Zeitenwandel: Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom [1 ed.] 9783666301001, 9783525301005

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Zeitenwandel: Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom [1 ed.]
 9783666301001, 9783525301005

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Fernando Esposito (Hg.)

Zeitenwandel Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom

Nach dem Boom Herausgegeben von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Zeitenwandel Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom

Herausgegeben von Fernando Esposito

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 6 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-30100-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de. Umschlagabbildung: Crosby, Liverpool. 5 and 7 April 2008. High water 12 noon © Michael Marten Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: D Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Fernando Esposito Zeitenwandel Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Chris Lorenz Der letzte Fetisch des Stamms der Historiker Zeit, Raum und Periodisierung in der Geschichtswissenschaft . . . . . . 63 Tobias Becker Rückkehr der Geschichte? Die »Nostalgie-Welle« in den 1970er und 1980er Jahren . . . . . . . . . . 93 Lukas J. Hezel »Was gibt es zu verlieren, wo es kein Morgen gibt?« Chronopolitik und Radikalisierung in der Jugendrevolte 1980/81 und bei den Autonomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Silke Mende Das »Momo«-Syndrom Zeitvorstellungen im alternativen Milieu und in den »neuen« Protestbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Elke Seefried Partei der Zukunft? Der Wandel des sozialdemokratischen Fortschrittsverständnisses 1960–2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Achim Landwehr Die vielen, die anwesenden und die abwesenden Zeiten Zum Problem der Zeit-Geschichte und der Geschichtszeiten . . . . . . . . 227 Fernando Esposito und Hans Ulrich Gumbrecht Posthistoire Then. Ein Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht über »unsere breite Gegenwart« 255 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

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Zeitenwandel Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom – eine Einführung »Billy Pilgrim has come unstuck in time.« (Kurt Vonnegut, Slaughterhouse Five, 1969)

Das erkenntnisleitende Interesse des vorliegenden Bandes ist von der Frage nach dem Wandel von Zeit- und Geschichtsverständnissen in den circa drei Jahrzehnten seit 1970 bestimmt. Als die Tübinger und Trierer Forschungsgruppe Nach dem Boom damit begann, diesen Zeitraum als eine kohärente Phase vielfältiger Übergänge in unsere Gegenwart und unterschiedlichster Brüche mit der vorangegangenen Formation gesellschaftlicher Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, wurde zunehmend deutlich, dass eine der grundlegendsten Veränderungen das Zeit- und Geschichtsdenken betraf1. Hatte sich in diesen Jahrzehnten ein ideengeschichtlicher Strukturbruch, gar ein Paradigmenwechsel in Sachen Zeit ereignet2? Die ersten Beobachtungen betrafen die augenfällige Diskrepanz zwischen den vorherrschenden Erwartungen an die Zukunft: Während die 1950er, ins­ beson­dere aber die 1960er Jahre, so Lucian Hölscher, »im Rückblick oft als Phase eines geradezu euphorischen Aufbruchs in eine gänzlich neue Zukunft« – und zwar weltweit – in Erscheinung traten, präsentierten sich die beiden folgenden Jahrzehnte vornehmlich als eine Zeit, in der die »langfristige[n] Kosten des technischen und sozialen Fortschritts« thematisiert wurden und der »Fortschrittsoptimismus in Fortschrittskritik und -skepsis« umkippte3. In den Vereinigten Staaten, so Daniel T. Rodgers, sei im letzten Viertel des 20.  Jahrhunderts ein nostalgischer Blick auf die Vergangenheit aufgekommen, der die von den neuen 1 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 32012; sowie: Lutz Raphael, Typische Jahre »nach dem Boom«, in: APuZ 46 (2015), S. 8–13. 2 Zum Paradigmenwechsel siehe: Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. ²1976. Siehe hierzu auch: Ariane Leendertz/Wencke Meteling, Bezeichnungsrevolutionen, Bedeutungsverschiebungen und Politik. Zur Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Die Neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er Jahren, Frankfurt a. M. u. a. 2016, S. 13–33, hier S. 13. Die Autorinnen interessiert, inwiefern »konzeptuelle Umbrüche und semantische Neuvermessungen« auf eine »epistemische Wendezeit hindeuten könnten.« 3 Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen 2016, S. 291, 302 f.

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ökonomischen Modellen hervorgebrachte radikal verkürzte Sofortzeit kompensierte. Zudem sei die triumphierende Proklamation eines Endes der Geschichte von deren Auflösung in viele partikulare Geschichten begleitet worden4. Mehr oder minder im Umfeld des Periodisierungsvorschlags »nach dem Boom« erschienen vier Werke, die der These, es habe ein temporaler Paradigmenwechsel stattgefunden, weiteren Auftrieb verliehen: Der Althistoriker François Hartog hatte bereits 2003 postuliert, dass um 1989 ein präsentistisches »Historizitätsregime« an die Stelle des modernen futuristischen getreten sei5. 2005 diagnos­tizierte der Soziologe Hartmut Rosa, dass wir uns aufgrund eines komplexen Zusammenspiels unterschiedlicher Beschleunigungsfaktoren in einer »Zeitkrise« befänden. Der »Übergang zur Spätmoderne« sei als Prozess der Entzeitlichung zu verstehen, der in einen »rasenden Stillstand« (Virilio) münde und als »Ende der Geschichte« wahrgenommen werde6. 2010 stellte Hans Ulrich Gumbrecht fest, dass das »historische Chronotop« nach »fast zweihundertjähriger Dominanz« nunmehr durch »unsere breite Gegenwart« abgelöst worden sei7. In ihrem 2013 erschienenen Buch Ist die Zeit aus den Fugen? vertrat Aleida Assmann die These, dass in den 1980er Jahren ein »Umbau des westlichen Zeitverständnisses« stattgefunden habe, der nicht zuletzt am Verblassen der »Zukunftsvisionen des Modernisierungsparadigmas« und an der »kulturelle[n] Aufwertung von Vergangenheit und Erinnerung« zu erkennen sei8. Summa summarum folgte aus diesen Gegenwartsdiagnosen die Feststellung, dass der Übergang in eine reflexive, zweite Spät- oder Postmoderne als ein Wandel des beziehungsweise als ein Bruch mit dem modernen Zeitlichkeitsentwurf zu verstehen sei. Es scheint Vorsicht geboten, denn diese temporalen Großdeutungen legen nahe, es gebe eine sich wandelnde Zeit und das moderne Zeitverständnis. Mittlerweile ist indes ersichtlich, dass eine Geschichte historischer Zeiten sowohl spezifizieren muss, von wessen Zeit oder Zukunftsvorstellungen die Rede ist als auch welcher Zeitlichkeitshorizont und welcher Zukunftsbezug überhaupt im Zentrum des Interesses steht. Das lässt sich an einem banalen Beispiel verdeutlichen: Ein Meteorologe kann zugleich drohende Klimakatastrophen prognostizieren, die darauf folgenden politischen Konflikte voraussagen, und, so er eben eine Festanstellung bekommen hat, optimistische Zukunftspläne hinsichtlich seiner Karriere, der nun möglichen Familienplanung etc. schmieden. 4 Vgl.: Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge u. a. 2011, S. 221–255. 5 François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003. Neuerdings liegt Hartogs Buch in englischer Übersetzung vor: Ders., Regimes of Historicity. Presentism and Experiences of Time, New York 2015. 6 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005, S. 16; vgl. für das Folgende: Ebd., S. 460–490, insbesondere S. 477; siehe­ zudem: Paul Virilio, Rasender Stillstand. Essay, München u. a. 1992. 7 Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010. 8 Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, S. 288, 19. 

Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom – Einführung

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Wenngleich sich die Zeitlichkeitshorizonte oder -modi in der Erfahrung des Subjekts überschneiden und es zahlreiche Berührungspunkte gibt, so ließe sich in einem ersten Schritt analytisch eine »Weltzeit« von einer »Geschichtszeit« und einer »Lebenszeit« unterscheiden9. Dieser groben Unterteilung müsste künftig eine detailliertere Auffächerung folgen. An dieser Stelle muss es vorerst genügen festzustellen, dass, wenn vom »modernen« Zeit- oder Historizitätsregime die Rede ist, die »Geschichtszeit« beziehungsweise die geschichtliche Zeitlichkeit betroffen ist10. Es geht also um jenen Zeitlichkeitshorizont, der das Individuum transzendiert und zwar in zweifacher Hinsicht: erstens, sofern es sich um eine Zeit der Kollektivsubjekte handelt. Dieser Zeitlichkeitshorizont transzendiert das Individuum, zweitens, weil er eine Dauer umgrenzt, welche das eigene Leben überschreitet. Wenngleich die These vom großen temporalen Strukturbruch oder Paradigmenwechsel, die von den Zeitgenossen lautstark proklamiert und von den Nachbardisziplinen aktuell untermauert wird, ein unüberhörbares Hintergrundrauschen bildet, wollen wir hier etwas bescheidener vorgehen: Der Band spürt den Veränderungen der Zukunfts-, Gegenwarts- und Vergangenheitsverständnisse und -verhältnisse nach, die sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen im Hinblick auf geschichtliche Zeitlichkeit ereigneten. Ausgangspunkt unserer Erkundungen ist die alte Bundesrepublik. Da diese jedoch in unterschiedlichste europäische, transatlantische und globale Diskussions- und Wirkzusammenhänge eingebunden war, kann unsere Perspektive nicht auf Westdeutschland beschränkt bleiben, sondern wandert, gleich den untersuchten Ideen, Ordnungsvorstellungen und Diskursen, über die politischen Grenzen hin und her11. Diese Einführung widmet sich ihrerseits den temporalen Implikationen der sich unter Intellektuellen seit Mitte der 1960er Jahre häufenden Zäsurpostulate »Postmoderne« und »Posthistoire«12. Sie fragt, welche Moderne, welche Ge9 Zur »Weltzeit« siehe: Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 81–89; sowie Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 2001. Die Berührungspunkte und Vermischungen werden etwa in dem derzeit intensiv diskutierten Anthropozän-Begriff ersichtlich. Die Vermittlung und Synchronisation dieser Zeithorizonte und ihrer jeweiligen Rhythmen geschieht nicht zuletzt mittels Uhren und Kalendern, die einen einheitlichen Code bereitstellen, in den die jeweiligen Zeitlichkeiten übertragen werden können. 10 Vgl. etwa: Rosa, Beschleunigung, S. 30–35. Rosa unterscheidet dort zwischen, erstens, den Zeitstrukturen des Alltagslebens, zweitens, der Lebenszeit, drittens, der Zeit der Generation und der Epoche und schließlich, viertens, einer Sakralzeit. 11 Zur Überschreitung der nationalgeschichtlichen Grenzziehungen im Falle der Bundesrepublik siehe: Lutz Raphael, Die Geschichte der Bundesrepublik schreiben als Globalisierungsgeschichte. Oder die Suche nach deutschen Plätzen in einer zusammenrückenden Welt seit 1949, in: Frank Bajohr/Anselm Doering-Manteuffel/Claudia Kemper/Detlef Siegfried (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 203–218. 12 Zur Orientierung sowie für eine Wort- und Begriffsgeschichte der verwandten Termini siehe: Hans Ulrich Gumbrecht, Postmoderne, in: Ders., Dimensionen und Grenzen der

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schichte und welche temporale Logik an ihr Ende gelangt zu sein schien und weshalb. Es gilt also nicht zu entscheiden, ob wir uns etwa im Posthistoire befinden, sondern die Rede vom Posthistoire ernst zu nehmen und danach zu fragen, welche Probleme mit der Geschichte sich Teilen der zeitgenössischen Intelligenz aufdrängten, welche Aushandlungsprozesse sich im Wandel des semantischen Feldes zwischen Geschichte, Historie, Posthistoire oder zwischen Modernisie­ rung, Moderne, Postmoderne niederschlugen und inwieweit dies auch eine Transformation geschichtlicher Zeitlichkeit impliziert. Doch bevor diese semantischen Felder etwas näher in den Blick genommen werden, gilt es, einige wichtige Etappen der Zeitforschung der vergangenen etwa vier Jahrzehnte zu schildern und die Verwandtschaftsbeziehungen offen zu legen, die zwischen Beobachter und Beobachtetem bestehen. Denn einerseits ist unsere Perspektive auf die Zeit nach dem Boom sowie das Bild, das wir von diesen Jahrzehnten zeichnen, selbstverständlich von gegenwärtigen Erfahrungen und Problemlagen geleitet und bestimmt. Andererseits sind wir selbst ein Produkt dieser noch recht nahen Vergangenheit und unser Denken ist maßgeblich von den wirklichkeitskonstitutiven Deutungen oder »performativen Interpretationen«13 geprägt, die sie hervorbrachte14. Gerade für die Zeit-Geschichte gilt dies in besonderem Maße: Die Gegenwartsdiagnosen Postmoderne und Posthistoire wurden vornehmlich von Begriffsgeschichte, München 2006, S. 81–87. Dort (S. 81) heißt es: »Nicht die kulturelle ›Moderne‹ des frühen 20. Jahrhunderts (im englischen Sprachgebrauch ›High Modernism‹) ist die Epoche, zu der die Postmoderne im Kontrast stehen soll, sondern die mit dem Ende des Mittelalters einsetzende Epochen-Sequenz ›Moderne‹, das heißt: jener Zeitraum, innerhalb dessen sich in der westlichen Kultur das ›historische Bewusstsein‹­ ausgebildet hat; jener Zeitraum aber auch, dessen temporale Selbstreferenz vom historischen Bewusstsein konstituiert war.« Ein Großteil der Literatur zu den Begriffen »Postmoderne« und »Posthistoire« ist nicht historisierender Natur, sondern eher selbst als Teil der Debatte zu verstehen (dies gilt auch für den hier zitierten Gumbrecht-Beitrag). Für einen Überblick siehe etwa: Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987; Lutz ­Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek bei Hamburg 1989; ­Fredric Jameson, Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism, London 1991, insbes. S. 1–54; Steven Connor (Hrsg.), The Cambridge Companion to Postmodernism, Cambridge 2004; Stuart Sim (Hrsg.), The Routledge Companion to Postmodernism, London u. a. 32011. 13 Eine »performative Interpretation« ist laut Derrida eine »Interpretation, die das, was sie interpretiert, zugleich verändert«. Siehe: Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M. 2004, S. 77. 14 Vgl. hierzu: Leendertz/Meteling, Bezeichnungsrevolutionen. In ihrem erst kürzlich erschienenen Band Die neue Wirklichkeit haben Ariane Leendertz und Wencke Meteling die komplizierte Beziehung, die zwischen der gegenwartsnahen Zeitgeschichte und der von ihr untersuchten, erst kürzlich zur »Vergangenheit« erklärten Epoche konzise auf den Punkt gebracht. Dort (S. 16) heißt es: »Gegenwärtige Entwicklungen, deren Wahrnehmungen und Deutungen – gerade auch die sozialwissenschaftlichen – prägen die analytische Sicht und den Zugriff auf die nahe Vergangenheit. Zugleich wirken vergangene zeitgenössische Deutungen in die Gegenwart fort.«

Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom – Einführung

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Sozial- und Literaturwissenschaftlern (etwa Gehlen oder Gumbrecht), Historikern (Koselleck und Foucault), Philosophen (Anders, Lyotard, Derrida, Habermas und Vattimo) und Anthropologen (Lévi-Strauss) teils explizit, teils implizit in intellektuellen Publikumszeitschriften wie dem Merkur oder Les Temps ­Modernes oder ihren wissenschaftlichen Arbeiten verhandelt. Obwohl wir noch in deren wirkungsgeschichtlichem Bann stehen, müssen wir versuchen, letztere als Quellen zu lesen. Da Zeit erst im Zuge jenes Zeitenwandels, der hier im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, als genuiner historiographischer Gegenstand etabliert wurde, muss also in einem ersten Schritt das Verhältnis zu diesen wissenschaftlichen Vorläufern geklärt werden – zumindest soweit dies überhaupt möglich ist. Darauf folgt, zweitens, eine rudimentäre Klärung einiger Begriffe, die das hier zugrunde gelegte Zeitverständnis weiter erhellen sollen. Diese Einführung widmet sich dann, drittens, der Frage, von welcher Moderne und welcher Geschichte in den Begriffen Postmoderne und Posthistoire Abstand genommen wurde. Am Ende dieser Einführung steht, viertens, eine noch tastende These zu einer sich in der Zeit nach dem Boom ereignenden zweiten Krise des Historismus sowie, fünftens, ein knapper Überblick über den Gesamtband.

Zeit-Geschichte nach dem Boom Die aktuelle (Wieder-)Entdeckung von Zeit als sich wandelnder Gegenstand der Geschichte15 hängt aufs Engste mit den in den »langen sechziger Jahren« wiederaufflammenden Diskussionen um den Historismus zusammen16. Zugleich ist die gegenwärtige Konjunktur der Zeit-Geschichte auch ein Erbe des sozial15 Zeit ist in den vergangenen Jahren in diversen empirischen Einzelstudien zum Gegenstand gemacht worden. Für einen Überblick zur Forschung und Literatur siehe: Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012 (URL: http://docupedia.de/zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen_Version_ 2.0_R.C3.BCdiger_Graf?oldid=84945, zuletzt eingesehen am 8.3.2016); sowie die Auswahlbibliographie in: Alexander Geppert/Till Kössler (Hrsg.), Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015, S. 272–286. Exemplarisch siehe etwa: Vanessa Ogle, The Global Transformation of Time. 1870–1950, Cambridge 2015. 16 Unter Historismus wird hier in Anlehnung an Otto Gerhard Oexle (und Ernst Troeltsch) der »Vorgang der ›grundsätzlichen Historisierung unseres Wissens und Denkens‹ […], die Einsicht, dass alles und jedes geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt ist« verstanden. Vgl.: Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: Ders. (Hrsg.), Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996, S.  17–40, hier S.  17. Als Form der Kritik, die zunächst unter den europäischen philo­ sophes gediehen war, stellte der Historismus das Althergebrachte in Frage. Hierdurch wurde er zu einem dynamisierenden Faktor des Wandels. Gleichzeitig trug er dazu bei, das Neue als Ergebnis eines Prozesses herzuleiten, der in der Vergangenheit gründete, und es somit zu legitimieren. Insofern vermochte der Historismus auch als ein stabilisierender Faktor zu wirken. Er stellte jedenfalls einen Rahmen dar, innerhalb

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wissenschaftlichen Interesses an der Zeit, das im gleichen Zeitraum aufblühte. Diese Bande, die etwa dank der Wirkungsgeschichte maßgeblicher Werke, Forscher­persönlichkeiten, Frageperspektiven oder Kategorien zwischen dem analysierten Gestern und dem analysierenden Heute bestehen, muss eine selbstreflexive Geschichtswissenschaft in einem ersten Schritt offenlegen. In einem zweiten Schritt gilt es dann, die wirklichkeitskonstituierenden Diagnosen der nunmehr zu historischen Akteuren mutierten Mitlebenden der Epoche zu kontextualisieren. Nur so können diese Bande gelockert und eine Distanzierungsbewegung eingeleitet werden. Doch es wäre abwegig anzunehmen, diese Verbundenheit könne zugunsten einer falsch verstandenen Objektivität aufgelöst werden17. Es gilt vielmehr, nach den Motiven zu fragen, die uns dazu veranlassen, gerade diese »Chronoferenz«, sprich gerade dieses Band zwischen dem Heute und einem spezifischen Gestern zu knüpfen18. Welche Verbindungslinien und Analogien bestehen also zwischen der heutigen Konjunktur der Zeit-Geschichte und der (wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Zeit in den 1970er und 1980er Jahren? Drei Verwandtschaftsbeziehungen fallen sogleich ins Auge19: Erstens, wesentliche Impulse der Zeit-Geschichte gehen von der Ende der 1960er Jahre von Reinhart Koselleck eingeleiteten Historisierung der »neuen Zeit« aus20. Diese Historisierung selbst wiederum zu historisieren, das heißt danach zu fragen, was denn Kosellecks Theorie historischer Zeiten ihrerseits über die Veränderung dessen die Erlebnisse der »neuen Zeit« erfahren, sinnhaft gedeutet und bewältigt werden konnten. Die politischen, ökonomischen, sozialen und ­kulturellen Umwälzungen wurden auf den Begriff gebracht; das Flüchtige, das die »moderne« Zeit zu charakterisieren schien, wurde in ein Kontinuum eingereiht. Die sich mehrenden Brüche zwischen Vergangenheit(en) und Gegenwart(en) wurden überbrückt und Kontingenz eingehegt. Zu den »langen sechziger Jahren« siehe etwa: Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005. 17 Da man dem hermeneutischen circulus vitiosus, der Wirkungsgeschichte bedeutender Interpretamente, bekanntlich nicht entkommen kann, gilt weiterhin: »Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.« Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 171993, S.  153. Zu den Schwierigkeiten, die sich für die gegenwartsnahe Zeitgeschichte aus der Nähe zur »Welt der Sozialwissenschaften« ergeben, siehe: Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ 59 (2011), S. 479–508; sowie Jenny Pleinen/Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: VfZ 62 (2014), S. 173–195. 18 Zur »Chronoferenz« siehe: Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016, S. 149–165. 19 Vgl. zu dieser Einteilung die verwandte, aber anders gelagerte Systematisierung in:­ Alexander Geppert/Till Kössler, Zeit-Geschichte als Aufgabe, in: Dies. (Hrsg.), Obsession der Gegenwart, S. 7–36. 20 Vgl. Reinhart Koselleck, ›Neuzeit‹. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Ders. (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 264–299.

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von Zeitlichkeit in den 1970er und 1980er Jahren aussagt, stellt ein drängendes Forschungsdesiderat dar. Wenngleich dieser Band dieses Desiderat nicht einlösen kann, so wird im Folgenden doch ein Versuch unternommen, das verwickelte Verhältnis zwischen gegenwartsnaher Zeit-Geschichte und Koselleck offen zu legen. Zweitens, eine ähnliche Verwandtschaft von Analysans und Analysandum lässt sich im Hinblick auf das Konzept der »Pluritemporalität« feststellen. Pluritem­ poralität bezeichnet zunächst einmal den Umstand, dass Kulturen, soziale Gruppen, Objekte, Ereignisse usw. zumindest potentiell dazu in der Lage sind, eigene Zeitformen auszubilden. Es handelt sich um den methodischen Zweifel an der möglicherweise naheliegenden Idee, wir hätten es nur mit einer einzigen Zeitform zu tun, die mit der Zeit der Uhren und Kalender zur Deckung gebracht werden könne.21

Dieser uns heute möglicherweise naheliegend erscheinende »methodische Zweifel« erstarkt in eben jenen Jahrzehnten, die im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen, denn sie erweisen sich als »Inkubationszeit für verstärkte Pluralisierungsprozesse und Entwicklungen ab den neunziger Jahren«22. Ein Bewusstsein dieser Entwicklung vermag uns nicht zuletzt vor Anachronismen zu bewahren23: Dass uns die Rede von dem Zeit- oder Historizitätsregime der Moderne oder von dem Westen seltsam und befremdlich anmutet und eine Flut von einfachen, distanzierenden Anführungszeichen generiert – auf die im Folgenden der Lesbarkeit halber verzichtet wird –, ist ein Ergebnis der Debatten jener Jahrzehnte. Drittens, die Klage über Zeitnot bestimmt das Heute gleichermaßen wie das Gestern. So prangerte etwa der Gewerkschaftssoziologe Rainer Zoll in einem in der edition suhrkamp 1988 erschienenen Sammelband zur Zerstörung und­ Wiederaneignung von Zeit an, dass »der Streß, die Hetze« das »alltägliche Gesicht« der »Krise der Zeiterfahrung« seien: Alles geht jetzt schneller als früher; wir sparen Zeit beim Transport von Menschen, von Gütern und Informationen, wir sparen Zeit beim Einkaufen und bei der Hausarbeit, sogar beim Essen (Fast Food). Wir gewinnen Unmengen an Zeit, haben aber weniger als je zuvor.24

21 Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014, S. 38; siehe zudem: Ders., Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte, in: Ders. (Hrsg.), Frühe neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 9–40. 22 Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015, S. 104. 23 Zum Anachronismus siehe: Achim Landwehr, Über den Anachronismus, in: ZfG 61 (2013), S. 5–29. 24 Rainer Zoll, Krise der Zeiterfahrung, in: Ders. (Hrsg.), Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–33, hier 10 f. Zum Stress siehe: Lea Haller/Sabine­ Höhler/Heiko Stoff (Hrsg.), Stress, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contem­ porary History 11 (2014).

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Diese Klage klingt unseren Ohren sehr vertraut, denn die Beschleunigungs­ diagnose ist nicht zuletzt aufgrund des Erfolgs von Hartmut Rosas  – laut Verlagshomepage in Deutschland 25.000-mal verkaufter und ins Englische, Spanische, Chinesische, Arabische, Französische und Bulgarische übersetzter25  – Habilitationsschrift geradezu omnipräsent. Dieses Wechselspiel zwischen aktuellen und vergangenen Deutungen, zwischen unseren Projektionen auf die Vergangenheit und deren Wirkung auf unsere Gegenwart, das ständige Changieren des in Händen gehaltenen stw-Bändchens von Impulsgeber zu Quelle und zurück, gilt es im Folgenden zu bedenken. Koselleck und die Historisierung der »neuen Zeit«

Diese Denkwürdigkeit ist im Falle des 2006 verstorbenen Reinhart Koselleck besonders augenfällig, denn er ist in zweifacher Hinsicht eine Referenz jeglicher Zeit-Geschichte. Keiner der aktuellen Ansätze kommt um einen Verweis auf seine »Theorie historischer Zeiten« herum26. Obwohl Kosellecks Werk lange Zeit im Schatten seiner Bielefelder Kollegen stand, erlebte es spätestens mit seinem Tod eine ungeahnte Renaissance. Nimmt man etwa die in den vergangenen Jahren erschienenen Bücher François Hartogs, Hartmut Rosas, Lynn Hunts, Hans Ulrich Gumbrechts, Chris Lorenz’ und Berber Bevernages sowie Aleida Assmanns zur Hand, entsteht der Eindruck, Kosellecks Thesen würden aus einer Art Dornröschenschlaf wachgeküsst werden27. Koselleck erscheint jedenfalls als eine geradezu paradigmatische Figur des Übergangs. Durch seine wirkmächtige Theorie ragt er einerseits in unsere Gegenwart hinein; durch sein Festhalten etwa am Chronotopos der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« ist er andererseits ganz der gestrigen Welt verhaftet28. Kosellecks Werk ist jedenfalls als Quelle zu lesen, denn es ist Indikator aber eben auch Faktor des Zeitenwandels nach dem Boom29. 25 Siehe: URL: http://www.suhrkamp.de/buecher/acceleration-hartmut_rosa_29360.html? d_view=english, zuletzt eingesehen am 19.7.2016. 26 Zur »Theorie historischer Zeiten« siehe etwa: Reinhart Koselleck, Wozu noch Historie?, in: Ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, Berlin 2010, S. 32–51, S. 49. 27 Siehe: Hartog, Régimes d’historicité; Rosa, Beschleunigung; Lynn Hunt, Measuring Time, Making History, Budapest 2008; Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart; Ders., Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012; Chris Lorenz/Berber Bevernage (Hrsg.), Breaking up Time. Negotiating the Borders between Present, Past and Future, Göttingen 2013; Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?. 28 Vgl.: Koselleck, »Neuzeit«, S. 281; siehe hierzu auch den Beitrag von Chris Lorenz in diesem Band. 29 Für erste Ansätze zur Historisierung Kosellecks und zur Kontextualisierung seiner Theorie historischer Zeiten siehe: Hans Joas/Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt a. M. 2011; Niklas Olsen, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012; sowie Kari Palonen, Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei

Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom – Einführung

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Ende der 1960er Jahre, im Umfeld des Arbeitskreises für moderne Sozial­ geschichte und dann im Rahmen des Geschichtliche Grundbegriffe-Projekts begann Koselleck damit, die Zeitauffassung der »neuen Zeit« und das zugehörige Geschichtsdenken zu historisieren. Im Verlauf jener größtenteils im Zeichen der Modernisierungstheorie stehenden 1960er Jahre und im Windschatten der aufsteigenden Sozial- und Gesellschaftsgeschichte fragte Koselleck nicht zuletzt im Verbund mit den in der Gruppe Poetik und Hermeneutik versammelten Literaturwissenschaftlern und Philosophen nach der Geschichte und ihren formalen Zeitstrukturen30. Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit stellten gerade für die aus der phänomenologischen oder hermeneutischen Schule stammenden Philosophen – man denke insbesondere an Gadamer, aber auch an Löwith, zu denen Koselleck bereits in seiner Formationsphase intensiven Kontakt gehabt hatte – seit Langem ein drängendes, nicht zuletzt erkenntnistheoretisches Problem dar31. Sie waren nicht nur von Heideggers Sein und Zeit (1927) geprägt worden, einem Buch, dem auch Koselleck bedeutende Anstöße verdankte, sondern hatten ihrerseits ihre wissenschaftliche Sozialisation während der »Krise des Historismus« in der Zwischenkriegszeit erfahren32. Indem Koselleck damit begann, den Historismus zu historisieren, und mit seiner Begriffsgeschichte einen Ausweg aus den mit der Historizität von Erkenntnis verbundenen Schwierigkeiten entwarf, trat er deren Erbe an33. Es gibt also, wie stets in der Geschichtswissenschaft, auch tieferliegende, in ältere »Zeitschichten« hineinragende Wurzeln, die künftig a­ uszugraben wären. Daher wird abschließend angedeutet, inwieweit die Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erfolgten, sinnvoll unter dem Rubrum einer weiteren, naturgemäß anders gelagerten »Krise des Historismus« subsumiert werden können. Es spricht, wie es scheint, einiges dafür, eine Interpretation der zeitgenössischen Debatten um Postmoderne und Posthistoire als »Zeitpunkt der Wende« zu

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Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2003; siehe zudem das Tübinger Dissertationsprojekt Peter Tietzes: »Begriffe der Moderne. Begriffsgeschichte als methodische Innovation und Selbstreflexion 1920–1970«. Zur Historiographiegeschichte siehe etwa: Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005. Zur Gruppe Poe­ tik und Hermeneutik siehe das ihr gewidmete Sonderheft von Internationales Archiv für Sozial­geschichte der deutschen Literatur 35 (2010). Zu Kosellecks wissenschaftlichen Filiationen siehe: Olsen, History in the Plural, S. 17–29; sowie Reinhart Koselleck/Christof Dipper, Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper, in: NPL 43 (1998), S. 187–205. Zur »Krise des Historismus« siehe insbesondere: Otto Gerhard Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne, in: Ders. (Hrsg.), Krise des Historismus, Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880– 1932, Göttingen 2007, S. 11–116. Vgl. hierzu neuerdings: Ernst Müller/Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016.

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verstehen, in der – je nach Standpunkt – eine Genesung oder Verschlechterung des an der »historischen Krankheit« leidenden Patienten eintrat34. Koselleck gelang ein Brückenschlag, denn in seinen Schriften wurde – nebst dem Raum – die grundlegende historiographische Kategorie der Zeit nicht nur theoretisch reflektiert, sondern als genuiner historischer Gegenstand behandelt. Zeit wurde hier nicht mehr als apriorisches Faktum betrachtet, sondern als ein dem historischen Wandel unterworfenes Phänomen. Folgt man Kosellecks Verzeitlichungsthese, so reifte im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts im euroatlantischen intellektuellen und politischen Feld ein spezifisches Zeitverständ­ nis heran, das dann in der »Sattelzeit« zunehmend wirkmächtig und im Laufe des 19. Jahrhunderts erfahrungsgesättigt und massenwirksam wurde35. Seitdem werde Zeit vornehmlich linear gedacht, als »homogen« und »leer« konzipiert und als ein offener, vom Wirken metaphysischer Kräfte bereinigter, menschlicher Handlungsraum verstanden36. Die Zukunft sei nicht mehr in einem Ende vorherbestimmt, sondern offen, und der »Erwartungshorizont« entferne sich zunehmend vom »Erfahrungsraum«37.

34 Zum Begriff der Krise: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf/Per Leo, Einleitung. Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik, in: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hrsg.), Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 2005, S. 9–41, hier S. 12–15. Mit der »historischen Krankheit« ist selbstverständlich die nächste rele­vante Zeitschicht angesprochen, siehe: Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Ders., Kritische Studienausgabe Bd. 1. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999, S. 243–334. 35 Siehe etwa: Koselleck, »Neuzeit«; Reinhart Koselleck/Christian Meier, Fortschritt, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. II, E–G, Stuttgart 1979, S. 351–423; Reinhart Koselleck u. a., Geschichte, Historie, in: Ebd., S. 593–717; Ders., Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Reinhart Herzog/ Ders. (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987, S.  269–282. Neuer­dings ist dafür plädiert worden, hinsichtlich Kosellecks Verzeitlichungsthese den Blick stärker auf die Frühe Neuzeit zu richten, hätten sich doch entscheidende Transformationen des Zeitbewusstseins nicht erst während der »Sattelzeit« ereignet. Siehe: Landwehr, Geburt der Gegenwart; Ders., Alte Zeiten, Neue Zeiten; Jan Marco Sawilla, Geschichte und Geschichten zwischen Providenz und Machbarkeit. Überlegungen zu Reinhart Kosellecks Semantik historischer Zeiten, in: Joas/Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte, S. 387–422; Stefanie Stockhorst, Novus ordo temporum. Reinhart Kosellecks These von der Verzeit­ lichung des Geschichtsbewusstseins durch die Aufklärungshistoriographie in methodenkritischer Perspektive, in: Ebd., S. 359–386. 36 Zur homogenen und leeren Zeit siehe: Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I,2, hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, S. 691–704, hier S. 702. 37 Reinhart Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«  – zwei historische Kategorien, in: Ulrich Engelhardt/Volker Sellin/Horst Stuke (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, Stuttgart 1976, S. 13–33; und dann in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 349–375.

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Kosellecks Thesen galten der »Sattelzeit«, doch es ist allzu verlockend, seine Hinterfragung des Historismus und der korrelierenden »modernen« Geschichtszeit als Reflex seiner Gegenwart zu verstehen und ihn daher eben als Indikator eines sich ereignenden Zeitenwandels zu lesen. Das drängendste Desiderat, das die wachsende Schar an Koselleck-Exegeten, die seinen Marbacher Nachlass durchforstet, einzulösen hat, ist es, das Verhältnis näher zu beleuchten, das zwischen Kosellecks Theorie historischer Zeiten, den zeitgenössischen Denkkollektiven, wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten und den außerwissenschaftlichen politischen, sozialen und kulturellen ›Wirklichkeiten‹ bestand. Es scheint immerhin naheliegend, Charles Maiers territoriality-These auch auf Zeitlichkeit zu übertragen: »The contemporary dissolution of a structural order allows researchers to glimpse trends formerly so ubiquitous they had not been perceived as issues for historical investigation.«38 Da zahlreichen Zeitgenossen die geschichtliche Zukunft vielfach bedrohlich und ungewiss, die Vergangenheit unheilvoll, schuldbeladen und zunehmend präsent, die Gegenwart beschleunigt und schrumpfend schien, wurde ihnen die Zeit immer fragwürdiger – sprich, es setzte eine verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Zeit ein39. An diesem »moderne[n] Partisan jener ›vielen Geschichten im Plural […]‹«, so Jacob Taubes über Koselleck40, wird jedenfalls die seltsame Verwandtschafts­ beziehung offenbar, die oben angedeutet wurde: Die Schriften Kosellecks sind zu historisierende Quellen, die in jener Epoche der Transformation entstanden, und sie bilden zugleich den Ausgangspunkt des eigenen Fragens nach der Zeit. Eine ähnliche Zwitterstellung haben die Zeitanalysen der benachbarten Sozialwissenschaften inne, deren Einfluss auf die aktuelle Konjunktur der ZeitGeschichte gleichfalls maßgeblich ist. Ein kursorischer Blick auf einige dieser Protagonisten mag die Verwandtschaftsbeziehung zumindest etwas erhellen.

38 Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: AHR 105 (2000), S. 807–831, hier S. 809. 39 Siehe hierzu: Fernando Esposito, Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/ Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S.  393–423; Steffen Henne, Das Ende der Welt als Beginn einer neuen Zeit. Zur Formierung der temporalen Ordnung unserer Gegenwart in den 1980er Jahren, in: Leendertz/Meteling (Hrsg.), Die Neue Wirklichkeit, S. 155–188. 40 Jacob Taubes, Geschichtsphilosophie und Historik. Bemerkungen zu Kosellecks Programm einer neuen Historik, in: Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Geschichte  – Ereignis  – Erzählung, München 1973, S.  490–499, hier S.  493; vgl. hierzu: Niklas Olsen, History in the Plural, S. 303. Dort konstatiert Olsen, dass das Ziel von Kosellecks Programm »deconstructing all utopian and relativist notions of history in the singular with a view to a notion of history in the plural« gewesen sei.

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Pluralisierung, reflexive Temporalisierung und Beschleunigung in den Sozialwissenschaften

In seinem 1983 veröffentlichten Literaturüberblick bemerkte der Hamburger Soziologe Werner Bergmann, dass allerorts zwar »die Vernachlässigung und die Marginalität des Zeitproblems« beklagt werde, dass bei genauerem Hinsehen aber »ein ständiges Anwachsen der Zeit-Literatur mit einem regelrechten ›Boom‹ in den letzten zwei, drei Jahren« festzustellen sei41. Obwohl die Kategorie Zeit stets eine gewisse wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfuhr, so lässt sich der von Bergmann, aber etwa auch von Barbara Adam und Helga Nowotny bestätigte Aufschwung sozialwissenschaftlicher Arbeiten zu Zeit in den 1970er und 1980er Jahren durchaus im Sinne Maiers verstehen: Die Fragwürdigkeit von Zeitlichkeit gründete in der Wahrnehmung einer Transformation der temporalen Ordnung42. Im Folgenden interessieren weniger die zahlreichen empirischen Studien zu Arbeits- und Freizeit, zur Zeit der Frauen, der Arbeitslosen und der Organisationen, als vielmehr jene Werke und Autoren, deren Rolle als Vorläufer und Impulsgeber der heutigen Zeit-Geschichte offengelegt werden muss, will man deren Einfluss nicht unüberlegt erliegen. Wo zeigten sich also in den Sozialwissenschaften der vergangenen vier Jahrzehnte Tendenzen zur Historisierung beziehungsweise zur reflexiven Temporalisierung und Pluralisierung von Zeit? Und welche Kontinuitätslinien führen von den Beschleunigungsdiagnosen der 1970er und 1980er Jahre zu den aktuellen Klagen über Zeitnot? Lohnend scheint etwa ein Blick auf Niklas Luhmann, dessen intellektuelle Anhängerschaft seit dem Erscheinen von Theorie der Gesellschaft oder Sozial­ technologie 1971 stetig wuchs und auch heute noch zahlreich ist43. Schon 1968 hatte er in der Zeitschrift Die Verwaltung den Artikel Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten veröffentlicht. Bedeutsamer scheinen

41 Werner Bergmann, Das Problem der Zeit in der Soziologie. Ein Literaturüberblick zum Stand der »zeitsoziologischen« Theorie und Forschung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 35 (1983), S. 462–504, hier S. 462. 42 Siehe: Barbara Adam, Time and Social Theory, Cambridge 1990, S.  13–16; Helga Nowotny, Time and Social Theory. Towards a Social Theory of Time, in: Time & Society 1 (1992), S. 421–454. Dort (S. 423) findet sich der Befund eines wachsenden Interesses an Zeitlichkeit bestätigt: »When delving into the literature one encounters a seeming paradoxon: r­ ecurrent complaints about the ›neglect‹ of time in social theory or of ›not taking time ­seriously‹ are to be compared with the continuously growing literature on the subject. J. T. Fraser […] has estimated that, of the more than 800 citations found in ›A Report on the L ­ iterature of Time, 1900–1980‹, the part 1966–80 contains two thirds of the entries, the part 1900–66 one-third (personal communication): Anyone who has worked, even for a short period, in the area of time very soon comes to realize that the literature is booming, also in the social sciences.« 43 Zum aufgehenden Stern Luhmann siehe: Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, 1960–1990, München 2015.

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indes die Beiträge Weltzeit und Systemgeschichte (1973), The Future Cannot Begin (1976) sowie Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeit­ licher Zeitbegriffe (1980)44. Angesichts der Vielschichtigkeit des Luhmann’schen­ Œuvres kann es hier nicht darum gehen, den Stellenwert von Zeit und Kontingenz in seiner Systemtheorie herauszupräparieren45. Es gilt vielmehr, auf die Impulse aufmerksam zu machen, die von ihm für die Zeit-Geschichte ausgingen. In Weltzeit und Systemgeschichte findet man jedenfalls den Ansatz zu einer Theorie historischer Zeiten, die auch seinen Bielefelder Kollegen Koselleck beschäftigte46. Auch Luhmann fragt hier nach dem »Zeitpunkt und den Gründen der Entstehung historisierter Zeit«. Lakonisch heißt es dazu: Es ist plausibel, wenngleich schwer zu belegen, daß der Übergang von primär politischer zu primär ökonomischer Gesellschaftsevolution eine Umstellung der zeitlichen Primärorientierung vom Horizont der Vergangenheit auf den Horizont der Zukunft mit sich gebracht und dadurch zunächst die Futurisierung, dann die Historisierung der Zeit ausgelöst hat. Der Nachweis ist nicht unser Thema.47

Die von Luhmann in diesem Aufsatz behandelte »reflexive Temporalisierung«, die »Suche nach reflexiven Metaperspektiven« deutet auf die selbstreflexive Wendung hin, welche den Zeitlichkeits- und Geschichtlichkeitsdiskurs nach dem Boom kennzeichnet. Hier lässt sich jedenfalls ein, bei Luhmann an sich wenig verwunderlicher, Aufbau von Komplexität im Nachdenken über Zeit be-

44 Siehe: Niklas Luhmann, Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten, in: Die Verwaltung 1 (1968), S. 3–30; Ders., Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Wiesbaden 4 1991 [Original 1973], S. 103–133; Ders., The Future Cannot Begin. Temporal Structures in Modern Society, in: Social Research 43 (1976), S. 130–152; auf deutsch 1990 erschienen als: Ders., Die Zukunft kann nicht beginnen. Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft, in: Peter Sloterdijk (Hrsg.), Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1990, S. 119–150; sowie das Kapitel 4: Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeitlicher Begriffe, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 235–300. 45 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Achim Landwehr in diesem Band sowie etwa Elena­ Esposito, Die Konstruktion von Zeit in der zeitlosen Gegenwart, in: Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte 10 (2007), ­S. 27– 36; Hans Ulrich Gumbrecht, How is Our Future Contingent? Reading Luhmann Against Luhmann, in: Theory, Culture & Society 18 (2001), S. 49–58. 46 Erstmals abgedruckt wurde Weltzeit und Systemgeschichte in einem Sonderheft der­ Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, in dem sich zudem Beiträge Kosellecks sowie Hans-Ulrich Wehlers befanden und das dem Verhältnis von Soziologie und Sozialgeschichte gewidmet war. Siehe: Peter Christian Ludz (Hrsg.), Soziologie und So­zialgeschichte. Aspekte und Probleme, Opladen 1973. 47 Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte, S.  115. Dort (S.  115 f.) auch die folgenden­ Zitate.

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obachten. Damit in Einklang steht auch die Vervielfältigung von Zeit, die in­ Luhmanns Texten ihren Niederschlag findet. Ganz lapidar heißt es etwa in Die Zukunft kann nicht beginnen: Die Auffassung, dass Zeit ein Aspekt der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit sei, ist mittlerweile verbreitet. Sie nimmt an, dass es mehrere Zeiten, eine Pluralität von Temporalgestalten oder sozialen Zeiten gibt.48

In der sich in den 1970er Jahren anbahnenden Differenzierung der Zeit liegen, wie oben bereits angedeutet, die Wurzeln des aktuellen Verständnisses gesellschaftlicher »Pluritemporalität«49. Auch unser mal mehr, mal minder ausgeprägtes sozialkonstruktivistisches Verständnis von Zeit gründet in jenen Jahren nach dem Erscheinen von Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirk­ lichkeit50. Dass zu Beginn der Zeit nach dem Boom die Auffassung, Zeit sei sozial konstruiert, indes keineswegs so weitverbreitet war, wie es Luhmann oben nahelegt, bestätigt ein Blick in Norbert Elias’ in Teilen zunächst 1974 in der niederländischen Zeitschrift De Gids, sodann im Merkur 1982 und schließlich bei Suhrkamp 1988 veröffentlichte Beiträge Über die Zeit. Elias fühlte sich bemüßigt, der gebildeten, ja professoralen Leserschaft des Merkur erst einmal zu erläutern, dass die kantianische Annahme von Zeit als »Synthese apriori« und als »Nicht-­Erlernte[s] und Unveränderliche[s] […] nicht haltbar« sei.51 Auch in 48 Niklas Luhmann, Die Zukunft kann nicht beginnen, S. 123 [Hervorh. im Or.]. Künftig wäre näher zu prüfen, inwieweit ein Analogon zu dem von Hartog konstatierten »Präsentismus« hier ein epistemologisches Fundament erhält. So heißt es (S. 128 f.) etwa: »die Zukunft wie auch die Vergangenheit [sind] als Zeithorizonte der Gegenwart zu begreifen. Der Gegenwart kommt dann in ihrer Funktion, Zeit und Realität zu integrieren und eine Mehrzahl von constraints für die temporale Integration von Zukunft und Vergangenheit zu verkörpern, ein besonderer Status zu. Dieses konzeptuelle Neuarrangement zwingt dazu, genauer zu formulieren, was es bedeutet, die Zukunft als Zeithorizont der Gegenwart zu begreifen. Die wichtigste Folgerung wird durch den Titel dieses Aufsatzes signalisiert: Die Zukunft kann nicht beginnen. Tatsächlich ist die wesentliche Eigenschaft eines Horizontes, dass wir ihn niemals berühren können, ihn nie erreichen, ihn auch niemals überschreiten können, dass er aber dennoch zur Definition der Situation beiträgt. Jede Bewegung und jede Denkoperation verschiebt den leitenden Horizont nur, ohne ihn je zu erreichen.« Dass ein solcherart konzipiertes Zeitverständnis Folgen für Geschichts­ teleologien und Utopien zeitigen würde, ist naheliegend. 49 Zur Pluritemporalität siehe: Landwehr, Geburt der Gegenwart; sowie ders., Alte Zeiten, Neue Zeiten. Fahndet man auch hier nach älteren Vorläufern stößt man sogleich auf den wegweisenden Aufsatz Pitirim Sorokins und Robert K. Mertons aus dem Jahr 1937: Social Time. A Methodological and Functional Analysis, in: American Journal of Sociology 42 (1937), S. 615–629. Dort (S. 619) heißt es beispielsweise: »Each group, with its intimate­ nexus of a common and mutually understood rhythm of social activities, sets its time to fit the round of its behavior.« 50 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1969 [Original New York 1966]. 51 Norbert Elias, Über die Zeit, in: Merkur 36 (1982), S. 841–856, hier S. 841.

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seinem zweiten Zeit-Beitrag im Merkur plädiert Elias, der zwischen 1978 und 1984 am Biele­felder Zentrum für Interdisziplinäre Forschung tätig war, für eine kritische Überprüfung »selbstverständlicher Axiome« und des tradierten »Mobiliar[s] des Denkens«52. Elias’ Anliegen besteht in einer Suche nach »neuen Orientierungsmittel[n] […], die schal gewordene Axiome der alten Tradition zu überwinden vermögen«. Die Begriffe »Raum« und »Zeit«, so heißt es dort, seien »wie andere menschengeschaffene Symbole […] nicht einfach da – ein für allemal. Sie sind immer im Fluß, immer geworden, was sie sind, und immer im Werden.« Die Frage nach der Historizität von Zeit, nach ihrer Veränderung stand auch im Mittelpunkt von Helga Nowotnys 1989 veröffentlichtem Essay Eigen­ zeit. Auch hier wurde das Nebeneinander, die Vielfalt von »Eigenzeiten« und sozia­len Zeiten betont. Vor allem aber wurde in dieser kritischen Gegenwartsdiagnose das »Recht[ ] auf eigene Entwicklungsgeschwindigkeit«, auf »Zeitsouveränität« eingefordert, das nun angesichts technologisch ermöglichter Gleichzeitigkeit und Beschleunigung verloren zu gehen drohe53. Bei Nowotny finden sich zahlreiche Stichworte und Phänomene versammelt, welche die Debatten auch der folgen­den Jahre bestimmen sollten: Stress und Hetze, die Gefahren, die von den neuen Kommunikations- und Produktionstechnologien ausgingen54, »Flexibilisierung« und »erstreckte Gegenwart«. In dem Vierteljahrhundert, das Nowotnys Diagnose von uns trennt, sollten aus den Nachbardisziplinen zahlreiche weitere Gegenwartsdiagnosen folgen, in denen der Faktor Zeitenwandel von großer Bedeutung war. So konstatierte etwa der Geograph David Harvey 1989, dass die vorangegangenen beiden Jahrzehnte durch eine einschneidende Phase der Zeit-Raum-Kompression gekennzeichnet gewesen seien, welche die bisherige politische und ökonomische Praxis, das kulturelle und soziale Leben unterminiert habe. Nie sei das von Marx und Engels konstatierte Verdampfen alles Ständischen und Stehenden, die Kurzlebigkeit allgegenwärtiger gewesen55. Nicht zuletzt von Harvey ausgehend, sprachen Scott Lash und John Urry 1994 davon, dass sich beim Übergang zum »disorganized capitalism« eine zweifache Transformation von Zeit vollziehe: 52 Norbert Elias, Über die Zeit II, in: Merkur 36 (1982), S. 998–1016, hier S. 999. Dort (S. 999, 1014) auch die folgenden Zitate. Spätestens jetzt drängt sich natürlich die Frage auf, ob es auch ein weiteres Bielefelder Denkkollektiv gegeben hat und inwieweit sich Koselleck, Luhmann und Elias gegenseitig befruchteten. 53 Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a. M. 1993, S. 35, 111. 54 Barbara Adam brachte 1990 den qualitativen Sprung, den der Computer ermöglicht habe, auf den Punkt: »If telephones, telex and fax machines have reduced the response time from months, weeks and days to seconds, the computer has contracted them down to nano­seconds. The time-frame of a computer relates to event times of a billionth of a second.« Adam, Time and Social Theory, S. 140. 55 David Harvey, The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Cambridge 1990 [Original 1989], S. 284–307; vgl. hierzu auch: Marshall Berman, All That is Solid Melts Into Air, New York 1982.

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Während »clock-time« und die Konflikte um dieselbe im Zentrum der Mo­ derne gestanden hätten, wäre nun »the realization of an immensely long, imperceptibly changing, evolutionary or glacial time; and of a time so brief, so instantaneous that it cannot be experienced or observed« zu beobachten56. In Manuel Castells’ zwischen 1996 und 1998 erschienener monumentaler Trilogie über den Aufstieg der Informations- beziehungsweise Netzwerkgesellschaft wurde dem Zeitenwandel ebenfalls erhebliche Bedeutung zugesprochen. Ein neues Zeitregime habe die Entwicklung der neuen Kommunikationstechnologien begleitet57. Die »lineare, irreversible, messbare, voraussehbare« Uhrenzeit, die dem industriellen Kapitalismus und Etatismus zugrunde gelegen habe, würde in der Netzwerkgesellschaft erschüttert. Castells subsumiert die von ihm beobachtete vielfältige Transformation der Zeitlichkeit unter dem Terminus »timeless time«. Die Wahrnehmung einer zeitlosen Zeit resultiere aus der durch die neuen Kommunikationstechnologien ermöglichten kapitalistischen Beschleunigung, sei aber auch ein Ergebnis der Veränderung der Arbeitszeit durch »flex-time« und »part-time«58. Die Heterogenisierung der Arbeitszeiten hätte nicht nur eine Desintegration des Familienlebens zur Folge, vielmehr sei die »zeitlose Zeit« im Allgemeinen durch eine »soziale Arrhythmie« gekennzeichnet, die von diversen Prozessen befördert würde: die Verkürzung der Lebensarbeitszeit, die Verlängerung des Lebens, die Verdrängung des Todes und des Krieges, die Überwindung biologischer Beschränkungen. »Timeless time« werde dann zur dominanten Zeitlichkeit, wenn the informational paradigm and the network society, induce systemic perturbation in the sequential order of phenomena performed in that context. This perturbation may take the form of compressing the occurrence of phenomena, aiming at instantaneity, or else by introducing random discontinuity in the sequence. Elimination of sequencing creates undifferentiated time, which is tantamount to eternity.

Schließlich konstatierte Hartmut Rosa 2005: Der in den Siebzigerjahren des 20.  Jahrhunderts beginnende, aber erst in der digitalen und politischen Revolution um 1989 kulminierende spätmoderne Beschleunigungsschub […] erodierte […] einerseits das institutionelle Grundarrangement der ›klassischen‹ Moderne und transformierte erneut das vorherrschende Raum-ZeitRegime, bewirkte aber andererseits eben dadurch einen fundamentalen Wandel in der individuellen wie der kollektiven Zeiterfahrung und zugleich in der Struktur der personalen Identitäten und des politischen Selbstverhältnisses. Die erstgenann56 Scott Lash/John Urry, Economies of Signs and Space, London 2002 [Original 1994], S. 242. 57 Vgl. Hierzu: Manuel Castells, The Information Age. Economy, Society and Culture, Bd. I: The Rise of the Network Society, Cambridge 1996, S. 460. Dort (S. 463, 494) auch die folgenden Zitate. 58 Siehe hierzu auch: Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998.

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ten Veränderungen werden dabei im zeitgenössischen Vokabular der Gegenwart zumeist unter dem Stichwort der ›Globalisierung‹ zusammengefasst. Neu ist an ihnen […] nicht die globale Ausdehnung von Transaktionsprozessen vielfältiger Art, sondern die Geschwindigkeit, mit der sie sich vollziehen. Diese transformiert den ›klassisch-modernen‹ Raum stabiler Orte tendenziell in einen spätmodernen Raum dyna­ mischer Ströme und ersetzt die lineare und sequentielle Zeitordnung durch eine neue Form der durch ubiquitäre Gleichzeitigkeit definierten ›zeitlosen‹ und zugleich radikal ›verzeitlichten‹ Zeit.59

Es lohnt, Hartmut Rosa ausführlich zu zitieren, denn mit Rosa schließt sich jener zu Beginn dieses Abschnitts eröffnete Kreis beziehungsweise es lässt sich ein vorläufiger Endpunkt der skizzierten Kontinuitätslinie setzen. Das ist zum einen der Fall, weil Koselleck einer von Rosas wichtigsten Gewährsmännern darstellt. Koselleck hatte in einem 1985 teilweise abgedruckten und auf einen Vortrag im Jahr 1976 zurückgehenden Beitrag Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? gezeigt, dass der aus der Apokalyptik abgeleitete Topos der Beschleunigung der Deutung eines denaturalisierten Zeiterlebens und der Moderne beziehungsweise des Prozesses der Modernisierung diente. Der säkularisierte Beschleunigungsbegriff stellte seit der Sattelzeit gewissermaßen einen basso continuo der Aus­einandersetzung mit und der Selbstthematisierung der Moderne dar: Modern […] ist jene Veränderung, die eine neue Zeiterfahrung hervorruft: dass sich nämlich alles schneller ändert, als man bisher erwarten konnte oder früher erfahren hatte. Es kommt durch die kürzeren Zeitspannen eine Unbekanntheitskomponente in den Alltag der Betroffenen, die aus keiner bisherigen Erfahrung ableitbar ist: das zeichnet die Erfahrung der Beschleunigung aus.60

Rosa knüpfte hieran an und diagnostizierte für den »Übergang zur Spät­ moderne« eine qualitative Steigerung dieser der Moderne von Anfang an inhärenten Tendenz zur »fortwährende[n] Umwälzung«61. In Rosas Habilitationsschrift mündeten zudem zahlreiche jener sozialwissenschaftlichen Studien zu 59 Hartmut Rosa, Beschleunigung, S. 476 f.; siehe zudem: Ders., Beschleunigung und Entfremdung. Auf dem Weg zu einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin 2013; ders./William E. Scheuerman (Hrsg.), High-Speed Society. Social Acceleration, Power, and Modernity, University Park 2008. 60 Reinhart Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003 [Original 1976/1985], S.  150–176, hier S. 164; siehe auch: Ders., Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation, in: Ebd., S. 177–202. 61 Rosa, Beschleunigung, S. 16; sowie Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommu­ nistischen Partei, in: Dies., Werke, Bd. 4, Berlin 61972, S. 459–493, hier S. 465. Zur Beschleunigung als Topos der Moderne siehe zudem: Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt a. M. 2004; Peter Conrad, Modern Times, Modern Places, London 1998; Wolfgang Kaschuba, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt a. M. 2004.

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Zeit, die seit den 1970er und 1980er Jahren um die Normierung von Zeit, um Zeit als Ware und knapper Ressource kreisten. Jene Konflikte, die E. P. Thompson in seinem Klassiker Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism aus dem Jahr 1967 geschildert62, und die Richard Sennett mit dem Begriff der »Flexibilisierung« in die Ära des »neuen Kapitalismus« übertragen hatte, wurden hier unter dem Beschleunigungstopos subsumiert63. Angesichts der quasi zyklischen Wiederkehr der kulturkritischen Akzelerationsdiagnose ist man geneigt, dem Bonmot des Geographen Mike Crang zuzustimmen: »Acceleration is in some ways old news.«64 Mit Koselleck ließe sich möglicherweise gar argumentieren, dass die Rekurrenz der Beschleunigungsformel, eine Art Wieder­ holungsstruktur bildet, vor deren Hintergrund sich die Einmaligkeit der zeitgenössischen Zeit­dia­gnosen Postmoderne und Posthistoire erst abzeichnet. Daher gilt dem Wandel der semantischen Felder, aus denen sie hervorgingen, im Folgenden unsere Aufmerksamkeit. Dieser Parforceritt durch die Zeitforschung der vergangenen Jahrzehnte diente jedenfalls der Offenlegung der engen Verwandtschaft zwischen Fragendem, Frage und Befragtem. Mehr kann, so scheint es, zur Lösung des »Ineinanderspiel[s] der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten« vorerst nicht geleistet werden65. Bevor sich diese Einführung den Entstehungskontexten der Chronotopoi »Postmoderne« und »Posthistoire« zuwendet, gilt es, kurz einige Begrifflichkeiten und damit auch das zugrunde liegende Zeitverständnis sowie den in den Blick geratenden Zeitlichkeitshorizont zu klären.

Geschichtliche Zeitlichkeit – eine rudimentäre Begriffsklärung Beredte Teile der deutschen Gesellschaft, die im Dialog mit anderen westlichen Gegenwartsdiagnostikern standen, »zeitigten« sich nach dem Boom unter anderem mittels der Chronotopoi Postmoderne und Posthistoire. Das heißt, sie brachten damit den zentralen gesellschaftlich relevanten Zeithorizont zum Ausdruck und lokalisierten das Kollektiv – sei es die Menschheit, den Westen, die Nation, das Proletariat etc. – in der Geschichte. Sie konstituierten also ge62 Edward P. Thompson, Time, Work-Discipline, and Industrial Capitalism, in: Past &­ Present 38 (1967), S. 56–97. 63 Siehe: Sennett, Der flexible Mensch; zur Flexibilisierung siehe auch: Dietmar Süß, Der Sieg der grauen Herren? Flexibilisierung und der Kampf um Zeit in den 1970er und 1980er Jahren, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 109–127. 64 Mike Crang, The Calculus of Speed. Accelerated Worlds, Worlds of Acceleration, in: Time and Society 19 (2010), S. 404–410, hier S. 404; vgl. hierzu auch: Geppert/Kössler, Zeit-­Geschichte als Aufgabe, S. 27. 65 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Ders., Gesammelte Werke Bd. 1. Hermeneutik I, Tübingen 1999 [Original 1960], S. 298.

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schichtliche Zeitlichkeit. Nun mag man sich angesichts der Begriffe »Chronotopos«, »zeitigen« und »Zeitlichkeit« zu Recht fragen, ob es denn wirklich solcher Wortungetüme bedarf, um über den Wandel von Zeit zu sprechen. Wird damit nicht der Zugang zu einem ohnehin abstrakten historischen Gegenstand zusätzlich erschwert? Obwohl diesem Einwand schwerlich eine gewisse Berechtigung abgesprochen werden kann, würde dabei verkannt, dass diese B ­ egriffe helfen, das geläufige Verständnis von Zeit zu durchkreuzen. Und diese Irritation ist notwendig, denn mit der Rede von der Zeit ist meist ausschließlich die Vorstellung einer jenseits menschlichen Zutuns existierenden, homogenen physikalischen Größe, einer gemeinsam mit dem Raum zu denkenden Dimension verbunden. Zeit, so die geläufige Vorstellung, ist dasjenige, was von Uhren angezeigt und gemessen wird, dasjenige Medium, in dem historische Ereignisse statthaben und in dem sie durch die Angabe einer Jahreszahl, eines Monats und eines Tages l­okalisiert werden können66. Doch wenn hier dem Begriff der Zeitlichkeit der Vorzug g­ egeben wird, dann deswegen, weil wir uns nicht auf die Uhren- und Kalenderzeit beschränken können. Denn »die Zeit der Uhren und Kalender« ist, so Barbara Adam, »nur eine von vielen Zeiten«67. Aufgrund dieser Medien, die dazu dienen, Zeit zu veranschaulichen beziehungsweise dieser technischen Hilfsmittel, die der Standardisierung, Relationierung und Koordination von Bewegung, sprich der Synchronisation dienen, begreifen wir die »Kunstform der Zeitordnung schließlich als Naturform«68. Das heißt Uhren und Kalender verleiten dazu, »dass das die Zeit wahrnehmende Subjekt die Zeit […] als ein Äußeres wahrnimmt, dabei aber in seiner Konstitution selbst zeitlich ist.«69 Man mag also angesichts des Heideggerismus »zeitigen«  – Norbert Elias spricht von »zeiten« – zwar den Kopf schütteln, aber er deutet an, dass die Zeit nicht etwas ist, was »da draußen« ist, sondern dass wir diese vielmehr selbst hervorbringen. Die möglicherweise befremdliche Terminologie dient also dazu, darauf aufmerksam zu machen, dass »Zeit nicht nur ein Medium ist, in dem man sich bewegt, sondern dass man auch ihr Koproduzent ist.«70 Man muss also nicht zum Heideggerianer werden – das ist allerspätestens seit dem Erscheinen der Schwarzen Hefte ohnehin problematisch  –, um dem Begriff der Zeitlich66 Siehe hierzu und zum Folgenden etwa: Landwehr, Die Geburt der Gegenwart, S. 30–34; Lucian Hölscher, Time Gardens. Historical Concepts in Modern Historiography, in: History and Theory 53 (2014), S. 577–591; siehe hierzu auch den Beitrag von Chris Lorenz in diesem Band. 67 Barbara Adam, Das Diktat der Uhr. Zeitformen, Zeitkonflikte, Zeitperspektiven, Frankfurt a. M. 2005, S. 30. 68 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 2001, S.  151; vgl. hierzu: Landwehr, Geburt der Gegenwart, S. 31–34. 69 Armin Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag »Gegenwarten«, Wiesbaden 2008, S. 40. 70 Rüdiger Safranski, Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 2015, S. 39; vgl. hierzu Elias, Über die Zeit, S. 8 f.

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keit etwas abgewinnen zu können71. Es genügt die Einsicht, dass sich das Verhältnis des Menschen zur Zeit nicht darin erschöpft, sich gleich anderen Objekten darin wie in einem leeren Behälter zu bewegen. Der Begriff der Zeitlichkeit wird hier also bevorzugt, weil er anzeigt, dass Zeit stets individuell produziert wird und zwar vor dem Hintergrund der in einem »gesellschaftlichen Wissensvorrat« vorhandenen und sich – mal mehr, mal weniger intensiv – wandelnden »vergesellschafteten Zeitkategorien«72. Zeitlichkeit ist, so Helga Nowotny, ein »zutiefst kollektiv gestaltete[s] und geprägte[s] symbolische[s] Produkt menschlicher Koordination und Bedeutungszuschreibung«73. Dieser Prozess kollektiver Gestaltung wie auch dessen »Konstrukt« Zeitlichkeit ist naturgemäß selbst dem Wandel unterworfen. Da Zeitlichkeit seit der Aufklärung auf das historistische Konzept der Geschichte verweist und vice versa, ist hier die Rede von geschichtlicher Zeitlichkeit. Diese historisch spezifische Ausformung des Zeit- und Geschichtsverständnisses trat an die Stelle beziehungsweise an die Seite einer heilsgeschichtlichen Sakralzeit und stellte deren – folgt man etwa Löwith – nur bedingt »säkularisiertes« Pendant dar74. Neben dem religiös-kosmologischen Zeithorizont trat ein geschichtsphilosophischer, der durch die Historisierung der Erde und der Natur die Kosmologie ebenfalls abdeckte75. Diese als »Gottersatz« fungierende Geschichte wurde in den Debatten, die um Moderne und Postmoderne und Geschichte und Posthistoire geführt wurden, hinterfragt, untermauert, transformiert, sprich verhandelt76. Daher scheint es sinnvoll, die Gegenwartsdiagnosen Postmoderne und Posthistoire, deren Werden hier nachgegangen wird, als 71 Dass zwischen dem menschlichen Dasein und der Zeit eine grundlegende Beziehung besteht, sprich dass Zeitlichkeit »der Sinn des Seins desjenigen Seienden, das wir Dasein nennen«, ist, ist tragender Gedanke von Heideggers Sein und Zeit: Sein und Zeit, S. 17. Siehe dazu etwa: Inga Römer, Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, Dordrecht u. a. 2010; William Blattner, Temporality, in: Hubert L. Dreyfus/Mark A. Wrathall (Hrsg.), A Companion to Heidegger, Malden 2005, S. 311–324; Piotr Hoffman, Dasein and »Its« Time, in: Ebd., S. 325–334. 72 Thomas Luckmann, Gelebte Zeiten – und deren Überschneidungen im Tages- und Lebenslauf, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 283–304. Es gibt darüber hinaus noch eine individuelle, innere, verkörperte Zeit der Bewusstseinsströme etwa, die an dieser Stelle nicht zu interessieren braucht. 73 Nowotny, Eigenzeit, S. 9. 74 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 2004 [Original Chicago 1949]. 75 Vgl. hierzu etwa: Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1976; Stephen Jay Gould, Time’s Arrow, Time’s Cycle. Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time, Cambridge 91996; Roy Porter, The Making of Geology. Earth­ Science in Britain, 1660–1815, Cambridge 2008 [Original 1977]; Martin J. S.  Rudwick, Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution, Chicago 2005. 76 Siehe: Landwehr, Die anwesende Abwesenheit, S. 10 f.

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Chronotopoi zu fassen. Ein Chronotopos wird hier nicht im Bachtin’schen Sinn einer Raum-Zeit-Konfiguration verstanden, sondern als ein Gemeinplatz, ein Deutungsmuster oder eine Ordnungsvorstellung, mittels derer sich Gesellschaften eben zeitigen, sprich ihre Zeitlichkeit auf den Begriff bringen und die vergesellschafteten Zeitkategorien reproduzieren und verändern. John Bender und David Wellberry zufolge handelt es sich bei einem Chronotopos um […] models or patterns through which time assumes practical or conceptual signi­f i­ cance. Time is not given but […] fabricated in an ongoing process. Chronotypes are themselves temporal and plural, constantly being made and remade at multiple in­ dividual, social, and cultural levels. They interact with one another, sometimes co­ operatively, sometimes conflictually. They change over time and therefore have a history or histories, the construal of which itself is an act of temporal construction. […] Chronotypes are not produced ex nihilo; they are improvised from an already existing repertoire of cultural forms and natural phenomena.77

Mit diesem begrifflichen Rüstzeug ausgestattet, ist es nun möglich, sich dem Wandel des »existing repertoire« zu widmen und danach zu fragen, von welcher Moderne und von welcher Geschichte die Chronotopoi Postmoderne und Posthistoire eine Abkehr anzeigen und welches Verständnis geschichtlicher Zeitlichkeit sich darin niederschlug.

Postmoderne, Posthistoire und der Wandel geschichtlicher Zeitlichkeit Dass die Debatten um Postmoderne und Posthistoire vornehmlich von Intellek­ tuellen geführt und von gebildeten Eliten rezipiert wurden, ist unbestritten. Welche Relevanz weisen diese Chronotopoi dann aber überhaupt auf, wenn sie doch nur in einer sehr schmalen belesenen Schicht der Bevölkerung kursierten? Ist eine Auseinandersetzung mit diesen Begriffen und der »Höhenkammliteratur«, in denen sie verhandelt wurden, nur von geistesgeschichtlichem Interesse oder wird damit auch etwas über die Gesellschaft, der diese Intelligenz angehörte, ausgesagt? Intellektuelle lassen sich als prominentere, mit zahlreicheren Sprachrohren ausgestattete Sprecher in einem breiteren Diskurs betrachten, deren Aufgabe es ja gerade ist, neue gesellschaftliche Entwicklungen wahrzunehmen, auf den Begriff zu bringen und damit Sinn zu schaffen und zu vermitteln78. Als Gegen77 John Bender/David Wellbery, Introduction, in: Dies. (Hrsg.), Chronotypes. The Construction of Time, Stanford 1991, S. 1–15, S. 4; vgl. dazu: Michail M. Bachtin, Chronotopos, Frankfurt a. M. 2008. 78 Vgl. hierzu: Carsten Dutt, Nachwort. Zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks, in: Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten, Frankfurt a. M. 2010, S.  529–540, hier S.  538: »Sie [die Höhenkammliteratur] registriert oder produziert neue Einsichten, neue Erfahrungen, die dem Alltagssprecher normalerweise entgehen oder die zu finden er noch

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wartsdiagnosen, die das Neue, das Zeitalter durch das Präfix »Post« zunächst in Abgrenzung zum Alten zu fassen suchten, transzendierten die Begriffe Post­ moderne und Posthistoire das akademische Milieu. Denn sie wurden hier zwar verhandelt, doch sie betrafen qua Anspruch die Gesamtheit der Gesellschaft und waren sinnbildlich für eine Atmosphäre, der andernorts – man denke nur etwa an Punk, New Wave, die bunkerartigen Einfamilienhäuser und Interieurs der späten Bundesrepublik – populärkulturell Ausdruck verliehen wurde. Insofern fungierten auch diese von Intellektuellen geprägten Begriffe sowohl als Indikator als auch Faktor der Stimmung wesentlich breiterer Bevölkerungskreise. Ein Beispiel mag die Relevanz wie auch die Wanderbewegungen andeuten, welche die Konzepte Postmoderne und Posthistoire über die Grenzen der gesellschaftlichen Teilsysteme hinweg durchliefen. Als Jürgen Habermas am 11. September 1980 in seiner Rede zur Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt »die Postmodernen« als »Jungkonservative« brandmarkte, und ihnen Antimodernismus vorwarf, so handelte er zunächst als homo academicus: Mit seiner Aussage positionierte er sich auf dem wissenschaftlichen Feld. Er nahm die »Herausforderung durch die neostrukturalistische Vernunftkritik«79 an und kämpfte um die Stellung einer erneuerten Kritischen Theorie, die bei einer wachsenden Zahl an Studierenden nicht nur angesichts der Entfremdung, die im Zuge von 1968 eingetreten war, sondern auch in Anbetracht des faszinierenden und schwerverständlichen Sounds, der neuerdings aus Paris über den Rhein schwappte, an Attraktivität eingebüßt hatte80. Dass diese Positionierung auf dem wissenschaftlichen zugleich eine nicht fähig ist – weil es nicht die Aufgabe eines alltäglichen Sprechers ist, seine eigenen semantischen oder sozialen Voraussetzungen zu reflektieren. Wenn er das täte, müsste er verstummen genau dort, wo Philosophen, Theoretiker, Dichter, Schriftsteller oder Theologen oder naturwissenschaftliche Forscher, kurzum die Intelligenz oder die Bildung gefordert sind, bisher Unerkanntes oder Verlorenes oder gar Unbekanntes auf den Begriff zu bringen.« 79 Siehe: Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Ders., Kleine Politische Schriften I–IV, Frankfurt a. M. 1981, S. 444–464, hier S. 452; zuerst erschienen in: Die Zeit 39 (19.9.1980). Das Zitat stammt aus: Ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 7. 80 Siehe hierzu: Felsch, Der lange Sommer der Theorie; Martin Kindtner, Strategien der Verflüssigung. Poststrukturalistischer Theoriediskurs und politische Praktiken der 1968er Jahre, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 373–392; Ulrich Raulff, Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014. Vor dem Hintergrund der von Raulff erörterten »wilden Jahre des Lesens« wäre die Debatte auch im Kontext der »paperback revolution« zu verstehen und der Konkurrenz um Kapital an intellektueller Prominenz, die sich durch Veröffentlichungen in Taschenbuchreihen, Zeitungen und Magazinen erzielen ließ. Siehe Raullf, Wiedersehen mit den Siebzigern, S. 49 f.; sowie: Ders., Im Teich der Zeichen. Die Frankfurter Schule und ihre Gegenspieler in Paris. Eine Verkennungsgeschichte aus gegebenem Anlass, in: SZ vom 21.9.2001, S. 18. Siehe auch Habermas’ Entgegnung auf Raulff am folgenden Tag: Jürgen Habermas, Widerspruch zu Ulrich Raulff. Kriegstrompete, in: SZ vom 22.9.2001, S. 15.

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auf dem politischen Feld war, ist gerade bei Habermas an sich wenig verwunderlich. In seiner Paulskirchen-Rede kritisierte er »eine affektive Strömung, die in die Poren aller intellektuellen Bereiche eingedrungen ist und Theorien der Nachaufklärung, der Postmoderne, der Nachgeschichte usw., kurz einen neuen Konservativismus auf den Plan gerufen hat«81. Vor dem Hintergrund der konservativen »Tendenzwende« der mittleren siebziger Jahre und dem Amtsantritt Thatchers in Großbritannien 1979 einerseits sowie des »antimodernen« »Jungkonservativismus« der Grünen andererseits, suchte der »Projektleiter der Moderne« mit seiner Kritik gefährdete linke Positionen zu verteidigen82. Obwohl sich also nur eine kleine Schicht Intellektueller dezidiert an den Debatten selbst beteiligte und dieselben rezipierte, so spiegelten sich in den Chronotopoi Postmoderne und Posthistoire ganz konkrete, nicht zuletzt politische Konflikte wider, die durchaus weiterreichend waren. An Habermas’ Rede wird jedenfalls ersichtlich, dass die Begriffe Postmoderne und Posthistoire auch als Rubra fungierten, unter denen eine Vielzahl gesellschaftlicher Konflikte aus­ gefoch­ten, das Verhältnis von Alt und Neu austariert und der Gehalt der Gegenwart verhandelt wurden. Die Fragen, was ist links, was ist konservativ und was ist modern, konnten darunter ebenso subsumiert werden, wie der zweite Kalte Krieg, die wachsenden Befürchtungen um die zivile Nutzung der Atomkraft, die schwindenden Ressourcen und drohenden Umweltkatastrophen. Dass gerade der Begriff des Posthistoire für das Erwachen eines »vielfältige[n] Endlichkeitsbewusstsein[s]« und für das weitverbreitete »anthropologische[ ] Endlichkeitsphantasma schlechthin: das Ende der Menschheit« emblematisch war, ist andernorts bereits beschrieben worden83. In den »Theorien der Nachaufklä­ 81 Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, S. 444. 82 Vgl. hierzu: Stefan Müller-Doohm, Jürgen Habermas. Eine Biographie, Berlin 2014, S.  281–284. Zur Tendenzwende siehe: Axel Schildt, »Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten«. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: AfS 44 (2004), S. 449–478; Peter Hoeres, Von der »Tendenzwende« zur »geistig moralischen Wende«. Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, in: VfZ 61 (2013), S. 93–119. Zum »Projektleiter der Moderne« wie auch zu Habermas’ politischer Positionierung siehe: Roland, Arno, Frank u. Wolfgang K ­ raushaar, Vier Jungkonservative beim Projektleiter der Moderne, I. u. II . Teil, in: taz vom 3.10.1980, S. 8 f. sowie 21.10.1980, S. 8 f. 83 Henne, Das Ende der Welt als Beginn einer neuen Zeit, S. 181. Verbunden mit den gerade in den 1980er Jahren weit verbreiteten Angstszenarien war die von einer Technologie- und Fortschrittsskepsis gespeiste Wahrnehmung der Gegenwart als »Beweglichkeit auf stationärer Basis«, die gleichfalls ein Fundament der postmodernen und posthistorischen Gegenwartsdiagnose bildete. Siehe hierzu zudem Silke Mendes Beitrag in diesem Band. Zur »Beweglichkeit auf stationärer Basis« siehe: Arnold Gehlen, Ende der Geschichte?, in: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 6: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften, Frankfurt a. M. 2004, S. 336–351, hier S. 342. Auch die Desillusionierung angesichts der verheerenden Folgen, welche die politischen Utopien des »Zeitalters der Extreme« gezeitigt hatten, sowie die allgemeinen »Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie«, die sich in den Begriffen Posthistoire und Postmoderne niederschlugen, haben bereits Aufmerksamkeit er-

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rung, der Postmoderne, der Nachgeschichte« gipfelte für Habermas, so ließe sich das Argument stark vereinfacht wiedergeben, eine radikalisierte und totale Vernunftkritik, die gewissermaßen das Kind mit dem Bade auszuschütten drohte und somit das »Projekt der Moderne« gefährdete84. Doch wie war es um dieses »Projekt« um 1980 bestellt? Was verstand wer zu diesem Zeitpunkt unter »Moderne«? Und inwiefern zeugen die Begriffe Postmoderne und Posthistoire von einem auch jenseits enger intellektueller Zirkel relevanten Wandel des Verständnisses geschichtlicher Zeitlichkeit? »Nach« welcher Moderne?

In den Debatten, die um Postmoderne, Posthistoire sowie um die anderen Postismen kreisten, wurde der ganz große Strukturbruch erörtert, und zwar das Ende, die »Aufhebung«, »Verwindung« oder das »Redigieren« jener Moderne, die – je nach Lesart – entweder mit der Renaissance, mit der Aufklärung oder der um die Französische Revolution kreisenden »Sattelzeit« begonnen hatte. Bei den teils vehement geführten Diskussionen um die Postmoderne ging es im doppelten Sinne um die eigene Zeit, das heißt einerseits um die Epoche der­ Moderne und andererseits um die moderne Zeit85. Denn die Moderne, von der man sich mit dem Begriff der Postmoderne oder des Posthistoire absetzte, wurde als eine Epoche verstanden, die sich selbst als eine ganz bestimmte Art

fahren. Siehe hierzu und für weitere Literatur: Esposito, Von no future bis Posthistoire. Zu den Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie siehe: Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1982 [Original 1973]. 84 Siehe hierzu insbesondere: Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 130– 157; vgl. auch Roland, Arno, Frank u. Kraushaar, Vier Jungkonservative beim Projektleiter der Moderne, II . Teil, S. 9. Dort (S. 8) heißt es: Ein gemeinsamer Nenner des Poststrukturalismus, »dieses ganze[n] Zeugs, das von Bataille ausgeht«, sei »eine Radikalisierung der Dialektik der Aufklärung, d. h. dessen, was bei Adorno und Horkheimer angelegt war, nämlich eine negative Fetischisierung dessen, was sie ›instrumentelle Vernunft‹ genannt haben und eine Kontrastierung der Moderne im Zeichen der instrumentellen Vernunft mit – was? – mit dem mimetischen Vermögen, mit Mimesis.« 85 So heißt es beispielsweise gleich zu Beginn des von Hans Ulrich Gumbrecht verfassten Lemmas ›Postmoderne‹, das man als Nachtrag zu seinem 1978 erschienenen Artikel »Modern, Modernität, Moderne« für die Geschichtlichen Grundbegriffe verstehen kann: Postmoderne sei »[j]ene auf ein neues Zeitbewusstsein gegründete Gegenwart«. Hans Ulrich Gumbrecht, Postmoderne, in: Ders., Dimensionen und Grenzen der Begriffs­ geschichte, München 2006 [Original Berlin 2003], S. 81–87, S. 80. Weiter heißt es dort (S. 82): »Diese breite Gegenwart ist eine Dimension des Erlebens, Verhaltens und Handelns, in der Vergangenheit als beständig abrufbar, reproduzierbar – sozusagen ›in die Gegenwart importierbar‹ – zur Verfügung steht, während Zukunft – wo nicht gänzlich verschlossen – als ungewiss und oft bedrohlich erlebt wird. Statt in einen ›Gänsemarsch der Epochen‹ zu münden, überlagern sich in dieser breiten Gegenwart der Postmoderne je aufeinander folgende Schübe der Veränderung, da sie ja alle als Vergangenheiten abruf­ bar und reaktivier­bar bleiben.«

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und Weise des In-der-Zeit-Seins begriff86. Zumindest, so sei einschränkend bemerkt, erschien sie jenen, die nun auf die Moderne »zurückschauten«, als eine solche spezifische Zeitlichkeit. In dem 1982 erschienenen Buch des amerikanischen Marxisten Marshall Berman, All That Is Solid Melts Into Air, wird sie als Zeitgeist in jenem eben angedeuteten zweifachen Sinne beschrieben. Die Moderne, so heißt es dort, […] pours us all into a maelstrom of perpetual disintegration and renewal, of struggle and contradiction, of ambiguity and anguish. To be modern is to be part of a universe in which, as Marx said, ›all that is solid melts into air‹.87

Sei es, dass die Moderne mit Marx also als Zeitalter des Verdampfens »alles Ständischen und Stehenden«, der »fortwährende[n] Umwälzung«, der »ununterbrochene[n] Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände«, der »ewige[n] Unsicherheit und Bewegung« und Auflösung »aller festen und eingerosteten Verhältnisse […][,] Vorstellungen und Anschauungen« sowie des schnellen Veraltens aller neuen verstanden wurde88. Sei es, dass man mit Baudelaire davon ausging, die Moderne sei »das Transitorische, das Flüchtige, das Kontingente«, stets ging es bei der umkämpften Verabschiedung derselben nicht zuletzt um die Aufrechterhaltung oder Preisgabe einer bestimmten Zeit- und Geschichtlichkeit89. Doch woher rührten die »Motive für den Zweifel und die Verzweiflung am Projekt der Moderne«90? Welche Entwicklungen waren ursächlich für den semantischen Wandel, den der Begriff durchlief, und wovon setzte man sich durch das Präfix ›Post‹ eigentlich ab? Wenn in den 1960er Jahren – jenseits des ästhetischen Felds der Avantgarden, sprich des Modernismus im engeren Sinn  – von Moderne die Rede war, dann in Gestalt des Prozesses der Modernisierung. Vor dem älteren Hintergrund kolonialer Zivilisierungsmissionen91 einerseits sowie der Dekolonisierung, des Kalten Krieges und der sowjetischen Verheißung eines alternativen Weges in eine kommunistische Moderne andererseits, hatte sich der bekannte

86 Vgl. hierzu etwa: Hans Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: B ­ runner/ Conze/Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. IV, S. 93–131; Peter Osborne, The Politics of Time. Modernity and Avant-Garde, London u. a. 1995. 87 Berman, All That Is Solid Melts Into Air, S. 15. 88 Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, S. 465. 89 Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: Ders.: Sämtliche Werke/Briefe Bd. 5. Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860, München 1989, S. 213–258, S. 226; vgl. dazu auch: Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, S. 110. 90 Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, S. 452. 91 Zu den Zivilisierungsmissionen siehe etwa: Jürgen Osterhammel, »The Great Work of Uplifting Mankind«. Zivilisierungsmission und Moderne, in: Boris Barth/Ders. (Hrsg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18.  Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 363–425; Ders., Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1172–1188.

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Aufstieg der Modernisierungstheorie ereignet92. Aus Sicht der Modernisierungstheoretiker war der Modernismus eben not just an aesthetic phenomenon but also a form of social and political practice in which history, society, economy, culture, and nature itself were all to be the object of technical transformation. Modernism was a polysemous code word for all that was good and desirable.93

Nebst der noch keineswegs »abgeschlossenen« Modernisierung der westlichen Welt, die – sah man genauer hin – auch noch zahlreiche Enklaven aufwies, in welche die Moderne keineswegs so weit vorgedrungen war, wie sich das manch ein Modernisierer wünschte, stand die sogenannte »Dritte Welt« im Zentrum der Aufmerksamkeit94. Weiterhin von jenem Überlegenheitsdünkel des Westens getrieben, der im 19. Jahrhundert zur Etablierung einer temporalen Taxonomie und Skala geführt hatte, die von den »Völkern ohne Geschichte«95 (statisch) bis zu den geschichtsmächtigen europäischen Nationen (fortschrittlich und dynamisch) gereicht hatte, galt es nun, die »langsam(er)en« zu »entwickeln«, »traditionale« und »rückständige« Gesellschaften zu »modernisieren«. Sprich, es sollten neue landwirtschaftliche Techniken eingeführt und die Industrialisierung in Gang gebracht werden, das Bevölkerungswachstum gehemmt und die Säuglingssterblichkeit vermindert, die hygienischen Bedingungen verbessert und Krankheiten bekämpft, die Alphabetisierungsrate erhöht werden96. Unterent92 Siehe hierzu: David Ekbladh, The Great American Mission. Modernization and the­ Construction of an American World Order, Princeton 2010; Nils Gilman, Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America. Baltimore u. a. 2007; Michael E. Latham, Modernization as Ideology. American Social Science and »Nation Building« in the Kennedy Era, Chapel Hill u. a. 2000. 93 Gilman, Mandarins of the Future, S. 7. 94 Zur Entstehung des Konzepts der »Dritten Welt« und für weitere Literatur siehe: Jürgen Dinkel, »Dritte Welt«  – Geschichte und Semantiken, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeit­ geschichte, 06.10.2014, (URL: http://docupedia.de/zg/Dritte_Welt, zuletzt eingesehen am 22.7.2016); Christoph Kalter, Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, Frankfurt a. M. 2011. 95 Die Vorstellung von »Völkern ohne Geschichte« lässt sich nicht zuletzt zurückführen auf: Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1986. Dort (S. 126) heißt es: »Wir verlassen hiermit Afrika, um späterhin seiner keine Erwähnung mehr zu tun. Denn es ist kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen, und was etwa in ihm, das heißt in seinem Norden geschehen ist, gehört der asiatischen und europäischen Welt zu.« 96 Für einen Überblick hierzu sowie zur wachsenden Forschungsliteratur siehe insbesondere: Joseph Morgan Hodge, Writing the History of Development (Part 1: The First Wave), in: Humanity. An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development 6 (2015), S. 429–463; Ders., Writing the History of Development (Part 2: Longer, Deeper, Wider), in: Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development 7 (2016), S.  125–174; siehe zudem: Hubertus Büschel/Daniel Speich (Hrsg.), Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt a. M. u. a. 2009; Frederick Cooper, Writing the History of

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wicklung und Stagnation sollten durch die Implementierung von Veränderung und Wachstum beseitigt, Stufensprünge entlang der »stages of growth« ermöglicht und der Fortschritt herbeigeführt werden97. Der Entwicklungs- und Modernisierungspraxis lag nicht nur die Vorstellung einer temporalen Differenz, einer Ungleichzeitigkeit zwischen »unterentwickelten« und »modernen« Ländern zugrunde, sondern auch ein spezifisches Verständnis des Kollektivsingulars Geschichte und ihres kumulativen, stufenförmigen und teleologischen Verlaufs98. 1966 bemerkte etwa Robert C. Wood, Stadtplaner und Professor für Politikwissenschaft am MIT, die Herausforderung der Modernisierung bestünde darin, Innovation als »way of life« zu akzeptieren: »The fundamental and continuing condition of modernization is the capability of a people to adjust to changed circumstances not once or twice in a lifetime, but every year.«99 Die »Gegenwartsschrumpfung«, so der 1992 geprägte Begriff des Ritter-Schülers Hermann Lübbe, sollte auf Dauer gestellt werden100. Insofern wurde Modernisierung auch als Kampf gegen ein spezifisches Verhältnis zur Vergangenheit konzipiert. Prägnant brachte es der Politikwissenschaftler am MIT und Berater der Ford Foundation sowie des U. S. Department of State ­Myron Weiner auf den Punkt: »Traditionalism, by virtue of its hostility to innovation, is clearly antithetical to the development of modernization«101. Die Überwindung eines vergangenheitszentrierten »Historizitätsregimes« oder, um es in den Begriffen Kosellecks auf den Punkt zu bringen, einer Kongruenz von »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« war zur Voraussetzung von Modernisierung und einer besseren Zukunft erkoren worden102. Samuel Huntington, Politikwissenschaftler an der Harvard University, bemerkte 1971, dass die optimistische Zukunftsvorstellung der Modernisierungs

Development, in: JMEH 8 (2010), S. 5–23; Corinna R. Unger, Histories of Development and Modernization. Findings, Reflections, Future Research, in: H-Soz-Kult, 9.12.2010 (URL: http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1130, zuletzt eingesehen am 26.10.2016); sowie das von Hubertus Büschel und Daniel Speich Chassé her­ ausgegebene Heft von Geschichte und Gesellschaft 41,4 (2015), das sich der Entwicklungsarbeit und globalen Modernisierungsexpertise widmet. 97 Zu den »stages of growth« siehe: Walt Whitman Rostow, The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto, Cambridge 1990 [Original 1960]. 98 Zur temporalen Differenz beziehungsweise zum »denial of coevalness«, siehe: Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 2002 [Ori­ ginal 1983]. 99 Robert C. Wood, The Future of Modernization, in: Myron Weiner (Hrsg.), Modernization. The Dynamics of Growth, New York 1966, S. 40–52, hier S. 45. 100 Zur »Gegenwartsschrumpfung« siehe: Hermann Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin 1992. 101 Myron Weiner, Introduction, in: Ders. (Hrsg.), Modernization. The Dynamics of Growth, S. 1–14, hier S. 7. 102 Vgl. hierzu: Hartog, Régimes d’historicité ; Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«; Ders., Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989 [Original 1977], S. 38–66.

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theoretiker im Wesentlichen »an optimism of retroactive progress« sei. Weiter heißt es: Satisfaction about the present leads to an optimism about the past and about its relevance to other societies. The modernization theory of the 1950s and 1960s had ­little or nothing to say about the future of modern societies; the advanced countries of the West, it was assumed, had ›arrived‹; their past was of interest not for what it would show about their future but for what it showed about the future of those other societies which still struggled through the transition between tradition and modernity.103

Die erstaunliche Zustimmung zu den Modernisierungstheorien habe, so Huntington weiter, darin gegründet, dass sie den Status quo im Westen und Hoffnung im Rest der Welt gerechtfertigt habe. Offen sei freilich die Zukunft der Moderne geblieben: »Modernization theory combined an extraordinary faith in the efficacy of modernity’s past with no image of the potentialities of modernity’s future.« Doch da es nur ausgewählte Vergangenheiten waren, die optimistisch stimmten, wurden andere als »Sonderwege« in die Moderne etikettiert104. Gründeten nicht auch diese Sonderwege, allen voran jene, die Deutschland, aber auch etwa Italien oder Japan durchlaufen hatten, im Festhalten an feudalen Restbeständen, im »Aufstand älterer Schichten gegen die Zivilisation«105? Waren diese »pathologischen« Wege in die Moderne nicht ein Ergebnis von übermächtigem Traditionalismus und verweigerter Innovation? Der zuvörderst von Großbritannien, Frankreich oder den USA durchlaufene Gang durch die Geschichte wurde als Paradigma universalisiert. Modernisierung, so ließe es sich neudeutsch auf den Punkt bringen, wurde als eine Art »best practice« der Geschichte, eine bestmögliche Methode, von der Vergangenheit in die Gegenwart zu kommen, begriffen. Als sich im Westen die Wahrnehmung der Gegenwart, aber auch der durchlaufenen Vergangenheit zu ändern begann, sollte das erhebliche Folgen für das Verständnis von Modernisierung zeitigen. Bereits in den 1950er Jahren, im Schatten von Auschwitz und Hiroshima und der sich festigenden Ost-West-Konfrontation, hatte es sowohl im konservativen wie auch im linken politischen Lager erhebliche Bedenken gegenüber der Mo103 Samuel Huntington, The Change to Change. Modernization, Development and Politics, in: Comparative Politics 3 (1971), S. 283–322, hier S. 292. Dort (S. 292 f.) auch das folgende Zitat. 104 Siehe hierzu etwa: Chris Lorenz, Wozu noch Theorie der Geschichte? Über das ambivalente Verhältnis zwischen Gesellschaftsgeschichte und Modernisierungstheorie, in:­ Volker Depkat (Hrsg.), Wozu Geschichte(n)? Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie im Widerstreit, Wiesbaden 2004, S. 117–143; sowie Thomas Mergel, Geht es weiterhin v­ oran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997, S. 203–232. 105 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1985 [Original 1935], S. 111.

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derne als dem Ort, an dem man nun »angekommen« war, gegeben106. Doch die kritischen Stimmen, welche bezweifelten, dass der in Gang befindliche Prozess und der Zustand, auf den er hinzuführen schien, auch erstrebenswert seien, bildeten angesichts der erzielten ökonomischen und sozialen Erfolge ein eher leises Hintergrundrauschen. In der Folge von 1968 und im Laufe der krisenhaften Entwicklungen der 1970er Jahre sollte die schon während des Booms geäußerte Skepsis zunehmend in den Vordergrund geraten. Durch die Infrage­ stellung des Status quo wurde die bislang unbeantwortete Frage nach den »potentialities of modernity’s future« für einen wachsenden Teil der Bevölkerung drängender. Die Hinterfragung der Modernisierungstheorie und des ihr zugrunde liegenden Verständnisses geschichtlicher Zeitlichkeit kannte zahlreiche Ursachen. Die amerikanische Mission der Modernisierung und einige ihrer auch im Mekong-Delta tätigen Protagonisten wie »Mr. TVA« David Lilienthal und Walt Whitman Rostow gerieten etwa aufgrund des desaströsen Vietnam-Kriegs in Misskredit107. Modernisierung und Entwicklung wurden vor diesem Hintergrund und im Zusammenhang der Studentenrevolte als neue Formen des Imperialismus interpretiert. Zudem wurden die Modernitätsvisionen zunehmend von einem »small is beautiful«-Denken untergraben108, welches das Lokale, Kleinräumige, das »menschliche Maß« an die Stelle megalomanischer, um weltzerstörender Entwicklungsprojekte, die von einem repressiven, technokratischen, tendenziell »totalitären« Staat implementiert würden, setzte109. Auch unter den auf der Grundlage der Kybernetik an der Steuerung und Gestaltung dieser Zukünfte im Verbund mit staatlichen Akteuren führend beteiligten Zukunftsforschern und Planern wurde die einstige Machbarkeits- und Wachstumseuphorie angesichts der ungeheuren Komplexität sozialer und ökologischer Systeme hinterfragt110. Einen populären Niederschlag fand dieser Umschwung

106 Vgl. hierzu etwa: Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999. 107 Siehe hierzu etwa: Ekbladh, The Great American Mission, S. 190–256; Ders., »Mr. TVA .« Grass-Roots Development, David Lilienthal, and the Rise and Fall of the Tennessee Valley Authority as a Symbol for U. S. Overseas Development, 1933–1973, in: Diplomatic History 26 (2002), S. 335–374. 108 Ernst Friedrich Schumacher, Small is Beautiful. A Study of Economics as if People Mattered, London 1973. Zur Bedeutung Schumachers nicht zuletzt für die Grüne Bewegung siehe: Silke Mende, Nicht rechts, nicht links, sondern vorn. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 268. Dort auch weitere Hinweise. 109 Es wäre andernorts zu prüfen, welchen Beitrag diese linke, ›libertäre‹ Kritik am Staat und an seinen repressiven, totalitären, datensammelnden, antiindividualistischen Tendenzen dazu leistete, dass die marktfundamentalistische, ›neoliberale‹ Kritik am Staat auf fruchtbaren Boden fiel. 110 Siehe: Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945–1980, Berlin 2015; Dies. (Hrsg.), Politics and Time from the 1960s to the 1980s. Themenheft des JMEH 13 (2015). Zur Planungseuphorie siehe: Michael Ruck, Ein kurzer Sommer

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in Sachen Innovationsbegeisterung in Alvin Tofflers Beststeller Future Shock (1970). Die titelgebende »neue Krankheit« stellte sich für Toffler als Ergebnis der Beschleunigung des Wandels dar111. »Transience« (Vergänglichkeit oder Vorläufigkeit) und ein neues »feeling of impermanence« bestimmten den Alltag und verlangten unter anderem nach Vergangenheitsenklaven, aber auch nach einer Strategie des »social futurism«. Toffler wollte insofern kein Ende der Planung, sondern vielmehr a new level of competence in the management of change. We can invent  a form of planning more humane, more far-sighted, and more democratic than any so far in use. In short, we can transcend technocracy.

Zweifel an der Modernisierung wurden jedenfalls unter den »Modernisierern« selbst laut. Wenngleich diese Zweifel sicherlich angesichts der Entwicklungs­praxis vor Ort wuchsen112, können hier allein die semantischen Verschiebungen angedeutet werden. So hatte beispielsweise Shmuel Eisenstadt bereits 1964 von den Breakdowns of Modernization gesprochen: The optimism which guided much of the concern with and many of the studies of ­underdeveloped areas or new nations, and which assumed that these countries were advancing – even if slowly and intermittently – towards full-fledged modernization and continuous growth, has lately given way to a much more cautious and even pessimistic view. This pessimism has been mainly due to the fact that in many new nations, where initially modern frameworks were established in different institutional fields, especially in the political one, the progress towards modernization was not only slow, but also these constitutional regimes faltered, giving way, in their place, to v­ arious auto­cratic and authoritarian or semi-authoritarian regimes.113

Eisenstadt, der im Jahr 2000 den Begriff der »multiple modernities« prägen sollte und ebenfalls zu den Protagonisten der oben erwähnten Pluralisierungs-

der konkreten Utopie – Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 362–401; Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005; Dirk van Laak, Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: GG 34 (2008), S. 305–326. 111 Siehe: Alvin Toffler, Future Shock, New York u. a. 1999 [Original 1970], S. 10. Dort (S. 45, 390 sowie 452) auch die folgenden Zitate. 112 Siehe hierzu das Tübinger Disserationsprojekt Maria Dörnemanns: »›Plan Your Family – Plan Your Nation‹. Zur Bevölkerungspolitik internationaler Organisationen in Kenia (1960er bis 1980er Jahre)« sowie dies., Modernisierung als Praxis? Bevölkerungspolitik in Kenia nach der Dekolonisation, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 271–290. 113 Shmuel N. Eisenstadt, Breakdowns of Modernization, in: Economic Development and Cultural Change 12 (1964), S. 345–367, S. 345.

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prozesse zu zählen ist114, kritisierte in seinem 1973 erschienenen Tradition, Change, Modernity das Unvermögen der Modernisierungstheorien, der »Vielfältigkeit der Übergangsgesellschaften« Rechnung zu tragen115. Vor dem Hintergrund der kritischen Forschung der letzten Jahrzehnte stellte er fest, dass die »Desintegration des ursprünglichen Modernisierungsparadigmas« nicht allein in dessen Ethno­zentrismus gründe, sondern auch in der Infragestellung des angenommenen Verhältnisses von Tradition und Modernität. Innovationsprozesse gediehen nicht auf einer tabula rasa, die Vergangenheit würde nicht schlichtweg abgelegt, das Neue würde vielmehr mit dem Traditionellen kombiniert. Hier deuteten sich gewichtige Bedenken an der nunmehr universalisierten »neuen Zeit« an. Wie sinnvoll war diese moderne Zeitlichkeit, die Peter Fritzsche als »the perception of the restless iteration of the new so that the past no longer served as a faithful guide to the future« beschrieben hat116? Im »Post« von Postmoderne ist jedenfalls eine Distanzierungsbewegung zum ständigen Brechen mit der Vergangenheit angezeigt, das zuvörderst die modernistischen künstlerischen Avantgarden und revolutionären politischen Bewegungen gekennzeichnet hatte, nun aber zunehmend als Signatur »moderner« Zeitlichkeit im Allgemeinen verstanden wurde117. Die Moderne, von der sich der Postmodernismus absetzte, kann also als eine spezifische Form geschichtlicher Zeitlichkeit und des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verstanden werden, die Peter Osborne wie folgt auf den Begriff bringt: »Modernity is a form of historical time which valorizes the new as the product of a constantly self-negating temporal dynamic.«118 Wie im Verlauf der 1960er Jahre zunächst an der Architektur und dann aber auch an der Literatur ersichtlich wurde, in deren Debatten sich der Begriff der Postmoderne etab-

114 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus 129 (2000), S. 1–29. Dort (S. 1) heißt es: »They [die Modernisierungstheorien] all assumed […] that the cultural program of modernity as it developed in modern Europe and the basic institutional constellations that emerged there would ultimately take over in all modernizing and modern societies; with the expansion of modernity, they would prevail throughout the world. The reality that emerged after the so-called beginnings of modernity, and especially after World War II, failed to bear out these assumptions. The actual developments in modernizing societies have refuted the homogenizing and hegemonic assumptions of this Western program of ­modernity.« 115 Eisenstadts Tradition, Change, Modernity wird hier zitiert nach der deutschen Übersetzung. Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Tradition, Wandel und Modernität, Frankfurt a. M. 1979 [Original 1973], S. 130. 116 Peter Fritzsche, Stranded in the Present. Modern Time and the Melancholy of History, Cambridge 2004, S. 5. 117 Zu den künstlerischen Avantgarden siehe: Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974. Zu den politischen Modernismen siehe: Roger Griffin, Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, Basingstoke 2007. 118 Peter Osborne, The Politics of Time. Modernity and Avant-Garde, London u. a. 1995, S. xi.

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lierte, wurde diese Apotheose des Neuen zur Disposition gestellt. In Jean-François Lyotards Notizen über die Bedeutung von »post« heißt es dazu: Der Gedanke der Moderne selbst korreliert eng mit dem Prinzip, dass es möglich und notwendig ist, mit der Tradition zu brechen und eine völlig neue Lebens- und Denkweise einzuführen. Heute haben wir den Verdacht, dieser ›Bruch‹ sei eher eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu vergessen und zu unterdrücken, das heißt sie zu wiederholen, als sie zu überwinden.119

»Nach« welcher Geschichte?

Die wachsende Skepsis bezüglich des Brechens mit der Vergangenheit, der Innovation als »way of life« und der »Gegenwartsschrumpfung« betraf also keineswegs allein Künstler- und Literatenkreise, sondern breitete sich auch unter den Sozialingenieuren und Modernisierungstheoretikern aus. Sie hinterfragten nicht allein die »potentialities of modernity’s future« (Huntington) und das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft der Moderne, sondern blickten auch auf das Geschichtsverständnis, das mit der temporalen Logik der Modernisierung verknüpft war. So diskutierte Eisenstadt in Tradition, Wandel und Moder­ nität auch die fundamental ahistorischen Grundannahmen der Modernisierungstheorien. Die westliche Modernisierung gründe in einer »einzigartige[n] historischen Situation, die im Zusammenhang mit der europäischen Expansion steht«120. Es handle sich also keineswegs um einen abstrahierbaren und universalisierbaren Prozess. Zudem schließe das Entwicklungsmodell »von Anfang an die Möglichkeit einer Wahl aus, und zwar auf Grund der Annahme, dass nicht nur der Weg zum Endstadium, sondern auch dieses selbst in der konkreten historischen Situation […] unvermeidlich sind«121. Die von Eisenstadt wiedergegebene »allgemeine Kritik an der evolutionären Annahme sowie der Annahme von Stadien« war nichts anderes als eine Kritik an einem Geschichtsverständnis, dem die Vorstellung einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« zugrunde lag und das sowohl in seiner westlich-liberalen als auch in seiner marxistischen Variante jeweils von einem Telos der Geschichte ausging122. 119 Jean-François Lyotard, Notizen über die Bedeutung von »post-«, in: Ders., Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–1985, Wien 1987 [Original 1986], S. 99–105, hier S. 100 f. 120 Eisenstadt, Tradition, Wandel und Modernität, S. 134. 121 Ebd., S. 136. 122 Ebd., S.  142. Zur »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« siehe insbesondere: Achim Landwehr, Von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, in: HZ 295 (2012), S. 1–34. Wenngleich der Chronotopos der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« erst mit Ernst Blochs Analyse des Nationalsozialismus, den er in seinem 1935 veröffentlichten Erb­ schaft dieser Zeit als »Aufstand älterer Schichten gegen die Zivilisation« verstand, größere Bekanntheit erlangte, ist das Ungleichzeitigkeitsdenken, das Bloch auf den Begriff brachte, wesentlich älter. Ohne bei Bloch Erwähnung zu finden, hatte der Kunsthistori-

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Sowohl die Teleologie als auch das Ungleichzeitigkeitsdenken gerieten im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre auch seitens der nicht-westlichen Kritiker westlicher Interventionen unter Beschuss. Und diese Stimmen – man denke etwa an die Entwicklung von der Bandung-Konferenz (1955) und vom antikolonialen Klassiker Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde (1961) über Walter Rodneys How Europe Underdeveloped Africa (1972) bis zu Edward Saids Orien­ talismus (1978) – fanden auch zunehmend Gehör123. Nebst westlichem Ethnozentrismus und neokolonialistischen oder imperialistischen Praktiken geriet auch das westliche Zeitlichkeits- und Geschichtsmodell, auf dem das Moder­ ni­sie­rungs­para­digma gründete, dezidiert ins Kreuzfeuer der Kritik. So konstatierte 1969 etwa Amílcar Cabral, der die Unabhängigkeitsbewegung GuineaBissaus anführte: The colonialists usually say that it was they who brought us into history: today we show that this is not so. They made us leave history, our history, to follow them, right at the back, to follow the progress of their history.124

Edward Said wiederum wandte sich in seinem 1985 veröffentlichten Beitrag Orientalism Reconsidered dezidiert dem Problem des Historismus zu, der ein »epistemologisches Fundament« des Orientalismus bilde. Dort heißt es: So far as Orientalism in particular and the European knowledge of other societies in general have been concerned, historicism meant that the one human history uniting humanity either culminated in or was observed from the vantage point of Europe, or the West. What was neither observed by Europe nor documented by it was therefore ›lost‹ until, at some later date, it too could be incorporated by the new sciences

ker Wilhelm Pinder bereits im Jahr 1926 von der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« gesprochen, als er im Kontext der zu jener Zeit florierenden Generationentheorien versuchte, der Vielfalt der Kunststile auf die Spur zu kommen, die in einer Epoche zeitgleich vorhanden sind. Doch das Ungleichzeitigkeitsdenken reicht weiter zurück. Und zwar mindestens bis ins Zeitalter der Aufklärung, als man jene Differenzerfahrung, die im Zuge der europäischen Expansion gemacht wurde, verzeitlichte. Ökonomische, politische und kulturelle Unterschiede sowie später dann auch körperliche Merkmale wurden zunehmend als zeitliche Differenzen innerhalb eines universalen Entwicklungsprozesses kategorisiert. Siehe: Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1985 [Original 1935], S.  111; Wilhelm Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, Berlin 1926; Urs Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München ²1991. 123 Zur Bandung-Konferenz bzw. zur Bewegung Bündnisfreier Staaten siehe: Jürgen Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik 1927–1992, Berlin 2015. Zur Geschichte des postkolonialistischen Denkens siehe: Robert J. C. Young, Postcolonialism. An Historical Introduction, Malden 2001; vgl. zum Folgenden auch die dortigen Ausführungen (S. 283–292) zu Amílcar Cabral. 124 Amílcar Cabral, Revolution in Guinea. An African People’s Struggle, London 1969, S. 63 zit. nach: Robert J. C. Young, Postcolonialism, S. 288.

