiley. 1973. Cognitive Sociology. Baltimore: Penguin. 1975. "Discourse and Text: Cognitive and Linguistic Processes in Studies of Social Structure." In Versus 12: 33-83. Clegg, Stewart. 1975. Power, Rule, and Domination: A Critical and Empirical Understanding of Power in Sociological Theory and Everyday Life. London: RoutIedge & Kegan Paul. ColIins, Randall. 1975. Conflict Sociology. New York: Academic Press. 1979. "Crises and Declines in Educational Systems: Seven Historical Cases." Mimeographed. Charlottesville: University of Virginia. 1981. "Micro-Translation as a Theory-building Strategy." In Karin Knorr-Cetina, Aaron V. Cicourel (Hg.) Advances in Social Theory and Methodology: Toward an Integration of Micro- and Macro-Sociology. London: Routledge & Keegan Paul. Dalton, Melville. 1959. Men Who Manage. New York: Wiley. Deutscher, Irwin. 1973. What We Say, What We Do: Sentiments and Acts. Glenview, Ill.: Scott, Foresman. Durkheim, Emile. 1947. The Division of Labor in Society. Glencoe, Ill.: Free Press. 1954. The Elementary Forms of the Religious Life. Glencoe, Ill.: Free Press. Garfinkel, Harold. 1967. Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs, N.J.: PrenticeHall. Glaser, Barney G. 1968. Organizational Careers. Chicago: Aldine. Goffman, Erving. 1959. The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday. 1967. Interaction Ritual. New York: Doubleday. 1971. Relations in Public. New York: Basic. Gouldner, Alvin W. 1960. "The Norm of Reciprocity: A Preliminary Statement." In American Sociological Review 25: 161-78. Heath, Anthony. 1976. Rational Choice and Social Exchange: A Critique of Exchange Theory. New York: Cambridge University Press. Hochschild, Arlie Russell. 1979. "Emotion Work, Feeling Rules, and Social Structure." In American Journal of Sociology 85: 551-74. Kemper, Theodore D. 1978. A Social Interactional Theory of Emotions. New York: WiJey. Laumann, Edward 0., Peter V. Marsden, Joseph Galaskiewicz. 1977. "Community-Elite Influence Structures: Extension of a Network Approach." In American Journal of Sociology 83: 594-63l.

134

Randall Collins

Lombard, George F. 1955. Behavior in a Selling Group. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. March, James G., Herbert Simon. 1958. Organizations. New York: Wiley. Roy, Donald. 1952. "Quota Restriction and Goldbricking in a Machine Shop." In American Journal of Sociology 57: 427-42. Sacks, Harvey, Emmanuel Schegloff, Gail Jefferson. 1974. "A Simplest Systematics for the Organization of Turn-taking in Conversation." In Language 50: 696-735. Schegloff, Emmanuel. 1967. "The First Five Seconds." Ph. D. Dissertation. University of California, Berkeley. Schelling, Thomas C. 1963. The Strategy of Conflict. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Schott, Susan. 1979. "Emotion and Social Life: A Symbolic Interactionist Analysis." In American Journal of Sociology 84: 1317-34. Scott, Marvin B., Stanford M. Lyman. 1968. "Accounts." In American Sociological Review 33: 46-62. Skocpol, Theda. 1979. States and Social Revolutions. New York: Cambridge University Press. Williamson, Oliver E. 1975. Markets and Hierarchies: A Study of the Economics of Internal Organization. New York: Free Press.

N eofunktionalismus Jejfrey C. Alexander

Auf der lahrestagung der "American Sociological Association" 1975 in San Francisco leitete Dennis Wrong eine gutbesuchte Veranstaltung mit dem Titel "Die Lage der soziologischen Theorie". Stephen Warner erntete als einer der Diskussionsteilnehmer lautes, zustimmendes Gelachter der weit iiber hundert Teilnehmer, als er auf einen Slogan der lugendkultur anspielend feststellte: "Es gibt keine Funktionalisten unter dreiBig!", wobei er einschrankend hinzufiigte, daB die jugendlichen Gegner des Funktionalismus ihren Standpunkt vielleicht ja noch einmal iiberdenken konnten. Doch dem Publikum erschien vor dem Hintergrund des damaligen Zeitgeistes diese ironische Bemerkung nicht nur zutreffend, sondern auch gerechtfertigt. Nicht einmal ein lahrzehnt spater leitete ein anonymer Gutachter des American Journal of Sociology seine Kritik an einem meiner Artikel folgendermaBen ein: "Dies ist nur ein Beispiel der in letzter Zeit wieder auflebenden funktionalistischen Theorie. Ich nehme diese Entwicklung zur Kenntnis, wenngleich ich sie schrecklich finde." In einer anderen Besprechung einer meiner Arbeiten wurde bedauert, daB die "zahlreichen FunktionalismusKritiken nun wieder aus den Biicherregalen geholt werden miissen", und in einem vergleichbaren Ton, aber mit ganzlich anderer StoBrichtung, betonte ein Teilnehmer in einer kultursoziologischen Veranstaltung der lahrestagung der "American Sociological Association" von 1984 "die neue Parsonianische Revolution" innerhalb der Soziologie. Obwohl diese Bemerkungen aus ganz unterschiedlichen Zeiten stammen, trafen sie weitgehend zu. Der Zusammenbruch der mit dem Funktionalismus gleichgesetzten Soziologie Parsons' in den 60er lahren ist mittlerweile Geschichte. Der Konig stiirzte und zerbrach, und lange Zeit hatte es den Anschein, als miisse er Humpty Dumptysl Schicksal teilen, daB ihn niemand mehr zusammensetzen konne. Mittlerweile ist aber deutlich, daB ihm dies erspart bleibt. Man hat damit begonnen, Parsons' Vermachtnis - wenn auch nicht seine urspriingliFigur aus Lewis Carrolls Kinderbuch Alice hinter den Spiegeln (Anm. d. D.)

136

Jeffrey C. Alexander

che Theorie - zu rekonstruieren 2 • Wir werden heute Zeugen eines sich herausbildenden Neofunktionalismus, der zwar nicht genau dem Funktionalismus entspricht, aber viele Gemeinsamkeiten mit diesem aufweist. "Funktionalismus" war fUr Talcott Parsons' soziologischen Theorieansatz nie eine besonders gliickliche Bezeichnung, denn sie war weniger die Folge wissenschaftlicher Logik als vielmehr intuitiver Ausdruck einer spezifischen Tradition. Der Begriff entstammt offensichtlich der von L. J. Henderson in den 30er Jahren in Harvard geleiteten Forschungsgruppe. In diesem Kontext machte der stark vom biologischen Funktionalismus und von Pareto beeinfluBte Physiologe Henderson (1970) Parsons, Homans, Merton und eine Reihe weiterer junger Theoretiker mit Cannons Werk The Wisdom of the Body und dessen weitreichender Verwendung des Konzepts der Homoostase vertraut und versuchte sie zu Paretos allgemeiner Theorie, in der Systeme und Gleichgewichtskonzepte eine bedeutende RoUe spielen, zu bekehren (Homans 1984). Hiervon ausgehend wendete sich Homans der funktionalistischen Anthropologie Radc1iffe-Browns zu, wahrend Parsons sich mit den Arbeiten Durkheims und Webers beschaftigte. Seit Ende der 30er Jahre benutzte Parsons dann den Begriff "Funktionalismus". Zunachst, urn hieriiber auf den aUgemeinen Zusammenhang von einem System und seinen "interdependenten Teilen" hinzuweisen, spater in seiner Antrittsrede als Prasident der "American Sociological Association" im Jahre 1945, urn ihn als zentrales Kennzeichen seines Theorieansatzes auszuzeichnen (Parsons 1945). Betrachten wir aber die Bezugnahme auf den Funktionalismus, wie wir sie bei den jungen, in Harvard ausgebildeten Theoretikern wie Homans, Parsons, Merton, Barber, Davis und anderen in den 30er und 40er Jahren vorfinden, dann zeigt sich eine verwirrende Vielzahl wissenschaftstheoretischer, ideologischer, empirischer und theoretischer Konnotationen dieses Begriffs. Selbst als sich der "Funktionalismus" in den spaten 40er Jahren zu einer wichtigen theoretischen Bewegung entwickelt hatte, blieb seine exakte Bestimmung heftig umstritten. Ende der 40er Jahre begann Merton, selbst einer der fUhrenden Vertreter des Funktionalismus, den Begriff von seinen ideologischen Implikationen, seinem Status als eines abstrakten ModeUs und seinen grundlegenden empirischen Verpflichtungen zu befreien (Merton 1967). Er versuchte ihn mittels eines Riickbezugs auf die Anthropologie Radc1iffeBrowns auf eine Art Supermethode einzugrenzen und behauptete, als Funktionalist miisse man einfach Ursachen durch Wirkungen erklaren. Obgleich seine Antwort auf die Kritik auBerst erfolgreich in einem diplomatischen Sinne war, gaIt dies meiner Meinung nach nicht in theoretischer Hinsicht. Denn sie hatte mehr mit der Kritik der Anthropologen an der Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts, denn mit der tatsachlichen Praxis eines soziologi2