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of anthropology, political economics, and linguistics. […] What […] has never taken place is an epistemological critique at the most fundamental level of the connection between the development of  a historicism which has expanded and developed enough to include antithetical attitudes such as ideologies of Western imperialism and critiques of im­perialism, on the one hand, and, on the other, the actual practise [sic] of imperialism by which the accumulation of territories and population, the control of economies, and the incorporation and homogenization of histories are maintained.125

Die Nicht-Europäer seien von den Europäern zu »Völkern ohne Geschichte« gemacht worden, die erst durch den Kontakt mit dem Westen an der Geschichte Teil gehabt hätten. Doch selbst dann blieben sie qua »Rückständigkeit«, »Unterentwicklung« und »Ungleichzeitigkeit« gewissermaßen historische Mängelwesen. In seinem 1983 veröffentlichten Time and the Other brachte Johannes Fabian die von der Anthropologie  – aber eben keineswegs ausschließlich von dieser Disziplin  – praktizierte temporale Exklusion des nichtwestlichen Anderen auf den Begriff des »denial of coevalness«, der »Verweigerung der Zeitgenossenschaft«. Die postkoloniale Kritik am Historismus und westlichen Chronozentrismus gipfelte (vorerst) in Dipesh Chakrabartys Buch Provincializing Europe, das im Jahr 2000 erschien: Der Historismus habe die europäische Beherrschung der Welt ermöglicht und eine kulturelle Distanz zwischen dem Westen und Nicht-Westen postuliert126. Der Nicht-Westen sei in einen »imaginary waiting room of history« verbannt worden, in dem er sich auf die politische Teilhabe an der Moderne vorbereiten sollte. Es lohnt sich aus Chakrabartys Epilog ausführlicher zu zitieren, denn hier zeigt sich nicht nur erneut die Verwobenheit der untersuchten »Vergangenheit« mit der Gegenwart, sondern auch die deutlichen Verschiebungen im Verständnis eben dieser Begriffe, die sich seitdem ereignet haben. In der Beschäftigung mit dem kenianischen Nationalisten Jomo Kenyatta, dem Philosophen Kwame Anthony Appiah und dem Historiker D. D. Kosambi zeige sich: […] the plurality that inheres in the ›now‹, the lack of totality, the constant fragementariness, that constitutes one’s present. Over against this stands our capacity to deploy the historicist or ethnographic mode of viewing that involves the use of a sense of anachronism in order to convert objects, institutions, and practices with which we have lived relationships into relics of other times. As we have already said, this c­ apacity to construct  a single historical context for everything is the enabling con­dition of modern historical consciousness, the capacity to see the past as gone and

125 Edward Said, Orientalism Reconsidered, in: Cultural Critique 1 (1985), S. 89–107, S. 101; vgl. hierzu auch ausführlich: Robert J. C. Young, White Mythologies. Writing History and the West, London u. a. 22004 [Original 1990]. 126 Siehe: Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2008 [Original 2000], S. 7; vgl. auch dort (S. 8 f.) für das Folgende. Siehe hierzu auch den Beitrag von Achim Landwehr in diesem Band.

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reified into an object of investigation. It is this ability to see the past as genuinely dead, as separate from the time of the observer, that has given rise to the utopian and hermeneutic (but nevertheless ethical) struggles of the modern historical imagination […]. […] the modern sense of ›anachronism‹ stops us from confronting the problem of the temporal heterogeneity of the ›now‹ in thinking about history.127

In den 1950er Jahren hatte auch im Westen eine Kritik des Historismus und des westlichen Chronozentrismus eingesetzt, die ebenfalls der Vorstellung temporaler Heterogenität den Weg bahnen sollte. So hatte der Anthropologe Claude Lévi-Strauss, noch bevor er 1955 durch die Veröffentlichung seiner Tristes Tro­ piques zum shooting star der französischen Intellektuellenszene wurde, im Auftrag der Modernisierungsagentur UNESCO ein kleines, aber bedeutsames Buch namens Race and History publiziert128. Von seinem Kollegen Alfred Métraux­ gebeten, eine Schrift gegen den Rassismus zu verfassen, entpuppte sich dieselbe zugleich als Kampfansage gegen die biologisierte »Ungleichzeitigkeit«, den Topos der Geschichtslosigkeit und die kulturevolutionistischen Stufentheorien, welche das modernisierungstheoretische Verständnis von Geschichte weiterhin bestimmten. Diesen »falschen Evolutionismus« kritisierte Lévi-Strauss: Denn wenn man die unterschiedliche Beschaffenheit sowohl der alten als auch der entfernten Gesellschaften als Stadien oder Etappen einer einzigen Entwicklung behandelt, die, vom gleichen Ausgangspunkt herkommend, auch zum gleichen Ziel führen muss, so wird ihre Verschiedenheit zu einem bloßen Schein. Die Menschheit wird als ein einheitliches, mit sich selbst identisches Wesen gesehen, nur dass sich diese Einheitlichkeit und Identität nicht anders als schrittweise verwirklichen kann und dass die Verschiedenheit der Kulturen lediglich die Momente eines Prozesses illustriert.129

Die synchrone Differenz der Kulturen war im Zuge des langen 19. Jahrhunderts verzeitlicht worden. Aus gleichzeitigen Unterschieden war eine diachrone Stufenfolge geworden, welche auch das Machtgefälle zwischen dem Westen und dem Rest der Welt untermauerte. Die Vorstellung »geschichtsloser Völker« stellte Lévi-Strauss als absurd dar. Es gäbe gar keine »kindlichen Völker«, sondern nur welche, »die keine Chronik ihrer Kindheit und Jugend verfasst« hätten und die vor allem »ihre Zeit verschieden genutzt haben«130. Lévi-Strauss relativierte die westliche Vorstellung der Geschichte:

127 Chakrabarty, Provincializing Europe, S. 243. 128 Zu Lévi-Strauss siehe etwa: Patrick Wilcken, Claude Lévi-Strauss. The Poet in the Laboratory, London 2010; Emmanuelle Loyer, Claude Lévi-Strauss, Paris 2015. Zum Kontext des von der UNESCO geführten Kampfs gegen den Rassismus siehe: Michelle Brattain, Race, Racism, and Antiracism. UNESCO and the Politics of Presenting Science to the Postwar Public, in: AHR 112 (2007), S. 1386–1413. 129 Claude Lévi-Strauss, Rasse und Geschichte, Frankfurt a. M. 1972 [Original 1952], S. 20 f. 130 Ebd., S. 29.

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Die Geschichtlichkeit oder, besser noch, der Ereignisreichtum einer Kultur oder eines kulturellen Prozesses, ist also eine Funktion, nicht ihrer objektiven Eigenschaften, sondern des Standorts, an dem wir uns ihnen gegenüber befinden, und der Zahl und Verschiedenheit der Interessen, die wir mit ihnen verknüpfen.131

Die Vorstellung eines primär westlichen Fortschritts war also das Ergebnis der eingenommenen Perspektive, des auf technologische Entwicklungen oder auf die pro Kopf verfügbare Energiemenge angelegten Maßstabs. Bei einem Wechsel desselben käme man zu ganz anderen Resultaten: Den Eskimos und Beduinen sei es etwa am besten gelungen, mit »den ungünstigsten geographischen Umweltbedingungen fertig zu werden«, die Australiden hingegen hätten die komplexesten Verwandtschaftsbeziehungen hervorgebracht132. Lévi-Strauss’ Rasse und Geschichte stellte nicht allein den Rassismus und die aufs Engste damit verwandte hierarchische temporale Taxonomie in Frage, welche die Vormachtstellung des Westens auch noch während der Dekolonisierung stützte, sondern war ein Plädoyer für jene Vielfalt der Kulturen, die angesichts der homogenisierenden Tendenzen der Modernisierung, der »Universalisierung der westlichen ­Zivilisation« verloren zu gehen drohte133. Im Jahr 1959 führte Georges Charbonnier für den Sender Radiodiffusion-­ télévision française mit Lévi-Strauss eine Reihe von Radio-Interviews durch, die 1969 in Frankreich und 1972 auch auf Deutsch veröffentlicht werden sollten134. Im Rahmen der Frage nach den Unterschieden zwischen den »primitiven und modernen Gesellschaftsformen« differenzierte Lévi-Strauss zwischen »kalten« und »warmen Gesellschaften«135. Diese Unterscheidung in der »historischen Temperatur« von Gesellschaften machte die Trennung von Gesellschaften »mit« und »ohne« Geschichte hinfällig: Denn eigentlich haben alle menschlichen Gesellschaften eine gleich lange Geschichte, da diese doch bis zum Ursprung des Menschengeschlechtes zurückreicht. Doch die sogenannten primitiven Gesellschaften stehen zwar auch innerhalb der Geschichte, ver-

131 Ebd., S. 38. 132 Vgl. ebd., S. 42–47. Dort (S. 42) das Zitat. 133 Ebd., S. 49. 134 Siehe hierzu: Wilcken, Claude Lévi-Strauss, S. 235. 135 Gesellschaften glichen, so das von Lévi-Strauss gewählte Bild, Maschinen, von denen es zwei Typen, die mechanischen und die thermodynamischen, gebe. Während erstere, etwa Uhren, wenn sie gut konstruiert seien, »mit der Anfangsenergie theoretisch unendlich lang arbeiten« könnten, würden letztere, also beispielsweise Dampfmaschinen, zwar enorm viel leisten, »aber nur indem sie ihre Energie verbrauchen und nach und nach zerstören.« Im Unterschied zu den modernen »heißen Gesellschaften« würden die »primitiven« Gesellschaften wenig Unordnung und Entropie erzeugen und hätten »die Tendenz, in ihrem Anfangsstadium zu verharren, weshalb die uns auch wie Gesellschaften ohne Geschichte und ohne Fortschritt vorkommen.« Claude Lévi-Strauss, »Primitive« und »Zivilisierte«. Nach Gesprächen aufgezeichnet von Georges Charbonnier, Zürich 1972 [Original 1969], S. 33–42, S. 33 f. Dort (S. 39) auch das folgende Zitat.

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suchen dabei aber, von ihr unberührt zu bleiben, während unsere Gesellschaften die Geschichte sozusagen verinnerlichen, um sie zum Motor ihrer Entwicklung zu machen.

Lévi-Strauss plädierte gewissermaßen für eine laue Gesellschaft, weder heiß noch kalt, die prägnante posthistorische Züge trug: Wenn es gelänge, so hieß es in sei­ner Inauguralvorlesung am Collège de France im Januar 1960, die zu Maschinen mutierten Menschen wieder in Menschen zu verwandeln und der Kultur vollständig die Aufgabe zugefallen sein würde, den Fortschritt zu produzieren, wäre die Gesellschaft von einem jahrtausendealten Fluch befreit, der sie dazu zwang, die Menschen zu knechten, damit der Fortschritt sei. Dann würde sich die Geschichte ganz von allein machen, und die Gesellschaft, außerhalb und über der Geschichte stehend, könnte erneut jene regelmäßige und gleichsam kristallinische Struktur gewinnen, die, wie die am besten erhaltenen Gesellschaften uns lehren, nicht in Widerspruch zur Menschheit steht.136

Es lohnt, noch kurz bei Lévi-Strauss zu verweilen. Denn hier gerät eben jene­ Geschichtsskepsis und -kritik näher in den Blick, die im Begriff Posthistoire von Frankreich nach Deutschland wandern sollte und im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre als Chronotopos Verwendung fand. Von Lévi-Strauss über den »jungkonservativen« Michel Foucault wird der Weg also zurück zu Habermas und den Debatten in der Bundesrepublik führen, mit denen dieser Abschnitt begonnen hat. Lévi-Strauss’ auf breiter Front geführter Angriff gegen die Geschichte muss vor dem institutionellen Hintergrund der französischen Anthropologie beziehungsweise der französischen intellektuellen Landschaft der 1950er und 1960er Jahre betrachtet werden137. Lévi-Strauss war darum bemüht, der Anthropologie, der Wissenschaft vom Menschen, eine herausgehobene Stellung zu verschaffen, und dazu galt es, die Königsdisziplin Philosophie und vor allem ihren Hauptprotagonisten im Frankreich jener Jahre, Jean-Paul Sartre, vom Thron zu stoßen138: »Im System Sartres spielt die Geschichte genau die Rolle eines Mythos« heißt es im 1962 veröffentlichten La pensée sauvage139. Das letzte Kapitel von Das wilde Denken ist eine Abrechnung mit Sartres 1960 veröffentlichter ­Critique de la raison dialectique, mit dem zugrunde liegenden Geschichtsver136 Claude Lévi-Strauss, Das Feld der Anthropologie, in: Ders., Strukturale Anthropologie II, Frankfurt a. M. 1992 [Original 1960/1973], S. 11–44, S. 41. 137 Siehe hierzu auch: Pierre Bourdieu, Homo academicus, Frankfurt a. M. 1992 [Original 1984], S. 21–23. 138 Vgl. hierzu und zum Folgenden: François Dosse, History of Structuralism I. The Rising Sign, 1945–1966, Minneapolis 1998, insbes. S. 126–141, 222–238, 351–363; sowie Micheal E. Harkin, Lévi-Strauss and History, in: Boris Wiseman (Hrsg.), Cambridge Companion to Lévi-Strauss, Cambridge 2009, S. 39–58; siehe zudem: Hartog, Regimes of Historicity, S. 23–40. 139 Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1973 [französisches Original 1962, deutsches Original 1968], S. 292.

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ständnis, dem Primat des historischen Wissens und der Diachronie gegenüber der Synchronie überhaupt140. Um Sartre vorzuführen und die Überlegenheit sowohl seiner aus der Linguistik auf die Anthropologie übertragenen strukturalistischen Methode als auch des »wilden Denkens« darzulegen, wies Lévi-Strauss geradezu genüsslich auf die Aporien des historischen Bewusstseins hin, dessen »goldene[s] Zeitalter […] bereits endgültig dahin sei«141. Das Primat des historischen Denkens und der diachronen Dimension gründete, so Lévi-Strauss, darin, dass »wir selbst glauben, unser persönliches Werden als einen kontinuierlichen Wandel zu erfassen«, doch diese »angebliche totalisierende Kontinuität des Ich« sei eine Illusion, »die von den Forderungen des gesellschaftlichen Lebens genährt« werde142. Die »uns vorgeschlagene Geschichtsauffassung« entspreche »keiner Wirklichkeit«, und es gebe keine ausgezeichnete Beziehung zwischen dem Menschen und der Geschichte. Bereits der Begriff der »historischen Tatsache« sei illusorisch: »der Historiker oder der Agent des historischen Werdens konstituiert sie durch Abstraktion und gleichsam unter der Drohung eines endlichen Regresses«. Nicht zuletzt daher sei »die Geschichte […] also niemals die Geschichte, sondern die Geschichte-für«. Der Preis für die Aufrechterhaltung der Illusion, dass das Partikulare das Allgemeine sei, bestehe in der »Zuweisung der metaphysischen Funktion des Anderen an die Papua durch das historische Bewusstsein.«143 Es liege jedenfalls keinerlei Berechtigung vor, »dass man sie [die historische Erkenntnis] den anderen Formen der Erkenntnis als eine absolut bevorrechtigte Form gegenüberstellt.«144 Der moderne Mensch habe keinerlei Grund anzunehmen, Geschichte sei dem Mythos und das historische »domestizierte« Denken dem wilden Denken überlegen. Im Gegenteil: »Das wilde Denken ist seinem Wesen nach zeitlos; es will die Welt zugleich als synchronische und diachronische Totalität erfassen«. In Frankreich besiegelte La pensée sauvage den Übergang zum strukturalis­ tischen Paradigma, das mit seinem methodischen Primat der Synchronie die Suche nach den invarianten Strukturen von menschlichen Gesellschaften [begünstigte], das heißt nach dem Unveränderlichen, dem Geschichtslosen und damit nach dem, was als Struktur ›hinter‹ dem Subjekt und noch unabhängig von jeder Geschichte verborgen liegt – nach Strukturen mithin, deren Variationen erst die Spielmöglichkeiten der Geschichte abgeben.«145 140 141 142 143 144 145

Vgl. Wilcken, Claude Lévi-Strauss, S. 258–264. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 293. Ebd., S. 295. Dort (S. 295 f.) auch das folgende Zitat. Ebd., S. 296 f., S. 297. Ebd., S. 295 f., S. 302. Vgl. dort (S. 302 f.) auch für das Folgende. Philipp Sarasin, Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a. M. 2009, S. 100; vgl. hierzu: Dosse, History of Structuralism I, S. 236, 355–357; sowie ders., History of Structuralism II . The Sign Sets, 1967–Present, Minneapolis 1998, S. 427–436.

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Dieser Abschied von der Geschichte oder »Paradigmenwechsel« wurde von diver­sen Faktoren begünstigt: der Expansion des Bildungswesens und dem Aufstieg der  – im Vergleich zu den humanités  – »moderneren« und »wissenschaftlicheren« sciences humaines sowie der grundlegenden Krise des westlichen Marxismus in Folge der Aufdeckung der stalinistischen Verbrechen und des sowjetischen Einmarschs in Ungarn 1956146. Lévi-Strauss nahm mit seiner Entlarvung von Sartres Gebrauch der Geschichte als »Mythos«, als »sozial ›erfolgreiche‹ Fehlleistung[ ]« und als »letztes Refugium eines transzendentalen Humanismus« ­Lyotards Kritik an den geschichtsphilosophischen Metaerzählungen vorweg147. Vom strukturalistischen Aufwind getragen, der vom Erfolg Lévi-Strauss’ ausgegangen war, sollte Michel Foucault in seinem 1966 erschienenen Le mots et les choses die Geburt dieses Mythos beziehungsweise das nahezu spontane Auftauchen des Zeitalters der Geschichte aufzeigen. Es ist hier weder möglich, ­Foucaults archéologie des sciences humaines, so der Untertitel von Le mots et les choses, wiederzugeben und aus seinen Entstehungskontexten heraus zu erläutern noch die Entwicklung Foucaults näher zu erörtern148. Hier interessiert allein die Tatsache, dass Foucault in den 1960er Jahren damit begann, das Geschichtsdenken und das zugrundeliegende Menschenbild als zwingend bedenkenswert zu betrachten. Ganz im Foucaultschen Sinne ließe sich gewissermaßen sogar behaupten, es interessiere hier vornehmlich das vermehrte Auftauchen dieser geschichtsskeptischen Aussagen und des Anliegens, dem Historismus ein anderes posthistorisches Denken zur Seite zu stellen. Wie anfangs bereits angedeutet, machte sich ja jenseits des Rheins mehr oder weniger parallel Reinhart Koselleck ebenfalls daran, den Historismus zu histo­ risieren. Eine Kritik der Moderne stellte für beide einen deutlichen Ansporn dar: die Frage nach der »Pathogenese der bürgerlichen Welt« – man denke nur an Foucaults Histoire de la folie (1961) und Naissance de la clinique (1963), die der Ordnung der Dinge vorangingen – erlaubte sicherlich eine doppelte intellektuelle Biographie149. Heidegger stellte für beide einen gemeinsamen Ausgangspunkt des Denkens dar. Es gibt darüber hinaus auch offensichtliche Analogien zwischen einer »Passivität des Subjekts«, wie sie in Foucaults »Diskurs« gedacht ist, und dem Sprachverständnis von Kosellecks Lehrer Gadamer, der nicht nur 146 Vgl. hierzu: Kindtner, Strategien der Verflüssigung, S. 374–379; Johannes Angermüller, Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld 2007, S. 53–64. 147 Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 292, 302; siehe zudem: Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986 [Original 1979]. 148 Siehe hierzu etwa: Ulrich Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln u. a. 1998, S. 120–194; siehe zudem Martin Kindtner, Propheten der Verflüssigung. Der französische Poststrukturalismus als Gegenwartsdiagnose und politisches Projekt, Diss. Ms., Tübingen 2015. 149 Siehe: Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1973 [Original 1959].

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auf den »Geschehenscharakter der Sprache«, sondern auch darauf hinwies, dass es »richtiger [sei] zu sagen, dass die Sprache uns spricht, als dass wir sie sprechen«150. Rührte die generationelle »Skepsis« gegenüber politisch-historischen Großentwürfen oder Metanarrativen in Deutschland zuvörderst in der Erfahrung des Nationalsozialismus, wurde eine Kohorte französischer Intellektueller aufgrund des Algerienkriegs und der wachsenden Kenntnisse über den real existierenden Kommunismus desillusioniert151. Ob Koselleck und Foucault eine ähnliche Position im intellektuellen Feld ihrer jeweiligen Länder einnahmen, scheint hingegen fragwürdig, wenngleich sie sicherlich beide zunächst eine Außenseiterposition innehatten152. Von zentraler Bedeutung ist jedenfalls die Historisierung jenes Geschichtsdenkens, dessen Entstehung beide im Übergang zum 19.  Jahrhundert lokalisierten. Während Koselleck dem Historismus mit hermeneutisch-historistischen Methoden zu Leibe rückte und daher auch kein Jenseits des Historismus vor Augen gehabt zu haben scheint, suchte Foucault mittels des Strukturalismus und seiner archäologisch-genealogischen Herangehensweise eine Position außerhalb zu gewinnen, die es ihm erlauben würde, »das Unbewusste der Wissenschaft« zu beschreiben153. Im Zentrum seines Anliegens stand, so hat es Manfred Frank formuliert, die »Nicht-Notwendigkeit, d. h. die historische Relativität unserer eigenen Denk-Schemata«154. Die historistische Ordnung der Welt sollte als genauso erstaunlich und kontingent in Erscheinung treten, wie die von ihm anfangs zitierte Taxonomie aus einer »gewissen chinesischen Enzyklopädie«, die Borges in seinem Essay Die analytische Sprache John Wilkins’ ge150 Zu Bedeutung Heideggers für Foucault und für eine vom Subjekt absehende Geschichte siehe: Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a. M. 1984, S. 116–135; sowie Dosse, History of Structuralism I, S. 364–379. Zu den Parallelen hinsichtlich der »Passivität des Subjekts« siehe: Frank, Was ist Neostrukturalismus?, S. 129 f. Das Zitat stammt aus Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 467. 151 Zur »skeptischen Generation« siehe: Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Köln 1957. Zur Kontextualisierung derselben siehe: Franz-Werner Kersting, Helmut Schelskys »Skeptische Generation« von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes, in: VfZ 50 (2002), S. 465–495. 152 Zu den Parallelen siehe: Sebastian Huhnholz, Bielefeld, Paris & Cambridge. Wissenschaftsgeschichtliche Ursprünge und theoriepolitische Konvergenzen der diskurshistoriographischen Methodologien Reinhart Kosellecks, Michel Foucaults und Quentin Skinners, in: Ludwig Gasteiger/Marc Grimm/Barbara Umrath (Hrsg.), Theorie und Kritik. Dialoge zwischen differenten Denkstilen und Disziplinen, Bielefeld 2015, S. 157–182. 153 Obwohl sich Foucault der Etikettierung als Strukturalist verweigerte, heißt es in Die­ Ordnung der Dinge: »Der Strukturalismus ist keine neue Methode, er ist das erwachte und unruhige Bewusstsein des modernen Wissens.« Siehe sowohl zur Verweigerung des Etiketts Strukturalismus als auch zum »Unbewussten der Wissenschaft« das Vorwort zur deutschen Ausgabe: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974 [Original 1966, deutsches Original 1971], S. 15, 11. Das Zitat: Ebd., S. 260. 154 Frank, Was ist Neostrukturalismus?, S. 138.

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schildert hatte. Ex post lässt sich konstatieren, dass dieser Verfremdungs­effekt durchaus eine Wirkung gezeitigt hat, denn eine taxonomische Ordnung, deren unterste Stufe die »Völker ohne Geschichte« und deren oberste die »modernen Völker« einnehmen, erscheint uns heute, so steht zumindest zu hoffen, nicht weniger abstrus als folgende Unterteilung von Tieren: »a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen […].«155 Foucault suchte den toten Winkel und die blinden Flecken des historistischen Paradigmas zu verdeutlichen und seine metaphysischen Grund­ lagen zu enthüllen. So heißt es in Die Ordnung der Dinge: Je mehr die Geschichte über ihre eigene historische Verwurzelung hinauszukommen versucht, desto mehr Anstrengungen unternimmt sie, um jenseits der historischen Relativität ihres Ursprungs und ihrer Optionen die Sphäre der Universalität zu erreichen; desto klarer trägt sie die Stigmata ihrer historischen Entstehung, desto deut­ licher erscheint durch sie hindurch die Geschichte, zu der sie selbst gehört […]. Je besser sie umgekehrt ihre Relativität akzeptiert, desto mehr dringt sie in die Bewegung ein, die ihr mit dem gemeinsam ist, was sie erzählt […].156

Jürgen Habermas ist durchaus zuzustimmen, wenn er schreibt, die neue archäologisch-genealogische Geschichtsschreibung habe »alle jene Voraussetzungen negieren [müssen], die für das historische Bewusstsein der Moderne, das geschichtsphilosophische Denken und die historische Aufklärung seit dem Ende des 18.  Jahrhunderts konstitutiv gewesen sind.«157 Das bedeutete allerdings keine Absage an das Geschichtsdenken per se, sondern eine Absage an eine spezifische Art und Weise Geschichte zu verstehen. Auf diesen Unterschied verwies auch Foucault selbst in einem Gespräch mit Jean-Pierre Elkabach aus dem Jahr 1968, das lohnt, ausführlicher zitiert zu werden und in dem Foucault auf Sartres Vorwurf, er vernachlässige oder missachte die Geschichte, Folgendes entgegnete: Bei den Philosophen gibt es einen Mythos der Geschichte. Die Geschichte für Philosophen ist ein großes, weites Kontinuum, in dem sich die Freiheit des Einzelnen mit den ökonomischen oder gesellschaftlichen Determinanten verschachtelt. Sobald man an eines dieser großen Themen rührt: Kontinuität, tatsächliche Ausübung der mensch­lichen Freiheit, Verbindung zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Determinanten, sobald man an einen dieser großen Mythen rührt, geht das Gezeter der anständigen Leute los und es heißt, man vergewaltige oder ermorde die Geschichte. Tatsächlich haben schon vor langer Zeit bedeutende Leute wie Marc Bloch oder Lucien Fèbvre, die englischen Historiker usw. diesem Mythos ein Ende gesetzt. Sie praktizieren eine ganz andere Geschichtswissenschaft, so dass ich nur 155 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 17; siehe: Jorge Luis Borges, Die analytische Sprache von John Wilkins, in: Ders., Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil. Inquisitionen. Vorworte, hrsg. v. Gisbert Haefs u. Fritz Arnold, München 2003, S. 109–113, S. 111. 156 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 444. 157 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 293.

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erfreut sein kann, wenn man mir vorwirft, ich hätte den philosophischen Mythos von der Geschichte, diesen philosophischen Mythos getötet. Denn genau diesen Mythos wollte ich ja töten, nicht dagegen die Geschichte. Man tötet nicht die Geschichte, sondern allenfalls die Geschichte für Philosophen, und die will ich unbedingt töten.158

Hier wird also deutlich, welche Geschichte im Umfeld des Begriffs Posthistoire verabschiedet wurde und weshalb dieser Terminus dazu geeignet ist, die Transformation geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom zu beschreiben. Denn es wurde jenes Geschichtsverständnis vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht, das seine eigenen metaphysischen Wurzeln nicht der historistischen Kritik und somit der Relativierung unterzog. Mit dem Begriff des Posthistoire, der hier im Zentrum des Interesses steht, war keine »Nachaufklärung«, sondern Aufklärung der Aufklärung intendiert und das hieß eine Historisierung des historistischen Denkens samt der zugrunde liegenden Vorstellungen einer zielgerichteten Evolution der Menschheit, sprich eines Fortschritts und eines Telos, die vom Westen verkörpert würden. Mit den kritischen, kontextualisierenden Mitteln des Historismus sollten die letzten Refugien der Metaphysik heimgesucht  – die Vernunft, das Proletariat, die Geschichte selbst  – und entzaubert werden159. Die »Theorien der Nachaufklärung, der Postmoderne, der Nachgeschichte« dienten vielfach der Zerstörung des Mythos der Moderne, zu dem die Geschichte zählte. Es lohnt abschließend nochmals zu jenem Konflikt zwischen dem Verteidiger des »unvollendeten Projekts der Moderne« und den Kritikern dieses Projekts zurückzukehren. Bei seiner Rede zur Verleihung des Adorno-Preises – ein Preis, der im Übrigen einem jener »Jungkonservativen«, Jacques Derrida, einundzwanzig Jahre später selbst verliehen werden sollte  – lautete der Vorwurf wie folgt: Mit modernistischer Attitüde begründen sie einen unversöhnlichen Antimodernismus. Sie verlegen die spontanen Kräfte der Imagination, der Selbsterfahrung, der Affektivität ins Ferne und Archaische und setzen der instrumentellen Vernunft manichäisch ein nur noch der Evokation zugängliches Prinzip entgegen, ob nun den Willen zur Macht oder die Souveränität, das Sein oder eine dionysische Kraft des ­Poetischen. In Frankreich führt diese Linie von Georges Bataille über Foucault zu Derrida. Über allen schwebt natürlich der Geist des in den 70er Jahren wiedererweckten Nietzsche.160 158 Michel Foucault, Foucault antwortet Sartre [Gespräch mit J.-P. Elkabach], in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. I, 1954–1969, S. 845–854, hier S. 850 f.; vgl. dazu Didier Eribon, Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1991, S. 254. 159 Vgl. hierzu: Brieler, Unerbittlichkeit der Historizität, S. 606: »Alle Subjekte, die als Einheitsgaranten dieser Geschichte auftraten  – die Vernunft, die Klasse, die Geschichte selbst – die Ideen blieben in seinen Augen nichts anderes als säkularisierte Abfindungen für die Vertreibung des Menschen aus einer metaphysischen Ordnung.« 160 Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, S. 463.

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An dieser philosophischen Filiation mag sich Habermas wohl sogleich gestört haben. Derrida, so hieß es nur wenige Jahre später, reklamiere »mit Recht die Rolle des authentischen Schülers [Heideggers], der die Lehre des Meisters kritisch aufnimmt und produktiv weiterführt«, und Foucault überbiete mit seiner »Destruktion einer Geschichtsschreibung, die anthropologischem Denken und humanistischen Grundüberzeugungen verhaftet bleibt« die nietzscheanische Historismuskritik161. Angesichts dieser Traditionslinie sahen die deutschen Kritiker der französischen Denker ein Gespenst umgehen, das Gespenst der »konservativen Revolution«, wenn nicht gar des Faschismus, das eine dezidierte Aversion berechtigt erscheinen ließ162. Manfred Frank, der mit seinen 1983 veröffentlichten Vorlesungen Was ist Neostrukturalismus? zunächst eine Brücke nach Frankreich baute, brach diese mit einem in der Frankfurter Rundschau 1988 publizierten Beitrag hinter sich ab: Die neufranzösische Kritik am ›Logozentrismus‹ (wie sie vor allem von Derrida, ­Deleuze und Lyotard vertreten wird)  trifft hier ein merkwürdiges Stelldichein mit Positionen à la Klages (von dem die Schimpfe gegen den ›Logozentrismus‹ herrührt), Spengler, Baeumler, die wir mit Recht als präfaschistisch bezeichnen.163

Das Gespenst der »konservativen Revolution« ging aber auch um, weil die Auseinandersetzung mit Postmoderne und Posthistoire in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund von Tendenzwende, geistig-moralischer Wende, den geschichts­politischen Volten dieser Jahre und des Historikerstreits stattfand164. Im Streit mit dem Postmodernismus stand aber eben auch die kulturelle Hegemonie zur Debatte, der Vorrang einer Theorie des kommunikativen Handelns gegenüber (post)strukturalistischen Diskursen, kommunikative Vernunft statt Vernunft- und Logozentrismuskritik165. Denn, so Ulrich Raulff, die Lufthoheit der Kritischen Theorie, die Positivismus-Streit und Luhmann-Kontroverse heil überstanden hatte, schien ernstlich in Gefahr. Als Jürgen Habermas Anfang der Achtziger aus Starnberg nach Frankfurt zurückkehrte, fand er eine Studentenschaft vor, die sich täglich mehr dem süßen Sang der Franzosen ergab.166

Es ging zudem um den Gebrauch der Sprache, um das Abgleiten von Wissenschaft in Literatur und um einen neuen Jargon, der unverständlich war und gleichermaßen Skepsis hervorrief, wie es der »Jargon der Eigentlichkeit« Jahrzehnte

161 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 191, 296. 162 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Raulff, Wiedersehen mit den Siebzigern, S. 68–71. 163 Manfred Frank, Kleiner (Tübinger) Programmentwurf. Philosophie heute und jetzt – ein paar Überlegungen, in: Frankfurter Rundschau vom 5.3.1988, S. ZB 3.  164 Siehe hierzu etwa: Große Kracht, Die zankende Zunft, S. 91–114. Sowie für einen Überblick Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20.  Jahrhundert, München 2014, S. 1010–1022. 165 Vgl. hierzu Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 359. 166 Raulff, Im Teich der Zeichen.

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zuvor getan hatte167. Es gab ja in jenen Jahren durchaus ein »rasende[s] Gefasel der Gegenaufklärung«, und es fehlte keineswegs an »schillernden Schwadro­ neuren«, die sich aufs »pläsierliche Parlieren der neueren Franzosen« verlegt hatten168. Sowohl Postmoderne als auch Posthistoire waren auch modische Begriffe, schicke Chiffren, deren Einsatz auch der Mehrung des kulturellen Kapitals diente, war doch mit »Lacancan und Derridada« auf manch einer Westberliner Party gut raunen169. Doch diese Punkte führen an dem eigentlichen Kern der Debatte vorbei. Ohne die Einzelheiten des philosophischen Disputs, der die 1980er Jahre prägen sollte, ausführen zu können, gilt es an dieser Stelle, auf das zentrale Er­ regungspotential hinzuweisen, welches die Rezeption der »Franzosen« in Teilen der Bundesrepublik bestimmte. Postmodernismus und Posthistoire wurden nämlich von ihren Gegnern als eine Variante jenes bereits überwundenen Antimodernismus und Antihistorismus wahrgenommen und weckten somit Erinnerungen an die Konflikte und Problemlagen der 1920er Jahre – die Namen ­Nietzsche und Heidegger verstärkten verständlicherweise diesen Eindruck. Indem man den neuen Antihistorismus in die Nähe des alten, anders gelagerten Antihistorismus der Zwischenkriegszeit brachte, wurde ersterer politisch positioniert und dadurch schlichtweg diskreditiert. Stark vereinfachend lässt sich resümieren, dass es sowohl Habermas als auch »den Postmodernen« um die »Dialektik der Aufklärung« ging, darum wie »die Aufklärung über ihre eigenen Bornierungen aufzuklären«, wie die Moderne zu modernisieren sei170. In­ Habermas’ Antwort auf eine Umfrage von Le Monde zu »Vernunft heute«, welche Die Zeit 1984 abdruckte, heißt es: Es geht um die Frage, ob wir die Selbstkritik einer mit sich selbst zerfallenden Moderne fortsetzen und ob wir innerhalb des Horizonts der Moderne selber von den Pathologien des verfügenden Denkens Abstand gewinnen können – oder ob sich, wie manche behaupten, das Projekt einer Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit schon definitiv erledigt hat.171 167 Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a. M. 1964. 168 Klaus Laermann, Das rasende Gefasel der Gegenaufklärung. Dietmar Kamper als Symptom, in: Merkur 39/3 (1985), S. 211–220, 213, 219. 169 Klaus Laermann, Lacancan und Derridada. Über die Frankolatrie in den Kulturwissenschaften, in: Kursbuch 84 (1986), S. 34–43. Eine lesenswerte Beschreibung der »Szene« und der Partys bei: Felsch, Der lange Sommer der Theorie, S. 185–235. 170 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 353. Zur Modernisierung der­ Moderne siehe: Wolfgang Zapf (Hrsg), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990; sowie­ Ulrich Beck/Wolfgang Bonß/Christoph Lau, Theorie reflexiver Modernisierung – Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprogramme, in: Ulrich Beck/Wolfgang Bonß (Hrsg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a. M. 2001, S. 11–59. 171 Jürgen Habermas, Untiefen der Rationalitätskritik, in: Ders., Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a. M. 1985, S. 132–137, hier S. 134; vgl. Müller-­Doohm, Jürgen Habermas, S. 312.

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Auf Habermas’ streitbare Äußerungen zu den »Theorien der Nachaufklärung, der Postmoderne, der Nachgeschichte« in der Paulskirche folgte eine intensivierte Auseinandersetzung mit Derrida und Foucault, die Eingang in das Buch Der philosophische Diskurs der Moderne fand und auch in einen »unterbrochenen Dialog« mit dem Ende Juni 1984 verstorbenen Foucault wie auch mit­ Derrida mündete172. Es fand eine Annäherung an den »radikalen Historist[en]« statt, die sich auch in dem in der tageszeitung veröffentlichten Nachruf Habermas’ auf Foucault niederschlug173. Und so konziliant der Nachruf, der die Gemeinsamkeit der Frage nach dem, was Aufklärung, was Kritik in der Gegenwart heißen könnte, auch klang, so viel missmutiges Unverständnis tönte aus dem Vorwurf des »Präsentismus, Relativismus und Kryptonormativismus«, der dem Projekt einer archäologisch-geneaologischen Geschichtsschreibung zugrunde liege. In einer Rede vor dem spanischen Parlament im November 1984, die im Januarheft des Merkur erschien, brachte Habermas das grundsätzliche Dilemma der Moderne, das eine erneute Brisanz erhielt, auf den Punkt: Die Moderne sei »auf sich gestellt – sie muss ihre Normativität aus sich selber schöpfen.« »Traditionsfortsetzung und Innovation« seien bislang durch ein Zusammenspiel von utopiekritischem historischem Denken und einem utopischen Denken gewährleistet gewesen, das alternative Lebensmöglichkeiten entwarf174. Doch nun zögen sich die »utopischen Energien« vom geschichtlichen Denken zurück, die Zukunft sei negativ besetzt und die »Antworten der Intellektuellen spiegeln nicht weniger als die der Politiker Ratlosigkeit.« Eine »forsch akzeptierte Rat­ losigkeit« sei an die Stelle »zukunftsgerichteter Orientierungsversuche« getreten. Das Resultat sei Unübersichtlichkeit und das Schwinden des »Vertrauen[s] der westlichen Kultur in sich selbst.« Die Erwartungen an die »mit dem geschichtlichen Denken verschmolzenen Sozialutopien, die seit dem 19. Jahrhundert in die politischen Auseinandersetzungen eingreifen«, seien erschüttert und die Ambivalenz von Wissenschaft, Technik und Planung offensichtlich. Deshalb sei es wenig verwunderlich, dass heute vor allem jene Theorien an Einfluss gewinnen [jene Derridas und Foucaults], die zeigen möchten, dass dieselben Kräfte der Machtsteigerung, aus denen die Moderne einst ihr Selbstbewusstsein und ihre utopischen Erwartungen geschöpft hat, tatsächlich Autonomie in Abhängigkeit, Emanzipation in Unterdrückung, Rationalität in Unvernunft umschlagen lassen.175 172 Siehe hierzu: Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 312 f., 435 f., 644 f. Zum »unterbrochenen Dialog« siehe: Jacques Derrida/Hans-Georg Gadamer, Der unterbrochene Dialog, Frankfurt a. M. 2004. 173 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 326. Dort (S. 324) ist auch von Foucaults »radikalem Historismus« die Rede. Dort (S. 344) auch das folgende Zitat. 174 Jürgen Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: Ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 141–163, hier S. 141. Dort (S. 143) auch die folgenden Zitate. 175 Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates, S. 144. Vgl. dort (S. 145) auch für das Folgende.

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Unter Intellektuellen sei daher der Verdacht verbreitet, dass sich in der Erschöpfung der Utopien und der Entflechtung von geschichtlichem und utopischem Denken »eine Veränderung des modernen Zeitbewusstseins überhaupt anzeige« und sich »die Struktur des Zeitgeists und der Aggregatzustand der Politik« verwandle. Bekanntlich hielt Habermas »die These vom Anbruch der Postmoderne«, in der sich oben genannte Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit widerspiegelten, »für unbegründet«. Für ihn wurzelte die »neue Unübersichtlichkeit« »allein« im Ende der arbeitsgesellschaftlichen Utopie und des sozialstaatlichen Projekts. Fest steht jedenfalls, dass die Fähigkeit der Moderne »ihre Normativität aus sich selber [zu] schöpfen« als gefährdet wahrgenommen wurde und eine Genesung ungewiss schien. Abschließend gilt es zusammenfassend noch eine These zu unterbreiten: Es scheint, als ließe sich das für diese Jahrzehnte signifikante Amalgam aus »neuer Unübersichtlichkeit«, Orientierungslosigkeit, Angst vor den Konsequenzen eines Relativismus, der in der Formel »anything goes« zum Ausdruck kam, einerseits und der Infragestellung der modernen Zeitlichkeit und der Geschichte, die sich in den Chronotopoi Postmoderne und Posthistoire niederschlug, andererseits, als eine zweite »Krise des Historismus« verstehen176.

»Überall nur Herbst und Ende«177 – Eine zweite Krise des Historismus nach dem Boom? Waschechten politik- und ökonomiezentrierten Historikern mag der oben aufgeführte Reigen großintellektueller Konzepte vergebens erscheinen, haben die Philosophen die Welt doch »nur verschieden interpretiert«, wo es doch darauf ankomme, jene welthistorischen Akteure, Helmut Kohl etwa, in den Blick zu nehmen, die sie verändert hätten178. Marx selbst ist wohl das sprechendste Beispiel, dass zwischen Interpretation und Veränderung der Welt keineswegs ein Widerspruch zu bestehen braucht. Die oben herangezogenen Modernisierungstheoretiker, postkolonialen Kritiker und Geschichtsdenker interpretierten die Welt oder in diesem Fall die Zeit und die Geschichte und veränderten dadurch die Wahrnehmung derselben maßgeblich. Selbstverständlich wäre es vermessen anzunehmen, dass die hier angeführten großen Intellektuellen die Transformation geschichtlicher Zeitlichkeit in Gang gebracht hätten  – eine solche Ver­ursachungs­lehre historischen Wandels gilt zu Recht als passé. Doch sie be176 Zur berühmten und vielfach missverstandenen Formel »anything goes« siehe: Paul Feyer­abend, Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1976 [Original 1975]. 177 Gottfried Benn, Unter der Großhirnrinde, in: FAZ vom 22.8.2003 [Original 1911], Nr. 194, S. 31. Vgl. hierzu Oexle, Krise des Historismus, S. 18. 178 Vgl. Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx/Engels, Werke. Bd. 3, 1845–1846, Berlin 1978, S. 5–7, S. 7.

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obachteten Wandel, brachten sich ereignende Transformationen auf den Begriff und bewirkten durch diese Konzepte eine veränderte Wahrnehmung der Welt und somit auch eine Veränderung derselben. Sie fungierten eben als Indikatoren und Faktoren des Wandels, und zwar indem sie Dinge mit Worten taten179. Wenn sie ihre eigene Gegenwart als Postmoderne bezeichneten oder erklärten, die Geschichte sei an ihr Ende gelangt, so handelte es sich dabei um performa­ tive Aussagen oder Interpretationen. Begibt man sich auf der Suche nach den Ursachen und Motivationen für diese Transformation geschichtlicher Zeitlichkeit mittels Interpretationen derselben, dürfte eine Erklärung im Geiste Foucaults vermutlich nur wenige befriedigen: der Wandel der »diskursiven Ordnungen« ereignete sich ohne für uns intelligiblen Grund und weniger aufgrund bewusster Intentionen der Handelnden. Am Rande älterer Formen temporalen Wissens, in dem von ihnen offen gelassenen Raum, tauchte mehr oder weniger unvermittelt eine neue Variante geschichtlicher Zeitlichkeit auf: Welchem Ereignis oder welchem Gesetz gehorchen diese Veränderungen, die bewirken, dass die Dinge plötzlich nicht mehr auf die gleiche Weise perzipiert, beschrieben, genannt, charakterisiert, klassifiziert und gelernt werden […]? Für eine Archäologie des Wissens kann diese tiefe Öffnung in der Schicht der Kontinuitäten […] nicht mit einem einzelnen Wort ›erklärt‹ […] werden. Sie ist ein radikales Ereignis, das sich an der ganzen sichtbaren Oberfläche des Wissens verteilt und dessen Zeichen, Erschütterungen und Wirkungen man Schritt für Schritt verfolgen kann. Allein das Denken, das sich selbst bei der Wurzel seiner Geschichte packte, könnte ohne jeden Zweifel begründen, was in ihm selbst die einsame Wahrheit dieses Ereignisses gewesen ist.180

Wählte man einen wissenschaftshistorischen Zugang, so ließe sich der neue und gewandelte Antihistorismus der angeführten Protagonisten etwa mit Positionierungskämpfen auf dem intellektuellen oder universitären Feld begründen – man denke an die Entthronung Sartres durch Lévi-Strauss. Anzuführen wäre auch das wissenschaftliche Machtkapital und Kapital an intellektueller Prominenz, das sich durch eine provokante Gegenwartsdiagnose erwerben ließ181. Naheliegend wäre es zudem, den gegenseitigen Ansporn etwa des strukturalistischen »Denkkollektivs« darzulegen oder die Kuhn’sche Erklärung für eine »destruktiv-konstruktive[ ] Paradigmaveränderung« beziehungsweise für eine Krise des Historismus heranzuziehen: Es gab ein wachsendes Bewusstsein für »Anomalien«, die mit den divergierenden Erwartungen an den Kollektivsingu179 Zur Funktion von Begriffen als Indikator und Faktor siehe: Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner/Werner Conze/Ders. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, A–D, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII, S. XIV; siehe zudem: John Langshaw Austin, How to do Things with Words, Oxford 1962; siehe zudem Derrida, Marx’ Gespenster, S. 77. 180 Foucault, Ordnung der Dinge, S. 269 f. 181 Vgl. hierzu Bourdieu, Homo academicus; wie auch Kindtner, Propheten der Verflüssigung.

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lar Geschichte immer schwieriger zu vereinbaren waren182. Als eine solche Anomalie ließ sich beispielsweise, erstens, die nicht zuletzt in der Dekolonialisierung und im wachsenden Nationalismus sichtbar werdende Geschichtsmächtigkeit der vermeintlich »geschichtslosen« Völker betrachten, die mit der wachsenden Einsicht in die Eurozentrik des althergebrachten Verständnisses der Geschichte einherging; zweitens, auch die stockende oder scheiternde Modernisierung der »dritten Welt« machte die Notwendigkeit einer Reparatur des vorherrschenden Geschichts- und Zeitlichkeitsmodells zunehmend ersichtlich; für die Marxisten ergaben sich, drittens, aus der Auflösung des historischen Großsubjekts »Proletariat« und dem Scheitern der »Revolution« zahlreiche Konflikte, die sich mit »ad hoc-Modifizierungen der Theorie« nicht mehr aus dem Weg räumen ließen, bis sie 1989/91 (vorerst) implodierte; viertens, wäre auch die wachsende Einsicht zu erwähnen, dass sich die »pathologischen« Erscheinungen der Moderne, vornehmlich der Holocaust, nicht mehr externalisieren ließen. Vielmehr wuchs ein Bewusstsein dafür heran, dass diese »Pathologien« dem »Projekt der Moderne« inhärent seien183. In Übernahme der Lévi-Strauss’schen Diagnose wie auch seines Bildes kalter, sich der Geschichte entziehender Gesellschaften, hat François Dosse vorgeschlagen, die Nachkriegszeit als einen Prozess der Abkühlung zu verstehen184: die fundamentale Enttäuschung der humanistischen Erwartungen und Hoffnungen in den Menschen und seine Vernunft, die zunächst vom Holocaust ausgegangen sei und welche die wachsenden Kenntnisse über die stalinistischen Verbrechen und den real existierenden Sozialismus weiter bestätigten; die Dekonstruktion des Evolutionismus des 19. Jahrhunderts durch die Relativierung des Sonderstatus des Westens; die Unfähigkeit, eine andere Zukunft zu imaginieren, und die Perpetuierung der Gegenwart durch kybernetische Modelle und technokratische Strukturen – all dies habe im Westen zu einem Sinken der »historischen Temperatur« geführt. Diesen Interpretationen gilt es eine ergänzende These zur Seite zu stellen. Denn es könnte sich als heuristisch durchaus fruchtbar erweisen, die Übergangsphase »nach dem Boom« in Anschluss an Otto Gerhard Oexle und Ernst­ Troeltsch als eine zweite »Krise des Historismus« zu betrachten. Die Analogien zwischen den Problemlagen scheinen frappierend, wenngleich es sich, und das gilt es deutlich zu betonen, eben allein um Ähnlichkeiten und Parallelen han-

182 Zum »Denkkollektiv« siehe: Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 92012. Vgl. zudem: Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 21976. Dort (S. 91) auch das Zitat zu den »ad-hoc Modifizierungen der Theorie«. 183 Siehe hierzu etwa: Detlev Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989; Zygmunt Bauman, Modernity and the Holocaust, Ithaca 1989; ders., Modernity and Ambivalence, Oxford u. a. 1991. 184 Dosse, History of Structuralism I, S. 354 f.

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delt, deren Erhellung einen Beitrag zur Lokalisierung der Zeit nach dem Boom innerhalb eines »strukturellen Narrativs« der Moderne leisten dürfte185. Worin bestehen diese Ähnlichkeiten? 1. Radikalisierter Historismus In seinem 1922 veröffentlichten Essay Die Krisis des Historismus wies Ernst­ Troeltsch darauf hin, dass Historismus »die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist«, bedeute. Da alles »im Fluss des Werdens« gesehen werde, lösten sich auch Staat, Recht, Moral, Religion und Kunst in eben jenem Fluss historischen Werdens auf. Alle »ewigen Wahrheiten« würden erschüttert, und daher sei der Historismus als »die erstliche Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken, die eigentümlich moderne Denkform«186. Wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, war die Zeit seit den 1960er Jahren eine Phase radikalisierter Historisierung, in welcher der Historismus in weitere »Winkel der geistigen Welt« eindrang. Im Jahr 2001 hielten Ulrich Beck, Wolfgang Bonß und Christoph Lau fest: Die Prinzipien der Moderne wurden bislang niemals gänzlich durchgesetzt und auf alle Bereiche der Gesellschaft angewandt. Vielmehr entwickelten sich parallel zur Entstehung moderner Gesellschaften Strukturen der Gegenmoderne, neugeschaffene Traditionen und Gemeinschaftsbezüge […]. Mit diesem gegenmodernen Fundament der Ersten Moderne wurden gleichsam Schutzzonen gegen die Dynamik der Moderne geschaffen. […] Diese Strukturen werden durch reflexive Modernisierung zunehmend in Frage gestellt. Unter dem Einfluss unterschiedlicher Prozesse nachholender, radikalisierter Modernisierung […] verlieren sie ihre Selbstverständlichkeit, werden als kontingent erfahren, pluralisiert, wählbar, gestaltbar und geraten unter Begründungsdruck.187 185 Zu »strukturellen Narrativen«, siehe Maier, Consigning the Twentieth Century to History sowie den Beitrag von Chris Lorenz in diesem Band. 186 Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus, in: Ders., Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923). Kritische Gesamtausgabe Bd. 15, hrsg. v. Gangolf Hübinger, Berlin u. a. 2002, S.  437–455, S.  437 f.; vgl. hierzu und zum Folgenden Otto Gerhard Oexle, Krise des Historismus; siehe zudem: Wolfgang Bialas/Gérard Raulet, Die Historismus­debatte in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. u. a. 1996; Anselm Doering-Manteuffel, Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, S. 91–120; Kurt Nowak, Die »antihistoristische Revolution«. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, S.  133–171; Wolfgang Hardtwig, Die Krise des Geschichtsbewusstseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Ders., Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters, Göttingen 2005, S. 77–102. 187 Beck/Bonß/Lau, Theorie reflexiver Modernisierung, S. 34.

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Man braucht nicht zwingend der Theorie reflexiver Modernisierung in ihrer­ Gesamtheit beizupflichten, um anzuerkennen, dass die oben angeführten Debatten durchaus als Prozess reflexiver Historisierung zu verstehen sind. Denn es setzte eine Historisierung des Historismus selbst ein und es wurden die kontingenten Entstehungsbedingungen der westlichen Moderne ergründet. Der Fortschritt, der Evolutionismus und die Geschichte, »wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden« waren, wurden hinterfragt. Der Kollektivsingular Geschichte  – ob in der liberalen oder der marxistischen Variante eines ver­ nünftigen, zielgerichteten, universalen Emanzipationsprozesses  – erwies sich als »ewige Wahrheit«, die mit den Mitteln der Geschichte selbst erschüttert wurde. Die neuen »Antihistoristen«, man denke an Habermas’ Bezeichnung Foucaults, waren radikale Historisten, denn sie suchten das geschichtliche Denken in den Kategorien von Werden und Verlauf keineswegs durch dem Werden ausgenommene Wahrheiten, durch ewige Mythen zu ersetzen, wie dies die Antihisto­risten der 1920er und 1930er Jahre getan hatten188, sondern sie suchten »die Kategorien von Entwicklung, Entwicklungsgeschichte und Fortschritt«, die Geschichte und das Geschichtsdenken selbst als Mythen zu entlarven. Sie trugen somit ein transformiertes kritisch-historisches Denken in weitere »Winkel der geistigen Welt«. Es galt, so Hans Ulrich Gumbrecht in Anlehnung an Jacob Taubes in seinem 1985 veröffentlichten Aufsatz Posthistoire Now, »Geschichte anders zu denken, ohne aufzuhören, überhaupt geschichtlich zu denken«189. Dass anders denken und »Entzauberung« ohne Widerstände ablaufen würden, war nicht zu erwarten. Denn, wenn Geschichte, wenn historische Interpretation als »unendliche Aufgabe« konzipiert wurde, näherte man sich »mit dem Voranschreiten der Interpretation einer absolut gefährlichen Region […], in der die Interpretation nicht nur an einen Wendepunkt gelangt, sondern selbst als Interpretation verschwindet und möglicherweise auch den Interpreten zum Verschwinden bringt.«190 Nicht zuletzt die neuen französischen »Meister des Verdachts« hatten die Axt des Zweifels an die Wurzeln des Baums historischer Erkenntnis gelegt und das historisierende Subjekt selbst zur Disposition gestellt191. Nach Gott waren nun 188 Vgl. hierzu Doering-Manteuffel, Mensch, Maschine, Zeit sowie Fernando Esposito,­ Mythische Moderne. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien, München 2011, S. 408–418, 426–431. 189 Hans Ulrich Gumbrecht, Posthistoire Now, in: Ders., Präsenz, Berlin 2002, S. 9–25, hier S. 24. Ursprünglich erschienen in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachtheorie, Frankfurt a. M. 1985, S.  34–50. Die Tatsache, dass Gumbrecht den Beitrag 2012 nochmals veröffentlichte, verdeutlicht die anfangs angesprochene Kontinuität zwischen der Gegenwart und ihrer Vorgeschichte. 190 Michel Foucault, Nietzsche, Freud, Marx, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. I, 1954–1969, S. 727–743, hier S. 732. 191 Zu den »Meistern des Verdachts« bzw. Zweifels, namentlich Marx, Nietzsche und Freud, siehe: Paul Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 1974, S. 47.

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auch der Autor und, wenn man so will, der Historiker tot und ihre Werke Produkte sich wandelnder Diskurse. Weltbilder, Wissens- und Wertsysteme vermochten wie Kartenhäuser zum Einsturz gebracht zu werden, betrachtete man sie als »gesellschaftliche Konstruktionen« und somit als kontextabhängig und relativ. Und auch jene Schwierigkeiten, die sich aus der Erkenntnis der historisch bedingten Relativität und somit Kontingenz von Wissens- und Wertsystemen, politischen Zielen und Plänen sowie orientierungsstiftenden Zukunftsentwürfen ergaben, erinnern deutlich an die erste »Krise des Historismus«, wie Troeltsch sie schilderte. 2. Erkenntnistheoretisches Dilemma und die Erschütterung des ethischen Wertsystems Die Historie habe zunächst, so Troeltsch, der »Wegräumung der mittelalterlich-­ kirchlichen Kultur«, dann der Erschaffung von Nationen gedient. Doch vor dem Hintergrund des Weltkriegs und der Erschütterung der »selbstverständlichen Maßstäbe« sowie der Infragestellung der Fortschritts- und Entwicklungsbilder in seiner Folge offenbarte sich eine grundlegende Krisis des Historismus192. Das moderne Geschichtsdenken, so die uns hier interessierenden Beobachtungen Troeltschs, zeitigte zum einen ein erkenntnistheoretisch-logisches Problem und zwar die Frage danach, wie angesichts der historisch bedingten Standpunktabhängigkeit des Erkennenden »objektive« Erkenntnis möglich sei193. Als Konsequenz nicht zuletzt dieses epistemologischen Dilemmas diagnostizierte Troeltsch zum anderen eine »Erschütterung des ethischen Wert­systems«: »Es gab keine Begründungsmöglichkeit für Werte mehr«. Für­ Troeltsch hatte der Weltkrieg den Gipfel der Verwirrung geschaffen, der eine Menge alter Wert-Selbstverständlichkeiten und entsprechender Konstruktionen zerstört, aber neue nicht eröffnet hat. All das gehört dem allgemeinen Leben an. Aber da diese Werte selbst alte historische Werte sind und in Entstehung und Gehalt vor allem von der Historie uns vorgeführt wurden, so ist das zugleich eine Krise der Historie selbst in ihrem innersten Gefüge. Sie hat durch den von ihr schwer zu vermeidenden, alles erklärenden und alles ver­ stehenden Relativismus die Erschütterung der Werte angebahnt.194

Auf den ersten Blick scheinen alle Parallelen zwischen der von Troeltsch beschriebenen »Krisis des Historismus« und jener, die hier tastend als zweite in den Blick genommen wird, durch die Bedeutung zunichte gemacht zu werden, die Troeltsch dem Ersten Weltkrieg als dem »Gipfel aller Verwirrung« zuschreibt. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch, dass dem Zweiten Weltkrieg und den kriegerischen Auseinandersetzungen in seinem Gefolge – seien 192 Troeltsch, Krisis des Historismus, S. 439 f. 193 Ebd., S. 441–445. Zur Geschichte der Objektivität siehe: Lorraine Daston/Peter Galison, Objectivity, Brooklyn 32015. 194 Troeltsch, Krisis des Historismus, S. 447, 448, 449.

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es Algerien und Vietnam, sei es der Kalte Krieg  – eine ähnliche, wenn nicht noch größere Bedeutung zugesprochen werden kann, deren volle Tragweite von wachsenden Teilen der Bevölkerung jedoch erst später erfasst wurde. Die enorme Rolle insbesondere der Shoah, aber auch Hiroshimas und eines drohenden Atomkrieges sowie des Umgangs mit den ehemals kolonialisierten Bevölkerungen für die Zerstörung »alter Wert-Selbstverständlichkeiten« des Westens – nicht zuletzt des Glaubens an die Vernunft und ihres Fortschritts, an die Emanzipation der Menschheit und an die Moderne – kann gar nicht überbewertet werden. Doch diese tiefgreifende Erschütterung blieb lange Zeit vornehmlich im Zustand der Latenz und im Schatten der sozialen und ökonomischen Fortschritte des Booms195. Die Dialektik von »Zerbrechung der alten Werttafeln« und radikalisiertem Historismus wurde in einer fundamentalen Vernunftkritik aufgehoben. Im Ergebnis wurde die Fähigkeit der Moderne zunehmend untergraben, »ihre Normativität aus sich selbst zu schöpfen«. Und obwohl die von Nietzsche ein Jahrhundert zuvor diagnostizierten Nachteile der Historie für das Leben nichts von ihrer Aktualität verloren hatten, vermochte der Historismus sein kritisches, Ordnung delegitimierendes Potential voll zu entfalten. Es etablierte sich zumindest zeitweilig und in gewissen Kreisen ein Ethos der Aufklärung, »das man als permanente Kritik unseres geschichtlichen Seins charakterisieren könnte.«196 Dem letzten im Jahr 1994 veranstalteten Kolloquium der Poetik und Hermeneutik-Gruppe lag eine »kontingenzgeschichtliche Arbeitshypothese« zugrunde, die von einem seit der Antike »zunehmenden Kontingenzbewusstsein« ausging197. Es geht aber auch eine Nummer kleiner. In seinem erhellenden Beitrag Modernität als Kontingenzkultur machte Michael Makropoulos auf eine der entscheidenden Differenzen zwischen der Zwischenkriegszeit und den Debatten um die Postmoderne aufmerksam, die auch der Unterscheidung der beiden Krisen des Historismus dienlich sein dürfte. Dort heißt es: die »gegenwärtigen Debatten um Modernität samt ihrer postmodernen Distanzierungsversuche« schrieben weiterhin die »klassisch-moderne Dichotomie von wirklichkeitsstiftender Kontingenzaufhebung [also den Versuchen zur Errich195 Siehe hierzu: Gumbrecht, Nach 1945, insbes. S.  13–61. Zudem hat auch die Historio­ graphie diese »dark side of the boom«, wenn man so will, weniger in Augenschein ge­ nommen. Selbstverständlich wurde die Präsenz der Täter und ihre Integration, die teils beschämende Vergangenheitspolitik und die Konfrontation der Elterngeneration durch die »1968er« thematisiert. Doch es sind eher die Erfolge von »Modernisierung«, »Westernisierung« und »Liberalisierung«, die das Bild der 1950er und 1960er Jahre prägen und weniger der moralische Nachhall des Krieges und die Erschütterung westlicher Werte­ tafeln. Diese andere Geschichte der trente glorieuses als Vorgeschichte der Zeit nach dem Boom ist wohl noch zu schreiben. 196 Michel Foucault, Was ist Aufklärung, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV, Frankfurt a. M. 2005, S. 687–707, hier S. 699. 197 Gerhart von Graevenitz/Odo Marquard, Vorwort, in: Dies. (Hrsg.), Kontingenz, München 1998, S. XI–XVI, S. XII .

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tung von vermeintlich nicht-kontingenten Ordnungen wie im Falle des Faschismus] oder möglichkeitsoffener Kontingenztoleranz fort«. In der erläuternden Fußnote heißt es wiederum: »die sogenannte postmoderne Position« sei »kaum mehr […] als der späte Versuch, die in den 20er Jahren minoritäre Disposition der Kontingenz­toleranz gegen die hegemonialen Ordnungserwartungen aufzuwerten«198. Nach dem Boom wäre dann eine Zeit des Aufbruchs »nach neuen Meeren«, in der es galt und gilt, ohne geschichtsphilosophischen Kompass auf der hohen, offenen Zukunftssee zu navigieren199.

Überblick über den Band Die hier versammelten Beiträge widmen sich weiteren Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit in etwa seit den 1970er Jahren. Im Zentrum auch ihres Interesses steht die Geschichtszeit; jene temporale Bühne also, die unter anderem von Historikern, Philosophen, Literaten, sonstigen Intellektuellen gezimmert wurde und auf welcher die historischen Akteure ihr Schauspiel aufführten. Daher widmen sich die Autoren vornehmlich entweder den Bereichen des Geschichtsdenkens und der Geschichtskultur oder aber der Politik. Die »chrono­ politisch« ausgerichteten Beiträge fragen nach den Veränderungen, die der Wandel des temporalen Gefüges für die Politik zeitigte, oder danach, inwieweit die Politik selbst dieses Gefüge umzugestalten versuchte. Chris Lorenz setzt einen historiographiegeschichtlichen Schwerpunkt und hinterfragt das Periodisieren, die Praxis des Zergliederns von Geschichtszeit. Weshalb wandte sich die Geschichtswissenschaft so spät erst dem Thema »Zeit« zu, und wie kam es, dass Reinhart Koselleck in den 1970er Jahren begann, die Historizität der Zeit und das Periodisieren zu reflektieren200? Neben diesen zentralen Fragen erörtert Chris Lorenz auch, inwiefern die westliche Periodisierung als ein machtvolles Instrument auch die Geschichten des Nichtwestens do198 So plädiere beispielsweise Zygmunt Bauman für eine »›postmoderne Mentalität‹ der ›Einsicht in die Kontingenz‹«; Michael Makropoulos, Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts, in: von Graevenitz/Marquard (Hrsg.), Kontingenz, München 1998, S. 55–79, hier S. 78. Siehe auch die weiteren Beiträge des Bandes. Zur »Kontingenztoleranz« siehe zudem: Michael Makropoulos, Modernität als ontologischer Ausnahme­ zustand? Walter Benjamins Theorie der Moderne, München 1989; Ders., Modernität und Kontingenz, München 1997. 199 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Ders., KSA Bd. 3, Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999 [repr.], S. 649: »Dorthin – will ich; und ich traue / Mir fortan und meinem Griff. / Offen liegt das Meer, in’s Blaue / Treibt mein Genueser Schiff. / Alles glänzt mir neu und neuer, / Mittag schläft auf Raum und Zeit –: / Nur dein Auge – ungeheuer / Blickt mich’s an, Unendlichkeit!«. 200 Vgl. Helge Jordheim, Against Periodization. Koselleck’s Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory 51 (2012), Nr. 2, S. 151–171.

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minierte. Er zeigt auf, weshalb wir den Fetisch Chronologie, die Gleichsetzung von chronologischer und historischer Zeit, nicht mehr anzubeten brauchen. Immer wieder auch über den Kanal und den Atlantik blickend, nimmt Tobias Becker die Nostalgie-Welle der 1970er und 1980er Jahre in der Bundesrepublik in Augenschein und zeigt auf, wie sich der Stellenwert der Vergangenheit veränderte. Bereits die zeitgenössischen Intellektuellen fragten sich, woher jene Sehnsucht nach Vergangenheit rührte, die sich in der Populärkultur, in der Mode, auf dem Buchmarkt und den Flohmärkten, in den Museen sowie in der Denkmalschutz-Bewegung manifestierte. Die Deutungen sahen in der Nostalgie teils einen Reflex der Aufarbeitung des Nationalsozialismus oder interpretierten sie als »Kompensation« für die desorientierende Wirkung des »beschleunigten« Wandels. Neben der offiziellen wissenschaftlichen Geschichtsschreibung drängte sich ein alternativer Umgang mit Vergangenheit in den Vordergrund, der von den Historikern zunächst kritisch beäugt und als unseriöser Konkurrent abgestempelt wurde. Lukas J. Hezel nimmt die Geburtsstunde der Autonomen zu Beginn der 1980er Jahre in den Blick. Die Jugendrevolte, die sie begleitende Punk-Subkultur wie auch die Reaktionen von Öffentlichkeit und Politik werden als Symptome einer »chronopolitischen Hegemoniekrise« gedeutet, insofern der altbewährte Topos temporaler Selbstverortung – der Fortschritt – seine Integrationskraft eingebüßt hatte. Der Beitrag zeigt zudem, inwiefern Zukunftslosigkeit und apokalyptische Endzeitstimmung, die Wahrnehmung einer »betonierten Gegenwart« und die Ablehnung der »Plastikwelt« sowie des entfremdeten Lebens der Eltern in ein Streben nach »Autonomie«, aber eben auch in Gewalt mündeten. Angesichts der empfundenen Ohnmacht schuf ein »militanter Präsentismus« zumindest das Gefühl von agency. Silke Mende wendet sich dem beeindruckenden Erfolg von Michael Endes Momo zu, das 1973 erschien. Mende zeigt auf, inwiefern Ende jenes Unbehagen an der Gegenwart und an der drohenden Zukunft, das für das grün-alternative Milieu symptomatisch war, auf einen Begriff brachte. Mittels des »Momo-Syndroms« werden die Zeit-Diagnosen des Milieus erkundet. Diese fanden nicht nur Eingang in die sich formierende grüne Partei, sondern beeinflussten das mentale Klima der bundesdeutschen Gesellschaft insgesamt: Stellten doch die von den Grün-Alternativen geübte Kritik (an der Technik, am Planungs- und Machbarkeitsdenken, am Fortschritt und an der verwalteten Welt) sowie deren teils apokalyptische Ängste vor atomarer Bedrohung oder Umweltkatastrophen bestimmende Themen und Herausforderungen jener Jahrzehnte dar. Hierbei wird sichtbar, dass der Bruch mit den Erwartungshorizonten, welche in den langen 1960er Jahren vorherrschten, zugleich ein Wiederanknüpfen an ältere Zeitschichten darstellte. Im Zentrum von Elke Seefrieds Beitrag steht der Wandel des sozialdemokra­ tischen Fortschrittsverständnisses seit den 1960er Jahren. Als ökologisches Denken, Wachstumskritik wie auch die Angst vor den atomaren Bedrohungen und konjunkturellen Schwierigkeiten wachsende Teile der bundesrepubli-

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kanischen Bevölkerung in den 1970er Jahren erfassten, sah sich die SPD, die wie keine andere Partei den sozial-emanzipativen als auch industriell-technischen Fortschritt verkörperte, gezwungen, ihre politische Programmatik zu überdenken. Galt es in der Ära Schmidt, vorsichtig Themen wie Lebensqualität und Verzicht zu integrieren, die Grenzen politischer Planung, Steuerung und technologischer Naturbeherrschung zu bedenken, ohne die sich ohnehin transformierende Stammwählerschaft zu verschrecken, so ließen sich aus der Opposition heraus auch Visionen eines anderen Fortschritts entwerfen. Mitte der 1990er Jahre, so stellt Seefried fest, sprach man erneut von Aufbruch, aber auch von Innovation, ökologischer Modernisierung und Nachhaltigkeit, um damit »Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert« zu bahnen. Welch nachhaltigen Effekt diese Zukunftskonzepte selbst auf die Wählerschaft zeitigten, offenbaren die letzten Wahl­ergeb­nisse der einstigen Volkspartei. Achim Landwehrs Beitrag verortet nicht nur die »Zeitturbulenzen« nach dem Boom in einem weiteren zeitlichen Bogen, sondern rahmt das erkenntnisleitende Interesse des Gesamtbandes mit gewichtigen zeit- und geschichtstheoretischen Erwägungen. Landwehr plädiert für eine intensivere Reflexion und Problematisierung von Zeit durch die Geschichtswissenschaften, denn die dominierende Uhren- und Kalenderzeit sei nur eine der Formen, die das menschliche Zeitmachen annehme. Es gilt aber, die »vielen historischen Zeiten und Gleichzeitigkeiten sichtbar zu machen«, die wir hervorbringen. Die von Landwehr unterbreitete systemtheoretische Auslegung der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« ist, wie auch seine Interpretation des Moderne-Begriffs, in einem zweifachen Sinne herausfordernd. Um die Neugierde prospektiver Leser weiter zu wecken, sei zudem erwähnt, dass er nebenbei auch aufzeigt, weshalb wir nicht unbedingt Angst vor Virginia Woolf zu haben brauchen. Das Gespräch, das ich mit Hans Ulrich Gumbrecht im April 2015 in Lüneburg führte, dient der Kontextualisierung und Historisierung seiner zeitgenössischen Rede vom Posthistoire sowie seiner aktuellen Chronotopenwandel-These. Es handelt sich weniger um ein ›Zeitzeugen‹-Gespräch denn um den Versuch, die Vorgeschichte der Gegenwart zu reflektieren. Denn »erst jetzt retrospektiv« könne man, so Gumbrecht, »die vielen Anzeichen, Symptome und Spuren jener sehr profunden Transformation identifizieren […], die wir, als sie sich vollzog, nicht sehen konnten und wollten.« Das Gespräch bietet einen Streifzug durch die intellektuelle Landschaft der alten Bundesrepublik und gewährt einen Einblick in die Verwandlungen des historischen Bewusstseins. Zu guter Letzt gilt es, noch jenen Institutionen und Personen zu danken, die  – nebst den Autoren  – Maßgebliches zum Zustandekommen dieses Bandes beitrugen. Dank gebührt zuvörderst der DFG, die das Postdoc-Projekt im Rahmen des Forschungsverbunds Nach dem Boom gefördert und Publikations­ mittel zur Verfügung gestellt hat. Zudem sei den Leitern des Projekts und Herausgebern der Reihe, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, herzlichst gedankt, die mich, auch als es noch um Zukunftsvorstellungen im Punk ging, gewähren ließen. Besonderer Dank kommt auch den Mitarbeitern und

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dem Direktor des DHI London, Andreas Gestrich, zu, die mich 2010/11 ein halbes Jahr beherbergten und mir gestatteten, im November 2012 den Tales about Time-Workshop zu veranstalten, auf dem erste Gedanken zum Zeitenwandel nach dem Boom diskutiert werden konnten. Daniel Sander von Vandenhoeck & Ruprecht und insbesondere Julia Maria Göth, Lukas Jonathan Hezel und Valerie Schaab sei für die unkomplizierte Zusammenarbeit sowie für die Korrekturen gedankt.

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Der letzte Fetisch des Stamms der Historiker Zeit, Raum und Periodisierung in der Geschichtswissenschaft

Seit langem wissen Historiker um die fundamentale Rolle der Zeit in der Geschichtsschreibung. Manche haben sogar Zeit und Geschichte schlicht gleich­ gesetzt. In seiner Apologie pour l’histoire bezeichnete Marc Bloch die Geschichte bekanntlich als »die Wissenschaft vom Menschen in der Zeit«1. Für Jacques Le Goff ist die Zeit »der Werkstoff des Historikers« und Jules Michelet hat das Verhältnis von Zeit und Geschichte einst mit dem Satz beschrieben »l’histoire, c’est le temps«2. Berufshistoriker des 19. Jahrhunderts waren stolz auf die Bandbreite der historischen Hilfswissenschaften, mit denen sie Ereignisse und Objekte zeitlich bestimmen und einordnen konnten – eine Fertigkeit, die sie ihrer Meinung nach von Philosophen, Literaten und anderen historischen Amateuren abhob. Sie waren sich bewusst, dass die Konstruktion einer universellen Zeitachse ein hartes Stück Arbeit für die Chronologen des 17. und 18. Jahrhunderts bedeutet hatte, die damit, wie Lucian Hölscher ausführt, den Geografen auf ihrer Suche nach einer universalen Topografie gefolgt waren: Eighteenth-century historians often thought of history as a kind of map, where the temporal and geographical position of any single event is significant for its historical meaning. Hence establishing a universal calendar of homogeneous, universal and infinite time and a system of geographical representation of the earth were the most important contributions of eighteenth-century historiography to the modern European idea of history.3

So wurde das chronologische Datieren und das auf der Chronologie fußende Argument – man denke etwa an den Nachweis von Fälschungen von der Konstantinischen Schenkung bis zu den Hitlertagebüchern  – in der historiografischen Praxis geradezu zum Inbegriff dessen, was Historiker meinen, wenn sie von der Zeit reden. Anachronismen gehören seither zu den Todsünden der Geschichtswissenschaft. 1 Marc Bloch, Apologie pour l’histoire ou Métier d’historien, Paris 1997, S. 52. Teile der Einführung stammen aus der Einleitung zu dem mit Berber Bevernage herausgegebenen Sammelband: Breaking Up Time. Negotiating the Borders between the Present, Past and Future, Göttingen 2013. Übersetzt wurde dieser Beitrag von Christine Brocks und Fernando Esposito. 2 Jacques Le Goff, Histoire et mémoire, Paris 1988, S. 24 ; Jules Michelet, Histoire de la Revolution Française, Bd. 3, Librairie Abel Pilon, S. 301. 3 Lucian Hölscher, Time Gardens. Historical Concepts in Modern Historiography, in: History and Theory 53 (2014), Nr. 4, S. 577–591, hier S. 578.

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Historiker wie Fernand Braudel und Reinhart Koselleck beispielsweise waren sich zwar des substanziellen Unterschieds zwischen verschiedenen zeitlichen Dimensionen und Rhythmen bewusst. Und doch haben sich bislang überraschend wenige Historiker eingehender mit historischer Zeit beschäftigt. Es ist symptomatisch, dass selbst in den Geschichtlichen Grundbegriffen (1972–1997) das Lemma ›Zeit‹ fehlt. Das gleiche gilt für Aviezer Tuckers neueren Companion to the Philosophy of History and Historiography (2009) sowie Nancy Partners und Sarah Foots The Sage Handbook of Historical Theory (2013)4. Seit den 1990er Jahren haben sich eine Reihe von Historikern und Philosophen auf zunehmend anspruchsvollem Niveau der historischen Zeit angenommen. Vor allem Lucian Hölscher, François Hartog, Peter Fritzsche, Zachary Schifmann, Achim Landwehr, Jacques Le Goff und Berber Bevernage5 sind den bis mindestens in die 1970er Jahre zurückgehenden Spuren Reinhart Kosellecks gefolgt und haben als selbstverständlich erachtete Zeitkonzepte historisiert. In den geschichtsphilosophischen Debatten um Gegenwart, Distanz, Trauma und historische Erfahrung ist die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses gerückt6. Unabhängig davon haben Anthropologen sowie die Theoretiker der Postcolonial Studies maßgeblich zum wachsenden Interesse an der Zeit beigetragen, indem sie die Zeit der Geschichte als eine speziell westliche dekonstruierten und somit Zeit und Raum miteinander verknüpften. Vor allem der indische Historiker Dipesh Chakrabarty stellt die Vorstellung einer homogenen, linearen Zeit der Geschichte grundlegend in Frage7. Eine vergleichbare Interpretation liefern 4 Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (8 Bde.), Stuttgart 1972–1997; Aviezer Tucker (Hrsg.), A Companion to the Philosophy of History and Historiography, Oxford 2009; Nancy Partner/Sarah Foot (Hrsg.), The SAGE Handbook of Historical Theory, Los Angeles 2013. Im Lexikon Geschichtswissenschaft befindet sich demgegenüber ein Artikel zur »Zeit« von Koselleck selbst, siehe: Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002. 5 Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999; François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003 (englische Übersetzung 2015); Peter Fritzsche, Stranded in the Present. Modern Time and the Melancholy of History, Cambridge MA 2004; Zachary S. Schiffman, The Birth of the Past, Baltimore 2011; Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014; Jacques Le Goff, Must We Divide History Into Periods?, New York 2015; Berber Bevernage, History, Memory, and State-Sponsored Violence. Time and Justice, New York 2012. 6 Eelco Runia, Presence, in: History and Theory XLV (2006), Nr.  1, S.  1–20; Forum zum Thema »Gegenwart« in: History and Theory XLV (2006), Nr. 3, S. 305–375; Historical Distance. Reflections on a Metaphor, Themenheft History and Theory, L (2011), Nr. 4; Holocaust und Trauma. Kritische Perspektiven zur Entstehung und Wirkung eines Paradigmas, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, XXXIX (2011). 7 Siehe Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000, S. 15 f.; Ashis Nandy, History’s Forgotten Doubles, in: ­History

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seit etwa 25 Jahren auch Globalhistoriker, welche die dominante Geschichtsschreibung als ausschließlich auf den europäischen Nationalstaat fokussiert und somit historische Periodisierungen als eurozentrisch kritisieren8. Ein weiterer neuer Zugang zum Problem der historischen Zeit ist aus den Diskussionen um das Anthropozän entstanden. Hierbei handelt es sich um einen Begriff für den geologischen Zeitabschnitt seit der Industriellen Revolution, für ein Zeitalter also, in dem der Mensch durch seine Beeinflussung des Klimas zu einem geologischen Handlungsträger geworden ist. Das Konzept, das im Rahmen der Debatten um den Klimawandel entstand, wurde von den sogenannten »posthumanen Humanwissenschaften« rasch aufgegriffen. Mittlerweile beschäftigen sich aber auch Historiker wie Chakrabarty und Ewa Domanska mit diesem Thema, da es fundamentale Voraussetzungen des historistischen Verständnisses der Geschichte berührt, etwa die grundlegende Unterscheidung von Kultur und Natur sowie die Frage nach der Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft9. Das kürzlich erwachte Interesse der Historiker an der Zeit ist zweifelsohne eng mit der kritischen Infragestellung der »Moderne« und des »Fortschritts« verknüpft, die mit dem Strukturwandel der »nach dem Boom«-Jahre einsetzte10. Die damit verbundenen fundamentalen Veränderungen in den Bereichen Arbeit, Gesundheitswesen, soziale Sicherheit und Altersvorsorge haben seitdem bei den meisten Menschen – mit Ausnahme der Superreichen – für eine allgegenwärtige Unsicherheit gesorgt. Daher wird in weiten Teilen der Gesellschaft



and Theory XXXIV (1995), Nr. 2, S. 44–66; Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 1983. 8 William A. Green, Periodization in European and World History, in: Journal of World History 3 (1992), S. 13–53; Ders., Periodizing in World History, in: History and Theory 34 (1995), Nr. 2, S. 99–111; Jeremy H. Bentley, Cross-Cultural Interaction and Periodization in World History, in: American Historical Review (1996), S. 749–770; Jürgen Oster­hammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen (Bd.  10), Berlin 2006, S­ .  45–64; Ders., Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S.  84–129; Ulf Engel/Matthias Middell, Bruchzonen der Globalisierung, Leipzig 2005. Konrad Hirschler/Sarah Bowen Savant, Introduction. What is in a Period? Arabic Historiography and Periodization, in: Der Islam 91 (2014), Nr. 1, S. 6–19; Le Goff, Periods;­ Sebastian Conrad, What is Global History?, Princeton 2016, S. 141–162. 9 Dipesh Chakrabarty, The Climate of History. Four Theses, in: Critical Inquiry 35 (2009), Nr.  2, S.  197–222; Ewa Domanska, The New Age of the Anthropocene, in: Journal of Contemporary Archaeology 1 (2014), Nr. 1, S. 98–103; Zoltan Boldiszar Simon, History Manifested. Making Sense of Unprecedented Change, in: European Review of History/ Revue européenne d’histoire 22 (2015), Nr. 5, S. 819–834. 10 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2012. Im Folgenden wird der Lesbarkeit halber darauf verzichtet, Begriffe wie ›Moderne‹, ›Fortschritt‹, ›Geschichte‹, ›Mittelalter‹, ›Westen‹ etc. stets in Anführungszeichen zu setzen. Diese wie weitere vermeintlich selbstverständliche (temporale) Etikettierungen werden hier historisiert und reflektiert.

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Zukunft nicht länger mit Fortschritt assoziiert, sondern mit einem Gefühl der Angst. Die auf das bekannte Buch von Thomas Piketty folgenden Diskussionen haben gezeigt, dass solche Ängste durchaus nicht jeglicher Grundlage entbehren11. Neue Nahrung erhielten gesellschaftliche Unsicherheiten und Ängste mit »9/11«, als die Weltordnung mit dem bis heute anhaltenden Krieg gegen den (islamistischen) Terrorismus eine neue Ausrichtung erhielt und die Kriegsund Ausnahmesituation zu einem Dauerzustand wurde12. Die Finanzkrise von 2007/8 schließlich hat jeden Zweifel darüber ausgeräumt, dass die Großbankiers der westlichen Welt die Politik der neoliberalen Deregulierung nach dem Boom vor allem dazu benutzten, ihre Boni kurzfristig und unter der Gefährdung aller in die Höhe zu treiben. Da die neoliberalen Staaten die Großbanken als »too big to fail« und ihre Bankiers als »too big to jail« erachteten, ist ein Ende dieser Finanzkrise nicht in Sicht13. Dass sich Historiker erst relativ spät mit der Zeit zu beschäftigen begannen, ist jedenfalls schon deshalb bemerkenswert, weil verschiedene Kulturen und soziale Gruppen immer schon die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterschiedlich gezogen haben und dies bis heute tun. Die weltweite Einführung einer standardisierten Weltzeit seit den 1870er Jahren (Greenwich Standard) widerspricht dieser kulturellen, räumlichen und sozialen Vielfalt verschiedener Zeiten ebenso wenig wie die Tatsache, dass Historiker intensiv die Verbreitung der Uhrzeit erforscht haben14. Dem vergleichsweise marginalen Stellenwert der Zeit als Gegenstand der Geschichtswissenschaft entspricht ein ähnlich geringes Interesse an Fragen der Periodisierung. Letzteres ist besonders erklärungsbedürftig, da Historiker immer Periodisierungen vornehmen, wenn sie Geschichte schreiben, wie Jürgen­ Osterhammel ausgeführt hat. Es gehört schließlich zu den grundlegenden historiografischen Tätigkeiten, die Vergangenheit in Scheibchen zu schneiden und diese dann zu benennen: »Die Vergangenheit erscheint zumindest dem modernen europäischen Bewusstsein als eine Abfolge von Zeitblöcken.«15 Ob Politik, Wirtschaft, Kunst oder Umwelt – was auch immer das Themenfeld sein mag – Historiker zerteilen die Zeit in spezifische, kontinuierliche und kohärente­

11 Thomas Piketty, Capital in the Twenty-First Century, Cambridge MA 2014. 12 Giorgio Agamben, State of Exception, Chicago 2005. 13 Siehe David Harvey, A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005; Ders., The Enigma of Capital and the Crises of Capitalism, London 2010; Nathaniel Popper/Peter Eavis, Regulators Warn 5 Top Banks They Are Still Too Big to Fail, in: New York Times, 14.4.2016 (URL: http://www.nytimes.com/2016/04/14/business/dealbook/living-wills-of-5-banksfail-to-pass-muster.html, zuletzt eingesehen am 21.7.2016). 14 Ein Überblick bei: Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 116–126; Landwehr, Geburt der Gegenwart; Vanessa Ogle, The Global Transformation of Time 1870–1950, Cambridge MA 2015. 15 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 88. Siehe auch: Le Goff, Periods, S. 114.

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Blöcke, die sich von vorhergehenden und nachfolgenden Zeit­blöcken unterscheiden und von ihnen durch Diskontinuitäten erzeugende Zäsuren geschieden sind16. Neben dieser der Geschichtsschreibung inhärenten Periodisierung wird in der europäischen Geschichtswissenschaft zudem schon institutionell zwischen Altertum, Mittelalter und Neuer Geschichte unterschieden, wobei diese Epochen für gewöhnlich noch einmal in frühe, mittlere und späte Abschnitte zeitlich unterteilt werden17. Die Frage der Periodisierung bildet damit an sich schon eine wesentliche Grundlage des Berufs des Historikers18. In diesem Beitrag werde ich die jüngsten Entwicklungen innerhalb der Forschungen zur historischen Zeit beleuchten und mich dabei auf das vieldiskutierte Verhältnis von Geschichte und Moderne konzentrieren. Der erste Teil wird die einflussreiche These Reinhart Kosellecks betrachten, der zufolge der Moderne eine exponentielle Beschleunigung zugrunde liegt, und der Frage nachgehen, inwieweit dieses Konzept neuere Varianten des »Präsentismus« beeinflusst hat, wie sie beispielsweise von François Hartog und Hans Ulrich Gumbrecht formuliert worden sind. Ich erörtere zum einen, inwieweit Kosellecks Zeitauffassung und Periodisierungsvorschlag modern und eurozentrisch ist und zum anderen, weshalb Koselleck gerade in den 1970er Jahren damit begann, die historische Zeit zu problematisieren. In einem zweiten Schritt wende ich mich dem engen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der Moderne und jenem der Geschichte als wissenschaftlicher Disziplin zu und diskutiere, inwiefern die »Neuzeit« alle anderen historischen Epochen hervorbrachte. In einem dritten Teil gehe ich den historischen Ursprüngen des modernen Konzepts linearer Zeit nach und frage insbesondere nach dem Einfluss postmoderner und postkolonialer Kritik an der Teleologie westlicher Periodisierungen auf das historische Denken. Abschließend wende ich mich dem Verhältnis von »leerer«, chronologischer Periodisierung zu »gefüllter«, substantieller Periodisierung zu. Es wird der performative Charakter von Periodisierungen betont und erörtert, wie dieselben im Verbund mit Raumkonstrukten kollektive Identitäten schaffen.

16 Osterhammel, Über die Periodisierung, S. 45–64; siehe auch Krystof Pomian, L’ordre du temps, Paris 1984, S. 161: »[T]o construct a periodization is to admit that the succession of facts and objects is not just a simple appearance, that it reflects something real. The realities inaccessible to view are presupposed as continuous, aligned, seperated by zones of rupture that nonetheless leave something that endures, and (that are) arranged in the order of succession, in brief, inscribed in time and endowed each one, with temporal­ thickness.« 17 Osterhammel, Über die Periodisierung, S. 45–48. 18 Dennoch hebt Osterhammel eine »Periodisierungsabstinenz« unter (deutschen) Historikern hervor: Ders., Über die Periodisierung, S. 45.

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Geschichte und Moderne: Das Verhältnis von Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften im Wandel Obwohl die Geschichtswissenschaft seit der »Geburt der Moderne« die Existenz ihres Untersuchungsgegenstandes Vergangenheit voraussetzt, ist weder über diese Vergangenheit noch über die Grenzlinien, welche die Gegenwart von der Vergangenheit und der Zukunft scheiden, besonders häufig nachgedacht worden. Zeithistoriker sind ab und an der Frage nachgegangen, wie die Gegenwart und das Gegenwärtige definiert werden können, doch diese Überlegungen waren eher praktischer als philosophisch-theoretischer Natur19. Paradoxerweise hat sich die historische Forschung auch selten damit beschäftigt, wie gegenwärtige Phänomene zu vergangenen werden können oder zumindest als solche wahrgenommen oder erfahren werden. Tatsächlich waren es Anthropologen wie Johannes Fabian und Marshall Sahlins, die anfingen, die Vorstellung einer fortlaufenden, linearen Zeit in Frage zu stellen. Sahlins hat darauf hingewiesen, dass manche Kulturen die Zukunft in ihrer Vergangenheit verorten (wie die Bewohner von Hawaii, als Kapitän Cook die Insel besuchte). Von Fabian stammt der Gedanke, dass die Anthropologie bei der Konstruktion ihres Untersuchungsgegenstandes aus einer räumlichen eine zeitliche Distanz machte. Das Ergebnis ist die für die Anthropologie fundamentale »Verweigerung der Zeitgenossenschaft« (»denial of coevalness«), sprich die Annahme einer Ungleichzeitigkeit zwischen ›primitiven‹ und ›modernen‹ Menschen, die sich auch im Denken Kosellecks niederschlug20. Aleida Assmann hat jedenfalls zweifellos Recht, wenn sie konstatiert, dass die Differenzierung zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft jeglicher ontologischer Grundlage entbehre, und dass diese Differenzierung immer eine kulturelle Konstruktion sei21. 19 Siehe z. B. Martin Sabrow, Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012. 20 Marshall Sahlins, Islands of History, Chicago 1985. Für die Stärken und Schwächen von Fabians Analyse siehe: Berber Bevernage, Tales of Pastness and Contemporaneity. On the Politics of Time in History and Anthropology, in: Rethinking History 20 (2016) (URL: http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/13642529.2016.1192257?journalCode= rrhi20, zuletzt eingesehen am 22.7.2016); siehe auch: Vanessa Ogle, A Briefer History of Time. How the World Adopted a Uniform Conception of Time, in: Foreign Affairs, 12.10.2015: »In these years [the 19th century, Anm. d. Verf.], the nation was imagined not only as a national community but as a part of a global community of societies and other nations that were all positioned in historical time. Non-Western societies – either deemed ›peoples without history‹ or people at an earlier stage of civilizational and evolutionary development – were destined to be the subject of anthropology rather than history. Time, or the absence thereof, thus became a measure for comparing different levels of evolution, historical development, and position on a global scale.« 21 Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, S. 273: »Die wichtigste Entdeckung, die wir seit 1980 im Zuge des Niedergangs des modernen Zeitregimes machen konnten, ist eben diese Kulturalisierung der Zeit«. Dies widerspricht Kosellecks Unterscheidung von »Naturzeit« und »historischer

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Zeitliche Differenzierungen variieren in Abhängigkeit vom religiösen, juristischen, wirtschaftlichen und ökologischen Kontext, innerhalb dessen diese Unterscheidungen vorgenommen werden22. Zeit und Zeitabschnitte oder ­-perioden sind perspektivisch und sektoral spezifisch23. Seitdem Historiker die Vorstellung aufgegeben haben, dass eine geschichtliche Epoche ihre Kohärenz aus dem Zeitgeist – gedacht als eine dominante Idee – beziehe24, sehen die meisten, die sich mit Zeit und Periodisierung beschäftigen, diese gewöhnlich im Plural. Der Rankeanische Glaube einer übergreifenden Kohärenz in der Zeit als dem al­ leinigen Rückgrat einer Epoche hat sich spätestens seit den 1970er Jahren verflüchtigt25. Inzwischen ist die Rede von Moderne so allgegenwärtig und zugleich inhaltlich und zeitlich so offen geworden, dass einige Historiker den Sinn dieses Epochenbegriffs gänzlich in Zweifel ziehen26.

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Zeit« innerhalb der Geschichte des Menschen. Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2005, S. 163. Siehe zum Beipiel: William Gallois, Time, Religion and History, London 2007; Berber Bevernage, Transitional Justice and Historiography. Challenges, Dilemmas and Possibilites, in: Macquarie Law Journal 13 (2014), S. 7–24. Beispiele in Osterhammel, Verwandlung der Welt, S.  84–116; Alexander Geppert/Till Kössler (Hrsg.), Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015. Dieses Konzept formulierte Ranke 1854 folgendermaßen: »Der Historiker hat also ein Hauptaugenmerk erstens darauf zu richten, wie die Menschen in einer bestimmten Periode gedacht und gelebt haben; dann findet er, daß, abgesehen von gewissen unwandel­ baren ewigen Hauptideen, z. B. den moralischen, jede Epoche ihre besondere Tendenz und ihr eigenes Ideal hat. Wenn nun aber auch jede Epoche an und für sich ihre Berechtigung und ihren Wert hat, so darf doch nicht übersehen werden, was aus ihr hervorging. Der Historiker hat also fürs zweite auch den Unterschied zwischen den einzelnen ­Epochen wahrzunehmen, um die innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge zu betrachten. Ein gewisser Fortschritt ist hierbei nicht zu verkennen; aber ich möchte nicht behaupten, daß sich derselbe in einer geraden Linie bewegt; sondern mehr wie ein Strom, der sich auf seine eigne Weise den Weg bahnt.« Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maximilian II . von Bayern im Herbst 1854 zu Berchtesgaden gehalten, Leipzig 1888, Kapitel 1. Zur begriffsgeschichtlichen Bestimmung des »Zeitgeistes« siehe Theo Jung, Zeitgeist im langen 18. Jahrhundert. Dimensionen eines umstrittenen Begriffs, in: Achim Landwehr (Hrsg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 319–357. Dies gilt auch für die Autoren von Nach dem Boom, die betonen, dass Zäsuren nicht »von einem Punkt her analysiert werden« sollten (S. 13). Sie verweisen darauf, dass das einen kontinuierlichen Prozess unterstellende Leitkonzept der »Modernisierung« den »statischen« Konzepten der »Moderne« und der »Postmoderne« Platz gemacht und sich damit gleichzeitig der Begriff des »Fortschritts« aufgelöst habe (S. 107, S. 135). Vgl. Le Goff, Periods, S.106, dessen Argument ambivalent ist, da er mit seiner These von einem »langen Mittelalter« an der Möglichkeit einer Periodisierung festhält: »[…] it becomes clear that it was not until the middle of the eighteenth century that the West may truly be said to have entered a new period«. Siehe etwa: Frederick Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley CA 2005, S.113–153; Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 88–89 sowie AHR Roundtable: Historians and the Question of »Modernity«, in: AHR 116 (2011), S. 631–751.

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Es ist häufig dargelegt worden, dass auch in verschiedenen Kulturen jeweils unterschiedliche Orientierungen in der Zeit überwiegen und dass Aufstieg und Niedergang der Moderne diesbezüglich grundlegend gewesen seien. Dieser Auffassung zufolge zeichnen sich traditionale Kulturen vor allem durch eine (politisch, ethisch und kulturell relevante) Orientierung an der Vergangenheit aus, während in ›modernen‹ Kulturen charakteristischerweise eine Orientierung an der Zukunft dominiere27. ›Postmoderne‹ Kulturen dagegen richten sich gewöhnlich auf die Gegenwart aus. So hat, anknüpfend an Koselleck, François Hartog bekanntlich die These vertreten, dass das westliche Geschichtsdenken als eine Abfolge dreier »Historizitätsregime« vorgestellt werden kann: Bis zur Französischen Revolution etwa habe die Orientierung an der Vergangenheit überwogen; bis in die 1980er Jahre hinein sei dann eine Zukunftsorientierung vorherrschend gewesen; seitdem richte man sich vornehmlich an der Gegenwart aus. Der Wandel, dem diese zeitlichen Orientierungen unterliegen und die Frage, wie sie aufeinander folgen, gleichzeitig miteinander existieren oder interagieren, sind jedoch bisher nur ungenügend untersucht worden. Und das, obwohl, wie weidlich bekannt, dem modernen Fortschrittsdenken im 19. Jahrhundert das Konzept der Dekadenz etwa oder die Idee der ewigen Wiederkehr zur Seite standen28. Es fehlen ebenso weitere Analysen zur These Kosellecks, Hartogs sowie­ Hartmut Rosas, gemäß derer der historische Prozess selbst seit dem Takeoff der Moderne durch eine exponentielle Beschleunigung charakterisiert sei29. Dies ist umso überraschender angesichts der in letzter Zeit erstaunlich wachsenden Zahl von Publikationen zum Denken und Werk Kosellecks30. Der 2006 verstor27 Siehe vor allem: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989; Hartog, Régimes d’historicité; Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? 28 Siehe für historische Fallstudien: Fernando Esposito (Hrsg), Fascist Temporalities, in: Themenheft JMEH 13 (2015), Nr.1; François Hartog, The Modern Regime of Historicity in the Face of Two World Wars, in: Bevernage/Lorenz (Hrsg.), Breaking up Time, S. 124–134; Lucian Hölscher, Mysteries of Historical Order. Ruptures, Simultaneity and the Relationship of the Past, the Present and the Future, in: Bevernage/Lorenz (Hrsg.), Breaking up Time, S. 134–155. Hartog weist ausdrücklich darauf hin, dass die verschiedenen »Regime« durchaus gleichzeitig miteinander existieren können und betont, dass die »Regime der Historizität« als Idealtypen für weitere Forschungen konzipiert sind. 29 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 150–176; Ders., Zeitschichten, S. 90, siehe auch S. 200: »[Denn] nachdem die Beschleunigung als eine spezifisch geschichtszeitliche Kategorie zum Erfahrungsmuster geworden ist, verwandelt sich im Rückblick die gesamte Geschichte in eine Zeitfolge zunehmender Beschleunigung«. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005; ­Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? S. 23–47. 30 Es ist symptomatisch, dass Osterhammels Betrachtung der Beschleunigung nur zwei Seiten seines 1568 Seiten umfassenden opus magnum Verwandlung der Welt einnimmt (S.  126–128). Nach dem Boom widmet dieser Frage fünf Seiten (S.  102–107), hier wird die Erfahrung der Beschleunigung mit der Erfahrung der Zukunftsunsicherheit verbunden; ein Punkt, auf den schon Lübbe und Marquardt hingewiesen haben. Zum Koselleck­

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bene Bielefelder Historiker stellte es jedenfalls als eine »Binsenweisheit« dar, dass aufgrund »zunehmender Beschleunigung« und Ausdifferenzierung (besonders seit der Industriellen und der Französischen Revolution) die Perioden der Menschheitsgeschichte immer kürzer würden31. Für Koselleck stellte diese »zunehmende Beschleunigung« der Geschichte, dieser »Motor« der Moderne, eine Evidenz dar und nicht nur eine von mehreren Möglichkeiten, die historische Zeit zu periodisieren32. Koselleck unterscheidet im Wesentlichen drei Phasen der Weltgeschichte, die jeweils durch eine »exponentielle Zeitkurve« und einen entsprechenden, der Reproduktion dienenden Raum gekennzeichnet sind: Jeder Phase entspricht also ein »Zeitraum«, der durch den jeweiligen technologischen Entwicklungsstand bedingt ist. Die erste Phase ist jene der Hominiden, die sich über die letzten 10 Millionen Jahre erstreckt. Während der letzten zwei Millionen Jahre entwickelten sich die Homini zu Jägern und Sammlern, die anfingen Steinwerkzeuge zu benutzen. Für die Nahrungssicherung eines jeden Einzelnen waren mehrere Quadratkilometer Fläche notwendig. Die zweite Phase begann vor 30.000 Jahren, als Waffen und Fähigkeiten zur Tötung anderer menschlicher Wesen entwickelt wurden33. Gegen Bernheim gerichtet argumentiert Koselleck, dass man diese Phase als »strukturierte Periode unserer Geschichte« auffassen könne34. Sie schließt die 12.000 Jahre alte Entwick-

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boom siehe u. a.: Helge Jordheim, Against Periodization. Koselleck’s Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory 51 (2012), Nr. 2, S. 151–171; John Zammito, ­Koselleck’s Philosophy of Historical Time(s) and the Practice of History, in: History and Theory 43 (2004), S. 124–135. Angesichts der Tatsache, dass Kosellecks fundamentale Beschleunigungsthese auf dem epochalen Wendepunkt von der Vormoderne zur Industriellen Moderne fußt und – man denke nur an die »Sattelzeit« – Koselleck durchaus eine Periodisierung der Geschichte vorgeschlagen hat, erscheint Jordheims These, Koselleck sei »gegen Periodisierung« gewesen, verblüffend (zumindest sofern Jordheim hier nicht der Rankeanischen Idee folgt, dass Periodisierung nur im Singular und nicht im Plural existiert). Koselleck, Zeitschichten, S. 90. Siehe auch: Alessandra Lianeri, A Regime of Untranslatables. Temporalities of Translation and Conceptual History, in: History and Theory 53 (2014), S. 473–497, insbes. S. 492: »Koselleck’s paradigm does not quite dispense with the need to periodize. […] the very distinction between the contemporaneous and the noncontemporaneous involves a certain form of periodizing, which at least makes it possible to recognize the foreignness of the past to the present.« Koselleck, Zeitschichten, S. 162: »Die Beschleunigung scheint ein Gebiet nach dem anderen zu erfassen, nicht nur die technisierte Industriewelt, den empirisch überprüfbaren Kern jeder Akzeleration, sondern ebenso das Alltagsleben, die Politik, die Ökonomie, die Bevölkerungsvermehrung.« Siehe dazu auch die Beiträge Raum und Geschichte, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? und Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation, in: Koselleck, Zeitschichten, S. 78–97, 150–177 und 177–203. Koselleck liefert keine unterstützenden Quellen für seine These, der zufolge sich das Handwerk und die Fähigkeit zur Tötung von Mitmenschen durch von Menschen hergestellte Waffen gleichzeitig entwickelten. Koselleck, Zeitschichten, S. 91.