Die umfangreiche Wiederbelebung funktionalistischer Interpretation, Theorie und Empirie dokumentieren SciullilGerstein (1985) in ihrem Artikel im Annual Review of Sociology.

Neofunktionalismus

137

schen Funktionalismus zu tun und beschrieb in keinster Weise, was deren wichtigste Repdisentanten - Merton eingeschlossen - tatsachlich taten 3 • Mertons Studenten, selbst bedeutende Vertreter des Funktionalismus wahrend dessen Bliitezeit, lieferten weitere Belege flir die Mehrdeutigkeit des Begriffes. So entwickelten beispielsweise Coser (1956), Gouldner (1960) und Goode (1960) einen spezifisch "linken Funktionalismus", urn hier einen Begriff von Gouldner zu gebrauchen, indem sie die Offenheit der Theorie flir kritisches und materialistisches Gedankengut betonten und behaupteten, daB der Funktionalismus zur Erkllirung von Desintegration und sozialen Konflikten entscheidend beitragen konne. Auf der Grundlage seiner kybernetischen Bestimmung sozialer Handlungssysteme und seines Austauschmodells verwarf selbst Parsons, die zentrale Integrationsfigur des funktionalistischen Theorieansatzesm den Funktionalismus als ein zu statisches Konzept, und ab Mitte der 60er lahre bezeichneten seine Mitarbeiter und Studenten ihr Aufgabenfeld als "Handlungstheorie". Trotz dieser internen Meinungsverschiedenheiten und seines widerspriichlichen Gebrauchs scheint die Bezeichnung "Funktionalismus" weiterhin bedeutsam zu sein. Urn den Stier direkt bei den Hornern zu packen, behaupte ich, daB mit diesem Begriff eher eine Tradition als eine prazise Theoriekonzeption, eine Methode, ein Modell oder eine Ideologie bezeichnet wird. Und aus den Bemiihungen, die im Namen dieser Tradition vollbracht und kritisiert wurden, lassen sich in der Tat bestimmte Charakteristika ableiten. Traditionen erschlieBen sich nur iiber Interpretation und ich werde im folgenden sow oh1 meine Vorstellungen von der kiinftigen Entwicklung dieser Tradition entwickeln, wie auch versuchen, hierbei ihre Vergangenheit aufzuklaren. (1) Obwohl der Funktionalismus kein Erklarungsmodell darstellt, liefert er doch ein deskriptives Modell von den wechselseitigen Beziehungen der gesellschaftlichen Teile. Der Funktionalismus betrachtet die Gesellschaft als ein dem VerstehensprozeB zugangliches System, das aus Elementen besteht, deren Interaktionen letztlich ein von der Umwelt zu unterscheidendes Muster bilden. Die Elemente sind symbiotisch miteinander verkniipft und interagieren, ohne daB eine iibergeordnete Kraft die Entwicklungsrichtung vorbestimmt. Diese Auffassung von System und/oder "TotaIitat" muB - wie Alt3