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lung von Landwirtschaft und Tierzucht ebenso mit ein wie den vor 6.000 Jahren begonnenen Aufstieg von organisierten und differenzierten Hochkulturen: Es ist »die Zeit der Großreiche, die sich allesamt, regional geschieden, für das Zentrum der Erde gehalten haben« und in denen das Verhältnis zwischen Zeit und Raum, ungeachtet temporärer »Störungen« durch Kriege, »stabilisiert« war35. Jede (Teil-)Phase zeichnet sich durch zunehmende Kontrolle über den natürlichen Lebensraum aus, beispielsweise durch den Ausbau vorgegebener Transportwege zu Wasser und zu Land, die die Geschwindigkeit des Verkehrs ständig erhöhten36. Die dritte und aktuelle Phase der Weltgeschichte beginnt vor etwa 200 Jahren mit dem Aufstieg wissenschaftlich gestützter Technologien und der (industriellen) Moderne. Seitdem ist die Beschleunigung aller Lebensbereiche zu einer institutionellen Besonderheit moderner Zeiten geworden, nicht zuletzt durch die zunehmende Kontrolle des Menschen über Zeit und Raum und eine daraus folgende »Denaturalisierung des geografisch vorgegebenen Raumes«37. Seither ist, nach Koselleck, die Globalisierung zu einem Faktor des modernen Lebens geworden, wenn auch nicht überall mit der gleichen Geschwindigkeit und den gleichen Mitteln, denn nicht alle Menschen der Gegenwart sind in der Moderne angekommen: »Wir müssen vielmehr lernen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in unserer Geschichte zu entdecken, denn schließlich gehört es zu unserer eigenen Erfahrung, dass wir noch Zeitgenossen haben, die in der Steinzeit leben.«38 Somit liegt das Fazit nahe, dass sowohl Kosellecks auf der Vorstellung der Beschleunigung gründende Periodisierung der Menschheitsgeschichte als auch seine Theorie der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« jenem Eurozentrismus verhaftet bleiben, der im »Chronozentrismus« (Fabian) wurzelt, dem zufolge der Westen zeitlich fortgeschrittener sei und den Maßstab aller anderen, nicht-westlichen Zeiten abgebe39. Dieses Problem taucht nicht nur bei Kosellecks Theorie der »Zeitschichten« auf, sondern auch bei allen anderen Konzep35 Ebd., S. 92 f. 36 Ebd., S. 90–94 und 200–202. Die zweite Phase scheint auf seiner historischen Anthropologie zu basieren, in der er das »Totschlagenkönnen« zu der Heideggerschen Bestimmung der Endlichkeit des Menschen hinzufügt. Ebd., 101. 37 Ebd., S. 94. 38 Ebd., S. 307 und 292: »Es gibt heute immer noch Stämme, die gerade erst die Steinzeit hinter sich gelassen haben, während führende Nationen wie die USA bereits ihre Astronauten auf den Mond senden«. 39 Siehe: Achim Landwehr, Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, in: HZ 295 (2012), S. 1–34, hier S. 23: »Mit einem linearen Zeitmodell, das den Fortschrittsgedanken immer schon in sich trägt, kann es gar nicht anders sein, als dass ›wir‹ allen anderen überlegen sind, einfach weil ›wir‹ ihnen zeitlich voraus sind. Wo ›wir‹ sind, ist vorne«. Siehe auch S. 6–7: »[Und] wer dieses Wort verwendet [Ungleichzeitigkeit, Anm. d. Verf.], muss sagen können, nach welchem Maβstab etwas oder jemand als ›ungleichzeitig‹ apostro­phiert wird, weil damit immer eine bestimmte Norm von ›Gleichzeitigkeit‹ einhergehen muss – ansonsten würde das Wort der ›Ungleichzeitigkeit‹ keinen Sinn machen«. In seinem Aufsatz Time Gardens stellt Hölscher die Frage nach einer ›Referenzzeit‹ (›container-time‹) ohne diese

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ten der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, wie Achim Landwehr kürzlich überzeugend ausgeführt hat40. Die These einer zunehmenden Beschleunigung bildet auch die Grundlage einer weiteren höchst einflussreichen Charakterisierung unserer gegenwärtigen Zeit. Dies ist die von Francois Hartog, Hans Ulrich Gumbrecht und Hartmut Rosa auf verschiedene Art und Weise ausgearbeitete Diagnose, dass wir Westler einer »breiten Gegenwart« gegenüberstehen41. Breit deshalb, weil diese Gegenwart beständig sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft absorbiert. Permanente Selbsthistorisierung (»Dies ist ein historischer Moment!«, Archivierung, Musealisierung, Erinnerung) und Zukunftsberechnung (durch Prognosen, Meinungsumfragen etc.) gehören zum präsentistischen Modus des In-der-Zeit-Seins. Trotz der beispiellosen Veränderungsgeschwindigkeit der Gegenwart und ihrer permanenten Schrumpfung, die Hermann Lübbe treffend als »Gegenwartsschrumpfung« bezeichnet hat42, wird die Gegenwart zunehmend als ein »rasender Stillstand« (Paul Virilio) erfahren43. Die »breite Gegenwart« ist im Wesentlichen ein »Posthistoire«, in dem die Gewissheit des modernen Menschen von der Formbarkeit der Zukunft durch politische Mittel geschwunden ist44. Frage auf Kosellecks Zeittheorie zu beziehen: »But one may ask: what holds all these modes of temporality together? Is there still a ›time garden‹ with a ›fence‹ surrounding all the temporal layers that have grown on the ground of history and the social sciences?« (S. 591). 40 Die geologische Metapher der Zeitschichten erlaubte es Koselleck, die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« begrifflich einzufangen und zu visualisieren und diese von ihm in den 1970er Jahren vorgelegte Theorie umzuformulieren. Siehe: Landwehr, Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹. Außerdem Berber Bevernages Kritik an der Vorstellung einer »container-time« in seinem Buch History, Memory, and State-Sponsored Violence, S. 116. 41 Hartog, Regimes of Historicity; Rosa, Beschleunigung; Hans Ulrich Gumbrecht, Our Broadening Present, New York 2014. Osterhammels These von einer gegenwärtigen »Schwächung des Epochenbewusstseins« könnte als Untermauerung der präsentistischen Sichtweise gelesen werden. Siehe Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 89. 42 Hermann Lübbe, Die Modernität der Vergangenheitszuwendung. Zur Geschichtsphilosophie zivilisatorischer Selbsthistorisierung, in: Stefan Jordan (Hrsg.), Zukunft der Geschichte. Historisches Denken an der Schwelle zum 21.  Jahrhundert, Berlin 2000, S. 26–35, insbes. S. 29. 43 Koselleck zufolge ist die Gegenwart als zeitliche Kategorie erst mit der Französischen Revolution entstanden  – als eine zeitliche Differenzierung der »neuesten Zeit« innerhalb der »modernen Zeit«: »Was mit dem Begriff der neuen Zeit noch nicht möglich war, gelang der ›neuesten Zeit‹. Sie wurde zum zeitgenössischen Epochenbegriff, der eine neue Periode eröffnete, nicht nur rückblickend registrierte«. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 326. 44 Siehe den Überblick bei Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989; Fernando Esposito, Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Anselm Doering-Manteuffel/Luz Raphael/ Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, S. 393–423; siehe die grundlegende Kritik an der »Beschleunigungstheorie« bei Assmann. Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 209–239.

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Eine mit Gumbrechts Thesen über Zeit und Raum verwandte Diagnose war vom Geografen David Harvey mit seinem Konzept der »Raum-Zeit-Kompression« vorgelegt worden: Mit der technologischen Innovation seit dem 19.  Jahrhundert sei ein zunehmender Bedeutungsverlust von Raum und Zeit einhergegangen. In Harveys marxistischer Analyse wird diese Entwicklung mit der Globalisierung des Kapitalismus verknüpft, die vor allem im Verlauf der Postmoderne ihren Lauf genommen habe. Seiner Auffassung nach bleibt es indes prinzipiell möglich, den Kapitalismus durch politische Mittel zu transformieren45. Für Gumbrecht ist insbesondere das allumfassende digitale Speichervermögen das Kennzeichen der Gegenwart  – ein Gedanke, der sich auf Nietzsches­ Kritik an den Nachteilen der Historie für das Leben zurückführen lässt. In Gumbrechts Augen ist Nietzsches Warnung vor der die Handlungsfähigkeit des Menschen hemmenden »Unfähigkeit zu Vergessen« Realität geworden, da alle digital aufbewahrten Informationen – zumindest theoretisch – für immer erhalten, zugänglich und damit »präsent« bleiben46. Die Allgegenwärtigkeit des Gedenkens und der (digitalen) Archivierung sind Charakteristika des gegenwärtigen Zustandes47. Nicht nur für Gumbrecht, sondern auch für Hartog und andere, vermag der Begriff der Beschleunigung auch weitere Charakteristika der Jahrzehnte seit 1980 zu erklären, so etwa die pilzartige Vermehrung von Museen und historischen Ausstellungen, die bemerkenswerte Abfolge diverser Retro-Kulturen, die typisch seien für den »Erinnerungsboom«, den damit verbundenen »Identitätsboom« und das Geschäft mit dem »kulturellen Erbe« (»heritage industry«). Aus Sicht der Vertreter der Beschleunigungs- und der Kompensationstheorie neigen Menschen unter den Bedingungen des beschleunigten Wandels dazu, sich an bekannte Vergangenheiten wie ein Kind an seinen Teddybär (Odo­ Marquard) zu klammern48. Es versteht sich dabei von selbst, dass sich der »Erinnerungsboom« der 1980er Jahre, der mit dem Zeitalter der culture wars und der Auseinandersetzungen um kollektive Identitäten einherging, exakt in diese Sichtweise einfügt. Es ist kein Zufall, dass der französische Historiker Pierre Nora, auf den bekanntermaßen das Konzept der »Erinnerungsorte« zurückgeht, 45 David Harvey, The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Cambridge MA 1990. 46 Eine skeptischere Sichtweise vertritt Abbie Smith Rumsey, The Risk of Digital Oblivion, in: The Chronicle of Higher Education, 4.5.2016 (S. 4): »Oblivion can begin as soon as the next software update.« 47 Gumbrecht, Our Broadening Present. 48 Hermann Lübbe, Der Streit um die Kompensationsfunktion der Geisteswissenschaften, Einheit der Wissenschaften. Internationales Kolloquium der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1991, S. 209–233. Zur grundsätzlichen Kritik an der »Kompensa­ tionstheorie« siehe Assman, Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 218–238; Jörn Rüsen, Die Zukunft der Vergangenheit, in: Stefan Jordan (Hrsg.), Zukunft der Geschichte. Historisches Denken an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, S. 175–182.

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sich ebenfalls der Beschleunigungstheorie angeschlossen hat und das »Zeitalter des Gedenkens« explizit als eine Reaktion auf die zunehmende Beschleunigung und die Krise der Nationalgeschichte versteht49.

Historiker und Moderne Zeiten: Historismus und Moderne In der Geschichtstheorie ist häufig darauf hingewiesen worden, wie passförmig sich die akademische Geschichtsschreibung zu Modernismus und Fortschrittsdenken verhält. Auf den ersten Blick scheint es geradezu paradox, dass die Geschichtswissenschaft in einem intellektuellen Umfeld gedieh, das beständige Erneuerung wie auch die Überwindung der Vergangenheit durch eine fortschrittlichere Zukunft betonte. Koselleck hat dieses Paradoxon bekanntlich folgendermaßen erklärt: Das moderne historische Bewusstsein und die Geschichte als wissenschaftliche Disziplin entstanden beide in der sogenannten »Sattelzeit« zwischen 1750 und 1850, als soziale und technologische Innovationen sowie sich wandelnde Überzeugungen von einer immer Neues mit sich bringenden Zukunft einen neuen »Erwartungshorizont« erzeugten, der immer häufiger mit dem traditionellen »Erfahrungsraum« brach50. In der Moderne entfernten sich Vergangenheit und Zukunft immer weiter von der Gegenwart. Der Historismus muss somit als Zwillingsbruder der Moderne verstanden werden51. Geschichte als wissenschaftliche Disziplin war abhängig von der modernen Weltsicht, der zufolge der Fortschritt eine permanente Erscheinung darstellt, die zugleich  – in ein- und derselben dialektischen Bewegung  – sowohl neue Gegenwarten als auch alte Vergangenheiten herstellt52. Die Differenzierung von Vergangenheit und Gegenwart und die damit verbundene Behauptung vom Anderssein oder der Fremdartigkeit der Vergangenheit erlaubte es Histo49 Pierre Nora, Between Memory and History. Les Lieux de Mémoire, in: Representations 26 (1989), S. 7–24, hier S. 9. Kenan van de Mieroop hat ganz richtig beobachtet, dass Nora das »Zeitalter des Gedenkens« zwar als »globales Phänomen« ausweist, aber nur für Frankreich spezifische Erklärungen liefert. Siehe: Kenan Van De Mieroop, The »Age of Commemoration« as a Narrative Construct. A Critique of the Discourse on the Contemporary Crisis of Memory in France, in: Rethinking History 20 (2016), Nr. 2, S. 172–191. 50 Koselleck, Vergangene Zukunft. Es hat sich inzwischen gezeigt, dass auch das Konzept der »Sattelzeit« der Pluralisierungswelle nicht entgehen konnte. Siehe Jörn Leonard, Erfahrungsgeschichten der Moderne. Von der komparativen Semantik zur Temporalisierung europäischer Sattelzeiten, in: Hans Joas/Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt a. M. 2011, S. 423–449; Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 104–109. 51 Zur Moderne siehe: Hans Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: Geschichtliche Grundbegriffe (Bd. 4), S. 93–131; Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 9–47. 52 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 315: »Um die eigene Zeit als entscheidend neu im Gegensatz zur vorausgegangenen und insofern alten Geschichte zu bestimmen, bedürfte es nicht nur einer unterscheidenden Einstellung zur Vergangenheit, sondern mehr noch der Zukunft.«

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rikern, Geschichte als eine autonome Disziplin zu etablieren, die eigener Methoden bedurfte. Historiker konnten so die Vorstellung eines stetig wachsenden zeitlichen Abstandes zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu ihrem Vorteil nutzen. Sie taten dies, indem sie diesen Zeitabstand als Bruch – als Diskontinuität – zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart darstellten, der die Vergangenheit in ein Wissensobjekt verwandelte und zugleich die Grundvoraussetzung für eine objektive und vorurteilsfreie Betrachtung derselben schuf. Die dem Fortschrittsdenken zugrundeliegende Vorstellung, nach der die Zeit nicht zufälligen oder richtungslosen Wandel mit sich brächte, sondern kumulative Veränderungen, die in einer höherentwickelten Zukunft mündeten, diente der historischen Zunft als Untermauerung der These vom Mehrwert der historischen ex-post Perspektive und ihrer epistemologischen Überlegenheit gegenüber den Zeitzeugen. Sowohl Hegel als auch der Historismus waren der Auffassung, dass das Fortschreiten der Zeit auch einen Fortschritt der Wahrheitsfindung und der wahrhaftigen Erzählung ermögliche. Aufgrund des epistemologischen Mehrwerts, der vom Zeitenabstand erzeugt wurde, war die moderne Geschichte der Erinnerung per definitionem überlegen53. Es ist darum kein Wunder, dass sich die Geschichtswissenschaft einem Legitimitätsproblem gegenübersah als das allgemeine Vertrauen in den Fortschrittscharakter der Zukunft nach 1970 erodierte. Paradoxerweise war es genau dieser Glauben an die Fortschrittlichkeit der Zukunft, der die Stellung der Geschichtswissenschaft in den 1950er und 1960er Jahren zu unterminieren begann, als sich nämlich die Sozialwissenschaften als Zukunftsdisziplinen präsentierten, die das wissenschaftliche Fundament für die Modernisierungs- und »social engineering«-Programme der Nachkriegszeit liefern würden (Robert K. Merton). Der dezidiert modernistische Anspruch der Sozialwissenschaften, die Leitdisziplinen der Zukunft darzustellen, war zwischen 1950 und 1970 so ausgeprägt, dass zahlreiche Historiker begannen, die Geschichtswissenschaft als sozialwissenschaftlichen Ableger zu konzipieren54. Freilich sollte dabei nicht vergessen werden, dass das nach 1970 schwindende 53 Hegel hat für diese Auffassung den berühmten Ausspruch geprägt: »Die Eule der Minerva fliegt in der Dämmerung.« Vgl.: Gadi Algazi, Forget Memory. Some Critical Remarks on Memory, Forgetting and History, in: Sebastian Scholz u. a. (Hrsg.), Damnatio in Memoria. Deformation und Gegenkonstruktionen von Geschichte, Wien u. a. 2014, S. 25–34. Zu Hegels grundlegender Rolle in der Entstehungsgeschichte der Historismus siehe: Chris Lorenz, Blurred Lines. History, Memory and the Experience of Time, in: International Journal for History, Culture and Modernity 1 (2014), Nr. 2, S. 43–63. 54 Dies ist offensichtlich eine These der Annales Schule, wie sie vor allem von Fernand­ Braudel formuliert wurde. Kosellecks Analyse der zeitlichen Strukturen war eindeutig als eine Weiterentwicklung der Braudelschen Theorie der verschiedenen Zeitebenen gemeint. Siehe auch: David Landes/Charles Tilly, History as Social Science, New York 1971. Traditionelle Historiker begannen ungefähr um diese Zeit den »Tod der Vergangenheit« (J. H. Plumb, 1959) und den »Verlust der Geschichte« (Alfred Heuss, 1969) zu beklagen. Der deutsche Historikertag von 1970 stand signifikanterweise unter dem Motto »Wozu noch Geschichte?«.

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Vertrauen in die Zukunft auch innerhalb der Sozialwissenschaften – vor allem der Soziologie – zu einer grundlegenden Krise führte, die sogar noch intensiver ausfiel als die der Geschichtswissenschaft55. Wie dem auch sei, schon Koselleck hat gezeigt, dass die »Neuzeit« die anderen Epochen – »Mittelalter« und »Altertum« – schuf und den Anspruch erhob, sich deutlich von diesen andersartigen Zeitaltern zu unterscheiden, die zur eigenen Vorgeschichte deklariert wurden. Die Moderne ist jedenfalls kein Akzidenz der westlichen Periodisierung, sondern ihr Telos. Daher wird weder die Einführung »multipler Modernen« diesen Makel mildern, noch wird er dadurch beseitigt werden können, dass die Vergangenheit – wie im Falle der big oder deep history – immer weiter ausgedehnt wird. Die Moderneteleologie ist das Geburtsmal, wenn nicht sogar der Geburtsfehler westlicher Periodisierung56. Kathleen Davis hat daher zu Recht behauptet, dass der (säkulare) Modernismus den (religiösen) Mediävismus notwendigerweise zu seinem spiegelbildlichen Anderen erklärte (so wie er auch den mittelalterlichen Feudalismus der modernen Souveränität gegenüberstellte)57. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich indische, japanische und koreanische Historiker des 20. Jahrhunderts dieser ›negativen‹ Beziehung zwischen feudalem Mittelalter und säkularer Moderne wesentlich bewusster waren als ihre Kollegen aus dem Westen, als sie eifrig in ihren »mittel­a lterlichen« Vergangenheiten nach »feudalen« Institutionen zu suchen begannen, um den modernistischen Anspruch ihrer Gesellschaften stützen zu können58. Die Frage, weshalb Koselleck gerade im Verlauf der 1970er Jahre begann, His­ to­rismus und Moderne zu historisieren, ist bisher weder gestellt, noch beantwortet worden. Wenn Niklas Olsens These stimmt, dass Koselleck seine zentralen Deutungen bereits in den frühen fünfziger Jahren entwickelt hatte, und zwar in einer kritischen, doppelten Auseinandersetzung mit Schmitt und H ­ eidegger, dann bleibt weiterhin die Frage offen, weshalb seine diesbezüglichen Publikationen erst 20 Jahre später erschienen59. Eine erste Teilantwort mag darin zu su55 Siehe zum Beispiel die einflussreiche und ›zeitgemäße‹ Diagnose bei Alvin Gouldner, The Coming Crisis of Western Sociology, New York 1970; Derek Phillips, Knowledge from What? Theories and Methods in Social Research, New York 1971. Allerdings waren sich nur sehr wenige Historiker in den 1970er Jahren dieser Krise der Sozialwissenschaften bewusst. 56 Siehe z. B.: Lynn Hunt, Measuring Time, Making History, Budapest 2008. 57 Kathleen Davis, Periodization and Sovereignty. How Ideas of Feudalism and Secularization Govern the Politics of Time, Philadelphia 2008. 58 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 93–94; Sebastian Conrad, What Time Is Japan? Problems of Comparative (Intercultural) Historiography, in: History and Theory 38 (1999), Nr.  1, S.  67–83; Dipesh Chakrabarty, The Muddle of Modernity, in: AHR 116 (2011), S. 663–675; Stefan Tanaka, Unification of Time and the Fragmentation of Pasts in Meiji Japan, in: Lorenz/Bervernage (Hrsg.), Breaking up Time, S. 216–236; Hitomi Sato, Transnational Historiography of the Middle Ages between Europe and Eastern Asia. The Question of »Decline« and »Medieval Liberty« (unveröffentlichtes Manuskript). 59 Niklas Olsen, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck and the Foundations of History and­ Politics, in: Journal of European Ideas 37 (2011), S. 197–208.

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chen sein, dass sich Koselleck mit der »skeptischen Generation« Helmut S­ chelskys identifizierte. 1957 sah Letzterer die Kohorte der Nachkriegsjugend unter anderem durch eine generelle Skepsis gegenüber utopischen Projekten und Politiken gekennzeichnet. Diese Skepsis wurzelte seiner Auffassung nach in deren Kriegserfahrungen während des »Dritten Reiches« (meist als Soldaten der Wehrmacht, was auch auf Koselleck zutrifft)60. Seither hätten diese Skeptiker auf alle politischen Ideologien allergisch reagiert und die Vorstellung vom Geschichte-Machen als einen fatalen kategorischen Fehler angesehen, der aus der Aufklärung und der Französischen Revolution herrühre61. Die Studentenrevolution von »1968« sorgte daher für ziemliche Unruhe in dieser »skeptischen Generation«. Der Umstand, dass linke Intellektuelle und Studenten in West-Deutschland etwa zur gleichen Zeit begannen, eine »kritische« Vergangenheitsbewältigung einzufordern, vermehrte die Besorgnisse nicht weniger »Skeptiker«62 (von de60 »Ein Minimum an Skepsis ist sozusagen die professionelle Krankheit, an der ein Historiker leiden muss. Unter diesem Vorbehalt würde ich sagen, dass ich durch die Kriegserfahrung mein ganzes Studium aufgebaut habe. Meine Grundhaltung war Skepsis als Minimalbedingung, um utopischen Überschuss abzubauen, auch die utopischen Überschüsse der 68er.« Koselleck zitiert nach Christian Meier, Gedenkrede auf Reinhart Koselleck, in: Neithard Bulst/Willibald Steinmetz (Hrsg.), Bielefelder Universitätsgespräche und Vorträge, Bielefeld 2007, S. 7–35, hier S. 15. Siehe auch: Christina Morina, Reinhart Koselleck und das Überleben in Trauer nach den Umbrüchen von 1945 und 1989, in: ZfG 63 (2015), S. 435–450. 61 Siehe z. B. Reinhart Koselleck, Über die Verfügbarkeit der Geschichte, in: Ders., Vergangene Zukunft, S. 260–278 und S. 35–36, wo er auf das »Wechselspiel von Revolution und Reaktion« seit der Französischen Revolution und auf die »zukunftlose Zukunft« hinweist, wie sie von allen utopischen Ideologien, linken und rechten gleichermaßen, formuliert worden ist: »Seitdem wird es möglich sein, Fiktionen wie das tausendjährige Reich oder die klassenlose Gesellschaft in die geschichtliche Realität zu überführen«. Siehe hierzu auch: Christophe Bouton, Das Problem der »Machbarkeit der Geschichte« im deutschen Idealismus, in: Alain Patrick Olivier/Elisabeth Weisser-Lohmann (Hrsg.), Kunst – Religion – Politik, München 2013, 419–431. 62 Es sollte hier nicht vergessen werden, dass die historische Sozialwissenschaft der Biele­ felder Schule in den späten 1960er Jahren als »kritische historische Sozialwissenschaft« propagiert wurde. Inspiriert war sie von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, mit der Hans-Ulrich Wehler nicht zuletzt dank des Kontakts zu Jürgen Habermas in Berührung kam, den er noch aus gemeinsamen Schulzeiten auf dem Gymnasium in Gummers­bach kannte. Das vorangestellte ›kritische‹ verschwand allerdings in den frühen 1970er Jahren, nachdem die historische Sozialwissenschaft unter der Federführung Hans-Ulrich Wehlers und Jürgen Kockas mit der neuen Universität Bielefeld eine institutionelle Basis erhielt. Im Laufe der Tendenzwende sollten zudem andere gesellschaftlichpolitische Probleme in den Vordergrund rücken, welche das emanzipative Programm in den Hintergrund geraten ließen. Zur frühen Programmatik siehe: Hans-Ulrich Wehler, Geschichte als historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a.M 1973; Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff, Entwicklung, Probleme, Göttingen 1977; Dieter Groh, Kritische Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht, Stuttgart 1983. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass Koselleck 1973 von Heidelberg nach Bielefeld ging, kurz bevor Helmut Schelsky, der diesen Wechsel vermittelt hatte, Bielefeld verließ. Die persönliche Distanz zwischen Koselleck und Wehler ist mittlerweile legendär.

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nen einige wegen ihrer früheren Beteiligung am »Dritten Reich« das Ziel von Aktionen der linken Studentenschaft wurden). »1968« weckte außerdem das theoretische Interesse zahlreicher Skeptiker an der Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und löste ihre Kritik an der ideologischen Illusion der Neuen Linken aus, Geschichte zu machen, die sie in gewisser Weise an die Nationalsozialisten erinnerte63. Im Rahmen einer historisierenden Ideologiekritik doch im Gegensatz zu den zeitgleich entstehenden marxistischen Varianten64 wurden sowohl die Zeit der Utopie als auch jene der Geschichtsphilosophie in den 1970er Jahren zu vorrangigen Untersuchungsgegenständen – und das nicht nur für Koselleck, der berechtigterweise darauf hinwies, dass sowohl die Geschichtswissenschaft als auch die Geschichtsphilosophie in der Vorstellung der Geschichte als »Kollektivsingular« gründeten65. Ihr gleichzeitiges Entstehen war daher keineswegs zufällig. Eine zweite Teilantwort auf die Frage, weshalb Koselleck das moderne Konzept der Geschichte in den 1970er Jahren zu hinterfragen begann, ist eng mit Hans-Georg Gadamers Fundamentalkritik am Historismus verknüpft. Zwar hatte der Heidegger-Schüler Gadamer sein opus magnum Wahrheit und Methode schon 1960 veröffentlicht, doch wurde es erst in den 1970er Jahren durch Jürgen Habermas’ Auseinandersetzung mit der Gadamerschen Hermeneutik in seinem internationalen wissenschaftlichen Bestseller Erkenntnis und Interesse (1968) weithin bekannt66. Gadamer hatte die Vorstellung einer Objektivität in den his63 Wie weithin bekannt, stand Koselleck in regelmäßigem intellektuellen Kontakt mit Carl Schmitt, einem der wenigen Wissenschaftler, die den Nationalsozialismus unterstützt und nach 1945 ihren Professorentitel verloren hatten. Meier und Steinmetz sind allerdings der Auffassung, dass Kosellecks Beziehung zu Schmitt rein intellektueller und nicht politischer Natur war. Siehe Meier, Gedenkrede, S.  14 und Willibald Steinmetz, Nachruf auf Reinhart Koselleck (1923–2006), in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 412–432, hier S. 418, FN 27 (gegen Niklas Olsen). Otto Brunner, einer der Mitherausgeber Kosellecks bei den Geschichtlichen Grundbegriffen, war zwischen 1945 und 1954 ein Lehrverbot auferlegt worden. Werner Conze, der dritte Mitherausgeber, hatte so eng mit dem nationalsozialistischen Regime zusammengearbeitet, dass er von Götz Aly in sein Buch Vordenker der Vernichtung aufgenommen worden ist. Conzes Rolle wurde erst 1998 öffentlich bekannt, immerhin zehn Jahre nach seinem Tod, siehe: Peter Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 1998. 64 Siehe zu einigen Versuchen, die »kritische« und die »historisierende« Variante der Ideologiekritik einander gegenüberzustellen Karl-Otto Apel, Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M. 1971. 65 Philosophen der nach ihrem Gründer, dem Münsteraner Joachim Ritter, benannten ›Ritter-Schule‹ wie Odo Marquard und Hermann Lübbe schlugen eine ähnliche geschichtsphilosophische Richtung ein, indem sie den Skeptizismus ebenfalls zu einer fundamentalen philosophischen Tugend erhoben. Siehe zum Beispiel Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973; Ders., Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Esssays, Stuttgart 2003, insbes. S. 11–30 und S. 281–291. 66 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960; Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968.

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torischen Wissenschaften als positivistische Chimäre kritisiert, welche eine objektive Textinterpretation nach dem Modell der objektiven Beobachtung im physikalischen Experiment konzeptualisieren wollte. Gadamer – und ihm folgend Habermas – argumentierte gegen diese modernistische Idee und der zugrunde liegenden Vorstellung einer zeitlosen Interpretation: Jegliche Interpretation finde innerhalb des zeitgebundenen »Sinnhorizontes« sowohl des Interpreten als auch des Texts statt. Gadamer (und Habermas) zufolge ist die Interpretation im Wesentlichen die »Verschmelzung« dieser beiden »Horizonte«. Zusammen mit Gadamers philosophischer Hermeneutik fand Heideggers Konzept des »In-derZeit-seins« seit den 1960er Jahren Einlass in die Philosophie des Historismus und bot damit die philosophische Grundlage für Kosellecks eigenen Ansatz, die­ Moderne und den Historismus zu historisieren67. Ein dritter Aspekt vermag ebenfalls zur Beantwortung der oben gestellten Frage beizutragen: Kosellecks Wende hin zu einer Theorie der historischen Zeit in den 1970er Jahren gründete auch in der weitverbreiteten Überzeugung, dass die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und die Geschichtswissenschaft im Besonderen theoriebedürftig seien.68 Vor allem in der neu gegründeten Universität Bielefeld glich die Theoriebedürftigkeit einem generellen Glaubensbekenntnis, und diese Überzeugung verband Koselleck mit der historischen Sozialwissenschaft Hans-Ulrich Wehlers und Jürgen Kockas, gleichwohl Koselleck im Unterschied zu den beiden Letztgenannten nicht für den Gebrauch sozialwissenschaftlicher Theorien in der Geschichte plädierte69. Für alle drei Bielefelder stellte die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« eine fundamentale Voraussetzung dar, um die deutsche Geschichte zu erklären. So wurde das Ungleichzeitigkeitskonzept auch zum theoretischen Rückgrat der Bielefelder Sonderwegsthese70. 67 Gadamer, einer der Lehrer Kosellecks, mit dem er später auch befreundet war, half 1965 zusammen mit Werner Conze bei Kosellecks Berufung nach Heidelberg (siehe Steinmetz, Nachruf auf Reinhart Koselleck). 1985 diskutierten Gadamer und Koselleck über das Verhältnis der Koselleck’­schen Historik zur Hermeneutik Gadamers. Die Diskussion wurde 1987 veröffentlicht. Siehe Koselleck, Zeitschichten, S. 97–131. 68 Siehe Philip Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015. 69 Siehe Steinmetz, Nachruf auf Reinhart Koselleck, S. 421–422. Zur allgemeinen Diskussion siehe: Jürgen Kocka/Thomas Nipperdey (Hrsg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979. 70 Siehe James Sheehan, Paradigm Lost? The »Sonderweg« Revisited, in: Gunilla Budde/­ Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S.  150–161; Chris Lorenz, ›Won’t You Tell Me, Where Have All the Good Times Gone?‹. On the Advantages and Disadvantages of Modernization Theory for History, in: Rethinking History 10 (2006), S.171–200. Christian Meier zufolge war Kosellecks Hinwendung zu einer Theorie historischer Zeiten nichts weiter als eine »Defensivposition«, mit welcher er auf die Herausforderung der Sozialwissenschaften reagierte, die in den 1960er und 1970er Jahren aufgekommen war. Siehe: Meier, Gedenkrede auf Reinhart Koselleck, S. 22 f.

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Historische Zeiten in der Postmoderne Angesichts der direkten Verbindung von Moderne und Historismus im Allgemeinen und von modernen und historischen Zeitkonzeptionen im Besonderen ist es keine Überraschung, dass die in den letzten Jahrzehnten erfolgte grundsätzliche Infragestellung der Moderne seitens der Theoretiker der Postmoderne signifikante Implikationen für die Geschichte und die Erinnerung  – ihrem postmodernen Konkurrenten  – hatte. Üblicherweise beginnt eine Geschichte dieser Rivalität mit Pierre Nora und seinem aus den 1980er Jahren stammenden lieux de mémoire-Projekt. Nora sah den Aufstieg der Erinnerung als Folge der Fragmentierung der nationalen Vergangenheit, oder, zugespitzt formuliert, der Verdrängung der Nationalgeschichte durch die kollektiven Erinnerungen im Plural, sprich durch gruppenspezifische und subnationale Erinnerungen, die an Erinnerungsorten manifest würden71. Daher hat das Konzept der Erinnerungsorte ironischerweise seine Wurzeln in einer nostalgischen Vision der nationalen Vergangenheit und in einer Verfallsgeschichte der Nation72. Es ist lohnenswert, die jüngste Kritik an progressistischen Weltsichten der Historiografie und den Zweifel an den Vorteilen des Zeitenabstandes vor dem Hintergrund einer ähnlichen Skepsis hinsichtlich des Wesens der Zeit zu betrachten, die sich seit den 1980er Jahren in politischen und juristischen Kontexten ausbreitete73. Wiedergutmachungspolitik, offizielle Entschuldigungen, die Einsetzung von Wahrheitskommissionen, historischen Kommissionen und Kommissionen zur historischen Aussöhnung  – sie alle kreisen um die wachsende Überzeugung, dass die ehemals als selbstverständlich geltende Vorstellung einer wachsenden Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart grundsätzlich problematisch sei74. Der diesbezügliche Wendepunkt wurde in der Aufhebung der Verjährungsfrist bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit sichtbar, denn »with the new unique temporality of crimes against humanity, time really did not go by: the criminal would remain forever contemporary with his crimes.«75 71 Siehe Pierre Nora, Between Memory and History. Les Lieux de Memoire, in: Representations 26 (1989), S.  7–25; Überblick und Analyse dieses Fragmentierungsprozesses bei­ Stefan Berger/Chris Lorenz (Hrsg.), The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories, Houndmills 2008; siehe zu einer neueren Analyse der Thesen Noras: Van De Mieroop, The »Age of Commemoration«. 72 Van de Mieroop hat Noras Erzählfaden der Fragmentierung und des Niedergangs als­ »pathogen« bezeichnet: »Memory/communautarisme is characterized as divisive, identity-obsessed and irrational, while history/the French Republic is viewed as universal, inclusive and rational. The rise of memory is then described as an ›obsession‹, a ›mania‹, or a ›pathology‹ that has overcome the body that is France.« (S. 3). 73 Siehe: Bevernage, Transitional Justice and Historiography; Lorenz, Blurred Lines (mit ausführlicheren Argumenten). 74 Bevernage, History, Memory, and State-Sponsored Violence. 75 Hartog, Regimes of Historicity, S. 117.

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Damit scheint John Torpey mit seiner Äußerung Recht zu behalten, dass »since roughly the end of the Cold War, the distance that normally separates us from the past has been strongly challenged in favour of an insistence that the past is constantly, urgently present as part of our everyday experience.« Es sei die Überzeugung gewachsen, dass »the road to the future runs through the disasters of the past.«76 Diese Zeiterfahrung stellt zweifellos einen offensichtlichen Bruch mit dem fortschrittsbasierten, modernen Historizitätsregime dar. Es ist daher kein Zufall, dass die Konjunktur der Begriffe Erinnerung, Überlieferung, Gedenken und Identität in den 1980er Jahren einsetzte77. Seit den wegweisenden Arbeiten Kosellecks aus den 1970er Jahren sind wichtige Erkenntnisse über die historische Relativität der historischen Zeit entwickelt worden. Wie wir gesehen haben, entsteht Koselleck zufolge das moderne – westliche – Verständnis historischer Zeit in der Sattelzeit – gleichzeitig mit der Geburt der Moderne. Dieses Verständnis war auf das Engste mit der Vorstellung von Geschichte als objektiver Kraft und einheitlichem Prozess, mit dem »Kollektivsingular« Geschichte verbunden. Jenseits des Westens, so etwa in China und Japan, blieben meist Zeitmessung und Herrscherdynastien miteinander verknüpft. Daher hatten hier eine gestapelte Zeit, bei der jede Dynastie jeweils einen Zeitstapel bildete, und eine geschichtete Chronologie jene Rolle inne, welche der linearen Chronologie im Westen zukam – zumindest bis zur weltweiten Einführung der Greenwich-Zeit78. Auch in der muslimischen Welt wurde die Zeit nicht, wie im Westen, als eine kontinuierliche Entwicklung begriffen, sondern als eine »unterbrochene Abfolge von Momenten«79. Im Koran, so Gerhard Böwering, gäbe es »no place […] for impersonal time; each person’s destiny is in the hands of God.«80 Jenseits des Westens wurde Zeit also nicht als kontinuierlich und in eine Richtung fließend verstanden.

76 John Torpey, Making Whole What Has Been Smashed. On Reparations Politics, Cambridge 2006, S. 19, 6.  77 Siehe: Jeffrey K. Olick, The Politics of Regret. On Collective Memory and Historical Responsibility, New York 2007, S. 121–139; Hartog, Regimes of Historicity, S. 119. 78 Siehe: Masayuki Sato, Time, Chronology, and Periodization in History, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 2. Ausgabe (Bd. 24), S. 409–414: »Linear time proceeds from the viewpoint that time is ordered sequentially like a stream of water in the river. This time is recorded by a sequence of numbers, as is characteristic in the Western (Christian) way of counting years, and it has given us a view of historical time as proceeding in a linear fashion. Along with this idea, a frame of regnal years, or East Asian era names (a metamorphosis of regnal years) has been widely used. This implies a view of time as being stacked like a pile of bricks, rather than flowing like water in the river.« (S. 410). 79 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 116–126, hier S. 117. 80 Gerhard Böwering, The Concept of Time in Islam, in: Proceedings of the American Philosophical Society 141 (März 1997), Nr. 1, S. 55–66, hier S. 58. Siehe auch die jüngst geäußerte Kritik an der Vorstellung einer einzigen »islamischen Zeit« und das Plädoyer für »multiple Zeitlichkeiten« bei Shazad Bashir, On Islamic Time. Rethinking Chronology in the Historiography of Muslim Societies, in: History and Theory 53 (2014), S. 519–544.

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Der Koselleck-Schüler Lucian Hölscher ging bei der Historisierung der Zeit noch einen Schritt weiter als sein Lehrer und verwies darauf, dass die dem Historiker selbstverständlich erscheinenden Vorstellungen eines abstrakten und leeren Raums sowie einer abstrakten und leeren Zeit in der Vormoderne nicht existierten81. Die Vorstellung eines leeren Raumes und einer leeren Zeit entwickelte sich nur allmählich heraus, etwa zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert. Für die Menschen im mittelalterlichen Europa hatten Dinge und Ereignisse ganz konkrete Orte im Raum und in der Zeit, dennoch hatten sie kein Konzept einer leeren, abstrakten Zeit oder eines leeren, abstrakten Raums als solcher. Mit anderen Worten: Dinge und Ereignisse hatten zwar zeitliche und räumliche Eigenschaften, aber Zeit und Raum existierten nicht als davon abgelöste, leere Größen. Raum und Zeit wurden adjektivisch, nicht substantivisch verstanden. Für das Christentum war die Zeit im Wesentlichen biblische Zeit, das heißt sie hatte einen eindeutigen Anfang (die Schöpfung) und ein festgelegtes Ende (das Jüngste Gericht). Die Zeit war durch Gott »gefüllt«. Es gab weder eine Zeit davor, noch eine danach. Es ist vermutlich aufschlussreich für den inneren Zusammenhang von Zeit und Raum – und damit von Geschichte und Geografie82 –, dass es auch neue, mit der biblischen Geschichte nicht in Einklang zu bringende Erkenntnisse über den globalen Raum waren, die in der Folge der Entdeckung Amerikas in der Frühen Neuzeit die christliche Chronologie untergruben. Nebst dem abweichenden Wissen über die langen dynastischen Vergangenheiten Mesopotamiens, Ägyptens und Chinas, das im Widerspruch zur kürzeren biblischen Vergangenheit stand, war es das neue durch die »großen Entdeckungen« generierte geografische Wissen, das die neue Wissenschaft der Chronologie seit der Renaissance vorantrieb. Die Konstruktion einer einheitlichen Zeitlinie von­ Eusebius zu Scaliger basierte zunehmend auf astronomischen Erkenntnissen und nicht mehr auf biblischer Autorität83. Während die Vorstellung einer absoluten, linearen und einheitlichen Zeit mit der Formulierung der Relativitätstheorie 1905/1916 in der Physik zugunsten des Zeit-Raum-Konzeptes aufgegeben wurde, geschah dies in der Geschichtswissenschaft erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Die lineare historische Zeit und die Periodisierung gerieten ins Visier der Theoretiker der Postcolonial Studies, die sie als allein auf den Westen zugeschnitten und als teleologisch auf die westliche Moderne hin ausgerichtet kritisierten84. Dipesh Chakrabarty hat bekanntlich die Ansicht vertreten, dass die westliche Vorstellung historischer Zeit

81 Hölscher, Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2009, S. 13–33; Ders., Time Gardens. 82 Ebd., S. 578–582. 83 Siehe: Anthony Grafton, Dating History. The Renaissance & the Reformation of Chronology, Daedalus Spring 2003, S. 74–85. 84 Siehe: Cooper, Colonialism in Question, S. 117–119.

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für den Rest der Welt einen »waiting room of history« bereithalte85. Wie schon im Fall der Unterscheidung zwischen dem Mittelalter und der Moderne und bei Kosellecks Periodisierung, ist diese Kritik im Kern stichhaltig. Die implizite Teleologie ist nicht nur wesentliche Prämisse für alle Varianten der Modernisierungs- und Globalisierungstheorie einschließlich der marxistischen, sondern auch des westlichen historistischen Verständnisses von Geschichte an sich. So wie die »Nationalgeschichte« den Vergangenheiten der außer-europäischen Entitäten einen vom europäischen Nationalstaat abgeleiteten konzeptionellen Rahmen aufzwingt, so tut dies, Dipesh Chakrabarty zufolge, auch die Geschichte an sich: [I]nsofar as the academic discourse of history – that is, ›history‹ as a discourse produced at the institutional site of the university – is concerned, ›Europe‹ remains the sovereign, theoretical subject of all histories, including the ones we call ›Indian‹, ›Chinese‹, ›Kenyan‹, and so on.86

Verbreitet wurde diese Geschichte durch die Verräumlichung der Zeit, sprich durch die Aufteilung der Welt in fortschrittliche, moderne, das heißt westliche Regionen und in solche, die hinterherhinken und aufholen, die vormodern, feudal oder gar steinzeitlich sind87. Daher brachte die Historisierung des NichtWestens vornehmlich Narrative hervor, die von einem »Noch-nicht«, von Unzulänglichkeiten oder gar vom Scheitern bestimmt waren.

Historische Zeiten und Periodisierung Historiker periodisieren, wie schon eingangs erwähnt, immer. Und Periodisierung setzt stets Selektionsprinzipien sowie Vorstellungen von Kohärenz, Kontinuität und Wandel voraus, denn beim Periodisieren geht es ebenso sehr um das Weglassen wie um das Einbeziehen. Periodisieren erfordert daher systematische Abstraktion – was vielleicht erklärt, weshalb die meisten Historiker einen weiten Bogen um dieses Thema geschlagen haben und weshalb sie Periodisierung und Chronologie über einen Kamm scheren, und zwar selbst solche ansonsten theoretisch versierten Historiker wie Johan Huizinga88. 85 Chakrabarty, Provincializing Europe, S.8; siehe auch: Sebastian Conrad, What is Global History?, S.  4: »Methodologically speaking, then, by imposing categories particular to Europe on everybody else’s past, the modern disciplines rendered all other societies colonies of Europe.« 86 Dipesh Chakrabarty, Postcoloniality and the Artifice of History. Who Speaks for »Indian« Pasts?, in: Representations 37 (1992), S. 1–26, hier S. 1. Zur These, Globalisierungstheorien seien Ableger der Modernisierungstheorie, siehe: Cooper, Colonialism in Question, S. 91–113. 87 Chakrabarty, Postcoloniality, S. 6; Conrad, What is Global History?, S. 168–170. 88 Siehe: Piet Blaas, Vormgeven aan de tijd. Over periodiseren, in: Maria Grever/Harry Jansen (Hrsg.), De ongrijpbare tijd. Temporaliteit en de constructie van het verleden, Hilversum

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Die grundlegende Problematik einer Verknüpfung von Zeit und Raum ist von vielen Historikern erkannt worden, welche die auf westlichen Erfahrungen basierenden Periodisierungsmodelle  – vor allem die Unterscheidung in Alte, Mittlere und Neue Geschichte – auf außereuropäische Zivilisationen und Gesellschaften zu übertragen versucht haben. Diese Schemata, so Jeremy Bentley, do a poor job of explaining the trajectories of other societies. […] [they] apply awkwardly at best to the histories of China, India, Africa, the Islamic world, or the Western hemisphere – quite apart from the increasingly recognized fact that they do not even apply very well to European history.89

Implizit ist die Frage der Periodisierung also eine Frage nach der expliziten Verknüpfung von Zeit und Raum in der Geschichte. Neueren Entwicklungen wie etwa der big oder deep history sowie der Globalgeschichte folgend, haben manche Historiker wie Lynn Hunt vorgeschlagen, Zeit und Raum auszudehnen um die Problematik des »Eurozentrismus« zu vermeiden90. Hunt übersieht hier allerdings, dass die Globalgeschichte als solche keine dezidierten zeitlichen oder räumlichen Vorgaben macht, denn globale Zusammenhänge können auf jeder räumlichen Ebene (lokal, regional oder national) und im Hinblick auf jeglichen zeitlichen Maßstab (kurz-, mittel- oder langfristig) untersucht werden91. Wie bei allen anderen historischen Ansätzen auch ist die Rahmung der Globalgeschichte von den gestellten Fragen und erhofften Antworten abhängig. Daher kann eine Ausdehnung von Raum und Zeit das Problem des historiografischen Eurozentrismus nicht lösen. Vielmehr vermag, wie an Kosellecks Periodisierung der 10 Millionen Jahre Menschheits­geschichte deutlich wurde, sich Eurozentrismus qua Chronozentrismus mit der Ausdehnung von Zeit und Raum durchaus zu vermengen. Die Räumlichkeit der Periodisierung selbst ist nicht weiter erstaunlich, denn die meisten Epochenzuschreibungen umfassen nicht nur einen zusammenhängenden Abschnitt der chronologischen Zeit, sondern beziehen sich gleichzeitig auch auf ein räumliches Gebilde, was etwa durch die Rede vom viktorianischen England, Hitlers Deutschland, China der Ming-Dynastie und Italien der Re2001, S. 35–49, insbes. S. 35–37. Diese Verschmelzung von Periodisierung und Chronologie besteht weiterhin. So definiert beispielsweise ein Lexikonartikel aus 2003 Periodisierung noch immer als »ein Hilfsmittel der historischen Forschung, das dem Historiker die zeitliche Ordnung vergangenen Geschehens ermöglicht« siehe: Ursula Becker, Periodisierung, in: Jordan, Lexikon Geschichtswissenschaft, S. 234–236. 89 Bentley, Periodization, S. 749; Le Goff, Periods, S. 116: »Periodization, however, can apply only to limited domains, or areas, of human civilization. The task of a world history is to discover the relations between these domains«; Vgl. Conrad, What Time Is Japan? 90 Lynn Hunt, Measuring Time, Making History, Budapest 2008, S. 123: »History becomes less teleological when ›historicality‹ (the definition of what constitutes the historical) is expanded in this way to make history the patrimony of all peoples and all times, rather than identifying it with the discipline taught in Western universities from the nineteenth century onward or the form of writing pioneered by Herodotus in the fifth century BC .« 91 Siehe: Conrad, What Is Global History?, S. 149.

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naissance deutlich wird. Angesichts der langen Vorherrschaft der Nationalgeschichte ist es ebenso wenig überraschend, dass die meisten Räume historischer Periodisierungen den nationalstaatlichen Territorien entsprechen. Die Eckpunkte der Perioden der nationalen Geschichtsschreibung entsprechen wiederum mehr oder weniger genau den offensichtlichen politischen und militärischen Wendepunkten. Historiker, die sich beispielsweise mit dem modernen Deutschland befassen, gehen selbstverständlich davon aus, dass 1815, 1871, 1914, 1933, 1945, 1990 usw. klare Wendepunkte des 19.  und 20.  Jahrhunderts darstellen92. Gleiches gilt für Nationalgeschichten Frankreichs, Englands, Argentiniens usw. Dieser sowohl politische als auch historiografische Umstand verdeutlicht, weshalb die historische Zeit und ihre Periodisierung so lange als theoretisches Problem der Geschichtswissenschaft übersehen wurden. Konrad Hirschler und Sarah Savant haben kürzlich den Nexus von Zeit und Raum für die arabische Historiografie genauer betrachtet. Ihnen zufolge existiert die Zeit nur innerhalb des Raumes. Sie folgen damit der Foucault’schen Ansicht, dass »periodization itself is often a vehicle of power and site of contest for agents of history.«93 An Benedict Anderson anknüpfend argumentieren sie: with temporal coincidence, simultaneity  – simultaneous, separate existences  – become possible, and thus the definition of a community and its identity. Several spatial reorientations have profoundly impacted how historians working on Arabic sources treat time. Each presupposes  a different simultaneity and territory in which time could be experienced as  a unified whole either by the population or, for analytical purposes, by historians.94

Sie schließen daraus, dass Periodisierung genau genommen eine Form der Zeitpolitik sowie der Raumpolitik darstellt. Das Periodisieren sei performativer Natur, denn es handle sich um eine politische Technik: »always rendering its services now. In an important sense, we cannot periodize the past.«95 Diese politische Technik und Zielsetzung wurde bereits im Falle der Schöpfung des Mittelalters durch die Neuzeit angedeutet. Die Performativität betrifft indes nicht allein den Entwurf des zeitlichen, sondern auch jenen des räumlichen Rahmens96. 92 Osterhammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte, S. 46. 93 Hirschler/Savant, What is in a Period?, S. 8 und S. 17; Conrad, What is Global History?, S. 147: »scales of time and scales of space are immediately linked.«; Le Goff, Periods, S. 17: »Dividing history into periods is never – I repeat, never – a neutral or innocent act. […] it always represents a judgment of value with regard to sequences of events that are grouped together in one way rather than another«. 94 Hirschler/Savant, What is in a Period?, S. 9. 95 Davis, Periodization & Sovereingnty, S. 5. Zur Performativität von zeitlichen Unterscheidungen siehe auch: Bevernage/Lorenz (Hrsg.), Breaking up Time. 96 Charles Maier hat darum das Konzept der »Territorialitätsregime« vorgeschlagen, das als räumliches Pendant zu Hartogs Historizitätsregime aufgefasst werden kann. Siehe: Charles S. Maier, Transformations of Territoriality, 1600–2000, in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Jansz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 32–56.

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Periodisierung bringt also nicht nur eine Verräumlichung der Zeit hervor, sondern sie gibt auch eine Antwort auf die Frage nach den Akteuren, nach den Inhabern von agency in der Geschichte. Auf diese Frage antwortet die Periodisierung, indem sie bestimmt, welche räumlichen Entitäten eines eigenen Entwicklungsgangs würdig sind und welche einfach der Entwicklung anderer folgen. Sebastian Conrad hat diese Logik folgendermaßen geschildert: Opting for a particular scale in global history requires that critical decision be made about what will count as the primary forces and actors in the narrative. The choice of scale, in other words, always has normative implications. […] Global and other spatial questions are often also normative questions.97

Die Periodisierung der afrikanischen Geschichte etwa ist meist auf der Grundlage der Kontakte Afrikas zu Europa aber nicht im Hinblick auf seine asiatischen Kontakte oder seine eigenen, inneren Entwicklungen vorgenommen worden: Der »atlantischen Epoche« oder der »Epoche des Sklavenexports« folgt eine »Epoche nach dem Sklavenhandel«, bekannt auch als jene des »legitimen Handels«. Hierauf folgt nach der Berliner Konferenz von 1884/85 die »Kolonialzeit«, welche die beiden Weltkriege einschließt, die wiederum von der »Epoche des Nationalismus« abgelöst wird (1945–60), um in der »postkoloniale Periode«, welche die Jahre von 1960 bis heute umfasst, zu münden98. So viel ist klar: Die Periodisierung der Geschichte Afrikas aus dieser externen, westlichen Perspektive läuft auf eine Verweigerung alternativer Periodisierungen hinaus99. Oder, allgemeiner formuliert: Die Übertragung der westlichen (dreigliedrigen) Pe­ riodisierung auf die Geschichte der »übrigen Welt« führt ipso facto zu einer Zurückweisung jeglicher nicht-westlicher Periodisierung. Bedenkt man die politischen Implikationen von Periodisierungen, wird offenbar, dass es sich bei Chakrabartys Kritik an der begrifflich-geistigen Kolonisation der »übrigen Welt« seitens des Westens um eine Fundamentalkritik am westlichen Konzept historischer Zeit handelt. Selbstredend leugnet diese Kritik keineswegs die vergangenen und gegenwärtigen, kolonialen und imperialen Verflechtungen, die den Eurozentrismus über Jahrhunderte hinweg zu einer machtvollen Realität machten. Im Gegenteil: Die Kritik macht darauf aufmerk97 Conrad, What is Global History?, S. 156, 210; Hirschler/Savant, What is in a Period?, S. 17; Charles Maier, Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807–831, hier S. 809: »Arguments about periodization remain meaningful only because they represent claims as to what constellations of events should be accorded major significance for defined communities of actors.« 98 Emmanuel Akyeampong in AHR Conversation: Explaining Historical Change, or: The Lost History of Causes, in: American Historical Review 120 (2015), Nr. 4, S. 1369–1423, hier S. 1412. 99 Cooper, Colonialism in Question, S. 100–110, betont dabei, dass auch die Sklaverei und der Sklavenexport in Afrika in sehr unterschiedliche Arten und Sub-Systeme zergliedert waren.

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sam, dass die Europäer mittels Kolonialisierung und Imperialismus jene Begriffe und Denkwerkzeuge verbreiteten, mittels derer sie der Welt einen Sinn abrangen, etwa indem sie den globalen Raum in einen Westen und einen Osten einteilten, die globale Geschichte als einen Weg vom feudalen Mittelalter hin zur Moderne beschrieben, und die Moderne wiederum als eine Geschichte der Nationalstaaten und ihrer Modernisierung begriffen100. Angesichts der Tatsache, dass diese Konzepte zur Beschreibung und Erklärung nicht-europäischer Vergangenheiten herangezogen wurden, ist es eigentlich erstaunlich, wie lange dieser Export als vergleichsweise erfolgreich und zielführend wahrgenommen wurde101. Wie lässt sich nun nachvollziehen, dass eine wissenschaftliche Disziplin über einen so langen Zeitraum hinweg einen universalistischen Welt­ erklärungsanspruch vertreten und akzeptieren konnte? Wie war es möglich, aus der provinziellen Erfahrung Europas einen derart chronozentrischen Anspruch abzuleiten, sprich wie konnte eine »Regionalzeit« (Osterhammel) so lange be­ anspruchen die universelle Zeit zu sein?102 Die Art und Weise, wie Historiker in der Praxis üblicherweise mit Periodisierungen umgingen und noch immer umgehen, mag diese Frage zum Teil beantworten. Erstens neigten sie dazu, die drei Makro-Epochen (Altertum, Mittelalter, Neuzeit) mit »leeren« chronologischen Perioden aufzufüllen – insbesondere mit Dekaden und Jahrhunderten, die wiederum als Zeitalter des X (etwa ­Ludwig XIV., Königin Viktorias etc.) firmierten103. Zweitens füllten und füllen Historiker die Makro-Epochen mit »Metapher-Epochen« (Justus Nipperdey) oder mit »strukturellen Narrativen« (Charles Maier) auf. Leere chronologische Periodisierungen beziehen ihre Inhalte hierbei von außerhalb der Chronologie104. Die Renaissance, die Aufklärung und das Zeitalter des Totalitarismus werden also durch Metaphern wie jener der »Wiedergeburt«, der »Erhellung« und des »Totalen« gekennzeichnet. »Strukturelle Narrative« versuchen weitreichende und langfristige Entwicklungen, wie den Aufstieg des absoluten Staates, die Industrialisierung, die Demokratisierung oder die Globalisierung, in der Zeit zu orten  – allesamt Prozesse, welche die fest umrissenen Grenzen der Dekaden und Jahrhunderte überschreiten. Strukturelle Narrative zielen darauf ab, sub100 Siehe: Arif Dirlik, Thinking Modernity Historically. Is »Alternative Modernity« the Answer?, in: Asian Review of World Histories 1 (2013), S. 5–44. 101 Stefan Berger sieht in der Nationalgeschichte eines der erfolgreichsten »Exportprodukte« Europas. Siehe dazu sein Buch: The Past as History. National Identity and Historical Consciousness in Modern Europe, Houndmills 2015; siehe außerdem: Conrad, What is Global History?, S. 169: »European history was treated as the model for universal development in places like Argentina and South Africa, India and Vietnam.« 102 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S.87, verweist auf »Regionalzeiten«. 103 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S.  25. Die Autoren reden von einer­ »dekadologischen Arbeitsweise« der Historiker. 104 Justus Nipperdey, Die Terminologie von Epochen  – Überlegungen am Beispiel Frühe Neuzeit/›early modern‹, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 38 (2015), S. 170–185; Maier, Consigning.

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stanzielle Perioden hervorzubringen, wie man Preston Kings folgend sagen könnte105. Alle mit der Vorsilbe »Post-« versehenen Epochen, etwa jener des Postkommunismus, Postnationalismus, der Postdemokratie und der Postmoderne aber auch »Nach dem Boom«, trachten danach ein strukturelles Davor und Danach kenntlich zu machen und sind damit substanziell106. Es ist also sinnvoll, metaphorische und substanzielle von rein chronologischen Perioden wie Jahren, Dekaden oder Jahrhunderten zu unterscheiden, die keinerlei Inhalt aufweisen, sondern eine rein chronologische Dauer haben107. Es ließe sich behaupten, dass die den Makroepochen inhärente, auf die Moderne zielende Teleologie hinter dem Vorhang der chronologischen, metaphorischen und strukturellen Epochen verschwand – zumindest bis vor kurzem. Obwohl chronologische Perioden in der historiografischen Praxis ihren Gehalt aus den metaphorischen und substanziellen Einschüben beziehen, besteht weiterhin ein Spannungsverhältnis zwischen chronologischen und nicht-chronologischen Periodisierungen. Dieses Spannungsverhältnis wird etwa in den Grundsatzdebatten manifest, die hinsichtlich der Länge von Jahrhunderten und Jahrzehnten geführt wurden und werden. Angesichts der Tatsache, dass die chronologische Dauer von Jahrhunderten und Jahrzehnten ganz offensichtlich feststeht, sind die Grabenkämpfe, die um das »lange« oder »kurze« 16., 18., 19. oder 20. Jahrhundert geführt wurden, durchaus bemerkenswert. Sie veranschau­ lichen das fundamentale Unbehagen der Historiker angesichts eines rein chronologischen und damit »inhaltsleeren« Anfangs- und Endpunktes von Perioden108. Daher unterscheidet Jürgen Osterhammel in seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts zwischen dem »kalendarischen« 19. Jahrhundert von 1800 bis 1900 und dem »langen 19. Jahrhundert« von der Amerikanischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914109. Dieses grundsätzliche Unbehagen erklärt sich, selbstredend, vor allem aus folgendem Widerspruch: Während der Begriff der Epoche an sich eine innere Kohärenz derselben impliziert, die durch Wendepunkte zu Beginn und am Ende kenntlich gemacht wird, bringt die Chronologie von sich aus weder Substanz, Kohärenz noch Wendepunkte hervor110. Daher haben die Jahrhundertwenden 105 Preston King, Thinking Past a Problem. Essays on the History of Ideas, London u. a. 2000. 106 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S.  12–16, plädieren daher für einen »Strukturbruch« zwischen dem »Boom« und der Zeit »nach dem Boom«. 107 Nipperdeys Unterscheidung zwischen chronologischen und metaphorischen Perioden ähnelt der von Preston King zwischen chronologischen und substanziellen Konzeptionen von Vergangenheit und Gegenwart. Siehe: King, Thinking Past a Problem. 108 Nipperdey wendet ein, dass das Unbehagen über die chronologische Zäsur zwischen dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit zu einem vermehrten Gebrauch von Bindewörtern wie »spätmittelalterlich« und »frühneuzeitlich« geführt habe. Nipperdey, Die Terminologie der Epochen, S. 174–180. 109 Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 87. 110 Ebd., S. 116. Dieser nennt daher die Einteilung der Geschichte in Jahrhunderte »nicht mehr als ein notwendiges Übel« und stellt fest: »Inhaltsleere Periodisierungen erkaufen ihre Eindeutigkeit damit, dass sie nichts zu historischer Erkenntnis beitragen« (S. 85).

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auch keine nennenswerten historischen Diskussionen ausgelöst, gleichwohl sich manche Historiker veranlasst sahen, Bücher zu diesen Anlässen zu verfassen, die einige Aufmerksamkeit erzeugten  – zumindest war dies zu den Jahrhundertwenden 1900 und 2000 der Fall111. Bei genauerer Betrachtung stellt die Chronologie also nicht den Schlüssel zur geschichtswissenschaftlichen Periodisierung dar und kann dies auch gar nicht tun112. Es ist daher höchste Zeit, dass der Historikerstamm ein für alle Mal den Fetisch, das Idol der Chronologie aufgibt, und dies in einem fundamentaleren Sinne als von Francois Simiand 1903 vorgeschlagen113. Bekanntlich kritisierte Simiand den Historikerstamm nicht nur angesichts seiner Fixierung auf Einzelpersonen (»idole individuelle«) und Politik (»idole politique«), sondern auch aufgrund seiner geradezu zwanghaften Neigung, gegenwärtige Phänomene zu erklären, indem er ihre Ursprünge in einer lange zurückliegenden Vergangenheit aufdeckte (»idole chronologique«). Heutzutage geht es nicht allein darum, gegen die Gewohnheit der Historiker vorzugehen, sich auf Kosten von Funktion und Bedeutung historischer Phänomene für die Gegenwart im Aufspüren ihrer Ursprünge zu verlieren – das heißt sich auf Kosten der Synchronie ausschließlich mit der Diachronie zu befassen114. Vielmehr ist es höchste Zeit, dass Historiker sich von der hartnäckigen Gewohnheit trennen, die chronologische Zeit mit der historischen gleichzusetzen und chronologische Periodisierungen mit historischen115. Um nur ein von Sebastian Conrad angeführtes Beispiel des chronologischen Fetischs zu nennen: Die Ursachen für die 1990 explosionsartig ausbrechenden Erinnerungskriege zwischen Japan, China und Süd-Korea um die Darstellung des Zweiten Weltkriegs in japanischen Schulbüchern gilt es, mit großer Wahrscheinlichkeit eher in der internationalen politischen Konstellation der 1990er Jahre aufzusuchen als in der Zeit ihrer vermeintlichen »Ursprünge« zwischen 1937 und 1945116. 111 Siehe: Arndt Brendecke, Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Franfurt a. M. 2000. 1800 war die erste Jahrhundertwende, die von zahlreichen Intellektuellen als ein »Wendepunkt« erlebt wurde, ganz offensichtlich in Verbindung mit der Französischen Revolution und den Konsequenzen für das Ancien­ Régime. 112 Der Vergleich mit der Geschichte der Periodisierung in die Geologie ist hier erhellend: Geologische Periodisierung war, bis im 20. Jahrhundert zuverlässige Datierungsmethoden entwickelt wurden, völlig unabhängig von chronologischen Bestimmungen. Siehe: Martin Rudwick, Earth’s Deep History. How It was Discovered and Why It Matters, Chicago 2014. 113 Francois Simiand, Méthode historique et sciences sociales, in: Revue de Synthèse Historique 6 (1903), S. 1–22. 114 Vgl. Conrad, What is Global History?, S.  150: »The concern with synchronicity, with the contemporaneous even if geographically distant, has become the hallmark of global­ approaches.« 115 Vgl. Stefan Tanaka, History without Chronology, in: Public Culture 28 (2016), Nr.  1, S. 181–186. 116 Conrad, What is Global History?, S. 150–151.

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Die trügerische Gleichsetzung von historischer und chronologischer Zeit, so lässt sich abschließend festhalten, hilft die lang andauernde Dominanz des temporalen Eurozentrismus und die späte Geburt der Theorie historischer Zeiten zu erklären. Die überfällige Thematisierung des Nexus von Periodisierung und Verräumlichung wie auch die vergleichsweise späte Einsicht, dass jede Theorie der Vergangenheit immer schon eine Theorie der Gegenwart voraussetzt, erklärt sich letztendlich aus der Gleichsetzung chronologischer und historischer Zeit117. Solange Historiker an dieser Gleichsetzung festhalten, besteht für sie keine Veranlassung die Vergangenheit, die Gegenwart und ebenso wenig das Periodisieren zum Gegenstand theoretischer Reflexion zu machen. Hier ist der Punkt, an dem Kosellecks Forderung nach und Beitrag zu einer Theorie historischer Zeit ins Spiel kommt. Weder für die Geschichtswissenschaft noch für die Theorie der Geschichte gibt es ein Zurück vor das Denken Kosellecks – und dies, obwohl wir festgestellt haben, dass Kosellecks fast schon kanonisch gewordene Theorie nach wie vor ein Produkt des europäischen Chronozentrismus ist. Wie so oft gilt auch in diesem Fall, il faut détruire pour mieux bâtir. Dieses Fazit führt mich zurück zur Problematik des Eurozentrismus der Periodisierung wie auch zur Lösung dieses Problems durch ein Bedenken des Standorts, von dem aus die Periodisierung und die entsprechende Territorialisierung vor­ genommen wird. Arif Dirlik folgend denke ich, dass in der Geschichte Reflexion auf die Rekonstruktion und Dekonstruktion verschiedener, miteinander konkurrierender Kontexte und Konzepte  – einschließlich der zeitlichen und räumlichen  – hinausläuft: My rehearsal of the historicity, boundary instabilities, and internal differences – if not fragmentations – of nations, civilisations, and continents is intended to underline the historiographically problematic nature of [world] histories organized around such units. These entities are products of efforts to bring political or conceptual order to the world – political and conceptual strategies of containment, so to speak. This order is achieved only at the cost of suppressing alternative spatialities and temporalities, however, as well as covering over processes that went into their making. A [world] history organized around these entities itself inevitably partakes of these same suppressions and cover-ups.118

Dirlik verdeutlicht, dass nur durch die Historisierung der Begriffe und Kontexte, die bei der Konstruktion der zeitlichen und räumlichen historischen Ab- und Ausschnitte Verwendung finden, ihre Kontingenz wie auch ihr Verhältnis zu 117 Die These vom »digitalen Finanzmarktkapitalismus« von Doering-Manteuffel und­ Raphael in ihrem Band Nach dem Boom stellt explizit eine Theorie der Gegenwart dar. Siehe auch: Lianeri, Regime of Untranslatables; Peter Osborne, Global Modernity and the Contemporary. Two Categories of Historical Time, in: Bevernage/Lorenz (Hrsg.), Breaking up Time, S. 69–85; Bevernage, Tales of Pastness and Contemporaneity. 118 Arif Dirlik, Performing the World. Reality and Representation in the Making of World Histor(ies), in: Bulletin of the German Historical Institute 37 (2005), S. 9–27, hier S. 18 f.

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den unterdrückten Alternativen zu Tage gefördert werden können. Seine Position ähnelt jener Chakrabartys: »I ask for a history that deliberately makes visible, within the very structure of its narrative forms, its own repressive strategies and practices.«119 Wenn es keinen Ausweg aus unserer stand- und sehepunktabhängigen Situation gibt120, dann können wir nur versuchen, diese anzuerkennen und ihre Konsequenzen für die Art und Weise, wie Historiker und andere Humanwissenschaftler mit Zeit und Raum umgehen, zu reflektieren.

119 Chakrabarty, Provincializing Europe, S. 45. Zu den Unterschieden zwischen Dirlik und Chakrabarty siehe: Arif Dirlik, Is There History after Eurocentrism? Globalism, Postcolonialism, and the Disavowal of History, in: Cultural Critique, 42 (1999), S. 1–34, insbes. S. 28–34. Für konkrete Beispiele siehe zudem: Marc Parry, A Reckoning. Colonial Atrocities and Academic Reputations on Trial in a British Courtcase, in: The Chronicle of Higher Education vom 10.6.2016; Nicole Longpré, Shame, Memory and the Politics of the Archive (URL: https://jhiblog.org/2016/05/04/shame-memory-and-the-politics-ofthe-archive/, zuletzt eingesehen am 25.7.2016). 120 Siehe auch: Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 84–181; Conrad, What is Global History?, S. 162–185.

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Rückkehr der Geschichte? Die »Nostalgie-Welle« in den 1970er und 1980er Jahren

Als Karl Heinz Bohrer im Herbst 1975, ein Jahr nachdem er durch einen Coup seinen Posten als Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an Marcel Reich-Ranicki verloren hatte, als FAZ-Korrespondent nach London kam, stellte er fest: »London swingt längst nicht mehr«1. In den fünfziger Jahren hatte der jugendliche Bohrer einige Zeit in der britischen Metropole verbracht und dabei deren kosmopolitische Kultur schätzen gelernt2. Trotz Kriegsschäden und anhaltender Austeritätspolitik hatten die Briten damals optimistisch in die Zukunft geblickt. Nun hingegen fand Bohrer überall Symptome einer »Saisonkrankheit«, die »etwas prätentiös Nostalgie genannt« wurde. In der Popkultur, die Anzeichen einer nostalgischen Melancholie zeigte, im sich deindustrialisierenden Manchester, das der Nostalgie als Mittel zum Überleben bedurfte, auf dem Flohmarkt in der Portobello Road, in den Medien, der Kunst und der Mode3. Die von ihm beobachtete Nostalgie führte Bohrer auf den Untergang des Empires und auf einen ausgeprägteren »Sinn für Geschichte« zurück4. Hier sah Bohrer einen deutlichen Unterschied zu Westdeutschland, denn er war überzeugt, »daß die bundesrepublikanische Bevölkerung – ihre Intellektuellen ein­geschlossen – über das Jahr 1945 hinaus nicht zurückdenken können«. Bohrer meinte, dass ihm, dem Ausländer, Dinge auffielen, die einheimischen Beobachtern verborgen blieben. Tatsächlich bemerkten britische Intellektuelle bereits seit den späten sechziger Jahren einen hohen Grad von Nostalgie5. Ein Jahr bevor Bohrer auf der britischen Szene erschien, stöhnte der Historiker Michael Wood über »the rampant, ubiquitous, unashamed nostalgia which leers at us these days whichever way we turn«6. Und sein Kollege Douglas Johnson

1 Karl Heinz Bohrer, Ein bisschen Lust am Untergang. Englische Ansichten, München 1979, S. 13. Für Anmerkungen und Kritik an früheren Versionen dieses Textes danke ich Fernando Esposito, Daniel Morat, Lutz Raphael, Martin Sabrow sowie meinen Kolleginnen und Kollegen am Deutschen Historischen Institut London. 2 Siehe Karl Heinz Bohrer, Granatsplitter. Erzählung einer Jugend, München 2012. 3 Bohrer, Ein bisschen Lust am Untergang, S. 92, 163, 13, 24, 33. 4 Ebd., S. 166. Dort auch das folgende Zitat. 5 Siehe z. B. Robert Walter Breach, A History of Our Own Times. Britain, 1900–1964, Oxford 1968, S. 258 f.; David P. Calleo, Britain’s Future, London 1968, S. 24. 6 Michael Wood, Nostalgia or Never. You Can’t Go Home Again, in: New Society 7 (1974), S. 343–346, hier S. 343.

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wollte in der Nostalgie sogar eine Nationalkrankheit sehen, gab aber zu, dass sie auch andernorts zu finden war7. Und tatsächlich, als allgemeiner kultureller Trend wurde das Phänomen zuerst in den USA diskutiert. Der Futurologe Alvin Toffler machte sich schon 1970 Sorgen über eine anschwellende »wave of nostalgia«, eine Nostalgie-Welle8. Doch nicht nur Zukunftsforscher wollten einen neuen Trend erkennen. So kam Newsweek im selben Jahr zu einer ganz ähnlichen Einschätzung9. »Everybody’s Just Wild About … Nostalgia« titelte Life 197210. Schon fragte Time: »How much more nostalgia can America take?«11 Die Antwort lautete offensichtlich eine Menge, denn die Nostalgie-Welle  – oder besser gesagt die Kommentare über dieselbe  – ebbte im Lauf der siebziger und achtziger Jahre nicht ab. Bohrers Kritik am fehlenden deutschen Geschichtssinn zum Trotz, rollte sie auch über Westdeutschland hinweg. In einer Ausgabe mit dem Titel »Nostalgie: Das Geschäft mit der Sehnsucht« machte der Spiegel 1973 eine allgemeine »Passion für das Passé« aus, die aus den USA herübergeschwappt sei12. Und der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch versuchte im selben Jahr »die nostalgische Welle« unter Rückgriff auf die Frankfurter Schule zu erklären13. So sehr die anscheinend um sich greifende Nostalgie Intellektuelle in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Westdeutschland in den 1970er und 1980er Jahren beunruhigte, so wenig hat sich die Geschichtswissenschaft für sie interessiert. »Unfortunately, this nostalgia wave has all but escaped s­ crutiny in West German historiography«, meint der Historiker Paul Betts14. Ähnliches gilt für Großbritannien, während zum kulturellen und politischen Nachleben der fünfziger Jahre in den USA mittlerweile gleich zwei Bücher vorliegen15. Dieser Beitrag versteht sich als eine Genealogie des Nostalgie-Diskurses seit den 7 8 9 10 11 12

Douglas Johnson, Not What it Used to Be, in: Vole 5 (1978), S. 42–43, hier S. 42. Alvin Toffler, Future Shock, London/Sydney 1970, S. 407. Nostalgia, in: Newsweek, 29.12.1970, S. 30–34. Life, 19.2.1971. Gerald Clarke, The Meaning of Nostalgia, in: Time, 3.5.1971, S. 37. Horst-Dieter Ebert, ›Jene Sehnsucht nach den alten Tagen…‹, in: Spiegel 5 (Januar 1973), S. 86–99, hier S. 86. 13 Wolfgang Schivelbusch, Das nostalgische Syndrom. Überlegungen zu einem neueren antiquarischen Gefühl, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik 28 (1973), Nr. 4, S. 270–276, hier S. 270. 14 Paul Betts, Remembrance of Things Past. Nostalgia in West and East Germany, 1980– 2000, in: Ders./Greg Eghigian (Hrsg.), Pain and Prosperity. Reconsidering Twentieth Century German History, Stanford 2003, S. 178–207, hier S. 183. Siehe jedoch Martin Sabrow, »Erinnerung« als Pathosformel der Gegenwart, in: Ders. (Hrsg.), Der Streit um die Erinnerung, Leipzig 2008, S. 9–24; Mark Rüdiger, »Goldene 50er« oder »Bleierne Zeit«? Geschichtsbilder der 50er Jahre im Fernsehen der BRD, 1959–1989, Bielefeld 2014. 15 Daniel Marcus, Happy Days and Wonder Years. The Fifties and the Sixties in Contemporary Cultural Politics, Piscataway NJ 2004; Michael D. Dwyer, Back to the Fifties. Nostalgia, Hollywood Film, and Popular Music of the Seventies and Eighties, New York 2015.

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siebziger und achtziger Jahren. Er fragt danach, wie die Begriffe Nostalgie und Nostalgie-Welle zeitgenössisch verstanden wurden, welche Phänomene und Praktiken als Belege für eine Nostalgie-Welle angeführt und wie diese erklärt wurden. Abschließend diskutiert er, wie der Diskurs aus heutiger Sicht einzuschätzen ist und ob er ein Nachleben hatte. Was immer der Nostalgie-Diskurs sonst noch gewesen sein mag, er war in jedem Fall eine Verständigung über die Zeit. Er ging aus von der Ansicht, dass sich breite Teile der Gesellschaft der Vergangenheit zuwandten. Es liegt deshalb nahe die »Nostalgie-Welle« im Kontext der aktuellen Zeit-Forschung zu betrachten, der zufolge sich in den siebziger und achtziger Jahren die Wahrnehmung von Zeit grundlegend veränderte. Während François Hartog den Übergang von einem zukunfts- hin zu einem gegenwartszentrierten Historizitätsregime beobachtet, macht Aleida Assmann eine generelle Krise des modernen Zeitregimes in den achtziger Jahren aus16. Fernando Esposito schreibt neutraler von einer »Transformation des ›temporalen Imaginariums‹«, einer »Verdichtungsphase […] in einer langen Reihe analoger ›Zeitkrisen‹ seit der Sattelzeit«17. Die ZeitGeschichte hat sich dabei bislang vor allem für die veränderte Wahrnehmung der Zukunft interessiert18. Der vorliegende Beitrag fragt umgekehrt, ob und wie sich der Stellenwert der Vergangenheit in den siebziger und achtziger Jahren veränderte. Seine Beispiele bezieht er in erster Linie aus der Bundesrepublik. Da der Diskurs jedoch international war und seinen Ausgang in den USA und Groß­britannien nahm und die deutsche Diskussion ohne diesen Einfluss nicht zu verstehen ist, werden auch amerikanische und britische Texte berücksichtigt.

16 François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003. Englisch als: Regimes of Historicity. Presentism and Experiences of Time. Übers. von Saskia Brown, New York 2015; Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, insbes. S. 246. Generell zur ZeitGeschichte siehe: Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte, Version 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte (URL: http://docupedia.de/zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen_Version_2.0_R.C3.Bcdiger_Graf?oldid=108524, zuletzt eingesehen am 22.10.2012); Martin Sabrow, Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012; Chris Lorenz/ Berber Bevernage (Hrsg.), Breaking up Time. Negotiating the Borders Between Present, Past and Future, Göttingen 2013; Alexander C. T. Geppert/Till Kössler, Zeit-Geschichte als Aufgabe, in: Dies. (Hrsg.), Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015, S. 7–36. 17 Fernando Esposito, Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 393–424, hier S. 395, 420. 18 Siehe etwa Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945– 1980, Berlin 2015; Dies., Reconfiguring the Future? Politics and Time
from the 1960s to the 1980s. Introduction, in: JMEH 13 (2015), S.  306–316; Alexander Geppert, Die Zeit des Weltraumzeitalters, 1942–1972, in: Ders./Kössler (Hrsg.), Obsession der Gegenwart, S. 218–250.

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Definitionen Der Begriff Nostalgie wurde 1688 von dem Arzt Johannes Hofer in seiner Dissertation De Nostalgia oder Heimwehe geprägt. Auf der Suche nach einem Fach­ begriff, um die extreme Form von Heimweh zu beschreiben, die Hofer bei Schweizer Söldnern beobachtete, erinnerte er sich seiner Homerlektüre. Der Odyssee entlieh er die griechischen Worte für Heimkehr νόστος (nóstos) und Schmerz ἄλγος (álgos). Für Hofer handelte es sich um eine seelische Erkrankung, die nur durch die Rückkehr in die Heimat zu heilen war. In den folgenden beiden Jahrhunderten wurde Nostalgie hingegen immer öfter als körperliche Erkrankung verstanden, die sich bei Obduktion auch an organischen Veränderungen nachweisen ließ19. Im 18.  Jahrhundert wussten die Ärzte in ganz Europa von der Gefahr und dem potentiell tödlichen Verlauf der Nostalgie20. Daran änderte auch nichts, dass Kant in seiner Anthropologie feststellte, die nostalgische Sehnsucht bezöge sich nicht auf einen Ort sondern auf eine Zeit, nämlich die Kindheit21. So zukunftsweisend dieser Kommentar auch war, Nostalgie wurde bis ins 20.  Jahrhundert hinein vornehmlich im Sinne von Heimweh verstanden. Die amerikanische Armee kannte sie noch zur Zeit des Zweiten Weltkriegs als eine standardmäßige Erkrankung, auf die Militärärzte zu achten hatten22. Wann sich die semantische Verschiebung von einer räumlichen hin zu einer zeitlichen Sehnsucht vollzog, lässt sich nicht eindeutig klären: allmählich, zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den sechziger Jahren. Auffällig ist, dass sich die Verschiebung im Englischen früher ereignete als im Deutschen. In der Times und der New York Times beziehen sich »nostalgia« und »nostalgic« bereits in der Zwischenkriegszeit auch auf die Vergangen­

19 Johannes Hofer, Medical Dissertation on Nostalgia, transl. by Carolyn Kiser Anspach, in: Bulletin of the History of Medicine 2 (1934), S.  376–391; Jean Starobinski/William S.  Kemp, The Idea of Nostalgia, in: Diogenes 14 (1966), S.  81–103, hier S.  84–87; Fred­ Davis, Nostalgia, Identity and the Current Nostalgia Wave, in: Journal of Popular Culture 11 (1977), S. 414–424, hier S. 414; Ders., Yearning for Yesterday. A Sociology of Nostalgia, New York 1979, S. 1–2; Volker Fischer, Nostalgie. Geschichte und Kultur als Trödelmarkt, Luzern, Frankfurt a. M. 1980, S. 10–20; David Lowenthal, The Past is a Foreign Country, Cambridge 1985, S. 10 f.; Svetlana Boym, The Future of Nostalgia, New York 2001, S. 11 f.; Peter Fritzsche, How Nostalgia Narrates Modernity, in: Ders./Alon Confino (Hrsg.), The Work of Memory. New Directions in the Study of German Society and Culture, Champaign 2002, S.  62; Marcos Piason Natali, History and the Politics of Nostalgia, in: Iowa Journal of Cultural Studies 5 (2004), S.  10–25; Janelle L. Wilson, Nostalgia. Sanctuary of Meaning, Lewisburg 2005, S. 21. 20 Starobinski/Kemp, The Idea of Nostalgia, S. 94. 21 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Vierte Original-Ausgabe mit einem Vorwort von J. F. Herbart, Leipzig 1833, S. 84 f. 22 Siehe Lowenthal, The Past is a Foreign Country, S. 11.

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heit23.  In  der  Vossischen Zeitung dagegen tauchte der Begriff zwischen 1918 und 1934 bloß an sechs Stellen auf und immer im Sinn von Heimweh24. Die Wörterbücher registrierten die Begriffsverschiebung erst relativ spät. Webster’s kannte noch 1957 »nostalgia« nur als »homesickness«, 1961 dann erstmals als »a wistful or excessively sentimental sometimes abnormal yearning for return to or return of some real or romanticized period or irrecoverable condition or setting in the past«25. Ähnlich das Concise Oxford Dictionary of Current English: 1951 war noch von »homesickness« die Rede, 1964 von einem »sentimental­ yearning for (some period of the past)«26. Noch langsamer waren die deutschen Wörterbücher. Der Große Brockhaus von 1955 definierte Nostalgie einfach als »Heimweh«; 1971 folgte darauf der Zusatz: »auch: Sehnsucht nach Vergangenem«27. Das nachgesetzte »auch:« lässt es erscheinen, als ob die neue Definition erst kurz vor Erscheinen des Bandes hinzugefügt worden sei. Dieser Eindruck wird noch dadurch unterstützt, dass der Spiegel Nostalgie 1973 als die »allerneuste Mode-Vokabel der Kultur-Szenerie« bezeichnete28. Dass diese nun in Umlauf kam, war nicht zuletzt dem Spiegel-Artikel selbst zu verdanken, denn vor dessen Erscheinen »war dem durchschnittlichen Bundesbürger das Wort Nostalgie nicht nur ein Fremdwort, sondern ein fremdes Wort«29. Meyers Enzyklopädisches Lexikon definierte Nostalgie 1974 in einem ausführlichen Artikel als »schwärmer. romantisierende, mit Sehnsucht oder Wehmut verbundene Rückwendung zu früheren, in der Erinnerung sich verklärenden Zeiten, Erlebnissen, Erscheinungen in Kunst, Musik, Mode u. a.«30 Der Artikel zeichnete die Wandlung des Begriffs von seiner Prägung durch Hofer bis zur Gegenwart nach: In der sog. N.welle (etwa seit 1972) gilt N. als Schlüsselwort für die schwärmer. Rückwendung zu Jugendstil und Gartenlaube, zu Kitsch und Kunst der frühindustriellen Kultur und umschreibt das Bedürfnis nach Idylle und sentimentaler Verspieltheit.31 23 Siehe: New York Times Digital Archive (URL: http://www.nytimes.com/ref/membercenter/nytarchive.html, zuletzt eingesehen am 6.7.2016); Times of London Digital Archive (URL: http://www.thetimes.co.uk/tto/archive/, zuletzt eingesehen am 6.7.2016). 24 Siehe: Vossische Zeitung Online in der Staatsbibliothek zu Berlin (URL: http://zefys. staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/27112366/, zuletzt eingesehen am 6.7.2016). 25 Nostalgia, in: Philipp Babcock (Hrsg.), Webster’s Third New International Dictionary of the English Language, London/Springfield 1961, S. 1542. 26 Nostalgia, in: Henry Watson Fowler/Francis George Fowler (Hrsg.), The Concise Oxford Dictionary of Current English, Oxford 1951, S. 805; Nostalgia, in: Dies. (Hrsg.), The Concise Oxford Dictionary of Current English, Oxford 1964, S. 822. 27 Nostalgie, in: O. A., Der große Brockhaus in zwölf Bänden, Wiesbaden 1955, 8. Bd., S. 471; Nostalgie, in: Brockhaus-Enzyklopädie in zwanzig Bänden, Wiesbaden 1971, 13.  Bd., S. 575. 28 Ebert, »Jene Sehnsucht nach den alten Tagen…« S. 87. 29 Ina-Maria Greverus, Auf der Suche nach Heimat, München 1979, S. 171. 30 Nostalgie, in: Giselher Klebe (Hrsg.), Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, Mannheim u. a. 1976, 17. Bd., S. 447. 31 Ebd.

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So wichtig erschien den Herausgebern des Lexikons dieser Trend, dass sie es nicht bei einem Artikel bewenden ließen, sondern diesem einen vierseitigen Sonderbeitrag des Bielefelder Pädagogik-Professors Dieter Baacke folgen ließen32. Als der Brockhaus 1979 dann die achtzehnte, völlig neu bearbeitete Auflage herausbrachte, war dort ebenfalls von einer »N-Welle seit Mitte der 60er Jahre« zu lesen33. Die Neuauflagen von Brockhaus und Meyers sprachen beide von einer »Rückwendung auf Vergangenes«, ihre Definition von Nostalgie ging also über eine Sehnsucht nach einer vergangenen Epoche hinaus34. Während Sehnsucht eher eine temporäre, individuelle Emotion beschrieb, ließ Rückwendung an ein breites sozio-kulturelles Phänomen denken. Und genau das war im Anschluss an den Nostalgie-Diskurs der siebziger Jahre auch gemeint. Im Gegensatz zu den Lexika machten sich die Intellektuellen, die zur Nostalgie-Welle Stellung nahmen, auffallend wenig Mühe, den Begriff zu definieren, der ihrer Ansicht nach den Zeitgeist so treffend charakterisierte. Schivelbusch und Arnold Gehlen sahen in der Nostalgie ein zeitlich gewendetes »Heimweh«; Baacke die Tendenz, sich in »andere Zeiten zurückzuwünschen«, Hermann Lübbe die »Liebe zu alten Zeiten« und Volker Fischer den »bedrückende[n] Wunsch nach etwas Entzogenem […], nach etwas, das einem einstmals nahe stand«35. Alle waren sie sich allerdings darin einig, dass es sich, um »ein gesellschaftliches, ein kollektives Phänomen« handelte36. Mit ihren expliziten Bezugnahmen auf die »Nostalgie-Welle« standen die Nachschlagewerke im Bann des Nostalgie-Diskurses. Schwieriger, wenn nicht unmöglich zu beantworten, ist die Frage, was zuerst da war: der NostalgieDiskurs, die Bedeutungsverschiebung oder die kollektive Rückwendung, die bloß eines Begriffs bedurfte. Sicher ist allein, dass sich der Begriffswandel in Deutschland recht plötzlich vollzog und dass der Begriff in seiner neuen Bedeutung schnell weite Verbreitung fand. So tauchte er in der Frankfurter Allge­ meinen ­Zeitung in den 1950er Jahren gerade neunmal auf, in den 1960ern auch bloß 51 Mal, in den 1970ern dagegen 1033 Mal, in den 1980ern 1.065 Mal und in den 1990ern 1.915 Mal37. Diese rasche Zunahme lässt sich wenigstens teilweise auf den Einfluss der USA zurückführen. Nicht dass die Nostalgie-Welle, wie der Spiegel meinte, ein amerikanischer Export war, aber Time, Life und Newsweek

32 Dieter Baacke, Nostalgie. Zu einem Phänomen ohne Theorie, in: Klebe (Hrsg.), Meyers Enzyklopädisches Lexikon, S. 449–452. 33 Nostalgie, in: O. A., Der große Brockhaus in zwölf Bänden, 8. Bd., Wiesbaden 1979, S. 301. 34 Ebd. 35 Schivelbusch, Das nostalgische Syndrom, S. 270; Arnold Gehlen, Das entflohene Glück. Eine Deutung der Nostalgie, in: Merkur 30 (1976), S. 432–442, hier S. 438; Baacke, Nostalgie, S. 440; Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, S. 318; Fischer, Nostalgie, S. 16. 36 Schivelbusch, Das nostalgische Syndrom, S. 276. 37 FAZ -Archiv (URL: http://fazarchiv.faz.net/, zuletzt eingesehen am 6.7.2016).

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wurden auch in deutschen Zeitungsredaktionen und Universitäten gelesen und Tofflers Zukunftsschock erschien bereits 1970 auf Deutsch und war auch in Deutschland ein Bestseller38.

Manifestationen Worin aber nun manifestierte sich die Nostalgie-Welle, die so viele Intellektuelle zu beobachten meinten? Wer sehnte sich ihnen zufolge nach der Vergangenheit und nach welcher? Manche Texte äußerten sich dahingehend gar nicht, sondern gingen abstrakt von einem universalen Zeitgeist aus, der die gesamte Gesellschaft betraf. Diejenigen, die konkreter wurden, waren sich weitgehend einig, dass sich die Nostalgie-Welle primär auf die 1950er Jahre bezog und dass sie diejenigen betraf, die in dieser Zeit herangewachsenen waren, fast mehr aber noch ihre heranwachsenden Kinder. Beides wurde mit Überraschung registriert: Dass auf eine eigentlich so nahe Zeit bereits nostalgisch zurückgeblickt werden konnte und dass es ausgerechnet die Jugend war, die zurückblickte. Der Schriftsteller Thomas Meehan etwa meinte: »The vogue of nostalgia for the fifties is unique in that the young, who have traditionally been too involved in the present and the future, represent the mass of those who are caught up in it.«39 Auch laut Baacke waren nicht nur die nostalgisch, »die damals ›young‹ waren und mit biologisch unverbrauchter Frische die Errichtung einer ›Gegenkultur‹ versprachen und die nun 30, 40-jährig Abschied nehmen von diesen Hoffnungen, sondern auch die jungen Leute«40. Ein Beispiel, das viele Autoren nannten, war das Rock’n’Roll-Revival der frühen siebziger Jahre, das inzwischen auf das Altenteil verwiesenen »Rock-­ Regenten« wie Bill Haley eine zweite Karriere bescherte, inklusive der mit dem Rock’n’Roll verbundenen Kleidung und Accessoires wie Lederjacke, Pomade, Petticoat41. Auch Retromode und Flohmärkte galten als Ausweis von Nos­ talgie42. Vor allem aber schien die aktuelle Populärkultur in ihrem Zeichen 38 Alvin Toffler, Der Zukunftsschock, Bern/München 1970. Eine direkte Übernahme ist zwar nicht nachweisbar, jedoch schreibt Baacke z. B. englisch von »growing rate of change«; siehe: Baacke, Nostalgie, S. 450. 39 Thomas Meehan, Must We Be Nostalgic About The Fifities?, in: Horizon 9 (1972), S. 4–17, hier S. 5; ähnlich: Clarke, The Meaning of Nostalgia; Roy McMullen, That Rose-Colored Rearview Mirror, in: Saturday Review, 2.10.1976, S. 22–23, hier S. 22; Davis, Yearning for Yesterday, S. 42–44, 56–64. 40 Baacke, Nostalgie, S. 450, 451. 41 Ebert, »Jene Sehnsucht nach den alten Tagen…«, S. 86; siehe auch: Meehan, Must We Be Nostalgic About The Fifities?, S. 50; Schivelbusch, Das nostalgische Syndrom, S. 270; Baacke, Nostalgie, S. 450; Wood, Nostalgia or Never, S. 343; Fischer, Nostalgie, S. 191. 42 Toffler, Future Shock, S. 407; Ebert, »Jene Sehnsucht nach den alten Tagen…«; McMullen, That Rose-Colored Rearview Mirror; Anthony Brandt, A Short Natural History of Nostalgia, in: Atlantic 242 (1978), S. 58–63, hier S. 58; o.A., Heimweh nach den falschen

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zu stehen. Die Beatles (oder besser gesagt die Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band), »who seemed so full of the future, were also full of nostalgia«43. Ebenfalls vielfach genannt wurden Filme wie Bonnie and Clyde (1967), The Last Picture Show (1971) und The Great Gatsby (1974) sowie Serien wie Happy Days (1974– 1984) und The Waltons in den USA und The Forsyte Saga (1967–1969), Dad’s Army (1968–1977) und Upstairs, Downstairs (1971–1975) in Großbritannien44. Das deutsche Fernsehen konnte – abgesehen einmal davon, dass es die meisten der genannten Serien importierte – weder in Output noch in Qualität mithalten. Es zeigte vor allem eine Reihe von Retrospektiven, die Filmmaterial aus den Fünfzigern verwendeten, und alte Heimatfilme, die plötzlich wieder beliebt waren45. Am aufwendigsten waren eine Reihe von Fernsehfilmen nach Romanen von E. Marlitt und Hedwig Courths-Mahler, die zuvor bereits Comebacks auf dem Buchmarkt gefeiert hatten46. Wie an diesen Beispielen deutlich wird, beschränkte sich die Nostalgie-Welle nicht auf die Eisenhower- beziehungsweise Adenauer-Zeit, sondern umfasste ebenso die Zwischenkriegs- oder gar die Kaiserzeit. Gehlen sah in der Epoche zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg die eigentliche »Nostalgiezeit«47. Dabei ignorierte er das Fünfziger-Jahre-Revival, mit dem in den Augen vieler Kommentatoren die Nostalgie-Welle überhaupt erst eingesetzt hatte. Sein Versuch, eine klar umrissene »Nostalgiezeit« zu definieren, musste an dem Wirrwarr der nebeneinander stehenden und manchmal mit­einander kombinierten Wiederentdeckungen scheitern. Das »Durcheinander von Epochen, Stilen und Moden« entzog sich der Kategorisierung48.

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Fünfzigern, in: Spiegel 14 (April 1978), S. 90–111, hier S. 91; Fischer, Nostalgie, S. 208; Robert Rubens, The Backward Glance. A Contemporary Taste for Nostalgia, in: Contemporary Review 239 (1981), S. 149–150, hier S. 149. Wood, Nostalgia or Never, S. 343. Siehe Ebert, »Jene Sehnsucht nach den alten Tagen…«; Wood, Nostalgia or Never; Baacke, Nostalgie, S. 451; Howard F. Stein, American Nostalgia, in: The Columbia Forum 3 (1974), S. 20–23, hier S. 21; Fischer, Nostalgie, S. 22–29; Davis, Yearning for Yesterday, S. 148. Siehe o.A., Heimweh nach den falschen Fünfzigern; Alexandra Ludewig, Screening Nostalgia. 100 Years of German Heimat Film, Bielefeld 2011; Rüdiger, »Goldene 50er« oder »Bleierne Zeit«?. Siehe o.A., Oh, von Hedwig, in: Spiegel 15 (April 1974), S. 169; Wolf Donner, Romantik, Liebe, Sauberkeit, in: Die Zeit 7.6.1974 (URL: http://www.zeit.de/1974/24/romantik-liebesauberkeit, zuletzt eingesehen am 6.7.2016); Hanns-Hermann Kersten, Literatur Besteller von anno dazumal, in: FAZ , 30.7.1974, S. 18; Walter Schmiele, Wallfahrt zu entbehrten Glücksgefühlen, in: FAZ , Beilage Bild und Zeit, 11.2.1978, S. 1; Fischer, Nostalgie, S. 16, 18–19; Arnold Gehlen bekannte sich zu seiner Nostalgie und gestand freimütig, »daß ich die neuen, großen, farbigen Verfilmungen von Romanen der Marlitt hinreißend schön finde« (Gehlen, Das entflohene Glück, S. 438). Gehlen, Das entflohene Glück, S. 438. Ebert, »Jene Sehnsucht nach den alten Tagen…«, S. 86.

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Neben der Populärkultur verwies der Nostalgie-Diskurs noch auf andere Beispiele. An erster Stelle stand dabei die Denkmalschutz-Bewegung, gegen deren Anhänger Douglas Johnson 1978 wetterte: They wish to stop things happening; they wish to prevent old buildings from being pulled down and new buildings from being put up. And all this, because they fear the future, they dislike the present, and they think things were better in the past.49

Auch deutsche Texte führten immer wieder den Denkmalschutz als Beleg für eine um sich greifende Nostalgie an, so etwa Dietmar Baacke und Wolfgang Schmiele, vor allem aber Hermann Lübbe, der immer wieder zu diesem Beispiel griff50. Der FAZ-Herausgeber Karl Korn sah in der »nostalgischen Welle […] die Welle, die den Denkmalschutz zu einer Volksbewegung hochspülte«51. Auch professionelle Denkmalpfleger konnten sich das auf einmal aufkeimende öffentliche Interesse am Denkmalschutz nicht ohne Nostalgie erklären. So etwa Reinhard Bentmann, Leiter der Abteilung Bau- und Kunstdenkmalpflege beim hessischen Landesamt für Denkmalpflege, der 1976 einen Artikel über den »modernen Denkmalkult« mit einem längeren Diskurs über Nostalgie begann. Dabei fand er auch kritische Worte für das Europäische Denkmalschutzjahr 1975, das unter dem Motto »Eine Zukunft für unsere Vergangenheit« stand. Ihm zufolge reagierte es »auf die Welle und nobilitierte den nostalgischen Bedarf wie die Materialien, auf die er sich richtet«52. Die »Denkmalämter ertrinken in der Flut abzusegnender Baueingaben«, beschwerte sich Bentmann, weit davon entfernt, die breite Begeisterung für den Denkmalschutz als Bestätigung und Unterstützung für die Arbeit der professionellen Denkmalpflege zu werten53. Auch der Landeskonservator von Schleswig-Holstein, Hartwig B ­ eseler, sah einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der »Nostalgiewelle« und der »Diskussion über den unveräußerlichen Wert historischer Bauten und gewachsener städtebaulicher Strukturen«54. Allerdings reagierten nicht alle Denkmalpfleger so abweisend. Gottfried­ Kiesow, seit 1974 erster Direktor des Landesamts für Denkmalpflege Hessen, freute sich, nach einer denkmalpflegerisch sehr schwierigen Zeit, seit 1970 »eine zunehmende Bewegung für den Gedanken des Denkmalschutzes in breiten 49 Johnson, Not What It Used to Be, S. 42. 50 Siehe Baacke, Nostalgie, S. 451; Schmiele, Wallfahrt zu entbehrten Glücksgefühlen, S. 1; Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S.  305 f., 316, 318; Ders., Der Fortschritt und das Museum, S. 4 f., 8 f.; Ders., Zwischen Trend und Tradition, S. 10. 51 Karl Korn, Nur Denkmalschutz?, in: FAZ , 7.6.1978, S. 1; siehe bereits: Ders., Denkmalschutz als Volksbewegung, in: FAZ , 21.1.1975, S. 1. 52 Reinhard Bentmann, Der Kampf um die Erinnerung. Ideologische und methodische Konzepte des modernen Denkmalkultes, in: Ina-Maria Greverus (Hrsg.), Denkmalräume – Lebensräume, Gießen 1976, S. 213–246, hier S. 218. 53 Bentmann, Der Kampf um die Erinnerung, S. 213. 54 Hartwig Beseler, Die Zukunft der Vergangenheit, in: Die Zeit, 17.1.1975 (URL: http:// www.zeit.de/1975/04/die-zukunft-der-vergangenheit, zuletzt eingesehen am 6.7.2016).

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Kreisen der Bevölkerung [zu] beobachten«55. Zusammen mit den Kunsthistorikern Heinrich Klotz und Roland Günter sah er das öffentliche Interesse an der Denkmalpflege als hilfreiche Entwicklung: »Gäbe es die plötzliche Bewegung der Bürgerinitiativen nicht, […] so müßte man feststellen, daß die Bundesrepublik hinsichtlich des Denkmalschutzes das zurückgebliebenste und reaktionsstumpfeste Land Europas ist.«56 Neben dem Denkmalschutz wurden auch die Zunahme von Museen und Museumsbesucher*innen57; sowie die Popularität von Geschichte auf dem Buchmarkt58 auf Nostalgie zurückgeführt. Obwohl es sich bei Museen, Aus­stellungen und Büchern zumeist um seriöse, von Fachleuten angefertigte und pädagogischen Zwecken dienende Produkte handelte, galten auch sie als nostalgisch. Jürgen Kocka etwa nannte sie in einem Zug mit der »noch nicht abklingende[n] Nostalgie-Welle«, Hermann Lübbe im Kontext der »nostalgische[n] Zuwendung zu Vergangenheiten«59. Insbesondere die Preußen-Ausstellung von 1981 stieß, vor allem bei links-progressiven Sozialhistoriker*innen, auf erhebliche Vorbehalte. Hans-Ulrich Wehler etwa verdächtigte sie der »Preußen-Nostalgie«60. Generell stand die Nostalgie im Ruf politisch konservativ, wenn nicht gar reaktionär zu sein. Von Gehlen und Lübbe in Deutschland, Christopher Lasch in den USA und Martin Wiener in Großbritannien einmal abgesehen, gehörten die meisten Autoren, die zur Nostalgie-Welle Stellung nahmen – und insbesondere

55 Gottfried Kiesow, Die gesellschaftliche und geschichtliche Begründung der Denkmalpflege, in: Stadt Göttingen (Hrsg.), Die Geschichtlichkeit des Menschen und der Stadt, Göttingen 1975, S. 155–157, hier S. 155; siehe auch: Ders., Einführung in die Denkmalpflege, Darmstadt 1982, S. 14, 33. 56 Heinrich Klotz/Roland Günter/Gottfried Kiesow, Keine Zukunft für unsere Vergangenheit? Denkmalschutz und Stadtzerstörung, Gießen 1975, S. 9. 57 Brandt, A Short Natural History of Nostalgia, S. 60; Hermann Lübbe, Zwischen Trend und Tradition. Überfordert uns die Gegenwart?, Zürich 1981, S. 10; Ders., Die Gegenwart der Vergangenheit. Kulturelle und politische Funktionen des historischen Bewußtseins. Vortrag gehalten vor der 16. Landschaftsversammlung am 16. März 1985 in Oldenburg, Oldenburg 1985, S. 7; Thomas Powers, Yesterday’s Talismans, in: Commonwealth, 19.6.1981, S. 361 f., hier S. 362; Christopher Lasch, The Politics of Nostalgia. Losing History in the Mists of Ideology, in: Harper’s 269 (1984), S. 65–70, hier S. 76; David ­Cannadine, Nostalgia, in: Ders., The Pleasures of the Past (zuerst als Brideshead re-revisited, in: New York Review of Books, 19.12.1985), London 1989, S. 256–271; Hewison, The Heritage Industry, insbes. S. 15–35. 58 Siehe beispielsweise: Wood, Nostalgia or Never, S. 343; Rudolf Pörtner, Neues Bewußtsein, Nostalgie, Gegenhistorie?, in: Westermanns Monatshefte 5 (1978), S.  26–34, hier S. 26; Lübbe, Zwischen Trend und Tradition, S. 8; Otto Borst, Vom Nutzen und Nachteil der Denkmalpflege für das Leben, in: Die alte Stadt 15 (1988), S. 1–22, hier S. 7. 59 Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff, Entwicklung, Probleme, Göttingen 1977, S. 114; Lübbe, Zwischen Trend und Tradition, S. 10–12; siehe auch: Ders., Die Gegenwart der Vergangenheit, S. 7. 60 Hans-Ulrich Wehler, Preußen ist wieder chic. Politik und Polemik in zwanzig Essays, Frankfurt a. M. 1983, S. 71.

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diejenigen, die kritisch über sie schrieben – eher einer, wie immer weit gefassten, Linken an. Der Liberale Arthur Schlesinger hatte bereits 1955 in einem Aufsatz über den Neokonservativismus von »Politics of Nostalgia« gesprochen61. Wie Fred Davis in seiner soziologischen Studie festhielt, handelte es sich bei den Nostalgie-Kritikern überwiegend um Linke und Liberale62. Doch die Nostalgie selbst ließ sich nur schwer politisch einordnen. Der Schriftsteller Peter Clecak sah in ihr eine Quelle politischen Konservativismus  – fand sie aber auch bei Radikalen und Liberalen63. Dieter Baacke kam zu dem Schluss, dass sich in der Nostalgie »konservative Bewahrer und linke Systemkritiker trafen«, beziehungsweise, dass es in ihr überhaupt nicht um Politik, sondern im Gegenteil um einen politikfreien Raum ging, »als wollte man sich eine Privatsphäre sichern, die frei ist vom Zugriff öffentlicher Kontrolle«64. Politisch brisant wurde die Nostalgie, wenn sie sich auf die NS -Zeit richtete. Karl Heinz Bohrer fand Anzeichen dafür allenfalls in Großbritannien, keinesfalls jedoch bei den Deutschen, die ihre Vergangenheit unfähig gemacht habe, nostalgisch zurückzublicken65. Allerdings erschienen seit 1973, als sich die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler zum vierzigsten Mal jährte, eine Reihe von Texten, die gerade eine Nostalgie für die Zeit des Nationalsozialismus verzeichneten. So beobachtete Erich Fried eine »Hitlernostalgie«, Günther Anders meinte 1974 die »Distanzierung von der Hitlerzeit« habe sich »in Nostalgie verwandelt«, Heinrich Böll machte 1976 eine »Nazi-Nostalgie« und Marion Gräfin Dönhoff 1977 eine »Hitlerwelle« aus66. Solche Einschätzungen mögen übertrieben und polemisch gewesen sein, aber sie zeigen, dass Nostalgie auch auf die NS -Vergangenheit angewandt wurde. Im Nostalgie-Diskurs spielte diese allerdings im Vergleich zu den fünfziger Jahren, den zwanziger Jahren oder dem Kaiserreich fast gar keine Rolle. Das deutet daraufhin, dass das populäre Interesse auf eine Version der deutschen Geschichte zielte, in der der Nationalsozia-

61 Arthur Schlesinger, The New Conservatism. Politics of Nostalgia, in: The Reporter, 16.6.1955, S. 9–12. 62 Davis, Yearning for Yesterday, S. 108. 63 Peter Clecak, America’s Quest for the Ideal Self. Dissent and Fulfillment in the 60s and 70s, New York/Oxford 1983, S. 93, 96. 64 Baacke, Nostalgie, S. 451. 65 Siehe Karl Heinz Bohrer, Nazi-Nostalgie, in: FAZ , 21.11.1977, S. 23. 66 Erich Fried, Die Halbwahrheiten über Hitler. Zur Hitlernostalgie der westlichen Welt, in: Ders., Gedanken in und an Deutschland. Essays und Reden. Hrsg. von Michael Lewin, Wien, Zürich 1988 (zuerst in: Deutsche Volkszeitung, 9.8.1973), S. 57–63; Günther Anders, Mein Judentum (1974), in: Ders., Günther Anders Lesebuch, Zürich 1984, S.  ­234–251, hier S. 234; Heinrich Böll, Vorwort zu »Nacht über Deutschland«, in: Ders., Essayistische Schriften und Reden, 1. Bd. Hrsg. von Bernd Balzer, Köln 1979 (zuerst in: Clément Moreau, Nacht über Deutschland, München 1976), S.  305–306, S.  304; Marion Gräfin Dönhoff, Was bedeutet die Hitlerwelle? Ein Phänomen, gegen das wir uns nicht wehren können, in: Die Zeit, 9.9.1977; siehe auch: Eberhard Jäckel, Rückblick auf die sogenannte Hitler-Welle, in: GWU 28 (1977), S. 695–710.