In Anlehnung an friihere Reaktionen auf den Funktionalismus und seine Kritik verfaBte Michael A. Faia (1986) eine wichtige Verteidigung funktionalistischer Soziologie. In Dynamic Functionalism: Strategy and Tactics" antwortete er auf seine Kritiker, indem er den Funktionalismus als eine Logik empirischer Analyse definierte, die Ursachen durch Auswirkungen untersucht, und wies darauf hin, daB diese Methode weiter verbreitet ist als man gemeinhin annimmt. Man sollte sie seiner Meinung nach als die beste Moglichkeit betrachten, sich strukturellen und dynamischen Erklarungen zu nahern. Faias eindrucksvolles Buch spiegelt das wiedererwachte Interesse am Funktionalismus eindrucksvoll wider, aber seine "methodologische" Definition Jiegt auBerhalb dessen, was ich als Neofunktionalismus bezeichne.

138

Jeffrey C. Alexander

husser (1970) tiberzeugend dargelegt hat - deutlich von hegelianischen oder marxistischen Vorstellungen getrennt werden. Das Hegelsche System iihnelt zwar dem funktionalistischen, postuliert aber eine expressive Totalitiit, in der alle Bestandteile der Gesellschaft oder der Kultur als Variationen eines "wirklich" determinierenden, fundamentalen Systems betrachtet werden. Der Funktionalismus geht im Gegensatz dazu nicht von einem monokausalen, sondern von einem offenen und pluralistischen Determinismus aus. (2) Der Funktionalismus bezieht sich auf Handeln wie auch auf Strukturen. Seine Handlungskonzeption berticksichtigt ebenso Ausdruck und Ziele des Handelns wie deren Anwendbarkeit und die Mittel. Ein besonderes Augenmerk legt der Funktionalismus darauf, in welchem MaBe die Ziele die Mittel regulieren und festsetzen. In dieser Hinsicht erscheint es verfehlt, den Funktionalismus mit dem Soziologismus Durkheims oder dem QuasiUtilitarismus Radcliffe-Browns gleichzusetzen. (3) Der Funktionalismus beschiiftigt sich mit Integration als einer Moglichkeit und mit abweichendem Verhalten und sozialer Kontrolle als Tatsachen. Bezugspunkt der funktionalistischen Systemanalyse stellen Gleichgewichtszustande dar und nicht die Akteure in konkreten sozialen Systemen. Hierbei wird "Gleichgewicht" in mehrerer Hinsicht verwandt, als ein homoostatisches, stabiles Gleichgewicht, als ein FlieBgleichgewicht zur Beschreibung des Wachstums und Wandels sich veriindernder Strukturen und als partielles Gleichgewichtsmodell, von der Art, wie es Keynes zur Beschreibung systembedingter Spannungen im Kapitalismus verwendete. 4 (4) Der Funktionalismus postuliert, daB die Unterscheidung zwischen Personlichkeit, Kultur und Gesellschaft grundlegend fUr die Analyse der Sozialstruktur einer Gesellschaft ist, wobei deren Interpenetration Spannungen produziert, die eine kontinuierliche Quelle ftir Wandel und Kontrolle darstellen. Neben der Analyse gesellschaftlicher oder institutioneller Prozesse konzentriert sich der Funktionalismus auf den vergleichsweise autonomen Bereich der Kultur und die Bedeutung der Sozialisation. (5) Der Funktionalismus betrachtet Differenzierung als hauptsachliches Muster sozialen Wandels, ob kulturelI, sozial oder psychologisch, und analysiert Individuierung und institutionelle Spannungen als Folgeprobleme dieses historischen Prozesses. (6) Funktionalismus heiBt, die Unabhangigkeit von Konzeptualisierunen und Theoriekonstruktion von anderen Ebenen soziologischer Analyse anzuerkennen. Jede dieser sechs Thesen findet sich selbstversHindlich auch in einer anderen sozialwissenschaftlichen Forschungsrichtung, aber keine andere Theorietradition laBt sich mit alIen sechs Merkmalen identifizieren. 4

Siehe Baileys (1984) Bemtihungen, die unterschiedliche Verwendung des Gleichgewichtsbegriffs durch Parsons zu differenzieren und priizisere Begrifflichkeiten fUr Systemintegration zu entwickeln.

Neofunktionalismus

139

Es ist richtig, daB dies nicht die einzigen, und nicht einmal die wichtigsten Eigenschaften sind,. die dem Funktionalismus von der sozialwissenschaftlichen Offentlichkeit zugeschrieben wurden. Dem Funktionalismus wurde dariiber hinaus Antiindividualismus, Resistenz gegeniiber Wandel, Konservatismus, Idealismus sowie ein antiempirischer bias nachgesagt. Parsons' Verteidiger haben die se Angriffe in der Regel als ideologische Illusionen abgetan. Auch in meiner eigenen Beschaftigung mit Parsons' Funktionalismus erschien mir dieser mehrdeutig und widerspriichlich (Alexander 1983: 151-276) und es lassen sich sicherlich alle Aspekte, gegen die seine Kritiker polemisierten, auffinden. Die Bedeutung dieses Werkes reicht jedoch weit iiber diese Kritik hinaus. Der Parsonianische Funktionalismus bietet den Soziologen eine breite Palette an Inhalten, aus denen sie sich entsprechend ihrer jeweiligen historischen und geistigen Interessen wichtige Aspekte auswahlen konnen. Anfang der 60er Iahre begannen sich die negativen Facetten dieses komplexen Bildes aufgrund historischer und intellektueller Entwicklungen im kollektiven BewuGtsein der Soziologie allmahlich durchzusetzen. Bis Mitte der 70er Iahre hatten sich die Kritikpunkte zu einer unveranderlichen und schablonenhaften Vorstellung verdichtet und das Image des Funktionalismus in der akademischen Welt fiir lange Zeit eingefroren. Dies war umso bedauerlicher, als sich exakt zu jener Zeit die differenziertesten Interpretationen der Parsonsschen Theorie grundlegend zu verandern begannen. Es lassen sich nun eine Vielzahl unterschiedlichster Griinde fiirdas gewandelte Verstandnisses des Funktionalismus wahrend der letzten zehn Iahre benennen. Zum einen spielten ironischerweise gerade die Angriffe auf Parsons, das Untergraben seiner iiberwaltigenden fachlichen Autoritat sowie die Popularisierung der Kritik hierbei eine entscheidende Rolle. Denn erst als die Parsonianische Hegemonie durch seine Kritiker zerstort war, erOffnete dies die Chance, sich Teile seines theoretischen Systems auf kreative Weise erneut anzueignen. Man wurde nicht langer als "Parsonianer" geschmaht, wenn man Erkenntnisse aus seinem Werk iibernahm, obgleich sich einige besonders hartnackige Parsons-Gegner weiter darum bemiihten, dieses anachronistische und polemische Etikett zu verewigen. Zweitens hatte sich auch das ideologische Klima merklich beruhigt. Die nachfolgende Generation junger Soziologen hatte nicht mehr das politische Bediirfnis, den von Parsons vertretenen Liberalismus anzugreifen. Im derzeitigen neokonservativen Klima ist es nur schwer vorstellbar, wie Parsons' sozialdemokratischer Reformismus soviel politischen HaG und Korruptheit hatte auslosen konnen. Drittens war auch die europaische Gesellschaftstheorie wieder einmal auf dem Vormarsch. Frei von der amerikanischen Fixierung auf Parsons konnten sich die Europaer, vor allem die Deutschen, dessen Werk auf eine iiberraschend fruchtbare Weise aneignen. Und viertens stellt der Funktionalismus eine auGerst geistreiche Theorie dar, denn Parsons besaB eine auGergewohnliche Intelligenz, mit der sich nur wenige seiner - und auch unserer - Zeitgenossen