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lismus entweder noch nicht oder nicht mehr existiere, als habe sie gleichsam die Kehrseite zu der zur selben Zeit  – angestoßen etwa durch die amerikanische Fernsehserie Holocaust – einsetzenden Aufarbeitung der NS -Vergangenheit gebildet67.

Erklärungen Nicht alle Beiträge zur Nostalgie-Welle versuchten diese zu erklären. Manche Texte, zumal die eher polemischen, beschränkten sich darauf, ihre Omnipräsenz und Schädlichkeit zu betonen. Die einfachste Erklärung verstand die Nostalgie als »gegenwartsflüchtig«, als »eskapistische Flucht aus der unruhigen Gegenwart«, den »forlorn 1970s«68. »Mit einer schrecklichen Welt konfrontiert, wählte die denkende und studierende Jugend den Marsch in die Welt der Kindheit, der Vergangenheit und zugleich in die Utopie«, meinte der Schriftsteller Gerhard Zwerenz69. Diese Einschätzung fügt sich nahtlos in die Wahrnehmung der 1970er Jahre als dunkle Dekade, geprägt von Wirtschaftskrisen, Terrorismus und Endzeitängsten, ein. Eine andere Erklärung sah in der Nostalgie-Welle weniger eine Reaktion auf die Krise der siebziger Jahre als auf die revolutionären sechziger Jahre. »Es hat den Anschein, als sei die Nostalgie das Erbe einer jeden Welle von Aktivismus. Wahrscheinlich beruht sie auf Enttäuschungen, die aus der Bahn werfen«, meinte Zwerenz und er schloss: »Die Revolte ist vorbei, die Nostalgie ist geblieben.«70 Ähnlich erklärte Fred Davis in seiner Soziologie der Nostalgie-Welle diese als Folgeerscheinung der vorangegangenen Dekade, der »massive identity dislocation of the sixties«71. Selten in der Geschichte wären die selbstverständlichen Überzeugungen gewöhnlicher Menschen über Geschlecht, Gesetz, Gesellschaft und Gott derart angezweifelt, zerrüttet und erschüttert worden wie in den 1950er und 1960er Jahren72. Davis nannte die Geschwindigkeit, mit der sich die Veränderungen vollzogen als besonders problematisch73. Ähnlich hatte bereits Alvin Toffler argumentiert, der in der Beschleunigung des Wandels – »the acceleration of change« – 67 Frank Bösch, Film, NS -Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von »Holocaust« zu »Der Untergang«, in: VfZ 55 (2007), S. 1–32. 68 Lübbe, Zwischen Trend und Tradition, S. 12; Schivelbusch, Das nostalgische Syndrom, S. 270; Wood, Nostalgia or Never, S. 343; siehe auch Baacke, Nostalgie, S. 452; Brandt, A Short Natural History of Nostalgia, S. 60; Fischer, Nostalgie, S. 250 f.; Lasch, The Politics of Nostalgia, S. 65, 70; Cannadine, Nostalgia, S. 258. 69 Gerhard Zwerenz, Der Schock sitzt tiefer, in: Werner Martin Lüdke (Hrsg.), Nach dem Protest. Literatur im Umbruch, Frankfurt a. M. 1979, S. 28–41, hier S. 41. 70 Ebd., S. 40 f. 71 Davis, Yearning for Yesterday, S. 105. 72 Ebd., S. 106. 73 Ebd., S. 62, 66.

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mehr noch als im Wandel selbst die Ursache dafür sah, dass viele Menschen regelrecht unter Schock – Zukunftsschock – standen. Für Toffler handelte es sich um eine ernstzunehmende Krankheit, die er mit einem Kulturschock in der Heimat verglich. Selbst wer sich nicht von der Stelle bewegte, fühlte sich dank der sich rasant verändernden Gesellschaft wie in eine neue Welt verpflanzt74. Zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen kam Hermann Lübbe. Wie Toffler konstatierte er eine »Erfahrung der Beschleunigung geschichtlicher Abläufe«, »eine niemals zuvor erlebte Geschwindigkeit im Wandel unserer Zivilisation«75. Lübbe stützte sich dabei auf den Historiker Reinhart Koselleck, der in der Beschleunigung ein zentrales Prinzip der Moderne sah76. Alle drei Denker gingen auf die Folgen der Beschleunigungserfahrung für die Zeitwahrnehmung ein. Toffler zufolge besaß jede Gesellschaft ein eigenes »time bias«, das sich aus der Rate der Veränderung ergebe. Zwar werde dieses nicht bewusst wahrgenommen, es determiniere jedoch das soziale Verhalten. In Gesellschaften, die sich nur langsam veränderten, unterschied sich die Gegenwart kaum von der Vergangenheit77. Nun aber habe der Veränderungsstrom ein derartiges Tempo erreicht, dass es zu einem »Bruch mit der Vergangenheit« gekommen sei78. Auch Lübbe sah einen engen Zusammenhang zwischen Beschleunigung und dem Aufkommen eines »historischen Bewusstseins«79. Er konstatierte einen »Vertrautheitsschwund« resultierend aus der »Verkürzung der Zeiten, über die hinweg der Rückblick zum Blick in die Vergangenheit wird, das heißt zum Blick in eine Zeit, in der wir unsere Gegenwart nicht mehr wiedererkennen«80. Später prägte er dafür den Begriff der »Gegenwartsschrumpfung«81. Erneut berief er sich dabei auf Koselleck und dessen Unterscheidung zwischen »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«82. Koselleck vertrat die These, dass sich in der Neuzeit »die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung« zunehmend vergrößert habe83. Aufgrund des beschleunigten Wandels waren die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen immer weniger geeignet, die Probleme der Gegenwart zu lösen, während sich zugleich aus der Gegenwart immer weniger Erwartungen für die Zukunft ableiten ließen. Koselleck bezog sich dabei auf 74 Toffler, Future Shock, S. 11 f., 20. 75 Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S.  254; Ders., Zwischen Trend und Tradition, S. 9. Lübbe nimmt allerdings an mehreren Stellen allgemein auf die Zukunfts­ forschung Bezug. 76 Siehe Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 150–176; Ders., Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation, in: Ebd., S. 177–202. 77 Toffler, Future Shock, S. 361. 78 Ebd., S. 21–25. 79 Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S. 304–312. 80 Lübbe, Zwischen Trend und Tradition, S. 10. 81 Lübbe, Zeit-Erfahrungen, S. 12 f. 82 Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S. 244–245. 83 Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft, S. 349–375.

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die Sattelzeit. Heute lesen sich seine Texte jedoch wie Selbstbeschreibungen der 1970er Jahre – zumal im Kontext der Gegenwartsanalyse von Lübbe. Der Nostalgie-Diskurs muss vor dem Hintergrund einer sich ändernden Zeitwahrnehmung verstanden werden84. Die beiden Nachkriegsdekaden waren, so das von der Mehrzahl der Historiker gezeichnete Bild, geprägt von Zukunfts­ optimismus: Vor dem Hintergrund der zurückliegenden Schrecken und Entbehrungen, der boomenden Ökonomie und den Errungenschaften in Technik und Wissenschaft erschien die Zukunft nicht nur rosig, sondern auch planbar85. Die Vergangenheit galt als überwunden und hatte ihre Relevanz für die Gegenwart eingebüßt. Ablesbar war dies etwa daran, dass Historiker wie Wolfgang Mommsen, Thomas Nipperdey oder Reinhart Koselleck bis in die 1970er Jahre hinein den Relevanzverlust ihres Faches beklagten86. Hermann Lübbe fand das, an­gesichts aller Anzeichen zum Gegenteil, bereits 1977 »erstaunlich«87. Vier Jahre später registrierte er befriedigt: »Klagen über die Zukunft unserer akademischen Geschichtswissenschaft, die sich vor zehn, zwölf Jahren erhoben, sind verstummt.«88 Die Klage über die Geschichtsvergessenheit machte der über die Nostalgie Platz. Der amerikanische Historiker Christopher Lasch sah diese als Gefahr, weil sie, weit entfernt davon die Vergangenheit zu bewahren, ihre Bedeutung in Frage stellte, indem sie jeden Sinn für Kontinuität untergrabe: »It evokes the past only in order to bury it alive.«89 Lasch widersprach sich allerdings selbst, wenn er gleich darauf meinte, dass die Empfindung von Diskontinuität derart stark geworden sei, dass bereits die 1950er und 1960er Jahre zum Gegenstand von Nostalgie geworden waren90. 84 Siehe dazu auch Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?, insbes. S. 246–250; Esposito, Von no future bis Posthistoire, insbes. S. 420. 85 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 188, 230; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium, 1982–1990, München 2006, S. 470–472; Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: VfZ 55 (2007), S. 559–581; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 654–661; Elke Seefried, Bruch im Fortschrittsverständnis? Zukunftsforschung zwischen Steuerungs­ euphorie und Wachstumskritik, in: Doering-Manteuffel u. a. (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 425–450. 86 Wolfgang J. Mommsen, Historisches Denken der Gegenwart, in: Walter Besson (Hrsg.), Geschichte. Mit einer Einleitung von Hans Rothfels hrsg. von Waldemar Besson, Frankfurt a. M. 1973, S. 92–102; Reinhart Koselleck, Wozu noch Historie?, in: HZ 212 (1971), S.  1–18; Thomas Nipperdey, Wozu noch Geschichte?, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.), Die Zukunft der Vergangenheit. Lebendige Geschichte, klagende Historiker, Freiburg 1975, S. 34–57. 87 Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S. 321. 88 Lübbe, Zwischen Trend und Tradition, S. 8. 89 Lasch, The Politics of Nostalgia, S. 70. 90 Ebd.

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Anders als Lasch, der dem Bedeutungsverlust der Vergangenheit hinterher trauerte und ihn rückgängig machen wollte, hatte der britische Historiker J. H.  Plumb bereits 1969 nüchtern den »Tod der Vergangenheit« festgestellt. Plumb argumentierte, dass die industrielle Gesellschaft, anders als die agrarische, die Vergangenheit nicht benötige und mehr an Veränderung als an Bewahrung interessiert sei: »The past becomes, therefore, a matter of curiosity, of nostalgia, a sentimentality.«91 Diskontinuität und der Relevanzverlust der Vergangenheit machten die Nostalgie überhaupt erst möglich, denn um sich nach der Vergangenheit sehnen zu können, musste ein Bewusstsein dafür vorhanden sein, dass diese unwiederbringlich vergangen war. Mehr noch: im nostalgischen Blick zurück, kam die Diskontinuität zum Bewusstsein ihrer selbst. Die Analyse von Toffler und Lübbe unterschied sich von jener der Historiker dadurch, dass sie der Nostalgie eine positive, nützliche Funktion zubilligten. In ihren Augen machte der Bruch mit der Vergangenheit die Nostalgie nicht nur möglich, er machte sie zugleich nötig. Im letzten Kapitel seines Buches diskutierte Toffler »Überlebensstrategien« in einer beschleunigten Welt. Dazu zählte er unter anderem »Vergangenheitsenklaven« – Räume, in denen die Veränderungsrate künstlich verringert und Neues absichtlich ausgeschlossen wird. Ohne solche Räume, so Toffler, würden zukünftige Gesellschaften nicht mehr auskommen können. Als Beispiele nannte er die Dörfer der Amish und Freilichtmuseen92. Toffler sprach sich für die Errichtung solcher »Vergangenheitsenklaven« und ebenso für die Bewahrung alter und die Schaffung neuer Traditionen aus, da diese als »Veränderungspuffer« eine sanftere Anpassung an das Morgen ermöglichen würden93. Es überrascht nicht, dass Traditionen auch bei dem Konservativen Lübbe prominent vorkamen. Noch wichtiger aber war hier der Begriff der Kompensation, den der Philosoph Joachim Ritter geprägt hatte und der eine zentrale Rolle im Denken seiner Schüler Hermann Lübbe und Odo Marquard spielte94. Fern davon eine bloße Modeerscheinung zu sein, erfüllte bei Lübbe die »fortschreitende Historisierung« eine wichtige Aufgabe, sie fungierte als »kulturelle Kompensation eines wandlungstempobedingten Schwunds an Vertrautheit«95. In einer Welt, deren einzige Konstante Veränderung war, boten Museen und Denkmalschutz  – aber auch die »nostalgischen Exaltationen«  – einen

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Plumb, The Death of the Past, S. 14 f. Toffler, Future Shock, S. 353–354. Ebd., S. 354, 393. Zur Kompensationstheorie siehe Odo Marquard, Kompensation, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 4.  Bd., Darmstadt 1976, S.  912–918; Dieter Groh/Ruth Groh, Vize-Glück im Unglück. Zur Entstehung der Kompensationstheorie, in: Merkur 44 (1990), S. 1054–1066; Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. 95 Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S. 318; ähnlich: Ders., Zwischen Trend und Tradition, S. 10; Ders., Die Gegenwart der Vergangenheit, S. 13.

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Pausenraum96. Odo Marquard verglich Traditionen mit einem Teddybär, mit dem ein Kind Vertrautheit in eine ihm fremde Welt hineinträgt97. Wie der Teddy, der nicht sagt wohin der Weg führt, ihn aber weniger angsteinflößend macht, so spendet der Blick zurück in die Vergangenheit letztlich zwar keine Orientierung, er dämpft aber die Verunsicherung. Die Nostalgie hält den unaufhaltsamen Wandel nicht auf, verlangsamt nicht die nicht zu verlangsamende Beschleunigung, doch sie schafft einen Ausgleich  – Kompensation  – für den wandlungs- und geschwindigkeitsbedingten Stress. Sie hält die tickende Uhr nicht an, aber sie eröffnet Räume, in denen das Ticken nicht zu hören ist.

Historisierung Nach der Nostalgie-Welle befragt, meinte der amerikanische Schriftsteller Gore Vidal 1971 mit der für ihn charakteristischen Autorität: »It’s all made up by the media. It’s this year’s thing to write about.«98 Auch wenn sich der NostalgieDiskurs nicht, wie Vidal meinte, als Eintagsfliege erweisen sollte, so fragt sich doch, ob nicht die Medien überhaupt erst produzierten, was sie zu beobachten meinten. Auch Christopher Lasch vermutete, dass die Kritik an der Nostalgie die Welle überhaupt erst hervorgebracht hatte99. Gleichzeitig nahm er das Phänomen so ernst, dass er selbst zu dieser Kritik beitrug. Und schließlich lassen sich die Beispiele, die von den Nostalgie-Kritikern als Beleg für eine NostalgieWelle angeführt wurden, nicht so leicht von der Hand weisen. So vollzog sich in den siebziger Jahren tatsächlich ein Paradigmenwechsel im Denkmalschutz. Noch das Städtebauförderungsgesetz von 1971 sah den Abriss ganzer Wohngebiete vor, ohne dass dabei denkmalpflegerische Geschichtspunkte berücksichtigt worden wären100. Schon vier Jahre später, im Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 wäre dies nicht mehr denkbar gewesen. An die Stelle der aufgelockerten, autogerechten Stadt, dem Ideal der fünfziger und sechziger Jahre, trat nun das der kompakten Stadt. Anstatt alte Bausubstanz abzureißen, um Platz für breitere Straßen und neue Wohnhäuser zu machen, wurden Altbauten saniert und historische Fassaden rekonstruiert101. Gleichzeitig weitete 96 Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S. 318. 97 Siehe Odo Marquard, Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Philosophie und Menschlichkeit, in: Ders., Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2000, S. 66–78. 98 Zit. in Lasch, The Politics of Nostalgia, S. 70. 99 Lasch, The Politics of Nostalgia, S. 66. 100 Vgl. Viktoria Lukas-Krohm, Denkmalschutz und Denkmalpflege von 1975 bis 2005 mit Schwerpunkt Bayern, Bamberg 2014, S. 28 f. 101 Vgl. Klaus von Beyme, Der Wiederaufbau. Architektur und Städtebaupolitik in beiden deutschen Staaten, München/Zürich 1987, S.  230–241; Rudy Koshar, Germany’s Transient Pasts. Preservation and National Memory in the Twentieth Century, Chapel Hill/London 1998, insbes. S.  243, 289–293; Jörn Düwel/Niels Gutschow, Städtebau in

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sich der Gegenstand der Denkmalpflege aus, die über eine »Erweiterung des Denkmalbegriffs«, bzw. eine »Verschiebung der Zeitgrenze« diskutierte102. Demnach galten nun auch Gebäude aus der Zeit nach 1870 als schutzwürdig, wie beispielsweise die wilhelminischen Fabriken und Mietskasernen, die noch in den sechziger Jahren reihenweise abgerissen worden waren, ohne dass irgendjemand Einspruch erhoben hätte. Dieses Umdenken wurde nicht von der »organisierten Denkmalpflege« ausgelöst, die sich »nur mit Verzögerung anschloß«, sondern von der Gesellschaft an sie herangetragen103. Das lässt sich bereits daran ablesen, dass viele Denkmalpfleger dies als Einmischung wahrnahmen. Seit den sechziger Jahren gründeten sich zahlreiche Bürgerinitiativen gegen den Abriss sanierungsbedürftiger Altstadtquartiere: 1966 in Regensburg, 1968 in Bamberg und Hameln, 1972 in Lüneburg und 1975 in Lübeck104. Gottfried ­Kiesow zählte 1978 150 solcher Initiativen105. Kiesow selbst entwarf nach einer Studienreise nach England 1973 den Plan zu einem deutschen National Trust. Es dauerte jedoch noch über ein Jahrzehnt bis zur Gründung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, die sich ihrer Selbstdarstellung nach als »größte private Initiative für Denkmalpflege in Deutschland« versteht und seither rund 5000 Projekte mit mehr als einer halben Milliarde Euro unterstützte106. Zu den Bürgerinitiativen kamen lokale Geschichts- und Heimatvereine, die sich für den Denkmalschutz einsetzten und die zum Teil  auf eine längere Geschichte zurückblickten, wie etwa der 1906 gegründete Rheinische Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz. Ihre Mitgliederzahlen wuchsen zwischen 1963 und 1968 um 20, zwischen 1968 und 1973 noch einmal um 12 Prozent107. Von einer »Volksbewegung« zu sprechen, wie Karl Korn dies tat, dürfte dennoch überzogen gewesen sein. Fest steht allerdings, dass sich in vielen BundesDeutschland im 20. Jahrhundert. Ideen – Projekte – Akteure, Stuttgart u. a. 2001, S. 215, 248, 254; Miles Glendinning, The Conservation Movement. A History of Architectural Preservation. Antiquity to Modernity, London 2013, S. 293, 339; Lukas-Krohm, Denkmalschutz und Denkmalpflege, S. 62. 102 Bentmann, Der Kampf um die Erinnerung, S.  222, 232; siehe auch: Willibald Sauerländer, Erweiterung des Denkmalbegriffs?, in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege 33 (1975), S. 126. 103 Felix Hammer, Die geschichtliche Entwicklung des Denkmalrechts in Deutschland, Tübingen 1995, S. 318 f. 104 Lukas-Krohm, Denkmalschutz und Denkmalpflege, S. 65–71; siehe auch: Michael Metschies, »Denkmalpflege von unten«. Die Chance der Bürgerbeteiligung, in: Reinhard Grätz (Hrsg.), Denkmalschutz und Denkmalpflege. 10 Jahre Denkmalschutzgesetz, Köln 1991, S. 227–233; Eginhard König, Bürgerinitiativen zum Denkmalschutz. Das Beispiel Regensburg, in: Arbeitskreis Regensburger Herbstsymposium (Hrsg.), »Zum Teufel mit den Denkmälern«. 200 Jahre Denkmalschutz in Regensburg, Regensburg 2011, S. 67–73. 105 Gottfried Kiesow, Bundeswettbewerb 1978 »Stadtgestalt und Denkmalschutz im Städtebau«, in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege 37 (1979), S. 114 f., hier S. 114. 106 Deutsche Stiftung Denkmalschutz (URL: http://www.denkmalschutz.de/ueber-uns. html, zuletzt eingesehen am 14.4.2016). 107 Siegel, Denkmalpflege als öffentliche Aufgabe, S. 73.

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ländern Bürger für den Erhalt einzelner Objekte engagierten, dass Denkmalschutz zum öffentlichen Thema wurde und dass er nicht länger als Hemmschuh, sondern als sinnvoll und notwendig wahrgenommen wurde. So gaben in einer Umfrage von 1976 38 Prozent der Befragten an, dass zu wenig für die Erhaltung von Baudenkmälern getan wurde108. Wie der Denkmalpflege, so wuchsen auch dem Museum neue Aufgaben zu. Die agrarische und industrielle Vergangenheit, die Alltags- und Populärkultur wurden nun erstmals im großen Stil musealisert. Gottfried Korff brachte dies auf die Formel: »Popularisierung des Musealen und […] Musealisierung des Popularen«109. Einzelne Bundesländer legten großzügige Freilichtmuseen an, wie beispielsweise das Westfälische Freilichtmuseum Detmold (1971), das Rheinland-Pfälzische Freilichtmuseum in Bad Sobernheim (1972) oder der Hessenpark in Neu-Anspach (1974), in denen historische Gebäude und mitunter ganze Dörfer wiederaufgebaut wurden, nachdem sie an ihrem Originalplatz abgebrochen worden waren. Hinzu kamen eine Reihe von neuen Technik- und Industriemuseen110. Den größten Anteil an der Museumslandschaft stellten die Heimatmuseen, ohne die kaum noch ein Dorf auskam. Die Gesamtzahl der Museen nahm stetig zu: von 346 Museen und knapp 8 Millionen Besucher*innen 1958 auf 501 Museen und knapp 14 Millionen Besucher*innen 1970, 805 Museen und 35 Millionen Besucher 1981 und 1326 Museen und 51 Millionen Besucher*innen 1987111. Hinzukamen mit den historischen Blockbuster-Ausstellungen über die Staufer 1977 in Stuttgart, die Wittelsbacher 1980 in München und über Preußen 1981 in Berlin eine neue Form der Geschichtspräsentation112. Die Besucher­zahlen von Sonderausstellungen wuchsen von 10 Millionen 1963, auf 17 Millionen 1972, 25 Millionen 1976, 35 Millionen 1981, 40 Millionen 1983 und 51 Millionen 1987113. 108 Ebd., S. 77. 109 Gottfried Korff, Die Popularisierung des Musealen und die Musealisierung des Popularen, in: Gottfried Fliedl (Hrsg.), Museum als soziales Gedächtnis. Kritische Beiträge zur Museumswissenschaft und Museumspädagogik, Klagenfurt 1988, S. 9–23. 110 Siehe Wolfhard Weber, Die Gründung technischer Museen in Deutschland im 20. Jahrhundert, in: Museumskunde 56 (1991), S. 82–93. 111 Statistisches Jahrbuch Deutscher Gemeinden 68 (1981), S.  188 und 75 (1988), S.  243; Gesellschaftliche Daten: Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1982, S. 324; zum Museumsboom siehe auch: Hans-Joachim Klein/Monika Bachmayer, Museum und Öffentlichkeit. Fakten und Daten – Motive und Barrieren, Berlin 1981; Alfred G. Frei/Walter Hochreiter, Der neue Museumsboom – Kultur für alle?, in: Neue Politische Literatur 31 (1986), S. 385–397; Volker Kirchberg, Gesellschaftliche Funktionen von Museen. Makro-, meso- und mikrosoziologische Perspektiven, Wiesbaden 2005; Angela Jannelli, Wilde Museen. Zur Museologie des Amateurmuseums, Bielefeld 2012. 112 Siehe Martin Große Burlage, Große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, 1960–2000, Münster 2005. Siehe auch Mario Schulze/Anke te Heesen/ Vincent Dold (Hg.), Museumskrise und Ausstellungserfolg. Die Entwicklung der Geschichtsausstellung in den Siebzigern, Berlin 2015. 113 Siehe Fußnote 111.

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Die Beobachtungen der Nostalgie-Kritiker waren also nicht ganz falsch. Aus heutiger Perspektive stellt sich jedoch erstens die Frage, ob die von ihnen zitierten Beispiele überhaupt miteinander zusammenhingen. Ob Populärkultur, Retromode, Denkmalschutz oder Museumsboom  – für den Nostalgie-Diskurs waren alle diese sehr verschiedenen Phänomene und Praktiken einfach nur Beispiele für Nostalgie, die selbst nicht näher untersucht wurden. Zweitens fragt sich, ob sich diese sehr verschiedenen Phänomene und Praktiken überhaupt auf eine Ursache zurückführen lassen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob und wie sich der Begriff seither verändert hat und wie er heute verwendet wird. Für Disziplinen wie Soziologie, Geographie, Anthropologie, vor allem aber Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft ist Nostalgie längst keine bête noire mehr, sondern ein aktuell boomender Untersuchungsgegenstand114. Neuere psychologische Studien gehen sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie die positiven Eigenschaften von Nostalgie hervorheben115. In der Geschichtswissenschaft allerdings ist der Begriff Nostalgie nach wie vor negativ besetzt. Wie John Tosh sind viele Historiker der Ansicht, dass Nostalgie ein schiefes Bild der Vergangenheit vermittle, das diese simplifiziere und romantisiere116. Manche gehen in ihrer Antinostalgie noch weiter, wenn sie wie 114 Siehe beispielsweise Lincoln Geraghty, Cult Collectors. Nostalgia, Fandom and Collecting Popular Culture, London/New York 2014; Gilad Padva, Queer Nostalgia in­ Cinema and Pop Culture, Basingstoke 2014; Katharina Niemeyer (Hrsg.), Media and Nostalgia. Yearning for the Past, Present and Future, Basingstoke 2014; Olivia Angé/­ David Berliner (Hrsg.), Anthropology and Nostalgia, New York 2015; Linda Beail/Lilly J. Goren (Hrsg.), Mad Men and Politics. Nostalgia and the Remaking of Modern America, New York 2015; Dwyer, Back to the Fifties; John Funchion, Novel Nostalgias. The Aesthetics of Antagonism in Nineteenth Century U. S. Literature, Columbus 2015; Heike Jenss, Fashioning Memory, London 2015; Ryan Lizardi, Mediated Nostalgia. Individual Memory and Contemporary Mass Media, Lanham 2015; Jason Sperb, Flickers of Film. Nostalgia in the Time of Digital Cinema, New Brunswick 2015; Alastair Bonnett, The Geography of Nostalgia. Global and Local Perspectives on Modernity and Loss, Abingdon, New York 2016. 115 Constantine Sedikides/Tim Wildschut/Denise Baden, Nostalgia. Conceptual Issues and Existential Functions, in: Jeff Greenberg (Hrsg.), Handbook of Experimental Existential Psychology, New York 2004, S.  200–214; Tim Wildschut/Constantine Sedikides/Jamie Arndt/Clay Routledge, Nostalgia. Content, Triggers, Functions. in: Journal of Personality and Social Psychology 91 (2006), S. 975–993; Dies., Nostalgia. Past, Present, and Future, in: Current Directions in Psychological Science 17 (2008), S. 304–307; siehe auch John Tierney, What Is Nostalgia Good For? Quite  a Bit, Research Shows, in: The New York Times, 8.7.2013 (URL: http://www.nytimes.com/2013/07/09/science/ what-is-nostalgia-good-for-quite-a-bit-research-shows.html?pagewanted=all, zuletzt eingesehen am 15.7.2016); Fanny Jiménez, In unsicheren Zeiten werden Menschen nostalgisch, in: Die Welt, 22.12.2013 (URL: http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/ article123187692/In-unsicheren-Zeiten-werden-Menschen-nostalgisch.html, zuletzt eingesehen am 15.7.2016); Tim Adams, Look Back in Joy. The Power of Nostalgia, in: The Observer, 9.11.2014 (URL: https://www.theguardian.com/society/2014/nov/09/lookback-in-joy-the-power-of-nostalgia, zuletzt eingesehen am 15.7.2016). 116 John Tosh, The Pursuit of History, Harlow 2010, S. 18.

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Charles S. Maier von »Kitsch« oder wie Tony Judt und Dipesh Chakrabarty sogar von »Sünde« sprechen117. Obwohl nicht reflektiert, wurzelt dieses negative Verständnis von Nostalgie offensichtlich im Nostalgie-Diskurs der siebziger Jahre und ist ohne diesen nicht zu verstehen, was dessen Historisierung umso notwendiger macht. Gleichzeitig brandmarken Historiker*innen heute in der Regel populäre historische Praktiken nicht mehr als nostalgisch, zumal wenn es um Denkmalschutz und Museen geht. Wie Paul Betts festgestellt hat, sucht man die Nostalgie-Welle in der historischen Literatur vergeblich. Allerdings machen viele Gesamtdarstellung zur Geschichte der Bundesrepublik einen »Geschichtsboom« oder, wie Andreas Wirsching, Eckart Conze und Ulrich Herbert, eine »Rückkehr der Geschichte« in den siebziger und achtziger Jahren aus118. Deutlich neutraler als der Topos von der Nostalgie-Welle, legen auch diese Formulierungen eine gesamtgesellschaftliche Rückwendung zur Vergangenheit nahe, wobei die geradezu hegelsche Wendung von der »Rückkehr der Geschichte« ebenfalls nicht unproblematisch ist, macht sie doch die Geschichte zum Subjekt, das gleichsam von selbst zurückkehrt. Fragen nach Akteuren und Praktiken werden dabei ausgeblendet. Historiker*innen sind es heute gewöhnt, mit einer Fülle anderer Akteure um die Auslegung der Vergangenheit zu konkurrieren. Gleichzeitig sind populäre Geschichtsdarstellungen und -praktiken mittlerweile selbst Teil  historischer Forschung. In Public History- und Heritage-Studiengängen werden Studierende für die öffentliche Geschichtsvermittlung ausgebildet119. Diese Entwicklung ist jedoch noch recht neu. Die Fachwelt musste sich erst daran gewöhnen, dass sie nicht mehr allein für die Vergangenheit zuständig war, dass Geschichte zu einem massenmedialen Gegenstand und Hobby wurde, das von Amateuren außerhalb und unabhängig von der Geschichtswissenschaft gepflegt wurde. Ihre Deutungshoheit in Gefahr wähnend, reagierte sie auf die Herausforderung, indem sie zwischen seriöser Geschichte einerseits und unseriöser Nostalgie 117 Charles S. Maier, The End of Longing? Notes toward a History of Postwar German National Longing, in: John S. Brady u. a. (Hrsg.), The Postwar Transformation of Germany, Ann Arbor 1999, S. 271–285, hier S. 273; Tony Judt, Postwar. A History of Europe Since 1945, London 2010, S.10; Dipesh Chakrabarty, Postcoloniality and the Artifice of History. Who Speaks for ›Indian Pasts?‹, in: Representations 37 (1992), S. 1–26, hier S. 1. 118 Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen 2001, S. 123; Barbara Korte/Sylvia Paletschek, Geschichte in populären Medien und Genres. Vom historischen Roman zum Computerspiel, in: Dies. (Hrsg.), History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld 2009, S. 9–60, hier S. 10; Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 471, siehe dort auch S. 466–491; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit, S. 654, siehe dort auch S.  654–664; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20.  Jahrhundert, München 2014, S. 1010–1020; ebenso Frank Bösch, Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen 9 (2012), S. 8–32. 119 Siehe Thorsten Logge, Public History in Germany. Challenges and Opportunities, in: German Studies Review 39 (2016), Nr. 1, S. 141–153.

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andererseits unterschied und ihre Konkurrenz in die zweite Kategorie verwies. Der Nostalgie-Diskurs war daher auch eine rhetorische Strategie mit der Klios Priester die Häretiker unschädlich machen wollten. In dem Maße, in dem ein breiter Geschichtsmarkt zur Normalität wurde und in dem sich Historiker*innen an die Konkurrenz gewöhnten, erschien ein negativ aufgeladener Begriff wie Nostalgie unangemessen. Allerdings implizieren auch neutralere Begriffe wie »Geschichtsboom« oder »Rückkehr der Geschichte« eine Zunahme des historischen Interesses, das heute noch genauso erklärt wird, wie in den siebziger und achtziger Jahren: einmal als Reaktion auf den in jenen Dekaden aufgrund von Wirtschafts- und Energiekrise einsetzenden Vertrauensverlust in Zukunft und Fortschritt, zum anderen als Folge der Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels120. Diese Lesart steht ganz offensichtlich in der Tradition von Hermann Lübbe, auf den zum Teil auch explizit Bezug genommen wird121. Andreas Wirsching und Anselm DoeringManteuffel etwa folgen Lübbes Theorie, der zufolge die Gegenwart aufgrund der hohen Veränderungsrate immer rascher zur Vergangenheit wird, wodurch gleichzeitig das Interesse an dieser Vergangenheit und der Ruf nach ihrer Bewahrung zunimmt122. Ähnlich argumentiert der französische Historiker François Hartog in seinem 2003 erschienenen Buch Régimes d’historicité, das sich theoretisch stark an Koselleck orientiert123. Hartog zufolge herrschte noch bis in die sechziger Jahre ein futuristisches Historizitätsregime vor, das dann durch ein präsentistisches verdrängt wurde, in dem Zukunft und Vergangenheit nur soweit gedacht werden, als sie auf die Gegenwart hinführen oder von dieser ausgehen124. An die Stelle der Geschichte trat das Heritage-Konzept, in dem Hartog »an invitation for collective anamnesis« sieht, da es die Vergangenheit den Bedürfnissen der Gegenwart unterordnet125. Nicht auf Kontinuität, sondern auf historischen Brüchen aufbauend, sei es Ausdruck einer Krisenzeit126. Hartogs Kritik des Heritage-Konzepts erinnert stark an die britische Polemik gegen die heritage industry, über die sie auch kaum hinausgeht. So hatte Robert Hewison bereits 1987 festgestellt: »While future perspectives seem to shrink, the 120 Wolfrum, Geschichte als Waffe, S. 128; Conze, Die Suche nach Sicherheit, S. 654; Bösch, Umbrüche in die Gegenwart, S.  29; Wirsching, Abschied vom Provisorium, S.  472; Korte/Paletschek, Geschichte in populären Medien, S. 10. 121 Wirsching, Abschied vom Provisorium, S.  472; Conze, Die Suche nach Sicherheit, S. 656 f.; Bösch, Umbrüche in die Gegenwart, S. 30. 122 Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 472; Anselm Doering-Manteuffel, Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. Zur historischen Einordnung der siebziger Jahre, in: Konrad Hugo Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 313–329, hier S. 325 f. 123 Hartog, Regimes of Historicity. 124 François Hartog, Time and Heritage, in: Museum International 57 (2005), Nr. 3, S. 7–18, hier S. 14; Ders., Regimes of Historicity, S. 149–191. 125 Ebd., S. 10. 126 Ebd., S. 15.

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past is steadily growing.«127 Dennoch unterscheidet sich Hartogs Kritik von jener der achtziger Jahre. Während diese ein Überhandnehmen der Vergangenheit beklagte, kritisiert Hartog, dass im Heritage nur solche Aspekte der Vergangenheit aufgegriffen, bewahrt und erinnert werden, die einen unmittelbaren Bezug zu gegenwärtigen Fragen und Problemen haben128. Trotz der gedanklichen Nähe scheint Hartog die Heritage-Kritik der achtziger Jahre nicht zu kennen, jedenfalls zitiert er sie nicht. Daraus lässt sich schließen, dass erstens die Vorstellung einer sich ausdehnenden Vergangenheit weite Verbreitung fand, dass zweitens Historiker*innen in verschiedenen Ländern diese Vorstellung teils im Austausch miteinander, teils unabhängig voneinander entwickelten und dass drittens die gegenwärtige Diskussion kaum über die der siebziger und achtziger Jahre hinausgeht, ob sie nun bewusst auf sie rekurriert (wie Wirsching und Doering-Manteuffel auf Lübbe oder Hartog auf Koselleck) oder ob sie ihr unbekannt ist (wie vielen deutschen und französischen Histo­ riker*innen die anglo-amerikanische Diskussion und umgekehrt). Das gilt auch für ein Theorieangebot, an dem heute niemand vorbeikommt, der über Beschleunigung nachdenkt: Hartmut Rosas Theorie der sozialen Beschleunigung. Noch mehr als Hartog baut Rosa auf Lübbe und Koselleck auf. Von ihnen übernimmt er sowohl die Definition von Beschleunigung wie die Vorstellung, dass die Beschleunigung die Zeitstrukturen in der Moderne fundamental veränderte, kulminierend in dem Satz: »Die Erfahrung von Modernisierung ist eine Erfahrung der Beschleunigung«129. Ein zentraler Baustein seiner Theorie ist Lübbes Begriff der »Gegenwartsschrumpfung«130. Abwesend ist dagegen überraschenderweise Alvin Toffler, dem Rosa als Gegenwartskritiker, vor allem aber hinsichtlich des apokalyptischen Ausblicks seines Buches, am nächsten steht131. Die Nähe zu Toffler wird noch an einem anderen Punkt deutlich. Im Gegensatz zu den Historiker*innen verabschiedet Rosa den Nostalgie-Begriff nicht, wenn er bei ihm auch nur an untergeordneter Stelle vorkommt. Rosa argumen­ tiert, dass auf jeden Beschleunigungsschub ein Be- und Entschleunigungsdiskurs folgt, der durch den »Ruf nach Entschleunigung und die nostalgische Sehnsucht nach der verlorenen ›langsamen Welt‹« geprägt ist132. Er unterscheidet darüber hinaus zwischen zwei Formen von »Entschleunigungsinseln«, worunter er sowohl territoriale oder soziale Räume versteht, die von der Be127 Hewison, The Heritage Industry, S. 24. 128 Hartog, Time and Heritage, S. 14; Ders., Regimes of Historicity, S. 149–191; siehe auch: Anne Eriksen, From Antiquities to Heritage. Transformations of Cultural Memory, New York/Oxford 2014. 129 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2014, S. 118. 130 Rosa, Beschleunigung, S. 131–134. 131 Toffler taucht gerade einmal einer Fußnote auf und dort auch nur zitiert nach einem anderen Buch, Rosa, Beschleunigung, S. 379, Fußnote 66. 132 Rosa, Beschleunigung, S. 81.

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schleunigung unberührt bleiben, als auch künstlich geschaffene Nischen der Entschleunigung133. Beide erinnern stark an Tofflers Vergangenheitsenklaven, zumal Rosa ebenfalls die Amish als Beispiel anführt134. Rosa zufolge »gewinnen solche beschleunigungsimmunen Phänomene an gleichsam ›nostalgischem‹ Wert oder an Verheißungsqualität je seltener sie werden«135. Mit Rosa – und in der Tradition Lübbes – könnte man die Nostalgie-Welle der siebziger und achtziger Jahre demnach als Reaktion auf den beschleunigten Wandel seit den fünfziger und sechziger Jahren verstehen und die damals diskutierten Nostalgie-Manifestationen als Kompensationsräume. Insofern beide davon ausgehen, dass die Gegenwartszentrierung unseren Blick auf die Vergangenheit verändert hat, liegen Hartog und Rosa nicht weit auseinander. Im Unterschied zu Hartog polemisiert Rosa jedoch nicht gegen Heritage, sondern bringt – wie Lübbe – Verständnis für nostalgische Sehnsüchte und ihre kompensatorische Qualität auf. Während Rosa Toffler nicht erwähnt, signalisiert das 2013 erschienene Buch Present Shock des amerikanischen Medientheoretikers Douglas Rushkoff bereits in seinem Titel, dass es sich als eine aktualisierte Version von Tofflers Future Shock versteht. Der Gegenwartsschock, den Rushkoff für unsere Zeit ausmacht, ist für ihn »akin to the onslaught of changing rules and circumstances that 1970s futurist Alvin Toffler dubbed ›future shock‹«136. Mit Rosa teilt Rushkoff die Ansicht, dass es der beschleunigte Wandel ist, der unsere Zeitwahrnehmung verändert, mit diesem und Hartog die Vorstellung von einer immer weniger planbaren Zukunft, einer immer kürzeren Gegenwart  – auch Rushkoff spricht von Präsentismus137. Wie Rosa beobachtet Rushkoff eine von neuen Technologien und Kommunikationsmedien wie Internet, Email und Mobiltelefonie vorangetriebene gesellschaftliche Beschleunigung seit dem späten 20. Jahrhundert. Da es beiden in erster Linie um Gegenwartsanalyse und Gegenwartskritik geht, überrascht, wie stark sie theoretisch auf Texten der siebziger Jahre aufbauen. Das wirft die Frage auf, ob die von ihnen beschriebene, gegenwärtige Beschleunigungserfahrung die Fortsetzung einer Entwicklung ist, die nach dem Zweiten Weltkrieg (beziehungsweise, wenn man Koselleck berücksichtigt, im späten 18. Jahrhundert) begann oder ob sie eine neue Beschleunigungsphase darstellt. Und ebenso bleibt unklar, worauf eigentlich die Beschleunigungserfahrung der siebziger Jahre fußte. Als Soziologen und Medientheoretiker können sie diese Frage allerdings nicht beantworten, noch sind sie dazu angehalten, ihre Gegenwartsanalyse, be133 134 135 136

Rosa, Beschleunigung, S. 143. Ebd., S. 143, 413. Ebd., S. 143. Douglas Rushkoff, Present Shock. When Everything Happens Now, New York u. a. 2013, S. 4, siehe auch S. 9, 14–16. 137 Ebd., S. 3, 18, 66.

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ziehungsweise die Texte auf denen diese aufbaut, zu historisieren. Das wäre die Aufgabe der Geschichtswissenschaft. Wie gezeigt, übernimmt aber auch diese Lübbes Theorie, ohne sie zu hinterfragen, ihre zeitgenössische Bedingtheit zu reflektieren oder sie historisch zu kontextualisieren. Sie tut also genau das nicht, was Rüdiger Graf und Kim Christian Priemel von der Zeitgeschichte einfordern, nämlich »die wirklichkeitskonstituierende Wirkung sozialwissenschaftlicher Analysen zu reflektieren und diese als Quelle, nicht als Darstellung zu lesen«138. Anstatt sich »ihre Wirkung auf unsere eigenen Formen der Weltaneignung« bewusst zu machen und so eigenständige Theorien und Erklärungen zu entwickeln, wird die Gegenwartsanalyse von einst unter der Hand zur Zeitgeschichte von heute139. Dieser Beitrag hat versucht dem Historisierungsgebot gerecht zu werden, indem er den Topos der Nostalgie-Welle hinterfragt und die Genealogie des Nostalgie-Diskurses und seinen Einfluss auf unser heutiges Denken nachzeichnet. Bei aller berechtigten Warnung davor, zeitgenössische Analysen und Theorien zu übernehmen, ist es doch gleichzeitig notwendig, diese ernst zu nehmen. Denn erstens zeigt die Renaissance des Zeit-Denkens der siebziger und achtziger Jahre, dass dieses sich nicht in bloßer Gegenwartskritik erschöpfte, sondern ein Theorieangebot bereitstellte, das nach wie vor Relevanz und Überzeugungskraft besitzt. Zweitens sprechen heute zwar nur wenige von einer NostalgieWelle, in der Kulturkritik sind Nostalgie-Diagnosen aber immer noch präsent140. Desgleichen geht die Geschichtswissenschaft nach wie vor davon aus, dass seit den siebziger Jahren das Interesse an der Vergangenheit zunahm, wobei zu fragen wäre, ob nicht vielmehr die modernisierungsoptimistischen, geschichtsvergessenen fünfziger und sechziger Jahre die eigentliche Anomalie bildeten. Und schließlich war der Nostalgie-Diskurs Teil eines breiteren Nachdenkens über Zeit, wie es zeitgenössisch auch in der Zukunftsforschung oder dem Posthistoire-Diskurs zum Ausdruck kam141. Ob diese einzelnen Stränge des Zeitdenkens nebeneinander herliefen oder ob sie miteinander verwoben waren, gilt es noch genauer zu untersuchen. Dabei wäre, mit Achim Landwehr, auch die »Pluritemporalität« der Zeiterfahrungen zu berücksichtigen, denn Modernisierungseuphorie, Planungseuphorie und Zukunftsglaube endeten weder schlagartig zu Beginn der siebziger, noch war die Vergangenheit in den fünfziger und sechziger Jahren völlig verschwunden142. 138 Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ 59 (2011), S. 479–508, hier S. 507. 139 Ebd. 140 Siehe etwa Simon Reynolds, Retromania: Pop Culture’s Addiction to Its Own Past, London 2011. 141 Seefried, Zukünfte; Dies., Reconfiguring the Future?; Esposito, Von no future bis Post­ histoire. 142 Siehe Achim Landwehr, Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die »Zeit-Geschichte«, in: Ders. (Hrsg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolu-

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Ebenfalls einzubeziehen wären die Metaphern und Bilder, mit denen Zeit beschrieben wurde. Daniel T. Rodgers hat darauf hingewiesen, dass lineare Zeitvorstellungen seit den siebziger Jahren zunehmend hinterfragt wurden143. Dafür spricht auch das Bild der Welle, die, weder Linie noch Kreis, einen Kompromiss zwischen linearen und zyklischen Zeitvorstellungen nahelegt: keine ewige Wiederkehr und keine Zielrichtung, sondern ein kontinuierliches Auf und Ab. Und schließlich müssten die einzelnen Phänomene und Praktiken genauer in den Blick genommen werden, die als Manifestationen der NostalgieWelle verstanden wurden, anstatt, wie es der Nostalgie-Diskurs tat, von einem allgemeinen Zeitgeist auszugehen und nach passenden Beispielen zu suchen. Erst dann dürfte sich zeigen, wer sich wie, aus welchen Motivationen und mit welchen Zielen für die Vergangenheit interessierte und wie neu die zeitgenössischen Zeit-Erfahrungen waren.

tion, Bielefeld 2012, S. 9–40; Ders., Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014. 143 Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge/London 2012, S. 225; siehe auch Thomas Hine, The Great Funk. Falling Apart and Coming Together (on a Shag Rug) in the Seven­ ties, New York 2007, S. 89.

Lukas J. Hezel

»Was gibt es zu verlieren, wo es kein Morgen gibt?« Chronopolitik und Radikalisierung in der Jugendrevolte 1980/81 und bei den Autonomen

Zu Beginn der 1980er Jahre waren viele »68er« auf ihrem »langen Marsch durch die Institutionen«1 längst ans Ziel und zum Stillstand gekommen. Das »rote Jahrzehnt«2 der maoistischen K-Gruppen neigte sich gerade seinem Ende zu. Seit dem »Deutschen Herbst« 1977 hatte der »bewaffnete Kampf« der RAF und der Bewegung 2. Juni das Gros seines ehemaligen Sympathisanten- und Unterstützerumfeldes verloren. Die Grünen hatten dem militanten Straßenprotest ihrer wilden »Sponti«-Vergangenheit3 abgeschworen und soeben damit begonnen, es sich im parlamentarischen System einzurichten4. Die Bundesrepublik schien nach einem turbulenten langen Jahrzehnt des politischen Aufruhrs endlich friedlicheren Zeiten entgegenzusteuern. Doch plötzlich und scheinbar gänzlich unerwartet trat eine neue Bewegung wütender und frustrierter Jugendlicher auf den Plan, die diesem Frieden nun umstandslos den Krieg erklärte. Der erste Zündfunke der »Jugendrevolte 1980/81«5 sprang ausgerechnet aus der beschaulichen Wohlstandsmetropole Zürich auf Westdeutschland über. 1 Gretchen Dutschke-Klotz/Helmut Gollwitzer/Jürgen Miermeister (Hrsg.), Rudi Dutschke. Mein langer Marsch. Reden, Schriften und Tagebücher aus zwanzig Jahren, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 15. 2 Zur Geschichte der K-Gruppen siehe: Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, 1967–1977, Frankfurt a. M. 2002; Michael Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991, Berlin 2002. 3 Zur »Sponti«-Bewegung siehe: Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 104–135. 4 Zur Entstehungs- und Gründungsgeschichte der Grünen, siehe: Silke Mende, »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011. 5 Geschichtswissenschaftliche Arbeiten zur »Jugendrevolte« sind bisher selten. Einen Überblick über den Forschungsstand geben: Knud Andersen/Bart van der Steen, A European Youth Revolt. European Perspectives on Youth Protest and Social Movements in the 1980s, London 2016; Werner Lindner, Jugendprotest seit den fünfziger Jahren. Dissens und kultureller Eigensinn, Opladen 1996; Matthias Manrique, Marginalisierung und Militanz. Jugendliche Bewegungsmilieus im Aufruhr, Frankfurt 1992. Darüber hinaus gibt es eine Reihe an populärwissenschaftlich-journalistischen Veröffentlichungen zur »Jugend­ revolte«: Stefan Aust/Sabine Rosenbladt (Hrsg.), Hausbesetzer. Wofür sie kämpfen, wie sie leben und wie sie leben wollen, Hamburg 1981; Michael Haller (Hrsg.), Aussteigen oder rebellieren. Jugendliche gegen Staat und Gesellschaft, Hamburg 1981; O. A., Der große Bruch – Revolte 81, Kursbuch 65 (1981).

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Unter der Parole »Züri brännt«6 waren dort Jugendliche im Mai 1980 gegen die Kulturpolitik der Stadtväter Sturm gelaufen. Vor der prunkvollen Kulisse des Opernhauses, dessen Renovierung für viele Millionen Franken kurz bevor stand, war es zu schweren Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei gekommen. Die »Bewegig«7, die anstelle des repräsentativen Prachtbaus ein autonomes Jugendzentrum forderte, verschaffte sich vor allem durch ihre Militanz öffentliches Gehör. Die Neue Züricher Zeitung beschrieb die Szenen in ihrer Montagsausgabe als ein »Inferno von Tränengas- und Gummi­geschossen, Pflastersteinregen und platzenden Molotowcocktails.«8 Der »Mythos Zürich«9, durch die sensationsorientierte Berichterstattung entsprechend aufbereitet, machte schnell Schule. Auch in Hannover und Bremen kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, als dort vermummte Jugendliche gegen Rekrutenvereidigungen der Bundeswehr protestierten10. In den Wintermonaten 1980/81 wurde schließlich Westberlin zum Epizentrum einer neuen, von mehreren Tausend Jugendlichen und einem breiten Sympathisant*innenumfeld getragenen Hausbesetzerbewegung, deren radikaler Kern jeden Quadratmeter der zu »Freiräumen« erklärten besetzten Gebäude militant gegen den Zugriff der Staatsmacht verteidigte. Im Verlauf des Jahres 1981 kam es in der Bundesrepublik zu 595 Besetzungen in 153 Städten. Die Größe des damals aktiven Personenkreises der Hausbesetzerszene lässt sich auf etwa 12.500 Aktivist*innen schätzen11. Angesichts der zunehmend gewalttätigen Eskalation des Konflikts kommentierte

6 Bekannt gemacht wurde der Slogan unter anderem durch den gleichnamigen Dokumentarfilm: Züri brännt! des Regiekollektivs Videoladen Zürich (Zürich 1980). 7 Zu den Opernhauskrawallen in Zürich siehe: Eidgenössische Kommission für Jugendfragen (Hrsg.), Thesen zu den Jugendunruhen 1980, Bern 1980; Lindner, Jugendprotest, S. 326–331; Paul Parin, »Befreit Grünland vom Packeis«. Zur Züricher Unruhe 1980, in: Aust/Rosenbladt (Hrsg.), Hausbesetzer, S. 222–233; Balz Theus, Spiel mit dem Feuer. Ein Jahr Jugendbewegung in Zürich, in: Haller (Hrsg.), Aussteigen, S. 49–70; außerdem das ausführliche Interview mit Jugendlichen aus der Bewegung in: Spiegel 52 (Dezember 1980), S. 33–52. 8 NZZ , 2.6.1980, S. 25. 9 Vgl.: Reise nach Zürich – Reise in einen Mythos, in: radikal 98 (September 1981), S. 20. 10 Siehe hierzu: A. G. Grauwacke, Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin ³2007, S. 87–92; Jan Schwarzmeier, Die Autonomen. Zwischen Subkultur und sozialer Bewegung, Göttingen 2001, S. 95–99; Hubert Seipel, Offene Feindschaften. Über die Jugendrebellion in Hannover, Bremen, Göttingen, in: Haller (Hrsg.), Aussteigen, S. 71–84; Spiegel 20 (Mai 1980), S. 25–27. Eine literarische Verarbeitung findet der Bremer Protest in Sven Regeners Roman »Neue Vahr Süd« (Frankfurt a. M. 2004). 11 Vgl.: Reichardt, Authentizität, S. 498–571, hier S. 502. Zum autonomen »Häuserkampf« in der Bundesrepublik siehe außerdem: A. G. Grauwacke, Autonome, S. 34–85; Freia Anders, Wohnraum, Freiraum, Widerstand. Die Formierung der Autonomen in den Konflikten um Hausbesetzungen Anfang der achtziger Jahre, in: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S.  473–498; Schwarzmeier, Die Autonomen, S. 40–69; Geronimo, Feuer und Flamme. Zur Geschichte

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der Berliner Innensenator Peter Ulrich, die Situation sei »mit Apo-Zeiten nicht mehr vergleichbar«12. Fliegende Pflastersteine, vermummte Gesichter und Punk-Outfits13 wurden zum Markenzeichen der rebellierenden Jugendlichen  – später verdichtet zum Schreckensbild des »Schwarzen Blocks«14. Die Geburtsstunde der Autonomen hatte geschlagen. Die neue Protestgeneration  – ihre Protagonist*innen waren im Durchschnitt etwa zehn Jahre jünger als die 68er-Veteran*innen15 – hatte die theoretische Belesenheit, das Weltverbesserertum und den schwärmerischen­ flower-power-Gestus ihrer Vorgänger*innen weit hinter sich gelassen. Von roten Fahnen, Mao Bibeln und der zuversichtlich in die Zukunft blickenden Weltrevolutionseuphorie der »alternativen« 68er, der Spontis und der K-Gruppen war in der »Jugendrevolte« nichts mehr zu spüren. »No Future« lautete der Schlachtruf ihres Aufstandes gegen die ihre Gegenwart beherrschenden Verhältnisse. In diesem Beitrag werde ich mein Hauptaugenmerk auf die »chronopolitische«16 Dimension des Jugendprotests der frühen 1980er Jahre legen. Die bisund Gegenwart der Autonomen, Berlin, Amsterdam 1990, S. 94–98; Hans Halter, »Niemand hat das Recht«. Über die Bewegung der Hausbesetzer in Berlin, in: Haller (Hrsg.), Aussteigen, S. 99–113; Lindner, Jugendprotest, S. 324–395. 12 Spiegel 52 (Dezember 1980), S. 24. 13 In Abgrenzung zum Stil der Hippies waren lange Haare in der Szene verpönt, statt Schlaghosen wurden enge Jeans getragen, dazu schwarze Lederjacken. Der subkulturelle Stil und Habitus der autonomen Szene lässt sich als »Crossover« aus Punk- und RockerKultur beschreiben (Schwarzmeier, Die Autonomen, S.  30–37). Das »typische PunkOutfit« mit Nietenschmuck und bunt gefärbtem Irokesenschnitt kam in der BRD erst ab Mitte der 1980er Jahre durch die Band The Exploited in Mode, vgl.: Philipp Meinert/ Martin Seeliger, Punk in Deutschland. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Eine Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Punk in Deutschland. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 9–55, hier S. 26. 14 Glaubt man den Chronisten der Szene, so handelte es sich beim »Schwarzen Block« um eine Erfindung der Staatsanwaltschaft, die 1981 in Frankfurt ein § 129a-Verfahren gegen eine Gruppe mit diesem Namen einleitete. Vgl.: A. G. Grauwacke, Autonome, S. 18; Wolf Wetzel, Der »Schwarze Block«. Wie aus einem Running Gag eine terroristische Vereinigung wurde, in: Häuserkampf I – Wir wollen alles. Der Beginn einer Bewegung, Hamburg 2012, S. 107–116. Aufgrund der auf Demonstrationen üblichen schwarzen Kleidung und Vermummung etablierte sich die pauschale Bezeichnung »Schwarzer Block« im Verlauf der 1980er Jahre in der Presseberichterstattung über die Autonomen. Vgl. zum Beispiel Spiegel 46 (1987). 15 45 Prozent der Jugendlichen aus der Züricher Bewegung waren unter 20, 32 Prozent zwischen 20 und 25 Jahren alt. Mehrheitlich gehörten sie also den Jahrgängen um das Ende der 1950er und dem Beginn der 1960er Jahre an (Lindner, Jugendprotest, S. 328). Eine vergleichbare Altersstruktur darf auch für die Bewegung in der Bundesrepublik angenommen werden. Zur Sozialstruktur der »Jugendrevolte« vgl. außerdem: Michael Haller, Aussteigen oder Rebellieren. Über die Doppeldeutigkeit der Jugendrevolte, in: Ders. (Hrsg.), Aussteigen, S. 8; Reichardt, Authentizität, S. 538. 16 Zu Chronopolitik bzw. den politics of time siehe: Das Einführungskapitel zum Begriff der Moderne in: Fernando Esposito, Mythische Moderne. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien, München 2011, S.  40–54; Alexander

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herigen Ansätze der historischen Zeitforschung sind in ihrer Mehrheit theoretisch-philosophischer Natur. Dieser Beitrag versteht sich dagegen als historische Fallstudie, die an einem konkreten Beispiel illustriert, wie bestimmte Zeitvorstellungen und deren Wandel kollektive Erfahrung und kollektives Handeln prägen können. Dabei liegt meiner Untersuchung die Annahme zugrunde, dass der »No Future«-Zeitgeist, der das gesellschaftliche Klima der frühen 1980er Jahre wesentlich prägte, sowohl zu den Entstehungsbedingungen als auch zu den wichtigsten Radikalisierungsfaktoren der »Jugendrevolte« und der sich damals formierenden Autonomen gezählt werden muss. Der Aufstand gegen die Zukunftslosigkeit ist dabei sowohl als Symptom, als auch als Katalysator der pessimistischen Grundstimmung »nach dem Boom«17 zu verstehen, die sich, so meine These, als (chronopolitische) Hegemoniekrise deuten lässt.

Chronopolitik und Radikalisierung Jeder Form von Politik liegt ein bestimmter Bezug auf die Dimension des Zukünftigen zugrunde. Zukunftserwartungen haben großen Einfluss auf politische Prozesse und Dynamiken18. Sie manifestieren sich im Heute als »vergegenwärtigte Zukunft«19. Diese kann positiv besetzt, also als besserer, vielleicht sogar utopisch-idealisierter Zustand gedacht, oder negativ als Dystopie oder gar finale Katastrophe imaginiert werden. Ob moderat oder radikal, reformistisch oder revolutionär, politische Ziele und Forderungen sind immer von einer bestimmten Gegenwart ausgehende Projektionen in eine zu gestaltende Zukunft. Jede politische Bewegung geht davon aus, dass in der gegebenen Wirklichkeit alC. T. Geppert/Till Kössler (Hrsg.), Obsession der Gegenwart. Zeit im 20.  Jahrhundert, Göttingen 2015; Charles S.  Maier, The Politics of Time. Changing Paradigms of Collective Time and Private Time in the Modern Era, in: Ders., Changing Boundaries of the Political. Essays on the Evolving Balance Between the State and Society, Public and Private in Europe, New York 1987, S. 151–175; Peter Osborne, The Politics of Time. Modernity and Avant-Garde, London 1995; Elke Seefried, Reconfiguring the Future? Politics and Time from the 1960s to the 1980s. Introduction, in: JMEH 13 (2015), S. 306–316. 17 Zu diesem Forschungskomplex siehe: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016; Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 32012. 18 Zu vergangenen Zukunftsbildern, ihrer politischen Wirkmacht und ihrer historischen Erforschung siehe: Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999: »Zukunftsvorstellungen strukturieren den Erwartungshorizont einer Gesellschaft. Sie engen die unendliche Offenheit des prinzipiell Möglichen auf wenige (manchmal nur zwei) politische Möglichkeiten ein.« (S.  236); außerdem: Ders., Wie sollen wir die Zukunft denken? Über den Fortgang und das Ende der Geschichte, in: Ulrich H. J. Körtner (Hrsg.), Die Gegenwart der Zukunft. Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 15–28. 19 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 354 f.

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ternative Möglichkeiten enthalten sind, die es entweder zu realisieren oder zu vereiteln gilt. Zukünftige Weltzustände müssen vorstellbar werden, bevor sie als wünschens- oder bekämpfenswert gedeutet und so zu handlungsleitenden Motiven werden können. Den Zugriff auf die Dimension des Zukünftigen erlauben Prognosen20, aus denen wiederum Handlungsprinzipien für die Gegenwart abgeleitet werden. Ohne die grundlegende Vorstellung einer Zukunft im Sinne eines »offenen Erwartungszeitraums«21 kann sich kein politisches Interesse im modernen Sinne artikulieren. Die Triebkraft politischer Bewegungen entspringt letztlich, um es in den Begriffen von Koselleck zu fassen, dem Spannungsverhältnis zwischen »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«22. Zentral ist hier die Einsicht, dass Zukunftserwartungen als »kollektives Imaginäres«23 geschichtliche Wirkungsmacht entfalten, indem sie sich handlungsleitend auf die Lebenspraxis sozialer Gruppen auswirken. Die Autoren der ShellJugendstudie von 1981 waren sich in diesem Sinne einig: Die Erwartungen darüber, wie es mit unserer Gesellschaft in der Zukunft weiter­ gehen wird, sind mehr als nur unverbindliche Erwartungen, sie greifen tief in die heutige Lebenspraxis der Jugendlichen ein, sie steuern ihre Haltungen und Orientierungen in der Gegenwart.24

Politisches Handeln bewegt sich jedoch nicht nur selbst immer innerhalb einer zeitlichen Logik, sondern kann sich auch explizit auf Zeit, Zeitlichkeit und temporale Ordnungen beziehen25. Dabei lassen sich zwei Dimensionen von Chro­ nopolitik unterscheiden: Politiken, die sich auf bereits hegemonial etablierte Zeitvorstellungen26 beziehen und diese übernehmen, um ihr Handeln zu be20 Zu Prognosen als einer Form von »Zukunftswissen«, das auf »Zukunftshandeln« zielt, siehe: Lucian Hölscher, Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 15–21. 21 Hölscher, Weltgericht, S. 23. 22 Zu diesen historischen Schlüsselkategorien siehe: Koselleck, Vergangene Zukunft, S. ­349–375. 23 Dennis Eversberg, Destabilisierte Zukunft. Veränderungen im sozialen Feld des Arbeitsmarkts seit 1970 und ihre Auswirkungen auf die Erwartungshorizonte der jungen Generation, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte, S. 451–474. 24 Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.), Jugend ’81. Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zukunftsbilder – Studie im Auftrag des Jugendwerks der Deutschen Shell, Leverkusen 1982, S. 15. 25 Ganz trennscharf lassen sich die beiden Dimensionen jedoch nie unterscheiden: »To act in the political domain is to propose a view of how society should progress through history. Political action must posit some underlying notions of time. […] [Those who govern] also advance a concept of how time itself is constructed as a medium for history.« (Maier, Politics of Time, S. 152). 26 Mit dem Begriff der »Hegemonie« beziehe ich mich auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci, der davon ausgeht, dass jedes hegemoniale Herrschaftsprojekt spezifische Vorstellungen von Zeit etabliert. Diese zielen darauf ab, »Kontinuität« zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft herzustellen, so dass »jede Handlung das Moment eines komplexen Prozesses« erscheint, »der bereits begonnen hat und sich fortset-

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gründen oder zu legitimieren, lassen sich als Chronopolitik zweiter Ordnung klassifizieren. Dies ist etwa dann gegeben, wenn sich Politik in den Dienst des »Fortschritts« oder der »Nachhaltigkeit« stellt. Sowohl das Erstellen und Popularisieren von Zukunftsprognosen27 (zwischen den Polen von Utopie und Apokalypse28), die zum Handeln bewegen sollen, als auch die entsprechenden Strategien wie »Prävention« und »Präemption«29, die darauf abzielen, bestimmte Zukünfte zu verhindern oder zu verwirklichen, gehören zu dieser Art von Zeitpolitik. Als Chronopolitiken erster Ordnung lassen sich dagegen Handlungsweisen und Diskurse beschreiben, die selbst auf »Formung und Gestaltung von Zeit«, die Etablierung neuer »Zeitregime«30 (also das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) oder neuer »Chronotopoi«31 (etwa »Verlang­ samung« anstatt »Beschleunigung«32) abzielen. Einen gemeinsamen Nenner der bisherigen Forschungsansätze zu den­ politics of time bildet die Auffassung, dass sich verschiedene Zeitregime historisch ablösen, dass es dabei zu »Krisen der gesellschaftlichen Zeitordnung«33 kommen kann und in diesen Phasen verschiedene Zeitvorstellungen mit­ einander in Konkurrenz treten34. Die »Jugendrevolte 1980/81« kann, so meine

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zen wird.« Antonio Gramsci, Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben vom Deutschen Gramsci-Projekt unter der wissenschaftlichen Leitung von Klaus Bochmann, Hamburg 1991, Bd. 7, Heft 15, § 4, S. 1715. Jede Prognose ist »indem sie an die Öffentlichkeit tritt, selbst schon eine soziale Handlung« (Hölscher, Weltgericht, S. 16). Vgl.: Hölscher, Entdeckung der Zukunft, S. 13. Beide Strategien versuchen auf Basis von Zukunftsprognosen auf die Gegenwart einzuwirken und so das Eintreten ihrer Erwartungen zu verhindern. Mario Kaiser, Chronopolitik. Prävention & Präemption, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 2 (Juli 2014), S. 48–55. Geppert/Kössler, Zeit-Geschichte als Aufgabe, in: Dies. (Hrsg.), Obsession, S.7–36, hier S. 11 und 9. Dieser Begriff geht zurück auf: Michail M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, in: Edwald Kowalski/Michael Wegner (Hrsg.), Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans, Berlin, Weimar 1986; außerdem: Ders., Chronotopos, Frankfurt a. M. 2008. Zur »Erfahrung von Modernisierung« als »Erfahrung von Beschleunigung«, siehe: Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen der Moderne, Frankfurt a. M. 2005. Geppert/Kössler, Zeit-Geschichte, S. 9. Lucian Hölscher diagnostiziert »rhythmische Konjunkturen« der öffentlichen Beschäftigung mit Zukunft und periodisiert die Neuzeit anhand ihrer sich wandelnden Zukunftsbilder (Entdeckung der Zukunft, S. 11). Charles S. Maier beschreibt in seiner »stage theory of temporal consciousness« drei politische »concepts of time« (die liberale, faschistische und postliberale Zeitordnung), die sich im Verlauf der Moderne gegenseitig ablösten (Politics of Time, hier S.154, 166). Fernando Esposito spricht im Anschluss daran von »paradig­matischen Chronotopoi« (Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte, S. 393–423, hier S. 395 f.). Vgl. hierzu außerdem das Interview mit Hans Ulrich Gumbrecht in diesem Band.

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These, als Symptom einer solchen Umbruchphase der temporalen Ordnung nach dem Boom gedeutet werden35. Im Folgenden soll also nicht nur der unmittelbare »Erfahrungsraum« der Akteur*innen der »Jugendrevolte« rekonstruiert, sondern auch die spezifische Art und Weise, wie die hier untersuchte Gruppe das viel zitierte »No-FutureFeeling« rezipierte und sich als identitätsstiftendes Handlungsmotiv aneignete. Es kann dabei nicht um eine Beurteilung dessen gehen, inwieweit zeittypische Zukunftserwartungen rational oder irrational begründet, illusionär oder realistisch waren  – ihre Wirkungsmacht entfalteten sie weitgehend unabhängig davon – es wird vielmehr nachgezeichnet, in welcher Weise sie als handlungsleitende Interpretationsmuster katalytisch auf die Prozesse kollektiver Radikalisierung gewirkt haben. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern das Handeln der revoltierenden Jugendlichen auch im Sinne einer Chronopolitik erster Ordnung gedeutet werden kann und, ob ihr Handeln auch dazu beitrug, den Eindruck einer Krise des Fortschrittsdenkens der Boom-Ära durch das Propagieren ihres Gegentopos der »Zukunftslosigkeit« in der öffentlichen Wahrnehmung der Zeitgenoss*innen noch zu vertiefen.

Jugend nach dem Boom Der westdeutsche Nachkriegstraum vom ewigen Wirtschaftswunder, immerwährendem technischen Fortschritt und grenzenlosem ökonomischen Wachstum hatte spätestens mit dem ersten »Ölpreisschock« von 1973/74 deutlich an Glanz und Überzeugungskraft verloren36. »An Stelle der optimistischen Hoffnungen« der verheißungsvollen Boomjahre traten nun ein neues Krisen-

35 Aleida Assmann diagnostiziert für die 1980er Jahre eine tiefe Krise des »time regime of modernity«, das von einem »late modern time regime« abgelöst worden sei (Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013). François Hartog spricht davon, dass in den 1980er Jahren das auf die Zukunft orientierte moderne »Historizitätsregime« zu schwinden begann und von einer neuen »präsentistischen« Ordnung von Zeit abgelöst wurde (Regimes of Historicity. Presentism and Experiences of Time, New York 2015). Hölscher geht davon aus, dass die zunehmende Fortschrittsskepsis der 1970er Jahre schließlich Anfang der 1980er Jahre mit dem NATO Doppelbeschluss kippte und »apokalyptische[n] Endzeitvisionen von einer nahen atomaren Selbstaus­löschung der Menschheit« Platz machte (Entdeckung der Zukunft, S. 221). 36 Auch schon vor dem »Ölpreisschock« hatte es Fortschrittsskeptiker gegeben und auch in den 1970ern gab es weiterhin Bereiche, in denen auf Fortschritt gesetzt wurde, wenn auch in einem abgewandelten Sinne, wie etwa in der Formel der »nachhaltigen Entwicklung« ausgedrückt. Dennoch stellen die frühen 1970er Jahre einen entscheidenden Wendepunkt dar. Ein differenziertes Bild zeichnet: Elke Seefried, Bruch im Fortschrittsverständis? Zukunftsforschung zwischen Steuerungseuphorie und Wachstumskritik, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte, S. 425–449.

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bewusstsein, »Niedergangsmotive und apokalyptische Angstszenarien«37. Wie schon oftmals festgehalten, wurde die spätkapitalistische Konsumgesellschaft mit dem allmählichen Schwinden des »Machbarkeitsglaubens« der Boom-Ära und der zunehmenden Fortschrittsskepsis angesichts der durch den Club of Rome verkündeten »Grenzen des Wachstums«38 von den Zeitgenossen immer mehr als eine von ihren eigenen Destruktivkräften existentiell bedrohte »Risikogesellschaft«39 wahrgenommen. Die sich nun in weiten Teilen der Gesellschaft ausbreitende Zukunftsangst fand ihren Ausdruck unter anderem in den Neuen Sozialen Bewegungen (NSB)40, die die politische Topographie der Bundesrepublik in den Folgejahren nachhaltig verändern sollten. Zu Beginn der 1980er Jahre ballten sich am ökonomischen Horizont nun neue Gewitterwolken zusammen. Der zweite »Ölpreisschock« von 1979/80 markierte den Beginn einer Rezessionsphase, die im Verlauf der 1980er Jahre weite Teile der westlichen Industriestaaten erfasste und sich in niedrigen Wachstumsraten und schlagartig ansteigender Jugendarbeitslosigkeit niederschlug41. Von der sich zuspitzenden »Krise der Arbeitsgesellschaft«42 waren ab Ende der 1970er Jahre immer mehr Menschen direkt betroffen und sie begann zu37 Fernando Esposito, No Future  – Symptome eines Zeit-Geistes im Wandel, in: Morten Reitmayer/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S 95–108. 38 Siehe: Dennis Meadows u. a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972. 39 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986; zur Rezeption vgl.: Julia Angster, Die Bundesrepublik Deutschland 1963–1982, Darmstadt 2012, S. 83–87 40 Auf ihrem Höhepunkt umfassten die NSB mit rund 1,8 Millionen Aktivisten ein Personenpotential, das der damaligen Gesamtmitgliederzahl aller Parteien der Bundesrepublik entsprach. Das alternative Milieu, das viele Überschneidungen mit dem aktiven poli­tischen Protest aufwies, umfasste einen noch deutlich größeren Personenkreis (vgl.: Reichardt, Authentizität, S. 35 und 13). Zum Phänomen der NSB und ihren einzelnen Strömungen geben einen guten Überblick: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2008. Zur politischen Langzeitwirkung der NSB in der Bundesrepublik siehe: Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik  – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 365–385. 41 Die Quote der Jugendarbeitslosigkeit stieg in der BRD zwischen 1980 und 1983 von unter fünf Prozent auf vorübergehend über elf Prozent an. Siehe hierzu: Thomas Raithel, Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich in den 1970er und 1980er Jahren, in: Ders./Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeits­ losigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973–1989, München 2009, S. 67–80, hier S. 68. 42 Für eine kritische Einordnung der »Krise der Arbeitsgesellschaft« bzw. der »fordistischen Regulation« und der ab Mitte der 1970er Jahre einsetzenden langfristigen Transformation der Arbeitswelt, siehe: Dieter Sauer, Permanente Reorganisation. Unsicherheit und Überforderung in der Arbeitswelt, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte, S. 37–55, hier S. 38–41.

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nehmend in das öffentliche Bewusstsein zu dringen. Auch der in der Bundesrepublik zunächst fortgesetzte sozialliberal-keynesianische Politikkurs des »Modell Deutschland«43 vermochte die Krisensymptome nicht dauerhaft abzufedern44. Für viele Jugendliche aus Arbeiterfamilien schien Anfang der 1980er Jahre angesichts der sich »destabilisierenden Zukunft« die Perspektive unmöglich geworden, den beruflichen und privaten Lebensentwurf der Eltern weiter fortzusetzen45. Der Begriff der »Zwei-Drittel-Gesellschaft«46 drückte formelhaft das in der BRD in den frühen 1980er Jahren wieder aufkommende Bewusstsein sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit aus, das die allgemeinen Wohlstands- und Aufstiegserwartungen und den Zukunftsoptimismus des Nachkriegsbooms nun ablöste. War die Erwachsenengeneration noch unter den Bedingungen wachsenden Wohlstands und weitgehend ungebrochener Vollbeschäftigung aufgewachsen, so waren deren nun jugendliche Kinder wieder mit Massenarbeitslosigkeit (1982: 7,5 Prozent) und Ausbildungsplatzmangel konfrontiert. 1980 waren etwa ein Drittel aller Sozialhilfeempfänger*innen Jugendliche47. Selbst das ansonsten entschieden unpolitische Jugendmagazin BRAVO sah sich dazu genötigt, sich dem Problem der Jugendarbeitslosigkeit zuzuwenden: »Findet 1980 jeder einen Job?«, richtete die Redaktion im Namen ihrer Leserschaft die bange Frage an Josef Stingl, den damaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit48. Zusätzlich zur steigenden Arbeitslosenquote verstärkte die »neue Wohnungsnot« das Gefühl der Existenzbedrohung und erschwerte Jugendlichen den Auszug von Zuhause und damit ein eigenständiges Leben. Eine Reihe von Spiegel-Titel­seiten gibt die allgemeine Niedergangsstimmung und Zukunftsangst der frühen 1980er Jahre exemplarisch wieder (siehe Abb. 1). Im Leitartikel der Ausgabe mit dem Titel »Die Fetten Jahre sind vorbei!« hieß es unheilschwanger:

43 Zum »Modell Deutschland« siehe: Wolfgang Fach, Zum Modell Deutschland und seiner Krise (1974–1989), in: Roth/Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen, S. 93–108. 44 Zum Sozialstaat nach dem Boom, siehe: Lutz Leisering, Nach der Expansion. Die Evolution des bundesrepublikanischen Sozialstaats seit den 1970er Jahren, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte, S. 217–244. 45 Zur langfristigen Entwicklung der Zukunftserwartungen von westdeutschen Jugendlichen mit Blick auf den Arbeitsmarkt siehe: Eversberg, Destabilisierte Zukunft. 46 Etwa ein Drittel der Gesellschaft konnte zu den »Krisenopfern« gezählt werden und war von Arbeitslosigkeit oder prekären Arbeitsverhältnissen betroffen. Vgl.: Fach, Modell Deutschland, S. 102 f. 47 Zu den Krisenphänomenen Anfang der 1980er Jahre siehe: Raithel/Schlemmer (Hrsg.), Rückkehr der Arbeitslosigkeit; Axel Schildt, Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007, S. 54–60; Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 331–402. Zur Wohnungsnot, siehe Reichardt, Authentizität, S. 498 f. 48 Kai Kolwitz, Die Bravo in den 80ern, in: Archiv der Jugendkulturen e. V. (Hrsg.), 50 Jahre Bravo, Berlin 2006, S. 175–186.

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Abb. 1: Zukunftsangst und Krisenstimmung, Spiegel-Titelblätter Nr. 37 (1980), Nr. 3 (1981) und Nr. 35 (1981). © SPIEGEL -Verlag, Hamburg

Selten war der Fortschrittsglaube der kapitalistischen Menschheit so in Frage gestellt wie zu Beginn der achtziger: Das Mineralöl ist teuer und knapp geworden, auf vielen Märkten zeigen sich Sättigungserscheinungen. Die Wohlstandswoge, von der die Gesellschaften des Westens nach dem Krieg getragen wurden, läuft allmählich aus.49

Damit war nun eine junge »geprellte Generation«50 auf der politischen Bühne erschienen, für die auch die Angst vor den unmittelbaren Krisenfolgen und die daraus resultierenden Verteilungskämpfe um den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen potentiell wieder an Bedeutung gewannen. Die wirtschaftliche Krisensituation, zusammen mit den durch die Umweltund Friedensbewegung sowie der Grünen Partei ins öffentliche Bewusstsein gerückten Risiken der Umweltzerstörung und des Wettrüstens (Nato-Doppelbeschluss)51, wirkte sich vor allem auf die Zukunftserwartungen und Ängste Jugendlicher aus. Wie sehr dieser Zeitgeist die Weltsicht der Jugend auch über die Grenzen der Subkultur hinaus prägte, wurde 1981 durch die Shell-Jugendstudie auf für die Zeitgenossen alarmierende Weise dokumentiert52: 49 Spiegel 37 (September 1980), S. 32. 50 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 55. Der Begriff der »geprellten Generation« wird dort zitiert nach: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, S. 241–248. 51 Siehe hierzu auch den Beitrag von Silke Mende in diesem Band. 52 Auch wenn es an der hier diagnostizierten Trendwende kaum grundlegende Zweifel geben wird, muss den Ergebnissen solcher sozialwissenschaftlichen Studien grundsätzlich mit quellenkritischer Skepsis begegnet werden. Diese sind häufig einseitig auf die Bestätigung angenommener Trends ausgerichtet oder unterliegen einem »Bias für politik­ relevante Orientierungen«. Siehe: Jenny Pleinen/Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: VfZ 2 (2004) S.173–195, hier S. 181.

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Die Mehrheit der Jugendlichen sieht die Zukunft der Gesellschaft pessimistisch: 58 % schätzen die gesellschaftliche Zukunft als »eher düster«, 42 % als »eher zuversichtlich« ein. 95 % der Jugendlichen rechnen nicht damit, daß die Kriege abgeschafft werden. 95 % rechnen nicht damit, daß es eine sorgenfreie Gesellschaft geben wird. 80 % rechnen mit Rohstoffknappheit, Wirtschaftskrisen und Hungersnöten. 78 % rechnen nicht damit, daß es mehr Gleichheit unter den Menschen geben wird. 76 % rechnen damit, daß Technik und Chemie die Umwelt zerstören werden. Die Mehrheit der Jugendlichen hat kein Vertrauen in die großen zeitgeschichtlichen Zukunftsvorschläge, gleichgültig, ob sie aus Traditionen der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung, aus liberal-kapitalistischen Konzeptionen oder aus bürgerlichen Gesellschaftsentwürfen stammen.53

Die Umfragen des Allensbacher Instituts kamen zu nicht weniger beunruhigenden Ergebnissen: Waren 1969 noch 58 Prozent der Befragten der Meinung, sie würden in einer »glücklichen Zeit« leben, so teilten 1978 nur noch 44 Prozent und 1982 gar nur noch 32 Prozent diese Einschätzung. Fast 50 Prozent der befragten Jugendlichen rechneten 1981 mit der absehbaren Vernichtung aller menschlicher Existenz durch einen Atomkrieg. Als kaum weniger bedrohlich wurde die Gefahr der Umweltzerstörung durch Chemie und Technik eingeschätzt54. Zwar handelte es sich dabei nur um einen vorübergehenden Trend, die öffentliche Resonanz der Befunde wurde dadurch jedoch nicht geschmälert.

Die »Jugendrevolte« und die Entstehung der autonomen Szene55 Der beschriebene Zukunfts- und Zivilisationspessimismus, gepaart mit einer desillusionierten und misstrauischen Haltung gegenüber den großen gesellschaftspolitischen Projekten (Sozialismus, Kapitalismus, soziale Marktwirt-

53 Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.), Jugend ’81, S. 15. 54 Vgl.: Elisabeth Noelle-Neumann/Edgar Piel (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978–1983, München 1983, S. 25. 55 Die hier getroffenen Aussagen über die Autonomen können nur für ihre Entstehungsphase während der »Jugendrevolte 1980/81« Geltung beanspruchen, nicht für den gesamten Zeitraum ihrer Existenz. Das Phänomen ist bisher keineswegs erschöpfend erforscht. Auf folgende Publikationen lässt sich verweisen: Hanno Balz/Jan-Henrik Friedrichs (Hrsg.), »All we ever wanted …«. Eine Kulturgeschichte europäischer Protestbewegungen der 1980er Jahre, Berlin 2012; Sebastian Haunss, Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004; Ders., Antiimperialismus und Autonomie  – Linksradikalismus seit der Studentenbewegung, in: Roth/Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen, S.  447–473; Schwarzmeier, Die Autonomen; zur Geschichte der Autonomen nach 1989/90, siehe: Ulrich Peters, Unbeugsam & widerständig. Die radikale Linke in Deutschland seit 1989/90, Münster 2014, S. 47–63. Neben diesen Arbeiten wird das Feld dominiert von Selbsterzählungen involvierter Zeitzeugen: A. G. Grauwacke, Autonome; Geronimo, Feuer und Flamme; Gero-

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schaft), ging einher mit einer ausgeprägten Distanz und Entfremdung gegen­ über den etablierten politischen Parteien sowie den Gewerkschaften56. Das neue Protest- und Radikalisierungspotential musste sich also über andere Kanäle artikulieren. Die Shell-Studie bescheinigte den Jugendlichen Anfang der 1980er eine deutliche Nähe zur außerparlamentarischen Protestkultur: »50 bis 80 % stehen positiv zu Umweltschützern, Gruppen mit alternativer Lebensweise, Kernkraftgegnern und Hausbesetzern«57. Trotz zahlreicher Anknüpfungspunkte an bereits etablierte Protestzusammenhänge markierte die »Jugendrevolte« einen deutlichen Bruch. Die 1980/81 rebellierenden Kinder der »No-Future«-Generation, die sich schnell zu einer neuen radikalen Strömung mauserten, grenzten sich in ihrer Gruppenidentität mit zunehmender Schärfe vom bereits bestehenden links-alternativen Milieu ab. Das Bundesamt für Verfassungsschutz registrierte in seinem Jahresbericht von 1980 eine neue »Welle vielfältiger, zum Teil gewalttätiger Protestaktionen«. Jugendliche »autonome Gruppen«, so die Beamten, kämpften um »›Freiräume‹ in Staat und Gesellschaft«58. Im Folgejahr konstatierte die Behörde bereits eine »deutliche Zunahme von Gewalttätigkeiten« und erkannte in den Autonomen den »harten Kern« der Krawalle59. Diese neue »Trägergruppe des Protests«60 hatte 1980/81 noch nicht die Form einer etablierten »Szene«61 mit festen Ritualen, gemeinsamem subkulturellen Stil und Habitus, wie sie sich in den Folgejahren herausbildete, schließlich war der Großteil ihrer jugendlichen Protagonist*innen gerade erst im Begriff sich zu politisieren. Vieles war noch in Bewegung, Protest- und Ausdrucksformen entstanden spontan. Eine gewisse Vereinheitlichung, auch auf begrifflicher Ebene, stellte sich erst ein, nachdem der Höhepunkt der »Jugendrevolte« bereits überschritten war und sich in der Szene der Begriff der Autonomie als zentraler Bezugspunkt herauskristallisierte. Besonders die auf dem TUWAT-Kongress im Sommer 1981 in Berlin präsentierten »Autonomie-Thesen«62, die bald den Status eines inoffiziellen Manifests der Szene annahmen, spielten dabei eine prägende Rolle. Autonomie war ein Begriff, der sozusagen über Nacht unsere Revolte auf einen Nenner brachte. Mitgebracht aus Italien und in den Autonomiethesen der Szene nahegebracht, repräsentierte er bald alles, was uns gut und heilig war, oder noch ist. Vorher nimo u. a., Feuer und Flamme 2. Kritiken, Reflexionen und Anmerkungen zur Lage der Autonomen, Berlin/Amsterdam 1992; Almut Gross/Thomas Schultze, Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil der Autonomen, Hamburg 1997. 56 Vgl.: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.), Jugend ’81, S. 16. 57 Ebd., S. 15 f. 58 Bundesminister des Innern (Hrsg.), Betrifft: Verfassungsschutz ’80, Bonn 1981, S. 92, 100. 59 Ebd., Betrifft: Verfassungsschutz ’81, Bonn 1982, S. 5 f. 60 Anders, Wohnraum, S. 474. 61 Zum Begriff der »Szene« und Jugendsubkultur siehe: Schwarzmeier, Die Autonomen, S. 24 f. 62 O. A., Anarchie als Minimalforderung, in: radikal TUWAT-Extra 97 (August 1981), S. 10.

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verstanden wir uns als Anarchisten, Spontis, Kommunisten oder hatten diffuse, individuelle Vorstellungen vom befreiten Leben. Dann wurden wir alle zu Autonomen.63

Ihre ersten Auftritte in der Öffentlichkeit hatten die Autonomen in Deutschland auf den Schauplätzen der großen Auseinandersetzungen der NSB  – insbesondere in Brokdorf und an der Startbahn-West64. Darüber hinaus fungierten vor allem die Hausbesetzerbewegungen in Berlin und anderen Großstädten als Kristallisationspunkte der Bewegung. In dem dort entstehenden Milieu sammelte sich das »Entmischungsprodukt«65 der am meisten radikalisierten Jugendlichen aus den unterschiedlichen Konfliktfeldern der »Jugendrevolte«. Gruppiert um soziale Gravitationszentren wie besetzte Häuser und selbstverwaltete Jugendzentren, entstand in den frühen 1980er eine subkulturelles Vor- und Umfeld um den radikalen Kern der Szene, das durch seine rebellisch-alternativen Konsum- und Freizeitangebote – nicht zuletzt auch durch die weitgehende Abwesenheit erwachsener Autoritäten und staatlicher Kontrollinstanzen  – eine erheblich Anziehungskraft auf viele Jugendliche ausübte. Dieses stark fluktuierende Szene-Milieu, in dem die Übergänge zwischen Freizeit und politischem Aktivismus, Punk und Agitprop stets fließend und die Beteiligung an gemeinsamen Aktionen in der Regel spontan und unverbindlich blieb, wurde für viele Jugendliche zum ersten Kontaktfeld mit radikalen Protestformen und politischer Militanz. Die Szene bildete eine »fluide soziale Bewegung, die sich der subjektivistischen Politik und individuellen Selbstveränderungen verschrieb«66. Zahlreiche Jugendliche der »Post-Boom«-Generation durchliefen diesen subkulturellen Durchlauferhitzer und erfuhren so ihre politische Sozialisierung und Radikalisierung. Die Entstehung der Autonomen markierte den allmählichen Übergang von der spontanen »Jugendrevolte« zu einer stark politisierten und radikalisierten Jugendszene, die nun zur militanten Offensive gegen Staat und Gesellschaft aufrief. Hinter den Skimasken der jugendlichen Straßenkämpfer*innen, so die Befürchtung vieler Zeitgenoss*innen, könnte sich das Gesicht einer ganzen »verlorenen« Generation verbergen, die dem »System« den Krieg erklärt hatte. Die Autonomen waren in diesem Szenario nur die Spitze eines Eisbergs, dessen tatsächlicher Umfang noch nicht zu ermessen war.

63 O. A., Vom Autonomen zum Automaten, in: radikal 123 (Dezember 1983), S. 12. 64 Zu Brokdorf und Startbahn-West siehe: A. G. Grauwacke, Autonome, S.  19–33, 93–98; Lindner, Jugendprotest, S. 316–323; Schwarzmeier, Die Autonomen, S. 77–92; Geronimo, Feuer und Flamme, S. 92 f. 65 Manrique, Marginalisierung, S. 166. 66 Reichardt, Authentizität, S. 138.

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Symptome einer Hegemoniekrise?67 Helmut Kohl (CDU) beschrieb die im Kontext der »Jugendrevolte« als potentiell staatsgefährdend wahrgenommene Situation im März 1981 vor dem Bundestag mit eindringlichen Worten: Wie kommt es, daß viele – beileibe nicht alle, aber viele – junge Mitbürger in ihrer Ungeduld so brutal und in ihrer Verachtung des Rechts so leicht bereit sind, Gewalttäter als Hilfstruppen zu akzeptieren? […] Wir müssen nach den Ursachen forschen, weshalb in diesem – gemessen an anderen Ländern – so wohlhabenden Lande Bundesrepublik Deutschland Mißstände und Mangelerscheinungen für viele unserer Mitbürger Grund genug sind, ihre Anliegen so zu verfechten, daß es eine Subkultur von Gewalttätern geradezu einlädt, sich als Trittbrettfahrer der Gewalt zu beteiligen. […] Es sind eben viele Millionen junger Leute in der Bundesrepublik, die keine Zukunft sehen, die sich in Sachzwängen eingeengt wiederfinden, die glauben, daß ihre Zukunft ausgeplündert ist.68

Der mit der »Jugendrevolte« auf der öffentlichen Bildfläche erschienene martialisch auftretende autonome »Streetfighter«69 wurde also nicht nur zum Sinnbild für jugendlich-radikale Opposition gegen das »System« und zum medialen Platzhalter für die »vielen Millionen junger Leute […] die keine Zukunft sehen«, sondern auch zur Projektionsfläche für die virulenten Zukunftsängste und Endzeitstimmungen, gegen die die älteren Generationen keineswegs immun waren. Das Phänomen der »Jugendrevolte« ließ sich schon aus Sicht der Zeitgenossen nicht mehr als Randgruppenerscheinung abtun, die nur eine radikale Min67 Zum Begriff der »Hegemoniekrise« siehe: Florian Becker u. a. (Hrsg.), Gramsci lesen. Einstieg in die Gefängnishefte, Hamburg 2013, S. 19–35. Von einer Krise der Hegemonie spricht Gramsci dann, wenn »die herrschende Klasse den Konsens verloren hat« und »die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann« (Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 2, Heft 3, § 34, S. 354 f.). Herrschende Vorstellungen von zeitlicher Ordnung können im Sinne Gramscis als hegemoniebildende Integrationsideologien gedeutet werden. Verlieren diese ihre Glaubwürdigkeit und büßen damit ihre Integrationskraft ein – so wie es sich für den Fortschrittstopos der Nachkriegszeit in der Phase nach dem Boom beobachten lässt – so kann von einer »chronopolitischen Hegemoniekrise« gesprochen werden. 68 Deutscher Bundestag (Hrsg.), Stenographischer Bericht. 26. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 19. März 1981, S. 1257 f. 69 Der Begriff war in den Medien vor dem Aufkommen der Bezeichnung »Autonome« gebräuchlich. Vgl. taz-Interview mit einem 14-jährigen »Streetfighter«, in: Ermittlungs­ ausschuss Berlin (Hrsg.), Die »Vernunft« schlägt immer wieder zu! »Berliner Linie« gegen Instandbesetzer. Dokumentation der Ereignisse vom 3.2.’73 bis zum 11.8.’81, Berlin 1981, S. 55.

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derheit betraf. Vielmehr scheint allgemein die Auffassung verbreitet gewesen zu sein, es handle sich dabei um ein Massenphänomen, das seinen Ursprung in einer tiefen gesellschaftlichen Krise hatte und vom offen revoltierenden Teil der Jugendlichen nur wie ein Erdbeben von einem »Seismograph«70 angezeigt werde. Die Verfasser*innen der Schweizer Jugendstudie bezogen als erste und am deutlichsten diese Position: Es trifft zu, daß radikale Minderheiten die Jugendunruhen ausgelöst haben. Es trifft auch zu, daß diese Minderheiten in verschiedener Hinsicht von der Mehrheit – auch der Jugendlichen – isoliert sind. Aber die Probleme dieser Minderheiten sind nicht isoliert von den Problemen der Mehrheit – und zwar einer Mehrheit nicht nur der Jugendlichen. […] Die radikalen Minderheiten rekrutieren sich also aus besonders exponierten, besonders belasteten und gleichzeitig besonders wenig belastbaren Mitgliedern unserer Gesellschaft. […] Sie fühlen sich als Geschlagene, die nun zurückschlagen. Für viele ist die Gewaltanwendung die wirksamste und radikalste Gegensprache.71

Die sich scheinbar viral verbreitende Zukunftsangst, die von der Studie als einer der Auslöser der Unruhen identifiziert wurde, schien gar ein generationsübergreifendes Phänomen zu sein, das nicht nur Jugendliche betraf. Auch viele Erwachsene empfanden diese Zukunftsangst, die durch den Eindruck der »Jugendrevolte« nun noch verstärkt wurde. Die Jugendunruhen haben in starkem Maß Angst ausgelöst: Angst vor einer unruhigen Zukunft, Angst vor einem Zusammenbruch unseres Systems und damit verbunden Angst vor Wohlstandsverlust. […] Es ist die Zukunftsangst, von der wir alle mehr oder weniger stark erfasst sind, die Zukunftsangst, die sich vermutlich in nichts von der Zukunftsangst unterscheidet, die die Jugendlichen beunruhigt – außer darin, daß die Jugend eine längere Zukunft vor sich hat, sozusagen die Zukunft länger aushalten müssen. Die Angst der Jugend macht Angst, weil sie auch unsere Angst ist.72

Das Bundesamt für Verfassungsschutz warnte, dass die ab 1980 auftauchenden autonomen Jugendgruppen sich »Forderungen zu eigen [machen], wie sie auch von der nicht extremistisch orientierten Jugendbewegung erhoben werden«73, ihr potentieller Wirkungsbereich sich also keinesfalls auf das unmittelbare Umfeld der eigenen Szene beschränkte. Auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags ging davon aus, dass der kleinen Gruppe der aktiv protestierenden Jugendlichen eine große Zahl passiver Sympathisant*innen gegenüberstand und dass die »Jugendrevolte« nur das Oberflächensymptom einer 70 Diese Metapher findet sich bei: Jörg Bopp, Trauer-Power. Zur Jugendrevolte 1981, in: Kursbuch 65, S. 160. 71 Eidgenössische Kommission für Jugendfragen (Hrsg.), Thesen, hier zitiert nach einem Abdruck in: radikal, Nr. 88 (Februar 1981), S. 16. 72 Ebd. 73 Bundesminister des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutz ’80, S. 92.

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wesentlich tiefer liegenden gesellschaftlichen »Sinn- und Orientierungskrise« darstellte: Der aktive Protest umfasst sicher nur einige Prozent der Jugendlichen. Daneben indes gibt es eine große Gruppe, die unzufrieden ist und Protestaktionen und deren Anliegen für richtig hält, ohne selbst auf die Straße zu gehen. […] Aufgrund vorliegender Untersuchungsergebnisse und Erfahrungsberichte muß man indes davon ausgehen, daß es in der Sache weniger um Probleme der Jugend als um solche der gesamten Gesellschaft und um die Folgen einer verbreiteten Sinn- und Orientierungskrise geht. […] Alles deutet darauf hin, daß es sich bei der heutigen Protestbewegung um den Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels von Auffassungen und Einstellungen in weiten, über die Jugendlichen hinausgehenden Teilen der Gesellschaft handelt.74

Es stimmt zwar, dass die revoltierenden Punks und Autonomen zum Zeitpunkt ihres ersten In-Erscheinung-Tretens eher die Rolle marginalisierter Randgruppen spielten  – gleichzeitig waren sie aber die radikalste Verkörperung eines Zeitgeistes, der breite Teile der Gesellschaft Anfang der 1980er Jahre wesentlich prägte. Mit kaum verdeckter Schadenfreude wurde auch innerhalb der Bewegung wahrgenommen, dass sich nicht nur unter den Jugendlichen, sondern auch in den Kreisen der staatlichen Funktionsträger*innen ein gewisses »No-FutureFeeling« breitmachte. So zum Beispiel, wenn die »Knastgruppe Wedding« eine Erklärung des BKA-Präsidenten Herold zitierte, in der dieser alarmistisch vor dem Verlust der staatsbürgerlichen Treue der Jugend, der Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung und dem drohenden Staatsverfall warnte: Wir müssen mit Situationen kalkulieren, die mir nicht für immer ausgeschlossen scheinen: Wirtschaftlich-ökonomische Krisen etwa, depressive Prozesse, in denen die schmale Zuwachsrate von zwei Prozent sich [zu] Null minimalisiert [sic], was sich dann schlagartig im Bewusstsein der Bevölkerung niederschlagen kann. Staatsverdrossenheit, Autoritätsverfall, Loyalitätskrisen, Erschütterung der staatlichen Organe, Umwertung der Traditionen, die die Staatsapparate in aller Welt tragen: Pflichtgefühl, Gehorsam, Disziplin, Verschwiegenheit, Geheimnis, Leistung  – all dies ist längst in einem Umformungsprozess begriffen.75

Es lässt sich also festhalten, dass die radikalisierte Minderheit, die 1980/81 auf die Barrikaden ging, mit ihrem militanten Auftreten offenbar eine öffentliche Debatte anstieß, in der sich nicht nur die Belange einer kleinen Gruppe, sondern die Unzufriedenheit großer Teile einer ganzen jugendlichen Alterskohorte sowie die zunehmende Fortschrittsskepsis und Zukunftsangst eines Teils ihrer

74 Matthias Wissmann/Rudolf Hauck (Hrsg.), Jugendprotest im demokratischen Staat. Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Stuttgart 1983, S. 27, 33 f., 35 f. 75 O. A., … dazu die Knastgruppe Wedding, in: radikal 86 (Januar 1981), S. 11.

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Elterngeneration spiegelte. Vor diesem Hintergrund wirkt die von Bundeskanzler Helmut Schmidt am 24. November 1980 unter dem Leitmotiv »Mut zur Zukunft« abgegebene Regierungserklärung wie eine verzweifelte Beschwörungsformel an eine Jugend, die, so scheint es, das Vertrauen in die Zukunft und ihre eigene Handlungsfähigkeit verloren hatte: Wir sind nicht Objekte der Geschichte, wir sind handlungsfähig […] Wir werden unsere Aufgaben mit Mut anpacken. Und der Mut in die Zukunft ist berechtigt. Denn wir dürfen auf den Fleiß setzen, auf die Intelligenz und das Verantwortungsbewußtsein der Deutschen, die dieses Land nach 1945 mit ihrer Arbeit, buchstäblich mit ihren Händen, aufgebaut haben. […] Unser Mut ist berechtigt, denn wir wissen aus Erfahrung, was wir in den 70er Jahren ökonomisch und sozial trotz der beiden Ölpreisexplosionen und der Weltrezession geleistet haben. […] Unsere Jugend will sich für eine bessere Zukunft engagieren.76

Ganz bewusst versuchte die Rede den Mythos des Wirtschaftswunders und des Nachkriegs-Booms wiederzubeleben, um so die Wirkungsmacht der bröckelnden Zukunftsverheißungen, der Glücksversprechen und des Glaubens an die eigene agency wieder herzustellen, die mit diesem Mythos untrennbar verbunden waren. Wie sich bald zeigen sollte, wollten viele junge Menschen von der Zukunft, die hier versprochen wurde, jedoch einfach nichts mehr wissen. Was sich in den zitierten Reaktionen der Politiker*innen, Sozialwissenschaftler*innen und der staatlichen Institutionen deutlich abzeichnet, ist die Furcht vor einer anbrechenden chronopolitischen Hegemoniekrise, die sich darin zu äußern begann, dass das mit der gesellschaftlichen Ordnung verbundene Zukunftsnarrativ von Fortschritt, Wachstum und Wohlstand zu Beginn der 1980er Jahre seine Überzeugungs- und damit seine Integrationskraft eingebüßt hatte. Da die Zukunft als unheilsschwanger erfahren wurde und der Wandel, der sich in der Gegenwart ereignete, eher Verluste als Gewinne zu zeitigen schien, verlor das Fortschrittsnarrativ seine Plausibilität als Ordnung von Zeit. Es büßte sein Vermögen ein, das bedrohliche Gefühl von Ohnmacht und Kontingenz zu beseitigen, mit dem die Zeitgenossen auf die Veränderungen ihrer Lebens- und Arbeitswelten reagierten.77

Die Verweigerung der nachrückenden Generation der Post-Boom-Jugend artikulierte sich im Gegentopos des »No Future«, das das hegemoniale Fortschrittsnarrativ der Nachkriegszeit radikal negierte, ohne ihm einen konstruktiven Gegenentwurf entgegenzusetzen. Nur bei einem kleinen Teil  der Jugend schlug diese Haltung in offene Rebellion um, das Unbehagen an der zukunftslosen Gegenwart aber empfanden offenbar viele.

76 Deutscher Bundestag (Hrsg.), Stenographischer Bericht: 5. Sitzung, Bonn, Montag, den 24.11.1980, S. 25. 77 Esposito, No Future, S. 103.

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Punk als Soundtrack der Zukunftslosigkeit Die Krise des temporalen Deutungsmusters und der Zukunftsverheißungen des Fortschrittsdenkens spiegelte sich auch in einem (sub)kulturellen Wandel auf Ebene von Stil, Habitus und Musik wider. Seit Ende der 1970er Jahre gehörte Punk auch in der Bundesrepublik zu den populären Jugendsubkulturen78. Der Slogan »No Future« war 1977 mit dem ersten Album der britischen Sex Pistols nach Westdeutschland gekommen und zum Mantra der neuen Szene geworden. Musikalisch kam Punk mit wenigen Akkorden aus, war laut, provozierend und aggressiv. Äußerlich waren die Punks an ihrem martialischen Auftreten und einer zur Schau getragenen Ästhetik des Niedergangs und Verfalls zu erkennen – Punk etablierte »Kaputtheit als ästhetisches Motiv«79. War Punk in den 1970er Jahren noch hauptsächlich ein Importprodukt80, so entstanden um 1980 auch überall in der Bundesrepublik Punkbands, die nach dem »do-it-yourself«-Prinzip in Kellern, Garagen und Jugendzentren ihre eigene wütende Variante der englischen »music of the unemployed teenager« produzierten81. »Deutschpunk« unterschied sich allerdings nicht nur durch seine härtere Gangart von seinem englischsprachigen Vorbild, sondern er war auch durch eine wesentlich stärkere Politisierung der Szene geprägt82. Die »Jugendrevolte« von 1980/81 und das Aufkommen von Punk als eigenständige Subkultur sind kaum voneinander zu trennen. In den Autonomie-­ Thesen von 1981 hieß es: »zusammengekommen sind wir über subkultur und diese stellt auch den ausgangspunkt für unseren kampf gegen den staat dar«83. Im September 1980 hatte der Punk auch in der vormals eher im puritanischen K-Gruppen Stil gelayouteten Berliner Szeneblatt radikal Einzug gehalten. Von diesem Moment an füllten Collagen und ausgeschnittene Buchstabenschnipsel die Seiten der in »Zeitung für unkontrollierte Bewegungen« umgetauften Zeitschrift, die von nun an vielen als inoffizielles Zentralorgan der Bewegung galt. Damals war es, erinnerte sich ein ehemaliges Mitglied des radikal-Kollektivs, 78 Zur Rezeptionsgeschichte und Genese von Punk und New Wave in der BRD siehe: Martin Büsser, If the Kids Are United. Von Punk zu Hardcore und zurück, Mainz 2010; Lindner, Jugendprotest, S. 358–365; Meinert/Seeliger, Punk; Cyrus Shahan, Punk Rock and German Crisis. Adaption and Resistance after 1977, New York 2013; Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 363 f.; Frank Apunkt Schneider, Als die Welt noch unterging. Von Punk zu NDW, Mainz 2007. 79 Wolfgang Spindler, Bist du dabei in Brokdorf?, in: Kursbuch 65, S. 123. 80 Zur frühen Rezeption des englischen und US -amerikanischen Punk siehe: Thomas Hecken, Punk-Rezeption in der BRD 1976/77 und ihre teilweise Auflösung 1979, in: Meinert/Seeliger (Hrsg.), Punk, S. 247–259. 81 Das Zitat stammt aus einem Artikel des Soziologen Peter Marsh im britischen Magazin New Society. Hier zitiert nach: Esposito, No Future, S. 100. 82 Vgl.: Meinert/Seeliger, Punk, S. 29–34. 83 O. A., Anarchie als Minimalforderung, in: radikal TUWAT-Extra 97 (August 1981), S. 10.

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»ein kulturrevolutionärer Bruch, Punkelemente in einer linken Zeitschrift zu benutzen«84. Punk lieferte also die Begleitmusik und den Stil der »Jugendrevolte«. In »wütenden Gemeinschaften«85 fand sich die Szene zusammen, um aus der empfundenen Langeweile und Zukunftslosigkeit auszubrechen. »Sinnverlust und Selbstzerstörung«, so Sven Reichardt, »manifestierten sich in der Subkultur der Punks, die anders als die linke Alternativkultur keine sinnvolle Gegenpolitik anbieten mochte«86. Die Gruppe Slime, 1979 in Hamburg gegründet, entwickelte sich Anfang der 1980er Jahre zu einem der musikalischen Sprachrohre der Bewegung und war später fest in der autonomen Szene verankert. Ihre Songs dröhnten von Lautsprecherwagen auf Demos und wurden in besetzten Häusern und einschlägigen Szene-Kneipen gespielt87. Für die »Alt-68er«, die ihrem Revolutionsoptimismus mittlerweile abgeschworen hatten und aus Sicht vieler jugendlicher Autonomer und Punks längst ins Lager des Establishments übergelaufen waren, hatte die Band nur noch ätzenden Spott übrig: Ihr seid Lehrer und Beamte / Seid Gelehrte sogenannte / Ihr schreibt Bücher, seid im Fernsehen / Und ihr glaubt, daß wir euch gern sehen / Immer kritisch und politisch / Marx und Lenin auf dem Nachttisch / Doch ihr habt was gegen Rabatz / Und macht den Bullen gerne Platz […] Ihr seid nichts als linke Spießer / Ihr habt nichts dazugelernt.88

Das »No Future« des Punk bedeutete, bei aller besungenen Monotonie, Illu­ sions- und Ausweglosigkeit, jedoch nicht zwangsläufig Resignation. Punk stilisierte sich selbst nicht nur als Soundtrack der zukunftslosen Verhältnisse, sondern versprach zugleich eine Art Ausbruch aus denselben. Er lieferte energiegeladene Kampflider, die das Publikum zum aktiven Mit- und Selbermachen aufriefen. Die Konzerte wurden zu Orten, an denen die Wut ein Ventil fand und zum gemeinschaftsstiftenden Erlebnis wurde. Ein junger Aktivist aus Berlin schilderte sein Verhältnis zur Musik und die Wirkung, die ihre Dynamik auf ihn hatte: Punk ist Wut, die sich Bahn bricht! […] die Musik passt einfach super zu meinen Gefühlen. […] Fehlfarben, Jimi Hendrix oder die Doors bringen Romantik in kahl84 Herausgeberkollektiv (Hrsg.), 20 Jahre radikal. Geschichte und Perspektiven autonomer Medien, Hamburg u. a. 1996, S. 25. 85 Im Rahmen eines gleichnamigen Dissertationsprojekts erforscht derzeit Henning Wellmann am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung diese Dynamik anhand der neueren Ansätze der historischen Emotionsforschung: Wütende Gemeinschaften. Die Kultivierung von Emotionen in der Musikkultur von Punk bis Grunge (Projektskizze) (URL: https://pophistory.hypotheses.org/428#more-428, zuletzt eingesehen am 1.6.2016). 86 Reichardt, Authentizität, S. 36. 87 Zur Geschichte der Band siehe: Daniel Ryser, Slime. Deutschland muss sterben, München 2013. 88 Slime, Alle gegen Alle, Berlin 1983.

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verrauchte Matratzenzimmer und Gemeinschaftsküchen mit ollen Sofas. Punk will nach draußen und auf Demos, Parties, aus den Fenstern, im SO 36 dem Staat meinen Hass ins Gesicht knallen. Punk ist der aufheulende Motor, wenn die Bewegung durchstartet.89

Im Punk flossen Weltuntergangsstimmung und aktionistischer Tatendrang zusammen. Die Ästhetik des Hässlichen, der farblosen Betonlandschaften der Großstädte und die kompromisslose Wut im Hier und Jetzt waren dabei dem meditativen Rückzug in die Ökoidylle der Alternativbewegung genauso diametral entgegengesetzt wie dem Verlegen der eigenen Utopien auf ein fernes besseres Morgen nach der Weltrevolution. Der radikale Wandel im »temporalen Imaginarium«90 der Jugendsubkulturen, der die »1980/81er« von den »1968ern« trennt, lässt sich an deren Umgang mit dem Erbe ihrer Vorgängergeneration veranschaulichen. Klassiker der wichtigsten Szene-Band der 1970er, Ton Steine Scherben, wie etwa »Macht kaputt, was euch kaputt macht!« oder »Ich will nicht werden, was mein Alter ist«, blieben in der Szene bis in die 1980er Jahre populär und wurden von den stilprägenden Punkbands der autonomen Hausbesetzerszene noch gerne und häufig gecovert91. Es ist dagegen sicher kein Zufall, dass es hoffnungsvolle und zukunftsoptimistische Scherben-Lieder, wie etwa die Ballade »Schritt für Schritt ins Paradies…«, nie auf ein Slime-Album geschafft haben. Düster-pessimistische Texte wie »es liegt ein Grauschleier über der Stadt«92 (Fehlfarben) oder »wir leben in einem Alptraum / Das Erwachen wird der Selbstmord sein«93 (Slime)  trafen eher den Puls der Post-Boom-Zeit. Das von Punk ausgehende Lebensgefühl aus »Euphorie und Apokalypse« blieb dabei keineswegs nur auf die Subkultur beschränkt, sondern fand über die Neue Deutsche Welle auch Eingang in den »Mainstreambereich der Popmusik«94. Wenn die These des britischen Kulturwissenschaftlers Stuart Hall zutrifft, dass die Populärkultur »einer jener Orte [ist], wo der Kampf für oder gegen eine Kultur der Mächtigen sich abspielt«, wenn sie als »Arena von Zustimmung und Widerstand« und damit als eines der Felder, auf denen »Hegemonie entsteht«95, 89 Zitiert nach: AG Grauwacke, Autonome, S. 47. 90 Fernando Esposito, Von no future bis Posthistoire, S. 395. 91 Vgl.: Alle hier zitierten Titel stammen von den Alben: Ton Steine Scherben, Warum geht es mir so dreckig, Berlin 1971; Dies., Keine Macht für Niemand, Hamburg 1972. Eine Cover-Version von »Ich will nicht werden …« findet sich auf: Slime, Alle gegen Alle. 92 Fehlfarben, Monarchie und Alltag, Köln 1980. 93 Slime, Yankees raus, Hamburg 1982. 94 Christoph Jacke, »Lies (through the 80s)«. Immer gleich und besser. Popkultur und -musik zwischen Trash und Innovation am Beispiel der neuen Deutschen Welle (NDW), in: Meinert/Seeliger (Hrsg.), Punk, S. 189–208, hier S. 189. 95 Stuart Hall, Notes on Deconstructing the Popular, in: Raphael Samuel (Hrsg.), People’s History and Socialist Theory, London 1981, S. 239. Zum Zusammenhang von Hegemonie und Subkultur, siehe außerdem: Dick Hebdige, Subculture. The Meaning of Style, London 1979.

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verstanden werden kann, dann kann im Aufkommen des Punk und seiner »NoFuture«-Haltung durchaus ein Riss in der Integration der Jugend in den Konsens der vormals hegemonialen Zukunftserwartungen gesehen werden. Indem die etablierten politischen Instanzen ihre Deutungshoheit und ihren Zugriff auf die Dimension des Zukünftigen verloren – weil die Jugend augenscheinlich den Glauben an überhaupt alles Zukünftige verloren hatte – war ihnen sowohl ihr mächtigster Hebel zur sozialen Disziplinierung, als auch ihr wirkungsvollstes Integrationsinstrument in Form eines in die Zukunft verweisenden Glücksversprechens aus der Hand geschlagen96. »No Future« verweigerte sich als Antithese zu »Fortschritt« jeder Unterordnung der Gegenwart unter Ziele und Versprechen, die sich erst in der Zukunft erfüllen würden.

Die »Revolte der Betongeneration« und der »Tanz auf dem Vulkan« der Apokalypse Besonders im Zusammenhang mit den Opernhauskrawallen in Zürich und der Hausbesetzerbewegung in Berlin dominierte eine ganze Reihe an Metaphern den Szene-Diskurs, die alle in dieselbe Richtung wiesen. Es war dort die Rede von »Packeis«, Zürich wurde mit »Grönland« verglichen, in Berlin herrschte »Eiszeit« und die Bewegung bezeichnete sich selbst als »Revolte der Betongeneration«97. Die Gegenwart wurde als unbewohnbar und statisch, die Zukunft als »verbaut« und »verplant« beschrieben. Auf den Punkt brachte es die Stimme aus dem Off, die die düsteren Szenen aus den Züricher Betonschluchten und qualmenden Industrielandschaften untermalt, mit denen der von Aktivisten aus der Szene produzierte Dokumentarfilm »Züri brännt!« beginnt: Hautnah haben wir miterlebt, wie um uns herum die große Illusion der Wohlstandsgesellschaft aufgebaut wurde. Wir lebten in den grünen Städten des sozialen Wohnungsbaus, in der heilen Welt der neu besiedelten Außenquartiere. Unsere Eltern krabbelten emsig und tüchtig wie die Ameisen, kurzsichtig und stur wie die Maulwürfe an der Erfolgsleiter herum. Die wenigsten schafften es bis ganz oben, aber die meisten schafften es zu dem, was sie heute sind: Eine riesige Mittelschicht kleinkarierter, langweiliger, subalterner Fünfzigjähriger, die unerschütterlichen Helfer des großen Bruders, mit Bierbauch, verklebter Phantasie und meterdicken Mauern um Hirn und Herz.98

Die hier mit beißendem Zynismus beschriebene Lebensperspektive der Elterngeneration, die auf die Glücksversprechungen der Wohlstandsgesellschaft ge96 Vgl. auch: Schneider, Als die Welt noch unterging, S. 9. 97 O. A., Vom Autonomen zum Automaten, in: radikal 123 (Dezember 1983), S. 12. Siehe hierzu auch Syph, Zurück zum Beton (URL: https://www.youtube.com/watch?v=zMQ dafBR9k, zuletzt eingesehen am 15.6.2016). 98 Aus dem Dokumentarfilm »Züri brännt!«, min. 22:00–22:48.

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richtet war, erscheint als leer und unbefriedigend. Ihr Leben scheint verschwendet, Langeweile und Grauen machen sich breit. Die Auflösung des traditionellen Arbeitermilieus im Idealbild des kleinbürgerlich-individuellen Lebensstils der Boom-Phase führte, so die Botschaft, nicht etwa ins versprochene Konsumparadies, sondern in die soziale Vereinzelung und Entfremdung einer vollkommen sinnentleerten Existenz. Die Jugendbewegung versuchte diesem trostlosen Zustand durch das Schaffen quasi-familiärer Ersatzstrukturen und das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gegenwelt der Szene zu entkommen. Ganz ähnliche Motive beherrschten auch die Sprache der Bewegung in der Bundesrepublik. In einem Artikel in der radikal hieß es etwa: Versteinerte Seelen, betonierte Herzen, unglückliches Freizeitglück organisiert von geldgeilen Geschäftsleuten, Totenmesse von Münzen und Geldscheinen im Austausch für den Wunsch nach Abenteuer und Leben […] eine große Freizeit-Fabrik, eisig und lieblos, wie das Wesen des Alltags und dieser Kultur, die nichts als Vernichtung produziert. […] Aber besser eine Totenmesse, die als lächerlicher Trümmerhaufen von Scherben und geplünderten Vitrinen zurückbleibt, als die ungestörte Monotonie dieser Eiszeit.99

Der einzig mögliche Umgang mit dieser »betonierten« Gegenwart schien den radikalisierten Jugendlichen die Zerstörung ihrer Symbolwelten zu sein. Egal wie aussichtslos dieser Versuch auch erscheinen mochte, nur der frontale Angriff gegen die »Monotonie dieser Eiszeit«, als die die sinnentleerte und entfremdete »Freizeit-Fabrik« der Konsumgesellschaft beschrieben wurde, versprach überhaupt noch irgendeinen wahrnehmbaren Effekt zu haben. Der Alltag im »riesengroßen Knast« der Gesellschaft, wie es ein Göttinger Hausbesetzer beschrieb100, erschien als allumfassender Repressionszusammenhang. »No Future« beschreibt hier eine Situation in der Zukunft nur noch als monotone Verlängerung der Gegenwart vorstellbar ist. Damit hört sie auf, als gestaltbare Zeit zu existieren. François Hartog beschreibt diesen Zustand der Zukunftslosigkeit als Präsentismus: »the sense that only the present exists, a present characterized at once by the tyranny of the instant and by the treadmill of an un­ending now.«101 Aus diesem Eindruck temporaler Ausweglosigkeit ergab sich für die Jugendlichen die Notwendigkeit zu kämpfen, wenn auch »mit dem Rücken gegen die Wand« und zunächst ohne große utopische Gegenentwürfe, die über das spontane Aufbegehren hinausgewiesen hätten. In einem Szene-Flugblatt aus Hannover hieß es etwa: Wir lassen uns nicht BRDigen. Deshalb werden wir die Särge, die uns ersticken wollen, die falsche Plastikwelt […] die Fließbänder, die unser Leben fressen, die Schule, 99 O. A., Die Nacht der Steine, in: radikal 92 (Mai 1981), S. 23. 100 O. A., Die Gesellschaft ist ein riesengroßer Knast. Göttinger Hausbesetzer über sich selbst, in: Aust/Rosenbladt (Hrsg.), Hausbesetzer, S. 26 f. 101 Hartog, Regimes, S. XV.

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die uns verstümmelt, die öde Betonperversion unserer Städte, die Zerstörung unserer Umwelt, schließlich die Polizeiknüppel, Überwachungskameras, Computer, Soldaten und Knäste, die uns ruhighalten sollen, die Särge werden wir zertrümmern.102

»Die Gewalt der Alltäglichkeit«, hieß es in einem Text von Nürnberger Hausbesetzer*innen, »rechtfertigt in allen Aspekten des Lebens die Abschaffung dieser Gesellschaft, die uns nichts bieten kann, außer zwischen Beton und Glas den hygienischen Tod der Langeweile zu sterben«103. Aus diesen Quellen spricht ein schwer zu fassendes Unbehagen an der als statisch wahrgenommenen Gegenwart der »Plastikwelt« der Konsumgesellschaft und ihrer marktförmigen Kultur- und Freizeitindustrie. Der empfundenen Determiniertheit der Lebensverhältnisse in den »Betonsilos« wurde einerseits der Wille zum gewaltsamen »Gegenangriff«, und andererseits die Forderung nach Selbstbestimmung bzw. Autonomie  – also dem Gegenteil von Determiniertheit – in eigenen »Freiräumen« außerhalb der herrschenden Ordnung entgegengesetzt. Die Träume und Utopien der Bewegung lagen nicht mehr in einer besseren Zukunft, sondern in den Nischen der Gegenwart. Sie zielten nicht mehr auf eine fundamentale Veränderung der Gesellschaft, sondern sie schrumpften sprichwörtlich auf Wohnzimmerformat. Welche Rolle spielten in diesem Szenario die Jugendarbeitslosigkeit und der zunehmende ökonomische Perspektivverlust? Erstaunlicherweise kommen ausgerechnet diese Faktoren in den Radikalisierungsnarrativen der Jugendlichen selbst so gut wie nie als Motive vor. Anstatt dass die Empörung über die sich rapide verschlechternden Perspektiven sich direkt mobilisierend ausgewirkt hätte, wurde Arbeitslosigkeit in der Punk- und Hausbesetzerszene im Gegenteil sogar positiv besetzt und gehörte gewissermaßen zum autonomen Lebensstil dazu. So behandelte zum Beispiel die radikal vom Mai 1980 das Thema Arbeitslosigkeit unter dem ironischen Titel Lohnarbeit ist Verrat am Proletariat. Der Szenedichter Peter-Paul Zahl sprach in dieser Ausgabe in einem Leitartikel über den »glücklichen Arbeitslosen« und forderte »Arbeitslosigkeit für alle«, anstatt sich etwa gegen diesen Zustand zu empören104. Jenseits der Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Konventionen, so scheint es, wartete ein Schlaraffenland der Muße und des Überflusses nur darauf, von den gesegneten Kindern der Krise bevölkert zu werden: Immer mehr verlassen Arbeit, Schule und Familie / streunen durch die Straßen, auf der Suche nach neuen Freundschaften / Gutes Essen, Wein und Waffen / gibt’s mehr als genug hinter den Gittern der Wohlstandgesellschaft / man brauch keinen Beruf mehr, um im Reichtum zu leben / sondern lediglich Steine, Werkzeug und zuverlässige Freunde.105 102 103 104 105

Seipel, Offene Feindschaften, S. 73. O. A., Die Gewalt sitzt nur in ihren Köpfen, in: radikal 90/91 (April 1981), S. 29. Peter-Paul Zahl, Arbeitslosigkeit für alle, in: radikal 78 (Mai 1980), S. 12. O. A., Die Kunst der Provokation, in: radikal EXTRABLATT (Dezember 1980), S. 4.

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Der Schlüssel zu diesem Schlaraffenland, so die Botschaft, bestand ganz einfach in der Bereitschaft, das Gesetz zu brechen und sich mit notfalls militanten Mitteln (die »Steine« fungierten dabei als universelles Symbol für Handlungsmacht) einfach zu nehmen, was man brauchte. Die Jugendlichen wollten demzufolge »nicht die Opfer der Arbeitslosigkeit sein – wie die 68er uns vormachen wollen – sondern Aktivisten der befreiten Zeit; Poesie machen und nicht Überstunden«106. Die Antwort der Bewegung auf die Jugendarbeitslosigkeit bestand im spontanen Ausbruch aus den Lebensverhältnissen, die Geld (und damit Arbeit) erst nötig machten – demnach im Prinzip der »Autonomie«. Die ökonomischen Krisenerscheinungen gehörten zwar indirekt zu den Radikalisierungsfaktoren der »Jugendrevolte«, die Arbeitswelt selbst zählte aber nie zu ihren zentralen Bezugspunkten. In den Autonomie-Thesen hieß es dazu: »arbeit [stellt] für uns keinen zusammenhang dar, wo wir uns kennengelernt haben oder der zum inhalt unseres kampfes wird.«107 Das »No Future-Feeling« der Bewegung bezog sich weniger auf die reale ökonomische Perspektivlosigkeit oder den Umstand, dass der Traum von ewigem Fortschritt und Wohlstand seine Glücksversprechen nach dem Boom nicht mehr einlösen konnte, sondern auf den Inhalt dieses Versprechens selbst. Nicht nur das ökonomische Krisenbewusstsein, sondern auch die grassierende Angst vor dem drohenden Weltuntergang und eine apokalyptische Endzeitstimmung erlebten in der öffentlichen Wahrnehmung der frühen 1980er Jahre eine Hochkonjunktur. Besonders die Gefahren, die von der Kernenergie, der Umweltzerstörung und dem atomaren Wettrüsten zwischen den Supermächten ausgingen, fanden starke Resonanz. Anfang des neuen Jahrzehnts, so erschien es zumindest in den Augen vieler Zeitgenossen, war es ständig fünf vor zwölf, wie sich erneut etwa an einer Reihe von Spiegel-Titelblättern illustrieren lässt (siehe Abb. 2). Im Mai 1980 in Zürich, später dann auch in den bundesdeutschen Zentren der Hausbesetzerbewegung, verwies die Parole »Nur Stämme werden überleben« auf die vermeintlich unaufhaltsam näher rückende Apokalypse. Eine andere Wandparole forderte »Freiheit in der Endzeit«108. Die Schreckensvisionen des oft beschworenen »atomaren Holocausts«109 wurde nicht in eine ferne Zukunft verlegt, sondern direkt auf die Alltagswelt im Hier und Heute projiziert: 106 O. A., Von der Sprachlosigkeit der Bewegung, in: radikal 88 (Februar 1981), S. 13. 107 O. A., Anarchie als Minimalforderung, in: radikal TUWAT-Extra 97 (August 1981), S. 10. 108 Beide Parolen zitiert in: Härlin, Von Haus zu Haus, S. 16. 109 Dieser mit Blick auf die hervorgerufenen Shoah-Assoziationen hochproblematische Begriff (z. T. auch »nuklearer Holocaust«) ist zeittypisch für die Hochphase der Friedensbewegung und wurde besonders in ihrem Umfeld verwendet. Der Begriff wurde auch von den Massenmedien aufgegriffen so z. B. in einem Zeit-Artikel von Karl-Heinz Janßen, Vor dem zweiten Kalten Krieg?, Die Zeit, 11.1.1980 (URL: http://www.zeit.de/1980/03/ vor-dem-zweiten-kalten-krieg/komplettansicht, zuletzt eingesehen am 31.5.2016).

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Abb.2: Weltuntergangsszenarien, Spiegel-Titelblätter Nr. 15 (1979), Nr. 47 (1981) und Nr. 39 (1981). © SPIEGEL -Verlag, Hamburg Wenn ich mir vorstelle, inmitten einer atomaren Zeitbombe zu sitzen, wenn ich durch Bärlin [sic] gehe und das Gefühl habe, von all den Ecken und Kanten zerrissen zu werden […] wenn ich nur einmal ganz weit die Augen aufreiße, sehe ich, daß der 3. Weltkrieg längst angefangen hat. Es ist der Krieg von Fabriken, die den Tod produzieren, von einer Maschine, die selbst den letzten Atemzug wie eine Zitrone ausquetscht […] Jede Sekunde, die diese Maschine weiterläuft, ist eine Beerdigung für das Leben.110

Ganz im Sinne der »Politik der ersten Person«111 ging es hier nicht um einen abstrakten Begriff der Menschheit, die Gefahr lief sich selbst auszulöschen, sondern um die konkrete eigene Angst in der Gegenwart. Das apokalyptische Bild vom bereits ausgebrochenen »Dritten Weltkrieg« gehörte dabei fest ins diskursive Repertoire. »No Future« bezeichnete hier folglich ein Lebensgefühl der anhaltenden existentiellen Bedrohung durch ein ganzes Arsenal realistisch erscheinender Weltuntergangsszenarien, die einen Zustand der permanenten Mobilisierung hervorriefen. Es war dieser Zustand, der eine massive Wirkungsmacht unter den Jugendlichen entfaltete und sich katalytisch auf die Radikalisierung der Bewegung auswirkte. Die Bereitschaft, auch zu militanten Protestformen zu greifen, ergab sich aus dem Gefühl der eigenen Betroffenheit: Das Ausmaß einer Weltwirtschaftskrise, eines Ölkriegs und einer ökologischen Katastrophe löst zwar in mir sehr leicht den Hauch von Verzweiflung, Wut und Kamikaze aus. Die wachsende Betroffenheit über diese Realität bedeutet allerdings auch eine genauso wachsende Bereitschaft zu Widerstand. […] Widerstand, der immer auch Militanz und direkte Aktionen beinhaltet.112 110 O. A., Krieg und Frieden, in: radikal 90/91 (April 1981), S. 11. 111 Zum Begriff der »Politik der ersten Person« siehe: Reichardt, Authentizität, S. 55. 112 O. A., Die Revolte hat erst angefangen, in: radikal 88 (Februar 1981), S. 14.

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Das Risiko der Passivität angesichts der bevorstehenden Apokalypse, so das naheliegende Kalkül, wog das Risiko auf, das der militante Widerstand notwendigerweise mit sich brachte. In Relation zum Atomkrieg musste jede vorstellbare Konsequenz für das Individuum als marginal erscheinen. Eine Anekdote des Psychoanalytikers Paul Parin aus der Zeit des Bewegungssommers in Zürich illustriert diesen Nexus zwischen Endzeitstimmung und Militanz. Gemessen an der empfundenen permanenten Vernichtungsdrohung, die aus Sicht der Jugendlichen von der Welt der Erwachsenen ausging, musste jede ihrer eigenen militanten Aktionen als eine lächerliche Bagatelle erscheinen: Ein junger Mann, wohl ein Lehrling, sagte: »Ich bin Feinmechaniker und habe Arbeit.« Ich: »Ein feiner Beruf.« Er: »Bis ich 40 bin, gibt’s die Metalle nicht mehr, mit denen ich schaffe.« Ein anderer, sicher noch Lehrling, sagte zu seinem Kollegen: »Wenn wir heute gehen, fliegen wieder Pflastersteine.« Ich: »Was hältst du davon, das ist doch Gewalt?« Er: »Darauf kommt’s nicht mehr an.« Und er zog aus der Tasche ein zerknittertes Blatt, einen Ausriß aus dem »Tagesanzeiger«. Ich solle lesen: »Das schwedische Institut für Friedensforschung hat berechnet, daß die in Europa gelagerten Atom­ waffen genügen, um jede europäische Stadt x-mal auszuradieren.«  – Kommt es da noch auf Pflastersteine an?113

Mitunter lässt sich im Diskurs der Szene sogar eine regelrechte, oft ins Iro­ nische tendierende »Lust am Weltuntergang«114 feststellen. »Wir tanzen bis zum Ende«115, oder »Wenn die Zukunft schon düster aussieht, wollen wir wenigstens den Protest gegen sie genießen«116, lauteten die Parolen angesichts des vermeintlich nahenden Endes. Wenn es keine Zukunft und damit nichts mehr zu verlieren gab, dann gab es auch keinen Grund mehr, Rücksicht zu nehmen, dann war alles möglich und alles erlaubt. Der hoffnungslose »Weltende-Hintergrund« enthielt aus Sicht der Jugendlichen paradoxer Weise auch ein emanzipatives und entgrenzendes Moment: Dass die Welt untergehen würde – jene Gewissheit, die schrecklich und behaglich im selben Atemzug war –, reichte aus, alles noch schnell aus- und anprobieren zu wollen. Sich alles zu nehmen. Die Gegenwart, der Moment wurde bedeutsam und die Zukunft ein schaler Witz. Gerade die Zukunftslosigkeit verlieh also der Gegenwart ungeahnte Fähigkeiten, den Mut, aufzukündigen, abzubrechen, abzurechnen.117

Die Münchner Gruppe Freizeit ’81 erklärte mit euphorischem Zynismus »Die Chancen für eine Revolution in der BRD sind gleich Null. Die Überlebenschan113 Parin, »Befreit Grönland vom Packeis!«, S. 232. 114 So titelte der Spiegel 53 (Dezember 1981) mit Blick auf den damals aufkommenden Trend um den Weltuntergangspropheten Nostradamus. 115 Zum Beispiel der Titel eines Szene-Romans über die wilden Jugendjahre eines Autonomen: Thomas Lecorte, Wir tanzen bis zum Ende. Die Geschichte eines Autonomen, Hamburg 1992. 116 Vgl.: Bopp, Trauer-Power, S. 163. 117 Schneider, Als die Welt noch unterging, S. 8 f.

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cen auch«, und folgerte daraus: »Aber Spaß an der Apocalypse [sic]. Das Zyankali griffbereit. Der sanfte Genickschuß. Irgendwann. […] Das letzte Abenteuer ist Krawall! TANZ!«118 Überall finden sich in den Texten der »Jugendrevolte« spuren von jenem »Syndrom negativer Befindlichkeit, bestehend aus Angst, Pessimismus, Resignation, ›No-Future‹-Stimmung und zuweilen geradezu lustvoll ausgekosteten Weltuntergangserwartungen«, das Oskar Schatz 1985 als prägende Grundströmung der 1980er Jahre diagnostizierte119. Diese Stimmung führte jedoch nicht zu niedergeschlagener Untätigkeit, sondern in einen Prozess der beschleunigten Radikalisierung. Politik wurde vor diesem Hintergrund immer präsentistischer. Sie richtete sich nicht mehr auf die Zukunft als offenen und gestaltbaren Raum, sondern nur noch auf die unmittelbar erlebbare Gegenwart. Es ging um Veränderungen hier und jetzt und nicht um Reformpläne, die Jahre bis zu ihrer Verwirklichung brauchen würden. Das Jugendzentrum um die Ecke hätte am besten gestern schon errichtet werden sollen und konnte unter keinen Umständen bis morgen oder gar in ein paar Jahren warten. Denn, so die Wahrnehmung der Jugendlichen, wer wusste schon, ob die Welt bis dahin nicht schon längst in Trümmern liegen würde. Fraglich bleibt natürlich, inwieweit der Zeitgeist des »No-Future« und das Reden über den drohenden Weltuntergang tatsächliche Überzeugungen und reale Ängste Jugendlicher widerspiegelte und inwieweit dieser Diskurs nicht auch die Form eines gemeinsamen, oft ironisch überspitzten Jargons angenommen haben mag, in dessen Bildern und Metaphern sich zwar durchaus ein gemeinsames Lebensgefühl und eine Identität, nicht aber zwangsläufig tatsächliche Erwartungen an die Wirklichkeit ausdrückten. Eine solche Relativierung ändert jedoch nichts daran, dass diese gemeinsame Rhetorik und ihre Konjunktur in der öffentlichen Auseinandersetzung das Medium lieferten, in dem Jugendliche sich politisierten und aus dem sie Handlungsmotive ableiteten. Realistisch oder nicht, der Zeitgeist der Zukunftslosigkeit prägte die Vorstellungswelt vieler Jugendlicher und entfaltete Wirkungsmacht als einer der zentralen Katalysatoren der Radikalisierung ihrer Revolte.

Militanz als agency Im Anschluss an Jürgen Habermas geht Fernando Esposito davon aus, die sich ab Mitte der 1970er Jahre ausbreitende Zukunftsangst, die »Erschöpfung utopischer Energien« und das sich abzeichnende »Ende der Geschichte« resultiere wesentlich in der Vorstellung

118 O. A., Freizeit ’81 – Gefühl und Härte, in: radikal 98 (Oktober 1981), S. 17. 119 Oskar Schatz, Vorwort, in: Ders. (Hrsg.), Die Lust am Untergang. Zwischen Kultur­ pessimismus und Hoffnung, Wien u. a. 1985, S. 7–10, hier S. 7.

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dass die großen historischen Subjekte, die Nation, das Proletariat, ja das menschliche Subjekt überhaupt, ihre agency eingebüßt hätten. Es gab zwar weiterhin Wandel, aber der Mensch gestaltete diesen Veränderungs- und Verlaufsprozess nicht mehr aktiv, sondern stand ihm mehr oder weniger ohnmächtig gegenüber.120

Dieses Gefühl der Ohnmacht, des Verlusts der kollektiven und individuellen agency, scheint für viele Jugendliche der frühen 1980er Jahre zu den prägenden Generationserfahrungen gehört zu haben. Die Phrase von ›Der Jugend gehört die Welt‹ steht im krassen Widerspruch zu ihrer Unmündigkeit. Sie haben nichts gegen die Gesellschaft in der Hand als ihren Haß und ihre Verzweiflung. Sie können keine Fabrik lahmlegen oder bestreiken, weil sie nicht arbeiten – sie produzieren nicht den Reichtum dieser Gesellschaft; produzieren nicht den Mehrwert, sie produzieren nur sich selbst.121

Die Möglichkeit im »Häuserkampf« oder an den Großschauplätzen der NSB dem Staat gemeinsam mit militanter »Gegengewalt« zu begegnen, so lässt sich argumentieren, entfaltete nicht zuletzt deshalb eine solch magische Sogwirkung auf viele junge Menschen, weil sie zumindest für den Augenblick die Chance bot, eine Form von agency zu erleben, sich selbst als handelnde Subjekte zu fühlen. Eben dieser Erfahrung der militanten Selbstermächtigung scheint angesichts der empfundenen Macht- und Zukunftslosigkeit als eine der mächtigsten Triebkräfte der Radikalisierung gewirkt zu haben. Aus dem Bewusstsein ihrer eigenen Ohnmacht entwickelten die Akteur*innen der »Jugendrevolte« ein für diese Protestgeneration spezifisches Verhältnis zur Militanz. »Wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie«, hieß es auf einem Titelblatt der radikal schon im Frühjahr 1980 – darüber das Bild einer schussbereiten Zwille, die geradeaus ins Ungewisse zielt122. Ironisch wurde hier einerseits mit der eigenen Einschätzung gespielt, historisch in einer scheinbar objektiv hoffnungs- und ausweglosen Situation zu stecken, also »keine Chance« (und damit auch keine Zukunft) zu haben, gerade deswegen aber nicht zu resignieren, vielmehr umso erbitterteren Widerstand zu leisten. In den autobiografischen Schilderungen ihrer eigenen Politisierungsgeschichte beschreiben die Aktivist*innen der Bewegung die politische Ohnmacht häufig nicht nur als abstraktes Gefühl, sondern als durchaus konkrete Erfahrung der Unmöglichkeit, auf legalem Wege irgendeine noch so geringe Veränderungen zu erreichen. Ein ›militanter‹ Jugendlicher beschrieb dieses Ohnmachtsgefühl als das Hauptmotiv seiner eigenen Radikalisierung: du [fühlst] dich immer mehr verarscht, nicht ernst genommen, bekommst einen immer stärkeren haß auf ämter, institutionen, firmen, staat und verwaltung etc., weil sie 120 Esposito, No Future, S. 96 f.; vgl. auch: Ders., Von no future bis Posthistoire, S. 410. 121 O. A., Züricher Nächte. Der Potlatch der Zerstörung, in: radikal 93 (Juni 1981), S. 18. 122 Vgl. radikal Nr. 77 (März/April 1980).

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deine berechtigten forderungen, unsere berechtigten forderungen, nicht ernst nehmen. […] Sich vor die fabriken stellen, demos zu machen etc., sind alles bestimmt möglichkeiten, doch für mich sind sie fast aussichtslos, es gibt zu viele spielregeln, gesetze und paragraphen, du wirst immer mehr vom system aufgesaugt. […] wenn du siehst, dass akw’s trotzdem gebaut werden, versuchst du das auch praktisch zu verhindern, sprengst masten in die luft, steckst baufahrzeuge in brand […] erstens wirst du auf diese art und weise auf deinen protest aufmerksam machen und leute informieren […] aber – mir macht es auch spaß, ich sehe gerne was unmenschliches in die luft fliegen, freue mich über brennende baufahrzeuge, über löcher in mauern, wo sie offiziell nicht hingehören, zerklirrte fensterscheiben, als auch zerstörte bauelemente von akw’s.123

Diese Form der militanten »Propaganda der Tat«, so die Argumentation, bot also die Möglichkeit, die eigene Ohnmacht zu brechen, direkt zu intervenieren und dadurch zugleich anderen ein Beispiel zur Nachahmung zu liefern. Es galt das »Primat der Praxis«. Dabei durfte aber natürlich auch der Spaß nicht zu kurz kommen, war doch der Alltag vor allem von Monotonie und Langeweile geprägt. Ein anderer Aktivist beschrieb unter der Überschrift »…und dann habe ich einen Molli in ein Kaufhaus geworfen« seine erste Erfahrung mit gezielter Militanz: [Ich bin] dann losgezogen mit einem Molli in einer Tüte, den Satz ›Macht kaputt was euch kaputtmacht‹ im Herzen und einer ganzen Menge Angst im Bauch, die immer größer wurde, je näher ich der Innenstadt kam. […] Und dann war es endlich soweit. Ich stand vor dem Schaufenster, den Molli in der Hand. Und irgendwie war mir dabei so, als würde sich meine ganze Angst verflüssigen und diese Flüssigkeit in mir überkochen. Ich zünde ein Streichholz an und zünde die Lunte an, warte einen Augenblick und werfe dann den Molli und die ganze verflüssigte Angst und Kaputtheit aus mir heraus. […] Endlich wieder zuhause. Händewaschen und zu den Genossen. Umarmungen mit den Eingeweihten, wildes Getanze und große Freude. […] Ansonsten hat es mir irgendwie etwas gebracht, vor allem hab ich erfahren, daß an dem Satz ›Macht kaputt, was euch kaputtmacht!‹ wirklich etwas dran ist.124

Was hier wie ein Initiationsritual beschrieben wird, ist vor allem von zwei Gesichtspunkten aus interessant. Erstens erscheint hier die militante Aktion als quasi therapeutische Maßnahme gegen den »No-Future«-Frust und die eigene »Angst und Kaputtheit«, die in einem kathartischen Erlebnis überwunden wird. Politisch-taktische Erwägungen spielen dabei schlichtweg keine Rolle mehr. Das Ziel ist prinzipiell gleichgültig, solange es auf irgend eine Weise als Symbol für das »System« gelten kann. Hier ging es offenbar nicht mehr um Gesell-

123 O. A., Wie, warum? Und überhaupt?, in: radikal 77 (März/April 1980), S. 12. 124 O. A., … und dann habe ich einen Molli in ein Kaufhaus geworfen, in: radikal 74 (Januar 1980), S. 17.

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schaftsveränderung, sondern ausschließlich um die Erzeugung eines Gefühls von agency und das nicht mit Perspektive auf eine kommende Weltrevolution, sondern allenfalls noch im Sinne einer Bewältigungsstrategie hinsichtlich der als unerträglich wahrgenommenen Gegenwart. Selbst kleine Erfolgserlebnisse in der Konfrontation mit der Polizei wirkten auf die Szene als äußerst motivierender Antrieb. Sie waren ein zuverlässiges Mittel gegen das Gefühl der Ohnmacht und lieferten regelmäßig den praktischen Beweis für die Zurückeroberung der agency: Wenn Steine oder Mollies flogen, dann war das häufig auch eine Befreiung – von den Zwängen des Alltags, der Unterdrückung und Entfremdung. Das dumpfe Trommeln des auf die Wannen prasselnden Steinhagels, das kollektive Plündern von Supermärkten war für uns der Gesang von Freiheit und Abenteuer. Und es machte einfach Spaß, den Bullen eins in die Fresse zu hauen, sie zum Laufen zu kriegen. […] Das mitzubekommen, dabei gewesen zu sein, selbst Hand angelegt zu haben – davon konnten wir tagelang zehren, das gab uns Nahrung für den grauen Alltag. […] Das verlieh uns Macht, wenn auch nur für einen Augenblick. Damit entsprachen wir haarklein dem konstruierten Medienbild. Das war uns aber egal, das war sozusagen unsere Ausweiskarte als Autonome.125

Ein anderer Aktivist hielt nach den ersten Straßenschlachten im Berliner »Häuserkampf« im Winter 1980/81 fest: »Es bleibt ein Gefühl der Stärke«126. Diese euphorisierenden Erfahrungen der Selbstermächtigung wurden in der Nacherzählung oft bis zum Mythos verklärt. Wenn diese besondere »Macht« der Militanz auch immer nur »für einen Augenblick« anhielt, so wurde sie doch mit Genuss ausgekostet und bildete einen der zentralen Faktoren, der die Bewegung anhaltend motivierte und sinnstiftend zusammenhielt. Die Militanz verlieh aber nicht nur dem Individuum in isolierten Aktionen, sondern auch dem Kollektiv der Jugendbewegung neue Handlungsmacht. Die Lektion, dass mit Straßenschlachten und Randale mehr zu erreichen war, als mit Petitionen und friedlichem Protest, wurde von den Szeneaktivist*innen schnell gelernt und verinnerlicht. Durch militante Auseinandersetzungen mit der Polizei und systematischer Sachbeschädigung, so hatte schon die erste heiße Phase des »Häuserkampfs« im Winter 1980/81 gezeigt, ließ sich der Staat zum Handeln zwingen: »Nur weil es gekracht hat, werden wohnungspolitische Lösungen im Schnellverfahren gesucht«127. Die Tatsache, dass durch die Krawalle tatsächlich Bewegung in die Berliner Wohnungspolitik gekommen war, konnte vom militanten Teil der Szene zumindest vorübergehend als politischer Erfolg gewertet werden. Damit bestätigte sich in den Augen der Szene ihre Strategie der Militanz als de facto Handlungsmacht.

125 Zitiert nach: AG Grauwacke, Autonome, S. 148 f. 126 O. A., Die Kunst der Provokation, in: radikal EXTRABLATT (Dezember 1980), S. 4. 127 O. A., Die Revolte hat erst angefangen, in: radikal 88 (Februar 1981), S. 14.

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Das »affektiv-lustvolle«128 Erleben und der Spaß traten, so scheint es, fast vollständig an die Stelle taktisch-politischer Ziele. In der kurzen Phase der Bewegungseuphorie im Winter 1980/81 war es vielleicht tatsächlich gelungen, das »No-Future«-Feeling wenigstens für eine Weile zu vertreiben und ein gestaltendes Eingreifen zumindest in die unmittelbare Zukunft des eigenen Gegenwartshorizonts wieder denkbar werden zu lassen  – »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran« (Fehlfarben).129

Militanter Präsentismus: »We want the world and we want it now« Der »No-Future«-Topos spielte, wie gezeigt werden konnte, eine tragende Rolle für die Entstehung und Radikalisierung der »Jugendrevolte« und der Autonomen Szene. Die nähere Betrachtung dieser Zeit- und Zukunftsvorstellungen legt es nahe, diese als Symptom eines umfassenderen »Chronotopenwandels« nach dem Boom zu deuten. Die zentralen Motive der »betonierten« Gegenwart in der Konsumgesellschaft und der unablässig drohenden Apokalypse setzten bei vielen Jugendlichen eine Radikalisierungsdynamik in Gang und versetzten die Bewegung in einen Modus der permanenten Mobilisierung gegen das »System«, das für die Unbewohnbarkeit der Gegenwart und die anhaltende Vernichtung der Zukunft verantwortlich gemacht wurde. In der »Revolte« gegen diesen Zustand kämpfte die Bewegung aber nicht etwa für die alternative Gegen-Utopie eines besseren Morgens, sondern allenfalls für eigene »Freiräume« in den Nischen der Gegenwart. Da es nichts mehr zu verlieren zu geben schien, wurde für die eigenen Forderungen und gegen die Symbole der herrschenden Gegenwartsordnung umso militanter gekämpft. Gerade das Gefühl der Ausweglosigkeit, das die »No-­ Future«-Stimmung vermittelte, so der paradoxe Zusammenhang, trieb zum Handeln an. Die sozialen Makroprozesse, die sich ab Ende der 1970er Jahre in Ausbildungsplatzmangel, Jugendarbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Auflösung der 128 Lindner, Jugendprotest, S. 372. 129 Refrain aus dem Lied »Ein Jahr (Es geht voran)« auf dem Album: Monarchie und Alltag, Köln 1980. Eindrücklich beschrieb ein junger Berliner Hausbesetzer seine erste Erfahrung mit der militanten agency der Bewegung als radikal lebensveränderndes Erlebnis: »Die Ereignisse im Dezember 1980 waren in meinem Leben der Dosenöffner; innerhalb kurzer Zeit bekam ich sowohl eine klare Richtung als auch einen Raketenantrieb verpasst. […] Die Explosion der politischen Bemühungen zur machtvollen Bewegung, die mich gleichzeitig sozialisierte, war etwas, was vermutlich so nur einmal im Leben passieren kann. […] Das Einzigartige an diesem [dem 12. Dezember] und den folgenden Tagen aber war das Gefühl, die Gewissheit, dass dies erst der Anfang war: Der Startschuss für eine ganz große Sache, das erste Kollern einer mächtigen Lawine. Nicht zufällig wurde später einer der Bewegungs-Hits das (eigentlich ironisch gemeinte) Fehlfarben-Lied ›Es geht voran‹.« (Zitiert nach: AG Grauwacke, Autonome, S. 40).

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traditionellen Sozialmilieus manifestierten, bereiteten die materielle Grundlage für die allgemeinen Krisenängste und die sich ab Mitte der 1970er Jahre verankernde »No-Future«-Stimmung. Deshalb aber die »Jugendrevolte« in der Bundesrepublik und der Schweiz als klassischen Krisenprotest zu interpretieren, wäre vorschnell und verkürzt. Handelte es sich angesichts der akuten Wohnungsnot in den westdeutschen Großstädten beim Konflikt um besetzte Häuser und autonome Jugendzentren zwar real um materielle Verteilungskämpfe, so trat als handlungsanleitendes Motiv des Aufbegehrens dennoch meist Anderes in den Vordergrund: Es ging den jugendlichen Hausbesetzern nicht primär um die Wohnungsfrage als solche, sondern um die Möglichkeiten der sofortigen »Autonomie« und »Selbstverwirklichung«, die die einmal okkupierten Räume versprachen. Abschließend lässt sich das chronopolitische Programm der »Jugendrevolte« und der aus ihr hervorgegangenen Autonomen als militanter Präsentismus130 charakterisieren. Die »Spontaneität und neue Unmittelbarkeit«131, die schon seit den 1970er Jahren das alternative Milieu geprägt hatte, radikalisierte sich Anfang der 1980er durch das Ineinandergreifen des »No-Future«-Syndroms und der Konfrontation mit der Staatsmacht bei einem Teil der Post-Boom-Jugend zu einer Haltung, die nicht mehr nach großen Zukunftsutopien strebte, sondern sämtliche Ziele und Forderungen ganz in die unmittelbare Gegenwart verlegte, diese dafür aber umso kompromissloser und mit umso militanteren Mitteln einforderte und zu verwirklichen suchte. Der in der autonomen Szene beliebte Slogan »Der Stein bestimmt das Bewusstsein«132, bringt dieses Verhältnis zur Militanz auf den Punkt. Mit Blick auf die Züricher Opernhauskrawalle beschrieb ein Artikel in der radikal die chronopolitische Dimension der »Jugendrevolte« mit folgenden Worten: 130 Ich beziehe mich mit diesem Begriff – ausgehend von Hartogs »Präsentismus« – auf Jörg Bopp und Fernando Esposito. Bopp spricht mit Hinblick auf das »Hier-und-Jetzt-Denken« der »Jugendrevolte« von einem »kämpferischen Pragmatismus« (Trauer Power, S. 163). Dieses Konzept wird dem zu beschreibenden Phänomen allerdings nur bedingt gerecht. Pragmatisch wäre eine Politik, die sich darauf konzentriert, erfüllbare Forderungen zu stellen, Kompromisse einzugehen und das Maximum an erreichbaren Ver­ änderungen innerhalb der gegenwärtigen Ordnung zu erkämpfen. Genau das tat die »Jugendrevolte« aber nicht – sie forderte das Unmögliche, und zwar subito. Dabei war sie, zumindest potentiell, bereit mit allen verfügbaren Mitteln »gegen das System« zu kämpfen und die Machtfrage – also die Frage, wer die Gegenwart gestalten kann – zu stellen. In den Autonomie-Thesen steht dazu: »keinen dialog mit der macht! wir stellen nur forderungen, die die macht nicht erfüllen kann oder die ganz, irrational‹ sind«. (In: radikal TUWAT-Extra 97 (August 1981), S. 10). Esposito schreibt in Anknüpfung an Bopp, das »jugendliche Engagement der frühen 1980er Jahre stellt sich indes gerade nicht als Kampf für eine bessere Zukunft dar« und schlägt in diesem Zusammenhang den Begriff des »Präsentismus« vor (No Future, S. 107). 131 Reichardt, Authentizität, S. 55. 132 Vgl.: Lindner, Jugendprotest, S. 389.

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Abb. 3: »We want the world and we want it now«, radikal 111 (1982), S. 16. Die Flamme hat sich an der Wut im Herzen der verlorenen Kinder eines Paradieses entzündet, das für sie nichts weiter als die Erfahrung von der Hölle ist. […] Ihre Hoffnungen richten sie nicht auf eine ferne Zukunft, denn sie haben keine. Im Hier und Jetzt der Gegenwart erfüllen sich ihre Wünsche oder ihr Haß.133

Das Wesen dieser Bewegung lag also auch in ihrer Selbstwahrnehmung in einer radikalen Gegenwartsbezogenheit, die keinerlei Kompromisse und erst recht keinen Aufschub zuließ. Die Jugendlichen forderten alles oder nichts, und das jetzt oder nie: Die Generation, die heute die unkontrollierten Bewegungen in Kreuzbergs Straßenschluchten trägt, verfügt nicht mehr über die Illusion eines utopischen Morgens, 133 O. A., Züricher Nächte: Der Potlatch der Zerstörung, in: radikal 93 (Juni 1981), S. 18.

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Lukas J. Hezel

einer wie immer gearteten sozialistischen Alternative zum Bestehenden. […] Was gibt es zu verlieren, wo es kein Morgen gibt? Die alten Kategorien greifen nicht mehr, sie begreifen nichts. […] Was heute ›gewalttätig‹ sich artikuliert, was ist es anderes als der Schrei nach unserer Atem-Luft, der Schrei nach unserer Identität, der Kriegsschrei der unkontrollierten Bewegungen, die nicht mehr zurück, sondern nur noch nach vorne rennen können?134

Die »alten Kategorien« griffen nicht mehr – und damit waren offensichtlich sowohl die Kategorien »der Herrschenden« (das Fortschritts- und Wohlstandsnarrativ des Nachkriegsbooms), als auch die Gegenentwürfe vorangegangener Protestgenerationen gemeint (die Zukunftshoffnungen der Arbeiterbewegung, der 1968er und der K-Gruppen). Quasi zur Agenda erhoben wurde der militante Präsentismus in den Auto­ nomie-Thesen, die den Inhalt der Militanz auf den Begriff brachten: »vielleicht ist freiheit nur der kurze moment, wo der pflasterstein in die hand genommen wird, bis zum zeitpunkt wo er auftrifft, d. h. der moment der veränderung, der grenzüberschreitung, der bewegung.«135 Es ging also um das augenblickliche Erlebnis, um die Emanzipation nicht als Gesellschaftsveränderung, sondern um das flüchtige »feeling« von agency inmitten der ansonsten trostlosen Zukunftslosigkeit. Dieses euphorische Gefühl wurde erzeugt durch die Militanz, aber konnte eben auch nur so lange anhalten, wie die konkrete Erfahrung selbst, weswegen diese immer wieder reproduziert werden musste. Nur so konnte dem bedrückenden Gefühl der Ohnmacht vor dem dunklen Zukunftshorizont der 1980er Jahre immer wieder für einen kurzen Augenblick entkommen werden.

134 O. A., »Chaos« und »Vernunft«. Die Ereignisse werfen Schatten, in: radikal EXTRABLATT (Dezember 1980), S. 2. 135 O. A., Anarchie als Minimalforderung, in: radikal TUWAT-Extra 97 (August 1981), S. 10.

Silke Mende

Das »Momo«-Syndrom Zeitvorstellungen im alternativen Milieu und in den »neuen« Protestbewegungen

In zuender, dem inzwischen wieder eingestellten Online-Jugendmagazin der Zeit, erinnerte sich Patrick Kennedy Mitte der 2000er Jahre an seine bundes­ republikanische Kindheit in den 1980er Jahren. Für Bücher habe man sich kaum interessiert, stattdessen für amerikanische Serienstars, das A-Team oder Ein Colt für alle Fälle: Nur ein deutscher Autor regte unsere Phantasie an – Michael Ende. Mitte der achtziger Jahre schien er überall zu sein. Seine Bücher wurden zu jedem Kindergeburtstag verschenkt, Jim Knopf und Momo kamen per Augsburger Puppenkiste ins Fernsehen, und Die Unendliche Geschichte war neben ET und Dirty Dancing einer der größten Filmerfolge des Jahrzehnts.1

Vor allem Momo – »die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte«2, so der Untertitel – hatte es dem Autor und seinen Freunden angetan: Momo raubte mir Gewissheiten. Vielleicht lag das an den seltsamen Überlegungen über die Zeit und darüber, was die Menschen mit ihr machten. Tocotronic sangen einmal ›Michael Ende nur du bist schuld daran / Daß aus uns nichts werden kann / Du hast uns mit deinen Tricks / Aus der Gesellschaft ausgeXt‹. Keine Ahnung, ob das stimmt. Aber dieser Roman passt gut hinein in viele Leben, die einsam und orientierungslos sind.3

Während sich eine Beobachterin an das »Hermann-Hesse-Fieber vergangener Jahre«4 erinnert fühlte, machte Momo keinesfalls an den Schwellen bundesdeutscher Kinderzimmer halt. Das 1973 erschienene Buch erlebte vor allem am Übergang zu den 1980er Jahren einen überwältigenden Erfolg, und zwar welt1 Patrick Kennedy, Die Zeit anhalten und literweise Karamalz trinken (URL: http://www. zeit.de/zuender/quelltexte/2006-52-michael-ende-momo, zuletzt eingesehen am 10.3.2016), [Hervorhb. i. Orig.]. 2 Michael Ende, Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen-Roman, Stuttgart 1973. 3 Kennedy, Die Zeit anhalten, [Hervorhb. i. Orig.]. 4 Ulrike Schultheis, in: Michael Ende zum 50. Geburtstag, Stuttgart 1981² (Erstaufl.: 1979), hier: S. 60.

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weit: Es wurde in über zwanzig Sprachen übersetzt und in West wie Ost sowie darüber hinaus gelesen. Im Sommer 1980 betrug seine Auflage bereits 1,3 Millionen Exemplare5, sechs Jahre später, zum öffentlichkeitswirksamen Start der Kinoverfilmung, waren es 1,6 Millionen6. Gleichzeitig wurde das von seinem Autor als »Märchen-Roman« apostrophierte Kinder- und Jugendbuch auch zu einem Referenzwerk für Erwachsene. In der Leserschaft, so bemerkte der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger säuerlich, dominierten eindeutig die Achtzehn- bis Fünfundzwanzig- oder auch Dreißigjährigen. Wer in einem Seminar – und es braucht kein germanistisches zu sein! – auf Momo zu sprechen kommt, kann damit rechnen, daß wenigstens ein Drittel der Teilnehmer das Buch nicht nur vom Hörensagen kennt, sondern gelesen hat. Und: wenn er mit ein paar raschen, womöglich ironischen Bemerkungen über das ›Kinderbuch‹ zur Tagesordnung zurückführen möchte, wird er bei der Mehrzahl dieser Leser entschiedenem Protest begegnen. Momo ist für sie ganz offensichtlich nicht irgendeine beliebige Geschichte, sondern eines der wenigen Bücher, mit denen sie umgehen und leben.7

So wurde Momo  – das vom Zeit-Diebstahl der »grauen Herren« sowie vom ebenso liebenswerten wie phantasievollen Waisenmädchen Momo handelt, das dem modernen, gehetzten Menschen wieder die Muße zurückbringt – zu einem regelrechten Topos, der für die Kritik an einer Vielzahl zeitgenössischer Missstände herangezogen wurde. Diese reichten von Rationalisierung und Technikfixiertheit über Entfremdung und Beschleunigung bis hin zur generellen Diagnose »Zeit-Armut« und Chronokratie8. Mit Memento Momo überschrieb etwa Ulrich Greiner einen Artikel, der im April 1991 in der Zeit erschien und 5 Diese Angabe bei: Ulrich Greiner, Ende und kein Ende. Die unsägliche Geschichte, in: Die Zeit 15 (1984) (URL: http://www.zeit.de/1984/15/ende-und-kein-ende/komplettansicht, zuletzt eingesehen am 10.3.2016). 6 Diese Angabe bei: Urs Jenny, Durch die Blume, in: Der Spiegel 29 (1986), S. 146; Birgit Dankert, Michael Ende. Gefangen in Phantásien, Darmstadt 2016, S. 164. Dankert gibt für 2015 46 Auslandslizenznehmer in ebenso vielen Sprachen und insgesamt 9,6 Millionen verkaufte Exemplare an. 7 Hermann Bausinger, Momo. Ein Versuch über politliterarische Placeboeffekte, in: Wilfried Barner/Martin Gregor-Dellin/Peter Härtling u. a. (Hrsg.), Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag, München 1983, S. 137–145, hier S. 138 f. Als Beispiele für die zahlreichen (teils bereits zeitgenössischen) wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Michael Endes Büchern und insbesondere Momo: Christian von Wernsdorff, Bilder gegen das Nichts. Zur Wiederkehr der Romantik bei Michael Ende und Peter Handke, Neuss 1983; Gernot Böhme, Zeitphilosophie in Michael Endes »Momo«, in: Gerhard Gamm/Alfred Nordmann/Eva Schürmann (Hrsg.), Philosophie im Spiegel der Literatur, Hamburg 2007, S. 79–89. 8 Auch ein Beitrag von Dietmar Süß, der sich mit Flexibilisierung von Arbeit in den 1970er und 1980er Jahren beschäftigt, wählt Momo und die »grauen Herren« als Aufhänger für seine Ausführungen: Dietmar Süß, Der Sieg der grauen Herren? Flexibilisierung und der Kampf um Zeit in den 1970er und 1980er Jahren, in: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz­ Raphael/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 109–127.

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wenige Monate nach der Deutschen Einheit über »deutsch-deutsche Zeitunterschiede« reflektierte. Aus westdeutscher Perspektive hielt der damalige Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung fest: Die früher erwünschte und nunmehr erzwungene Begegnung mit dem anderen Deutschland kann uns nämlich bewußtmachen, wie groß die Beschleunigung ist, die unser ganzes Leben immer schneller gemacht hat. […] Die immerzu steigende Produktivität bei immerzu sinkender Arbeitsdauer verdankt sich ja auch einem stetig wachsenden Arbeitstempo. Die neuen Kommunikationsapparate, vom Anrufbeantworter bis zum Fernkopierer, vom Autotelephon bis zum Teletext, sind Beschleunigungsapparate. Sie erlauben und erfordern es, vieles zugleich zu tun. Der zeitgemäße Westmensch flippt durch drei Fernsehprogramme, während er ein viertes aufzeichnet, während er die Pizza vom Pizzaservice verzehrt und rasch noch einen Anruf tätigt. Das Diktat der Zeiteffizienz ist im Westen total. Wozu sonst gäbe es sekundengenaue Digitaluhren zum Preis einer Kinokarte, wenn nicht dazu, die Zeiteinheiten zu verkleinern und nutzbar zu machen.9

Dennoch vermag er gleich im Anschluss daran, eine Art mentaler Gegenbewegung auszumachen: Der überwältigende Erfolg, den Michael Ende mit seinem Roman ›Momo‹, diesem Märchen von den grauen Herren aus der Zeitsparkasse, erzielt hat, verrät die Sehnsucht nach jener Zeit, die durch den permanenten Zeitgewinn verlorengegangen ist.10

Was sagt uns dieser erstaunliche Erfolg eines Kinder- und Jugendbuches über den zeithistorischen Kontext seiner Entstehung und seiner größten Konjunktur, den Zeitraum von den 1970er bis zu den frühen 1990er Jahren? Und für welche und vor allem für wessen Zeit- und Zukunftsvorstellungen ist er exemplarisch? Betrachtet man die zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit dem Buch und seinem Autor Michael Ende näher, dann werden immer wieder Bezüge zu einem spezifischen Milieu sichtbar, für dessen Sehnsüchte und Gegenwartswahrnehmungen die emphatische Rezeption des Bestsellers sinnbildlich zu sein scheint: Eine zunächst vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen geprägte Alternativkultur, die den Verheißungen einer planerischen Moderne zutiefst skeptisch gegenüberstand, sekundiert von manchmal in die Jahre gekommenen Gegenwartskritikern jeglicher Couleur, die schon länger ganz ähnliche Zweifel gegenüber den Funktionsprinzipien der zeitgenössischen Industriegesellschaft hegten. Der zeithistorische Ort ihres Zusammentreffens war oftmals die in den 1970er und 1980er Jahren aus dem Boden sprießende Welt der Bürgerund Basisinitiativen, die sich vor allem den neu auf die politische Tagesordnung drängenden Themen wie Umwelt und Frieden, Frauen und »Dritte Welt« sowie alternativen Arbeits- und Lebensformen im Allgemeinen zuwandten. Die zeit9 Ulrich Greiner, Memento Momo. Deutsch-deutsche Zeitunterschiede, in: Die Zeit 15 (1991) (URL: http://www.zeit.de/1991/15/memento-momo, zuletzt eingesehen am 10.3.2016). 10 Ebd.

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genössischen Sozialwissenschaften belegten sie rasch mit dem Terminus »Neue Soziale Bewegungen« und betonten damit die Abgrenzung zu den »alten« Bewegungen des Industriezeitalters, vor allem der Arbeiterbewegung. Ihren parteipolitischen Niederschlag fanden sie – freilich ohne gänzlich darin aufzugehen – in der sich seit Mitte der 1970er Jahre formierenden grünen Partei. Ausgehend vom Syndrom »Momo«, das sich in Teilen als ein grün-alternatives charakterisieren lässt, fragt der Beitrag zum einen nach den Zeit-Diagnosen (im doppelten Wortsinn) dieser heterogenen, aber dennoch durch eine Reihe spezifischer Wert- und Ordnungsvorstellungen geprägten Klientel. Zum anderen sucht er diese mit übergreifenden Tendenzen des Zeit-Empfindens in der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre in Bezug zu setzen. Das »Momo«-Syndrom fungiert in dieser Hinsicht als eine Art Sonde, die es erlaubt, einen mentalitätsgeschichtlichen Wandel näher zu beschreiben, der in diesem Zeitraum Teile der bundesdeutschen Gesellschaft prägte und in dessen Zentrum sich das zeitgleich entstehende grün-alternative Milieu befand. Ausgehend von Buch und Autor soll dieses Akteursfeld deshalb in einem ersten Teil umrissen und seine Verbindungen, aber auch Abgrenzungen zu anderen Gruppenzusammenhängen näher erläutert werden (1). Davon lässt sich eine Reihe von Spannungsfeldern exemplarisch ableiten, welche das Verhältnis der Protestbewegungen zu den miteinander verwobenen Kategorien »Zeit«, »Zukunft« und »Fortschritt« charakterisierten. Das ist zunächst der konkrete zeithistorische Kontext der Technik- und Planungskritik, der angesichts zunehmender Sorgen um Umwelt und Frieden eng mit zeitgenössischen, mitunter apokalyptisch grundierten Krisen-Diagnosen verknüpft war (2). Daran anschließend werden unterschiedliche grün-alternative Vorstellungen von »Fortschritt« und »Zukunft« betrachtet (3). Abschließend wird diskutiert, ob und inwiefern die skizzierten grün-alternativen Zeit-Diagnosen möglicherweise Indizien für einen darüber hinaus gehenden »Zeitenwandel nach dem Boom« darstellen.

»Unbestimmter Gefühlsstrom« unter Eskapismusverdacht: Momo und das grün-alternative Milieu Bereits vor den späten 1970er Jahren fanden Michael Endes Bücher im spezifischen Bereich der Kinder- und Jugendbuchliteratur Aufmerksamkeit und hatten im In- und Ausland beträchtlichen Erfolg, so auch Momo, das 1974 anlässlich der Verleihung des Deutschen Jugendbuchpreises als eines der »schönsten und wichtigsten Kinderbücher« bezeichnet wurde, »die in den letzten Jahren geschrieben« worden sind11. Dennoch trat das Buch erst einige Jahre später aus diesem begrenzten Kosmos heraus, erlangte höhere Auflagenzahlen 11 Barbara von Ikering, Zahm ist nicht lahm. Literatur – auch für Erwachsene, in: Die Zeit, 26.7.1974, S. 17.

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und interessierte weitere, erwachsenere Leserschichten. Einerseits lag dies gewiss am Welterfolg von Michael Endes neuem, 1979 veröffentlichten Roman: Im Kielwasser der Unendlichen Geschichte, in deren Zentrum das vom »Nichts« bedrohte Reich »Phantásien« steht, erhielt auch Momo erneuten buchhändlerischen und publizistischen Auftrieb12. Andererseits boten beide Bücher zusammengenommen eine dankbare Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte, vor allem aber Ängste und Bedrohungsgefühle, die an der Wende zu den 1980er Jahren die bundesdeutsche Gesellschaft umtrieben. Im Kontext gestiegener Umweltsorgen, Anti-Atomkraft-Protesten und Nachrüstungsbeschluss auf der einen, Wirtschaftskrise und Rationalisierung der Arbeitsverhältnisse bei gleichzeitig steigender Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite, schienen sie den Finger in die Wunde der im Laufe der 1970er Jahre unsicher gewordenen westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu legen. Ganz ähnlich beschrieb es der bereits eingangs zitierte Journalist Ulrich Greiner, der 1984 mit Blick auf Michael Ende und den Rummel um dessen »weltberühmte Sinngebungsromane« festhielt: Dann aber kam die Zeit, in der das latente Krisengefühl ins vielberedete Krisenbewußtsein unserer achtziger Jahre ausbrach. Plötzlich richtete sich das Augenmerk auf die apokalyptischen Wandbilder, die vor allen Horizonten standen. Fortschritt, Wissenschaft, Technik erschienen nur mehr als Menetekel. Und weil der rationale Diskurs in eine Sackgasse zu führen schien, wandte sich das Interesse alten Mythen und fremden Religionen zu. […] Wir lesen nicht mehr Habermas und Adorno, sondern Lévi-Strauss und Leiris und die ethnologischen Berichte. Die Bestsellerlisten werden beherrscht von Umberto Eco, dem gescheiten Kompilator des Mittelalters, und von Michael Ende. Wir leben in einer Zeit der Allegorien, Reprisen und Eklektizismen.13

Auch wenn dies auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint, fügt sich der Name des Kinder- und Jugendbuchautors, der dieses Etikett selbst zeitlebens als verengend empfand, recht gut in diese Aufzählung ein. Der 1929 geborene Sohn des surrealistischen Malers Edgar Ende verortete sein Werk ebenfalls in dieser Stilrichtung, wenn auch in einem weiter gefassten Sinne, denn dann ist er [der Begriff Surrealismus, d. Vf.] eigentlich nur ein anderes Wort für ›magisches Weltbild‹, das dem Positivismus und dem rein intellektualistischen Materialismus entgegengesetzt wird. In diesem Sinne betrachte ich mich durchaus als einen Vertreter des Surrealismus.14 12 Fabel für eine bedrohte Welt. Wilhelm Bittorf über die Verfilmung des Buches »Die unendliche Geschichte«, in: Der Spiegel 37 (1983), S. 130. So auch Dankert, Michael Ende, S. 164. 13 Greiner, Ende und kein Ende. Ähnlich argumentiert aus einer positiven Warte heraus der Märchenforscher Walter Scherf, Zwiesprache mit dem einsamen Kind in sich, in: Michael Ende zum 50. Geburtstag, S. 44 f. 14 Zit. aus einem Brief Michael Endes, in: Reinbert Tabbert, Jim Knopf, Michael Ende und die Lust am Funktionieren, in: Michael Ende zum 50. Geburtstag, S. 13–35, hier S. 31.

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Endes Anfang der 1980er Jahre so populäre Auseinandersetzung mit der ZeitThematik, so bemerkte eine Beobachterin treffend, findet sich indes bereits zuvor und ist ein beharrliches Grundmotiv seines Werks: Diese zeitkritische Haltung spürt der Leser in allen Ende-Büchern. Sogar in seinen Geschichten für die Kleinen taucht das Zeitmotiv auf: In Lummerland (»Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer«) führen alle Bewohner ein beschauliches Leben. Jeder einzelne hat seinen eigenen, ihm angemessenen Lebens- und Arbeitsrhythmus, der auch vom König dem Viertel-vor-Zwölften anerkannt wird. Und sogar die Schildkröte Tranquilla Trampeltreu in dem gleichnamigen Bilderbuch kommt trotz ihrer Langsamkeit rechtzeitig zu ihrem Ziel. Auch Michael Endes neuer Roman ›Die unendliche Geschichte‹ beschäftigt sich mit dem Zeitmotiv. Die Erzählung spielt in ›Phantasien‹ [sic!], einem Reich, das losgelöst von unseren Zeitbegriffen ist. In dem Märchenroman ›Momo‹ wird die Zeit zum Generalthema.15

Weltanschaulich lässt sich Ende dagegen nur schwerlich fest verorten: Ausgehend von seinem Elternhaus pflegte er zeitlebens eine Nähe zur Anthroposophie und der ihr nahestehenden Christengemeinschaft, die ihn nach dem Zweiten Weltkrieg zum Abschluss seiner Schullaufbahn zwei Jahre an die renommierte Stuttgarter Waldorfschule führte und die er offenbar vor allem in seinen späten Jahren – er starb 1995 in der anthroposophisch ausgerichteten Filderklinik bei Stuttgart – wieder stärker pflegte16. Auch zu den politischen Ausläufern der Anthroposophie gab es Berührungspunkte. Durch seine erste Frau, die Schauspielerin Ingeborg Hoffmann, fand er in den 1960er Jahren kurzzeitig zur »Humanistischen Union«, einer Bürgerrechtsvereinigung17. Darüber hinaus beschäftigte er sich intensiv mit der von Rudolf Steiner stammenden Dreigliederungslehre sowie der ebenfalls in anthroposophischen Kreisen stark rezipierten Geldwerttheorie Silvio Gesells18. Seine diesbezüglichen Ansichten ebenso wie eine mit dem Welterfolg seiner Bücher deutlich zunehmende Inszenierung als Schriftsteller mit aktuellem gesellschaftspolitischem Anspruch werden exemplarisch in einem Gespräch mit dem ebenfalls der Anthroposophie, aber auch den Protestbewegungen und den Grünen nahestehenden Künstler J­ oseph Beuys deutlich, das im Februar 1985 in der Freien Volkshochschule Wangen vor großem Publikum geführt und später als Buch veröffentlicht wurde19. 15 Schultheis, in: Michael Ende zum 50. Geburtstag, S. 49 f. 16 Vgl. Dankert, Michael Ende, v. a. S. 53–59, 243 u. 268–270. 17 Rainer Rappmann, Vorbemerkung, in: Kunst und Politik. Ein Gespräch, Wangen 1989, S. 5–9, hier S. 6 sowie Dankert, Michael Ende, S. 82. 18 Vgl. dazu etwa Endes Ausführungen in: Erhard Eppler/Michael Ende/Hanne Tächl, Phantasie, Kultur, Politik. Protokoll eines Gesprächs, Stuttgart 1982, S.  42–45, sowie S.  120; außerdem Dankert, Michael Ende, S.  165. Als Beispiel für die umgekehrte Indienstnahme durch den Gesell’schen Überlegungen nahestehende Ökonomen vgl. Werner Onken, MOMO für Ökonomen. Ein Reiseführer in die Welt von morgen, in: Fragen der Freiheit 30 (1986), Heft 183, S. 42–55. 19 Kunst und Politik. Ein Gespräch, Wangen 1989.

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Mit diesen und ähnlichen Auftritten befeuerte der von den Medien inzwischen als »deutscher Tolkien«20 gefeierte oder als »sanfter Grübler und Guru«21 charakterisierte Michael Ende entsprechende Vereinnahmungen als populärer Zeitkritiker. Wie seine Biographin betont, kokettierte der recht eitle, sich vom bundesdeutschen Kultur-Establishment stets zurückgewiesen fühlende Autor zusehends mit seiner ihm zugeschriebenen gesellschaftspolitischen Rolle. Er bot ihr auch bewusst Nahrung, indem er selbst die vermeintliche Nähe seiner Bücher zu zeitgenössischen Themen und Protestbewegungen betonte22. In einem mehrtägigen Gespräch über »Phantasie, Kultur, Politik«, das sein Verlag – Thienemann aus Stuttgart – Anfang Februar 1982 an seinem italienischen Wohnsitz in den Albaner Bergen organisierte und an dem unter anderem Erhard Eppler – sozialdemokratische Ikone der Umwelt- und Friedensbewegung – teilnahm, betonte er zwar, dass er »beim Schreiben der Momo eigentlich gar nicht die Absicht [hatte], eine solche Gesellschaftskritik anzubringen.«23 Dennoch brüstete er sich im selben Gespräch damit, dass »ein großer Teil der Leute, die nach Bonn [zur Demonstration der Friedensbewegung im Bonner Hofgarten am 10. Oktober 1981; Anm. d. Vf.] marschiert sind, die Momo oder die un­ endliche Geschichte unter dem Arm trugen.«24 Indiz für seine Beliebtheit in ebendiesem Milieu ist zudem, dass Endes »Villa Liocorno« in Genzano bei Rom nach dem Erscheinen seiner beiden Erfolgs­ romane zum populären Ziel von Bewunderern und »Rucksacktouristen der alternativen Szene« wurde25. Ein Bericht in Ästhetik und Kommunikation, jener Zeitschrift die sowohl für ihre Nähe zum linksalternativen Milieu als auch für dessen schonungslos-ironische Beschreibung bekannt war, schildert eindringlich die Rezeption Momos in diesen Kreisen. Die folgende Szene erscheint derart paradigmatisch für die dort dominante Gedanken- und Gefühlswelt zu Beginn der 1980er Jahre, dass sie ausführlich wiedergegeben sei: Berlin im Spätherbst. Ein Bekannter hatte zu einer Fête eingeladen. Die meisten tanzten, wir – von Zeitnot geplagte Studenten und arbeitslose Akademiker – unterhielten uns über die soziale Konstitution abendländischer Temporalstrukturen und deren Internalisierung durch das Subjekt. Nach einigen Stunden exemplarischen Lernens und wissenschaftlicher Kommunikation hatten wir einen Konsens erzielt. Auf unserer intellektuellen Anklagebank hatten Repräsentanten der modernen Zivilisation von Rang und Namen Platz genommen, Fortschrittsvertreter, die der Zeitdisziplinierung und des Zeitdiebstahls beschuldigt und überführt worden waren: das jüdischchristliche Denken, das Militär, die modernen Naturwissenschaften, die Pädagogik 20 Jürgen Lodemann, Träume vom Nachtwald Perelin, in: Die Zeit 47 (1979) (URL: http:// www.zeit.de/1979/47/traeume-vom-nachtwald-perelin/komplettansicht, zuletzt einge­ sehen am 10.3.2016). 21 Greiner, Ende und kein Ende. 22 Vgl. Dankert, Michael Ende, S. 208 f. 23 Michael Ende, zit. in: Eppler/Ende/Tächl, Phantasie, Kultur, Politik, S. 123. 24 Ders., zit. in: Ebd., S. 119. 25 Dankert, Michael Ende, S. 151 f.

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und als Hauptangeklagter, wie immer, das Kapital, das die Rationalität der einzelnen Lebensbereiche zur gesellschaftlichen Totalität aufgespreizt hat. Und wir, die Individuen, umstellt von und ausgeliefert diesem Verblendungszusammenhang, haben keine Fluchtmöglichkeiten mehr, es sei denn, wie jemand, des Adorno’schen mächtig, klug und bebrillt bemerkte, wir begegnetem [sic!] dem Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts durch unaufhaltsame Regression. Sichtlich befriedigt über das Niveau unserer Diskussionen, wollten einige nunmehr ihren körperlichen Bedürfnissen nach Bewegung und Zärtlichkeit Geltung verschaffen (für Außenstehende: sie wollten Tanzen gehen). Andere zogen es vor, Nudelsalat von den bereitgestellten Papptellern zu speisen und weiter zu trinken. Eine junge Frau, die uns, ans Spülbecken gelehnt, zwischendurch zugehört hatte, störte plötzlich unsere Eintracht, indem sie spitz und unverblümt sagte: »Ihr theoretischen Laberfritzen! Alles, was ihr hier so entwickelt habt, könnt ihr in ›Momo‹ nachlesen, nur viel schöner und hoffnungsvoller.« Das war die erste, mir bis heute unangenehme Begegnung mit »MOMO«.26

Doch, konfrontiert mit der Lektüre des Bestsellers, erlebte der Autor des Artikels eine Läuterung, denn er spürte, »daß Momo mehr ist als ein Buch, es ist eine Haltung in mir (uns), es ist eine Hoffnung, eine Hoffnung auf Erlösung, eine Sehnsucht nach einem anderen, neuen Leben voller Muße und Phantasie.«27 Die hier beispielhaft von einer West-Berliner Wohnküche ihren Ausgang nehmende Katharsis steht geradezu sinnbildlich für einen Wandlungsprozess, den das alternative und zunehmend politisch ergrünende Milieu der Bundesrepublik seit Mitte der 1970er Jahre durchlief und der es in markanten Punkten von seinen Vorläufern auf der politischen Linken unterschied. Es war die »Generation, die nach der Revolte« kam28. Diese treffende Formulierung des damaligen Spontis und damit selbst dieser Gruppe zugehörigen Reinhard Mohr lenkt den Blick auf die Unterschiede zwischen 1968ern und 1978ern: Hier die zukunftsgewissen, mit hochfliegenden und universellen Veränderungsansprüchen ausgestatteten Akteure von APO und Studentenbewegung, zwar im Clinch mit »Establishment« und »Muff von tausend Jahren«, aber trotz allem immer noch »geborgen im gesicherten Fortschritt«29 der Wirtschaftswunderzeit – dort die von vielfältigen Krisenszenarien und mangelnden Beschäftigungsperspektiven gebeutelte Generation von Grohnde und Gorleben, deren Fortschrittsglaube bereits gehörig angeknackst war und die sich allenfalls einer »konkreten Utopie«, der zeitnahen Verwirklichung von handlicheren Ideen im Hier und Jetzt, 26 Thomas Weymar, Momos Ende, in: Ästhetik & Kommunikation 45/46 (1981), S. 47–50, hier S. 47. 27 Ebd., S. 49. 28 Reinhard Mohr, Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam, Frankfurt a. M. 1992. 29 Die Formulierung ist angelehnt an Gabriele Metzler, »Geborgenheit im gesicherten Fortschritt«. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, S. 777–797.

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verschreiben wollte30. Gleichzeitig legten letztere eine zunehmende Skepsis gegenüber der Theoriefixiertheit ihrer Vorgänger an den Tag und suchten komplexen Problemen mithilfe von vermeintlich einfachen, manchmal spirituell-esoterisch inspirierten Zugängen auf den Leib zu rücken31. Ein wenig klingt in der oben ausführlich wiedergegebenen, von Thomas Weymar erzählten Szene jedoch auch das Unbehagen an, mit dem die Betroffenen zuweilen selbst ihre eigene Wandlung beobachteten. Umso skeptischer, ja teils ablehnend standen ihr jene gegenüber, die sie gar nicht mitvollzogen: Das waren meist der traditionellen Linken angehörige Beobachter, die sich selbst weiterhin klassisch linken Glaubenssätzen verpflichtet fühlten und Kategorien wie »Arbeit«, »Kapital« und »Klasse« sowie Themen und Anliegen rund um »Ungleichheit« und »Armut« hochhielten32. Für die vermeintliche Harmoniesehnsucht und Weltflucht der Jüngeren, die sich politisch zunehmend jenseits klassischer Spielarten des orthodoxen wie des undogmatischen Sozialismus bewegten, hatten sie häufig kaum mehr als Sorge oder gar Spott übrig. Entsprechend gerieten auch der Roman Momo und sein Autor Michael Ende geradezu stellvertretend für die grün-alternativ geprägten Jugendlichen und jungen Erwachsenen zur Angriffsfläche33. Der bereits angeführte Hermann Bausinger kritisierte, dass das Buch »Elemente unserer Wirklichkeit« in einen »unbestimmten Gefühlsstrom« einschmelze. Es handele sich um »eine Erzählung, in der auch die muntersten Phantasien in Regressionen münden, ein Buch, das im romantisierenden Legendenton aus der Realität ausbricht.«34 Und zu dem oben bemerkten Schwerpunktwechsel von klassischen Kategorien der Linken und Arbeiterbewegung hin zu anderen, stärker auf Lebensqualität und immaterielle Werte zielenden Prämissen bemerkte er: Geld kommt in Endes Buch praktisch nicht vor; er malt eine Enklave aus, einen von den Sendboten härterer Wirklichkeit bedrohten Club Mediterrané [sic!] – freilich keinen der reichen Vergnügungssüchtigen, sondern ein Idyll der Armut.35 30 Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive hat Sven Reichardt die vielfältige soziale Praxis dieses Milieus untersucht: Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014; außerdem: Ders./Detlef Siegfried (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010. 31 Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, 1960–1990, München 2015. 32 Dies lässt sich mit übergeordneten Transformationsprozessen innerhalb der westeuropäischen Linken in Bezug setzen. Vgl. Silke Mende, »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, v. a. S. 419–427. 33 Die Auseinandersetzungen zwischen Michael Ende und »linken, auf Realismus eingestellten Kritiker[n] der Kinder- und Jugendbuchliteratur« beschreibt Birgit Dankert als »Eskapismusstreit«. Vgl. Dankert, Michael Ende, S. 142–176, Zitate: S. 144. 34 Bausinger, Momo, S. 137. 35 Ebd., S. 140.

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Erich Kuby wiederum, der die Unendliche Geschichte 1981 in der konkret mit ganz ähnlichen Argumenten einer äußerst kritischen Besprechung unterzog, hielt mit Blick auf Momo zwar immerhin fest, dass in dessen märchenhafter Sauce noch so etwas wie ein konkretes ›Anliegen‹ herumschwimmt: Freunde, durch Eure Unrast lebt ihr am Leben vorbei. Nicht gerade eine welterschütternde Erkenntnis, aber immerhin ein Buch mit einem aktuell vermeß­ baren Inhalt.

Dennoch beobachtete er bei den Ende-Jüngern eine merkwürdige, die etablierten politischen Lager, Klassen und Generationen überspannende Allianz: »Sein Publikum reicht von rechts bis grün (sollte es denn ein Gegensatz sein!), vom Hausbesitzer bis zum Hausbesetzer, von den Sieben- bis zu den Siebzigjährigen.«36 Tatsächlich entsprach diese Charakterisierung ziemlich genau jener auf den ersten Blick seltsamen Koalition, die zur selben Zeit in der Umwelt- und AntiAKW-, vor allem aber der Friedensbewegung zusammentraf. In Wyhl hatten sich Mitte der 1970er Jahre Freiburger Studenten an der Seite von badischen Winzern erfolgreich gegen den Bau eines Kernkraftwerkes gewehrt37, und in Brokdorf, Grohnde und Gorleben protestierten norddeutsche Bauern gemeinsam mit Hamburger Kaderleuten und Frankfurter Spontis ebenfalls gegen Großprojekte der Kernenergieindustrie. Besonders sichtbar wurde die generationelle und ideologische Vielfalt aber in der »neuen Friedensbewegung«, die im Gefolge des NATO -Doppelbeschlusses auftrat und mit ihren großen Bonner Demonstrationen am 10. Oktober 1981 und am 10. Juni 1982 allein zahlenmäßig alle anderen politischen Proteste in der Geschichte der Bundesrepublik in den Schatten stellte38. Die sich zur selben Zeit, seit dem letzten Drittel der 1970er Jahre, formierende grüne Partei wiederum war nicht nur inhaltlich und personell eng mit den neuen Protestbewegungen verzahnt, sondern repräsentierte zunächst auch deren Heterogenität und Vielstimmigkeit: Bewusst gegen etablierte politische Kategorien und Zuschreibungen gerichtet, schrieb sie sich den Slogan »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn« auf die Fahnen39.

36 Erich Kuby, Deutsches Kultbuch, in: konkret 9 (1981), S. 48 f., hier S. 49. Mit einer ähnlichen Stoßrichtung spricht der Spiegel von »Michael Ende und seiner Gemeinde«:­ »Poesie ist so wichtig wie Essen und Trinken«. Der Schriftsteller Michael Ende und seine Gemeinde, in: Der Spiegel 33 (1983), S. 132 f. 37 Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn 2006. 38 Vgl. Christoph Becker-Schaum/Philipp Gassert/Martin Klimke u. a. (Hrsg.), »Entrüstet Euch!« Nuklearkrise, Nato-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung, Paderborn u. a. 2012. 39 Mende, Nicht rechts, nicht links, sondern vorn. Dass die frühen Grünen mit dem »vorn« in ihrem Slogan teilweise ihren eigenen skeptischen Fortschrittsvorstellungen widersprachen, wird im dritten Teil des Beitrags deutlich werden.

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Die Romanfigur »Momo« – das leicht verwahrloste, aber umso liebenswerter erscheinende Waisenmädchen mit Struwwelkopf, stets barfuß sowie in Flickenrock und viel zu großer Männerjacke gewandet – erschien insofern tatsächlich als eine ideale literarische Verkörperung dieses Milieus, und das nicht nur habituell, sondern auch hinsichtlich der vorgelebten Werte: Während ihr bunter Einfallsreichtum, der nicht nur andere Kinder, sondern auch wohlmeinende Erwachsene zu begeistern vermochte, an die Parole »Die Phantasie an die Macht« der 1968er-Bewegung anknüpfen konnte, war das Kernstück ihres Wirkens – den Menschen die gestohlene Zeit zurückbringen  – geradezu sinnbildlich für viele Themen und Sorgen, die auch das grün-alternative Milieu bewegten und ihm Antrieb waren. Die Dimension »Zeit« bildete dafür in vielerlei Hinsicht eine Art überwölbende Kategorie.

»Eine Wüste der Ordnung«: Gegenwartskritik und Krisendiskurse Die grün-alternativen Zeit-Vorstellungen beruhten zunächst einmal auf einer vehementen Gegenwartskritik, welche in ihren teils diffus anmutenden Grundzügen bereits im vorhergehenden Abschnitt angeklungen ist und die es im Folgenden näher zu spezifizieren gilt40. Zunehmend gerieten einige Grundfesten industriegesellschaftlicher Ordnung ins Visier, wie sie sich seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert mit der Durchsetzung der Industriemoderne herausgebildet hatten. Ihren Ausgang nahm diese Kritik jedoch im Alltäglichen, in der Auseinandersetzung mit äußerst dringend erscheinenden Problemen der eigenen Gegenwart. Die vielen Bürger- und Basisinitiativen etwa, die seit der Wende zu den 1970er Jahren vor allem im Umweltbereich entstanden waren, beschäftigten sich zunächst mit konkret erfahrbaren Missständen vor Ort wie Luftverschmutzung und Verkehrslärm oder sie versuchten große Bauprojekte zu verhindern. Zunehmend wurden solch punktuelle Problemlagen jedoch in einen räumlich, später auch zeitlich größeren Zusammenhang gestellt. Der Bau einer Autobahn durch ein Naturschutzgebiet beispielsweise wurde nicht mehr allein als rein lokale oder regionale Angelegenheit wahrgenommen, sondern gleichzeitig als Bestandteil übergreifender »Systemzwänge« und groß angelegter Umweltzerstörung von potentiell globalem Ausmaß. Katalytische Funktion für die Ausweitung hin zu einer Art Generalkritik an der modernen Industriegesellschaft gewann in diesem Sinne vor allem ein Thema: Die Auseinandersetzung um die Atomkraft, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zum innenpoli­tischen Großthema wurde41. War die zivile Nutzung der Kern40 Die Überlegungen in den Abschnitten 2 und 3 beruhen auf: Mende, Nicht rechts, nicht links, sondern vorn, v. a. Kap. 10. 41 Zu den Dynamiken und Charakteristika der Anti-AKW-Bewegung sowie zur Symbolkraft des Kernkraftwerks vgl. etwa Andreas Pettenkofer, Die Entstehung grüner Politik. Kultursoziologie der westdeutschen Umweltbewegung, Frankfurt a. M./New York 2014.

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energie in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, auch und gerade auf Seiten der Linken, zunächst Gegenstand optimistischer Zukunftserwartungen gewesen, mit der sich die Verheißungen von Planungsdenken und technischer Steuerbarkeit verbanden, so avancierte sie ein Jahrzehnt später zum Sinnbild für die Risikoanfälligkeit technischer Großsysteme und die Vergeblichkeit menschlicher Machbarkeitsutopien. Für die Grün-Alternativen stellte sie eine symbolbeladene Reiztechnologie dar, die es erlaubte, von der Umweltthematik über eine wachsende Staatsskepsis bis hin zu einer mitunter pauschalen Zivilisationskritik ganz unterschiedliche Aspekte zu bündeln. Wie sehr sich in den Reihen der Grün-Alternativen ein tief sitzendes Unbehagen gegenüber den Ausformungen der industriegesellschaftlichen Moderne bemerkbar machte, illustriert exemplarisch folgendes Papier der Bremer Grünen Liste aus dem Jahr 1979: Wir stellen fest, daß wir zunehmend verwaltet und manipuliert werden, daß wir zu Rädchen in einem Getriebe geworden sind, das wir nicht mehr durchschauen können. […] Bislang wird in unserer Industriegesellschaft so gewirtschaftet, produziert und konsumiert, als ob man Natur, Umwelt und soziale Beziehungen unbegrenzt belasten könne. Es zählen nur noch wirtschaftliches Wachstum (gemessen an Geld) und Rentabilität. […] Annehmlichkeiten, die uns der technische Fortschritt brachte, werden zunehmend teurer. Sie werden heute schon bezahlt mit Arbeitshetze, psychischer Belastung und Gesundheitsverschleiß am Arbeitsplatz. Rationalisierung bringt Arbeitsplatzunsicherheit und Arbeitslosigkeit. […] Apparate, Maschinen und totale Planung verstellen den Weg, unser Leben selbst zu gestalten.42

Das hier greifbar werdende Gefühl der Beklommenheit gegenüber der »verwalteten Welt« ist auch ein, wenn nicht sogar das Grundmotiv in dem bei GrünAlternativen so beliebten Zeit-Roman Momo. Dort liest sich die Beschreibung der drohenden und in weiten Teilen bereits realisierten Zeit-Diktatur der »grauen Herren« ganz ähnlich: Ob einer seine Arbeit gern oder mit Liebe zur Sache tat, war unwichtig – im Gegenteil, das hielt nur auf. Wichtig war ganz allein, dass er in möglichst kurzer Zeit möglichst viel arbeitete. […] Und schließlich hatte auch die große Stadt selbst mehr und mehr ihr Aussehen verändert. Die alten Viertel wurden abgerissen und neue Häuser wurden gebaut, bei denen man alles wegließ, was nun für überflüssig galt. […] Und da alle Häuser gleich aussahen, sahen natürlich auch alle Straßen gleich aus. Und diese einförmigen Straßen wuchsen und wuchsen und dehnten sich schon schnurgerade bis zum Horizont – eine Wüste der Ordnung! Und genau so verlief auch das Leben der Menschen, die hier wohnten: schnurgerade bis zum Horizont! Denn hier war alles genau berechnet und geplant, jeder Zentimeter und jeder Augenblick. Niemand

42 Bremer Grüne Liste, Wählerinitiative Bremen/Bremerhaven. Programmentwurf Februar 1979, S. 1–3 (Archiv des Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS): Nachlass Rudi Dutschke: RUD 510,07).

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Abb. 1: »Eine Wüste der Ordnung«. Illustration aus dem Buch »Momo«. © Thienemann-Esslinger Verlag GmbH schien zu merken, dass er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, dass sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde.43

Am glücklichen Ende der Erzählung hingegen findet sich folgende Schilderung, die geradezu wie der utopische Gegenentwurf eines grün-alternativen Alltags anmutete: Und in der großen Stadt sah man, was man seit langem nicht mehr gesehen hatte: Kinder spielten mitten auf der Straße und die Autofahrer, die warten mussten, guckten lächelnd zu und manche stiegen aus und spielten einfach mit. Überall standen Leute, plauderten freundlich miteinander und erkundigten sich ausführlich nach dem ge43 Ende, Momo, S. 71 f.

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genseitigen Wohlergehen. Wer zur Arbeit ging, hatte Zeit, die Blumen in einem Fenster zu bewundern oder einen Vogel zu füttern. Und die Ärzte hatten jetzt Zeit, sich jedem ihrer Patienten ausführlich zu widmen. Die Arbeiter konnten ruhig und mit Liebe zur Sache arbeiten, denn es kam nicht mehr darauf an, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit fertig zu bringen. Jeder konnte sich zu allem so viel Zeit nehmen, wie er brauchte und haben wollte, denn von nun an war ja wieder genug davon da.44

Der Moment wiederum, in dem es Momo gelungen war die Herrschaft der »grauen Herren« zu brechen und den Menschen mit der Zeit auch die Phantasie und Freude am Leben zurückzugeben, wird schließlich folgendermaßen geschildert: »Mit dem Verschwinden des letzten Zeit-Diebes war auch die Kälte gewichen. […] Es wurde warm und wärmer wie in einem Treibhaus. […] Es war wie ein warmer Frühlingssturm, aber ein Sturm aus lauter befreiter Zeit.«45 Auffällig ist hierbei nicht nur die Anschlussfähigkeit der Motive und Themen für gängige grün-alternative Gegenwartsdeutungen, sondern auch die Nutzung eines metaphorischen Gegensatzpaares, das im gesamten Buch eine zentrale Rolle spielt: Die Kälte-Wärme-Metapher, die auf lange, politisch unterschiedlich aufladbare Traditionen zurückblicken kann. Sven Reichardt hat herausgearbeitet, wie intensiv sie gerade im linksalternativen Milieu der 1970er und frühen 1980er Jahre in Gebrauch war. Während »Kälte« verwendet wurde, um »Rationalisierungs-, Entfremdungs- und Säkularisierungsprozesse in der Moderne« zu beschreiben, stand »Wärme« spiegelbildlich für alternative Gemein­ schaftsvorstellungen, die auf »Menschlichkeit und Sensibilität« sowie »Gefühlen und eigener Betroffenheit« ruhten46. In diesem Spannungsfeld waren auch die eigenen Gegenwarts- und geradezu gegensätzlichen Selbstwahrnehmungen verortet: Das Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit gegenüber bürokratischen Apparaten, der Großtechnologie und der Anonymität einer modernen Maschinenwelt bestimmte den Grundton des linksalternativen Milieus. Gegen die Kälte von Reglementierung und Standardisierung der Arbeits- und Lebenszeiten, die sterile Konsumorientierung, die befürchtete Seelenlosigkeit, Antriebslosigkeit, Fremdbestimmung und Selbstaufgabe wollten die Linksalternativen ihre eigene Wärme setzen.47

In eine ganz ähnliche Richtung weist ein verwandter Topos, der zum regelrechten Zentralbegriff grün-alternativer Gegenwartskritik in den 1970er und 1980er Jahren avancierte und auch im Papier der oben zitierten Bremer Grünen genannt wurde: Der Terminus der »Maschine«, der es erlaubte, verschiedene The44 Ende, Momo, S. 265. 45 Ebd., S. 263. 46 Vgl. Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 186–217, Zitate: S. 190 f. sowie: Ders., »Wärme« als Modus sozialen Verhaltens? Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des linksalternativen Milieus vom Ende der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre, in: vorgänge 44 (2005), H. 3/4, S. 175–187. 47 Ders., Authentizität und Gemeinschaft, S. 194.

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men miteinander zu verknüpfen und in einem übergreifenden Bedrohungs­ szenario aufgehen zu lassen. Das illustriert beispielhaft folgendes Zitat des ehemals überzeugten Marxisten und DDR-Dissidenten Rudolf Bahro, der nach seiner Ausbürgerung in den Westen 1979, nicht nur zur Ökologiebewegung stieß, sondern auch mit vielfältigen Spielarten der Esoterik in Berührung kam: Laßt uns darüber nachdenken, wie wir uns unabhängig von der Großen Maschine nähren, wärmen, kleiden, bilden und gesunderhalten können. Beginnen wir daran zu arbeiten, ehe sie uns vollends durchsteuert, einbetoniert, vergiftet, erstickt und eher früher als später atomar totalvernichtet hat.48

Ob fehlgeleitete Stadtplanung, Bürokratie und Entfremdung, Umweltprobleme oder atomare Bedrohung: Bei Bahro wie vielen anderen war die »Maschine«, nochmals zugespitzt im Begriff der »Megamaschine«, ein viel verwendetes Schlagwort, um eine komplexe und arbeitsteilige Industriegesellschaft zu kritisieren, die für eine Vielzahl zeitgenössischer Problemlagen verantwortlich gemacht wurde. Von großem Einfluss war dabei das Werk des amerikanischen Architekturtheoretikers und Soziologen Lewis Mumford. Dessen 1974 in deutscher Übersetzung veröffentlichtes Buch Mythos der Maschine stellte dem mechanischen Weltbild, in dessen Zentrum sich die alle Lebensbereiche beherrschende »Megamaschine« befinde, eine Rückkehr zum organischen Weltbild gegenüber, in dessen Mittelpunkt der Mensch stehe49. In den Debatten der Protestbewegungen wurde dieser Band breit rezipiert. Gleichzeitig fand die »Maschinen«-Metapher Eingang in deren Kritik an der bundesdeutschen Parteiendemokratie und verdichtete sich im Bild der »Staatsmaschine« sowie den Parteien und Verwaltungen als deren seelenlosen »Apparaten«. All diese in den 1970er und 1980er Jahren von einem spezifischen Milieu verwendeten Begriffe und Topoi verweisen wiederum auf begriffsgeschichtliche Querverbindungen. Denn analog zur Kälte-Wärme-Metapher ist das Bild der Maschine mit Hans Blumenberg nicht nur ein »prägnantes Programmwort der Weltdeutung«50, sondern auch einer der metaphorischen Prototypen in der Geschichte politischer Sprache51. Ähnliche Beschreibungen finden sich vor allem an der Wende zum 20. Jahrhundert – mit der Durchsetzung der »Industrie­ moderne«  – und in der Zwischenkriegszeit, außerdem bei den Protagonisten 48 Rudolf Bahro, Antwort auf drei Fragen des Deutschlandfunks, in: Petra Karin Kelly/ Manfred Coppik (Hrsg.), Wohin denn wir? Texte aus der Bewegung, Berlin 1982, S. ­74–79, hier S. 79. 49 Lewis Mumford, Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Wien 1974. (Amerikanische Erstausgabe: The Myth of the Machine, New York u. a. 1967, sowie: Ders.: Technics and Human Development, New York u. a. 1970). 50 Vgl. den Abschnitt »Organische und mechanische Hintergrundmetaphorik«, in: Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1998, S. 91–110, Zitat: S. 94. 51 Ahlrich Meyer, Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1969), S. 128–199.

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konservativer Kulturkritik in den 1950er Jahren. In der marxistischen Theorie wiederum wurden Max Webers Rede vom »stahlharten Gehäuse der Bürokratie« oder Hans Freyers »Sachzwänge«, in denen der Mensch hilflos den »Apparaten« ausgeliefert sei, unter dem Rubrum der »Entfremdung« auf links gewendet. Die Verweise auf prominente Beschreibungen des Staates als einer »Maschine«, der Parteien und der Bürokratie als ihren »Apparaten« sind unzählig. Ihre nicht minder berühmten Vordenker stammen von beiden Seiten des politischen Spektrums52. Diese lange und vielfältige Begriffsgeschichte von zentralen Topoi verweist auf die Notwendigkeit, die spezifische grün-alternative Gegenwartskritik der 1970er und 1980er Jahren konkreter aufzuschlüsseln und zu kontextualisieren. Inwiefern knüpfte sie an frühere Krisenrhetoriken an, und inwiefern setzte sie eigene Akzente? Wurden die 1970er Jahre nicht zuletzt von der zeithistorischen Forschung recht schnell, vielleicht zu schnell, insgesamt als »krisenhaftes Jahrzehnt« apostrophiert53, so trifft diese Diagnose für die hier im Mittelpunkt stehenden Gruppen und Akteure jedoch zweifelsfrei zu. In ihren Äußerungen scheint die Überzeugung durch, sich in einer historischen Ausnahmesituation zu befinden, in der ein überkommenes Gesellschaftsmodell oder gar eine länger gefasste historische Entwicklung an ihr Ende gelangt sei. Teilweise wurde eine regelrechte Endzeitstimmung gepflegt, die eigene Gegenwart als bloßes Präludium des bevorstehenden Weltuntergangs gezeichnet54. Dies liest sich in einer grün-anthroposophisch inspirierten Broschüre wie folgt:

52 Zur Verwendung der Topoi im Kontext von Technik- und Fortschrittskritik vgl. das zweibändige Kompendium von Johan Hendrik van der Pot, Die Bewertung des technischen Fortschritts. Eine systematische Übersicht der Theorien (2 Bde.), Assen 1985. Zur Kulturkritik der Zwischenkriegszeit im Allgemeinen: Anselm Doering-­Manteuffel, Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004,­ S. 91–119. Speziell mit Blick auf die »Maschinen«-Metapher: Thomas Mergel, Führer, Volks­gemein­schaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918–1936, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Poli­ tische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 91–127, v. a. S. 107–109. 53 Gegenläufig argumentiert stattdessen etwa Rüdiger Graf, Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, München 2014; vgl. außerdem: Morten Reitmayer, Nach dem Boom – eine neue Belle Époque? Versuch einer vorläufigen Synthese, in: Ders./Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 13–22. 54 Vgl. Annekatrin Gebauer, Apokalyptik und Eschatologie. Zum Politikverständnis der GRÜNEN in ihrer Gründungsphase, in: AfS 43 (2003), S. 405–420; Thomas Keller, »Es gibt kein kleineres Übel, denn es gibt auch keinen kleineren Tod«. Existentielle Werte in der Protestkultur, in: Revue d’Allemagne 20 (1988), H. 1 u. 2, S. 108–119. Zur Vielfalt apokalyptischer Denkfiguren jenseits der hier thematisierten 1970er und 1980er Jahre: Veronika Wieser u. a. (Hrsg.), Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealogie der Endzeit, Berlin 2013.

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durch die wachsende Gefährdung des äußeren und die drohende Zerrüttung des inneren Friedens, durch die fortschreitende Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen, durch das größer und größer werdende Elend in der Dritten Welt und durch viele weitere Krankheitserscheinungen treiben wir auf eine Katastrophe zu, wie sie nie zuvor in der menschlichen Geschichte dagewesen ist und wie sie aus den in den Tendenzen veranlagten Gefahren durchaus das selbstverschuldete Ende aller Geschichte bedeuten könnte.55

Wie inzwischen von der zeit- und insbesondere der umwelthistorischen Forschung hinreichend gezeigt wurde, waren vor allem die für die 1970er Jahre so prägenden Umwelt- und Wachstumsdiskussionen häufig apokalyptisch grundiert. Dazu hatten eine Reihe umweltapokalyptischer Bestseller und nicht zuletzt der 1972 publizierte Bericht an den Club of Rome sowie deren mediale Aufbereitungen beigetragen56. Gerade in der Bundesrepublik war, zumal im Kontext der erbittert ausgetragenen Kernenergiekontroverse, zunehmend von epochalen Veränderungen und den berühmten »fünf Minuten vor Zwölf« die Rede. Neben der Ökologieproblematik bot, auch das ist inzwischen zeithistorisch hinreichend herausgearbeitet worden, insbesondere das im Zuge der Nachrüstungsdebatte immer prominenter werdende Friedensthema eine Projektionsfläche für endzeitlich anmutende Szenarien57. Ereignisgeschichtlich setzte der NATO -Doppelbeschluss des Jahres 1979 tatsächlich den sichtbaren Schlusspunkt einer Phase der Entspannung innerhalb der Systemkonfrontation, die in der Verabschiedung der KSZE-Schlussakte im Jahr 1975 ihren Höhepunkt überschritten hatte. In der Folge war denn auch vermehrt von einem »Zweiten Kalten Krieg« die Rede, zumal sich das Ost-West-Klima im Zuge des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan, der Verhängung des Kriegsrechts in Polen und des Antritts von US -Präsident Ronald Reagan weiter verschlechterte58. 55 Umkehr zum Frieden. Frieden mit der Natur und Frieden zwischen den Menschen im sozialen Leben und im Lebenszusammenhang der Völker [1982], S. 1 (Petra-Kelly-Archiv (PKA), Nr.: 1841). 56 Vgl. Patrick Kupper, Die »1970er Diagnose«. Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: AfS 43 (2003), S. 325–348, hier S. 344 f.; Kai F. Hünemörder, Kassandra in modernem Gewand. Die umweltapokalyptischen Mahnrufe der frühen 1970er Jahre, in: Jens Hohensee/Frank Uekötter (Hrsg.), Wird Kassandra heiser? Beiträge zu einer Geschichte der falschen Öko-Alarme, S. 78–97; Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945–1980, München 2015, v. a. S. 255–292. 57 Vgl. etwa Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hrsg.), Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009, v. a. den Beitrag von Susanne Schregel, Konjunktur der Angst. »Politik der Subjektivität« und »neue Friedensbewegung«, 1979–1983, in: Ebd., S. ­495–520; Judith Michel, »Richtige« und »falsche« Angst in der westdeutschen Debatte um den Nato-Doppelbeschluss, in: Patrick Bormann/Thomas Freiberger/Judith Michel (Hrsg.), Angst in den Internationalen Beziehungen, Göttingen 2010, S. 251–272. 58 Vgl. z. B. Philipp Gassert/Tim Geiger/Hermann Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO -Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011.

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»Petra liebes, wir müssen da etwas machen«, schrieb der grünen Parteivorsitzenden in diesem Kontext eine Stuttgarter Bekannte: Ich würde sagen, daß alles, was ansteht, zweitrangig ist im Hinblick auf diese äuße­re Gefahr. Bisher haben wir unser Augenmerk hauptsächlich auf die Atomenergie gerichtet, der Kampf gegen die Atomwaffen kam dabei eigentlich zu kurz. Wir leben in ständiger Angst vor dem Krieg und hoffen dabei inständig, daß das atomare Gleichgewicht das Schlimmste verhindern wird. […] Da verdichten sich plötzlich in mir die uralten Weissagungen über ein Weltende 1984 durchaus zu realistischen Vorstellungen.59

Ungeachtet dessen, dass mit »1984« abermals die populärkulturelle Dimension zeitgenössischer Bedrohungsszenarien angedeutet wird60, war die im Zuge der Nachrüstung eindringlich thematisierte Angst vor dem Atomkrieg so neu allerdings nicht, war doch die nukleare Bedrohung bereits mit den ersten erfolgreichen Atombombenversuchen und dem Einsatz der Waffe am Ende des Zweiten Weltkriegs präsent. In der Bundesrepublik prägte der damit zusammen­ hängende Apokalypse-Diskurs insbesondere die »Kampf-dem-Atomtod«-Bewegung der 1950er Jahre61. Mit deren baldigem Abebben sowie den Verheißungen, welche die zivile Nutzung von Kernenergie zunächst zu versprechen schien, verstummten die angstvollen und kritischen Stimmen zwar nicht gänzlich, aber sie fanden weit weniger Gehör als zuvor. In den »langen sechziger Jahren«, dem »Jahrzehnt der Zukunft« (Alexander Schmidt-Gernig), in dem Planungsdenken und technische Machbarkeitsutopien ihrem Höhepunkt entgegenstrebten, bestimmten stattdessen fortschrittsoptimistische Stimmen den Ton62. Die Atomkriegsängste traten hinter die Kernkrafteuphorie zurück und die Mehrheitsgesellschaft wurde abermals von jener »Apokalypse-Blindheit« geschlagen, die der Dichter Günther Anders zunächst für die frühe Nachkriegszeit beklagt hatte63.

59 Schreiben an Petra Kelly, 27.12.1981 (Archiv Grünes Gedächtnis (AGG): A-Saibold, Halo, Sign.: 81 (1)). 60 Vgl.: Philipp Baur, Nukleare Untergangszenarien in Kunst und Kultur, in: BeckerSchaum/Gassert/Klimke u. a. (Hrsg.), »Entrüstet Euch!«, S. 325–338. 61 Holger Nehring, Cold War, Apocalypse and Peaceful Atoms. Interpretations of Nuclear Energy in the British and West German Anti-Nuclear Weapons Movements, in: HSR 29 (2004), H. 3, S. 150–170. 62 Alexander Schmidt-Gernig, Das Jahrzehnt der Zukunft  – Leitbilder und Visionen der Zukunftsforschung in den 60er Jahren in Westeuropa und den USA , in: Uta Gerhardt (Hrsg.), Zeitperspektiven. Studien zur Kultur und Gesellschaft, Stuttgart 2003, S. 305–345. 63 Günther Anders, Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München 1972, v. a. S. 207–221; vgl. Daniel Morat, Die Aktualität der Antiquiertheit. ­Günther Anders’ Anthropologie des industriellen Zeitalters, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2006), H. 2, S. 322–327.