140

Jeffrey C. Alexander

messen konnten. Dies ist ein notwendiger, wenn nicht gar ein hinreichender Grund, weshalb der Funktionalismus immer noch das Potential fUr eine erfolgreiche soziologische Theorie besitzt Doch was sich aus dieser Wiederbelebung des Funktionalismus bislang entwickelt hat, ist weniger eine Theorie denn eine umfassende Denkrichtung. Ich nenne sie Neofunktionalismus in bewuBter Anlehnung an den Neomarxismus. Denn wie im Fall des Neomarxismus zeigte sich auch hier, daB die Entwicklung von der scharfen Kritik an einigen grundlegenden Lehrsatzen der Theorie begleitet wurde. Dariiber hinaus wurde wie im Neomarxismus versucht, Elemente angeblich unvereinbarer Theorietraditionen zu integrieren. Und schlieBlich manifestiert sich die neofunktionalistische Denkrichtung gleichfalls nicht in einer kohiirenten Form, sondern in einer Vielzahl konkurrierender Stromungen. Diese Parallelen mochte ich im folgenden ausfUhren. Der Neomarxismus beg ann in den 50er Jahren als kritische Auseinandersetzung mit dem sogenannten orthodoxen Marxismus, d.h. er entwickelte sich als ein interpretativer Ansatz. Aber dann entdeckten - besser produzierten - eine Reihe selbstbewuBter, revisionistischer Interpretationen einen anderen Marx. Diese neomarxistischen Interpretationen betonten eine vollig neue Periodisierung des Marxschen Werkes, wobei sie insbesondere die Bedeutung der friihen Schriften gegeniiber den spateren hervorhoben und seine wissenschaftstheoretische Ausrichtung stiirker idealistisch denn material istisch oder kantianisch bestimmten. An die Stelle von Saint-Simon oder Ricardo traten andere intellektuelle Wegbegleiter, wie etwa Hegel. Auch der ideologische Charakter des Marxschen Werkes wurde neu bestimmt, indem man einen stiirker demokratisch-humanistisch statt leninistisch-autoritiiren Charakter hervorhob. In den vergangenen zehn Jahren hat ein vergleichbarer ProzeB der Neuinterpretation auch innerhalb bzw. zugunsten der funktionalistischen Tradition stattgefunden. Am bedeutendsten war dabei vielleicht die ideologische Neubewertung. AIs erste befiirworteten in den friihen 70er Jahren linke Theoretiker wie Atkinson (1972) eine konfliktorientiertere und kritischere Lesart des Funktionalismus und stellten dessen angeblichen Konservatismus in Frage. Atkinson behauptete sogar, daB sich Parsons' Theorie gar nicht grundsatzlich von Marx oder Marcuse - der Leitfigur der neuen Linken unterscheiden wiirde. Andere kritische Theoretiker wie Taylor (1979) und Gintis (1969), die noch stiirker mit dem Marxismus verbunden waren, betonten ebenfalls die Parallelen zwischen Parsons und Marx und die kritischen Anteile innerhalb des funktionalistischen Ansatzes. Die neueste Entwicklung dieser einfluBreichen Stromung innerhalb der Kritischen Theorie ist die Interpretation von Jiirgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns, in der er zwar Parsons' Konservatismus angreift, gleichzeitig aber auch befreiende Elemente in dessen Denken entdeckt. Dariiber hinaus haben auch liberale Theoretiker zur ideologischen Neubewertung des Funktionalismus beigetragen. Rocher (1975) hat in seiner friihen Interpretation be i-

Neofunktionalismus

141

spielsweise herausgestellt, daB es Parsons' Theorie durchaus gelingt, ihren amerikanischen Blickwinkel - mit dem er naturlich unmittelbar verknupft ist -, zu uberwinden. Menzies (1976) dokumentierte einige sozialistische Implikationen der Parsonianischen Schichtungstheorie, und in einer auBerordentlich aufschluBreichen Modifikation seines friiheren Standpunktes beschrieb Gouldner (1980: 355-373) Parsons' Soziologie als Beitrag zu einer liberalen Theorie der burgerlichen Gesellschaft, die eine demokratische und humanistische Alternative zum orthodoxen Marxismus darstellt. In meinen eigenen Arbeiten zu den ideologischen Grundlagen bei Parsons (Alexander 1978: 61n; 1983: 128-150) habe ich dieses kritische Potential herauszuarbeiten versucht, obgleich ich auf die angepaBte Sichtweise des modernen Lebens in seinem Spatwerk hingewiesen habe. Auch das wissenschaftstheoretische Verstandnis von Parsons wurde von den meisten dieser Theoretiker revidiert, wobei insbesondere die starke Betonung des Idealismus in den fruheren Bewertungen hinterfragt wurde. Aus der Sicht Taylors miBt der Funktionalismus nicht nur kulturellen, sondern auch okonomischen und politischen Faktoren entscheidendes Gewicht bei. Habermas geht sogar soweit, Parsons eine antinormative Erkliirung des politischen und okonomischen Bereichs vorzuhalten, und auch Menzies erachtet den spaten Parsons als zu naturalistisch. Neuere Arbeiten, wie die von Bourricaud (1977) oder Adriaansens (1980), liefern genaue Belege fUr eine antiidealistische Erkenntnistheorie. Savages (1981) Interpretation weist die idealistische Lesart in Althusserscher Diktion zuruck. Im Gegensatz dazu hatte ich den Eindruck, daB Parsons' Idealismus durchaus einen Schwachpunkt darstellt, obwohl andererseits auch die Multidimensionalitat seiner Theorie nicht zu ubersehen ist (Alexander 1983: 8-150). In seiner ehrgeizigen Rekonstruktion der funktionalistischen Wissenschaftstheorie argumentiert Munch (1981-1982), daB Parsons' Anlehnung an Kant den materiellen Faktoren unbegrenzten Spielraum einraumt, wiihrend sie gleichzeitig die mit einer normativen Ausrichtung einhergehende Handlungsfreiheit bewahrt. Diese neuen wissenschaftstheoretischen und ideologischen Interpretationen verlangen nach der Bestimmung weiterer geistiger Wegbereiter von Parsons, wenngleich ein neuer intellektueller Stammbaum noch nicht vollstandig entwickelt ist. Wahrend Mills die Verbindung zum konservativen Hegel betonte, und Gouldner jene zur englischen und franzosischen antirevolutioniiren Reaktion, sahen ihn Bershady (1973) und Munch in einer direkten demokratischen und humanistischen Traditionslinie zu Kant. Fur mich steht Parsons eher in einer sozialdemokratischen, wohlfahrtsstaatlichen Tradition eines T. H. Marshall. Zudem glaube ich, daB der eher kritische Zug in seinem Werk seine Wurzeln in der reformistischen Tradition der "sozialen Kontrolle" des amerikanischen Pragmatismus hat (Alexander 1983: 385ff.). Die meisten dieser Neuinterpretationen haben auBerdem auch einige neuere Periodisierungen mit sich gebracht, und wandten sich gegen den orthodoxen Standpunkt, wonach Parsons' Werk mit zunehmendem Alter im-