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Waren die militärische und zivile Nutzung der Kernkraft also bis dato zwei meist voneinander getrennt behandelte Themen gewesen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten – nämlich in den 1950er und dann in den 1970er Jahren – wirkmächtige Protestbewegungen hervorgebracht hatten, so verschmolzen diese beiden Diskurse und ihre Träger nun zusehends miteinander. Zwar war bereits vor dem NATO -Doppelbeschluss innerhalb der Anti-AKW-Bewegung die Verbindung zwischen Kernenergie und Atomwaffen hergestellt worden64, an der Wende zu den 1980er Jahren entwickelte sich das Präfix »Atom-« nun aber zu einem regelrechten Angstbegriff, der die beiden Überlebensthemen Umwelt und Frieden semantisch eng miteinander verband und den Endzeit­szenarien eine andere Qualität verlieh: »›Atomstaat‹ und ›Atomkrieg‹, ›Harrisburg‹ und ›Hiroshima‹«, so bemerkte der Politikwissenschaftler Rudolf van Hüllen, »verschmelzen zu einem global-apokalyptischen Bedrohungssyndrom.«65 Noch stärker als innerhalb der Anti-AKW-Bewegung enthielt der apoka­ lyptisch geprägte Angstdiskurs der alten wie der neuen Friedensbewegung moralisch hoch aufgeladene, ja religiöse Momente. Eines der herausgehobenen Ereignisse in der westdeutschen Nachrüstungsdebatte im Gefolge des NATO Doppelbeschlusses war deshalb nicht von ungefähr der 19.  Evangelische Kirchentag im Juni 1981 in Hamburg, dessen Motto »Fürchte Dich nicht« lautete66. Dies deutet an, dass wir es nicht mit einem auf die Protestbewegungen beschränkten Phänomen zu tun haben, was auch zeitgenössische Umfrageergebnisse unterstreichen: Hatten 1978 lediglich zwölf Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung angegeben, Angst vor einem Atomkrieg zu haben, so waren es 1981 bereits 35 Prozent67. 1980 nannten in einer »Allensbach«-Umfrage 82 Prozent der Befragten die Sicherung des Friedens in Europa als die wichtigste politische Aufgabe68. Vorwiegend mit Blick auf die junge Generation sprachen Meinungsforscher von einem regelrechten »Pazifismussyndrom«69. Der seinerzeit im Ausland oft verwendete Terminus der »German Angst« stand wiederum

64 Vgl. Silke Mende/Birgit Metzger, Ökopax: Die Umweltbewegung als Erfahrungsraum der Friedensbewegung, in: Becker-Schaum/Gassert/Klimke u. a. (Hrsg.), »Entrüstet Euch!«, S. 118–134. 65 Rudolf van Hüllen, Ideologie und Machtkampf bei den Grünen. Untersuchungen zur programmatischen und innerorganisatorischen Entwicklung einer deutschen »Bewegungspartei«, Bonn 1990, S. 382. 66 Schregel, Konjunktur der Angst, S. 505–507, sowie Sebastian Kalden/Jan Ole Wiechmann, Kirchen, in: Becker-Schaum/Gassert/Klimke (Hrsg.), »Entrüstet Euch!«, S. 247–261. 67 Jürgen Leinemann, Die Angst der Deutschen. Beobachtungen zur Bewusstseinslage der Nation, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 152. 68 »Was ist wichtig? Was ist erreichbar 1990?«, in: Elisabeth Noelle-Neumann/Edgar Piel (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978–1983, Bd.  VIII, München u. a. 1983, S. 336. 69 Gerhard Herdegen, Die Jugend denkt anders. Das Pazifismussyndrom der nachwachsenden Generation, in: Ebd., S. 328–333.

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als Signum für eine vermeintlich deutsche Exzeptionalität in den Krisen- und Bedrohungsdiskursen an der Wende zu den 1980er Jahren70. Mit Blick auf die Zeitvorstellungen der Grün-Alternativen ist ein weiterer Befund augenfällig: Wenn in ihren Reihen von einer historischen Zäsur die Rede war, gerieten insbesondere zwei historische Epochen in den Blick, deren Endphase scheinbar angebrochen war. Das war erstens das »technisch-industrielle Zeitalter«71, das nun, nach einem »200 Jahre währenden Prozess«72, an sein Ende gelangt sei und mit dem man vorderhand den Topos von den offensichtlich gewordenen »Grenzen des Wachstums« verband. So lautete etwa eine exemplarische Krisendiagnose: Die Menschheit steht vor großen und ernsthaften Herausforderungen. Auf allen Lebensgebieten treten die Krisenerscheinungen immer deutlicher hervor. […] Das Fazit der umfassenden Analyse, die auch vor heiligen Kühen nicht haltmacht, läßt sich in der Erkenntnis zusammenfassen, daß der Zivilisationsentwurf, der die letzten zweihundert Jahre bestimmte, an seine Grenzen gestoßen ist. Sein Ende steht bevor. Wenn wir ihn aber nicht durch einen neuen Zivilisations-Entwurf ablösen, droht die Gefahr der Verwüstung der Erde, der Vernichtung der Menschheit.73

Zweitens wurde vielfach vom Ende der Nachkriegszeit gesprochen. Anders als die Vorstellung vom ausgehenden Industriezeitalter, das man vornehmlich aus ökologischer Perspektive am Endpunkt wähnte, bot dieses Schlagwort eine Projektionsfläche für eine Vielzahl von Motiven. Dazu gehörten nicht zuletzt die wirtschaftlichen Verschleißerscheinungen, die vor allem im Gefolge der ersten Ölkrise 1973 aufgetreten waren und sich in steigenden Inflationsraten wie Arbeitslosenzahlen bemerkbar machten. Was der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft einen gehörigen Schrecken einjagte, wurde im gegenkulturellen Milieu zuweilen mit einem Hauch von Frühlingserwachen kommentiert. So frohlockte etwa ein Autor in der Frankfurter Sponti-Zeitschrift Pflasterstrand: Die alten Träume der Wohlstandsgesellschaft sind erschöpft, das System befindet sich in einer moralischen Krise. Alternativen werden heute zumindest öffentlich diskutiert. Die Sehnsucht nach einem Leben außerhalb von Kühlschrank, Führerschein und Einbauküche wächst.74 70 Überblicksartig: Axel Schildt, »German Angst«: Überlegungen zur Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, in: Daniela Münkel/Jutta Schwartzkopf (Hrsg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Adelheid von Saldern, Frankfurt a. M./New York 2004, S. 87–97. 71 Herbert Gruhl, Grundsätzliche Betrachtungen zum Standpunkt der Grünen. Hannover, 15.5.1980, S. 1 (AGG: C NRW LaVo/LGSt, Nr.: 122 (2)). 72 Herbert Gruhl, Grüne Zukunftspolitik als historische Notwendigkeit. Böblinger Rede vom 8.9.1979, S. 1 (AGG: A-Vogel, Werner, Nr.: 14). 73 Einladung zum VII . Achberger Jahreskongress vom 15.–31.8.1980 mit dem »Alternativen Parteitag« der Grünen vom 21.–24.8.1980, S. 2 (AGG: A-Vogel, Werner, Nr.: 54). 74 E. Schnittlauch, Grüne Katze im Sack? Gedanken zum Offenbacher Kongreß, in: Pflasterstrand 67 (1979), S. 23 f., hier S. 24.

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Und die ernster gestimmten Genossen aus den Reihen des Sozialistischen Büros mit Sitz im benachbarten Offenbach sekundierten: »Gut dreißig Jahre alt, betritt die westdeutsche Gesellschaft vor unseren Augen einen neuen Zeitraum.« Heute beginne »ein neues Stück Geschichte, an dessen Ende wir sie nur mit Mühe wiedererkennen werden. […] Staat, Wirtschaft, Kultur und Ideologie, wohin wir auch schauen, alle Fundamente der westdeutschen Gesellschaft sind in Bewegung geraten.«75 Zur Allgegenwärtigkeit solcher Diagnosen hielt zur gleichen Zeit Hans Magnus Enzensberger im Kursbuch ebenso lapidar wie pointiert fest: »Die Krise gehört zu unserem ideologischen Handgepäck. Sie ist ein Aphrodisiakum. Sie ist ein Angsttraum. Sie ist eine Ware wie jede andere.«76 Tatsächlich wurde auch außerhalb der Protestbewegungen der Übergangs­ charakter der eigenen Epoche thematisiert. Dazu trug nicht zuletzt ein ganzes Bataillon prominenter Sozialwissenschaftler bei, die ihre entsprechenden Forschungen in eingängige Formeln und Formate kleideten, welche fortan im öffentlichen Diskurs abrufbar waren. Daniel Bells Formulierung von der »postindustriellen Gesellschaft«, die er seit den späten 1960er Jahren in Artikeln verbreitete, ist dafür vielleicht das prominenteste Beispiel, weitere »Post«-Begriffe, von »Postfordismus« über »Postmoderne« bis »Posthistoire«, folgten77. In diesem Sinne hat Konrad Jarausch zu Recht festgestellt, dass Anfang der 1970er Jahre die Nachkriegszeit »psychologisch beendet war«78.

»Ganz am Rande der Zeit«: Zukunft und Fortschritt Die geschilderten Krisenrhetoriken und Elemente grün-alternativer Gegenwartskritik, die teilweise bis in die Mehrheitsgesellschaft hineinwirkten, hatten Auswirkungen auf die Konzeption zweier damit eng verbundener Kernkategorien moderner Gesellschaften: »Zukunft« und »Fortschritt«. Um spezifische Aspekte dieser Zukunfts- und Fortschrittsvorstellungen herauszupräparieren, soll abermals eine exemplarische Szene aus Michael Endes Roman Momo als Ausgangspunkt genommen werden: Momo befindet sich auf dem Weg zu Meister Hora, dem Gebieter über die Zeit. Die »grauen Herren« jagen ihr nach, können ihr aber ab einem bestimm75 Norbert Kostede, Die Eroberung der politischen Landschaft, in: links 103 (1978), S. ­19–21, hier S. 19. 76 Hans Magnus Enzensberger, Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang, in: Kursbuch 52 (1978), S. 1–8, hier S. 1. 77 Zur diskursprägenden Kraft solcher meist sozialwissenschaftlicher Gegenwartsdiagnosen: Konrad H. Jarausch, Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, in: Ders. (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 9–26, hier S. 15–18; Anselm DoeringManteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 61–66. 78 Jarausch, Verkannter Strukturwandel, S. 22.

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ten Punkt nicht mehr folgen, denn es scheint, so klagt einer von ihnen, »als ob diese Gegend ganz am Rande der Zeit liegt. Und das Kind bewegte sich auf diesen Rand zu.«79 Und tatsächlich, die Verfolger können diese Grenze nicht überwinden, so sehr sie sich auch mühen, denn als sie sie erreichen, geschah etwas höchst Unbegreifliches. Die Autos kamen nicht mehr vom Fleck. Die Fahrer traten aufs Gas, die Räder jaulten, aber die Autos liefen am Ort, etwa so, als ob sie auf einem fahrenden Band stünden, das mit gleicher Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung lief. Umso mehr sie beschleunigten, desto weniger kamen sie vorwärts.80

Momo, begleitet von der Schildkröte Kassiopeia, gelingt es jedoch, diese Art »rasenden Stillstand« (Paul Virilio) zu überwinden. Einerseits zügeln die beiden ihr Tempo – »Und gerade, weil sie so langsam gingen, war es, als glitte die Straße unter ihnen dahin, als flögen die Gebäude vorüber.«81 Andererseits kommen sie voran, indem sie, als der Weg abermals beschwerlicher wird, nicht mehr vorwärts-, sondern rückwärtsgehen. So erreichen sie schließlich sicher ihr Ziel, das »Nirgend-Haus« am Ende der »Niemals-Gasse«. Gleich mehrere Aspekte lassen sich unschwer mit den Zeit-Vorstellungen des grün-alternativen Milieus in Beziehung setzen. Zunächst ist das der Segen des gedrosselten Tempos, ein Lob der Langsamkeit, das sich als wenig suggestiver Hinweis auf die vermeintliche Schnelllebigkeit der modernen Gesellschaft im Kontext zeitgenössischen Beschleunigungsempfindens lesen lässt. Mit dem »Rückwärtsgehen« wird zum anderen eine nochmals darüber hinausgehende Lösungsperspektive aufgezeigt, die statt auf eine bloße Verlangsamung des Tempos auf den Richtungswechsel oder gar die Umkehr setzt. Das ist ein kaum versteckter Hinweis auf die vielgestaltigen Debatten über Kosten und Nutzen, vor allem aber den Sinn von »Fortschritt«, wie sie in der Bundesrepublik mehr noch als in anderen westlichen Industriegesellschaften der 1970er und 1980er Jahre geführt wurden. Schließlich kommt der Topos eines Ausstiegs aus der Zeit zum Tragen, befinden sich doch jenseits der Gegend, die »ganz am Rande der Zeit liegt«, die »Niemals-Gasse« und das »Nirgend-Haus«, der Ursprung der Zeit. Diese Anknüpfungspunkte für zeitgenössische Überlegungen und Debatten, die vor allem bei Lesern aus dem grün-alternativen Milieu die eine oder andere Saite zum Klingen bringen mussten, korrespondierten außerdem hervorragend mit den Diagnosen zeitgenössischer Wissenschaftler, welche insbesondere auf sich verändernde Vorstellungen von »Zukunft« hinwiesen. So notierte der Politologe Heinz Theisen Mitte der achtziger Jahre:

79 Ende, Momo, S. 129. 80 Ebd., S. 130. 81 Ebd., S. 131.

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Gesamtgesellschaftlich breitete sich zunehmend das Gefühl aus, an Grenzen zu stoßen. Die Erfahrung der Grenze scheint im übrigen zu einem Grunderlebnis unserer Zeit zu werden; sie ist gleichbedeutend mit der Erfahrung vom Ende zwangsläufigen Fortschritts. Wenn man an eine Grenze stößt, kann es kein Weiterschreiten auf diesem Gebiet mehr geben. Schreitet man dennoch voran, so erweckt dieses Handeln massive Ängste vor seinen Folgen. Insofern ist es nur folgerichtig, daß ausgerechnet im Augenblick ihrer größten Ausdehnung die Industriegesellschaften das Vertrauen in ihre Zukunft verlieren.82

Dem sekundierte die österreichische Soziologin Helga Nowotny, die im Vorwort ihres 1989 veröffentlichten Buches Eigenzeit ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema auch mit eigenen Erfahrungen begründete: »Ich wurde allmählich überzeugt vom unaufhaltsamen Verschwinden der Kategorie Zukunft und ihrer Ersetzung durch etwas, das ich die erstreckte Gegenwart nenne.«83 Und mit dem gebührenden Abstand einiger Jahrzehnte diagnostiziert auch die Zeitgeschichte für die 1980er Jahre einen veränderten Umgang mit Zukunft. Diese, so Elke Seefried, habe seinerzeit insgesamt als wissenschaftliche und gesellschaftliche Kategorie an Bedeutung eingebüßt, und zwar zugunsten der Vergangenheit, was sich im Fall der Bundesrepublik u. a. auf ein verstärktes öffentliches Interesse am Nationalsozialismus sowie einen neuen Geschichtsboom gepaart mit intensivierten Identitätsdebatten zurückführen lasse84. Anhand von intellektuellen Auseinandersetzungen mit dem Konzept des »Posthistoire« spricht wiederum Steffen Henne von einer »Bedeutungsverschiebung des Zukunftsbegriffs«: »Denn nicht nur war in den 1980er-Jahren die Vorstellung menschlicher Entwicklung zum Besseren gleichsam stillgestellt, auch der im historischen Bewusstsein positiv geöffnete, utopisch aufgeladene Möglichkeitshorizont der Zukunft schien eingefroren.«85 Im Falle der hier im Zentrum stehenden Grün-Alternativen berührt die Hypothese von sich verändernden Zukunftskonzeptionen zunächst vor allem zwei Aspekte. Erstens ist eine immense Verkürzung des Zeithorizonts zu konstatieren, die mit einer notwendigen Aufwertung des gegenwärtigen Augenblicks einherging. In einem Interview mit der Zeitschrift links des Sozialistischen Büros

82 Heinz Theisen, Zukunftsängste und pluralistische Demokratie, in: APuZ 34 (1984), Heft 35/36, S. 19–27, hier: S. 20. 83 Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a. M. 1990³ (Erstausgabe: 1989), S. 9. 84 Seefried, Zukünfte, S. 506. 85 Steffen Henne, Das Ende der Welt als Beginn einer neuen Zeit. Zur Formierung der temporalen Ordnung unserer Gegenwart in den 1980er Jahren, in: Ariane Leendertz/Wencke Meteling (Hrsg.), Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er Jahren, Frankfurt a. M./New York 2016, S. 155–188, hier: S. 182; außerdem: Fernando Esposito, Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vor­ geschichte der Gegenwart, S. 393–423.

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setzte etwa der Hannoveraner Soziologe Oskar Negt diesen Befund mit den bereits skizzierten zeitgenössischen Krisen- und Bedrohungsszenarien in Bezug: Das Angstelement, scheint mir, ist neu in die Bedürfnisstrukturen hineingekommen, wobei ich vermute, daß es nicht nur Ängste in Bezug auf die Umwelt sind, sondern sehr vielfältige Existenzängste. […] Angst, als neues Element in der Bedürfnisdefinition, bewirkt dabei notwendig eine Verkürzung des Erwartungs- und Wertehorizonts.86

Ähnlich formulierte es wenig später der ebenfalls dem Sozialistischen Büro nahestehende Dan Diner: Ein umfassendes Moment ist die gerade von jüngeren Menschen verspürte Verengung der Lebenszeit. Das Motiv der Zeitverengung kommt dadurch zum Ausdruck, daß ein absolutes Ende der menschlichen Existenz oder zumindest jener der Menschen in Europa durch einen nahenden Nuklearkrieg bis zur Gewißheit empfunden wird. Diese Empfindung erfährt eine Steigerung, wenn die eigene politische Handlung gegen die Stationierung, den count down [sic!] zum Ende hin, als ein absolutes ›letztes Gefecht‹ erfahren wird. Steht jedoch hinter einem Ereignis ein absolutes Ende, wird ein Nichts mit Gewißheit angenommen, dann richtet sich alle mobilisierbare Energie auf jenen manichäischen Dreh- und Angelpunkt. Nicht das Wie des Lebens, sondern das des bloßen Überlebens bestimmt alles Handeln.87

Als Versuch, dieser Logik zu entkommen und statt des »bloßen Überlebens« ein erfülltes »Wie des Lebens« zu wählen, können die Zeitvorstellungen des alternativen Milieus gelesen werden, die ihren Ausdruck nicht selten in konkreten Alltagspraktiken fanden. Dazu gehörten jene bereits thematisierten Arbeits-, Vergemeinschaftungs- und Lebensformen, die  – in der Wohngemeinschaft, dem Alternativbetrieb oder der biodynamisch wirtschaftenden Landkommune  – auf die Realisierung einer konkreten Utopie im Hier und Jetzt zielten. »Die jungen Leute«, so Erhard Eppler im oben bereits angeführten Gespräch mit Michael Ende, wollen nicht mehr auf eine Zukunft warten, sondern sie wollen diese im kleinen vorwegnehmen. Sie haben keine Zukunft, auf die sie hinleben können; wenn sie eine haben wollen, müssen sie diese Zukunft hier und jetzt gewissermaßen an einem Zipfel anpacken und realisieren.88

Viele dieser »jungen Leute« machten sich wiederum auf die Suche nach alternativen Zeitvorstellungen, indem sie sich spirituellen und esoterischen Bewegungen zuwandten: 86 Großer Ratschlag: Das Sozialistische Büro. Ein Gespräch mit Oskar Negt, in: links Nr. 123 (1980), S. 12–15, hier S. 12. 87 Dan Diner, Hier stimmt was nicht. Mutmaßungen über die Angst in der Friedensbewegung, in: links 162 (1983), S. 21 f., hier S. 21 [Hervorhb. i. Orig.]. 88 Erhard Eppler zit. in: Eppler/Ende/Tächl, Phantasie, Kultur, Politik, S. 72.

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In der kulturellen Andersartigkeit der östlichen Mystik und ihres Zeitempfindens wird durch Meditation und Entspannung, durch Wiedergeburt oder das Anhalten des Augenblicks bewußt nach anderen Zeiterlebnissen, nach einem Entkommen aus dem Alltagsstreß gesucht.89

Während auch in diesem Fall die meisten versuchten, diese alternativen ZeitVorstellungen inmitten der so ganz anders getakteten bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft zu realisieren, machten sich einige auf, sie in deren tatsächlichen oder vermeintlichen Ursprungsländern zu erfahren. Auf dieser Suche nach einer »neuen Spiritualität« führten manche Wege »von den europäischen Metropolen […] nach Indien, Afghanistan und Nepal«90. Die am Übergang zu den 1980er Jahren verstärkt zu vernehmende Diagnose eines sich verkürzenden Zeithorizonts beinhaltete jedoch noch eine weitere Dimension, nämlich, zweitens, ein verstärktes Hineinragen der Zukunft in die Gegenwart. Das schien die zukünftige Tragweite gegenwärtiger Entscheidungen enorm zu erhöhen und rückte mit den Langzeitfolgen zudem die Frage nach einer intergenerationellen Verantwortungsgemeinschaft in den Mittelpunkt91. Nachdem »Erfahrungsraum und Erwartungshorizont« in der »Sattelzeit« auseinandergetreten, aber in den »langen sechziger Jahren« im Zeichen von Planbarkeit und wissenschaftlicher Prognose möglicherweise wieder stärker aneinander gerückt waren92, wurde nun, im Angesicht vielfältiger Bedrohungen, abermals deren verstärktes Auseinandertreten konstatiert, und mehr noch: Viele Grün-Alternative erachteten gar deren bewusste Entkopplung als notwendig – wenn auch meist ohne sich der entsprechenden von Reinhart Koselleck Mitte der 1970er Jahre vorgestellten Begrifflichkeit zu bedienen und vermutlich auch ohne diese überhaupt zu kennen. »Die ganze ökologische Frage«, so Michael Ende Anfang der 1980er Jahre, »beruht ja auf einem Antizipieren der Zukunft. Wir alle müssen, ob wir wollen oder nicht, prophetisch denken lernen. Wir müssen heute und hier auf eine Katastrophe reagieren, die sich in der Zukunft einstellen wird.«93 Und an anderer Stelle: »Die Fragen, vor denen wir heute stehen, können wir nicht mehr aus einem Rückblick auf die Vergangenheit lösen.«94 89 Nowotny, Eigenzeit, S. 135. 90 Zur Einordnung in den Gesamtkontext von »linkem Psychoboom«, »neuer Spiritualität« und  – in gewisser Weise ebenso verbunden mit alternativen Zeit-Erfahrungen  – Drogenkonsum vgl. ausführlich das Kapitel »Bewusstseinserweiterungen« in: Reichardt, Authentizität, S. 782–872, Zitat: S. 784. Zu Esoterik und spirituellen Bewegungen: Pascal Eitler, Körper  – Kosmos  – Kybernetik. Transformationen der Religion im ›New Age‹ (Westdeutschland 1970–1990), in: Zeithistorische Forschungen 4 (2007), H. 1 u. 2, S. ­116–136., hier v. a. S. 128–131. 91 Vgl. Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999, S. 227. 92 Vgl. hierzu Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen, in: Frank Bösch/Jürgen Danyel (Hrsg.), Zeitgeschichte – Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S. 84–108, hier S. 96. 93 Zit. in: Eppler/Ende/Tächl, Phantasie, Kultur, Politik, S. 70. 94 Michael Ende zit. in: Kunst und Politik, S. 28.

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Die moderne Gleichung von der Ablösung hergebrachter Erfahrungen durch die Erschließung neuer Erwartungshorizonte, für die andere Maßstäbe zu gelten hatten, wurde zunächst einmal durch die skizzierten ökologischen und atomaren Endzeitszenarien im Sinne eines Endes der Geschichte auf den Prüfstand gestellt. Durch sie schien »Zukunft« als gestaltbarer Raum bedroht, vielleicht sogar grundsätzlich infrage gestellt. Hinzu kam, dass die eigene Gegenwart als extrem beschleunigter Zeitraum wahrgenommen wurde. Die Geschwindigkeit, mit der hergebrachte Erfahrungen, Kategorien und Ordnungsmuster scheinbar entwertet wurden, wollten oder konnten viele Zeitgenossen nicht mehr mitvollziehen95. Dementsprechend bewerteten in einer Umfrage des Allensbach-Instituts zum Thema Wie schnell läuft die Zeit? im Januar 1983 80 Prozent der Befragten die »Geschwindigkeit« der Gegenwart mit den drei »schnellsten« von insgesamt sieben möglichen Kategorien. Auf die Frage, welches Entwicklungstempo stattdessen wünschenswert erschiene, nannte eine ebenso große Zahl von 76 Prozent die drei mittleren Kategorien als Wunschtempo96. Eine solcherart beschleunigte, die Zukunft verschlingende Gegenwart97 rückte wiederum die Langzeitfolgen gegenwärtiger Lebensweisen auf die Agenda. Vor allem die Bürger der Industrienationen, so lautete eine gängige Einschätzung, »leben heute auf Kosten der Umwelt, der Mitwelt und der Nachwelt«98. Gleichzeitig wurde in diesem Zusammenhang vermehrt die Frage nach der Tragweite und damit der Legitimität gegenwärtiger politischer Entscheidungen gestellt, was sich wiederum eingängig in den Grundtenor zeitgenössischer Staats- und Parteienkritik einfügte. »Die Parlamente«, so argumentierte etwa der einflussreiche Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), sind bei Vorhaben überfordert, die über das Wohl und Wehe ganzer Generationen entscheiden, wie z. B. die Kernenergie. Die Parlamentarier sind schon längst nicht mehr in der Verantwortung, wenn sich die Auswirkungen solcher Projekte für die Menschen bemerkbar machen.99

95 V.a. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005; vgl. außerdem Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S.  84–89. Dort auch weiterführende Literatur sozialwissenschaftlicher Provenienz, welche die Befunde von Beschleunigung, Flexibilisierung und Gegenwartsschrumpfung herausgearbeitet hat. 96 »Wie schnell läuft die Zeit?«, und »So schnell sollte sie laufen«, in: Noelle-Neumann/Piel (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch, Bd. VIII, S. 688. 97 So Nowotny, Eigenzeit, S. 12. 98 Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz e. V. (BBU), Orientierungspapier: Entwurf, in: Jan Peters (Hrsg.), Alternativen zum Atomstaat. Das bunte Bild der Grünen. Standpunkte – Widersprüche – Hoffnungen in der Ökologie- und Alternativbewegung, Berlin 1979, S. 367–378, hier S. 368. 99 Vorlage für die außerordentliche Mitgliederversammlung vom 23./24.7.1977 in Königstein/Taunus: Selbstverständnis des Bundesverbandes der Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), S. 2 (Archiv BBU).

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Abb. 2: Beschleunigungserfahrungen. Umfrage des Allensbach-Instituts, 1983. Quelle: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978–1983, hrsg, von Elisabeth Noelle-Neumann und Edgar Piel, Saur Verlag, München 1983, S. 688.

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Vor allem bei vermeintlichen Überlebensfragen rund um die Kernthemen Umwelt und Frieden schien angesichts ihrer potentiell lebensbedrohlichen Dimension eine Entscheidung durch Parlamente nicht mehr gerechtfertigt. In diesem Sinne argumentierten etwa die beiden Bielefelder Grünen Johannes Berger und Norbert Kostede: Mehrheitsentscheidungen [müssen] im Prinzip und vor allem dann, wenn sie in den kulturellen Grundbestand der Gemeinschaft hineinreichen, reversibel sein […]. Die heutige Minderheit könnte als (mögliche) Mehrheit von morgen weder aus dem Plutonium-Kreislauf aussteigen noch könnte sie das immer dichtere Netz strahlender Wahrzeichen des Fortschritts demnächst von der Landkarte streichen.100

Über den beschränkten Bereich solcher Parlamentarismusdiskussionen hinaus erhielt die Debatte um die Langzeitfolgen gegenwärtig getroffener Weichenstellungen wiederum ihren plakativen Ausdruck in einem eingängigen Slogan, mit dem die Grünen zur Bundestagswahl 1983 antraten: »Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.« Bei einer Partei, die sich gerade in ihrer Frühphase beharrlich weigerte, sich klar innerhalb des klassischen Rechts-LinksSchemas zu verorten, mochte, wer wollte, daraus das Mantra eines der Stammväter konservativen Denkens heraushören. Demnach hatte Edmund Burke in seinen Reflections on the French Revolution unter anderem einen Generationenvertrag evoziert: »a partnership not only between those who are living, but between those who are living, those who are dead, and those who are to be born.«101 Grün-alternative Bewegungsintellektuelle wie etwa der bekennende Konservative Carl Amery beriefen sich dementsprechend auch ganz freimütig auf dieses Diktum102. Ähnlich eng wie mit der Bedeutung von Zukunft war die Frage nach Konservatismus oder Progressivismus mit einer weiteren Kernkategorie moderner Gesellschaften verknüpft, die zumal im Kontext der krisenhaften Gegenwartsdiagnosen zu einer Art Gretchenfrage der Protestbewegungen wurde: Wie hältst Du es mit dem Fortschritt? Dass diese Kategorie in den 1970er Jahren weit über sie hinaus zum Gegenstand intensiver Debatten geriet, war keineswegs ausschließlich, aber doch wesentlich, der als neu empfundenen Situation geschuldet. Denn sowohl der ökologischen wie auch der nuklearen Bedrohung wohnte 100 Johannes Berger/Norbert Kostede, Fundamentalopposition und Reformpolitik, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Was sollen die Grünen im Parlament?, Frankfurt a. M. 1983, S.  13–27, hier S.  16 f. [Hervorhb. i. Orig.]. Vor dem Erfahrungshintergrund der 1970er und 1980er Jahre stellte auch die zeitgenössische politische Theorie die Frage nach der Reversibilität politischer Entscheidungen. Vgl. z. B. den Band von Bernd Guggenberger/Claus Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Politik und Soziologie der Mehrheitsregel, Opladen 1984. 101 Edmund Burke, Reflections on the French Revolution. Edited by W. Alison Philipps and Catherine Beatrice Philipps, Cambridge 1912, S. 97 (Erstveröffentlichung: 1790). 102 Vgl. Carl Amery, Progressismus, Konservatismus – Positionen in der ökologischen Krise [1976], S. 3 f. (Monacensia, NL Carl Amery, Manuskripte: Ms. 358 (CA M 358)).

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Abb. 3: Plakat der Partei »Die Grünen« im Bundestagswahlkampf 1983. © Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-BöllStiftung

die Perspektive einer umfassenden Vernichtung von Menschheit und Planet inne, die Zukunft schlechterdings unmöglich machte und damit dem Fortschritt seine elementare Grundlage entzog. Damit schien sogar ein bloß neutrales, rein arithmetisches Verständnis von Fortschritt im Sinne eines simplen Fortschreitens bedroht103. Auch hinsichtlich der intensiv geführten Debatten um den »Fortschritt« hoben sich die 1970er Jahre markant vom vorhergegangenen Jahrzehnt ab. Ganz anders als in den planungsvernarrten und fortschrittsgläubigen »langen sechzi103 Hölscher, Entdeckung der Zukunft, S. 227–229; Sighard Neckel, Entzauberung der Zukunft. Zur Geschichte und Theorie sozialer Zeitperspektiven, in: Rainer Zoll (Hrsg.), Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a. M. 1988, S. 464–486.

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ger Jahren« nahm der Topos vom »Ende des Fortschritts« nun einen festen Platz in den politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ein. Gleichzeitig legten Umfragen nahe, dass die westdeutsche Bevölkerung in ihrer Gesamtheit von schwindendem Fortschrittsglauben und sinkender Zukunftszuversicht erfasst sei. Wenn sie »an die Zukunft denken«, dann – so eine Mehrheit der Befragten – glaubten sie, dass das Leben »immer schwerer« werde. 1965, auf dem Höhepunkt der Zukunftsgewissheit, hatten stattdessen immerhin noch 28 Prozent geglaubt, dass alles leichter werde, 44 Prozent waren dagegen bereits damals vom Gegenteil überzeugt gewesen. 1981 hingegen glaubten nur noch sechs Prozent der Befragten an eine leichtere Zukunft, wohingegen sich 69 Prozent sicher waren, alles werde immer schwerer104. Eine ähnliche Umkehrung förderten die Demoskopen in Sachen Fortschrittsglauben zutage105. Darüber hinaus waren viele der Meinung, dass bereits die Jetzt-Zeit keine glückliche sei. Hatten 1969 noch 58 Prozent die eigene Gegenwart als »glückliche Zeit« bezeichnet und nur 30 Prozent dieser Einschätzung widersprochen, so drehten sich die Verhältnisse binnen eines guten Jahrzehnts: 1982 sprachen nur noch 32 Prozent der Befragten von einer glücklichen Zeit, wohingegen 54 Prozent das explizit nicht so sahen106. Trotz aller Vorsicht, die der Aussagekraft von Umfragen entgegen zu bringen ist, zeigen sie dennoch einige grobe Tendenzen auf, die von Meinungsforschern folgendermaßen auf den Punkt gebracht wurden: »Zusammenbruch des Fortschrittsoptimismus und der Technikbegeisterung« sowie »Skepsis gegenüber der Zukunft«107. Besonders deutlich waren diese Befunde abermals im Vergleich zu den 1960er Jahren, in denen sich schrittweise der Glaube festgesetzt hatte, »Fortschritt nicht nur kontrollieren, sondern ihn selbst machen zu können, ihm nicht machtlos gegenüberzustehen, sondern seine Richtung und sein Ziel zu bestimmen«108. Seinerzeit war, wie Gabriele Metzler gezeigt hat, zudem eine argumentative Verkopplung von Fortschritt, Technik und Wohlstand zu beobachten gewesen, die in der Bundesrepublik offenbar eine noch stärker identitätsstiftende Funktion besaß als in den klassischen westlichen Nationalstaaten109. Möglicherweise war es gerade diese Verkopplung, die im Laufe der 1970er Jahre für die genau gegenläufigen Tendenzen in puncto Fortschritt verantwortlich war. In Zeiten der 104 »Unsichere Zukunft«, in: Noelle-Neumann/Piel (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch, Bd. VIII, S. 682. 105 1972, auf dem Höhepunkt der Fortschrittseuphorie glaubten demzufolge 60 Prozent an Fortschritt, wohingegen 19 Prozent verneinten; 1982 waren unter den Befragten nur noch 28 Prozent »Fortschrittsgläubige« und 46 Prozent »Zweifler«. »Schrumpfender Optimismus«, in: Ebd., S. 684. 106 »Skepsis…«, in: Ebd., S. 25. 107 Vgl. die kurze Zusammenfassung der Umfrageergebnisse: Viele wünschen sich in die Vergangenheit, in: Ebd., S. 685 f. 108 Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn u. a. 2005, S. 80. 109 Ebd.

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wirtschaftlichen Krise, in denen zudem die Risiken wissenschaftlicher Technik- und Naturbeherrschung allenthalben sichtbar wurden, erschöpfte sich ein vor allem auf Technik und Wohlstand rekurrierendes Fortschrittsverständnis. Dies wird umso deutlicher, wenn man die konkreten Fortschrittsdebatten der Protestbewegungen näher betrachtet. Sie befanden sich im Zentrum der aufgezeigten Tendenzen. Zum einen waren es die von ihnen auf die politische und öffentliche Agenda gesetzten Themen und Problemlagen, welche die damaligen Debatten über Zukunft und Fortschritt maßgeblich anstießen und eine Beschäftigung damit dringlich erscheinen ließen. Zum anderen fanden sich in ihren Reihen einflussreiche Stichwortgeber, die laut und vernehmlich eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Konzept des Fortschritts einforderten. Tatsächlich wurden die neu aufscheinenden Problemlagen der Gegenwart von grün-alternativer Seite fast immer mit einer Zäsur im hergebrachten Fortschrittsdenken verknüpft. Als »schwärzesten Tag in der Geschichte des Fortschritts« bezeichnete der Frankfurter Pflasterstrand etwa den AKW-Unfall von Harrisburg. Der Zwischenfall vom März 1979, so war man sich sicher, würde die »›Zivilisation‹ dieses Planeten verändern«, denn: »Die Imago des Fortschritts hat einen gewaltigen Riß bekommen.«110 Die »70-er Jahre unseres Jahrhunderts«, meinte wiederum Petra Kelly, »sind gekennzeichnet durch eine historische Zäsur, deren Tragweite uns erst langsam bewusst wird. Der jahrhundertealte, selbstverständliche Fortschrittsglaube hat sich ad absurdum geführt.«111 Dennoch lässt sich festhalten, dass wer von Fortschritt sprach, damit selten dasselbe meinte. Während einige diese Kategorie rundweg infrage stellten, sprachen andere bloß von einer notwendigen Re- oder Neuinterpretation. Es waren insbesondere kulturkritische Stimmen, welche die zeitgenössischen Diskussionen zum Anlass nahmen, um Positionen zu äußern, die sie häufig bereits lange vor den 1970er Jahren vertreten hatten. Auf einer übergeordneten Ebene wollten sie das liberale Fortschrittsdenken der Aufklärung neu verhandeln, in dessen Mittelpunkt der vernunftbegabte Mensch als gestaltendes Subjekt stand112. Vor allem die Perspektive einer ökologischen Katastrophe machte es nun in ihren Augen notwendig, die übergeordnete Position des Menschen zu hinterfragen und damit eine Neudefinition des Mensch-Umwelt-Verhältnisses einzufordern. Im Lichte der neuen Problemlagen, so der Tenor, müsse der Mensch seine allzu autonom ausgelegte Rolle überdenken und letztlich aufgeben. »Das anthropozentrische Weltbild bricht in Stücke«, bemerkte Herbert Gruhl in seinem für die zeitgenössische Umweltbewegung so prägenden dys110 Wahnsinn, in: Pflasterstrand 51 (1979), S. 2. 111 Petra Karin Kelly, Vortrag auf dem European Management Forum, Davos, 1.2.1983, S. 2 (PKA : Nr.: 587 (1)). 112 Zum Fortschrittsdenken der Aufklärung: Johannes Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./New York 1987; außerdem: Bedrich Loewenstein, Der Fortschrittsglaube. Geschichte einer europäischen Idee, Göttingen 2009.

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topischen Bestseller Ein Planet wird geplündert. »Der Fixpunkt ist nun ein dem Menschen entgegengesetzter.«113 Andere, wie der Linkskatholik Carl Amery, predigten ebenfalls die Einbeziehung der Natur als Partner des Menschen, wobei sie immer wieder auf die Vorbildfunktion nicht-westlicher Gesellschaften oder auch vergangener Kulturen verwiesen, die vor dem modernen »Sündenfall« einer totalen menschlichen Naturbeherrschung gefeit geblieben seien. Entscheidend sei, so Amery, daß diese archaischen Kulturen, auf die der moderne Mensch nur allzu lange als auf eine Anhäufung abstruser Mythen und Praktiken herabsah, eben nicht anthro­ pozentrisch waren. Sie verstanden den Menschen vielmehr als ein Wesen unter anderen, die alle durch komplizierte mythische und praktische Beziehungen untereinander verbunden sind.114

Wenn er an anderer Stelle den in zeitgenössischen Ökodiskussionen unumgänglichen »Häuptling Seattle« bemühte115, dann schlug dies wiederum diskursive Brücken zu entsprechenden Stimmungen im grün-alternativen Milieu, in dem fernöstliche Weisheiten und nicht-westliche Stichwortgeber ohnehin eine große Glaubwürdigkeit genossen und das Postulat westlichen Vertrauens auf Wissenschaft und Ratio äußerst misstrauisch beäugt wurde. Dort, insbesondere in den spirituellen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre sowie häufig verknüpft mit dem eingängigen Schlachtruf »Zurück zur Natur!«, war man der Meinung, dass der Mensch zu einem neuen Gleichgewicht mit sich und der Natur gelangen müsse116. Unter den Stichworten »deep ecology«, »New Age« und »Gaia-Prinzip« erhielten Überzeugungen Auftrieb, welche die Natur als »handelndes Subjekt, als Gegenüber der Menschheit« betrachteten und damit auch den Anthropozentrismus der Moderne infrage stellten117. Schlüsselt man die Fortschrittsdebatten innerhalb der Protestbewegungen der 1970er und 1980er Jahre jedoch genauer auf, dann wird deutlich, dass diese sich weder in toto noch per se gegen Menschenbild und Fortschrittsverständnis der Aufklärung wandten. Ganz im Gegenteil: Zahlreiche, insbesondere aus 113 Hebert Gruhl, Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik, Frankfurt a. M. 1975, S. 226. 114 Carl Amery, Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen, Reinbek 1976, S. 29. 115 Ders., Warum brauchen wir die Grünen. Anläßlich der bayerischen Landtagswahl 1978 gehaltener Vortrag, Hamburg 1978, S.  4 (überliefert in: AGG: Bibliothek, Sign.: grün 104–108). Der populäre und in unterschiedlichen Varianten wiedergegebene Ausspruch lautet: »Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet Ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.« 116 Vgl. Eitler, Körper. 117 Engels, Naturpolitik, Zitat: S. 297; außerdem: Karen Gloy, Das Verständnis der Natur. Bd. 2: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens, München 1996, S. 162 sowie S. 169 f.; Eitler, Körper; sowie, als Quelle, George Sessions, Deep Ecology and New Age, in: Harald Mesch (Hrsg.), Ecoresistance/Ökowiderstand, Berlin, Hamburg 1990, S. 96–105.

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der »Neuen Linken« stammende Gruppen verwahrten sich vehement gegen den Vorwurf blinder Fortschrittskritik118. Für sie rückte stattdessen die vermeintliche Blickverengung auf die technischen und materiellen Aspekte des Fortschritts in den Mittelpunkt. Zur Zielscheibe der Kritik, so der Atomgegner Klaus Traube auf einem Kongress der undogmatischen Linken in Hamburg, müsse der »Grundkonsens« der westlichen wie der östlichen Industriegesellschaften werden. Dieser beruhe auf »einem Fortschrittsbegriff, auf einer Utopie, die liberalistisch ist« und sich fatalerweise auch in die traditionelle Linke »eingeschlichen« habe. Die vor dem Hintergrund der multiplen Krisen notwendige Aufkündigung des Konsenses berge deshalb die Chance für eine Re-Definition von Fortschritt: »zurück zu dem emanzipatorischen Fortschrittsbegriff der Aufklärung«119. Ähnlich argumentierte der Umweltaktivist Roland Vogt, der gar den »Geist einer Neuen Aufklärung« beschwor120, während wieder andere mit gleicher Stoßrichtung eine Wiederbesinnung auf die humanistischen Grundlagen des aufklärerischen Fortschrittsbegriffs forderten: In Wahrheit müssen wir, wenn wir mit der Krise fertigwerden wollen, zwei Dinge auseinanderhalten, die man gewöhnlich durcheinanderschmeißt: nämlich den Fortschritt des menschlichen Bewusstseins, der wachsenden Einsicht in das, was uns zur Bewältigung unseres Lebens nottut, und den Fortschritt als reine Vermehrung von Zeugs, so wie sich ein Affe Lianen oder Schmuckketten umhängen mag in der vagen Annahme, daß er dadurch an existenzieller Macht gewinne.121

Die gemeinsame Hintergrundfolie für diese unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit der Kategorie des Fortschritts bildeten also abermals die Erfahrungen der »langen sechziger Jahre«. Ins Visier geriet die seinerzeit auf die Spitze getriebene Reduzierung des Fortschritts auf ein bloß technisches wie materielles Verständnis, das mit Wissenschaftsgläubigkeit und Konsumfixierung einherging. Schließlich charakterisierte ein weiterer Punkt die Beschäftigung mit »Zukunft« und »Fortschritt«. Dieser bezog sich auf die Ahnung, dass sich nicht nur die inhaltliche Aufladung, sondern auch die Zielrichtung des aufklärerischen Fortschrittsverständnisses erschöpft habe122. »Daß die zumindest seit der Auf118 Vgl. z. B. BBU, Orientierungspapier, in: Peters (Hrsg.), Alternativen, S. 369: »Unsere Gegner werden uns Maschinenstürmerei, Technik- und Fortschrittsfeindlichkeit vorwerfen. Sie werden uns vorwerfen, wir wollten ins Mittelalter oder gar die Steinzeit zurück­ kehren.« 119 Klaus Traube, zit. in: Plenum 1.10.78 (»NDR III sendete am 11.10.78 21:00 in der Reihe ›Menschen und Meinungen‹ 20 Minuten Ausschnitte aus der Plenumsdiskussion vom Sonntag. […]«), abgedruckt in: AG Alter Öko: Kleiner Nachschlag zum Großen Ratschlag, S. 8–15, hier S. 10; vgl. auch Johano Strasser/Klaus Traube, Die Zukunft des Fortschritts. Der Sozialismus und die Krise des Industrialismus, Bonn 1981, S. 44–55. 120 Roland Vogt, Editorial, in: bbu aktuell 3 (1978), S. 5. 121 Amery, Warum brauchen wir die Grünen, S. 8 f. 122 So auch Nowotny, Eigenzeit, S. 51.

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klärung in unterschiedlicher Weise kulturell und politisch wirksamen linearen Fortschrittsvorstellungen nicht mehr tragend sind«, so Dan Diner in seinem bereits angeführten Artikel, sei »allgemein ersichtlich.« Die Wahrnehmung vom Ende der Zeit, von linearer Zeit, findet seine Entsprechung in einem sich verengenden Lebensgefühl – dem Lebensgefühl von no future – konkret im erwarteten Ende unserer Zivilisation. Daß keine oder nur noch wenige und unter der Hand verrinnende Zeit bleibt, ein solches Ende zu verhindern, reflektiert die seismographische Wahrnehmung vom Ende einer epochalen Vorstellung von Fortschritt.123

War es vorderhand die Friedensbewegung mit ihrer Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden Atomkrieg, welche den Topos vom Ende der Zukunft bediente, so bildete sich die Infragestellung von Linearität besonders deutlich in den Umwelt- und Wachstumsdebatten der 1970er und frühen 1980er Jahre ab. In den Protestbewegungen, zumal der Ökologiebewegung, war stattdessen geradezu ubiquitär von Kreisläufen und Regelkreisen, Gleichgewicht und Vernetzung die Rede. Das war auf einen recht einfachen Zirkelschluss zurückzuführen. Während die ökologische Bedrohung primär auf ein in seinem Kern linear konzipiertes Wachstumsdenken zurückgeführt wurde, sollte den Ausweg aus der Krise ein ökologisches Denken weisen, das in seiner Quintessenz auf Kreisläufen und Netzwerkverbindungen basierte. Auch wenn die simple Identifikation von Wachstum mit Linearität, von Ökologie mit Kreisläufen und Netzwerken eine grobe und unzulässige Vereinfachung darstellt, so nahmen doch viele Zeitgenossen diese Schematisierungen in dieser pauschalen Weise vor und machten sie sich zunutze, um die weit verzweigten Positionen in einer komplexen Debatte zu abstrahieren124. Gleichzeitig kamen mit dem Boom von Ökologie und Kybernetik zwei zentrale wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen zum Tragen. Die Ursprünge der Ökologie reichen zwar bis ins 19. Jahrhundert zurück – der Zoologe Ernst Haeckel hatte den Begriff 1866 geprägt  – ihr gelang allerdings erst in den sechziger Jahren des 20.  Jahrhunderts der »Durchbruch als Meisterdisziplin für die Beschreibung weltweiter Umweltprobleme«125. Orientiert an der wissenschaftlichen Ökologie, welche die Analyse von Energie- und Stoffkreisläufen, von komplexen Wechselwirkungen in vernetzten natürlichen Systemen in den Mittelpunkt stellte, wurde das Argumentieren in Kreisläufen und Gleichgewichten von der Umweltbewegung aufgenommen und populari123 Diner, Hier stimmt was nicht, S. 21 [Hervorhb. i. Orig.]. 124 Diese Interpretation deutet bereits Kupper, »1970er Diagnose«, S.  338 an. Vor allem unterstreicht er eine entsprechende Prägung und »Richtung« der Denkgewohnheiten durch die Publikationen des Club of Rome. Ausführlich dazu aus der Perspektive der Zukunftsforschung: Seefried, Zukünfte, v. a. Kap. VII . 125 Engels, Naturpolitik, S.  294–299, Zitat: S.  296. Zur Geschichte der Ökologie: Ludwig Trepl, Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zehn Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1987.

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siert. Das wurde begleitet von einer geradezu spiegelbildlichen Entwicklung im Bereich der Kybernetik126. Diese in den 1950er Jahren aufkommende, auf älteren Varianten der Systemtheorie beruhende Disziplin avancierte im darauffolgenden Jahrzehnt der Planung zu einer regelrechten Leitwissenschaft. Stand im Zentrum der Ökologie die Kategorie des Kreislaufs, so bildete der Regelkreis das »zentrale Paradigma der Kybernetik«. Er, so die zentrale Annahme, ermögliche die Selbststeuerung eines Systems durch permanente Rückkopplung127. Die Prämissen der Kybernetik vollzogen, wie Alexander Schmidt-Gernig überzeugend argumentiert hat, wiederum eine deutliche Abkehr von älteren Modellen der Zukunftsforschung aus dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese waren dem »Grundmuster einer auf historischer Analogiebildung aufbauenden ›Gesetzlichkeit‹ historischer bzw. evolutiver Entwicklung« verpflichtet gewesen und hatten daraus »prognostische Vorhersagen und konkrete Modelle historischen Fortschritts (oder Niedergangs) im Sinne einer mehr oder weniger linearen Teleologie« abgeleitet128. Der Bruch der Kybernetik mit den historistischen Prämissen und Kategorien der älteren Zukunftsforschung habe, so Schmidt-Gernig weiter, auch über den wissenschaftlichen Bereich hinaus weitreichende Auswirkungen auf den Zukunftsdiskurs der westlichen Gesellschaft gezeitigt. Auf diese Weise seien primär geschichtsphilosophische und historisch inspirierte Zukunftsmodelle durch naturwissenschaftliche und insbesondere kybernetische Leitbilder ersetzt worden129. Ähnlich wie die Ökologie hatte die Kybernetik enorme Bedeutung für die Umwelt- und Wachstumsdebatten seit den 1960er Jahren. Immerhin war der Bericht über die Grenzen des Wachstums auf der Basis kybernetischer Modelle erstellt worden und dessen Argumentationsmuster, nicht zuletzt dessen Schaubilder, hatten wiederum das Denken in Regelkreisen präfiguriert und die passenden Ordnungsmotive bereitgestellt. Dies leistete einer Popularisierung der kybernetischen Kategorien und Prämissen Vorschub, die im öffentlichen Diskurs nun leicht abrufbar waren130. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass die Umweltbewegung davon in besonderer Weise beeinflusst war. Aus der Ökologie und der Kybernetik herrührende Kategorien, Leitbegriffe und Interpretationsmodelle kamen in deren konkreten Debatten zum Tragen, zumal sich das Argu-

126 Hierzu und zum Folgenden: Schmidt-Gernig, Das Jahrzehnt der Zukunft, in: Gerhardt (Hrsg.), Zeitperspektiven; sowie Ders., Die gesellschaftliche Konstruktion der Zukunft. Westeuropäische Zukunftsforschung und Gesellschaftsplanung zwischen 1950 und 1980, in: WeltTrends 18 (1998), S.  63–84; außerdem: Philip Aumann, Mode und Methode. Die Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2009. 127 Schmidt-Gernig, Das Jahrzehnt der Zukunft, S. 323. 128 Ebd., S. 329 f. 129 Ebd., S. 342. 130 Vgl. Seefried, Zukünfte. Grundsätzlich zur Präfiguration von Diskursen durch Schaubilder: Thomas Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 84–109.

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mentieren in Kreisläufen, Regelkreisen oder Netzen hervorragend in organische Denkmuster und holistische Traditionen integrieren ließ131. Das illustriert beispielhaft folgende Bemerkung Baldur Springmanns, der als biodynamisch wirtschaftender Ökobauer mit braunen Wurzeln einerseits stellvertretend für die ideologisch facettenreiche Gründungsgeschichte der bundesdeutschen Grünen steht, und dem es andererseits gelang, Anknüpfungspunkte für die Utopien der zeitgenössischen Alternativbewegung zu bieten, die das Landleben als romantische Projektionsfläche entdeckte. Seine vormodernen Ganzheitlichkeitsutopien kleidete er geschickt in die zeitgenössisch populären Kategorien aus Ökologie und Kybernetik: Die Zukunft, wenn es denn eine geben soll, wird hervorgehen aus dem ganz neuen Stil eines bewussten Füreinander und Miteinander von Mensch und Natur. Ökologie des Menschen! Der Mensch, der durchaus nicht alles tut, was er tun könnte. Der Mensch, der sich als Glied eines ganzen, des Erdenlebens weiß und auch dementsprechend verhält. Der Mensch, der sein Amt als Steuerungsfaktor, als Kybernes des großen Regelkreises Erdenleben ernst nimmt. Wo findet dieser Mensch sein Leitbild? Doch ganz bei dem genau in diesem Sinne, in einem überschaubareren, kleineren Ökosystem ›Bauernhof‹ tätigen, eben dem alternativen Bauern.132

Es sei abschließend nur angedeutet, dass für den zeithistorischen Hintergrund hinsichtlich des in den 1970er Jahren zu beobachtenden Strebens nach Ganzheitlichkeit auch noch weitere zeitgenössische Infragestellungen von modernen Metaerzählungen samt deren Rationalitäts-, Wahrheits- und Realitätspostulaten zum Tragen kamen133. Michael Ende, welcher der Anthroposophie mit ­ihren organischen Vorstellungen nahestand und sich als Schriftsteller mythischen Erzählformen verpflichtet fühlte, glaubte, daß wir das Ende einer bestimmten Entwicklung erreicht haben, was vor allem das abstrakt-begriffliche Denken betrifft. Ich habe fast den Eindruck  – mag sein, daß das jetzt übertrieben klingt  –, als ob sich gewisse Denkformen totgelaufen hätten, die etwa mit dem 16. Jahrhundert angefangen haben, mit Giordano Bruno, Galileo ­Galilei und Newton. Es handelt sich um jenes Denken, das die Einheit der Welt in eine objektive Wirklichkeit und eine subjektive Innerlichkeit zerrissen hat, so als gäbe es eine tatsächliche Welt auch ohne menschliches Bewußtsein.134

131 Zur Geschichte des ganzheitlichen Denkens und seiner Varianten: Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. 2. 132 Baldur Springmann, Alternativer Landbau, abgedruckt in: Unterlagen Hof Springe, (AGG: A-Knabe, Wilhelm, Nr.: 64). 133 Zur Bedeutung des Poststrukturalismus hierfür: Martin Kindtner, Strategien der Verflüssigung. Poststrukturalistischer Theoriediskurs und politische Praktiken der 1968er Jahre, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 373–392. 134 Zit. in: Eppler/Ende/Tächl, Phantasie, Kultur, Politik, S. 31.

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Im Umfeld der Alternativbewegungen vermischten sich solche Überlegungen wiederum mit verschiedenen Spielarten der bereits thematisierten spirituellen Bewegungen. Ihr Interesse an »verschiedenen Religionen«, so notierten Therapeuten einer Psychogruppe aus dem bayerischen Penzberg, ergebe sich auch durch die »Einsicht in die Begrenztheit unseres linearen, analytischen Denkens«135.

Schluss Welche Erkenntnisse kann die nähere Betrachtung grün-alternativer Zeit- und Zukunftsvorstellungen für die Hypothese von einem »Zeitenwandel nach dem Boom« liefern? Zunächst einmal lässt sich auf zahlreiche Impulse verweisen, die ihren Ausgang von den untersuchten Gruppen nahmen, aber über diese hinaus auch weitere Kreise der bundesdeutschen Gesellschaft und Politik in den 1970er und 1980er Jahren prägten. Das betraf vor allem bestimmte Themen: Die Protestbewegungen hegten ein besonders ausgeprägtes, grundsätzliches Unbehagen gegenüber Technikbegeisterung und planerischem Machbarkeitsdenken, wie sie die »langen sechziger Jahre« charakterisiert hatten. Besonders eindringlich verkörperten diese unterschiedliche, oftmals diffus erscheinende Entfremdungserscheinungen gegenüber der beschleunigten und »verwalteten Welt«. Zum anderen waren es vor allem die außerparlamentarischen Bewegungen, die maßgeblich dafür sorgten, dass die Überlebensthemen Umwelt und Frieden auf die politische Agenda gelangten. Diese Fragen, insbesondere die atomare Bedrohung in ihrer zivilen wie militärischen Variante, nährten die in den 1970er und 1980er Jahren intensiv gepflegten Krisendiskurse und zeitgenössischen Endzeitstimmungen. Die oftmals apokalyptisch grundierten Katastrophenszenarien beförderten wiederum die Auseinandersetzung mit zwei Kernkategorien modernen historistischen Denkens, »Zukunft« und »Fortschritt«: Im Angesicht von ökologischer Bedrohung, Super-GAU und atomarer Massenvernichtung schien nicht nur der imaginierte Erwartungshorizont dramatisch verengt, sondern mit den vermuteten Langzeitfolgen gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Handelns schien die Zukunft auch deutlicher in die Gegenwart hineinzuragen. Für manche schien Zukunft als gestaltbarer Raum sogar grundsätzlich infrage gestellt, Zukunft war nicht mehr offen. Gleichzeitig erfuhren die in den 1970er Jahren intensiv geführten Fortschrittsdebatten wichtige Impulse aus den vielfältigen Überlegungen, die dazu im grün-alternativen Milieu angestellt wurden. Jenseits dieser thematischen Impulse lassen sich Rückwirkungen hinsichtlich bestimmter gesellschaftlicher Praktiken wie übergreifender Denkstrukturen ausmachen. Die alternativen Zeit- und Zukunftsvorstellungen fanden etwa ihren konkreten Niederschlag in den vielfältigen Projekten des dazu gehöri135 Zit. nach Reichardt, Authentizität, S. 807.

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gen Milieus und nicht zuletzt den damit eng verwandten spirituellen Bewegungen, die in jenem Zeitraum einen enormen Aufschwung erlebten. Und es waren nicht zuletzt die grün-alternativen Gruppen und Protestbewegungen, welche die Ideen und Denkmuster der neuen Leitdisziplinen Ökologie und Kybernetik begierig aufgriffen und popularisierten. Dies war weniger von Bedeutung, weil es die adäquate wissenschaftliche Behandlung der neuen Herausforderungen zu erlauben schien, sondern vor allem weil die vereinfachte und häufig auf Visualisierungen beruhende Rezeption komplexer Modelle es erlaubte komplizierte Zusammenhänge zu abstrahieren und gleichzeitig an unterschiedliche Traditionen holistischen Denkens anzuknüpfen. Gleichwohl stellt sich die Frage: Wie neu war das alles? Tatsächlich findet sich vieles von dem, was in den 1970er und 1980er Jahren prominent auf die Tagesordnung rückte, bereits in vorhergehenden Zeitabschnitten. So knüpften die Ideen und Praktiken der »neuen« Protestbewegungen teilweise an diejenigen der »alten« an, insbesondere an die bürgerlichen Reformbewegungen der Jahrhundertwende. Darüber hinaus hatten die Themen Natur, Umwelt und Frieden bereits seit der frühen Nachkriegszeit wirkmächtige Proteste begründet. Und auch apokalyptische, teils religiös aufgeladene Szenarien reichen nicht nur sehr viel weiter in die Geschichte zurück, sondern begleiteten beispielsweise auch die »Kampf-dem-Atomtod«-Bewegung der 1950er Jahre. Dennoch lässt sich argumentieren, dass die Phänomene der 1970er und 1980er Jahre sowohl quantitativ ein neues Ausmaß als auch qualitativ einen neuen Charakter annahmen. Der von zahlreichen Krisenerscheinungen geprägte zeithistorische Kontext bot einen veränderten Resonanzraum, in dem »alte« Stimmen, die zuvor an den Rand gedrängt worden waren, nun Gehör fanden und sich mit zahlreichen »neuen« Stimmen verbanden, so dass der Tenor der Fortschrittskritik in den 1970er Jahren erneut an Lautstärke gewann. Möchte man diesen Zeitraum stärker konturieren, dann erscheint vor allem die Differenz zu den »langen sechziger Jahren« evident. Dies gilt umso mehr, als gerade die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die das Gros der Protestbewegungen und des alternativen Milieus ausmachten, in diesem Zeitraum sozialisiert worden waren. Deren Gegenwartskritik und Krisenrhetorik, deren Zukunftsängste und Fortschrittsvorstellungen lassen sich vor allem als eine bewusste Abgrenzung gegenüber jenen Zuschreibungen lesen, die das vorhergehende Jahrzehnt so stark gekennzeichnet hatten und die sich nun, im Angesicht neuer Krisen und Herausforderungen, nicht nur als nicht mehr haltbar erwiesen, sondern die im Gegenteil sogar die Wurzel allen Übels darzustellen schienen: Planungsdenken und Machbarkeitsphantasien, Wissenschaftsglaube und Technikfixierung, sowie vor allem ein Fortschrittsverständnis, das in den 1960er Jahren hauptsächlich auf materielle und technologische Aspekte reduziert worden war. Darüber hinaus gerieten in den Debatten der 1970er Jahre jedoch auch noch weitere Umbruchszeiten der Neuzeit in den Blick, in denen bestimmte Entwicklungen der Moderne ihren Ausgang genommen hatten, die sich nun ihrem Ende entgegen zu neigen schienen und aus grün-alternativer Warte mitunter auch of-

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fensiv infrage gestellt wurden. Das war vor allem der Durchbruch der Industriemoderne an der Wende zum 20. Jahrhundert, zuweilen aber auch die Sattelzeit samt Aufklärung. Manch zeitgenössischer Gegenwartskritiker ging schließlich gar soweit, die Wurzel allen Übels am Beginn neuzeitlich-rationalistischen Denkens, bei Humanismus und Renaissance zu vermuten. Dass viele Anhänger des grün-alternativen Milieus ihr Heil jedoch nicht nur in vergangenen Zeiten suchten, sondern diese vergangenen Zeiten zunehmend auch in entfernten Räumen, etwa in Form von nicht-westlichen Glaubenspraktiken, Glücksversprechen und Wissensbeständen, mag dieses Bild ergänzen und dazu anregen, die Zeit- und Zukunftsvorstellungen »nach dem Boom« nicht nur in einer diachronen, sondern auch in einer synchronen Perspektive noch deutlich stärker zu konturieren. Nicht umsonst hatte auch Michael Ende die Handlung seines grün-alternativen Vorzeigemärchens Momo zwar nicht außerhalb Europas, so aber doch zumindest an einem anderen von ihm selbst wie seiner Klientel hoch geschätzten und oft frequentierten Sehnsuchtsort angesiedelt, der als Gegenutopie zur im doppelten Sinne kalten Chronokratie der Bundesrepublik entworfen wurde: dem mediterranen Italien.

Elke Seefried

Partei der Zukunft? Der Wandel des sozialdemokratischen Fortschrittsverständnisses 1960–2000

Vorbei die Zeiten, in denen Fortschritt gerade von der politischen Linken als Synonym einer durchaus gewollten, ja fast zwangsläufigen Entwicklung begriffen und sogar erhofft wurde. Auch schon lange vorbei die Zeit, in der Fortschrittsoptimismus zum guten Ton auf SPD -Parteitagen und Gewerkschaftskongressen gehörte. […] Die Zeit ist also reif, den Fortschrittsbegriff politisch neu zu entdecken.1

Diese Aufforderung, dem »Fortschritt eine neue Richtung« zu geben, verfasste – man ahnt es – der SPD -Vorsitzende Sigmar Gabriel 2011 in einem von Matthias Machnig herausgegebenen Band Welchen Fortschritt wollen wir? Dieser Sammelband spiegelt paradigmatisch die Suche nach einem sozialdemokratischen Fortschrittsverständnis, welches der SPD abhandengekommen zu sein scheint. Wo liegen die Wurzeln dieses Prozesses, was sind seine Faktoren, Triebkräfte und Folgen? Der folgende Beitrag zeigt, dass sich Zukunftsvorstellungen und Fortschrittsverständnisse der SPD von den 1960er bis 1990er Jahren grund­ legend veränderten, und dies ging mit tiefen programmatischen Verschiebungen einher. Dieser Wandel erfolgte im Rahmen eines breiteren sozioökonomischen und politisch-kulturellen Transformationsprozesses2 – die SPD war nicht nur Teil dessen, sondern prägte den Wandel aktiv mit. Keine deutsche Partei schöpfte so sehr aus dem Selbstverständnis einer Partei der Zukunft wie die SPD. Seit ihrer Gründungszeit im 19. Jahrhundert hatte sie das Bild einer vorwärts orientierten Partei gepflegt, die den »Fortschritt« in der industriellen Moderne – sozial-emanzipativ und industriell-technisch – be1 Sigmar Gabriel, Dem Fortschritt eine neue Richtung geben, in: Matthias Machnig (Hrsg.), Welchen Fortschritt wollen wir? Neue Wege zu Wachstum und sozialem Wohlstand, Frankfurt a. M./New York 2011, S. 22–32, hier S. 22. 2 Zu den Transformationsprozessen der 1970er und 1980er Jahre u. a. Thomas Raithel/Andreas Rödder/Andreas Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009; Niall Ferguson/Charles S. Maier/Erez Manela u. a. (Hrsg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge MA 2010; zur These des Strukturbruchs Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen ³2012. Mit Blick auf die längeren Linien der Moderne Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016.

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grüßte und in die richtige Richtung lenken wollte. In den 1960er Jahren steigerte sich dies zu einer Aufbruchsstimmung, welche über das tradierte Fortschrittsverständnis hinaus Planungsbegeisterung und ein Versprechen der »Demokratisierung« transportierte. Doch gerieten das sozialdemokratische Selbstverständnis einer Partei der Zukunft und ihre Deutungen des Fortschritts in den 1970er Jahren ins Rutschen. In der Partei kursierten Krisenwahrnehmungen, Modernitäts- und Technikkritik. An der Wurzel dessen lagen die sozialdemokratische Rezeption des ökologischen Denkens und ökologischer Grenzdiskurse, Ölkrise und wirtschaftlicher Strukturwandel sowie eine Globalisierung politischer mental maps  – und damit eine Veränderung politischer Zeit- und Raumwahrnehmungen3. Der sozialdemokratische Wandlungsprozess setzte bereits vor dem »Ende des Booms«, also vor der Öl- und Wirtschaftskrise 1973/74, ein4. Doch wurde er durch die Erfahrung des wirtschaftlichen Abschwungs verstärkt – nicht zuletzt, weil sich die SPD ja als Interessenvertreterin der Arbeitnehmer verstand und das Problem der Arbeitslosigkeit als besonders drängend erlebte. In der Folge durchlief die SPD einen schmerzhaften Orientierungsprozess, der mit innerparteilichen Flügelkämpfen einherging. Demokratisierungsund Planungsbegeisterung schwanden, und die Partei suchte nach einem neuen Fortschrittsbegriff5, der ökologische Krisenwahrnehmungen und Kritik an der industriell-technischen Moderne mit dem sozialdemokratischen Programmkern des sozialen Fortschritts und des Leitbilds staatlicher Steuerung verknüpfte. Die SPD entwickelte insofern ein »präsentistisches« Zeitverständnis, als ihre großen, langfristigen Entwürfe für die Gestaltung der Zukünfte erodierten6. In den 1990er Jahren avancierten dann Innovation und ökologische Modernisierung zu zukunftsorientierten, vagen Leitbildern, die ein erneuertes technikoptimistisches, sozial und zugleich marktliberal grundiertes Modernisierungsverständnis transportierten7. Am Beispiel der SPD wird somit deutlich, dass sich politische Fortschrittsverständnisse in der Bundesrepublik zwischen den 1960er und 1990er Jahren tiefgreifend wandelten. Zweifellos sind Gesellschaften »pluritemporal«, existie3 Vgl. Fernando Esposito, Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer, Vorgeschichte, S. 393–423; Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945–1980, Berlin u. a. 2015, S. 452–489; Ferguson/Maier/Manela, Shock. 4 Zur These einer Zäsur der SPD -Geschichte 1973, die hier zu differenzieren ist, Franz Walter, Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie, Berlin 2010. 5 Mit der These, dass sich das an Planung, Modernisierung und Emanzipation orientierte Fortschrittsverständnis der Boomepoche im Lauf der 1970er Jahre »erledigt« hätte, Doering-Manteuffel/Raphael, Boom, S. 135. 6 Zur These eines obwaltenden Präsentismus François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003. 7 Dazu Elke Seefried, Rethinking Progress. On the Origin of the Modern Sustainability Discourse, 1970–2000, in: JMEH 13 (2015), 3, S. 377–400.

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ren also stets unterschiedliche Zeitwahrnehmungen und -verständnisse8. Doch wurde um 1970 eine Transformationsphase, ein neues »hegemoniales« politisches Zeitregime in der Bundesrepublik und darüber hinaus fassbar9. In dieser wurden Verständnisse von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit und politische Leitbegriffe der industriellen Moderne bzw. der »Hochmoderne« seit den 1880er Jahren – nämlich Fortschritt und Modernisierung – auf den Prüfstand gestellt10. Die Thesen vom »Strukturbruch« in der Industriemoderne und dem »sozialen Wandel revolutionärer Qualität« zielen vor allem auf sozial- und wirtschaftshistorische Prozesse11. Blickt man auch auf politisch-kulturelle Aspekte, so lassen sich schon die Jahre um 1970 als Einschnitt auf dem Weg zur Gegenwart festmachen  – gerade mit Blick auf die Bedeutung des Ökologischen12. Darüber hinaus stand das Zeitregime der Transformationszeit nicht nur im Zeichen des »Posthistoire«, einer hegemonialen Wahrnehmung vom Ende der Geschichte und einer »Schließung der einst ›offenen Zukunft‹«13, sondern war heterogener. Politische Akteure suchten trotz aller Krisendiskurse neue Zukünfte zu eruieren. Zudem etablierte sich in den 1990er Jahren ein neues, markt- und technologiebasiertes Modernisierungsparadigma.

8 Achim Landwehr, Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte, in: Ders. (Hrsg.), Frühe neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 9–40, hier S. 25–29. 9 Esposito, Von no future, hier S. 395. Zum Begriff des Zeitregimes: Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013. 10 Mit der industriellen Moderne bzw. Industriemoderne ist das (westliche)  industrielle Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell mit der Dominanz des sekundären Sektors, dem Massenproduktionsregime, materiell definierten Schichten bzw. Klassen und einem Verständnis staatlicher Steuerung gemeint. Vgl. Raithel/Rödder/Wirsching, Einleitung, in: Dies., Weg, S. 7–14; Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: VfZ 55 (2007), S. 559–581. Der Begriff der »Hochmoderne« zielt auf die Phase der klassischen Industrie- und Massengesellschaft von den 1880er Jahren bis in die 1970er Jahre und die entsprechende Suche nach den ihr angemessenen Ordnungsmodellen, vgl. Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: JMEH 5 (2007), S. 5–21. 11 Die Tübinger und Trierer Forschergruppe »Nach dem Boom« betonte den sozio-ökonomischen Strukturbruch in der Industriemoderne und damit die Zäsur 1973, verwies aber auch auf teilweise asynchrone Brüche der 1970er und 1980er Jahre: Doering-Manteuffel/ Raphael, Boom; Anselm Doering-Manteuffel, Die Vielfalt der Strukturbrüche und die Dynamik des Wandels in der Epoche nach dem Boom, in: Morten Reitmayer/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 135–145, hier S. 140. 12 Hierzu aus dem Tübinger Kontext Silke Mende, »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011. 13 Esposito, Von no future, S. 408, der allerdings in seinem Schlussabschnitt auf ein neues Modernisierungsverständnis der 1990er Jahre verweist.

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Zwischen marxistischer Revolutionstheorie und Reformeuphorie: Die »Zukunftspartei« SPD bis Ende der 1960er Jahre Die SPD verstand sich seit ihrer Gründungszeit im 19. Jahrhundert als Partei der Zukunft. Gespeist aus der Aufklärung, hatte der Frühsozialismus das Verständnis von einer offenen, planbaren Zukunft und einer Durchsetzung der Vernunft in der Geschichte internalisiert. Die sozialdemokratischen Parteien in Europa formierten sich in der Rezeption der marxistischen Revolutionstheorie in der Erwartung, dass sich die Geschichte in Form von Revolutionen teleologisch fortentwickle. Zentrale Triebkraft auf dem Weg in die Zukunft war im Sinne des Historischen Materialismus die Ökonomie, welche als Grundlage für Klassenkämpfe und Revolutionen angesehen wurde. Dabei vereinte die marxistische Revolutionstheorie im Verständnis von der Gesetzmäßigkeit bestimmter Stadien in der Geschichte wissenschaftliche Prognostik und politisches Programm14. Das auf die Zukunft gerichtete Selbstbild manifestierte sich nicht nur im Begriff der »Arbeiterbewegung«, sondern ebenso darin, dass die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) ihr zentrales Periodikum mit Vorwärts benannte15. Die Partei, die ab 1890 als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) firmierte, öffnete sich dem Konzept des Staatssozialismus: Nach der kommenden Revolution werde der von Sozialisten geleitete Volksstaat die Produktivkräfte anleiten, die Produktionssteuerung übernehmen und so den Sozialismus auf gesetzlichem, also staatlichem Wege erschaffen16. Dies verband sich mit einem neuen Verständnis von Fortschritt. Die Sozialdemokratie unterschied nun zwischen »Industrialismus« und »Kapitalismus«. Sie wandte sich weiterhin gegen das kapitalistische System, begrüßte aber den industriell-technischen Fortschritt. Damit konnte sie einerseits den Niedergang des Kapitalismus prognostizieren, andererseits eine Zukunftsorientierung und Fortschrittsgewissheit propagieren, die sich im Begriff des sozialistischen »Zukunftsstaates« spiegelten. Dieser zielte auf die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur, auf das Ziel des Volksstaates, also die Volksherrschaft, und verband dies mit dem Verständnis des sozial-emanzipativ und industriell-technisch definierten Fortschritts17. 14 Vgl. Lucian Hölscher, Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989, S.  199–379; Thomas Welskopp, Im Bann des 19. Jahrhunderts. Die deutsche Arbeiterbewegung und ihre Zukunftsvorstellungen zu Gesellschaftspolitik und »sozialer Frage«, in: Ute Frevert (Hrsg.), Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 15–46. 15 Vgl. Michael Ruck, Von der Utopie zur Planung. Sozialdemokratische Zukunftsvisionen und Gestaltungsentwürfe vom 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre, in: Ders./Michael Dauerstädt, Zur Geschichte der Zukunft, Bonn 2011, S. 7–77. 16 Vgl. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Zürich 1879; Welskopp, Bann, S. 29–33. 17 Welskopp, Bann, S.  17; vgl. Peter Hübner, Arbeiterbewegung und Technikkritik in Deutschland. Aspekte einer Beziehungsgeschichte, in: Jahrbuch für Forschung zur Geschichte der Arbeiterbewegung 12 (2013), S. 68–89, hier S. 70 f., 76 f.

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Im Kern hielt die SPD in der Folge an dieser Fortschrittsgewissheit fest  – auch wenn sie mit dem Revisionismusstreit, der pragmatischen Orientierung am Leitbild der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik und mit dem Godesberger Programm 1959 endgültig die marxistische Revolutionshoffnung ad acta legte. Mit Godesberg nahm die SPD Abschied von der großen revolutionären Fernperspektive und der Utopie der klassenlosen Gesellschaft. Doch zugleich öffneten sich neue Zukunftsperspektiven. Denn nun rückte eine aktualisierte Deutung von Reformpolitik in der modernen Industriegesellschaft in den Vordergrund, welche die soziale Marktwirtschaft akzeptierte und die SPD als moderne Volkspartei profilieren wollte. Dieses Reformverständnis gewann in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Züge einer »Reformeuphorie«18. So propagierte Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969: »Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.«19 Die Reform- und Aufbruchsstimmung der SPD gründete in verschiedenen Faktoren. Erstens entsprang sie dem wirtschaftlichen Boom, der deutlich erweiterte Verteilungs- und Handlungsspielräume bot. Zweitens lässt sich auf die »Westernisierung« der Sozialdemokratie verweisen20. Die SPD hatte ja auch deshalb die revolutionäre Perspektive ad acta gelegt, weil sie sich in einem Ideen­austausch  – vermittelt insbesondere durch Remigranten wie Willy Brandt  – »westlichen« Werten geöffnet hatte, die das vernunfthafte, fortschrittsorien­tierte Individuum mit seinen Rechten und Freiheiten in den Mittelpunkt stellten. Dies ging einher mit einem Generationswechsel: Mit Willy Brandt, dem jungen Berliner Regierenden Bürgermeister, später Außenminister der Großen Koalition, besaß die SPD einen Kanzlerkandidaten, der sich in seinem Wahlkampf an John F. Kennedy orientierte, um so das Image des progressiven Politikers zu verkörpern21. Drittens entstand in den 1960er Jahren aus dem sozialen Wandel, einer neuen Jugendkultur und der Marxismus-Renaissance in der Neuen Linken die Protestbewegung der »1968er«, welche dem Gedanken tiefgreifender, »systemüberwindende[r]« Reformen Gewicht verlieh. Viele 1968er traten nach dem Abflauen der Bewegung in die SPD ein und verstärkten Forderungen nach grundlegenden politischen und ökonomischen Re18 Bernd Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011; vgl. Paul Nolte, Die letzte Euphorie der Moderne. Die Reformzeit der alten Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren, in: Ders., Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus, München 2006, S. 28–46. 19 Willy Brandt, Regierungserklärung, 28.10.1969, in: Ders., Berliner Ausgabe, Bd. 7. Mehr Demokratie wagen, bearb. von Wolther von Kieseritzky, Bonn 2001, S. 224. 20 So Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB , München 2003; Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 21 Vgl. Julia Angster, Der neue Stil. Die Amerikanisierung des Wahlkampfs und der Wandel im Politikverständnis bei CDU und SPD in den 1960er Jahren, in: Matthias Frese/ Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, S. 181–204.

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formen22. Schließlich lässt sich viertens darauf verweisen, dass in den westlichen Industriestaaten der 1960er Jahre ein neues politisches Interesse für Planung fassbar wurde. Versteht man Planung als »öffentlicher, verfahrensgestützter Vorgriff auf die Zukunft«, der die Ausgestaltung von Gesellschaften zum Gegenstand hat, so prägte sie seit je die politische Praxis23. Doch in den 1960er Jahren basierte eine neue Planungsstimmung auch auf einem verstärkten politischen Vertrauen in Wissenschaft und Technik: Planung erhielt den Glanz des Modernen, weil sie es zu ermöglichen schien, Entscheidungen zu rationalisieren, also durch Experten wissenschafts- und sachorientiert anzulegen und damit die Zukunft entsprechend zu steuern24. Gerade die SPD zeigte sich aufgeschlossen, trug sie doch ein positives Bild vom Staat als Agent zur Umsetzung und Steuerung politischer Ziele in sich. Inhaltlich richtete sich das Reformstreben der SPD in den 1960er Jahren auf verschiedene Felder. Zentrale Bedeutung hatte die Neue Ostpolitik, welche die deutsche Außenpolitik in den Lauf der internationalen Entspannung im Kalten Krieg einbetten sollte, aber auch grundsätzlich dem sozialdemokratischen Ziel nach Frieden entsprach25. Interessanter für den hier thematisierten Zusammenhang sind drei weitere Felder, die sich mit spezifischen Fortschritts­ verständnissen verbanden. Erstens erhob die SPD in den 1960er Jahren die »Demokratisierung« zum Leit- und Reformprinzip. Dies war freilich ein schillernder Begriff. Willy Brandt begriff 1969/70 Demokratisierung als »zielstrebige[n] Abbau von Privilegien auf allen Gebieten«26. Deshalb sei es Auftrag der SPD, in einem »fortwährende[n] Prozeß« den »Untertanengeist, der unserem Volk so viel Schaden zugefügt hat«, durch »Demokratisierung« zu überwinden. Insofern ging es Brandt darum, das demokratische Prinzip über den staatlichen Rahmen hinaus stärker in gesell22 Faulenbach, Jahrzehnt, S.  191; vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Kritische Theorie und Neue Linke, in: Dies. (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998, S. 168–187. 23 Dirk van Laak, Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: GG 34 (2008), S. 305–326, hier S. 306; vgl.: Ders., Planung, Planbarkeit und Planungseuphorie, 16.2.2010 (URL: http://docupedia.de/zg/Planung, zuletzt eingesehen am 28.7.2016). 24 Vgl. Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005; Winfried Süß, »Wer aber denkt für das Ganze?« Aufstieg und Fall der ressortübergreifenden Planung im Bundeskanzleramt, in: Frese/Paulus/Teppe, Demokratisierung, S. 349–377, hier S. 349; Michael Ruck, Westdeutsche Planungsdiskurse und Planungspraxis der 1960er Jahre im internationalen Kontext, in: Heinz Gerhard Haupt/Jörg Requate (Hrsg.), Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR , ČSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004, S. 289–325. 25 Vgl. Peter Merseburger, Willy Brandt, 1912–1993. Visionär und Realist, Stuttgart 2002, S. 430–485. 26 Willy Brandt, Unsere politische Richtlinie für die siebziger Jahre, in: Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 11. bis 14. Mai 1970 in Saarbrücken. Protokoll der Verhandlungen, hrsg. vom Vorstand der SPD, Bonn o. J., S. 450–478, hier S. 456.

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schaftlichen Bereichen  – etwa in der Hochschulpolitik und der betrieblichen Mitbestimmung  – zu verankern, um Selbstbestimmung zu stärken und politische Transparenz zu erhöhen27. Zweifellos zielte die offene Formel von der Demokratisierung auch auf die Integration der eigenen Parteijugend. Mit der Aufnahme vieler »1968er« etablierte sich ein linker Parteiflügel, der in einem neomarxistischen Verständnis nicht mehr die Ausbeutung, sondern die Entfremdung des Menschen in der modernen »monopolkapitalistischen« Welt thematisierte. Besonders die Jungsozialisten verstanden Demokratisierung als Systemreform, die auf »antikapitalistische Strukturreformen«, eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Systemüberwindung (als Überwindung der bundesdeutschen Gesellschaftsordnung) zielte28. Die Parteiführung hingegen begriff Demokratisierung als mehr oder weniger linearen Prozess, womit man ein spezifisch sozialdemokratisches Verständnis von Fortschritt und das tradierte Bild vom Volksstaat forttrug und aktualisierte. Zweitens richteten sich die Reformforderungen der SPD im Bereich der Bildung, Renten- und Familienpolitik auf soziale Gerechtigkeit, was das Verständnis des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts spiegelte. Bereits im Godesberger Programm 1959 verwies die SPD im Zusammenhang mit der europäischen Integration darauf, dass diese »insbesondere dem wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt dienen muß«29. Diese Deutung wies noch Bezüge zum Historischen Materialismus auf, der auf das Ökonomische rekurrierte, hatte aber vielmehr mit einer generellen Orientierung westlicher Industriegesellschaften an Wirtschaftswachstum zu tun. Das Bruttosozialprodukt avancierte in den 1950er und 1960er Jahren, forciert durch den Boom und die neoklassische Wachstumstheorie in den Wirtschaftswissenschaften, zum zentralen Indikator für volkswirtschaftlichen Erfolg30. Gerade in der SPD rückte Wirtschafts27 Willy Brandt, Die Alternative (1969), in: Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, München 1973, S. 45f, hier S. 46. Vgl. Brandt, Regierungserklärung, 28.10.1969, in: Berliner Ausgabe, Bd. 7, S. 219f, 223. 28 Wolfgang Roth, in: Außerordentlicher Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 12. bis 13. Oktober 1972, Dortmund. Protokoll der Verhandlungen, Bonn 1972, S. 94. Vgl. Helga Grebing, Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland, in: Dies./Walter Euchner (Hrsg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, Essen 2000, S. 355– 595, hier S.  470–481; Annekatrin Gebauer, Der Richtungsstreit in der SPD. Seeheimer Kreis und Neue Linke im innerparteilichen Machtkampf, Wiesbaden 2005; Faulenbach, Jahrzehnt, S. 290–301. 29 Godesberger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen vom Außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959, in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hrsg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, Berlin u. a. 1984, S. 361–383, hier S. 381; vgl. Nolte, Euphorie, S. 32 f. 30 Vgl. Reinhard Steurer, Der Wachstumsdiskurs in Wissenschaft und Politik. Von der Wachstumseuphorie über »Grenzen des Wachstums« zur Nachhaltigkeit, Berlin 2002; Matthias Schmelzer, The Hegemony of Growth. The OECD and the Making of the Economic Growth Paradigm, Cambridge MA 2016.

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wachstum als Fortschrittsindikator in eine zentrale Position, und dies hing eng mit einer neuen Orientierung am Keynesianismus zusammen. Der Keynesianismus sah eine antizyklische staatliche Nachfragestärkung durch Stimulation der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und damit des Konjunkturverlaufs vor. Nach 1945 prägte er die Wirtschaftspolitik der britischen Labour-Regierung, die ihn in ihr Modell einer auf Verteilungsgerechtigkeit setzenden Mixed Economy integrierte31. Der SPD bot der Keynesianismus in den 1960er Jahren die Möglichkeit, Wachstumsorientierung, eine nachfrage- und damit konsumentenorientierte Wirtschaftspolitik und wissenschaftliche Steuerungsexpertise zu verknüpfen32. In der Großen Koalition avancierte der Keynesianismus zur Grundlage der Wirtschaftspolitik, dem das rasche Anspringen der Konjunktur zugeschrieben wurde. Fortschrittsgewiss argumentierte die SPD deshalb im Wahlprogramm 1969, die »moderne Wirtschaftspolitik der Sozialdemokraten« habe sich bewährt und werde fortgesetzt, indem man »Wachstum nach Maß […] gewährleiste«33. Brandt postulierte in der Regierungserklärung 1969: »Eine stetige Wirtschaftsentwicklung ist die beste Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts.«34 Drittens zielte die sozialdemokratische Reformpolitik  – und damit deren Fortschrittsverständnis  – in den 1960er Jahren auf die Förderung moderner Technik und Technologie35. Wie bereits aufgezeigt, entsprach dies ebenfalls ihrem tradierten Selbstverständnis, aber verstärkte sich mit einer generellen Bedeutungszunahme von Technik und Wissenschaft in den »langen« 1960er Jahren. Der technische Zeitgeist hatte mit der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges zu tun: So entsandte die Sowjetunion 1957 erstmals erfolgreich einen Satelliten (»Sputnik«) in die Erdumlaufbahn und zeigte, dass sie auf dem prestigeträchtigen Feld der Raumfahrt den USA zu enteilen drohte36. Zudem ermöglichte der wirtschaftliche Boom nun breiten Schichten Zugang zu moderner Technologie (etwa Auto oder Fernseher), hielten nun Roboter und erste Groß-

31 Peter A. Hall (Hrsg.), The Political Power of Economic Ideas. Keynesianism across Nations, Princeton 1989; Alexander Nützenadel, Wachstum und kein Ende. Die Ära des Keynesianismus in der Bundesrepublik, in: Werner Plumpe/Joachim Scholtyseck (Hrsg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft, Stuttgart 2012, S. 119–137. 32 Vgl. Metzler, Konzeptionen, S.  90 f.; Torben Lütjen, Karl Schiller (1911–1994). »Super­ minister« Willy Brandts, Bonn 2008, S. 137–141. 33 Regierungsprogramm der SPD 1969, S. 7 f. (URL: http://library.fes.de/pdf-files/bibliothek/ retro-scans/fa-06999.pdf, zuletzt eingesehen am 26.7.2016). 34 Willy Brandt, Regierungserklärung, 28.10.1969 (URL: http://www.willy-brandt.de/file admin/brandt/Downloads/Regierungserklaerung_Willy_Brandt_1969.pdf, zuletzt eingesehen am 26.7.2016). 35 So auch Faulenbach, Jahrzehnt, S. 186. 36 Vgl. u. a. Angela Schwarz, Das Tor in eine neue Dimension? Sputnik, Schock und die Popularität der Naturwissenschaften, in: Igor J. Polianski/Matthias Schwartz (Hrsg.), Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, S. 31–55.

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rechner Einzug in die Arbeitswelt37. Die SPD prägte das Bild des technischen Fortschritts mit: SPD -Politiker und Gewerkschafter verwiesen darauf, dass sich mit der Automation und der »Zweite[n] industrielle[n] Revolution«38 Arbeit rasant verändere. Sie begriffen Technologisierung  – im Hinblick auf Rationalisierung und den Verlust von Arbeitsplätzen – nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Chance des »technische[n] Fortschritt[s]«39. Das fordistische Produktionssystem, das auf Fließbandeinsatz und Automation beruhte, hatten SPD und Gewerkschaften schon seit den 1920er Jahren mehrheitlich positiv betrachtet, nämlich als Erleichterung von schwerer Arbeit und Hebung des Lebensstandards sowie durch den möglichen Massenkonsum durch Massenproduktion40. Zwar schwand mit dem neuen Schub der Technologisierung und der Bedeutungszunahme des Dienstleistungssektors in den 1960er Jahren die traditionelle Mitglieder- und Wählerklientel der SPD, die »Klasse« des Industriearbeiters. Doch hatte die SPD, die sich mit dem Godesberger Programm zur Volkspartei geöffnet hatte, bereits den neuen Typus des »Arbeitnehmers« sowie den technischen Angestellten als neue Wählerklientel entdeckt. Zugleich ließ sich in der Diskussion um die zweite industrielle Revolution an den sozialdemokratischen Programmkern der Emanzipation durch Bildung anknüpfen41. Diese positive Aufladung technischen Fortschritts verband sich mit dem Argument der Systemkonkurrenz: 1959 war in der SPD -Broschüre Die Zukunft meistern zu lesen, der Westen müsse »die technische Zivilisation« bejahen und die technische Bildung fördern – nicht zuletzt mit Blick auf die Anstrengungen in den »Staaten der kommunistischen Welt«42. Brandts Regierungserklärung 1969 je-

37 Vgl. Arnold Sywottek, Einleitung, in: Ders./Axel Schildt (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 13–19, hier S. 17 f. 38 Waldemar von Knoeringen, Kulturpolitik und Volksbildung im weltanschaulichen, politischen und wirtschaftlichen Spannungsfeld unserer Zeit, 11.7.1964, in: Helga Grebing/ Dietmar Süß (Hrsg.), Waldemar von Knoeringen, 1906–1971. Ein Erneuerer der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 2006, S. 210; vgl. u. a. Günter Friedrichs (Hrsg.), Automation und technischer Fortschritt in Deutschland und den USA . Ausgewählte Beiträge zu einer internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft Metall für die Bundes­ republik Deutschland, Frankfurt a. M. 1963. 39 Sozialdemokratische Perspektiven, in: Horst Ehmke (Hrsg.), Perspektiven. Sozialdemokratische Politik im Übergang zu den siebziger Jahren, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 33. 40 Vgl. Rüdiger Hachtmann, Gewerkschaften und Rationalisierung. Die 1970er-Jahre – ein Wendepunkt? In: Knud Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hrsg.), »Nach dem Strukturbruch«? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren, Bonn 2011, S. 181–209, hier S. 194 f. 41 Vgl. Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei. Volkspartei. Quotenpartei, Darmstadt 1991, S. 82 f. 42 Parteivorstand der SPD (Hrsg.), Die Zukunft meistern. Arbeitsmaterial zum Thema Wissenschaft und Forschung, Erziehung und Bildung in unserer Zeit, Berlin/Hannover 1959, S. 9.

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denfalls unterstrich: »Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt«43. Zugleich intendierte die SPD – stärker als Union oder FDP – die neuen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten für einen »modernen«, zukunfts- und damit planungsorientierten Regierungsstil zu nutzen. Dies zeigte 1969 der Band Perspektiven für die siebziger Jahre, den Horst Ehmke für den SPD -Parteivorstand publizierte: »Der Stand der Wissenschaft erlaubt es heute, vorauszuschauen. […] Daher ist neben der Teamarbeit der politisch Verantwortlichen die Zusammenarbeit der Politiker mit Wissenschaftlern und Technikern zwingende Voraussetzung zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben.«44 Ehmke, der als Jurist und Politikwissenschaftler für die amerikanische Ford Foundation gearbeitet und hier neue Planungsmethoden kennengelernt hatte, und andere Planungsbefürworter in der SPD votierten damit nicht nur für eine stärkere Einbeziehung von wissenschaftlichen und technischen Experten. Ebenso ging man davon aus, mittels rationaler Planung den (technischen) Fortschritt kontrollieren und in Bahnen lenken zu können45. Dies bedeutete keinen grenzenlosen Optimismus, aber spiegelte ausgeprägtes Machbarkeitsdenken. Der Anspruch, die Zukunft »in den Griff zu bekommen«46, blendete nicht nur Kontingenz weitgehend aus, sondern lief Gefahr, durch die Orientierung an Experten und Sachgesetzlichkeiten letztlich in einen technischen Staat zu münden47. Auch wenn die Parteiführung mit Brandt und Stellvertreter Helmut Schmidt die Planungskonzepte mit größerer Zurückhaltung kommunizierte48, so zeigte sich die SPD affin für technokratische Tendenzen von Staatlichkeit, die in einem gewissen Widerspruch zum emphatisch vorgetragenen Leitbild des »mehr Demokratie wagen« standen49. Planung aber gewann eine gewisse Eigendynamik. Mit dem Regierungswech­ sel 1969 baute die sozialliberale Koalition auf Drängen der Sozialdemokraten die Planungsstäbe in den Ministerien und im Kanzleramt aus, richtete Horst Ehmke als Kanzleramtschef ein computergestütztes »Vorhabenerfassungssystem« zur Stärkung der integrierten Aufgabenplanung ein und forcierte den Aus-

43 Willy Brandt, Regierungserklärung, 28.10.1969, in: Ders., Berliner Ausgabe, Bd. 7, S. 221 f. 44 Sozialdemokratische Perspektiven, in: Ehmke, Perspektiven, S.  33. Vgl. Klaus Schönhoven, Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966–1969, Bonn 2004, S. 643–666. 45 Vgl. Gabriele Metzler, »Geborgenheit im gesicherten Fortschritt«. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: Frese/Paulus/Teppe, Demokratisierung, S. 777–797. 46 Reimut Jochimsen, Die Zukunft in den Griff bekommen. Reformen aus der Sicht des Planers, in: Hans D. Kloss (Hrsg.), Damit wir morgen leben können, Stuttgart 1972, S. ­123–134. 47 Zur Debatte um den »technischen Staat«, siehe: Metzler, Konzeptionen, S. 196–207; Nolte, Euphorie, S. 34–37. 48 Vgl. Helmut Schmidt, in: Ehmke, Perspektiven, S. 35–38. 49 Brandt, Regierungserklärung, 28.10.1969, in: Ders., Berliner Ausgabe, Bd. 7, S. 219.

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bau von Prognose- und Planungsinstrumenten50. Doch erwiesen sich die weitgreifenden Planungskonzepte schon vor der Ölkrise als nicht verwirklichbar. Nicht nur die unterschiedlichen Sprach- und Denkmuster der juristisch geprägten Ministerialbürokratie und der wissenschaftlichen Experten sorgten für Kommunikationsprobleme. Auch wurde die Problemlösungsfähigkeit von computerunterstützten Planungsinstrumenten überschätzt. Die Ressorts fürchteten wegen des Ausbaus der Planungsabteilung im Kanzleramt um ihre Handlungsspielräume51, und 1971 deutete sich an, dass die Mittel für eine auf Expansion der Staatsausgaben und Staatsaufgaben setzende Planungspolitik nicht ausreichten. Die Öl- und Wirtschaftskrise entzog dann einer euphorisch unterlegten Planung in der SPD den Boden. Erkennbar wurde, dass Planung und Keynesianismus weder die Wirtschaftskrise voraussehen noch durch eine antizyklische Politik rasch einen neuen Wirtschaftsaufschwung einleiten konnten52. Der raschen Belebung der Konjunktur standen auch langfristige strukturelle Faktoren entgegen, nämlich der Niedergang der Traditionsindustrien (Stahl, Bergbau und Textil), die beschleunigte Tertiarisierung, der Durchbruch moderner Informationstechnologien bzw. der Mikroelektronik und die wachsende Verflechtung der Weltwirtschaft53.

Grenzen: Erschütterungen des Fortschrittsverständnisses in den 1970er Jahren Die Zukunftsorientierung und Aufbruchsrhetorik der SPD, die sich im Bild von der »Demokratisierung«, im wirtschaftlich und technisch gedeuteten Fortschrittsverständnis und den auf Funktionalität setzenden Planungskonzepten spiegelte, stieß an Grenzen; und dieser Prozess begann bereits vor der Öl- und Wirtschaftskrise 1973/74. Damit wuchs in der Partei eine Zeitvorstellung, die Zukunft nicht mehr im Modus des Planbaren und Machbaren dachte, sondern verstärkt Problemlagen und Grenzen von Entwicklungen ausmachte, ja teilweise die Gegenwart als Nach-Geschichte der Vergangenheit und nicht mehr als Schnittpunkt einer offenen Entwicklung von der Vergangenheit in die Zukunft begriff. Dazu trug sicherlich die geschilderte Ernüchterung über die inneren Re-

50 Wendungen sind im Folgenden entnommen aus Elke Seefried, Experten für die Planung? »Zukunftsforscher« als Berater der Bundesregierung 1966–1972/73, in: AfS 50 (2010), S. 109–152; vgl. zudem Süß, Wer aber denkt. 51 Vgl. Horst Ehmke, Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Berlin 1994, S. 116–119. 52 Vgl. Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007. 53 Vgl. Martin H.  Geyer, Rahmenbedingungen. Unsicherheit als Normalität, in: Ders. (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. 1974–1982 Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2008, S. 1–110; Doering-Manteuffel, Nach dem Boom.

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formen bei. Überformt wurde dies von drei weiteren Faktoren: der Ökologisierung, der Wirtschaftskrise und der Angst vor dem Atomkrieg. Ökologisierung

Am wichtigsten war erstens, dass die SPD von der »ökologischen Revolution« erfasst wurde54, mit der um 1970 relativ plötzlich die Schattenseiten industriellen Wirtschaftens und Lebens ins Zentrum gesellschaftlicher und politischer Aufmerksamkeit rückten. Weit über die seit dem 19.  Jahrhundert bestehenden, weitgehend bürgerlich geprägten Naturschutzverbände hinaus, erwuchs um 1970 im transatlantischen Kontext ein Bewusstsein für die Belastung der Lebensgrundlagen und der menschlichen Umwelt durch den Menschen selbst. Dieses Bewusstsein erreichte neue Schichten und Milieus, erfasste auch die politische Linke und erhielt damit weitaus größere politische Relevanz55. Grundlage dessen waren nicht nur wachsende »objektive« Umweltprobleme wie die Luftverschmutzung. Ebenso wirkte eine Renaissance der Ökologie, der Wissenschaft von den Interaktionen zwischen lebenden Organismen und ihrer Umwelt im globalen Ökosystem, deren neue Bedeutung mit einem erweiterten Wissen über die Erde zusammenhing56, aber auch mit medialen Verstärkungen, etwa durch die Apollo-Mission, mit der die Bilder des verletzlichen Planeten Erde um die Welt gingen57. Durch internationale Organisationen wie die OECD erreichte das Umweltthema um 1970 Westeuropa, wo nun neue Umweltgruppen entstanden58. Dies verschränkte sich mit Überlegungen von Sozialwissenschaftlern, weichere Kriterien für Wohlfahrt zu ermitteln (wie die »Lebensqualität«). Diese sollte nicht nur den materiellen Lebensstandard (also das Wirtschaftswachstum) einbeziehen, sondern auch soziale Sicherheit und Umweltqualität59. Hinzu 54 Frank Uekötter, Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970, Essen 2003; Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011, S. 134. 55 Vgl. Patrick Kupper, Die »1970er Diagnose«. Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: AfS 43 (2003), S. 325–348; John R. McNeill, The Environment, Environmentalism, and International Society in the Long 1970s, in: Ferguson/Maier/Manela u. a., Shock, S. 262–278; Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn 2006. 56 Vgl. Lars-Göran Engfeldt, From Stockholm to Johannesburg and Beyond. The Evolution of the International System for Sustainable Development Governance and its Implica­ tions, Stockholm 2009, S. 29 f.; Engels, Naturpolitik, S. 322–399. 57 Vgl. Sabine Höhler, Spaceship Earth in the Environmental Age 1960–1990, London 2015. 58 Vgl. Kai F. Hünemörder, Vom Expertennetzwerk zur Umweltpolitik. Frühe Umweltkonferenzen und die Ausweitung der öffentlichen Aufmerksamkeit für Umweltfragen in Europa (1959–1972), in: AfS 43 (2003), S. 275–296; Thorsten Schulz-Walden, Anfänge globaler Umweltpolitik. Umweltsicherheit in der internationalen Politik (1969–1975), München 2013. 59 Mit weiteren Literaturangaben Seefried, Zukünfte, S. 255–263.

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kam eine antikapitalistische Wachstumskritik in der US -Counterculture, der Studenten- und Hippiebewegung, welche alternative Werte transportierte60. Die ökologisch getränkte Wachstumskritik erlebte 1972/73 einen Höhepunkt mit einer diskursiven Dynamik, die durch die Studie The Limits to Growth ausgelöst wurde. Die Studie ermittelte in einem computerbasierten Weltmodell, dass die Wachstumsgrenzen der Erde bis zum Jahr 2100 erreicht seien. Dann werde durch Rohstoffknappheit und Umweltverschmutzung die industrielle Kapazität enden und ein wirtschaftlicher Kollaps eintreten. Eine Lösung sah man nur in einem demographischen und wirtschaftlichen Gleichgewichtszustand, also einem Ausstieg aus einem linear gedachten Wachstumsverständnis, erreicht durch Bevölkerungskontrollen und Produktions- und Konsumeinschränkungen61. Die Studie wurde im Hinblick auf die Datenbasis und eine Unterschätzung der vorhandenen Ressourcen scharf kritisiert. Dennoch – oder deswegen – löste sie eine internationale Debatte um die ökologischen und sozialen Folgen industriellen Wachstums aus. Diese wurde dadurch noch geschürt, dass die Ölkrise 1973 die These von der Knappheit der Ressourcen zu bestätigen schien. Zugleich verband die Studie das Planungs- und Systemdenken der 1960er Jahre mit den neuen Ansätzen ökologischer Wachstumskritik62. Hinzu kam, dass sich der Wachstumsdiskurs mit der Nord-Süd-Politik verschränkte. Parallel zur Entspannung im Kalten Krieg forderten die Schwellenund Entwicklungsländer eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Das westliche Verständnis von Entwicklung, das in einem mehr oder weniger linearen Sinne modernisierungstheoretisch davon ausging, dass die »unterentwickelten« Länder dem westlichen Industrialisierungspfad folgten, geriet in die Kritik. Dies verknüpfte sich Anfang der 1970er Jahre mit der Wachstumsdebatte: Wissenschaftler aus Schwellenländern argumentierten, Wachstumsverzicht kolonisiere die eigene Zukunft. Forum hierfür war auch die erste Umweltkonferenz der Vereinten Nationen, die 1972 in Stockholm stattfand63. Protagonisten der SPD rezipierten die Umwelt- und Wachstumsdebatte. Dies barg allerdings programmatische Herausforderungen, denn die kursierende ökologische Wachstumskritik reichte mit dem Leitbild des Gleichgewichts von der Infragestellung der industriell-technischen Moderne bis zu Vorstellungen eines »Zurück zur Natur«. Aber, wie bereits gesehen, war gerade die indus­ trielle Moderne, die »Durchsetzung von Freiheit und Demokratie in der indus60 Adam Rome, »Give Earth a Chance«. The Environmental Movement and the Sixties, in: The Journal of American History 90 (2003), S. 525–554. 61 Dennis L. Meadows u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, New York 1972 (Deutsch: Die Grenzen des Wachstums, 1972). 62 Vgl. Patrick Kupper, »Weltuntergangs-Vision aus dem Computer«. Zur Geschichte der Studie »Die Grenzen des Wachstums« von 1972, in: Frank Uekötter (Hrsg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Stuttgart 2004, S. 98–111. Mit weiterer Literatur Seefried, Zukünfte, S. 255–292. 63 Vgl. Gilbert Rist, The History of Development. From Western Origins to Global Faith, London/New York 42014; Seefried, Zukünfte, S. 290 f.

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triellen Gesellschaft«64, die Grundlage sozialdemokratischen Arbeitens. Wenn Willy Brandt in den Wahlkämpfen der 1960er Jahre darauf verwiesen hatte, dass der Himmel über der Ruhr »wieder blau« werden müsse, so war dies der aktuellen Luftverschmutzung geschuldet; das Umweltthema und die Schattenseiten industrieller Zivilisation waren nicht in die SPD -Programmatik eingegangen65. 1970 richtete die sozialliberale Koalition eine Umwelt-Abteilung im Innenministerium ein, welche den neuen Trend der Umweltpolitik aufgriff. Dabei war die Umweltpolitik zunächst technisch ausgerichtet, indem sie Umweltverschmutzung nicht als grundsätzliches Problem industrieller Zivilisation betrachtete, sondern als Politik der Schadstoffkontrolle. Ihre Initiatoren waren auch nicht Sozialdemokraten, sondern Liberale, die im Zeichen der Freiburger Thesen den Umweltschutz entdeckten66. Ab 1971 drangen ökologische Gedanken in die SPD. Willy Brandt, den ja ein geradezu seismographisches Empfinden für Stimmungen und Mentalitätswandel prägte67, sprach davon, dass die junge Generation mit Blick auf den drohenden Atomkrieg, aber auch auf die menschlichen Lebensgrundlagen mehr Angst als Hoffnung bewege. Die Zeit, »wo man sich Zukunft als einfache Verlängerung der Entwicklungslinien der Vergangenheit vorstellen konnte, geht zu Ende. Die Fortschreibung der Gegenwart ergibt noch keine Zukunft«68. 1972 bezog er sich im Lichte der Stockholmer Umweltkonferenz auf die Studie The Limits to Growth und sprach dunkel von den »Gefahren, die eine ungesteuerte technisch-industrielle Zivilisation für Mensch und Gesellschaft mit sich bringt«. Wirtschaftliches Wachstum sei nicht mehr als alleiniger Maßstab zur Messung von Fortschritt geeignet69. Auf dem Wahlparteitag 1972 etikettierte Brandt das Materialistische als konservativ: Die Industriegesellschaft kann ihre Energien nicht mehr den ungebändigten Wucherungen materialistischer Instinkte überlassen, die sich konservativ drapieren, doch in Wahrheit nur vorgestrig sind. Sie sind es, die den unkontrollierten Fortschritt menschenfeindlich gemacht haben […]. Sie stellen sich nach wie vor gegen die Gefahren einer Technisierung unserer Welt, an der die Zivilisation zu ersticken droht; die Welt, die wir zu bewahren suchen.70 64 Godesberger Programm, in: Dowe/Klotzbach, Dokumente, S. 365. 65 Vgl. Uekötter, Rauchplage, S. 475; Franz-Josef Brüggemeier, Sozialdemokratie, Umweltpolitik und Willy Brandt, in: Werner Daum u. a. (Hrsg.), Politische Bewegung und symbolische Ordnung. Festschrift für Peter Brandt, Bonn 2014, S. 405–420, hier S. 405, 408. 66 Kai F. Hünemörder, Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973), Stuttgart 2004; Seefried, Zukünfte, S. 456–458. 67 Vgl. auch Merseburger, Visionär, S. 494. 68 Willy Brandt, Aus der Rede des Bundeskanzlers in der Evangelischen Akademie in Tutzing, 13.7.1971, in: Ders., Berliner Ausgabe, Bd. 7, S. 272–282, hier S. 280. 69 Ders., Die »Qualität des Lebens«, in: Die neue Gesellschaft 19 (1972), S. 739–742, hier S. 741. 70 Ders., in: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Hrsg.), Außerordentlicher Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 12. bis 13. Oktober 1972, Dortmund, Westfalenhalle. Protokoll der Verhandlungen, o. O. 1972, S. 45–79, hier S. 62.

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Schmidt kritisierte brieflich, diese Passage belaste »Normalverhaltensweisen vieler Millionen Menschen« und höre sich »möglicherweise nach Prediger einer Moral des enthaltsamen Lebens an«71. Brandt aber ging es offenkundig darum, ein für die Bürger wichtig gewordenes Thema aufzugreifen, und zugleich spiegelte die kulturkritische Deutung dessen eigene Enttäuschung über die stockende Reformpolitik wider. Die Wahrnehmung ökologischer Grenzen drang in den 1970er Jahren in verschiedene Flügel der SPD. Auf dem rechten Parteiflügel, der sich 1973 als »Seeheimer Kreis« konstituierte72, griff Hans-Jochen Vogel die Thesen von den Grenzen des Wachstums auf und suchte sie mit sozialdemokratischer Programmatik zu verbinden. Vogel, Oberbürgermeister Münchens, galt als pragmatischer Modernisierer. 1972 gab er sein Amt wegen Auseinandersetzungen mit dem linken Parteiflügel auf und wechselte als Bauminister nach Bonn. Nun konstruierte er eine zeithistorische »Wende« in der Entwicklung der Industriegesellschaften: Jetzt beginnt, jedenfalls in den fortgeschrittenen Industrienationen, das materielle Mehr von einem bestimmten Punkt an die Qualität unseres Lebens zu bedrohen. Das ist eine Folge der Verabsolutierung des ökonomischen Prinzips.

Damit drohe nicht nur die einseitige Verteilung ökonomischer Macht, sondern die Gefährdung der menschlichen »Lebensgrundlagen«: Wir sehen und spüren die äußeren Erscheinungsformen dieses Prozesses doch alle. Wie ein zäher Brei frißt sich die Bebauung in unsere Landschaft. Sie zerstört die Wälder, umschließt die Seen, schiebt sich die Berghänge hinauf. […] Armeen von Autos stauen sich auf unseren Straßen.73

Vogel hielt am Ziel des Wirtschaftswachstums fest; ein Nullwachstum wäre »realitätsferne und auch unsoziale Bilderstürmerei«74. Doch betonte er nun die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und votierte etwa 1972 dafür, das Auto schrittweise aus den Innenstädten zu verdrängen75. Diese Forderung stieß allerdings mit Blick auf den Verlust von Arbeitsplätzen auf Kritik76. Vogel äußerte jedenfalls Unbehagen gegenüber einem Fortschrittsverständnis, das an die industrielle und technische Moderne gekoppelt war, und sah die Industriegesellschaften an einer Zeitenwende angekommen. Offenkun71 Schmidt an Brandt, 11.10.1972, in: Willy Brandt/Helmut Schmidt, Partner und Rivalen. Der Briefwechsel (1958–1992), hrsg. und eingel. von Meik Woyke, Bonn 2015, S. 477. 72 Vgl. Gebauer, Richtungsstreit, S. 123 f. 73 Hans-Jochen Vogel, in: Protokoll des SPD -Parteitages 12. bis 13. Oktober 1972, S. 164. Vgl. Ders., Wirtschaftswachstum. Qualität des Lebens, in: Aspekte (1973), Heft 7/8, S. 2. 74 Bundesarchiv Koblenz, B 134/12793, Ders., Kommentar für Rias am 25.1.1973. 75 Archiv der sozialen Demokratie [AdsD], Depositum Vogel, Ders., Wirtschaftswachstum – gefährdet die Umwelt, Vortrag vor dem Wirtschaftsbeirat der SPD in Bayern am 22.11.1973. 76 Georg Willeuthner, Es gibt noch keine Alternative, in: ADAC -Rundschau, Juli 1973, S. 3.

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dig hatten ihn auch die Parteiauseinandersetzungen in München empfänglich für Kulturkritik gemacht, die er nun mit der Kernprogrammatik der SPD – der Herstellung sozialer Gerechtigkeit und Begrenzung ökonomischer Macht – zu verbinden suchte. Stärker noch griff Erhard Eppler, der der Parteilinken angehörte, Wachstumskritik und Krisenprognosen auf. Eppler war aus der Gesamtdeutschen Volkspartei zur SPD gestoßen, engagierte sich in der Evangelischen Kirche und repräsentierte eine protestantisch-pazifistische Denkhaltung in der SPD. Bis 1974 wirkte er als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und sah sich so der Friedenssicherung und einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung im Kontext der Nord-Süd-Debatte verpflichtet77. 1972 sog er die Thesen von The Limits to Growth in sich auf und argumentierte, die »historische Zäsur« der frühen 1970er Jahre bringe »die Einsicht der modernen Wissenschaft in die Grenzen des wirtschaftlichen und demographischen Wachstums«. Offen stellte er das sozialdemokratische Fortschrittsverständnis in Frage: Es würden »Progressive« sein, die sich fragen, was innerhalb der nun sichtbar werdenden Grenzen Fortschritt sei. Und sie werden gründliche Kurskorrekturen verlangen, nicht weil sie behaupten, den Weg zur Glückseligkeit gefunden zu haben, sondern weil sie begriffen haben, daß Fortschreibung des Gewohnten nicht nur keine ideale, sondern gar keine Zukunft mehr ergibt.78

Eppler orientierte sich nun am vagen Leitbild der »Qualität des Lebens«, das als Amalgam sozialer, ökologischer und freiheitlicher Werte den Weg in die Zukunft und in ein qualitativ angelegtes Wachstum weisen sollte79. Zugleich schöpfte er mit der Forderung nach der Wahrung des »ökologischen Gleichgewicht[s]« aus einer Kreislauf- und Gleichgewichtsmetaphorik, was zyklische Zeitvorstellungen indizierte80. Dies konvergierte mit seinem Versuch, den Konservatismus für die SPD zu besetzen, indem er zwischen Wert- und Strukturkonservatismus unterschied: Er stilisierte sich zum Wertkonservativen, der Fortschritt im Sinne der Lebensqualität lesen wollte und nicht nur im Sinne des Materiellen und Ökonomischen81. Letzteres diente zweifellos auch dazu, der Union in der Auseinandersetzung Begriffe zu entwenden, wie dies ebenso die 77 Vgl. Seefried, Zukünfte, S. 458 f. 78 Erhard Eppler, Die Qualität des Lebens, in: Günter Friedrichs (Hrsg.), Aufgabe Zukunft. Qualität des Lebens. Beiträge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industrie­ gewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland, 11. bis 14. April 1972 in Oberhausen, Frankfurt a. M. 1973, Bd. 1, S. 86–101, hier S. 87, 98. 79 Ebd. Außerdem: Erhard Eppler, Die Qualität des Lebens, in: Ders. (Hrsg.), Überleben wir den technischen Fortschritt. Analysen und Fakten zum Thema Qualität des Lebens, Freiburg/Basel/Wien 1973, S. 9–21. 80 AdsD, 1/EEAC000100, Erhard Eppler, Rede auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema »Entwicklung und Umwelt – der politische Aspekt«, 25.4.1972, S. 3. 81 Erhard Eppler, Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen, Stuttgart 1975.

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Union – etwa mit der »neuen sozialen Frage« – tat82. Doch indem Eppler den Wertkonservatismus für sich reklamierte, internalisierte er eine neue Zeitvorstellung und rückte vom industriell und technisch aufgeladenen Fortschrittsverständnis der SPD ab. Anfang der 1970er Jahre wurde die »Qualität des Lebens« zur Konsensformel der SPD. Sie rückte in den Titel des Wahlprogramms vom Herbst 1972, gemeinsam mit den Werten Frieden und Sicherheit83. Auch Brandts Regierungserklärung vom Januar 1973, die in ihrem Duktus erkennbar von der »Mehr Demokratie wagen«-Rede von 1969 differierte, drehte sich nun um die Kern­ botschaften Genügsamkeit und Sicherung der Lebensqualität84. Die Lebensqualität diente der SPD als neues Paradigma, welches statt der Planungskonzepte auf Wärme, Mitmenschlichkeit und Ökologie setzte und sich gerade mit Blick auf den sozialen Aspekt mit der SPD -Kernprogrammatik verbinden ließ. Zugleich spiegelte die »Lebensqualität« defensivere, auf Sicherheit bedachte Zukunftsvorstellungen der SPD. Freilich durchdrang die ökologische Kritik an einem industriell-ökono­ mischen Fortschrittsverständnis Anfang der 1970er Jahre nicht die ganze SPD. Die Partei versuchte in gewisser Weise mit der Lebensqualität auch im taktischen Sinne einen neuen, populären Begriff zu besetzen und die aktuelle Umweltfrage in die eigene Programmatik zu integrieren. Ein Infragestellen des sozialdemokratischen Fortschrittsverständnisses war damit zunächst weder im linken noch im rechten Flügel oder den Gewerkschaften dominant. Dies galt auch für die anderen sozialdemokratischen Parteien Westeuropas, wie sich an den Reaktionen auf einen Vorschlag Sicco Mansholts zeigte. Mansholt, niederländischer Sozialdemokrat und Vizepräsident der Europäischen Kommission, hatte von The Limits to Growth vorab Kenntnis erlangt. 1972 trat er mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit, in dem er für einen europäischen Zentralplan votierte. Angesichts der kommenden Überbevölkerung, der Rohstoff- und Umweltkrisen plädierte Mansholt für zentrale Planung und Wachstumsverzicht, also für eine Rationierung von Gütern und eine Konzentration auf umweltschonende Produktionssysteme, was auch einen Konsumverzicht für die Arbeitnehmerschaft bedeuten würde85. Die sozialistische Fraktion des Europäischen Parlaments sprach sich deshalb dagegen aus, ebenso wie die SPD: Das

82 Vgl. Martina Steber, Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, 1945–1980, München 2015 (Manuskript Habil.). 83 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Hrsg.), Wahlprogramm der SPD 1972. Mit Willy Brandt für Frieden, Sicherheit und eine bessere Qualität des Lebens, Bonn 1972. 84 Willy Brandt, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, Sitzung vom 18.1.1973, S. 121–134. 85 Sicco Mansholt, Offener Brief zur Revision der europäischen Gesamtwirtschaftspolitik, 9.2.1972, in: Heinrich von Nußbaum (Hrsg.), Die Zukunft des Wachstums. Kritische Antworten zum »Bericht des Club of Rome«, Düsseldorf 1973, S. 333–339.

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Austeritätskonzept werde zu sozialer Ungleichheit führen, da der Plan ökonomische Friktionen hervorrufen und damit die Arbeitslosigkeit erhöhen würde86. Wirtschaftskrise

Dies führt zu einem zweiten Faktor: Die Öl- und Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre erschütterten das Fortschrittsverständnis der SPD. Mit dem wirtschaftlichen Einbruch stieg die Arbeitslosenziffer 1974/75 auf über eine Million, 1975 schrumpfte gar die Wirtschaft, und das Defizit der öffentlichen Hand wuchs rapide87. Damit hatten sich die wirtschaftlichen Rahmendaten gegenüber den 1960er Jahren massiv verändert88. Dies traf sozialdemokratische Zukunftsvorstellungen und Fortschrittsverständnisse, vor allem jener, die sich der ökolo­ gischen Wachstumskritik nicht geöffnet hatten. Der neue Kanzler Helmut Schmidt, Ökonom und Protagonist des rechten Parteiflügels, gab in seiner ersten Regierungserklärung 1974 Kontinuität und Konzentration als politische Leitlinien aus. Dabei verband er das sozialdemokratische Fortschrittsverständnis mit dem Hinweis auf erkennbare Grenzen der Reformen. Einerseits reklamierte er Fortschritt  – insbesondere sozialen Fortschritt – für die sozialliberale Koalition. Er unterstrich mit Verweis auf die Neue Ostpolitik, die Steuer- und Kindergeldreform und den Umweltschutz, die sozialliberale Koalition sei »Motor des Fortschritts in der Bundesrepublik«89. Andererseits diagnostizierte Schmidt angesichts der ökonomischen Strukturveränderungen und der Explosion der Rohstoffpreise erkennbare »Grenzen für das Wachstum unserer Realeinkommen, Grenzen, die nur schwer zu überwinden sind«. Notwendig sei eine »fortwährende Modernisierung der Volkswirtschaft« durch Investitionsstärkung, aber auch die »Besinnung auf das Mögliche«, welche der »an den Staat gerichteten Leistungserwartung auch das notwendige Verantwortungsbewußtsein für die Leistungsfähigkeit des Staates« zur Seite stelle90. Mithin reklamierte Schmidt den Fortschritt für die SPD und bemühte mit dem Begriff der Modernisierung das klassisch sozialdemokratische Verständnis der prozesshaften Verbesserung der Lebensverhältnisse. Zugleich rief er, der ja schon 1970/71 die Planungsaffinität und spendable Ausgabenpolitik seiner Ministerkollegen kritisch kommentiert hatte91, nun dazu auf, die Grenzen

86 AdsD, HSAA005764, Hans-Jürgen Wischnewski an Mitglieder des SPD -Präsidiums, 7.6.1972; Ebd., HSAA007742, Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Generalsekretariat, SEK (72) 2068, 19.6.1972. 87 Günther Schmid/Frank Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung, in: Geyer, Geschichte der Sozialpolitik, S. 312–363, hier S. 313, 315. 88 Vgl. Geyer, Rahmenbedingungen, hier S. 49–53; Schanetzky, Ernüchterung, S. 161 ff. 89 Helmut Schmidt, Regierungserklärung, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Sitzung vom 17.5.1974, S. 6594. 90 Ebd., S. 6600 f. 91 Süß, Wer aber denkt, S. 369.

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der Leistungsfähigkeit des Staates zu erkennen92. Dem entsprach seine Politik einer Verbindung von Konjunkturprogrammen beziehungsweise Ausweitung der Staatlichkeit (in der inneren Sicherheit) einerseits und angebotsorientierter Politik beziehungsweise Begrenzung von Sozialleistungen andererseits93. In der Tat mäßigten sich durch die Wirtschaftskrise noch verbliebene hohe Erwartungen an die Zukunft und die Politik der Reformen. Dies lässt sich etwa am SPD -Langzeitprogramm ablesen. Der Saarbrücker Parteitag gab 1970 in Auftrag, »ein langfristiges gesellschaftliches Programm« zu erarbeiten, das »konkretisiert und quantifiziert sein muß«. Hierfür sollte ein eigener »Planungsstab« beim Parteivorstand eingerichtet werden94. Das Langzeitprogramm war noch im Zeichen der Zukunfts- und Planungsgewissheit der 1960er Jahre verfasst worden. Ein erster Entwurf vom Frühjahr 1972, den eine Kommission aus allen Flügeln der Partei unter der Leitung von Schmidt erarbeitete, ging von Wachstumszahlen des Bruttosozialprodukts von 4,5 bis 5 Prozent aus und forderte, die jährlichen Ausgaben für Strukturreformen zu erhöhen. Den Linken ging das Programm nicht weit genug, weil es keine Strategien für eine grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse enthielt95. 1973 wurde eine zweite Kommission eingesetzt, welche den Ökonomischpolitischen Orientierungsrahmen für die Jahre 1975–1985, wie er nun hieß, erarbeitete. Die Leitung übernahm der dem linken Flügel zugerechnete Peter von Oertzen, zum Autorenstab gehörte aber auch Hans-Jochen Vogel. Das Programm, das 1975 verabschiedet wurde, spiegelte die reduzierten Erwartungen: Der Anspruch einer quantitativen Planung der Zukunft schwand ebenso wie der langfristige Zeithorizont und die Annahme einer optimistischen Wachstumsgrundlage. Der Orientierungsrahmen benannte »Probleme moderner Industriegesellschaften« (Umweltverschmutzung, Inflation, geringeres Wachstum und soziale Ungleichgewichte auf nationaler und globaler Ebene) und warnte, die Partei müsse sich freihalten von jedem dogmatischen Fortschrittsglauben, gleichgültig, ob er auf traditionellen Überzeugungen oder aber nur auf der Gewöhnung an die stetige Erhöhung des materiellen Lebensniveaus in der Nachkriegszeit beruht; freilich besteht auch kein Anlaß zu Untergangs-Pessimismus, wenn wir bereit sind, die politischen Gestaltungsmöglichkeiten wahrzunehmen.

Das Programm verzichtete auf eine Quantifizierung der Ziele und konzedierte, dass mit Blick auf die weltwirtschaftliche »Unsicherheit« eine »zuverlässige 92 Zur breiteren Unregierbarkeitsdebatte siehe: Gabriele Metzler, Staatsversagen und Un­ regierbarkeit in den siebziger Jahren?, in: Jarausch, Ende, S. 243–260. 93 Vgl. Hartmut Soell, Helmut Schmidt, Bd. 2, München 2008, S. 339–344. 94 Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 11.  bis 14.  Mai 1970 in Saarbrücken. Protokoll der Verhandlungen, Antrag 1335, S. 1204; hierzu auch Brandt, in: ebd., S. 464. 95 Vgl. Faulenbach, Jahrzehnt, S. 238 f.; Ruck, Utopie, S. 53–55.

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Projektion« des Wachstums nicht möglich sei. Zugleich richtete sich der Orientierungsrahmen auf weichere, weniger ökonomisch messbare Themen wie die Humanisierung der Arbeitswelt und postulierte, dass man »in wesentlich stärkerem Maße als bisher […] Qualität und Nebenwirkungen der wirtschaftlichen Entwicklung« Beachtung schenken müsse. Dabei hielt man einerseits am Ziel staatlicher Steuerung fest. So nannte der Orientierungsrahmen auch die staatliche Investitionslenkung in Unternehmen, welche die Jungsozialisten zum Ziel erkoren hatten. Andererseits zielte das Programm auf die stärkere zivilgesellschaftliche Fundierung sozialdemokratischer Politik. Die Bedürfnisse der Bevölkerung sollten eruiert sowie diskutiert werden, und es seien die Fähigkeiten der Bürger zu stärken, Probleme in ihrem eigenen Lebensbereich zu lösen96. Das Programmpapier zielte mithin darauf, einerseits den Anspruch staatlicher Steuerung zu erhalten – wenngleich mit einer stärkeren Anerkenntnis der Grenzen von Prognostik –, andererseits die kursierende Wachstumskritik und die Partizipationsforderungen der neuen sozialen Bewegungen aufzunehmen97. In der Folge wuchsen im linken Flügel der SPD Krisenkonstruktionen und Zweifel an einem ökonomisch und technisch definierten Fortschrittsverständnis. Hier amalgamierten sich Epplers Wachstumskritik und wachsende Sorge vor den Folgen des ökonomischen und technologischen Strukturwandels. Mit der Sockelarbeitslosigkeit ab 1975 rückten die Problematiken einer Rationalisierung durch Automation verstärkt in den Blick des linken Flügels der SPD. Hinzu kam eine grundsätzliche Kritik an Großtechnologien. Diese entsprang auf der einen Seite einer Modernekritik und konstruierte einen Gegensatz zwischen Technik und Natur, welcher Anleihen an der deutschen Romantik nahm98. Andererseits transportierte die Technologiekritik ein neues Partizipations- und Bewegungsverständnis von Politik, demnach Technologie – etwa im Energiebereich – dezentral und »vor Ort« eingesetzt und kontrolliert werden sollte. Dies manifestierte sich im parteiinternen Streit um die Kernkraft. Mit der ersten Ölkrise 1973 hatte die sozialliberale Koalition den Ausbau der Kernenergie forciert. Votierte Kanzler Schmidt für ein Festhalten an der Atomenergie  – im Hinblick auf Versorgungssicherheit, die Sicherung von Arbeitsplätzen und geringerer Luftverschmutzung im Vergleich zu Kohlekraftwerken  –, so hatten sich im Zeichen zivilgesellschaftlichen Aufbruchs Proteste gegen den Bau von Kernkraftwerken formiert. Einer ihrer Wortführer war Erhard Eppler, der auf Risiken der Atomenergie verwies und für eine Strategie des Ener-

96 Orientierungsrahmen 85, in: Dowe/Klotzbach, Dokumente, S.  388–496, hier S.  404f, 425, 454. 97 So Juso-Chef Wolfgang Roth, Strukturpolitik und überbetriebliche Mitbestimmung, in: Harry Ristock (Hrsg.), Mitte – Links. Energie, Umwelt, Wirtschaftswachstum, Bonn 1977, S. 77–88. 98 Vgl. Hübner, Arbeiterbewegung, S. 83 f.

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giesparens warb  – und damit für eine Form des Verzichts statt des weiteren Wachstums99. Einen Höhepunkt der sozialdemokratischen Krisenkonstruktion und Technikkritik bildete der Bericht der SPD -Grundwertekommission Grundwerte in einer gefährdeten Welt 1977. Der Bericht, unter Führung Epplers erstellt, wandte sich zunächst gegen die liberal-konservative Rede von der »Tendenzwende«100. Hier würden einer »verunsicherten Bürgerschaft veraltete Aktions- und Verhaltensmuster als Rettung aus der Krise« angepriesen. Dass sich die westlichen Gesellschaften in einer Krise befanden, davon ging auch die Grundwertekommission aus. Benannt wurden die »Millionen von Arbeitslosen«, die »gigantische Konzentration von Kapitalien«, der Nord-Süd-Konflikt und die Verknappung der Rohstoffe. In den Blickpunkt gerieten vor allem »modernste Technologien« wie Kernkraftwerke. Die Grundwertekommission widmete der »Erschütterung des Fortschrittsglaubens« ein eigenes Kapitel und argumentierte, dass der »Kern des Fortschrittsglaubens, der als Weltbild der Neuzeit wirksam wurde«, die Überzeugung gewesen sei, »daß die Automatik der wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Entwicklung auch die Durchsetzung der humanistischen Werte befördere«. Dies habe insbesondere für die Arbeiterbewegung gegolten. Schon durch die Diktaturen der Zwischenkriegszeit sei dieser Glauben erschüttert worden, doch vor allem im letzten Jahrzehnt habe der »technisch-produktive Fortschritt immer mehr seinen im Wertsinne zweideutigen Charakter enthüllt«. An die Stelle des Vertrauens in den wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Fortschritt sei einerseits »Ungewißheit über seine Fortsetzbarkeit in der Zukunft« und andererseits »Sorge um die zerstörerischen Begleiterscheinungen einer unkontrollierten technisch-ökonomischen Entwicklung« getreten. Gerade an den Kernkraftwerken zeigten sich die »Grenzen technologischer Naturbeherrschung«, und damit gefährde »die Fortsetzung bisheriger Trends in der ökonomisch-technischen Entwicklung eine humane Zukunft«. Daraus erwüchsen »Sinnkrise und Angst« der Bürger, wachsende »Unruhe, Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit«, ja gar der Linksterrorismus101. 99 Vgl. Engels, Naturpolitik, S.  344–376; Faulenbach, Jahrzehnt, S.  431f, 466. Zur aufkommenden Kategorie des »Risikos«, welche einerseits wachsende Ungewissheit über den technisch-wissenschaftlichen Wandel und seine Beherrschbarkeit indizierte, andererseits in der Unterscheidung zur »Gefahr« die Bedeutung menschlicher Entscheidung konturierte, Wolfgang Krohn/Georg Krücken (Hrsg.), Riskante Technologien. Reflexion und Regulation. Einführung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung, Frankfurt a. M. 1993; Nicolai Hannig, Erforschungen des Gefährlichen. Zur Versicherheitlichung der Natur in den 1970er Jahren, in: Massimiliano Livi/Thomas Großbölting/Carlo Spagnolo (Hrsg.), Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft, Berlin 2014, S. 175–193. 100 Zur »Tendenzwende« als konservatives Krisennarrativ siehe: Steber, Hüter, S. 269 f. (Ms.). 101 Vorstand der SPD, Grundwerte in einer gefährdeten Welt. Vorgelegt von der Grundwerte-Kommission beim SPD -Parteivorstand, Bonn 1977, Zit. S. 8–13.

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Jede Krise sei aber, so die Grundwertekommission, nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance. Die SPD könne Orientierung vermitteln, indem sie ein Fortschrittsverständnis propagiere, das in den Werten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ruhe und das aus der »Isolierung des Ich« in »Du- und WirBeziehungen« heraustrete102. In einer binären Logik wurde einer durch Kapitalismus und technischen Fortschrittsglauben erzeugten »Krise« das Idealbild sozialdemokratischer Solidarität gegenübergestellt. Damit reflektierte die Kommission einerseits die Erosion eines sozialdemokratischen »Milieus«, das sowohl bestimmte Klassen- und Schichtstrukturen als auch kulturelle Orientierungen umfasst hatte und mit der gesellschaftlichen Individualisierung und dem Abschied von einem proletarischen Lebensstil im Zuge der Tertiarisierung immer mehr bröckelte103. Zugleich suchte sie andererseits offenkundig an neue Tendenzen der Gemeinschaftssuche anzuknüpfen, welche in den neuen sozialen Bewegungen kursierten104. Dabei kultivierte die Grundwertekommission die Rede von der obwaltenden Krise, um dann den Schlüssel zur Lösung bereit zu halten. So diente die Krisenkonstruktion auch dazu, den ähnlich argumentierenden, sich 1979 zur Partei formierenden Grünen das Wasser abzugraben105. Mit Blick auf die Gemeinschaftsformeln gebar die Krisenkonstruktion eine Form der Aufbruchsstimmung – zumal sich die Modernitätskritik mit Anerkennung der Moderne (etwa mit Blick auf die Emanzipation der Arbeiter­ bewegung) bündelte106. Protagonisten aus dem Seeheimer Kreis lehnten diese Krisenkonstruktionen ab. Sinnkrisen würden überzeichnet, und keine Partei könne politische Sinngebung leisten. Priorität hatte die Sicherung der Beschäftigung, für die nicht nur keynesianische Instrumente, sondern der technologische Fortschritt notwendig seien. Kanzler Schmidt begriff die Kommissionsarbeit – im Verständnis Max Webers – als Gesinnungspolitik, welche »ihre Reinheit bewahren […] und für die Folgen nicht verantwortlich« sein wollte107. Auch aus dem Kreis der Grundwertekommission hatte Richard Löwenthal, ein Intellektueller des rechten Flügels, dafür votiert, die Grenze zu den umweltbewegten »Aussteigern mit unmiss­verständlicher Schärfe zu ziehen«. Er begründete dies mit dem Argument, dass die SPD ihre Stammwählerschaft, die »berufstätigen Schichten«, 102 Ebd., S. 15 f.; dazu Gebauer, Richtungsstreit, S. 146 f. 103 Vgl. Stefan Hradil, Arbeit, Freizeit, Konsum. Von der Klassengesellschaft zu neuen Milieus?, in: Raithel/Rödder/Wirsching, Weg, S. 69–82; Wolfgang Hindrichs u. a., Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre, Essen 2000. 104 Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014. 105 Zu ähnlichen Krisenkonstruktionen bei den Grünen siehe: Mende, Nicht rechts, S. ­382–389. 106 Unter SPD -Linken ein neues Aufbruchsgefühl: Gefragt sind wieder die Ideen von Willy Brandt und Erhard Eppler, in: Frankfurter Rundschau, 26.1.1977. 107 Protokoll der Aussprache am 28.2.1978, zit. n. Gebauer, Richtungsstreit, S. 147; vgl. ebd.

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nicht ver­schrecken dürfe108. Die beiden SPD -Flügel kommunizierten damit andere Zukunftsvorstellungen, im Kern vor allem andere Politikverständnisse: Dem Seeheimer Kreis, der Regierungsverantwortung gewahr, ging es darum, mit Blick auf die Sicherung der Beschäftigung Lösungen zu erarbeiten, während ein entstehender ökosozialer Flügel um Eppler mit den Krisenkonstruktionen einerseits im Wandel sozialdemokratische Identität stiften109 und andererseits der Bildung einer neuen linken Partei vorbauen wollte. Mit Blick auf die innerparteiliche Diskussion um den Fortschritt organisierte der Parteivorstand, initiiert durch Horst Ehmke und Egon Bahr, 1978 ein »SPD Forum Zukunft«, das sich mit »SPD und Fortschritt« beschäftigen sollte. Ehmke hielt fest, dass in der bundesdeutschen Gesellschaft noch »vor einigen Jahren […] das Verhältnis 2:1 für die Optimisten« war. Doch an die »Stelle des unreflektierten Technik-Optimismus der Nachkriegszeit tritt offensichtlich wachsender Pessimismus«. Dies müsse die SPD reflektieren und prüfen, inwieweit »politische Entscheidungen zur Steuerung der technischen Entwicklung nötig und möglich sind«110. Der Referent Karlheinz Bentele notierte, man müsse in Veranstaltungen folgendes vermitteln: »Zukunft ist machbar. Wir können Zukunft machen. Es gibt nur eine Alternative: Die menschliche Zukunft«. Die SPD solle Raum für »Diskussionen nach vorn« eröffnen und – ähnlich wie die CDU/ CSU – wichtige Themenfelder antizipierend besetzen111. In vier Veranstaltungen (zu Arbeit und Technik, Umweltpolitik, Bildungspolitik sowie »Macht der Bürokratie«)112 suchte sich die SPD in der Folgezeit als Partei zu profilieren, die Zukunft wieder machbar erscheinen ließ, um damit Wahlen zu gewinnen. Angst vor dem Atomkrieg

Bereits ein Jahr später allerdings wurde die SPD drittens von einer neuen Zukunfts-Diskussion erschüttert, die der Modernitätskritik in der Partei neue Nahrung gab. Ende 1979 verabschiedete der NATO -Rat den sogenannten Doppelbeschluss, der eine westliche Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen vorsah, falls keine Abrüstungs-Einigung mit den Warschauer Pakt-Staaten erzielt werde. SPD -Kanzler Helmut Schmidt hatte den Doppelbeschluss mit einer Rede im International Institute for Strategic Studies 1977 mit initiiert, indem er dort Zonen unterschiedlicher Sicherheit in Europa ausgemacht hatte. Entsprechend seines Gleichgewichts-Denkens war es Schmidts Ziel, eine Verhandlungslösung als beidseitige Begrenzung der Mittelstreckenraketen zu erreichen. Gleichwohl 108 Richard Löwenthal, Identität und Zukunft der SPD, in: Die Neue Gesellschaft 28 (1981), S. 1085–1089, hier S. 1089; Sebastian Nawrat, Agenda 2010 – ein Überraschungscoup? Kontinuität und Wandel in den wirtschafts- und sozialpolitischen Programmdebatten der SPD seit 1982, Bonn 2012, S. 27. 109 Vgl. Gebauer, Richtungsstreit, S. 147. 110 AdsD, 1/HEAA000383, Horst Ehmke, Zum SPD -Forum Zukunft, 12.12.1978. 111 Ebd., Abt. IV, Karlheinz Bentele, Vermerk für Egon Bahr, SPD -Forum Zukunft, 10.4.1978. 112 Ebd., SPD -Forum Zukunft, Vorlage für das SPD -Präsidium, 28.8.1978.

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zeichnete sich bald ab, dass im Zeichen des Zweiten Kalten Krieges die Fronten durch die Dislozierung der sowjetischen SS 20-Raketen in Ostmitteleuropa und den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan sowie durch amerikanische Pläne für ein Raketenabwehrsystem im Weltraum (SDI) verhärtet waren113. Innerhalb der SPD wuchs im linken Flügel um Eppler und den saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine, Mitglied der »Enkelgeneration«, Protest: Sie sahen sich von der Nachrüstung unmittelbar bedroht und votierten für einen Ausstieg aus den Denksystemen des Kalten Krieges. Auch an der SPD -Parteibasis gärte die Stimmung, mehrten sich diejenigen Stimmen, welche den Doppelbeschluss nicht mehr mittragen wollten. Für die Sozialdemokratie ging es dabei nicht nur um ihre tradierte Selbstwahrnehmung als Friedenspartei, sondern auch um ihre geschichtliche Leistung der Neuen Ostpolitik, die auf dem Spiel stand. Der Streit um die Nachrüstung war auch ein Streit um einen neuen Politikstil: Die Basis und vor allem die jüngere Generation setzten abseits parlamentarischer Mehrheitsentscheidung auf zivilgesellschaftliche Aktivierung und Partizipation von unten114. In der Tat wuchs nun die Friedensbewegung, welche heterogene soziale Akteure und politische Strömungen umfasste, zu einer Massenbewegung; und Teile der SPD marschierten nicht nur mit, sondern prägten Großdemonstrationen115. Die Friedensbewegung artikulierte »zum Teil  apokalyptische Zukunftsängste« und ein »kulturpessimistisches Unbehagen an Fortschritt und industriell-technischer Modernität«116. Auch in der SPD verband sich der Nachrüstungsstreit mit hochemotional aufgeladenen Debatten um die Gefahren, welche von den amerikanischen Raketen ausgingen. Damit wuchsen Krisenkonstruktionen, die den drohenden Atomkrieg an die Wand malten, der freilich Folge der unkontrollierbaren modernen Technik sein könne: Nicht mehr die menschliche Vernunft, sondern den »Produkte[n] des menschlichen Geistes« obliege die Entscheidung, »ob die Menschheit sich ausrottet«, so Eppler117. Dies reichte 113 Vgl. Bernd Stöver, Der Kalte Krieg 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007, S.  410–436; Philipp Gassert/Tim Geiger/Hermann Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO -Doppelbeschluss in deutschdeutscher und internationaler Perspektive, München 2011; darin Tim Geiger, Die Regierung Schmidt-Genscher und der NATO -Doppelbeschluss, S.  95–122; Friedhelm Boll/ Jan Hansen, Doppelbeschluss und Nachrüstung als innerparteiliches Problem der SPD, S. 203–228. 114 Vgl. Jan Hansen, Abschied vom Kalten Krieg? Die Sozialdemokraten und der Nachrüstungsstreit (1977–1987), Berlin/Boston 2016. 115 Vgl. Philipp Gassert, Viel Lärm um Nichts? Der NATO -Doppelbeschluss als Katalysator gesellschaftlicher Selbstverständigung in der Bundesrepublik, in: Ders./Geiger/Wentker, Zweiter Kalter Krieg, S. 175–202, hier S. 182–186; Boll/Hansen, Nachrüstung. 116 Eckart Conze, Modernitätsskepsis und die Utopie der Sicherheit. NATO -Nachrüstung und Friedensbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen 7 (2010), S. 220–239, hier S. 238 f. 117 Eppler, Neues Denken in der Sicherheitspolitik, Ms., 13.7.1987, zit. nach Hansen, Abschied, S. 45; vgl. ebd.

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bis zu Parallelen zum Nationalsozialismus: Anfang der 1980er Jahre zirkulierten in der Partei Wortprägungen des »nuklearen Holocaust«118. Auch der Parteivorsitzende Willy Brandt, der den Doppelbeschluss aus Parteiräson mittrug, aber sein Werk der Entspannung gefährdet sah, sprach von »[f]urchtbare[n] Waffen, fast unvorstellbaren Zerstörungsmaschinen«, welche »die Menschheit« bedrohten119. Darüber hinaus diagnostizierten Brandt und Eppler wachsende globale Interdependenz und damit auch eine Verknüpfung internationaler Krisen. Dies bezog sich auf den nuklearen Krieg, auf versiegende Ressourcen und wachsende Umweltzerstörung sowie den Nord-Süd-Konflikt und war bereits in der »Limits to Growth«-Diskussion fassbar geworden120. Die von Willy Brandt geleitete Nord-Süd-Kommission der Vereinten Nationen überschrieb ihren Endbericht 1980 mit »Das Überleben sichern«. Der Bericht bezeichnete die Spaltung von Nord und Süd mit Blick auf Hochrüstung und Umweltzerstörung als »Gefahr« und votierte angesichts der Verknüpfung der Probleme für eine neue Weltwirtschaftsordnung, u. a. durch den Vorschlag, alle Industriestaaten sollten in einen Fonds zugunsten der Entwicklungsländer einzahlen121. Die sozialliberale Koalition zerbrach 1982 wegen des Dissenses zwischen SPD und FDP in der Wirtschaftspolitik. Gleichwohl: Der Streit in der SPD um die Nachrüstung, der so viel mehr bedeutete als nur eine Auseinandersetzung um eine rüstungspolitische Entscheidung, trug mit zum Ende der Kanzlerschaft Schmidts bei. Zugleich erhielten die Grünen, die sich 1979 auf Bundesebene konstituierten, mit der Friedensbewegung und den Narrativen vom drohenden Untergang erheblichen Rückenwind und zogen 1983 in den Bundestag ein. Insofern war es der SPD nicht gelungen, die Neugründung einer Partei zu verhindern, welche das tradierte Rechts-Links-Schema zu sprengen schien, sich aber in der Folge links von der SPD ansiedelte122.

118 Richard Buchner, Nachverhandeln statt Nachrüsten oder: In 8 Minuten zum nuklearen Holocaust?, o. D., zit. nach Hansen, Abschied, S. 33. 119 Willy Brandt, 18.4.1980, zit. nach ebd., S. 34. 120 Vgl. Seefried, Zukünfte, S. 249 f.; David Kuchenbuch, »Eine Welt«. Globales Interdependenzbewusstsein und die Moralisierung des Alltags in den 1970er Jahren und 1980er Jahren, in: GG 38 (2012), S. 158–184. 121 Willy Brandt, Wandel tut not. Frieden, Ausgleich, Arbeitsplätze, in: Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer. Bericht der Nord-Süd-Kommission. Mit einer Einleitung des Vorsitzenden Willy Brandt, Köln 1980, S. 11–40, hier S. 19. 122 Vgl. Mende, Nicht rechts; Saskia Richter, Der Protest gegen den NATO -Doppelbeschluss und die Konsolidierung der Partei Die Grünen zwischen 1979 und 1983, in: Gassert/Geiger/Wentker, Zweiter Kalter Krieg, S. 229–245.

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Neue Aufbrüche? Ökologischer Umbau der Industriegesellschaft und Technikoptimismus als Modernisierungsverständnis der 1990er Jahre Nachdem die christlich-liberale Regierung 1983/84 die Stationierung der Mittelstreckenraketen umgesetzt hatte, beruhigte sich das polarisierte politische Klima, und die neuen sozialen Bewegungen verloren an Dynamik123. Auch im Zuge einer wirtschaftlichen Erholung milderten sich in der Bundesrepublik Krisenwahrnehmungen und -prognosen, wenngleich die Sockelarbeitslosigkeit auf dem Stand von zwei Millionen verharrte. Im Kontext der Diskussion um den »Strukturwandel« und die kommende »post-industrielle« Gesellschaft rückten die Möglichkeiten und Grenzen der neuen Technologien, der elektronischen Datenverarbeitung und des Einsatzes von Robotern, verstärkt ins öffentliche Blickfeld124. Teile der Union suchten die kommende »Informationsgesellschaft« als Zukunftschance für eine neue Kultur der Existenzgründer zu kommunizieren125. Dies wurzelte im Wandel wirtschaftstheoretischer Konzepte und einer neuen Marktorientierung in den westlichen Industriestaaten: Der Keynesianismus wich dem Monetarismus und der Angebotsökonomie, die auf eine Verbesserung steuerlicher Rahmenbedingungen, Deregulierung und Flexibilisierung setzte. Blieb die Umsetzung dessen in der christlichliberalen Koalition moderat, so setzte sich die Angebotsökonomie insbesondere im Thatcherismus und in Ronald Reagans Präsidentschaft durch, verbunden mit einer Weltsicht, die auf Freiheit und Selbstentfaltung rekurrierte und sich mit einem unternehmerischen, bald neoliberal genannten Menschenbild koppelte126. Zudem entdeckte gerade die junge Generation den »Home Computer« als Spiel- und Konsumfeld, was Ängste vor der Computerisierung schwinden ließ127. Die SPD sah sich als klassische Vertreterin der Arbeitnehmerinteressen angesichts der Dynamik neuer Technologien und der Arbeitslosigkeit besonders herausgefordert. In der Opposition von der Regierungsverantwortung befreit, etablierten sich sozialdemokratische Fortschrittsverständnisse, die sowohl ökologisch-wachstumskritische als auch industriegesellschaftlich-wachstumsfreundliche Positionen umfassten. Die SPD drängte auf eine »ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft«, mittels sozialer Abfederung des techno123 Vgl. Gassert, Lärm, S.  175 f.; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006, S. 79–106. 124 Vgl. ebd., S. 434–444. 125 Lothar Späth, Wende in die Zukunft. Die Bundesrepublik auf dem Weg in die Informationsgesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 74–106. 126 Vgl. Wirsching, Abschied, S. 242–264; Doering-Manteuffel/Raphael, Boom, S. 63–70. 127 Vgl. Frank Bösch, Euphorie und Ängste: Westliche Vorstellungen einer computerisierten Welt, 1945–1990, in: Lucian Hölscher (Hrsg.), Die Zukunft des 20. Jahrhunderts (i.E.).

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logischen Wandels und staatlicher Steuerung – wobei die staatliche Steuerung nun mehr und mehr quer zum »Zeitgeist« stand und »unzeitgemäß« wirkte128. Im Gewerkschaftsflügel dominierte die tradierte sozialdemokratische Vorstellung, sozialen und technischen Fortschritt zu verknüpfen, indem neue Technologien zu einer Humanisierung der Arbeitswelt eingesetzt werden sollten. IG -Metall-Chef Franz Steinkühler prognostizierte 1978 zweckoptimistisch, die qualifizierte Art von Arbeit werde trotz der Flut von Automaten, Computern und Industrierobotern, die sich zur Zeit in die Betriebe und Verwaltungen ergießt, noch lange nicht ausgehen. […] Im Gegenteil: sie wird durch die neuen Technologien möglich gemacht, wenn es uns gelingt, sie sozial gesteuert und menschengerecht zum Einsatz zu bringen.129

Auch die SPD -Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) betonte, dass in technologischen Innovationen doch Potential läge, nämlich im Hinblick auf eine Entlastung der Arbeitnehmer130. Hingegen propagierte Oskar Lafontaine, die aufstrebende Figur des linken Parteiflügels, im Buch Der andere Fortschritt 1985 ein sozialdemokratisches Fortschrittsverständnis, welches ökologische, soziale und entwicklungspolitische Krisenwahrnehmungen mit dem klassischen sozialdemokratischen Programmkanon verknüpfte. Lafontaine problematisierte Umweltzerstörung, Verteilungsungerechtigkeit zwischen Nord und Süd, Sockelarbeitslosigkeit und die »neuen Technologien«, deren Entwicklung »einem Höchstgeschwindigkeitszug« gleiche, »in dem wir sitzen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht«. Mit Blick auf die »Vertreibung des Menschen aus der Arbeit und de[m] Verlust von Humanität in der Arbeit« könne ein »linearer Fortschritt von einem bestimmten Entwicklungsstand an auch Rückschritt bedeuten«. Die SPD müsse deshalb differenzieren: Man kann es sich nicht einfach machen und sagen, wir verneinen den Fortschritt, der uns fesselt, und wir bejahen den Fortschritt, der uns befreit. Das Dilemma ist ja gerade, daß beides nicht voneinander zu trennen ist.

Damit knüpfte er an Epplers Wachstumskritik an und argumentierte, die Menschen wollten nicht immer mehr konsumieren, sondern strebten nach »Bewahren und Erhalten«. Deshalb plädiere er für einen ökologischen Umbau der Pro128 Zukunft für alle – arbeiten für soziale Gerechtigkeit und Frieden. R ­ egierungsprogramm der SPD 1987, S. 17 (URL: http://library.fes.de/pdf-files/bibliothek/retro-scans/a87-040 13.pdf, zuletzt eingesehen am 29.7.2016); vgl. Nawrat, Agenda, S. 35 f.; zum »unzeitgemäßen« Walter, Vorwärts, S. 41. 129 Franz Steinkühler, Technik, Fortschritt und soziale Gestaltung, in: Die neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 33 (1986), S. 514–519, hier S. 515. Als Frage nach der Persistenz des sozialdemokratischen Fortschrittsbewusstseins, die positiv beantwortet wurde, Dieter Otten, Kann und soll die Sozialdemokratie noch eine Partei des Fortschritts sein?, in: Ebd., S. 503–513. 130 Vgl. Hansen, Abschied, S. 49.

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duktion mit einer Kontrolle des technischen Wandels und der Neuverteilung von Arbeit. Umwelttechnologien wie Blockheizkraftwerke und Fernwärmeversorgung, welche auch beschäftigungspolitisch wirksam werden könnten, seien zu fördern. Auf die »Ausbeutung des privaten Naturbesitzes« müsse ebenso verzichtet werden wie auf die Ausbeutung der Arbeitskraft. Der Arbeitende solle mehr Selbstbestimmung und Mitbestimmung  – etwa durch genossenschaftliche Modelle – erhalten. Die Arbeitszeit sei zu reduzieren, was das Beschäftigungsproblem lindere und dem Menschen mehr Zeit und Selbstbestimmung ermögliche. Lafontaine sah dies als bewusste Abkehr von den »moderne[n] Zeiten« und als »Rückentwicklung«. Zugleich müsse die SPD »mit Zähnen und Klauen das verteidigen, was ihre historische Errungenschaft ist: den Sozialstaat«131. Lafontaine konzeptionalisierte damit einen Fortschrittsbegriff der Arbeiterbewegung, der Altes und Neues, lineare und zyklische Zeitvorstellungen vereinte. Weil er auch eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich akzeptieren wollte, zog er sich allerdings den Zorn von Parteilinken zu; daran ist zu ermessen, dass eine Zuordnung von Positionen in das Rechts-Links-Schema immer schwerer wurde132. Nicht nur um den Gewerkschaftsflügel einzubinden, sondern um das sozialdemokratische Leitbild staatlicher Steuerung zu bewahren, versuchte die SPD kunstvoll, beide Lesarten – ökologische Wachstumskritik und ein lineares Verständnis von Fortschritt – in der Konsensformel des »qualitativen Wachstums« zu verknüpfen133. Die Grundwertekommission, die in den 1980er Jahren eine zentrale Rolle für die Programmdebatte spielte, und die 1984 geschaffene Programmkommission, die das neue Grundsatzprogramm vorbereitete, votierten für aktive Strukturpolitik, verstanden als Politik zur Generierung neuer Arbeitsplätze in strukturschwachen Regionen, sowie für regulierende Umweltpolitik, die ergänzend Anreize setzte. Das Programm Arbeit und Umwelt von 1984 etwa forderte Gewässerschutz und Abfallwirtschaft ökologischen Erfordernissen anzupassen und Energie mit einem steuerlichen Zuschlag zu versehen. Die Regierungsprogrammkommission um Lafontaine, die sich sprechenderweise »Fortschritt 90« nannte, votierte für eine Ökosteuer134. Das Berliner Grundsatzprogramm 1989 differenzierte: »Bloßes Fortschreiben bisheriger Entwicklungen ergibt keine Zukunft mehr. Wir wollen Fortschritt, der nicht auf Quantität, sondern auf Qualität, auf eine höhere Qualität menschlichen Lebens zielt.« Wachsen müsse, was natürliche Lebensgrundlagen sichere, Lebens- und Arbeits­qualität verbessere, Selbstbestimmung fördere, Frieden sichere und die Lebens- und Zukunftschancen für alle erhöhe135. 131 Oskar Lafontaine, Der andere Fortschritt. Verantwortung statt Verweigerung, Hamburg 1985, S. 98f, 41, 90, 71, 184, 180f, 113. 132 Lafontaine – den richtigen Nagel gedroschen, in: Der Spiegel, 7.3.1988, S. 25–31. 133 Nawrat, Agenda, S. 35 f.; Lafontaine, Fortschritt, S. 49, 65, 88 f. 134 Vgl. Nawrat, Agenda, S. 32–55. 135 Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Programm-Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 20.  Dezem-

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Diese Programme freilich blieben insofern Makulatur, als sie vor der Wiedervereinigung verabschiedet wurden. Mit ihrem Kanzlerkandidaten Lafontaine erlitt die SPD 1990 in den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen eine harte Niederlage. Dies und der wirtschaftliche Abschwung 1991/92 beförderten defensive Verständnisse des Zukünftigen, die sich nun um die Sicherung des »Standorts Deutschland« drehten. In der Tat erreichte 1992/93 eine hitzige Debatte um die Zukunft des »Standorts Deutschland« ihren Höhepunkt. Nicht nur Wirtschaftsvertreter, Experten und Medien, sondern auch große Teile von Union, FDP und SPD sahen den Standort Deutschland in Gefahr136. Dies verlieh angebotsorientierten Konzepten und einer generellen Marktliberalisierung neuen Schub. Erkennbar stand die internationale Ökonomie mit dem Ende des Kalten Krieges im Zeichen der Liberalisierung und Deregulierung. Mit der Gründung der Welthandelsorganisation 1994 expandierte der Welthandel, wuchs der Einfluss multinational agierender Unternehmen und wurden Finanzmärkte dereguliert. Damit einher ging eine Deutung des unumkehrbaren Prozesses der wirtschaftlichen »Globalisierung«, was marktliberalen Konzepten zur Steigerung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit in der Globalisierung wiederum Schub verlieh137. Bei US -Demokraten und in der europäischen Sozialdemokratie zirkulierten mit den Wahlsiegen Bill Clintons 1992 und Tony Blairs »New Labour« 1997 Ideen einer »neuen Mitte« und eines »Dritten Weges«. Diese wollten die Sozialdemokraten für eine angebots- und marktorientierte, »neoprogressive« Politik öffnen, indem der Sozialstaat durch mehr Flexibilisierung und Eigenverantwortung modernisiert, Bildung gestärkt und mittels effizienter Technologien Arbeitsplätze generiert werden sollten138. Auch die SPD griff ab 1992/93, in der Ära der Vorsitzenden Björn Engholm, Rudolf Scharping und Oskar Lafontaine, Elemente einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik auf. Die von Lafontaine geleitete SPD -Arbeitsgruppe »Deutschland 2000« votierte für Haushaltskonsolidierung, eine Senkung der Körperschafts- sowie der Einkommensteuer für Spitzenverdiener und eine Stärkung der Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch Senkung der Lohnnebenkosten, um den Standort Deutschland zu sichern. Das ökologisch-kritische Wachstumsverständnis verlor ab Mitte der 1990er Jahre erheblich an Beber 1989 in Berlin, S. 7 (URL: http://www.spd.de/linkableblob/1812/data/berliner_programm.pdf, zuletzt eingesehen am 28.7.2016). 136 Vgl. Wencke Meteling, Internationale Konkurrenz als nationale Bedrohung. Zur politischen Maxime der »Standortsicherung« in den neunziger Jahren, in: Ralph Jessen (Hrsg.), Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken  – Werte  – Institutionalisierungen, Frankfurt a. M./New York 2014, S. 289–315. 137 Vgl. Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, S. 226–229; Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Frankfurt a. M. 2014. 138 Vgl. Nawrat, Agenda, S. 84 f.; Walter, Vorwärts, S. 43–57. Als Programmschrift Anthony Giddens, The Third Way. The Renewal of Social Democracy, Cambridge 1998; Ders. (Hrsg.), The Progressive Manifesto. New Ideas for the Centre-Left, Cambridge 2003.

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deutung. Nachdem sich der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder als Kanzlerkandidat für die Bundestagswahlen 1998 durchgesetzt hatte, wurde die Angebotsorientierung in der SPD zum hegemonialen Diskurs139. Die zunächst defensive, auf die »Sicherung« der Zukunft140 zielende Programmdiskussion schwenkte Mitte der 1990er Jahre in eine Sprache des Aufbruchs und der vorwärtsgerichteten, progressiven Modernisierung. Die neuen Modernisierungsvorstellungen basierten auf Technikoptimismus und einem Fortschrittsverständnis, das sozialen nur über technischen und ökonomischen Fortschritt erreichbar sah. Zum Schlüsselbegriff wurde die »Innovation«, die als technologische Verheißung die Technikskepsis der 1970er und 1980er Jahre verdrängte. Schon 1994 hatte Peter Glotz, Forschungsminister im Schattenkabinett von Rudolf Scharping, in einem Memorandum zur Innovationspolitik argumentiert, Wachstum sei für Arbeitsplätze notwendig und Wachstum benötige Innovationen. Nur mit Hilfe des »technischen Fortschritts« könnten Wohlstand und Arbeitsplätze erhalten werden; deshalb dürfe für »Technikfeindlichkeit« in der SPD kein Raum sein141. Der SPD -Parteitag 1997 verabschiedete einen Leitantrag Von der Utopie zur Wirklichkeit: Aufbruch in die Informations­ gesellschaft, der die Innovationsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft von der Nutzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien abhängig sah und dabei auch die ehedem kritische Perspektive auf den privaten Rundfunk revidierte142. Neue, auch im Hinblick auf ihre Folgen umstrittene Technologien wie Biotechnologie und Gentechnik sollten mit Blick auf den Standort Deutschland gefördert werden. In einem Papier Mit Mut und neuer Kraft für Innova­ tion und Wachstum in Deutschland. Eckpunkte sozialdemokratischer Moderni­ sierungs- und Reformpolitik unterstrich Kanzlerkandidat Schröder 1997, man wolle »Schluss damit machen, dass naturwissenschaftliche und technologische Innovationen zunächst auf ihre Risiken abgeklopft werden, ehe man sich ihren Chancen zuwendet«143. Trat das »qualitative Wachstum« als Leitbegriff zurück, so spielte das Ökologische durchaus noch eine Rolle in der »neuen« SPD, nämlich als »ökologische Modernisierung«. Das Konzept der »ökologischen Modernisierung« war in den 1980er Jahren maßgeblich von Martin Jänicke, einem Grünen-Politiker, entwickelt worden. Um den Gegensatz von Ökonomie und Ökologie aufzulösen, verwies das Konzept auf die ökologische Bedeutung neuer Technologien und ging davon aus, dass durch effizientere, »präventive« Nutzung von Rohstoffen und Energieträgern die Umwelt geschont und zugleich der ökonomische Output 139 Erhellend: Nawrat, Agenda, S. 85–103. 140 SPD -Parteivorstand (Hrsg.), Zukunft sichern – Zusammenhalt stärken, Bonn 1996. 141 Memorandum zur Innovationspolitik in Deutschland, zit. nach Nawrat, Agenda, S. 171. 142 Parteivorstand der SPD (Hrsg.), Parteitag der SPD in Hannover 2.–4. Dezember 1997. Beschlüsse, Bonn 1997, S. 269–280; vgl. Nawrat, Agenda, S. 174 f. 143 Thesenpapier des wirtschaftspolitischen Diskussionskreises von Schröder, Sept.  1997, zit. nach ebd., S. 174.

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gesteigert werden könne144. In den 1990er Jahren erlebten Konzepte der »ökologischen Modernisierung« oder eines »green growth« eine politische Hochkonjunktur. Die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie unter dem Banner des Marktes zog auch die SPD in ihren Bann145. Sie weckte große Erwartungen, indem sie im Regierungsprogramm die »ökologische Modernisierung als Jahrhundertchance« und »Basisinnovation für den Wohlstand des 21. Jahrhunderts« bezeichnete146. Relativ plötzlich avancierte »Nachhaltigkeit« zum parteiübergreifenden Zukunfts-Begriff. Er stieg in den 1990er Jahren zu einem »Modewort« auf, weil er in seiner Vagheit für viele Zukunftsverheißungen offen blieb147. In der politischen Wortverwendung boomte der Bezug auf »Nachhaltigkeit« seit den späten 1980er Jahren aus mindestens zwei Gründen148: Zum einen spiegelte er die genannte Wahrnehmung globaler Interdependenz, welche auch die Umwelt- und Wachstumsdebatte der 1970er Jahre geprägt hatte. Die globalen Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Entwicklung sollte die UN-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung thematisieren, die ab 1983 von der norwegischen Sozialdemokratin Gro Harlem Brundtland geleitet wurde und dies in »sustainable development« auf den Begriff zu bringen suchte149. Der deutsche Sozialdemokrat Volker Hauff, Mitglied der Kommission, übersetzte »sustainable development« zunächst als »dauerhafte Entwicklung«150. In diesem Sinne fand der Begriff Eingang in das Berliner Programm der SPD: Nur dauerhafte Entwicklung könne »dauerhafte[n] Fortschritt« symbolisieren151. Zum anderen ließ sich der

144 Martin Jänicke, Ökologische Modernisierung. Optionen und Restriktionen präventiver Umweltpolitik, in: Udo E. Simonis (Hrsg.), Präventive Umweltpolitik, Frankfurt a. M./ New York 1988, S. 13–26; vgl. Arthur P. J. Mol/Gerd Spaargaren, Ecological Modernization Theory in Debate. A Review, in: Environmental Politics 9 (2000), S. 17–49; John Dryzek, The Politics of the Earth, Oxford 1997, S. 137–154. 145 Vgl. Lutz Mez, Ökologische Modernisierung und Vorreiterrolle in der Energie- und Umweltpolitik? Eine vorläufige Bilanz, in: Christoph Egle/Tobias Ostheim/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998–2002, Wiesbaden 2003, S. 329–350. 146 Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit. SPD -Wahlprogramm für die Bundestagswahl 1998. Beschluß des außerordentlichen Parteitages der SPD am 17. April 1998 in Leipzig, Bonn 1998, S. 57 (URL: http://library.fes.de/pdf-files/bibliothek/retro-scans/a98-04467. pdf, zuletzt eingesehen am 26.7.2016). 147 Michael Rödel, Die Invasion der »Nachhaltigkeit«. Eine linguistische Analyse eines politischen und ökonomischen Modewortes, in: Deutsche Sprache 2 (2013), S. 115–142. 148 Ausführlicher zur folgenden Argumentation: Seefried, Rethinking Progress. 149 World Commission on Environment and Development, Our Common Future, Oxford/New York 1987, S. 8; Iris Borowy, Defining Sustainable Development for our Common Future. A History of the World Commission on Environment and Development (Brundtland Commission), New York 2014. 150 Volker Hauff, Vorwort, in: Ders. (Hrsg.), Unsere gemeinsame Zukunft. Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987, S. XI–XVII, hier S. XV. 151 Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, S. 18.

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Bezug auf nachhaltige Entwicklung oder »Nachhaltigkeit« in der kapitalistischen Gründerzeitstimmung der 1990er Jahre paradigmatisch in Konzepte des »green growth« einpassen. Nachhaltigkeit verband sich nun mit einer Steigerung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit in der Globalisierung. Zugleich sollten Marktinstrumente benutzt werden, um Nachhaltigkeit herzustellen. Dies galt für die Grünen, aber auch für die SPD, und in diesem Sinne propagierte der rot-grüne Koalitionsvertrag 1998 unter dem Titel Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert: Durch die von den Koalitionsparteien vereinbarte Regierungspolitik sollen die Chancen der Globalisierung für nachhaltiges Wachstum, Innovation und neue zukunftsfähige Arbeitsplätze genutzt werden. […] Wir orientieren uns am Leitbild der Nachhaltigkeit.

Der Koalitionsvertrag räumte auch der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit breiten Raum ein. Doch hatte sich der Begründungszusammenhang gewandelt: Eine starke, wettbewerbsfähige und an Nachhaltigkeit orientierte Wirtschaft ist die Grundlage für Arbeitsplätze, für Wohlstand und für soziale Sicherheit. Wir wollen eine Erneuerung der sozialen und ökologischen Marktwirtschaft.152

Vieles erinnert hier an die sozialdemokratische Aufbruchsstimmung und den Modernisierungswillen der 1960er Jahre. Neu war aber die ökologische Grundierung, die im Gegensatz zu den 1970er und 1980er Jahren nicht mehr als gefahrengeschwängerter, sondern modernisierender, auf eine bessere Zukunft zielender Programmpunkt kommuniziert wurde. Zudem war nicht der Staat Träger der Modernisierung  – wie dies seit je das programmatische Selbstverständnis der SPD war –, sondern auch und gerade der Markt, der Steuerungsfunktionen übernehmen sollte. Diese programmatische Verschiebung lag an der Wurzel der folgenden Agenda-Politik153. Blickt man auf die langfristigen Makrodaten der Bundesrepublik im europäischen Vergleich, so war diese ökonomisch – gerade mit Blick auf die Zahl an Arbeitsplätzen – durchaus erfolgreich. Doch sie führte in den 2000er Jahren zu tiefen programmatischen Auseinandersetzungen und trug in entscheidender Weise zur Spaltung der SPD bei. Den neuen Zukunftsvorstellungen und dem neuen Fortschrittsverständnis, das mit Eingriffen in die sozialdemokratische Kernforderung nach einer starken steuernden Rolle des Staates einherging, hatten viele Parteimitglieder nicht folgen können oder wollen.

152 Aufbruch und Erneuerung. Deutschlands Weg ins 21.  Jahrhundert. Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die Grünen, 20.10.1998, Präambel, S.  13, 3 (URL: https://www.gruene.de/fileadmin/user_ upload/Bilder/Redaktion/30_Jahre_-_Serie/Teil_21_Joschka_Fischer/Rot-Gruener_ Koalitionsvertrag1998.pdf, zuletzt eingesehen am 26.7.2016). 153 Vgl. Nawrat, Agenda.

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Die Agenda-Politik war in vielerlei Hinsicht eine Folge der fragilen Zukunftswahrnehmung der SPD, eine Konsequenz dessen, dass seit 1970/71  – schon vor dem »Ende des Booms« – ihr Fortschrittsverständnis zu bröckeln begann. Den Rahmen bildete ein breiterer, sozioökonomischer und politisch-kultureller Transformationsprozess. Hierzu gehörten der wirtschaftliche Strukturwandel »nach dem Boom« mit dem Niedergang der Traditionsindustrien, der Durchbruch von Tertiarisierung und Mikroelektronik, die wachsende inter­ nationale Verflechtung, aber auch die Wirkmächtigkeit des ökologischen Denkens, die gesellschaftliche Individualisierung und Suche nach einem neuen, zivilgesellschaftlichen Politikstil. Die SPD trieb diesen Wandel teilweise  – etwa mit Blick auf das Bild der »zweiten industriellen Revolution«, die Diskussion um die Grenzen des Wachstums und die Globalisierung politischer mental maps – aktiv mit voran. Zugleich tangierte dieser im Kern die sozialdemokratische Verwurzelung in der industriell-technischen Moderne und die Grundfesten der sozialdemokratischen Programmatik. Damit wuchsen in der Partei Krisenwahrnehmungen und eine neue Modernitäts- und Technikkritik. Nicht zuletzt wirkte die Erschütterung der 1970er Jahre deshalb so stark, weil die sozial­demo­ kratischen Erwartungen der 1960er Jahre ins fast Unermessliche gewachsen waren und damit Enttäuschungsprozesse unausweichlich gemacht hatten. So changierte die SPD der 1970er bis 1990er Jahre zwischen ökologisch grundierter Kritik an der industriellen und technischen Moderne, Ängsten und Krisenwahrnehmungen, dem krampfhaften Festhalten an ihrem traditionellen, sozial-emanzipativ und industriell-technisch gedeuteten Fortschrittsverständnis und einem neuen, fragilen, marktliberal geöffneten Modernisierungsbegriff. In diesen Verschiebungen der sozialdemokratischen Zukunfts- und Fortschrittsverständnisse seit den 1960er Jahren ruht auch ein Gutteil der Verunsicherung, welche die SPD heute prägt.

Achim Landwehr

Die vielen, die anwesenden und die abwesenden Zeiten Zum Problem der Zeit-Geschichte und der Geschichtszeiten

Offiziell geschnittene Zeit Bei nachlassender Aufmerksamkeit und unzureichender Hinterfragung könnte man zu der Ansicht gelangen, die allfällige Präsenz von Uhren und Kalendern sei nicht nur mit der Zeit an und für sich gleichzusetzen, sondern man habe sich das Ablaufen der Zeit auch so vorzustellen, dass es gänzlich ohne unser Zutun vonstattenginge. Augustinus’ bekannte paradoxale Bemerkung, dass man nur solange gänzlich selbstverständlich wüsste, was die Zeit sei, solange man nicht danach gefragt würde, hat auch 1600 Jahre nach ihrer ersten Formulierung nichts an Gültigkeit eingebüßt1. Wir sind der üblicherweise nicht reflektierten, subkutanen Überzeugung, die Zeit sei eine vorgegebene Struktur, ein Korsett, in das wir uns einzupassen hätten und nach dem wir uns richten müssten2. Tatsächlich handelt es sich – und auch das lässt sich anhand von Uhr und Kalender belegen – um Bewegungsabläufe, die als Symbole so gestaltet sind, dass sie gesellschaftliche Koordination und Orientierung ermöglichen. Mit anderen Worten: Es sind Menschen, die Zeit machen3. Wie man die Arten und Weisen gestaltet, mit denen man sich auf die alltäglichen Erfahrungen von Intervall, Rhythmus, Wiederholung, Unumkehrbarkeit, Verfall, Vergangenem oder Zukünftigem bezieht, kann dabei höchst unterschiedliche Formen annehmen4. 1 Augustinus, Bekenntnisse/Confessiones, übers. v. Joseph Bernhart, Frankfurt a. M. 1987, S. 628 f.; vgl. auch Kurt Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI . Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a. M. 22004. 2 Die Dominanz der Uhren- und Kalenderzeit geht sogar so weit, dass ihr auch die planetarischen Bewegungen unterworfen werden. Denn die durch Atomuhren gemessene Weltzeit ist genauer und regelmäßiger als die Rotation der Erde, die durch Gezeiten, Massenverlagerungen, Winde, Meeresströme und andere Einflüsse »unrund« läuft. Deshalb muss regelmäßig eine Schaltsekunde eingeführt werden, um ungenaue Erdrotation und penible Atomzeitmessung wieder in Einklang zu bringen (URL: http://www.faz.net/aktuell/ wissen/physik-chemie/schaltsekunde-2015-um-2-uhr-in-der-nacht-zum-1-juli-13677559. html, zuletzt eingesehen am 21.10.2015). 3 Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a. M. 31990, S. 8; William Grossin, Les représentations temporelles et l’émergence de l’histoire, in: L’Année Sociologique 39 (1989), S. 233–254, hier S. 248–253. 4 Robert Levine, Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen, München 2003.

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Die Uhren- und Kalenderzeit5 ist nur eine Möglichkeit, wenn auch sicherlich eine inzwischen global dominierende. Schließlich bietet sie den unabweisbaren Vorteil der Synchronisierung unterschiedlicher, räumlich parallel zueinander ablaufender Vorgänge, wie sie insbesondere in den Bereichen des Wirtschaftlichen, Politischen oder Militärischen unverzichtbar geworden sind6. Insbesondere eine globale Ökonomie ist ohne eine weltweit gleichmäßig getaktete Zeit nicht mehr vorstellbar. Schnitzelnd und schneidend, teilend und unterteilend, nagten die Uhren der Harley Street an dem Junitag, rieten zur Unterwerfung, stützten die Autorität und hoben im Chor die erhabenen Vorteile des Sinnes für Proportion hervor, bis die Aufhäufung der Zeit so weit verringert war, daß eine Ladenuhr über einem Geschäft in der Oxford Street fröhlich und brüderlich, als wäre es den Herren Rigby und Lowndes ein Vergnügen, diese Auskunft unentgeltlich zu erteilen, verkündete, es sei halb zwei. Blickte man hoch, so sah man, daß jeder Buchstabe ihrer Namen eine der Stunden bezeichnete; unbewußt war man Rigby und Lowndes dankbar, daß sie einem die offizielle Greenwich-Zeit angaben; und diese Dankbarkeit (sinnierte Hugh Whitbread, während er vor dem Schaufenster herumtrödelte)  führte dann natürlich dazu, bei Rigby und Lowndes Socken oder Schuhe einzukaufen. (Virginia Woolf: Mrs. Dalloway)7

Man darf nun aber durchaus Unzufriedenheit äußern mit der Art und Weise, wie insbesondere in den Geschichtswissenschaften mit dem Thema der Zeit umgegangen wird8. Das geschieht nicht nur recht randständig angesichts der Bedeutung dieser historischen Grundlagenkategorie, sondern zumeist auch unterkomplex. Zu behaupten, die Kategorie der Zeit würde im Zusammenhang geschichtswissenschaftlicher Diskussionen keine Rolle spielen, käme fraglos einer Übertreibung gleich9. Aber es ist auffallend, dass eine so basale Einheit wie die 5 John Postill, Clock and Calendar Time. A Missing Anthropological Problem, in: Time & Society 11 (2002), S. 251–270. 6 Christian Kassung/Thomas Macho (Hrsg.), Kulturtechniken der Synchronisation, Paderborn 2013; Stephen Kern, The culture of time and space 1880–1918, Cambridge 1986. 7 Virginia Woolf, Mrs. Dalloway. Roman, übers. v. Walter Boehlich, Frankfurt a. M. 102003, S. 101 f. 8 Ähnliche Einschätzungen bei Hans Jürgen Goertz, Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 168; Marcus Sandl, Martin Luther und die Zeit der reformatorischen Erkenntnisbildung, in: Arndt Brendecke/RalfPeter Fuchs/Edith Koller (Hrsg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit, Berlin 2007, S. 377–409, hier S. 379 f.; Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 26.9.2011 (URL: http://docupedia.de/zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen_Version_2.0_Rüdiger_Graf, zuletzt eingesehen am 29.6.2016); Grossin, Les représentations, S. 234. 9 Vgl. dazu nur exemplarisch den klassischen Band von Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989; oder den jüngsten Sammelband von Chris Lorenz/Berber Bevernage (Hrsg.), Breaking up Time. Negotiating the Borders Between Present, Past and Future, Göttingen 2013.

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Zeit dann doch eine eher spärliche Aufmerksamkeit erfährt. Während sich in zahlreichen anderen wissenschaftlichen Disziplinen – Philosophie, Soziologie, Kulturwissenschaften, Physik, um nur einige zu nennen – eine umfangreiche und seit Langem etablierte Diskussion zum Thema ›Zeit‹ entwickelt hat, halten sich die Geschichtswissenschaften in diesem Feld eher vornehm zurück. Und das darf verwundern – wenn nicht sogar befremdlich anmuten. Die Frage, wie man denn sinnvoll über die Zeit reden könne, ist ja durchaus berechtigt. Eine häufig gewählte Antwort (oder eher: Ausflucht) besteht darin, die Zeit zu vergegenständlichen, indem man sich auf ein entsprechendes Messgerät bezieht. Der bestimmte Artikel suggeriert ja, dass sich »die Zeit« ähnlich behandeln ließe wie »der Tisch« – was im Falle der Zeit aber offensichtlich unsinnig ist, denn wir können uns höchstens auf periodische oder getaktete Vorgänge beziehen, auf den Lauf der Sonne, das Rieseln von Sandkörnen durch ein Glas oder die Bewegung eines Zeigers auf einem Ziffernblatt. Auf »die Zeit« beziehen wir uns dabei aber sicherlich nicht. Man muss aber noch einen Schritt weitergehen und die Frage stellen, was entsprechende Apparaturen eigentlich messen. Messen sie überhaupt etwas? Der Ausdruck »Zeitmessgeräte« führt ja in die Irre, denn wenn es schon nicht gelingt, dass wir uns auf »die Zeit« beziehen können, dann können es diese Geräte schon gar nicht, weil auch ihnen kein privilegierter Zugang zu dieser geheimnisvollen Dimension gewährt ist. Die Frage nach dem Referenten von Medien wie Uhren und Kalender drängt sich daher unweigerlich auf. Worauf beziehen sie sich, wenn sie sich nicht auf »die Zeit« beziehen können? Eine Uhr ist zunächst einmal nichts anderes als ein Produzent von geregelten und möglichst gleichförmigen Bewegungen. Die entscheidenden Eigenschaften dieser Uhren ergeben sich nicht aus »der Zeit«, sondern aus den technischen Herstellungsnormen, denen sich dieser Apparat verdankt. Die Eigenschaften der Uhr kommen ihr nicht gewissermaßen »von Natur aus« zu, sondern ergeben sich einzig aus den Zwecken, für die sie erbaut wurde. Die Gleichförmigkeit und Unerbittlichkeit des zeitlichen Ablaufs, die wir mit der Uhr in Zusammenhang bringen, entstehen daher auch nicht aufgrund der Beziehung zwischen Apparat und Zeit, sondern aufgrund der Verbindungen zwischen Apparat und Apparat10. Wenn eine Uhr vor- oder nachgeht, dann nicht, weil sie mit »der Zeit« nicht übereinstimmen würde, sondern weil die Taktung mit anderen Apparaten, im Zweifelsfall der Atomuhr der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, nicht mehr im Einklang steht. Die Materialität der Zeit-Medien ermöglicht ein Wechselspiel, durch welches das Symbolische einer kalendarischen Zeit sehr reell werden kann (man denke nur an die Auswirkungen von Fristsetzungen), die aber umgekehrt auch das Reelle und Materielle einer mechanischen Uhr flugs ins Symbolische umschlagen lässt. Daher gilt der Satz von Wolfgang Hagen: »Im Abendland generieren 10 Mathias Gutmann, Konstruktion oder Evolution der Zeit? in: Rechtsgeschichte 10 (2007), S. 37–50, hier S. 37–39.

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Medien die Zeit und ihren Begriff – und nicht die Zeit die Medien.«11 Es ist unabweislich, die Verfügung über Raum und Zeit immer an die jeweiligen medialen Möglichkeiten gebunden zu sehen. Insofern ist die Geschichte der Medien immer auch eine Geschichte wachsender (oder schrumpfender) Zugriffsmöglichkeiten über ferne Zeiten oder andere Räume12. Vielleicht ist auch hier ein Grund für den Umstand zu suchen, dass im geschichtswissenschaftlichen Kontext die Zeit eher zurückhaltend zum Gegenstand gemacht wird – weil dadurch die Medialität des Historischen überdeutlich würde und gern gehegte Konzepte von »geschichtlicher Realität« oder »historischer Wahrheit« noch mehr in Zweifel gezogen würden als es ohnehin schon geschieht. Dabei wäre eine größere geschichtswissenschaftliche Aufmerksamkeit für die Zeit allein schon deswegen notwendig, weil man von Zeittheorien kaum sinnvoll sprechen kann, wenn man nicht auch deren historische Dimension angemessen berücksichtigt. Denn Zeitvorstellungen, mit denen wir selbstverständlich umgehen und die wir theoretisch abstrahieren, basieren unweigerlich auf den Formen ihrer historischen Ausprägung. Für die Zeit »nach dem Boom« lässt sich das in exemplarischer (wenn auch sicherlich nicht einmaliger) Weise feststellen. Es erscheint kaum zufällig, dass sich in den 1970er Jahren die maßgeblich von Reinhart Koselleck angestoßene, aber nie zu einer befriedigenden Synthese geführte, Diskussion um eine Theorie historischer Zeiten etabliert hat13. Denn diese Aufmerksamkeit für die Konstitution der Zeit(en) in der selbst ernannten Moderne, wie sie bei Koselleck sichtbar wird, dürfte auch etwas mit der Aufmerksamkeit für die temporalen Verschiebungen in dessen eigener Gegenwart zu tun haben, insofern hier der Rückblick auf ein modernisierungstheoretisch und fortschrittsgeschichtliches Zeitmodell möglich wurde, von dem man sich allmählich zu verabschieden begann. Auch wenn ich eine solche Krisis der Zeiten, also eine (weiterhin anhaltende)  Situation temporaler Unwägbarkeiten und Verunsicherungen nicht exklusiv für die Zeit »nach dem Boom« reservieren, sondern als durchaus typische Begleiterscheinung historischer Phasen begreifen würde, die durch Krisenselbstbeschreibungen geprägt sind, kann man seit den 1970er Jahren bei den Stichworten zur Zeit gar nicht übersehen, dass sich hier erhebliche zeitliche Verwirbelungen ergaben. Sämtliche Diskurse um Postmoderne, das Ende großer 11 Wolfgang Hagen, Globale Gegenwartsvergessenheit. Annäherungen an Harold A. Innis und seine Theorie der Medien-Raumzeit, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hrsg.), Raum – Wissen – Macht, Frankfurt a. M. 2002, S. 193–213, hier S. 197. 12 Götz Großklaus, Zeitlichkeit der Medien, in: Trude Ehlert (Hrsg.), Zeitkonzeptionen, Zeiterfahrung, Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, Paderborn u. a. 1997, S. 3–11, hier S. 3. 13 Koselleck, Vergangene Zukunft; Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003; Helge Jordheim, Against periodization. Koselleck’s theory of multiple temporalities, in: History and Theory 51 (2012), S. 151–171; Jörg Fisch, Reinhart Koselleck und die Theorie historischer Zeiten, in: Carsten Dutt/Reinhard Laube (Hrsg.), Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2012, S. 48–64.

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Erzählungen, Beschleunigungserfahrungen, Nostalgiebestrebungen, konservative Beharrungen, Posthistoire und vieles andere mehr lassen sich nur als Indizien dafür begreifen, dass man sich in einer Zeit wähnte, in der nicht mehr sicher zu sein schien, was einem die Zeit eigentlich sagen wollte und sollte. Solche temporalen Turbulenzen anzusprechen, darf einen aber nicht übersehen lassen, wie sich damit gleichzeitig sehr langfristig stabile Formen des Zeitwissens verbinden, die bei aller Verunsicherung ihre nur schwerlich zu bezweifelnde Gültigkeit bewahren. Von Zeittheorien im spezifisch europäischen Kontext kann man beispielsweise kaum sinnvoll sprechen, wenn man nicht zumindest in groben Zügen ihre jüdisch-christlichen Wurzeln im Auge behält. Die christliche Zeitvorstellung ist als Erbin der jüdischen Zeitauffassung ebenso wie diese geprägt durch die charakteristische Hoffnung auf Erlösung. Die Geburt Jesu wird dabei als zeitlicher Einschnitt verstanden, der die Geschichte nach christlicher Sichtweise in zwei Hälften teilt. Die Christen waren von Anfang an davon überzeugt, ihre Religion sei ein Ausdruck göttlichen Willens, weshalb ihrer Lehre auch universale Bedeutung zukommen müsse. Die Kreuzigung Christi gilt dabei als einmaliges und unwiederholbares Ereignis  – ein Umstand, aus dem sich ein linear dominiertes und nicht mehr ausschließlich zyklisches Zeitmodell entwickeln ließ. Eine solche historische Zeitauffassung mit ihrer Betonung der Unwiederholbarkeit von Ereignissen gehört zu den zentralen Bestandteilen des Christentums – und bildet auch das (meist unhinterfragte) Fundament historischer Zeitmodelle14. Die religiöse Basis von Zeitkonzepten zu unterstreichen, heißt aber nicht, sie in irgendwelchen uralten historischen Schichten wurzeln zu lassen und damit gewissermaßen zu mythologisieren. Von der religiösen Basis der Zeit zu sprechen, unterstreicht vielmehr ihren gesellschaftlichen Charakter – religiöse Zeit ist soziale Zeit. Emile Durkheim hat das unmissverständlich deutlich gemacht: Man stelle sich zum Beispiel vor, was der Begriff der Zeit wäre, wenn wir das abziehen, womit wir sie einteilen, messen und mit Hilfe von objektiven Zeichen aus­drücken, eine Zeit, die keine Folge von Jahren, Monaten, Wochen, Tagen, Stunden wäre! Das wäre etwas fast Unvorstellbares. Wir können die Zeit nur begreifen, wenn wir in ihr verschiedene Augenblicke unterscheiden. Wo liegt aber der Ursprung dieser Unterschiedlichkeit? […] Es ist nicht meine Zeit, die auf diese Weise organisiert ist; es ist die Zeit, wie sie von allen Menschen einer und derselben Zivilisation gedacht wird. Das allein genügt schon, um deutlich zu machen, daß eine derartige Organisation kollektiv sein muß. In der Tat macht die Beobachtung klar, daß diese unumgänglichen Fixpunkte, auf die alle Dinge zeitlich ausgerichtet sind, dem sozialen Leben entnommen sind. Die Einteilung in Tage, Wochen, Monate, Jahre usw. entspricht der Periodizität der Riten, der Feste, der öffentlichen Zeremonien. Ein Kalender drückt den Rhythmus der Kollektivtätigkeit aus und hat zugleich die Funktion, deren Regelmäßigkeit zu sichern.15 14 Gerald J. Whitrow, Die Erfindung der Zeit, Wiesbaden 1999, S. 95 f. 15 Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1994, S. 28 f. [Hervorhebung im Original].

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Wenn die Zeit in diesem Sinne Menschenzeit ist, dann liegt der Verdacht nahe, dass die Modelle von den großen Zusammenhängen der historischen Zeit, vom Zeitstrahl, vom Anfang und Ende, vom unabwendbaren Niedergang oder vom unaufhaltsamen Fortschritt, nicht nur eine religiöse, sondern ebenso eine biographische und körperliche Wurzel haben. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wurden etablierte Modelle historischer Zeit nicht zuletzt aus (auto-)biographischen Modellen extrapoliert. Wir sehen und verstehen unser Leben in zeitlicher Hinsicht als eine Linie von Anfang bis Ende, von der Geburt bis zum Tod – und scheinen dieses Modell und dieses Narrativ auf unsere Vorstellungen von Zeit und Geschichte übertragen zu haben. Dabei ist dieses Leben, wie man kaum großartig begründen muss, sondern wie sich leichthin aus alltäglichen Erfahrungen nachvollziehen lässt, bestimmt durch das ständige Bemühen um Synchronisierung. Es besteht die Notwendigkeit unterschiedliche Zeitformen und Zeitwissen (im Plural) nicht nur biographisch, sondern geradezu körperlich miteinander in Einklang zu bringen. Die unterschiedlichen Zeiten haben im Leben jedes Einzelnen ihre Spuren hinterlassen und müssen beständig miteinander kombiniert werden. Dementsprechend muss eine Erforschung der Zeit aber darauf bedacht sein, die Pluralität der Zeiten nicht durch den Singular der Synchronie zu verdecken. Stattdessen wären die vielen historischen Zeiten und Gleichzeitigkeiten sichtbar zu machen16. Ein solches Modell historischer Zeit wäre natürlich immer noch vom menschlichen Leben extrapoliert  – wie könnte es auch anders sein, wo doch »Geschichte« ein zutiefst menschliches und kulturelles Gebilde ist. Aber es wäre eine andere, eine komplexere Art der Zeitvorstellung17. Aber leider hat die Zeit, obwohl sie Tiere und Pflanzen mit erstaunlicher Pünktlichkeit blühen und vergehen läßt, keine derart einfache Wirkung auf den menschlichen Geist. Überdies wirkt der menschliche Geist mit gleicher Seltsamkeit auf den Körper der Zeit ein. Eine Stunde kann, sobald sie sich im wunderlichen Element des menschlichen Geistes eingenistet hat, auf das Fünfzig- oder Hundertfache ihrer Uhrenlänge gedehnt werden; andererseits kann eine Stunde auf dem Zeitmesser des Geistes akkurat durch eine einzige Sekunde wiedergegeben werden. Diese außergewöhnliche Diskrepanz zwischen der Zeit auf der Uhr und der Zeit im Geist ist weniger bekannt, als sie es sein sollte, und verdiente ausführlichere Untersuchung. (Virginia Woolf: Orlando)18

Überträgt man solche Überlegungen auf die Zeitmodellierung in den Geschichtswissenschaften, dann scheint es, als müsste man zwangsläufig deren 16 In eine entgegengesetzte Richtung argumentiert Günter Dux, indem er eine ontologisierende Entwicklungslogik von Zeitmodellen apostrophiert: Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt a. M. 1989. 17 Vgl. auch Alexander Kluge/Joseph Vogl, Soll und Haben. Fernsehgespräche, Zürich 2009, S. 280 f. 18 Virginia Woolf, Orlando. Eine Biographie, übers. v. Brigitte Walitzek, Frankfurt a. M. 14 2005, S. 69.

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Perspektive in einem bestimmten, möglicherweise sogar in mehreren Punkten verschieben. Um Zeit als historisches Phänomen angemessen zu fassen, ist es dann weniger ratsam, sie als eine durchgehende Linie zu begreifen, an der sich die historischen Veränderungen und Phänomene wie an einer Schnur aufreihen, um sich anschließend den Anfangs- und Endpunkten dieser Linie zu widmen und die Frage zu stellen, wie sich »die Geschichte« dazwischen verhalten hat. Stattdessen wäre die Aufmerksamkeit auf jeweils synchron zueinander bestehende Zentren sozialen Lebens zu richten, um dort ausfindig zu machen, mit welchen Reichweiten temporalen Denkens operiert, welche Geschwindigkeiten angelegt und welche Taktungen der Zeitlichkeit vorausgesetzt wurden19. Nun stellt es zugegebenermaßen eine Überwindung eingefahrener Denkweisen dar, unterschiedliche und vor allem vielfältige Formen der Verzeitung zu thematisieren, die nicht mit unbarmherziger Regelmäßigkeit, »schnitzelnd und schneidend, teilend und unterteilend«, wie Virginia Woolf sagt, die Zeit takten. Geschichtswissenschaftlich wird aber immer noch diese kalendarische Zeit als fixer und gleichmäßiger temporaler Maßstab herangezogen, ohne andere Möglichkeiten angemessen in Betracht zu ziehen. Aber wie schon George Kubler formulierte: Die Anzahl der Möglichkeiten, die für die Dinge besteht, Zeit einzunehmen, ist wahrscheinlich nicht stärker begrenzt als die Anzahl der Möglichkeiten, die für die ­Materie besteht, Raum einzunehmen. Die Schwierigkeit, abgrenzende Kategorien für die Zeit zu finden, hat stets darin bestanden, eine angemessene Beschreibung für die Dauer zu finden, die sich immer den Ereignissen entsprechend verändern wird, während man diese nach einer festgesetzten Skala mißt. Die Geschichte verfügt nicht über ein Periodensystem der Elemente und ebensowenig über eine Klassifizierung nach Arten und Gattungen; sie verfügt nur über das Meßsystem der Sonnenzeit und einige herkömmliche Methoden, Ereignisse zu gruppieren. Sie verfügt jedoch nicht über eine Theorie der zeitlichen Struktur.20

Und insbesondere der letzte Satz hat an Gültigkeit bis zum heutigen Tag nichts eingebüßt. Ein in zeittheoretischen Debatten regelmäßig anzutreffendes Modell, um Vielzeitigkeit zu thematisieren und die Fragen zu behandeln, ob Zeit relational oder absolut sei, ob es sich um eine vom Beobachter unabhängige Entität handele oder ob sie im Gegenteil von diesem Beobachter gerade nicht zu trennen sei, ist die Unterscheidung von A- und B-Serien der Zeit. Eingeführt wurde diese Einteilung erstmals 1908 (in Buchform dann nochmals 1927) von dem Philo­ 19 Jan Marco Sawilla, Geschichte und Geschichten zwischen Providenz und Machbarkeit. Überlegungen zu Reinhart Kosellecks Semantik historischer Zeiten, in: Hans Joas/Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 387–422, hier S. 421 f. 20 George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt a. M. 1982, S. 156.

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sophen John McTaggart21. McTaggart entwickelte diese Differenzierung mit dem Ziel, die Nicht-Existenz von Zeit zu beweisen. Seine Unterscheidung ist insofern hilfreich, als sie nicht nur die Zeittheorie stark beeinflusst hat, sondern weil sie die häufig anzutreffenden dichotomischen Entgegensetzungen in Diskussionen zur Zeit auf den Punkt zu bringen vermag. Man könnte die Unterscheidung von A- und B-Serien der Zeit übersetzen als subjektive beziehungsweise objektive Auffassungen von Zeit. Die A-Serie (oder subjektive Perspektive) bezeichnet den Umstand, dass wir Zeit als einen permanenten Prozess der Veränderung und Bewegung wahrnehmen. Die Zeit »fließt« (um diese vielfach verwendete, heraklitische Metapher zu bemühen), Ereignisse geschehen und gehen vorüber, die Gegenwart wird zur Vergangenheit und die Zukunft zur Gegenwart. Die B-Serie (oder objektive Perspektive) beschreibt demgegenüber die temporale Ordnung des Vorher und Nachher, reiht Ereignisse mittels Datierung und historischer Zuordnung in ihre jeweiligen Beziehungen zueinander. Diese Ordnung ist fixiert, kann nicht umgekehrt werden (die Wahl Ronald Reagans zum US -Präsidenten ereignete sich vor dem Fall der Mauer und nicht anders herum) und etabliert auf diese Weise eine stabile Zeitschiene22. Mit Blick auf den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit Zeit fällt auf, dass sie gemäß dieser Unterscheidung vornehmlich als B-Serie oder als Zeitleiste verstanden wird. Begreift man Zeit in diesem objektivistischen Sinn, lassen sich dadurch zwei Effekte erzielen: Die Zeit kommt einerseits dem geschichtswissenschaftlichen Bedürfnis entgegen, eindeutige Datenreihen zu etablieren, und erzeugt andererseits den Eindruck, sich in einem quasi naturwissenschaftlichen, weil objektiv vorgegebenen Rahmen zu bewegen. Einem solchen objektivistischen Schema zu folgen, birgt jedoch Probleme. Vor allem wird dadurch Zeit zu einer unproblematisierten Voraussetzung, zu etwas Gegebenem, zu einem – im wörtlichen Sinn – »Datum«. Zeit kommt dadurch als Thema und Problem nicht mehr in den Blick. Das ist unter anderem deswegen problematisch, weil ja auch die historischen Akteurinnen und Akteure, mit denen wir uns gegenwärtig auseinandersetzen, ihre jeweiligen Zeitkonzepte besaßen, die unter Umständen erheblich von denjenigen abweichen, mit denen wir ganz selbstverständlich umgehen23.

21 John McTaggart, The Unreality of Time, in: Mind 17 (1908), S. 457–474; Ders., The Nature of Existence, Cambridge 1927, S. 9–31. 22 McTaggart, The nature, S. 9–31; vgl. dazu auch Lennart Lundmark, The historian’s time, in: Time & Society 2 (1993), S. 61–74, hier S. 68. Eine ähnliche Unterscheidung findet sich bei Karl Dietrich Erdmann, Die Zukunft als Kategorie der Geschichte, in: HZ 198 (1964), S. 44–61, hier S. 44 f. 23 Lundmark, The historian’s time, S. 69.

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Wie spät ist es, und wenn ja, wie oft? Wenn man im Zuge einer Theoretisierung und Historisierung der Zeit zu dem Schluss kommen sollte, diese Zeit nicht als etwas Absolutes zu begreifen, sie nicht stetig und gänzlich unabhängig von äußeren Einflüssen verstreichen zu lassen, sondern sie viel eher als kulturelles Konstrukt zu verstehen  – bedeutet das im Umkehrschluss dann nicht, dass es außerhalb kultureller Kontexte keine Veränderung, kein Entstehen und kein Vergehen der Dinge gibt? Wohl kaum. Zu offensichtlichem Unsinn lädt eine solche Position nicht zwangsläufig ein. Vielmehr soll mit dem Verständnis von Zeit als kulturellem Konstrukt zum Ausdruck gebracht werden, dass die Art und Weise, wie man die Tatsache von Veränderung und die Erfahrung von Dauer jeweils individuell und gesellschaftlich deutet, alles andere als naturnotwendig ist. Das bedeutet aber nicht, dass sie gar nicht ist. Das wird deutlich, wenn man die Entstehung von Zeitwissen in westlichen Gesellschaften etwas näher besieht. Dauer wird erlebbar, wenn man die gegenwärtige Situation zu vergangenen Erfahrungen und künftigen Erwartungen in Beziehung setzt24. Da es keinen Hinweis darauf gibt, dass dem Menschen ein spezifischer Sinn für die Zeit eigen ist, muss die Fähigkeit, Erwartungen zu haben, erst allmählich erlernt werden25. Wenn ein kleines Kind Hunger hat, das Hungergefühl durch Schreien zum Ausdruck bringt, macht es in der Zeitspanne bis zur Befriedigung dieses Bedürfnisses erste Erfahrungen der Dauer. Die relativ lange Phase, in der ein Kind das Laufen erlernt, scheint für die Entstehung des Zeitbewusstseins von großer Bedeutung zu sein. Wünsche des Kindes, die nicht erfüllt werden können, weil es die entsprechenden Objekte nicht erreichen kann, lassen eine erste Vorstellung von Zeit entstehen. Schon diese frühen Erfahrungen der Zeit sind mit der Wahrnehmung einer räumlichen Distanz gekoppelt. Dauer konkretisiert sich in dem Abstand zwischen dem Kind und der Erfüllung seiner Wünsche. Konkret nachvollziehbar wird die kulturelle Konstruktivität von Zeitvorstellungen durch die enge Kopplung, die Zeit und Sprache miteinander eingehen. Zeit muss nämlich erlernt werden und der Fortschritt in diesem Lernprozess wird auf sprachlicher Ebene deutlich. Bis zum Alter von 18 Monaten ist einem Kind die Bedeutung von »jetzt« geläufig. Noch bis zum Alter von 30 Monaten scheinen Kinder vor allem in der Gegenwart zu leben, denn auch wenn weitere Wörter hinzukommen, die sich auf die Zeit beziehen, so haben die meisten doch mit dem Hier und Jetzt zu tun. Es lassen sich aber auch erste Wörter mit Bezug

24 Vgl. hierzu Kosellecks Begriffspaar von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont: Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003, S. 331–335. 25 Zum Folgenden Jean Piaget, Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde, Stuttgart 1980; Whitrow, Erfindung, S. 20–23.

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auf die Zukunft wie »bald« feststellen, während die Vergangenheit noch so gut wie keine Rolle spielt. Mit dem Erwerb der Sprache erhöht sich die Fähigkeit des Kindes, zeitliche Relationen zu begreifen und temporale Begriffe zu entwickeln. Denn auch wenn die persönliche Erfahrung von Dauer schon recht früh einsetzt, so beruht das in westlichen Gesellschaften vorherrschende Modell von Zeit auf einem recht abstrakten begrifflichen Bezugssystem, das erst mühsam erlernt werden muss. Erst im Alter von etwa acht Jahren gelingt es dem Kind, Beziehungen zwischen einem konkreten Davor und einem Danach mit einer allgemeinen Zeitdauer zu assoziieren, so dass die Vorstellung einer einzigen allgemeinen Zeit entstehen kann, in der alle Ereignisse stattfinden. Als nun das Haus leer war und die Türen abgeschlossen waren und die Matratzen eingerollt, kamen jene schweifenden Lüfte, Vorhut gewaltiger Armeen, hereingefegt, streiften nackte Dielenbretter, nagten und fächelten, trafen in Schlafzimmer oder Salon auf nichts, das ihnen ungeteilten Widerstand bot, sondern nur auf Tapeten, die flatterten, Holz, das knarzte, die nackten Beine von Tischen, Kasserollen und Porzellan, die bereits von einem Belag überzogen, angelaufen, gesprungen waren. Was die Menschen abgelegt und zurückgelassen hatten – ein Paar Schuhe, eine Jagdmütze, ein paar ausgeblichene Röcke und Jacken in Schränken –, sie allein wahrten die menschliche Gestalt und ließen bei aller Leere erkennen, wie sie einst ausgefüllt und von Leben erfüllt gewesen waren; wie einst Hände sich mit Haken und Knöpfen zu schaffen machten; wie einst der Spiegel ein Gesicht enthalten hatte; einst eine ausgehöhlte Welt enthalten hatte, worin eine Gestalt sich drehte, eine Hand aufblitzte, die Tür sich auftat, Kinder hereingestürzt und -getollt kamen; und wieder hinausgingen. Jetzt warf tagaus tagein das Licht, wie eine im Wasser gespiegelte Blume, sein helles Bild an die gegenüberliegende Wand. Nur die Schatten der Bäume, die im Winde groß taten, neigten das Haupt an der Wand und verdüsterten für einen Augenblick den Teich, worin das Licht sich spiegelte; oder Vögel, wenn sie flogen, ließen einen weichen Fleck langsam über die Schlafzimmertür flattern. (Virginia Woolf: Zum Leuchtturm)26

Eine grobe Beschreibung der Entwicklung des Zeitbewusstseins hat zunächst nur für Kinder westlicher Gesellschaften Gültigkeit. Bei der Untersuchung der Zeitvorstellungen von Kindern in Uganda wurde beispielsweise festgestellt, dass sie die Dauer eines Vorgangs wesentlich schlechter schätzen konnten als gleichaltrige Kinder westlicher Gesellschaften. Eine zweistündige Busfahrt wurde mal auf zehn Minuten, mal auf sechs Stunden veranschlagt. Die Kinder australischer Aborigines tun sich schwer im Umgang mit der Uhr. Es mangelt ihnen – ebenso wie den ugandischen Kindern  – nicht an intellektuellen Fähigkeiten. Auch haben wir es nicht mit dem wenig überzeugenden Argument unterschiedlicher Grade der »Entwicklung« zu tun, sondern vor allem mit differenten Zeit26 Virginia Woolf, Zum Leuchtturm, übers. v. Karin Kersten, Frankfurt a. M. 1993, S. 136 f.

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modellen. Während Kinder westlicher Gesellschaften die Uhr mit sechs oder sieben Jahren zu benutzen vermögen, gelingt es Aborigines-Kindern nur, die Zeiger der Uhr als eine Art Gedächtnisübung zu lesen, sie können die Angaben aber nur schwer mit der tatsächlichen Tageszeit in Beziehung setzen. Für sie herrschen andere Formen der Relationierung zwischen ihrer soziokulturellen Umgebung und Veränderungsprozessen mittels Zeitmodellen vor27. Man muss also kaum größeren argumentativen Aufwand betreiben, um zu der Einsicht zu gelangen, dass die Zeit etwas Gemachtes, nicht etwas Gegebenes ist. Schon die je eigenen Alltagserfahrungen drängen einem diesen Gedanken auf, wenn man beispielsweise die Erfahrung einer schnell oder langsam vergehenden Zeit macht. Trotzdem muss man sich vergegenwärtigen, dass die Idee von der Zeit als einer vorgegebenen und dem Menschen äußerlichen Realität in und für die Moderne sehr wirkmächtig war und deren Auswirkungen bis heute zu spüren sind. Die astronomische Zeit wurde mit Anbruch des naturwissenschaftlichen Paradigmas in mathematischen und physikalischen Begriffen definiert. Dadurch wurde die Zeit ihres historischen und soziokulturellen Charakters entkleidet und zu einer Naturtatsache stilisiert. Dieses Denken ging (und geht) grundsätzlich davon aus, dass die Zeit der Praxis vorgängig ist, dass sich die Praxis in die Rahmung der Zeit einzufügen hat. Doch schon seit Längerem ist sichtbar, wie wichtig der Standpunkt handelnder Akteure auch und gerade im Umgang mit der Zeit ist. Zumindest mittelbar dürften dafür die Vorgänge der Jahre 1989/90 mit verantwortlich sein, weil dieser Erfahrungsbruch deutlich vor Augen geführt hat, wie gestaltbar und beeinflussbar »Geschichte« ist – und wie sehr sich die Zeiten mit der Zeit verändern. Zeit erweist sich mithin als soziokulturelles Produkt, als Ergebnis einer Praxis, die man »Verzeitlichung« nennen könnte. Die soziale und kulturelle Praxis ist also nicht in der Zeit, sondern macht die Zeit28. Aber gerade anhand des weiterhin dominierenden Verständnisses von Zeit als einer äußerlichen, vorgegebenen Kategorie lässt sich aufzeigen, dass etablierte und schematisierte Trennungen zwischen Kultur und Natur zuweilen allzu simplifizierend daherkommen. Denn bei allen etablierten Formen, Zeit zu messen, zu berechnen und zu deuten, handelt es sich um ausschließlich kulturelle Leistungen – Leistungen allerdings, deren Daten durch die Natur (oder auch durch »die Geschichte«) vorgegeben werden. Zeitbestimmungen sind deswegen objektivierbar, weil sie aufgrund ihrer astronomischen Vorfindlichkeit in Form von Sonnen- und Mondumlauf, Tag- und Nachtwechsel, Jahreszeiten oder planetarischen Konstellationen allen Menschen in gleicher Form zugänglich sind. Jedoch weisen die jeweiligen Ausformungen, mit denen Zeit bemessen

27 Whitrow, Erfindung, S. 20–23. 28 Norbert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt a. M. 1988; Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001, S. 265, 287.

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und in Genealogien, Chronologien, Kalendern oder Uhren zur Darstellung gebracht wird, große kulturelle Unterschiede auf29. Nun könnte man versuchen, aufgrund solcher Einsichten und mittels verbesserter oder gar neuer Zeitmodellierungen, gerade das historische Fragen neu zu justieren – allerdings immer auf die Gefahr hin, dass solche behutsamen Verschiebungen im geschichtswissenschaftlichen Alltag verschwinden. Die Auseinandersetzung mit »der Zeit« – was auch immer das letztlich sein mag – ist aber zu bedeutsam, um sie einer konzeptionellen Kosmetik zu überlassen. Nötig ist daher eine geschichtswissenschaftliche Selbstbefragung, mit der das historische Projekt grundsätzlich auf andere Fundamente gestellt wird. Denn selbst wenn man bereit ist, Zeit als Konstrukt zu verstehen, gilt es, diese Einsicht auch selbstreflexiv einzusetzen. Wenn in den Wissenschaften von der Konstruktion von Zeit die Rede ist, dann sind üblicherweise »die Anderen« damit gemeint, also immer die Objekte der jeweiligen wissenschaftlichen Behandlung. Dabei wird zuweilen jedoch übersehen, dass die Wissenschaften selbst in der Beschäftigung mit der Zeit daran beteiligt sind, Konstruktionen von Zeit zu erstellen – dass sie selbst also die »anderen Anderen« sind. Und wenn man sich deren Zeitentwürfe etwas näher besieht, dann fällt ein gemeinsames Merkmal auf: Zahlreiche dieser (auch theoretisch fundierten) Zeitkonzepte sind binär strukturiert, arbeiten mit Gegensätzen30. Die Trennlinie zwischen zwei oppositionell konzipierten Arten von Zeit hält sich als immer wiederkehrendes Moment durch: Besonders häufig in Form der zyklischen und linearen Zeit, wie es seit Augustinus bei vielen Zeittheoretikern auftaucht, als sakrale und profane Zeit, beispielsweise bei Mircea Eliade31, als kalte und heiße Kulturen mit entsprechenden Zeitorientierungen bei Claude Lévi-Strauss32, als Erfahrungsraum und Erwartungshorizont bei Reinhart Koselleck33, als Weltzeit und Lebenszeit bei Hans Blumenberg34 oder eben auch als A- und B-Serie der Zeit bei John McTaggart. Wenn ich hier eine Position vertrete, die vor allem auf die Pluralität der Zeiten aufmerksam zu machen versucht35, dann bin ich mir selbstverständlich 29 Koselleck, Zeitschichten, S. 332 f.; Daniel Rosenberg/Anthony Grafton, Cartographies of Time. A History of the Timeline, New York 2010. 30 Aleida Assmann, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln/Weimar/ Wien 1999, S. 17. 31 Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Frankfurt a. M. 2007. 32 Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1973. 33 Koselleck, Zeitschichten, S. 331–335. 34 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 2001. 35 Achim Landwehr, Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte, in: Ders. (Hrsg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 9–40; vgl. auch Stefanie Stockhorst, Novus ordo temporum. Reinhart Kosellecks These von der Verzeitlichung des Geschichtsbewußtseins durch die Aufklärungshistoriographie in methodenkritischer Perspektive, in: Hans Joas/Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte, S. 359–386, hier S. 379; Karlheinz A. Geißler, A Culture of Temporal Diversity, in: Time & Society 11 (2002), S. 131–140.