142

Jeffrey C. Alexander

mer besser wurde. Habermas und Menzies beispielsweise wurdigen seine fruhen Arbeiten, wahrend sie in seinem Spatwerk ein Systemdenken am Werk sehen, das schwerwiegende Reifikationen zur Folge hat. Andriaansens, wie auch Sciulli und Gerstein (1985), kritisieren die mittlere Periode von Parsons' Schaffen, vor allem The Social System, wegen der fundamentalen Abweichung von der synthetischen Ausrichtung der friihen und spaten Jahre. Obwohl ich die analytische Uberlegenheit von Parsons' Spatwerk verteidigt habe (Alexander 1983: 61-73,194-211,259-272), stellen seine Aufsatze aus den spaten 30er und 40er Jahren aufgrund ihrer stacker empirischen, gruppenorientierten und kritischen Ausrichtung meines Erachtens ein wichtiges Korrektiv der spateren Arbeiten zum sozialen Wandel dar. Neomarxistische Interpretationen haben nach und nach den Weg fur sozialwissenschaftliche Deutungen bereitet, die in die gleiche Richtung zielten. Neue bedeutende Theorien und Untersuchungen wurden von Wissenschaftlern der alteren Generation wie Hobsbawm oder Genovese, die das Marxsche Erbe retten wollten, wie auch von jungeren Soziologen, die vom Neomarxismus intellektuell und politisch angesprochen wurden, hervorgebracht. Auch in diesem Punkt ist die Entwicklung des Funktionalismus vergleichbar. Im AnschluB an die turbulenten 60er Jahre leitete eine altere Generation von Funktionalisten subtile, aber oft weitreichende Veranderungen der "orthodoxen" Theorie ein. Sie betrachteten traditionelle Ideen aus einem neuen Blickwinkel und bezogen Theorien ein, die man zuvor fur unvereinbar hielt; sie beriefen sich auf Tocqueville, Weber, Marx und Habermas, urn eine gr6Bere empirische Spezifitat zu erreichen, Macht und Konflikt stacker zu berucksichtigen und eine durchdringendere ideologische Kritikfahigkeit zu entwikkeln. In ihrer Nachfolge hat eine jungere Generation eine Vielzahl neofunktionalistischer Richtungen eingeschlagen. Und die se Entwicklung war nicht auf die USA beschrankt. Das auBergew6hnliche Wiederaufleben des Parsonianischen Gedankengutes in Deutschland (Alexander 1984) war in der Tat eine Rekonstruktion seines Erbes auf neofunktionalistische Weise, die neue Theorien und empirische Untersuchungen (z.B. Miebach 1984) in unterschiedlichen Bereichen von hervorragender Qualitat hervorbrachte. 5 Niemand weiB, wohin diese Entwicklungen fiihren werden, ob tatsachlich eine neofunktionalistische Schule entstehen wird oder ob der Neofunk5

Die deutschen Arbeiten rnachen etwas deutIich, was auch in Arnerika eine wichtige Tendenz darstellt: Der Neofunktionalisrnus stellt Verbindungen rnit anderen Traditionen her, einschlieBlich des kritischen Marxisrnus, Weber, Durkheirn, Freud, usw. In seiner orthodox en Phase hatte der Funktionalisrnus versucht, diese klassischen Theorien zu ersetzen; danach erschienen die Differenzen anderer Theorien zu Parsons' Denken dagegen positiv und fruchtbar, weshalb die Funktionalisten sie wieder rnit einbezogen. Das war natiirlich auch ein iiberraschendes Charakteristikurn der neornarxistischen Bewegung, die einen psychoanalytischen Marxisrnus, einen strukturellen oder existentialistischen Marxisrnus hervorbrachte, urn nur die bekanntesten Beispiele zu nennen.

Neofunktionalismus

143

tionalismus die gegenw3.rtige Soziologie in weniger auffalliger Weise priigen wird. In der Vergangenheit sorgte Parsons' kontroverse Reputation dafiir, daB selbst einige Anhiinger dieser Renaissance des Funktionalismus nur widerwillig seinen EinfluB zugaben. Die Bewegung zur Wiederaneignung von Parsons in neofunktionalistischer Weise gewinnt heute an Bedeutung. Ob das nur alter Wein in neuen Schliiuchen ist oder ein ganz neues Gebriiu, muB die Geschichte entscheiden.

Literatur Adriaansens, Hans P. M. 1980. Talcott Parsons and the Conceptual Dilemma. London: Routledge & Keegan Paul. Alexander, Jeffrey C. 1978. "Formal and Substantive Voluntarism in the Work of Talcott Parsons: A Theoretical and Ideological Reinterpretation." In American Sociological Review 43: 177-198. 1983. "The Modern Reconstruction of Classical Thought: Talcott Parsons." In Theoretical Logic in Sociology, Vol. 4. Berkeley: University of California Press. -. 1984. "The Parsons' Revival in German Sociology." In Sociological Theory 2: 394412. Althusser, Louis. 1970. "Marxism Is Not a Historicism." In Louis Althusser, Etienne Balibar (Hg.) Reading Capital. London: New Left Review Books. Atkinson, Dick. 1972. Orthodox Consensus and Radical Alternative. New York: Basic Books. Bailey, Kenneth D. 1984. "Beyond Functionalism: Toward a Non-equilibrium Analysis of Complex Systems." In British Journal of Sociology 35: 1-18. Bershady, Harold J. 1973. Ideology and Social Knowledge. New York: John Wiley. Bourricaud, Fran,