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der Tatsache bewusst, dass es sich nicht um eine »bessere« oder gar »realitäts­ getreuere« Sichtweise auf das kulturelle Phänomen der Zeit handelt. Aber es ist zumindest der Versuch einer anderen (wissenschaftlichen) Konstruktion von Zeit, die eine veränderte Sichtweise auf das Phänomen erlauben sollte. Mit dem Entwurf einer Vielzeitigkeit, einer Pluritemporalität, soll erstens vermieden werden, vorschnell eine Abfolge unterschiedlicher Zeitmodelle anzunehmen (z. B. die Ablösung einer zyklischen Zeit durch eine lineare) und zweitens soll die nicht hinreichend komplexe Binarität solcher Entgegensetzungen überwunden werden36. Dass zum Beispiel die Rede vom Ende der großen Erzählungen37 selbst schon wieder eine große Erzählung ist38, hatte bereits Jean-François Lyotard festgestellt. Wie aber diese andere große Erzählung nach den liberalen und marxistischen Fortschrittsgeschichten aussehen und erzählt werden könnte, ist bisher nicht wirklich klar. Ein empirisch fundierter und sozial wie kulturell ausreichend weitschweifender Blick sollte in diesem Zusammenhang zeigen können, dass es innerhalb ein und desselben Zeitraums sehr vielfältige Möglichkeiten gibt, mit Zeit umzugehen. Daß Orlando sich ein wenig zu weit vom Augenblick der Gegenwart entfernt hatte, wird vielleicht dem Leser auffallen, der nun sieht, wie sie Anstalten macht, in ihr Automobil einzusteigen, die Augen voller Tränen und Visionen von persischen Bergen. Und in der Tat läßt sich nicht leugnen, daß die erfolgreichsten Betreiber der Kunst des Lebens, übrigens oftmals gänzlich unbekannte Menschen, es irgendwie fertigbringen, die sechzig oder siebzig verschiedenen Zeiten zu synchronisieren, die gleichzeitig in jedem menschlichen Organismus ticken, so daß, wenn es elf schlägt, der ganze Rest einstimmig einfällt und die Gegenwart weder eine gewaltsame Unterbrechung ist noch vollständig in der Vergangenheit vergessen. Von ihnen können wir mit Fug und Recht sagen, daß sie genau die achtundsechzig oder zweiundsiebzig Jahre leben, die ihnen auf dem Grabstein zugeschrieben werden. Bei den übrigen wissen wir von einigen, daß sie tot sind, obwohl sie unter uns wandeln; einige sind noch nicht geboren, obwohl sie die Formen des Lebens durchlaufen; andere sind Hunderte von Jahren alt, obwohl sie sich als sechsunddreißig bezeichnen. Die wahre Länge eines Menschenlebens ist, ungeachtet dessen, was das Dictionary of National Biography sagen mag, immer eine strittige Angelegenheit. Denn es ist ein schwieriges Geschäft – dieses Zeitmessen; nichts bringt es schneller aus der Ordnung als der Kontakt mit einer der Künste. (Virginia Woolf: Orlando)39

Eine solche Aufmerksamkeit für Pluritemporalität wäre nicht einfach nur eine nette gedankliche Spielerei, um »die Dinge auch einmal anders sehen« zu kön36 Zur grundsätzlichen Kritik an dieser dualistischen Denkweise vgl. Josef Mitterer, Das Jenseits des Diskurses. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip, Wien 32000. 37 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 41999. 38 Ders., Der Widerstreit, München 21989, S. 226. 39 Woolf, Orlando, S. 214 f.

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nen, sondern wäre eine Voraussetzung dafür, dem unilinear-homogenen Zeitmodell einen gefährlichen Stachel zu ziehen. Jacques Rancière beispielsweise hat dominierende, singuläre Modelle von »der Zeit« und »der Geschichte« als Substitute für eine verlorene Ewigkeit kritisiert. Immer gehe es um eine Fundierung der Wahrheit in der Zeit, wobei dieses Verhältnis als ein eindeutiges vorausgesetzt werde. Die vielen beobachtbaren Zeiten und Zeitpraktiken werden immer wieder als eine einheitliche Zeit konzipiert, werden alle unter ein gemeinsames Dach einer überwölbenden Zeit gestellt. Doch damit geht laut Rancière nicht nur eine Simplifizierung der tatsächlich herrschenden Zeitverhältnisse einher, vielmehr hat dies erhebliche geschichtstheoretische Auswirkungen. Denn letztendlich wird damit ebenso vorausgesetzt, dass die Wahrheit der Geschichte der Zeit und ihrer Einheitlichkeit immanent ist. Durch die Kopräsenz der Phänomene und die unterstellte Gleichzeitigkeit des historischen Prozesses offenbart sich die historische Wahrheit in ihrer Zeitlichkeit. Damit hätten wir – folgen wir Rancière weiter – in der Tat eine säkularisierte Variante von traditionell religiösen Ewigkeitsvorstellungen vorliegen40. Einheitlichkeit, Ewigkeit und Geschichte stehen also auch und gerade in neuzeitlichen historischen Konzepten immer noch im Mittelpunkt. Insofern wäre nicht nur eine Anerkennung, sondern vor allem eine Konzipierung von Vielzeitigkeit und von Pluritemporalität eine echte Herausforderung – nicht nur an geschichtswissenschaftliche Grundlagen, sondern an Denkmodelle und -gewohnheiten, die weit darüber hinausgehen. Es genügt also nicht, auf das Bestehen unbezweifelbarer äußerer Faktoren hinzuweisen, an denen sich »Zeit« fixieren ließe – hören diese nun auf den Namen Erdrotation, Mondumlauf, Irreversibilität oder zweiter Hauptsatz der Thermodynamik –, und davon das subjektive, innere Erleben von Zeit zu unterscheiden. Vielmehr müssen die zahlreichen Wechselwirkungen in den Blick genommen werden, die sich aus dieser – hier sehr holzschnittartig beschriebenen – Situation ergeben, um dadurch das »Zwischen« thematisieren zu können. Auch und gerade die dualistische Entgegensetzung von Vergangenheit und Gegenwart kann hier nicht hinreichen, sondern müsste einer Behandlung der Relationierung von anwesenden und abwesenden Zeiten weichen.

Ist heute Mittwoch oder Dezember? Von Pluritemporalität zu sprechen, ist keineswegs nur eine akademische Verstiegenheit, kein abstraktes Gedankengebäude ohne jegliche Bodenhaftung. Zum einen lässt sich mittels individueller Selbstbeobachtung unschwer ausmachen, dass man nicht nur in einer Zeit lebt, sondern recht unterschiedlichen temporalen Rhythmen folgt. Zum anderen hat das Thema auch die Politik er40 Jacques Rancière, Le concept d’anachronisme et la vérité de l’historien, in: L’Inactuel 6 (1996), S. 53–68, hier S. 56 f.

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reicht – wenn ihm auch noch nicht die große öffentliche und mediale Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. Im Herbst 2010 erließ der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats eine Resolution für eine zukünftige Zeitpolitik in den europäischen Städten und Gemeinden. Ausgangspunkt der Resolution ist die Überlegung, dass Zeit ein Schlüsselelement für die Sicherstellung der Lebensqualität und für den Abbau sozialer Ungleichheit ist. Daher haben bereits einige Kommunen »Zeitplanungsbüros« eingerichtet, die als Äquivalent zu Raumplanungsinstitutionen zu sehen sind. Der Kongress empfiehlt, die anfänglichen Bemühungen auszuweiten und entsprechende Büros in ganz Europa zu installieren. Zeit wird dabei nicht nur explizit als Ressource und als kulturelles Medium verstanden, sondern in der Resolution wird ebenfalls die Forderung formuliert, zukünftig »the right to time«, also das individuelle Recht, sich selbst zu »zeiten«, ernster zu nehmen41. Man tut aber gerade im Zusammenhang der Rede von Pluritemporalität gut daran, die allseits beliebte rhetorische Geste eines radikalen Bruchs zu vermeiden. Denn weder stellt die Beschreibung von Vielzeitigkeit einen solchen Bruch auf der Beobachtungsebene dar, noch sollen durch Pluritemporalität vornehmlich solche fundamentalen Einschnitte thematisiert werden. Pluritemporalität bedeutet vielmehr, dass alte Zeitformen nicht einfach verschwinden, neue Zeitformen nicht einfach alles überlagern. Elemente älterer Strategien überdauern, weswegen die Vorstellung eines epistemischen Bruchs in die Irre führt42. Es finden sich immer Bestandteile, die anscheinend nicht »in eine Zeit passen«, veraltet und »ungleichzeitig« wirken. Aber gerade in solchen Zusammenhängen sollte das Stichwort der Pluritemporalität seine Qualitäten ausspielen und eben diese Vielfalt der Zeiten zum Thema machen43. In diesem Sinn hat Michel Serres davon gesprochen, dass die pluralen Zeiten nicht nur in ein und derselben Gleichzeitigkeit existieren, sondern dass Menschen diese unterschiedlichen Zeiten auch leben, dass der Mensch also Pluritemporalität geradezu verkörpert. Denn der Mensch ist zur gleichen Zeit lebendig und sterblich, beständig und unbeständig, wiederholend und ständig Neues hervorbringend. Lebende Systeme sind insofern komplexe Synchronismen, die beständig verschiedene Zeiten miteinander in Einklang bringen: »La vie est identiquement la synchronie de plusieurs temps. […] La vie est multi­ temporelle, polychrone, elle est une syrrhèse. Elle baigne dans le fleuve de

41 The Congress of Local and Regional Authorities, Chamber of Local Authorities, 19th session, CPL (19) 3, 22. September 2010: »Social time, leisure time: which local time planning policy?« (URL: https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1684165, zuletzt eingesehen am 8.2.2011); ebenfalls veröffentlicht in der Zeitschrift KronoScope 11 (2011), S. 61–65; vgl. auch Ulrich Mückenberger, Local time policies in Europe, in: Time & Society 20 (2011), S. 241–273. 42 Vgl. Lorraine Daston/Peter Galison, Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, S. 338. 43 Achim Landwehr, Von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1–34.

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plusieurs temps.«44 Und was für die verkörperten Zeiten des Individuums gilt, so Serres, trifft auch auf die historischen Zeiten zu, die ebenfalls als eine Syrrhese verstanden werden müssen, als ein Zusammenfluss unterschiedlicher Strömungen45, den wir noch nicht einmal annähernd verstanden haben46. Die Dauer, die Länge, die Kürze, die Schnelligkeit oder die Langsamkeit der Zeit ist nun ein Bereich, an dem sich die Vielzahl der Zeiten exemplifizieren lässt. Das Verhältnis von anwesenden und abwesenden Zeiten ist ein anderes. Die Differenz von Jetzt und Nicht-Jetzt gehört mit all ihren ausgefeilten Modalisierungen, wie sie mit der Trias von Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft in unserem kulturellen Repertoire eingemeißelt ist, zu den grundlegenden temporalen Bestimmungen des Menschen. Die Fähigkeit, sich auf Dinge und Geschehnisse beziehen zu können, die entweder schon längst vergangen oder noch gar nicht eingetreten sind, sollte man nicht allzu voreilig als eine Selbstverständlichkeit annehmen. Aus dieser Fähigkeit ergeben sich Möglichkeiten zur Bestimmung von Zeit, die sich differenztheoretisch fassen lassen – um im Anschluss wieder relationierend begriffen werden zu können. Ich möchte die Möglichkeit und Fähigkeit von Menschen und Kollektiven, sich ausgehend von anwesenden (gegenwärtigen) Zeiten auf abwesende Zeiten zu beziehen, als Chronoferenzen bezeichnen. Beginnen wir mit dem differenzierenden Zugriff. Insbesondere der Systemtheorie in Gestalt von Elena Esposito, Niklas Luhman und Armin Nassehi verdanken wir diverse Einsichten in das soziale Phänomen, das man als »Zeit« zu bezeichnen pflegt. Und hier steht zunächst einmal – systemtheoretisch wenig überraschend  – die Möglichkeit im Mittelpunkt, mit und durch Zeit Unterscheidungen treffen zu können. Laut Elena Esposito ist es das, was Zeit überhaupt ausmacht, nämlich eine spezifische Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft zu markieren, die eine Gegenwart jeweils für sich trifft. Eine solche Differenzierung vorzunehmen, ist kein gewissermaßen natürlicher Vorgang, sondern besitzt seine historischen und sozialen Eigenheiten. Spezifische Zeitverständnisse sind also nicht immer einfach schon, sondern werden erst im Lauf der Zeit, und zwar durch jeweils unterschiedliche Gruppen auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Dies führt zu einer Mehrzahl differenter Zeiten, jede mit ihrer eigenen sozialen und historischen Verortung. All diese unterschiedlichen Zeiten werden koordiniert durch eine Chronologie, die für alle gleich ist, die aber gerade aufgrund ihrer Abstraktheit auch für alle leer geworden ist. Die neuzeitliche Form der Datierung sagt nichts mehr aus über die Inhalte oder den Sinn von Ereignissen. Jede soziale Gruppe kann daher ein Ereignis in eine Zeit einfügen, die immer nur seine Zeit bleiben wird47. 44 Michel Serres, Espace et temps, in: Sur l’aménagement du temps. Essais de chronogénie, Paris 1981, S. 13–29, hier S. 26 f. [Hervorhebung im Original]. 45 Ders., Aufklärungen. Fünf Gespräche mit Bruno Latour, Berlin 2008, S. 182. 46 Ders., Espaces, S. 28. 47 Elena Esposito, Zeitmodi, in: Soziale Systeme 12 (2006), S. 328–344, hier S. 329; vgl. auch Thomas Macho, Der 9. November. Kalender als Chiffren der Macht, in: Merkur 54 (2000), S. 231–242.

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Man kann und muss also die Frage stellen, wie an den jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Orten bestimmte Zeitformen diskursiv hervorgebracht werden, wie Vergangenheiten und Zukünfte als Projektionen von Kollektiven auf abwesende Zeiten erzeugt werden. Denn diese temporalen Orientierungen ins Kommende und ins Gewesene sind immer Entwürfe einer Gegenwart, die darum bemüht ist, sich auch mit ihrer zeitlich abwesenden Umwelt auseinanderzusetzen. Wie Elena Esposito formuliert: Ausgangspunkt kann nur die Gegenwart sein, weil Vergangenheit und Zukunft und auch die vergangenen Gegenwarten und die künftigen Gegenwarten nur als Formen (Modi) der jeweils aktuellen Gegenwart existieren.

Doch gerade hier hapert es, denn es »fehlt ein angemessener Begriff der Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft jeweils zusammen aktuell zusammentreffen […].«48 Nun ist es gerade diese Qualität und auch Aufwertung der Gegenwart, die die Geschichte der europäischen Neuzeit entscheidend prägt49. Beobachtet man die historischen Veränderungen im Umgang mit Zeit und Zeithorizonten, so gewinnt die Frage an Relevanz, wann und warum sich die Modalisierungen von Zeit in die Richtung verschoben haben, die wir in unserer eigenen Gegenwart für angemessen halten. Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass Kollektive sich an der eigenen aktuellen Gegenwart mit ihren jeweiligen Unterscheidungen und Bezügen hinsichtlich Vergangenheit und Zukunft orientieren. Es ist jedoch die Einsicht vorhanden, dass genau diese Orientierungen auf abwesende Zeiten in der Vergangenheit schon einmal anders waren und zukünftig auch anders sein werden. Ein Kollektiv kann sich also darauf einrichten, zukünftig mit anderen Zeitdifferenzierungen zu operieren und damit auch andere Entscheidungen zu treffen50. Es war der Drehspiegel, der sich als zu schwer erwies. Der junge Bonthorp konnte trotz seiner Muskeln das verfluchte Ding nicht länger herumschleppen. Er blieb stehen. Und das taten sie alle  – Handspiegel, Blechbüchsen, Bruchstücke von Küchenglas, Glas aus der Geschirrkammer und reich bossierte Silberspiegel – alle blieben stehen. Und die Zuschauer sahen sich selbst, zwar keineswegs ganz, zumindest aber stillsitzend. Die Uhrzeiger waren im gegenwärtigen Augenblick stehengeblieben. Es war das Jetzt. Wir selbst. Das also hatte sie im Schilde geführt! Uns bloßzustellen, so wie wir sind, hier und heute. […] Aber bevor sie alle zu einem gemeinsamen Entschluß gekommen waren, setzte sich eine Stimme durch. Wessen Stimme das war, wußte niemand. Sie drang aus dem Gebüsch – eine megaphonische, anonyme Erklärung aus dem Lautsprecher. Die Stimme sagte: 48 Esposito, Zeitmodi, S. 330. 49 Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014. 50 Esposito, Zeitmodi, S. 331.

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Bevor wir uns trennen, meine Damen und Herren, bevor wir gehen … (Jene, die schon aufgestanden waren, nahmen wieder Platz) … reden wir in einsilbigen Worten, ohne Schnörkel, Füllsel oder Drumherum. Durchbrechen wir den Rhythmus und vergessen wir den Reim. Und betrachten mit Ruhe uns selbst. […] Betrachtet euch selbst, meine Damen und Herren! Danach die Wand; und fragt euch, wie soll diese Wand, die große Wand, die wir nennen kurzerhand, vielleicht zu Unrecht, Zivilisation, von Schnipseln, Fetzen und Fragmenten, wie wir’s sind (hier blinkten und blitzten die Spiegel auf), erbaut werden? (Virginia Woolf: Zwischen den Akten)51

Vergangenheit und Zukunft erweisen sich als Projektionsräume jeweiliger Gegenwarten, die vielfach miteinander verknüpft sind. Die Vergangenheit bietet gerade aufgrund der Tatsache, dass sie bestimmt zu sein scheint, Raum für unterschiedliche Projektionen in Form alternativer Möglichkeiten oder der Selektion und Interpretation von Ereignissen – und wird dadurch wieder unbestimmt. In die nicht feststehende Zukunft mit all den Unsicherheiten, die mit ihr einhergehen, werden hingegen offene Möglichkeiten projiziert, von denen man noch nicht weiß, wie sie sich realisieren. Die Komplexität wächst aber noch, weil alle drei Zeithorizonte wechselseitig aufeinander Bezug nehmen – und damit ist der relationierende Teil der Zeitverhältnisse eröffnet. Für die Gegenwart sind sowohl Vergangenheit als auch Zukunft inaktuell, können also auch immer auf der Basis dessen gestaltet werden, was die aktuelle Gegenwart ist. Die Zukunft wirkt vor diesem Hintergrund beispielsweise auf die Vergangenheit ein, indem sie laufend durch die realisierten Ereignisse und auch projizierten Erwartungen revidiert wird. Neue Zukunftsentwürfe benötigen also eine entsprechend angepasste Vergangenheit. Die Vergangenheit beeinflusst ihrerseits die Zukunft durch Angabe der Differenzierungen, die bei der Beobachtung zu verwenden sind. Erfahrungen aus der Vergangenheit beeinflussen also die Zukunftsentwürfe. Berücksichtigt man auch, dass die Vergangenheit alle Zukünfte der vergangenen Gegenwarten einschließt, während die Zukunft die Vergangenheiten und die Zukünfte der kommenden Gegenwarten einbezieht, versteht man, welches Netzwerk von Konditionierungen sich daraus ergibt, und auch welche Komplexität von Verbindungen gleichzeitig in jeder Gegenwart existiert.52

Es ist nicht zuletzt dieses Geflecht, das die Paradoxie der Zeit ausmacht, nämlich die Einheit von Aktualität und Inaktualität zu organisieren. Zeit stellt sich dar »als Identität einer Gegenwart, die es nicht gibt, außer als Unterscheidung einer Vergangenheit, die es nicht mehr gibt, und einer Zukunft, die es noch nicht gibt.«53 51 Virginia Woolf, Zwischen den Akten, übers. v. Adelheid Dormagen, Frankfurt a. M. 1999, S. 128 f. 52 Esposito, Zeitmodi, S. 335. 53 Ebd.

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Wenn sich Zeitvorstellungen aus der Unterscheidung ergeben, die eine Gegenwart mit Blick auf die beiden Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft für sich trifft, dann wird auch erklärlich, weshalb Zeit zu einer wichtigen Dimension der Bestimmung von Sinn werden kann. Denn im Falle eines Ereignisses ereignet sich laut Niklas Luhmann nicht nur das Ereignis selbst, sondern damit werden zugleich eine Vergangenheit und eine Zukunft neu formiert. Der Fall der Mauer 1989 veränderte nicht nur die Zukunft Deutschlands und Europas in ganz erheblicher Weise, sondern ebenso die Vergangenheit der deutschen Geschichte (im Falle der DDR auf besonders dramatische Weise), die nun in einer neuen Sinnperspektive gesehen wurde54. Der Aufbau von Komplexität heißt demnach in temporaler Hinsicht, dass jeder im Zuge dieses Aufbaus voll­ zogene Schritt der Vergangenheit etwas Neues hinzufügt und damit das Vergangene ändert in etwas, das eine Folge hat; und zugleich müßte jeder Schritt eine Zukunft ermöglichen, die vorher (also: als Zukunft des jetzt Vergangenen) nicht möglich war. In diesem Sinne wäre die Konsequenz eine Gesamtreproduktion der Zeit in jedem Moment.55

Wann ist Jetzt? Vor diesem Hintergrund lohnt sich  – nicht zuletzt für die geschichtswissenschaftliche Diskussion – eine erhöhte Aufmerksamkeit für die ansonsten eher stiefmütterlich behandelten Begriffe der Gleichzeitigkeit und der Gegenwart. Luhmanns diesbezüglicher Ausgangspunkt ist eine These, die denkbar trivial anmutet, bei konsequenter Umsetzung aber weitreichende Folgen zeitigt: Alles was geschieht, geschieht gleichzeitig. »Gleichzeitigkeit ist eine aller Zeitlichkeit vorgegebene Elementartatsache.«56 Anders formuliert: Nimmt man irgendein Geschehen als Referenzpunkt, können andere Geschehnisse nur gleichzeitig, nicht aber in der Vergangenheit oder in der Zukunft vonstattengehen. Systemtheoretisch gesprochen kommt diese Form der Gleichzeitigkeit mit und durch die Unterscheidung von System und Umwelt zustande. Da bekanntermaßen alles Beobachten ein Unterscheiden erfordert, müssen beide Seiten einer solchen Unterscheidung durch eine Grenze getrennt und damit auch gleichzeitig vorhanden sein. Beide Seiten der Unterscheidung sind demnach zwangsläufig gleichzeitig gegeben – aber sie sind nicht gleichzeitig benutzbar. Denn der Übergang von der einen zur anderen Seite erfordert Zeit. Man kann sich nicht gleichzeitig hüben und drüben befinden. »Die beiden Seiten sind gleichzeitig und in 54 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1993, S. 242 f. 55 Ebd., S. 290. 56 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd.  5: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 21993, S. 98.

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einem vorher/nachher Verhältnis gegeben. Als Unterscheidung sind sie gleichzeitig aktuell, als Referenz einer Bezeichnung nur nacheinander.«57 Auch hier erweist sich Zeit als in hohem Maße paradox, denn jede differenzstiftende Grenze erzeugt eine Form, welche die unterschiedenen beiden Seiten enthält und als gleichzeitig fixiert. Damit geht aber auch die Möglichkeit des Kreuzens dieser Grenze und einer zeitlichen Verlagerung einher. Diese Paradoxie lässt sich treffend als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bezeichnen. Und offen gestanden erscheint mir dies als die einzige Form, wie die Formel von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen eine sinnvolle Verwendung finden kann, indem nämlich deutlich gemacht wird, dass die System-Umwelt-Differenz nur gleichzeitig beobachtet werden kann, das Überschreiten dieser Differenz aber zwangsläufig eine Ungleichzeitigkeit erzeugt. Das insbesondere in der Geschichtswissenschaft häufig aufzufindende Verständnis von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das darauf hinausläuft, unterschiedliche historische Schichten in einer gegebenen Gegenwart zu identifizieren und dabei geschichtliche Nachzügler, Gegenwärtige oder Vorreiter zu identifizieren, geht demgegenüber fehl58. Denn solche Formulierungen können tatsächlich nichts anderes als die Beobachtung von Gleichzeitigkeit sein, da sie ansonsten der referierten These widersprechen würden, dass »alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht«59. Folgt man diesem Gedankengang, kann es im Gleichzeitigen für den Beobachter kein Vorher und kein Nachher geben. Vergangenheit und Zukunft sind demnach als Elemente der Zeitlichkeit nicht per se gegeben. Vielmehr können Vergangenheit und Zukunft nur als Ergebnisse einer Differenzierung relevant werden, denn als komplementäre Zeithorizonte sind auch sie nur gleichzeitig gegeben. Auch hierbei handelt es sich um eine Trivialität, jedoch um eine, die immer noch nicht ausreichend bedacht wird und daher zuweilen für Aufregung sorgen kann. Wenn es sich bei Vergangenheit und Zukunft immer um Horizonte der Gegenwart handelt, kann es nur eine gegenwärtige Zukunft und eine gegenwärtige Vergangenheit geben (was insbesondere mit Blick auf die Vergangenheit immer wieder zu (Verständigungs-)Schwierigkeiten führt). Die Gegenwart fungiert dabei als Trennlinie60. 57 Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 100; vgl. auch Armin Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Wiesbaden 22008, S. 175–178. 58 Hierzu nochmals: Landwehr, Gleichzeitigkeit. 59 Ders., Soziologische Aufklärung, S. 98. Ebenso ist es kaum überzeugend, einer »Vormoderne« vor 1750 grundsätzlich die Fähigkeit abzusprechen, Ungleichzeitigkeit zu beobachten – denn eben das kommt in der Frühen Neuzeit allenthalben vor, z. B. im europäisch-amerikanischen Vergleich wie überhaupt in der frühneuzeitlichen Ethnologie. Eine solche Konstatierung von Ungleichzeitigkeit wird jedoch abgelehnt von: Helge Jordheim, »Unzählbar viele Zeiten«. Die Sattelzeit im Spiegel der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Hans Joas/Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte, S. 449–480, hier S. 463–465. 60 Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 100 f.; in diesem Sinn auch schon Augustinus, Bekenntnisse, 641–643.

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Wie aber kann es sein, dass es kein Vorher und Nachher geben soll, wir aber in unserem Alltag völlig selbstverständlich mit diesen Kategorien umgehen? Nun eben, weil es Kategorien sind: Insbesondere im Fall der Differenzierung von Vorher und Nachher handelt es sich um die elementarste Zeitunterscheidung, die eine Gegenwart für sich trifft. Diese Unterscheidung ist sogar so dominant, dass die Gleichzeitigkeit zwischen ihren beiden Seiten Vorher und Nachher verschwindet. Der Standpunkt des Unterscheidens (die Gleichzeitigkeit) kommt also in der Unterscheidung von Vorher und Nachher selbst nicht mehr vor61. Ich kann an dieser Stelle Elena Esposito das Wort überlassen, um die Konsequenzen vorzuführen, die sich aus einem solchen Zeitverständnis ergeben: Die Gegenwart unterscheidet sich aktuell von allem, was nicht aktuell ist, wobei sich die Nicht-Aktualität wiederum intern in der Gegenwart, also aktuell, artikuliert. Die Realität dessen, was (in der Gegenwart) existiert, ist eine realisierte Möglichkeit gegenüber allen Möglichkeiten, die sich nicht realisiert haben (nicht aktuell geworden sind). Die Realität entspricht also dem Kontingenzbegriff der modalen Logik, der das Mögliche artikuliert und nur die Formen des Notwendigen und des Unmöglichen ausschließt (über die es in Bezug auf Zeit nichts zu sagen gibt, weil diese Formen sich nie ändern). Daneben gibt es aber auch das nicht-aktuell Mög­liche, das sich in verschiedenen Arten von Möglichkeiten artikuliert: die Möglichkeiten, die, obwohl nicht unmöglich, sich nie aktualisieren; die Möglichkeiten, die aktuell waren, aber nicht mehr aktuell sind; und die Möglichkeiten, die noch nicht aktuell sind. Neben den negierten Möglichkeiten gibt es also wenigstens zwei ›mittlere‹ Formen von nicht-aktuellen, aber nicht einfach negierten Möglichkeiten: die Vergangenheit und die Zukunft. Die Nicht-Aktualität der Vergangenheit und der Zukunft ist dann ihrerseits differenziert: In die Vergangenheit können wir nicht eingreifen, während die Zukunft vom gegenwärtigen Verhalten beeinflusst werden kann. Die modale Einstellung der Zeitbegrifflichkeit soll die Kombination all dieser Formen der NichtAktualität einschließen, ausgehend natürlich von der Aktualität der Gegenwart, multipliziert im ganzen Netz der vergangenen Vergangenheiten und der künftigen Zukünfte.62

Wenn Zeit demnach das Konstrukt eines Beobachters ist63 und in dieser Be­ obachtung Zeit als »Interpretation der Realität im Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und Zukunft«64 definiert werden kann, dann ergibt sich daraus nicht nur die grundlegende Paradoxie, dass Vergangenes, Gegenwär61 Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 110 f. 62 Elena Esposito, Die Konstruktion der Zeit in der zeitlosen Gegenwart, in: Rechts­ geschichte 10 (2007), S. 27–36, hier S. 30 f. 63 Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 114. 64 Ders., Die Zukunft kann nicht beginnen. Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft, in: Peter Sloterdijk (Hrsg.), Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1990, S. 119–150, hier S. 124; vgl. auch Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a. M./New York/Paris 1992, S. 27 f.

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tiges und Zukünftiges immer nur gleichzeitig erlebt werden können, sondern dann widerspricht ein solches Verständnis von Zeit auch der geschichtswissenschaftlichen Standardauffassung. Vergangenheit ist dann nicht mehr vorrangig dasjenige, was nicht mehr ist, und Zukunft ist auch nicht derjenige Zeitraum, der noch nicht ist. Es bedarf kaum einer ausgefeilten philosophischen Argumentation, um die Fehler dieser Auffassung aufzudecken: Was nicht mehr ist, ist nicht mehr, kann also auch keine Vergangenheit für uns mehr sein; und was noch nicht ist, lässt sich als Zukunft für uns auch nicht thematisieren. Die Bezeichnungen »Vergangenheit« und »Zukunft« müssen vielmehr einen unausweichlichen Gegenwartsbezug haben. Diese Paradoxie der Gleichzeitigkeit der Zeiten wird alltagspraktisch dadurch abgemildert, dass man Vergangenes und Zukünftiges in eigens dafür vorgesehene Zeitdimensionen verschiebt, die sich bezeichnen und beispielsweise mit Hilfe des Modells des Zeitstrahls auch vorstellen lassen. Mit dieser Verschiebung von Gleichzeitigem in Vergangenheit und Zukunft geht jedoch zumeist auch eine Ontologisierung einher; diesen Dimensionen wird also ein vollständiges Eigenleben zugeschrieben, das im Nachhinein argumentativ erst wieder mühsam dekonstruiert werden muss. Denn es handelt sich bei Vergangenheit und Zukunft nicht um unterschiedliche temporale Seinsweisen, sondern nur um Zeitmodalisierungen. Indem man jedoch die vielen Gleichzeitigkeiten verschiebt und in die Zukunft beziehungsweise in die Vergangenheit auslagert, wird der Paradoxie die Spitze genommen und ihre Zumutungen werden unsichtbar gemacht65. Nichtsdestotrotz ist das Leben angenehm, ist das Leben erträglich. Dienstag folgt auf Montag; dann kommt Mittwoch. Der Geist setzt Ringe an; die Identität wird robust; Schmerz wird vom Wachstum aufgesogen. Auf und zu, auf und zu, mit anschwellendem Summen und wachsender Widerstandskraft, werden Hast und Fieber der Jugend in die Pflicht genommen, bis unser ganzes Wesen sich wie die Triebfeder einer Uhr zusammenzuziehen und auszudehnen scheint. Wie schnell fließt der Strom von Januar bis Dezember! Wir werden mitgerissen von der Sturzflut der Dinge, die uns so vertraut geworden sind, daß sie keinen Schatten werfen. Wir treiben dahin, wir treiben dahin … […] Doch ein gewisser Zweifel blieb, ein fragender Tonfall. Es überraschte mich, wenn ich eine Tür öffnete, Leute bei ihren Beschäftigungen anzutreffen; ich zögerte, wenn mir eine Tasse Tee gereicht wurde, ob man Milch oder Zucker sagte. Und wenn das Licht der Sterne auf meine Hand fiel, wie es jetzt fällt, nachdem es Jahrmillionen gereist war  – das konnte mir einen Augenblick lang einen kalten Schock versetzen  – mehr aber nicht, meine Phantasie ist zu schwach. Aber ein gewisser Zweifel blieb. Ein Schatten flatterte durch meinen Geist, wie Falterflügel zwischen Stühlen und Tischen in einem Zimmer am Abend. Als ich beispielsweise in jenem Sommer nach Lincolnshire fuhr, um Susan wiederzusehen, und sie mir quer durch den Garten mit der trägen Bewegung eines halb geblähten Segels entgegenkam, mit der schaukeln65 Nassehi, Zeit der Gesellschaft, S. 190.

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den Bewegung einer Frau, die ein Kind erwartet, dachte ich, ›Es geht immer weiter; aber warum?‹ (Virginia Woolf: Die Wellen)66

Warum geschieht das? Warum ist die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehungsweise zwischen Aktuellem und Inaktuellem nötig, wenn doch alles gleichzeitig geschieht? Dieser Umgang mit unterschiedlichen Zeitdimensionen hat einerseits die benannte entlastende Funktion (man muss sich nicht mit allen Zeiten gleichzeitig beschäftigen) und eröffnet andererseits erhebliche Möglichkeitshorizonte. Denn im Spiel der unterschiedlichen Zeiten lassen sich immer wieder neue Welten entwerfen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können auf immer neue Weise miteinander kombiniert werden, man kann immer neue Geschichten von der Geschichte erzählen und immer neue Utopien oder Dystopien aus der Taufe heben. Die Aufspaltung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wirkt also nicht nur entlastend, sondern weltenschöpfend67. Allerdings führt diese Aufspaltung – nicht nur, aber auch und gerade im geschichtswissenschaftlichen Zusammenhang – zu dem Effekt, Zeit als eine gegebene Sinnbestimmung der Welt erscheinen zu lassen und ihren Charakter als gemachte Sinnbestimmung zu verdecken. Zeit und damit auch die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewinnen ein Eigenleben, werden naturalisiert und ontologisiert (nicht zuletzt aufgrund von »Zeitmessgeräten«). Zeit wird zu einem Abstraktum, das sich von den konkreten Ereignissen ablöst, um ein geradezu Ehrfurcht einflößendes Eigenleben zu gewinnen, sodass es schließlich sogar möglich erscheint, Zeit als etwas »dort draußen« zu begreifen, das unabhängig von menschlichem Wollen und Tun vonstattengeht68.

Wir sind immer schon modern gewesen Spätestens hier wäre nun der Moment gekommen, an dem diese system- und differenztheoretische Argumentation, die für das theoretische Verständnis von Zeit von großer Bedeutung ist, machttheoretisch angereichert werden müsste. Der systemtheoretische Blick öffnet die Augen für die Konstitution von Zeit als Form sozialer Sinngebung, lässt jedoch nähere Erkenntnisse über die Instrumentalisierung von Zeit im gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander ebenso vermissen, wie über den Einsatz von Zeit im Rahmen politischen Handelns, ganz zu schweigen von der historischen Spezifizierung konkreter Umgangs66 Virginia Woolf, Die Wellen, übers. v. Maria Bosse-Sporleder, Frankfurt a. M. 1991, S. 200 f., 209. 67 Nassehi, Zeit der Gesellschaft, S. 190. 68 Ebd., S. 191.

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weisen mit Zeit. Diese Ausweitung kann an dieser Stelle jedoch nicht geleistet werden69. Stattdessen möchte ich hier die Gelegenheit ergreifen, die Spuren aufzunehmen, die Virginia Woolf mit den zahlreichen Behandlungen zum Thema »Zeit« in ihrem Werk gelegt hat. Zeit im Roman ist hier alles andere als eine chronikalische Rahmung der ablaufenden Handlung. Zeit ist vielmehr ein sehr variantenreicher Akteur im Geschehen selbst, der beständig andere Formen annehmen kann und von den geschilderten Personen auch jeweils sehr unterschiedlich wahrgenommen wird. Zeit ist bei Virginia Woolf ein Problem und eine Selbstverständlichkeit, Zeit dehnt und beschleunigt sich, sie taucht als Rätsel und als Übermacht auf, sie zeigt sich als Strahl und als Zyklus, sie lebt von Wiederholungen und momentanen Überraschungen, sie lässt die Glocken von Big Ben schlagen und wird auf die Theaterbühne gebracht, sie kann eine Freundin und eine Feindin sein – vor allem aber lässt sie sich nicht fixieren, sondern sorgt für ein sehr variantenreiches Spiel und auch schon einmal (insbesondere in Orlando) für ein kunterbuntes Durcheinander70. Virginia Woolf wollte wohl kaum eine Systematik der Zeit(en) vorlegen, aber mit Hilfe ihrer Texte ist es möglich, das Problem der Zeit systematischer zu fassen. Gerade weil die Zeit hier in einem fiktiven Zusammenhang auftritt, wird offenbar, wie nah diese Beschreibungen an unseren Umgangsweisen mit und Vorstellungen von Zeit sind – und wie fiktiv dementsprechend »die Zeit« sein muss, die wir zuweilen als gegeben, autark und unerbittlich anzunehmen gewillt sind. Man muss also nicht auf die Hilfe von Virginia Woolf zurückgreifen. Ist man jedoch bereit, diese anzunehmen, dann kann sich nicht zuletzt zeigen, wie komplex und vielschichtig Chronoferenzen, also die Bezugnahmen von anwesenden und abwesenden Zeiten, sind – und wie auch und gerade die Geschichtswissenschaften in ihrem täglichen Tun zu dieser Vielzeitigkeit beitragen. Es ist in der Tat überaus schade und sehr zu bedauern, daß wir in dieser Phase von Orlandos Karriere, in der er eine höchst bedeutende Rolle im öffentlichen Leben seines Landes spielte, die wenigsten Informationen haben, an die wir uns halten können. Wir wissen, daß er seinen Verpflichtungen auf bewundernswerte Weise nachkam – zum Beweis seien sein Bath-Orden und seine Herzogswürde genannt. Wir wissen, daß er bei einigen der delikatesten Verhandlungen zwischen König Charles und den Türken die Hand im Spiel hatte – davon legen Verträge im Gewölbe des Record Office Zeugnis ab. Aber die Revolution, die während seiner Amtszeit ausbrach, und das Feuer, das darauf folgte, haben all jene Papiere, aus denen eine verläßliche Aussage hätte gezogen werden können, so beschädigt oder vernichtet, daß alles, was wir bie69 Vgl. jedoch: Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016. 70 Vgl. dazu Vera Nünning, ›Increasing the bounds of the moment‹. Die Vielschichtigkeit der Zeiterfahrungen und Zeitdimensionen in den Werken Virginia Woolfs, in: Martin Middeke (Hrsg.), Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S. 297–312.

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ten können, kläglich unvollständig ist. Oft war das Papier in der Mitte des allerwichtigsten Satzes dunkelbraun versengt. Gerade als wir dachten, ein Geheimnis aufklären zu können, das den Historikern hundert Jahre lang Rätsel aufgegeben hat, war im Manuskript ein so großes Loch, daß man den Finger hätte hindurchstecken können. Wir haben unser Bestes getan, aus den angekohlten Fragmenten, die verblieben sind, eine magere Zusammenfassung zusammenzustückeln; aber oft war es notwendig, zu spekulieren, zu mutmaßen und sogar die Einbildungskraft zu benutzen. (Virginia Woolf: Orlando)71

Die Konsequenzen aus einem solchen Verständnis von Chronoferenzen, von gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Zeiten, könnten durchaus weitreichend sein. Sie würden nicht nur darin bestehen, sich auf die ernsthafte Suche nach einer echten Alternative zum Modernisierungsparadigma zu machen (und zwar nicht nur eine Alternative, die diese Modernisierung anders erzählt (z. B. als Nicht-Moderne), sondern die gänzlich andere Beschreibungskategorien zu entwerfen hätte); sie müsste nicht nur dazu führen, etablierte historische Entwicklungsmodelle über Bord zu werfen, wie sie sich nicht zuletzt in den etablierten Epochenbezeichnungen immer noch manifestiert finden; sie würden vor allem dazu führen, dass sich die Geschichtswissenschaften ein anderes Selbstverständnis zulegen müssten – nicht mehr nur in ihrer Expertise für die Vergangenheit, sondern als dasjenige Forum, in dem das Verhältnis der Zeiten zu behandeln ist. Dazu müsste noch nicht einmal der Begriff der Moderne aufgegeben werden. Allerdings müsste man ihm eine Konnotation wieder zugestehen, die etymologisch schon immer mit ihm verbunden war. Denn das etwa im 6. Jahrhundert auftauchende Wort modernus bedeutet bekanntermaßen eigentlich nicht »neu«, »zukünftig«, »fortschrittlich« oder ähnliches, sondern zunächst einmal »gegenwärtig« und bezeichnete die (Erlebnis-)Zeit der jetzt Lebenden72. Und wenn es zutrifft, was ich zuvor anzudeuten versucht habe, dass nämlich alle Zeiten jeweils nur gegenwärtig zur Verfügung stehen, dann könnte der Modernebegriff als temporales Modell auch im Sinne derjenigen Zeiträume verstanden werden, die sich durch das Bewusstsein der Gegenwärtigkeit der Zeiten auszeichnen. Auch wenn ich mir durchaus der faktischen Unmöglichkeit bewusst bin, ernsthaft den Modernebegriff in dieser Weise umpolen zu können, so möchte ich doch nicht auf die gedankliche Spielerei verzichten, Moderne als gegenwärtiges Jetzt der Zeiten zu begreifen, um damit die Behauptung aufstellen zu können, dass wir schon immer modern gewesen sind73. Bei näherem Hinsehen nimmt diese Moderne als Jetzt der Zeiten geradezu die Ausmaße eines Universums an, da sie nicht einfach nur als Kreuzungspunkt verstanden werden 71 Woolf, Orlando, S. 85. 72 Le Goff, Geschichte und Gedächtnis, S. 49–82. 73 Dies selbstredend in Anlehnung an Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 22002.

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kann, in dem sich alle vorhandenen Zeiten überschneiden, sondern als ungemein komplexes Konglomerat der Temporalitäten, die keineswegs miteinander in Kontakt kommen müssen, sondern gänzlich unabhängig voneinander existieren, parallel zueinander bestehen können, ohne sich gegenseitig wahrnehmen zu müssen, die aber auch in offener Konkurrenz zueinander stehen oder sich in einer konfliktgeladenen Situation begegnen können, und zwar deswegen, weil jedes Ding, jeder Mensch oder jedes Kollektiv dazu in der Lage ist, jeweils eigene Formen der Temporalität auszubilden, und somit ein Stuhl ebenso mit dem möglicherweise jahrhundertealten Baum in Verbindung zu bringen ist, wie mit dem Abfallentsorgungs- und Umweltbelastungsproblem, das er hervorrufen kann, sobald er zu Müll geworden ist. Ebenso können ein Mensch oder ein Kollektiv sich auf vielfältige Art und Weise mit jüngeren oder entfernteren Vergangenheiten verknüpfen und nähere oder weitere Zukünfte entwerfen. Jedes Element in diesem Universum der Zeiten namens »Moderne« ist potentiell dazu in der Lage, solche gegenwärtigen Vergangenheiten und Zukünfte zu ermöglichen. Und dieses Universum der Zeiten (das möglicherweise passender als Multiversum zu bezeichnen wäre), verändert zudem seine Form in jedem Moment, weil es immer wieder neu »gegenwärtig« wird, neue gegenwärtige Vergangenheiten und Zukünfte erzeugt und zugleich andere verschwinden lässt, weil Dinge, Menschen und Kollektive und damit auch deren Verzeitungen verschwinden. Dieses Jetzt der Zeiten erweist sich mithin als ein schwarzes und ein weißes Loch zugleich. Einerseits verschlingt es beständig bestehende Modalisierungen der Zeit, vernichtet modellierte Vergangenheiten und Zukünfte, andererseits bringt es ebenso beständig immer neue Vergangenheiten und Zukünfte hervor. Verwunderlich in diesem Zusammenhang muss vor allem der Umstand anmuten, dass es möglich war, über einen verhältnismäßig langen Zeitraum hinweg koordinierende und synchronisierende Modelle zu entwickeln, die sich gewissermaßen über diese vielfältigen Verzeitungen gelegt haben. In einem europäisch-westlichen Zusammenhang (der von hier ausgehend seinen kolonisierenden Siegeszug über den Rest der Welt antrat), konnten sowohl Uhren- und Kalenderzeit als auch die Idee einer linearen Geschichte durchgesetzt werden74. Und es konnte sich ein konsensuales Verständnis von »Moderne« herausbilden (von dem sich meine Verwendung, wie gesagt, absetzt), das die Erklärung für die Geschehnisse auf dieser Welt aus der Vertikalen in die Horizontale kippte, so dass nicht mehr Gott für alles verantwortlich war, was geschah, sondern die Zeit selbst75. Dieses Vergehen der Zeit wurde zu einem Kollektivsingular Geschichte mit einer klaren Zielausrichtung geformt. Diese temporalen Rahmenmodelle waren – und sind immer noch – so erfolgreich, dass sie nicht selten mit 74 Vgl. hierzu Achim Landwehr, Zeitrechnung, in: Pim den Boer u. a. (Hrsg.), Europäische Erinnerungsorte 1. Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2012, S. 227–236. 75 Rudolf Burger, Im Namen der Geschichte. Vom Mißbrauch der historischen Vernunft, Springe 2007, S. 55.

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»der Zeit« schlechthin verwechselt werden. Und sie scheinen so selbstverständlich zu sein, dass sich kaum die Notwendigkeit ergibt, sie zu thematisieren oder gar zu problematisieren. Und in der Tat stellt sich ja die Frage, weshalb man eine solche Arbeit auf sich nehmen sollte. Warum sollte man zum Beispiel im geschichtswissenschaftlichen Zusammenhang in einem grundsätzlichen Sinn die Modalisierungen von Zeit zu einem Problem machen, wenn das bestehende Zeitmodell doch kein offensichtliches Problem darstellt? Nun, vielleicht genau deswegen: Weil nicht problematisierte Phänomene immer die Gefahr in sich bergen, zur »Natur« zu werden und damit als So-Seiendes nicht mehr befragt werden zu können. Vor allem aber wären solche Formen des Zeitwissens zu problematisieren, weil sie für unsere gegenwärtigen Formen, mit Welt und Wirklichkeit umzugehen  – unabhängig davon, ob dies in der Politik, in der Wirtschaft, im Recht, in der Kultur, im Alltag oder in zahlreichen anderen Zusammenhängen geschieht  – von fundamentaler Bedeutung sind. Die jeweils vorherrschenden oder zugrunde gelegten Zeitmodelle ermöglichen beziehungsweise verunmöglichen bestimmte Formen, um Wirklichkeit zu organisieren. Deutlich wird dies zum Beispiel anhand aktueller Diskussionen um die Fortschrittsidee, den westlichen Wachstumsfetisch oder den Klimawandel. All diese und zahlreiche weitere Diskussionen müssen unverständlich bleiben, wenn man nicht das Zeitmodell bedenkt, das jeweils als Basis dient. Und im Umkehrschluss muss das heißen, dass man auch die Welt verändern kann, wenn man das zugrundeliegende Zeitmodell verändert. Von diesem Bemühen sollten sich gerade die Geschichtswissenschaften nicht ausnehmen.

Fernando Esposito und Hans Ulrich Gumbrecht

Posthistoire Then. Ein Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht über »unsere breite Gegenwart«

Fernando Esposito: Hans Ulrich Gumbrecht, wir führen dieses Gespräch zum einen, weil Sie einer der profiliertesten Vertreter der Gegenwartsdiagnose Posthistoire sind. Diese stand im Zentrum jenes Zeitenwandels, der sich in etwa seit den 1970er Jahren immer deutlicher abzeichnete1. Indem Sie und Ihre Mitstreiter das Posthistoire verkündeten, wurde diese Diagnose ein Stück weit zu einem Faktum jener Unterepoche, die wir in Tübingen unter dem Rubrum »nach dem Boom« subsumieren. Zum anderen ist mir dieses Interview auch deshalb ein Anliegen, weil ich etwas auf die Spitze treiben möchte, das – mit dem Vorangegangenen aufs Engste zusammenhängend – ebenfalls zur Signatur jener Jahre gehört, nämlich die Historisierung des historischen Bewusstseins. In diesem Fall hieße das, dass wir uns daran versuchen würden, eine Historisierung der Historisierung des historischen Bewusstseins zu unternehmen oder aber eine Beobachtung zweiter oder dritter Ordnung zu wagen. Ein Ziel des Gesprächs könnte es sein, Anhaltspunkte für jene »andere« und dennoch geschichtliche Geschichte sichtbar werden zu lassen, von der Sie im Anschluss an Jacob Taubes am Ende Ihres 1985 veröffentlichten Aufsatzes Post­ histoire Now sprechen2. Diese andere Geschichte haben Sie zum Teil  in Ihrem Buch 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit veranschaulichen können. Ich würde Sie zunächst aber darum bitten, die Chronotopenwandel-Diagnose, die Sie unter anderem in Unsere breite Gegenwart vorgelegt haben, nochmals knapp zusammenzufassen3. Hans Ulrich Gumbrecht: Ich vertrete  – und das ist eigentlich nur eine Reformulierung von Intuitionen, die man bei Koselleck und in anderer Weise bei

1 Das Gespräch wurde am 25.4.2015 in Lüneburg geführt und aufgezeichnet. Für den Druck wurde es redaktionell überarbeitet. 2 Hans Ulrich Gumbrecht, Posthistoire Now, in: Ders.: Präsenz, Berlin 2012, S. 9–25. Ursprünglich erschienen in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a. M. 1985, S. 34–50. 3 Siehe Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010. Vgl. dazu auch: Hans Ulrich Gumbrecht, Die Gegenwart wird (immer) breiter, in: Merkur 629/630 (2001), S. ­769–784.

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Foucault in der Mitte von Les mots et les choses4 findet – die These, dass eine soziale Konstruktion von Temporalität, ich spreche auch von einem »Chronotopen«, in der Sattelzeit zwischen 1770 und 1830 emergiert ist. Diesen Chrono­ topen beschreibe ich mit drei Kriterien, die Koselleck zur Beschreibung der »neuen Zeit« verwendet hat – und nehme noch zwei hinzu. Erstens ist das eine Zeit­lichkeit, in der man glaubt, Vergangenheit hinter sich zu lassen, und in dem Maße, wie man Vergangenheit hinter sich lässt, schwindet der Orientierungswert von Vergangenheit. Zukunft ist, zweitens, offen und wählbar oder gestaltbar. Die Gegenwart zwischen jener Vergangenheit und dieser Zukunft schrumpft, drittens, zu einem – so Baudelaire – nicht mehr wahrnehmbar kurzen Moment des Übergangs. Und jetzt füge ich, viertens, hinzu, dass dieser Moment des Übergangs, diese Gegenwart, zum epistemologischen Habitat des Bewusstseins, also eines Subjekts im kartesianischen Verständnis wird. In dieser Gegenwart wählt das Subjekt, Erfahrungen der Vergangenheit an die Gegenwart anpassend, aus den Möglichkeiten der Zukunft aus. Das ist es, was man Handeln nennt, und deswegen ist in der Anthropologie dieses Chronotopen Handlung ein zentraler Begriff. Zudem gilt, fünftens: Zeit ist ein absolutes Agens der Veränderung und es gibt keine Phänomene, die der Transformation in Zeit widerstehen können. Nun glaube ich, dass seit Mitte des 20. Jahrhunderts, während Ihres »Booms«, vielleicht auch schon früher und hinter dem Rücken der Intellektuellen, ein anderer Chronotop emergierte, den ich faute de mieux den Chronotop der »breiten Gegenwart« nenne. In diesem Chronotopen ist, erstens, die Zukunft kein offener Horizont für Möglichkeiten mehr. Vielmehr ist sie gefüllt mit Gefahren, die sich konvergierend auf die Gegenwart zubewegen. Zudem lassen wir, zwei­ tens, die Vergangenheit nicht mehr hinter uns, eher wird die Gegenwart, metaphorisch gesprochen, von der Vergangenheit überschwemmt. Das liegt unter anderem auch daran, dass dank der uns zur Verfügung stehenden digitalen Medien alle Vergangenheit gewissermaßen speicher- und archivierbar geworden ist. Zwischen jener blockierten Zukunft und dieser »aggressiven« Vergangenheit mutiert die Gegenwart, drittens, von einem kurzen Moment des Übergangs zu einer breiten Gegenwart der Simultaneitäten, in der tendenziell alles gleichzeitig gegenwärtig ist. Der Chronotop der breiten Gegenwart zeichnet sich, viertens, dadurch aus, dass nun denkbar ist, dass Zeit kein absolutes Agens von Veränderung mehr ist. Man kann sich nun also vorstellen, dass bestimmte Dinge permanent erhalten bleiben. Symptomatisch dafür ist, dass einige kompetente Leser etwa die nicht-evolutionistische Goethe’sche Naturtheorie mittlerweile ernst nehmen. Das Verhältnis zu ihr ist nicht mehr ausschließlich historisierend. Es liegt in der Logik dieses neuen Chronotopen der sich verbreiternden oder breiten Gegenwart, in dem ja nichts in der Vergangenheit hinterlassen oder vergessen wird, dass der neue Chronotop den alten Chronotopen nicht ersetzt. 4 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971 [Or. 1966].

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Vielmehr kann man davon ausgehen, dass sie nebeneinander bestehen oder möglicherweise auch in Konkurrenz zueinander treten. Es gibt Nischen oder Felder, in denen der alte Chronotop noch präsent ist – etwa die historischen Seminare. Ein weiteres Feld, auf dem der alte Chronotop vorherrscht, ist natürlich die politische Rhetorik. Ohne den historistischen Chronotopen, ohne gestaltbare Zukunft ist kein Wahlkampf denkbar. Zur Illustration dienen mir immer die beiden Obama-Wahlkampagnen. Jenes »Yes we can« besagte ja eigentlich: »Die Zukunft ist trotz allem noch offen.« »Yes we can« bedeutet: »Manche Leute mögen es nicht glauben, aber es geht.« Während der zweiten Wahlkampagne war Obama – vermutlich unreflektiert – von einem Zukunftsgestalter zu einem reinen Krisenmanager geworden. Sein Charisma während des ersten Wahlkampfes gründete darin, dass er nochmals den alten Chronotopen inszenierte und ihn als relevant für die Möglichkeiten von Politik erscheinen ließ. Das war im zweiten Wahlkampf verschwunden. F. E.: Wenn wir schon jenseits des Atlantiks sind, würde mich die Rezeption der Chronotopenwandel-These in den Vereinigten Staaten interessieren. Wie kommt sie dort an? Versteht man sie als Ausdruck eines alteuropäischen »Kulturpessimismus«? Steht sie nicht im Widerspruch zu den neuen (digitalen) Welten oder besseren Zukünften, zu denen in den USA oder etwa auch in Brasilien aufgebrochen wird? H. U. G.: In den zwei Ländern, über die wir jetzt sprechen, sind die Reaktionen ähnlich. Von den amerikanischen Historikern wird die These als interessante Irritation eines Exzentrikers wahrgenommen, die institutionell außen vor zu halten ist. Was nun Brasilien anbelangt, ließe sich das in ein polemisches Verhältnis zu dem dort vorherrschenden »sozialdemokratischen« Paradigma setzen. Es ist, salopp gesagt, in dem Nach-Lula-Brasilien undenkbar, nicht auf den Fortschritt zu setzen. Es würde niemand gewählt, der nicht »Zukunft zu gestalten« behauptet. Wo zeigen sich nun das Vordringen des neuen und die Beharrung des alten Chronotopen im Alltag in den USA? Ich denke, da kommen zwei Sachen zusammen. Zum einen ist bis heute die kapitalistische Dynamik des Fortschritts, die Forderung nach Wachstum unbestritten. Der Dow Jones muss steigen, Silicon Valley muss wachsen. Wenn das Wachstum Googles in einem Quartal von 4 Prozent sich auf nur 3,5 Prozent verringert, dann ist das schon eine Krise. Es gibt aber zum anderen eine Dimension, die radikal ahistorisch ist, und das ist der Bereich des Rechts und der Verfassungstradition. Die amerikanische Verfassung als solche ist nie verändert, sondern nur mittels der amendments ergänzt worden. In gewisser Hinsicht stellt die Verfassung einen sakralen Text dar. Wenn in den USA von »dem Gesetzgeber« die Rede ist, dann werden damit weiterhin »the framers of the Constitution«, Thomas Jefferson, George­ Washington oder Benjamin Franklin evoziert. Im Rechtssystem herrscht ein ahistorisches Verhältnis zur Gründungsphase der Republik.

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Ein vergleichbares Phänomen bemerke ich als Literaturwissenschaftler auch in dem Verhältnis, das wir zu den Klassikern pflegen. In historistischen Verhältnissen sind ja Klassik und Klassiker eigentlich paradoxal. Wenn Zeit ein absolutes Agens der Veränderung ist, gibt es wenige, wie Gadamer gesagt hätte, »eminente Texte«, die »unmittelbare Sagkraft« behalten. Doch bei unseren jungen Studenten gibt es eine Neigung, etwa Shakespeare oder Faulkner oder was immer gegen Historisierung einzuklammern. Genauer: Sie klammern eigentlich nicht ein, sondern erfahren die Welt in einer breiten Gegenwart, zu der alles – historistisch gesehen: Vergangene und Zukünftige  – gehört. Es gibt daneben auch zahlreiche Ebenen, auf denen sich der Historismus einfach nie durchgesetzt hat und zugleich eine bis heute heiß laufende Mentalität des Wachstums. F. E.: Sie sprachen eben davon, dass sich der neue Chronotop hinter dem Rücken der Zeitgenossen aufgetan habe. Dennoch wächst in den 1970er Jahren das Bewusstsein einer Transformation der Zeiten. Worin gründet das? H. U. G.: Faszinierend an den 1970er Jahren sind jene Symptome, die auf die Konkurrenz zwischen den Chronotopen hindeuten. Etwa die Moderne-Postmoderne-Diskussion, in der allerdings reflexiv nicht ganz erfasst wurde, dass es sich um etwas wie die Emergenz eines neuen Chronotopen, oder wie immer man es nennen möchte, handelte. Und vor allem ging und geht es in manchen Diskussionen bis heute um eine Ausschließlichkeit, ja, gleich um das große Ganze, um die Verteidigung des Projekts der Moderne, des Projekts der Aufklärung, wie Habermas es nannte. Lyotards La Condition postmoderne ist jedenfalls sicherlich der Hauptbezugstext der Verunsicherung des historischen Weltbilds5. Doch die Frage nach den frühen Symptomen ist schwer zu beantworten. Für mich selbst ist erst mit dem 11. September 2001 plötzlich offensichtlich geworden, dass wir uns in einer völlig anderen Temporalität befinden. Damit meine ich nicht, dass jener Tag die Schwelle gewesen wäre, sondern beziehe mich auf eine Transformation, die meine Generation erst verstand, als sie sich bereits vollzogen hatte. Nachdem Peter Sloterdijk mein Buch Nach 1945 gelesen hatte, sagte er, das sei das tragisch-komische Epos unserer Intellektuellengeneration6. Tragisch-komisch eben, weil wir so viel Zeit damit verbracht hatten, einen alten Chronotopen gleichsam zu reparieren, ohne zu bemerken, dass das eigentliche Problem gar nicht die Reparatur des alten, sondern die Konkurrenz mit einem neuen Chronotopen war. Das ist einerseits tragisch, weil wir dies erst bemerkten, als viele von uns schon nahe dem Emeritierungsalter waren. Aber andererseits auch komisch, weil man sich dauernd um etwas bemüht hat, das in gewisser Hinsicht keine Chancen auf Realisierung hatte. Wir haben unsere Handlungskraft, unsere agency überschätzt. Vielleicht ist dieses »hinter dem 5 Jean-François Lyotard, La Condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979. 6 Hans Ulrich Gumbrecht, Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012.

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Rücken« eine zu starke Metapher. Damit meine ich jedenfalls nur, dass man erst jetzt retrospektiv die vielen Anzeichen, Symptome und Spuren jener sehr profunden Transformation identifizieren kann, die wir, als sie sich vollzog, nicht sehen konnten und wollten. Und als das Wort »Postmoderne« sich auch im Alltag wie ein Lauffeuer verbreitete, wurde es eher im Sinn eines Stils, wie Barock oder Rokoko verstanden. Wenn man einen Stil neben den anderen stellen konnte und das nicht als Stilbruch angesehen wurde, sprach man von »Postmoderne«. Nur wenige begriffen schon am Anfang das Prädikat überhaupt im Sinn einer anderen Temporalität. Das Wort »Posthistorie« gab es schon in den 1930er Jahren, als Kojève in Frankreich seine Hegel-Seminare hielt, aber es war zunächst konsequenzlos geblieben. F.E: Auf Kojève kommen wir nachher nochmals zurück. Bleiben wir zunächst einmal im Kontext der Postmoderne-Diskussion und bei jenen Denkern, die aufs Engste mit ihr verbunden sind: Lyotard und Derrida. Bei der Lektüre von Nach 1945 ist mir aufgefallen, dass Sie das bedrohliche Auf-einen-Zukommen der Zukunft an Derridas Vortrag in Stanford bei den Presidential Lectures festgemacht haben7. Mir war die Figur »Die Zukunft kommt bedrohlich auf uns zu« aus Ulrich Becks Risikogesellschaft von 1986 bekannt8. Weshalb machen Sie diese an Derrida fest? H. U. G.: Das war schlicht ein interessanter Vortrag, den ich rausgegriffen habe, aber kein frühes Beispiel für dieses Zeitverständnis. Es war eher, wenn ich mich recht erinnere, die Rhetorik, der Auftritt. Also selbst Derrida, der sich zu einem bestimmten Punkt aus aller Zeitlichkeit heraushalten wollte, kam auf so ein temporales Motiv zu sprechen. Doch unter den Philosophen ist Lyotard der interessanteste Protagonist, der darüber reflektiert, was nach dem Boom stattfindet. 7 Gumbrecht, Nach 1945, S. 295. Dort heißt es: »Wie immer in jenen Jahren redete Derrida über zwei Stunden lang, und was er sagte, war für Nichtkenner seiner philosophischen Position ebenso unverständlich wie die meisten seiner Schriften – aber er sprach von einer ›Universität, die aus der Zukunft kommen könnte‹. Anschließend wurde viel über eine mögliche jüdische oder messianische Inspiration zu dieser Vision diskutiert. Entscheidend war jedoch Derridas neuartige, weitgehend implizite Sicht der Zeit: Die Zukunft erschien nicht mehr als eine zu erobernde Dimension, sondern als Bewegung – eine sich erfüllende Hoffnung, eine Vision, eine Bedrohung –, die auf uns zukam. Unabhängig von seinem Werk war der Titel von Derridas Vorlesung ein Symptom für eine grundlegend veränderte Beziehung zur Zeit.« Derridas Vortrag »The Future of the Profession, or the Unconditional University. (Thanks to the ›Humanities‹: What Could Take Place Tomorrow)« fand am 15.  April 1999 an der Stanford University statt und findet sich abgedruckt als: Jacques Derrida, The Future of the Profession or the University without Condition (Thanks to the »Humanities«, What Could Take Place Tomorrow), in: Tom Cohen (Hrsg.), Jacques Derrida and the Humanities, Cambridge 2002, S. 24–57. 8 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986.

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F. E.: In Lyotards 1986 erschienenen Notizen über die Bedeutung von ›post‹ heißt es jedenfalls: Da wir, die Modernen, etwas völlig Neues einleiten, müssen wir die Zeiger der Uhr auf null stellen. Der Gedanke der Moderne selbst korreliert eng mit dem Prinzip, dass es möglich und notwendig ist, mit der Tradition zu brechen und eine völlig neue Lebens- und Denkweise einzuführen. Heute haben wir den Verdacht, dieser Bruch sei eher eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu vergessen und zu unterdrücken, das heißt, sie zu wiederholen, also sie zu überwinden.9

Heute erscheint uns dieser Gedanke, dass das Überwinden eher eine Gefahr darstellt und dass es sich dabei um einen Trugschluss handelt, irgendwie selbstverständlich. Wie konnten die Modernen so lange an diese Möglichkeit des Brechens mit der Vergangenheit glauben? Und eine entgegengesetzte Frage: Wie realistisch ist es zu glauben, dass der Mensch auf diesen Drang, auf, so Eliade, »Vernichtung der Geschichte« verzichten könnte? H. U. G.: Ich denke, dass diese ganze Reflexionsschleife zu stark intentional gedacht ist. Ich verweigere mir selbst die Frage nach den Gründen für die Transformation von Chronotopen. Man kann aber natürlich trotzdem unendlich darüber reden. Ich komme bei der Beantwortung solcher Fragen immer nur auf Banalitäten, etwa: Weil die Umweltkomplexität wächst, weil die Butter teurer wurde, musste man einen neuen Chronotopen erfinden. Man kommt immer auf de facto Tautologisches. Es steht mit der Frage nach den Ursachen stets die Unterstellung im Raum, dass man vor einem Entscheidungsprozess stünde. Wollen wir jetzt Moderne oder Postmoderne? Und ich glaube, dass es illusorisch ist, Prozesse von solcher Komplexität so zu diskutieren, als lägen Entscheidungen an ihrem Anfang. Es liegt eigentlich außerhalb der Reichweite des zu Beeinflussenden. Mit der Reflexion ist man notwendigerweise hinter bestimmten Entwicklungen her. Es passiert etwas und man fängt an, darauf zu reagieren und darüber nachzudenken. Jeder von uns kann in seinem individuellen Leben zwar entscheiden, was er mit seiner Stimme bei einer Wahl macht, aber ich glaube nicht, dass es Strategien gibt, die Moderne aufrechtzuerhalten oder die Postmoderne durchzusetzen. Ihre ursprüngliche Frage war ja aber, wie man erklären kann, dass es im Sinne einer naturwissenschaftlichen Metapher diese Trägheit der Moderne gibt. Weshalb wollen so viele Menschen an der Moderne festhalten? Das hat, glaube ich, damit zu tun, dass sich eben schon um 1830, am Ende der sogenannten Sattelzeit, eine Reihe von Institutionen etablierten und im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts immer zentraler wurden, die mit den Prämissen und Strukturen des historischen Chronotops aufs Engste verflochten waren – so dass dieser stärker als andere Chronotopen im Lauf der Zeit sozusagen »natürlich« wurde. 9 Jean-François Lyotard, Notizen über die Bedeutung von »post-«, in: Ders., Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–1985, Wien ³2009, S. 103–109, hier S. 104 f.

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Hierzu gehört auch der quasi-ontologische Widerstand seitens vieler Historiker, die sagten, die historische sei die eigentliche Zeitlichkeit. Über »Geschichte« nachdenken setzt einen historischen Chronotopen voraus, alles andere Nachdenken über Vergangenheit gilt dann ab etwa 1830 als falsch. Zugleich ist der historische Chronotop aber auch die Prämisse des Evolutionsdenkens. Er ist die Prämisse von allen linken, aber auch von allen kapitalistischen Bewegungen. Inwieweit die faschistischen Bewegungen hier eine Ausnahme darstellen, können wir vielleicht später diskutieren. Es ist jedenfalls kein Kommunismus, kein Kapitalismus ohne historischen Chronotopen denkbar. Und weil er so viele Weltbilder abdecken kann, fällt es auch sehr schwer, die Welt anders zu denken. Ich glaube, dass das letztlich – im Sinne dieser Metapher der Trägheit – das Festhalten am Prozess der Moderne, am historischen Chronotopen effektiver erklärt als irgendwelche ethischen oder politischen Optionen, die man ergriffen oder vermieden hat. F. E.: Sie haben 2011 mit Ihrem Buch Stimmungen lesen den Versuch unternommen, die Stimmung einer Zeit zu verdeutlichen. Wie würden Sie die Stimmung beschreiben, die in den 1970er und 1980er Jahren vorherrschte? Sie wurden 1975 nach Bochum berufen, in eine Stadt, die sich, wie das gesamte Ruhrgebiet, inmitten des Strukturwandels, sprich des Niedergangs des schwerindustriellen Paradigmas befand. Hatte dieser Wandel Auswirkungen auf die Herausbildung des Posthistoire-Syndroms? H. U. G.: Ideen- und mentalitätsgeschichtlich lohnte es sich sicherlich darüber nachzudenken. Grundsätzlich glaube ich aber nicht, dass man den Chrono­ topenwandel auch nur im entferntesten Sinn materialistisch erklären kann. Also im Sinne von: Ein Strukturwandel in der Wirtschaft führte zu einer Veränderung der Mentalität. Wenn überhaupt, dann sehe ich das eher umgekehrt, was sich am Fall des Endes der Sowjetunion illustrieren lässt. Ich spiele seit einiger Zeit mit dem Gedanken, dass die Implosion des Staatssozialismus eher eine Folge als ein Grund für die Transformation der Temporalitäten war. Wenn man heute in Russland Leute meines Alters fragt: »Von welchem Moment an habt ihr nicht mehr geglaubt, dass die Sowjetunion den Kalten Krieg gewinnt?« liegt der Zeitpunkt, der immer wieder genannt wird, viel später, als ich es erwartet hätte. Es sind die Jahre, als Breschnew Staatschef war [1977–1982] und diese fallen mit dem Aufkommen des Postmoderne-Syndroms im Westen zusammen. Hier schloss sich, so würde ich das zumindest verstehen, plötzlich die Zukunft als offener Horizont der Möglichkeiten wie ein Vorhang. Mit dem Staatssozialismus war nichts mehr zu gewinnen. Ich will Ihre Frage also gewissermaßen umkehren. F. E.: Ich wollte weniger auf eine vulgärmarxistische Begründung hinaus im Sinne von: Es verändern sich die Produktionsverhältnisse und das spiegelt sich dann im Überbau wider. Vielmehr würde ich gerne etwas über die Stimmung, die jene Jahre in Bochum prägten, erfahren.

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H. U. G.: Da meine Mutter aus Dortmund stammt, habe ich auch noch frühere Erinnerungen aus der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit. Als Grundschüler war ich oft in den Ferien bei meinen Großeltern und verbinde das mit Helmut Rahn und Rot-Weiss Essen, mit Krupp, dem Wiederaufbau und den damaligen Fortschrittsvorstellungen. Als ich dann 1975 nach Bochum berufen wurde, fand ich diese Verschränkung von einerseits »Wir wollen noch industriell sein«, aber andererseits »Es ist ja gut, dass das Ruhrgebiet die größte Grünfläche der Bundesrepublik ist« augenfällig. Mir fiel damals auf, wie man sagte, »Wir wollen jetzt den Stand von 25.000 Studenten stabilisieren.« 1975 war es noch ganz außergewöhnlich irgendetwas stabilisieren zu wollen. Ich war aus dem winzigen Konstanz gekommen, von einer Universität, die noch einen großen Ehrgeiz hatte zu wachsen. Der sozialdemokratische Geist des Ruhrgebiets bedeutete nun so etwas wie die Stabilisierung des Erreichten. Die Zeit nach Willy Brandt atmete den Geist von »auf diesem Plateau bleiben wir«. Die Wahl von Willy Brandt war der späteste Moment in meinem Leben, in dem man noch dachte, dass sich jetzt der Fortschritt durchsetzen würde. Ich war 1969/70 in Spanien, habe in Salamanca studiert, und Brandt war im Herbst gewählt worden. Als ich zu Weihnachten nach Hause flog und in Frankfurt ausstieg, dachte ich: »Die Welt hat sich verändert. Ich spüre jetzt, dass alles anders ist.« Das galt auch noch für das Deutschland der Olympiade von 1972. Aber bereits immer mit dem Gedanken: »Und jetzt kann sich das konsolidieren.« Das olympische Feld in München 1972, das ganze Design, dieses zeltartige Stadion – das war auf der einen Seite eigentlich noch die Mentalität des Fortschritts, aber auf der anderen Seite schon so eine gewisse ökologische Sanftheit der Stabilisierung. F. E.: Wann lässt sich ein Kippen der Stimmung feststellen? H. U. G.: Es gibt einen jungen brasilianischen Kollegen namens Pedro Dolabela Chagas, der 2011 in der Akademie Schloss Solitude ein Kolloquium Around 1973 veranstaltete10. »Um 1973« scheint mir eine passende Antwort zu sein. Ich habe jedenfalls 1971 promoviert und bin dann in Konstanz Assistent geworden. Den Namen des Lehrstuhlinhabers möchte ich aus Gründen einer bevorstehenden damnatio memoriae, zumindest meinerseits, jetzt nicht nennen. Das Gutachten eines Potsdamer Historikers zu seiner Zeit bei der Waffen-SS liegt nun vor11. Als ich die Stelle antrat, sagte er: »Ja, Sie sind dazu berufen, in Konstanz diese 10 Siehe dazu das Tagungsprogramm: Around 1973. Historicism, Self-Cause, Popular Culture, URL: http://www.akademie-solitude.de/production/_files/file/admin/1973.pdf (zuletzt eingesehen am 10.4.2016). 11 Zu Hans Robert Jauß, der 1939 in die Waffen-SS eintrat und 1944 zu einem der jüngsten SS -Hauptsturmführer wurde, und seiner Beteiligung an Kriegsverbrechen siehe: Universität Konstanz, Presseinformation Nr. 48 vom 20. Mai 2015, URL: http://www.aktuelles. uni-konstanz.de/presseinformationen/2015/48/ (zuletzt eingesehen am 10.4.2016); siehe

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neue Literaturwissenschaft mitzugestalten.« Und das war noch ganz in der Rhetorik des Fortschritts. Was in diesem Fall umso interessanter ist, denn man weiß ja nicht, welche andere Chronotopen noch in seinem Kopf herumgeschwommen sind. Schon 1972 fing dieser sehr »progressive« Professor an, von den »konservativen 70er Jahren« zu reden, dass jetzt alles stagniere und die neue Literaturwissenschaft von irgendwelchen reaktionären Kräften verhindert würde. Die CDU galt ihm als Synonym für Faschismus. Konstanz war jedenfalls ein typisches Post-Wirtschaftswunder, aber noch Boom Fortschritts-Projekt, das noch ganz im Sinne des Chronotopen histo­ ristisch angegangen worden war. Und gleich Bielefeld war Konstanz nicht nur eine neue Universität, sondern eine Reformuniversität. Beide Universitäten glaubten, sie wären so eine Art Vierstufenrakete. Die erste Stufe hatte sehr gut gezündet und man hatte ganz schnell das All erreicht. Doch als die nächsten Stufen nicht zündeten, fühlten sich alle plötzlich um ihre Zukunft betrogen und verkleideten das in ein konspirationstheoretisches Lamento. Ich erinnere mich, dass wir, anlässlich des Misstrauensvotums gegen Willy Brandt [April 1972], als Lehrstuhl ein Sympathie-Telegramm nach Bonn schicken sollten. Man musste den Fortschritt am Laufen halten – das war die Implikation. Im Ruhr­ gebiet und Bochum hingegen herrschte eine Stimmung vor, die ich als Konsolidieren des sozial­demokratischen Projekts beschreiben würde. Ja, vielleicht könnte man es auf die Formel bringen: »Eine Verlangsamung des Fortschritts ist vernünftig.« Das Reflexiv-Werden der Modernisierung ist die wahre Mo­ dernisierung. Durch Reflexivität wird der Fortschritt am Laufen gehalten. F. E.: Mir ist weiterhin daran gelegen, den Ursachen der Chronotopen-Transformation auf die Spur zu kommen. Vor dem Hintergrund zum einen von Hans Robert Jauß’ Vergangenheit bei der Waffen-SS und zum anderen der Tatsache, dass hier in Lüneburg einer der vermutlich letzten nationalsozialistischen Täter des Holocausts vor Gericht steht, Oskar Gröning, der sogenannte »Buchhalter von Auschwitz«, möchte ich wissen, welche Bedeutung Ihres Erachtens die von den deutschen Menschheitsverbrechen verursachten Traumata beziehungsweise die Herausbildung einer traumatischen Vergangenheit, die »nicht vergehen will«, für die Etablierung der »breiten Gegenwart« haben? H. U. G.: Das ist eines der Leitmotive in meinem Buch Nach 1945. Und es hängt auch aufs Engste mit jenen Bestrebungen zusammen, die man gemeinhin unter der Chiffre »68« subsumiert. Uns erschien  – auch ich bin 1967, bevor ich mich an der LMU immatrikuliert habe, dem SDS beigetreten – der Fortschritt wie ein Motor, der auf drei Zylindern läuft. Und wir glaubten wirklich, dass der Fortschritt erst dann auf allen vier Zylindern laufen würde, wenn wir diese neuerdings auch: Jens Westermeier, Hans Robert Jauß. Jugend, Krieg und Internierung, Konstanz 2016; sowie Ottmar Ette, Der Fall Jauß. Wege des Verstehens in eine Zukunft der Philologie, Berlin 2016.

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Eltern- und Nazi-Generation mit ihrer Vergangenheit konfrontieren würden. Wenn das alles rauskäme, wenn das alles ausgekotzt wäre und wir endlich die Wahrheit wüssten, dann würde der Fortschritt weitergehen. Diese unsere Sicht auf die Verstrickung von Vergangenheit und Gegenwart fand in Fassbinders Die Ehe der Maria Braun [1979] ein Emblem, und zwar in der sich am Ende des Films ereignenden visuellen Verwandlung der damaligen bundesrepublikanischen Politiker, allen voran Helmut Schmidts, in Nazis. Das war genau die Befürchtung: dass in allem, möglicherweise selbst in der SPD Regierung, noch immer diese unverdaute Vergangenheit stecke. Wir glaubten, das müssen wir jetzt bereinigen, dann kommt die Zeit wieder in Gang. F. E.: Haben die »68er« also daran geglaubt, dass man diese Vergangenheit, wenn sie einmal aufgearbeitet ist, hinter sich lassen könnte? H. U. G.: Tatsächlich verbirgt sich hierin möglicherweise ein Grund für die Transformation. Ich kann jedenfalls nicht in Frankfurt landen, ohne dass ich denke: Dies ist das Land, das Territorium, auf dem passiert ist, was passiert ist. Und das gibt mir das Gefühl »dieses Land ist verwunschen« und zwar in dem Sinn, dass es unmöglich scheint, das jemals verarbeiten zu können. Erst in den letzten zwei, drei Jahren ist mir klar geworden, dass es Dinge gibt, die sich – ich meine, ich bin jetzt fast 67  – in so einem langen Leben nicht verändern. Und dieser Gedanke widerspricht einem radikal historistischen Denken. Die ver­brecherische Vergangenheit der Deutschen ist in der »breiten Gegenwart« schlichtweg präsent. Sie ist neben vielem anderen präsent, aber doch unmittelbar da – weit davon entfernt, verschwunden zu sein, aber doch weniger ausschließlich im Fokus. F. E.: Während des Historikerstreits 1986 schienen die politischen Fronten entlang der historiographischen und vergangenheitspolitischen Gräben noch eindeutig konturiert. Dennoch habe ich den Eindruck, dass sich nach dem Boom eine Verschiebung des althergebrachten Links-Rechts-Schemas ereignete. Es passte zwar irgendwie nicht mehr und doch fand es weiter Verwendung. Das führte, der Name Habermas ist ja bereits gefallen, zu zahlreichen Irritationen hinsichtlich des Posthistoire-Interpretaments und der Postmoderne-Diagnose. Der Post- oder Neostrukturalismus geriet ja sogleich in den Verdacht des »Jungkonservatismus«, und zwar nicht zuletzt wegen der zugrundeliegenden Rezeption von Autoren, namentlich Nietzsche und Heidegger, die zumindest seitens der Linken bis dahin tabu gewesen waren12. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Neukonturierung des politischen Feldes und dem Widerhall, auf den das Posthistoire-Interpretament stieß? 12 Vgl. hierzu Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Ders., Kleine Politische Schriften I–IV, Frankfurt a. M. 1981, S.  444–464; sowie ders., Der philoso­ phische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985.

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H. U. G.: Die konservativ-progressiv Semantik ist gänzlich abhängig von dem historischen Chronotopen. In dem Maß, in dem wir nach 1968 beinahe daran verzweifelten, dass sich diese Zeitlichkeit nicht wieder in Schwung bringen ließ, hielten wir wohl – halbbewusst – zum ersten Mal Ausschau nach anderen Formen der Zeitlichkeit. Eine alternative Zeitlichkeit bot das Postmoderne-Syndrom, das ja – so kann man es heute sehen – mit der Dynamik der historischen Zeit brach. F. E.: Blicken wir zunächst einmal auf Foucault. Welche Bedeutung kommt­ Foucaults Schriften für das wachsende Bewusstsein einer Notwendigkeit der Historisierung des historischen Bewusstseins zu? H. U. G.: Würde man mich – um bewusst mit einem ganz naiven Bild einzusteigen  – fragen: »Was sind die fünf intensivsten Leseerlebnisse deines Lebens?«, dann gehörte Foucaults Les mots et les choses ganz bestimmt auf diese Liste. Mein Dienstantritt als Professor in Bochum war der 1. Januar 1975, und das erste Buch, das ich in Bochum gelesen, wirklich von der ersten bis zur letzten Seite gelesen habe, war Les mots et les choses. Typologisch gesehen schien mir das Buch so wichtig, weil es zugleich von einem intensiven historischen Bewusstsein, von einem differenzierten Nachdenken über die Vergangenheit zeugte, aber nicht in die Ideologie des Fortschritts übertragen werden konnte. Les mots et les choses war, wie später auch die Histoire de la sexualité13, keine Fortschrittsgeschichte. Die Emergenz des Paradigmas der Humanwissenschaften in der zweiten Hälfte des Buches wurde nicht so präsentiert, als wäre damit endlich die Wahrheit erreicht worden, nicht zuletzt auch das berühmte Ende mit dem Verschwinden des Gesichts im Sand. Faszinierend war die Art und Weise, in der das Buch nicht hegelianisch war. Wie weit ich das bei meiner ersten Lektüre realisiert habe, ist heute schwer zu sagen. Das Buch war für mich jedenfalls – es war ja noch ein relativ neues Buch [1966 Paris, 1971 deutsche Erstausgabe] – auch im Kontext der Fragen nach der Symptomatologie der Zeit zentral. F. E.: Die Historisierung des historischen Bewusstseins findet indes beiderseits des Rheins statt, denn nebst Foucault, der einen Schritt weiter zu gehen scheint, gibt es doch mehr oder weniger zeitgleich Kosellecks Historisierungsunterfangen. H. U. G.: Meine Bewunderung, Verehrung und auch meine positive Erinnerung an Koselleck sind so groß, dass ich hier entgegen meiner sonstigen Gepflogenheit darauf verzichte, die Deutschen etwas herab- und die Franzosen etwas heraufzusetzten. Die Historisierung des historischen Bewusstseins ist der eine große Fluchtpunkt im Werk von Koselleck, das sich indes von Foucaults Werk darin unterscheidet, dass es nicht diese zentralen emblematischen Bücher gibt. Da ist zwar auch das eine große Buch Kritik und Krise, das differenziert und 13 Michel Foucault, Histoire de la sexualité (3 Bde.), Paris 1984.

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überzeugend den Anspruch der Aufklärung auf ihr eigenes Geschichtsbild in Frage stellt. Zugleich erstaunt mich bei Koselleck das Ausbleiben der komplementären Frage, was denn nach dem historistischen Chronotopen kommen könnte. Der letzte Absatz von Les mots et les choses ist ja so faszinierend, weil er zumindest implizit sagt: »Irgendwann wird auch dies an ein Ende gekommen sein.« Er sagt zwar explizit »die Gestalt des Menschen«, aber dies impliziert wohl das historische Denken. Und obwohl alles, was Koselleck je gedacht und geschrieben hat, in meiner Lektüre wenigstens, auf diesen Fluchtpunkt verweist, ist die Frage von ihm nie explizit gestellt worden. F. E.: Hat sich Koselleck zum Posthistoire-Interpretament damals geäußert? Hat er in diese Diskussion irgendwie eingegriffen? H. U. G.: Ich wüsste von keinem offiziellen Statement in der Hinsicht. Aber als mein 1926-Buch herauskam, haben wir korrespondiert. Es war für mich sehr wichtig, dass ihn das interessiert und dass er explizit darauf reagiert hat. Ich erinnere mich jedenfalls an eine Begegnung zwischen Lyotard und Koselleck, als Lyotard einen Monat lang Ende der achtziger Jahre in Siegen war und Koselleck aus Interesse zu uns kam. In Lyotards Seminar haben wir über das 18. Jahrhundert, über das Vermächtnis der Aufklärung diskutiert. Und auch hier zeigte sich diese mich erst später faszinierende Leerstelle, denn es gab den ganzen Tag über seitens Kosellecks keinen grundsätzlichen Vorbehalt gegen Lyotards Thesen. Vielmehr äußerte er immer sehr kompetente Detailkritiken im Sinne von »So können Sie den Hegel aber nicht lesen«. Nun weiß ich nicht, ob Sie auf die Frage hinaus wollten, ob Koselleck die Frage nach dem »Danach« eingeklammert hat, weil er politisch so konservativ war. Denn das glaube ich nicht. Er war politisch konservativ, wahrscheinlich auch weil er Sudetendeutscher war und in diesem Sinne Vorbehalte gegen die Oder-Neiße-Linie haben mochte. Wenngleich er wusste, dass es keine Chance gab, Ansprüche zu erheben, war ihm die Konsolidierung der Grenzen im Osten wohl unbehaglich. F. E.: Da das Posthistoire-Interpretament ursprünglich aus der konservativen Ecke kam, spricht das Konservative an Koselleck, seine Nähe zu Carl Schmitt, die Einflüsse Heideggers etc. ja keineswegs gegen seine Übernahme der posthistorischen Gegenwartsdiagnose, im Gegenteil. Vor allem aber stellt sich mir die Frage, ob das Posthistoire-Interpretament zunächst eine rechte Angelegenheit war, weil dort die Enttäuschung über »die Geschichte« angesichts des Scheiterns der faschistischen Erlösungstheologeme früher eintrat als auf der Linken. Nun waren aber auch dort die Illusionen geschwunden. Niethammers Buch bringt das Erstaunen über die Wanderbewegung des Posthistoire von rechts nach links deutlich zum Ausdruck14. 14 Vgl. Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek bei Hamburg 1989.

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H. U. G.: Lyotard zum Beispiel, der von Socialisme ou barbarie kam, war ein enttäuschter Linker. Und er wurde dann in Frankreich natürlich – das ist dort ähnlich verlaufen wie in Deutschland  – als ein absoluter Rechter verteufelt. Aus meiner persönlichen Erinnerung und anhand der mir bekannten Biographien sehe ich keinen Anlass zur Bestätigung der Niethammerschen Position, dass sich im Posthistoire eine Enttäuschung über Erlösungsideologeme niederschlägt. F. E.: Wie verhält es sich mit Foucault? Zumindest kurzeitig war er ja in den 1950er Jahren Mitglied der Französischen Kommunistischen Partei ­(1950–1953), um sich später dann zunehmend mikropolitisch in der Groupe d’information sur les prisons zu engagieren15. H. U. G.: Das hat auch viel mit Szene zu tun, was man heute leicht unterschätzt. Ich habe Foucault nur flüchtig gekannt, wir haben vielleicht fünf- oder sechsmal zu Mittag gegessen. Ich glaube, dass der existentielle Hauptinvestmentfonds von Foucault gender politics war. Auch die Beobachtung der micro pouvoirs würde ich eher in dem Sinne verstehen: »das ist meine Existenz und das ist mir wichtig«. Foucault war für einen Akademiker, glaube ich, sehr authentisch und in authentischer Weise intensiv, engagiert und passioniert. Mir erscheint die Herleitung des Niethammerschen Arguments einigermaßen plausibel. Nur sehe ich keine evidenten Fälle, die es belegen. Ich habe auch kein eigenes ideologisches oder anderes Interesse, die Genealogie des Posthistoire von rechten Einflüssen reinzuhalten. F. E.: Mir scheint es jedenfalls einleuchtend, anzunehmen, dass es zunächst unter den Rechten eine Enttäuschung ob »der Geschichte« gab und dass sich deshalb das Posthistoire-Interpretament zunächst dort zu etablieren vermochte. Nach Chruschtschows Geheimrede und dem Einmarsch in Ungarn 1956, dem Prager Frühling 1968 und Solschenizyns Archipel GULAG16 1973 breitete sich eine ähnliche Enttäuschung zunehmend auch unter den Linken aus und das Posthistoire-Interpretament vermochte sich auch hier zu etablieren. H. U. G.: Der ungarische Volksaufstand sollte auf keinem Fall unterschätzt werden. Ich kenne keine Stadt, die bis heute so sehr von einem historischen Ereignis gezeichnet ist wie Budapest. Jeder Kugeleinschuss von 1956 hat dort quasi den Charakter eines nationalen Monuments. Mit der heutigen rechtspopulistischen

15 Vgl. Martin Kindtner, Strategien der Verflüssigung. Poststrukturalistischer Theoriediskurs und politische Praktiken der 1968er Jahre, in: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 373–392. 16 Alexander Solschenizyn, Der Archipel GULAG , Bern 1974 (Deutsche Erstausgabe).

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Regierung ist das noch verstärkt worden. Die Stadt liegt bis heute unter einer subdepressiven Melancholie. Es ist, als hätte sich seit jenem Moment in Ungarn nichts Positives mehr ereignet. Das gehört fast zur Bewahrung der nationalen Identität. In Nach 1945 habe ich meine eigene unmittelbare Erinnerung daran beschrieben. Meine Schwester war damals gerade geboren. Meine Mutter stillte meine Schwester und wir saßen am Radio. Da sagte meine Mutter zu meinem Vater: »Wir hätten dieses Kind eigentlich nie haben sollen, denn jetzt bricht der Dritte Weltkrieg aus.« Die Angst, die »Ungarn« weltweit ausgelöst hat – denn ich nehme an, dass das auf der sowjetischen Seite nicht anders war – war ungeheuer. Deswegen schreibe ich in Nach 1945, dass der Kalte Krieg erst in Ungarn im Oktober 1956 anfing. Begriffsgeschichtlich ist, nach meinem Wissen, der Erstbeleg für Posthistoire bei Kojève zu finden, als er an der École Pratique des Hautes Études eine Vor­lesung für drei, vier Hörer hielt – unter anderem Lacan. Kojève kam aus der Sowjetunion und wurde in Frankreich zu einem demokratischen Rechten. Ich meine gelesen zu haben, dass Kojève dann in der frühen EU für de Gaulle in Brüssel war. Lassen Sie uns einmal diese Genealogien überlegen. Wie verhält es sich mit Carl Schmitt zum Beispiel? F. E.: Gibt es bei Kojève nicht auch eine Linie zu Heidegger? H. U. G.: Die gibt es in Frankreich, salopp gesagt, fast immer. Heidegger ist wie so ein Virus, von dem alle angesteckt wurden – wenn Sie eine negative Konnotation ins Spiel bringen wollen. Deklinieren wir doch einfach einmal durch und beginnen mit Carl Schmitt. Für mich ist das eine absolute Antifigur und ich habe auch überhaupt kein Verständnis für dieses unablässige Flirten der Linken mit Schmitt. Sein in den 1950er Jahren veröffentlichtes Glossarium ist ungeheuerlich17. Schmitt hat nach 1945 auf die faschistischen Restbestände in Europa gesetzt. Mehr auf Francos Spanien denn auf Salazars Portugal, das erst am Ende durch den Versuch das portugiesische Kolonialreich zu bewahren, faschistisiert wurde. Carl Schmitt hat auf Spanien gesetzt und das deutet doch darauf hin, dass er vielleicht gar nicht so intelligent war, wie immer unterstellt wird. Ich sehe da keine Figur der Abarbeitung, der Enttäuschung. Vielmehr ist dieses Auf-Spanien-Setzten ja gewissermaßen ein Restbestand der Hoffnung. F. E.: Was ist mit Gehlen? H. U. G.: Gehlen, das lasse ich mir eher gefallen, das ist ein interessanter Fall, den man diskutieren könnte. Und über Gehlen könnte man zu Luhmann gelangen. Luhmann war politisch allerdings eher distanziert. Ich weiß, dass er von

17 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, hrsg. von Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991.

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Bundestagswahl zu Bundestagswahl, je nach Bielefelder Regionalinteressen, die eine oder die andere Partei gewählt hat. Von Gehlen bis zu Luhmann, das könnte so ein Feld sein, auf dem man fündig würde. F. E.: Zu Luhmann kommen wir gleich, aber auf Umwegen. Ich möchte zunächst gerne noch die eine oder andere Frage zu Poetik und Hermeneutik und zu Dubrovnik stellen. Bei Jürgen Kaube – und da hätten wir ja den Luhmann auch noch mit im Boot – heißt es, Poetik und Hermeneutik sei ein Dokument eines intellektuellen Neubeginns vor 1968 gewesen. Die Kolloquien in Dubrovnik stellen eine Art Absetzbewegung von Poetik und Hermeneutik – und damit auch von einer Haltung zum Historismus – dar, einen anderen Stil. Wie lassen sich diese beiden Stile, die dann eben symbolisch für einen Neubeginn vor 1968 einerseits und 1978 andererseits stehen, auf den Begriff bringen? Was verbindet sich jeweils damit? H. U. G.: Dubrovnik war in jeder Hinsicht ein anderer intellektueller Stil, nicht zuletzt weil in den Nächten ein gewisser Grad von sexueller Promiskuität ausbrach, der vor 1968 undenkbar gewesen wäre. Das steht natürlich nicht in den Suhrkamp-Bänden. Es sind aber zwei andere Dinge, die zum Thema unseres Gesprächs passen. Ich habe das einmal als »oedipal hermeneutics« beschrieben und zwar im doppelten Sinne, denn es war eine zweifache ödipale Reaktion18: auf der einen Seite gegen die Vorgängergeneration, auf der anderen Seite aber auch gegen das Paradigma der Hermeneutik. Eine Zeit lang hatte ich so eine Art intellektuelles Bremer Stadtmusikantentum vor Augen: Mein Lehrer war Schüler von Gadamer, Gadamer war Schüler von Heidegger, Heidegger war Schüler von Husserl usw. Wenn diese Genealogie auf den eigenen Schultern lastet, muss man einfach protestieren, sonst kann man sich nicht mehr bewegen. Hinzu trat die klassische ödipale Reaktion eines »68ers« gegen einen angeblich progressiven Doktorvater, ein eingeschriebenes SPD -Mitglied und Willy Brandt-­Sympa­ thi­santen. Eine nach 1968 eingetretene Enttäuschung spielte hier schon eine Rolle im Sinne des Verdachts, dass alles noch schlimmer sei, als man ohnehin angenommen hatte, dass also selbst diese angeblich linken Professoren eine braune Vergangenheit hatten. Es ist interessant, dass Luhmann als Angehöriger der vorherigen Generation sozusagen zu uns, der Dubrovnik-Gruppe, übergetreten war. Er hat von den fünf Kolloquien vier mitgemacht. Es gibt aber auch einen weiteren Unterschied im Stil. Poetik und Hermeneutik ist nie die internationale Synergie gelungen. Sie haben zwar immer prominente ausländische Wissenschaftler eingeladen, konnten sich aber nur selten entschließen, deren Beiträge wirklich zu drucken. Und »Ausländer« wurden auch nie wirklich Teil  des inneren Zirkels. Wenn man die Dubrovnik-Bände

18 Hans Ulrich Gumbrecht, From Oedipal Hermeneutics to Philosophy of Presence [An Autobiographical Fantasy], in: Telos 138 (2007), S. 163–180.

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durchgeht, dann ist die Zahl der Beiträger, die nicht an einer deutschen Universität waren, sehr groß. Der erste Band über Sprach- und Literaturgeschichte zielte noch darauf, aus einer Reflexion über die Geschichte der Sprach- und Literaturwissenschaft jene Weiterbewegung eines intellektuellen Fortschritts zu ermöglichen, der nach 1968 anscheinend stecken geblieben war19. Der zweite Band handelte von Epochenschwellen, der dritte von Stil20. Und ohne dass das Programm gewesen wäre, haben wir, so erscheint es mir zumindest retrospektiv, eigentlich schon versucht, am Historismus vorbei zu denken. Ein Durchbruch war das Thema »Materialität der Kommunikation«21. Ironischerweise hatten wir das Thema gewählt, weil wir dachten, das sei passend für Jugoslawien und würde das Kolloquium überhaupt für Osteuropäer attraktiver machen. Die Kolloquien haben sich über die 1980er Jahre erstreckt: Das erste Dubrovnik-Kolloquium fand 1981 statt, die Planung begann also wohl 1979 oder 1980, das letzte haben wir 1989 veranstaltet. Unter den wichtigsten Protagonisten waren Friedrich Kittler und Jan Assmann, die beide immer wieder an bestimmten Paradigmen vorbei gedacht haben – bei aller Verschiedenheit. Ich weiß noch als Assmann davon sprach, dass der Polytheismus eigentlich interessanter als der Monotheismus sei. Das war eine Provokation, vor allem für die Atheisten. Es gab also eine Reihe von Teilnehmern, die aus der einen oder anderen Hinsicht – einen gemeinsamen Nenner wollten wir nicht – kaum in die Poetik und Hermeneutik-Szene gepasst hätten. Poetik und Hermeneutik war der Neuanfang im Sinn des Historismus: Jetzt würde die Aufklärung in Deutschland zu einem Ende geführt. Dubrovnik war Protest gegen Hermeneutik als Implikation des historischen Weltbilds. F. E.: Und wie verhält es sich mit der Historisierung des Historismus? Das historische Bewusstsein hatte, als es sich in der Aufklärung herausbildete und etablierte, ein deutlich kritisches Potential insofern es die Gewordenheit und somit Vergänglichkeit von Ordnungen aufzuweisen vermochte. Diese ordnungs­delegitimierende Funktion ging – man denke an das 19. Jahrhundert und die nationale Selbstvergewisserung mittels Geschichtskonstruktion – mit einer ordnungsstabilisierenden einher. Wie ließe sich das kritische Potential des historischen Bewusstseins in der »breiten Gegenwart« oder im Posthistoire erhalten? Und vermag der Mensch auf den ordnungsstabilisierenden Faktor überhaupt zu verzichten?

19 Bernard Cerquiglini/Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.), Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe, Frankfurt a. M. 1983. 20 Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen; sowie ders./K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturhistorischen Diskurselements, Frankfurt a. M. 1986. 21 Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988.

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H. U. G.: Mein Text Schicksalfrei leben ist zwar keine direkte Antwort auf die Frage, bietet aber auf Umwegen eine an22. Er setzt zunächst einmal voraus, dass das Problem die Überschätzung der agency ist. Die Annahme, dass man Geschichte in die Hand nehmen und entscheiden könne, ob man jetzt in Richtung rechts oder links geht, war eine Überschätzung, die auf der einen wie auf der anderen Seite zu skandalösen totalitären Konsequenzen geführt hat. Man sollte die menschliche agency nicht so überschätzen und sich erst einmal auf bescheidenere Ziele einigen. Welche kleinen Schritte kann man tun, damit die Menschheit überlebt? Es gilt – und ich verwende jetzt einmal dieses dicke, fette und klebrige Wort – das »Schicksal« zu akzeptieren. Das ist nun kein raunend-waberndes »Geschick« im Heidegger’schen Sinne, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass es Dinge und Potenziale gibt, die außerhalb unserer agency liegen: die Erderwärmung, die Menge der verfügbaren Rohstoffe, die demographische Entwicklung. Ich wende mich polemisch gegen den Historismus, weil er mit der Utopie des schicksalsfreien Lebens einhergeht. Alles ist machbar, aber wir machen nicht viel. F. E.: Ich komme nochmals auf Dubrovnik und Poetik und Hermeneutik zurück, um den Zusammenhang zu Posthistoire und zur Historisierung des Historismus deutlicher herauszuarbeiten. Nun kann man zwar von ödipaler Reaktion sprechen, aber handelt es sich bei diesem Bruch mit der Vorgängergeneration und deren historistischem Weltbild nicht doch auch wieder um einen typisch modernen Bruch mit der Vergangenheit, an dessen Stelle dann, wenn man denn das Posthistoire postuliert, kein Bruch mehr kommen soll? Man bricht noch einmal mit der Geschichte, und dann ist das Ende der Geschichte da und danach kann nichts mehr kommen. H. U. G.: Klar, insgesamt war ich schon eine ziemlich ödipale Gestalt, nicht nur im Verhältnis zu diesem seltsamen Doktorvater, sondern letztlich auch in Hinsicht auf meine leiblichen Eltern. Das hat aber sehr viel damit zu tun, 1948 in diesem Land geboren zu sein. Wenn ich mich jetzt frage, was sind die Diskontinuitäten, auf die ich in aller Naivität stolz bin, dann ist das zum Beispiel meine Rolle als public intellectual und nicht nur als Wissenschaftler, als jemand der in verschiedenen Kontexten irritiert und den Begriff des »riskanten Denkens« lanciert hat. Eine Diskontinuität in diesem Stil ist mir wichtig, das heißt also, dass man andere Leser erreicht, dass man in einer bestimmten Weise reden und schreiben kann und sich in einer bestimmten Weise nicht ganz ernst nimmt. Es ging uns auch tatsächlich um die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, um Friedrich Kittler zu zitieren. Ich habe nun ganz bewusst erst einmal diese existentielle Dimension betont, denn es findet ja nicht beständig eine Reflexion darüber statt, ob die Gegen22 Hans Ulrich Gumbrecht, Gleichheit. Schicksalsfrei leben, in: Schweizer Monat 1025 (2015), S. 54–61.

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wart jetzt Posthistoire sei oder nicht. Es gibt vielmehr einen starken und naiven Ehrgeiz, Diskontinuitäten zu erzeugen und in diesem Sinne bin ich tatsächlich sehr historistisch. Ich weiß des Weiteren, dass ich beständig grand récits erzähle, denn natürlich ist Nach 1945, ja selbst 1926 ein grand récit. Ich komme da nicht ganz heraus und ich denke, der Ehrgeiz, die Fixierung auf Diskontinuität ist ein Symptom für einen nicht gewählten, sondern eben vorhandenen Chronotopen. F. E.: Weshalb taucht der Begriff des »Posthistoire« nicht mehr auf, weshalb wurde er durch »breite Gegenwart« ersetzt? H. U. G.: Das lässt sich zumindest auf einer Ebene recht einfach beantworten. Denn sehr viele Innovationen fangen damit an, dass man sie Post-BindestrichIrgendetwas nennt. F. E.: Das war ja besonders in den 1970er und 1980er Jahren en vogue. H. U. G.: Aber dann war es mir wichtig, an der Stelle von Post-Post-Post einen Begriff zu finden, ihn auf eine spezifische Beobachtung zu beziehen. Ich habe immer noch keinen guten Begriff, denn »breite Gegenwart« bezieht sich ausschließlich auf eine temporale Dimension, und ich hätte gerne einen Begriff, der alle drei einschließt und umfasst. F. E.: Was halten Sie von hodiernity? Zwar ist das sehr nah an Moderne beziehungsweise modernity aber hodiernus trifft doch einen wichtigen Aspekt der »breiten Gegenwart«. H. U. G.: Ganz schön, aber man müsste immer eine Fußnote setzen, um zu erklären, dass es nicht im Sinne von Moderne gemeint ist. Mich hat neulich jemand in Lüneburg gefragt, was, meiner Meinung nach, nach der breiten Gegenwart kommen könnte. Ich fand es interessant, dass die Frage so gestellt wurde. Denn die Frage ist ganz geschichtsphilosophisch im hegelianischen Sinn – indiziert sie doch auf einer relativ banalen empirischen, aber doch interessanten Ebene, dass die Feststellung, wir seien irgendwie am Ende des Historismus angekommen, mittlerweile nicht mehr so neu ist. F. E.: Bleiben wir noch kurz bei den Begriffen, und zwar bei jenem des Chronotops. Ihrer Verwendung liegt ja nicht der Bachtin’sche Chronotopos zugrunde, sondern vielmehr Bender und Wellberrys chronotype23. In der Einleitung ihres Buches Chronotypes schreiben Ihr Stanforder Kollege John Bender und Ihr ehemaliger Stanforder Kollege David Wellberry: 23 Siehe hierzu: Michail M. Bachtin, Chronotopos, Frankfurt a. M. 2008; sowie John Bender/David Wellbery, Introduction, in: Dies. (Hrsg.), Chronotypes. The Construction of Time, Stanford 1991, S. 1–15, hier S. 4.

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Chronotypes are models or patterns through which time assumes practical or conceptual significance. Time is not given but […] fabricated in an ongoing process. Chronotypes are themselves temporal and plural, constantly being made and remade at multiple individual, social, and cultural levels. They interact with one another, sometimes cooperatively, sometimes conflictually. They change over time and therefore have a history or histories, the construal of which itself is an act of temporal construction.

Wenn man also Zeitlichkeit, ein Historizitäts- oder Zeitregime oder, gemäß Ihrem Gebrauch, einen Chronotop als Ergebnis eines gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses begreift, wird die Diffusion eines Begriffs zu einem zentralen Faktor bei der Etablierung eines bestimmten Zeitlichkeitsverständnisses. Welche Rolle spielen also Ihre »Sprechakte« zu Posthistoire und zur »breiten Gegenwart« bei der Herausbildung dieser »breiten Gegenwart« selbst? Bringen Sie also, in Anlehnung an Austins How to Do Things with Words24, dieselbe dadurch erst hervor? H. U. G.: Benders und Wellberrys Buch habe ich mir gekauft, unmittelbar nachdem es erschienen ist. Ich wusste also, dass es existiert, aber ich hatte es tatsächlich bis zu diesem Moment total vergessen. Dennoch hätte ich irgendwann genau diese Stelle zitieren können. Das Zitat ist natürlich eine Momentaufnahme aus der Hochphase des Konstruktivismus, als man noch unter dem Eindruck des späten Wittgenstein und des ganzen linguistic turn stand und so ungeheuer gern von »gesellschaftlichen Konstruktionen« von allem Möglichen sprach. Natürlich wirkt sich die Erfindung solcher Begriffe realitätsprägend aus. F. E.: Das wäre in meinem Verständnis das, was Gadamer mit seinem »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« eigentlich meint. Es wird ein Begriff für etwas gefunden, was noch konturlos und un(be)greifbar ist. H. U. G.: Es ist durchaus auch mit dem vereinbar, was meine amerikanischen Kollegen meine »earthy version of Heidegger« nennen: Sein ist eben keine hermeneutische Dimension, sondern Sein ist ontisch. Sein ist also eher das Sein dieser einen Brille, als das Sein von Brillen überhaupt. Und in diesem Sinne gewinnt das Sein durch Begrifflichkeit erst Konturen und eine Zuhandenheit, um weiter Heidegger zu deklinieren. Das ist sicher richtig, aber eben nicht in dem Sinn, den Siegfried J. Schmidt damals »radikalen Konstruktivismus« genannt hat und mit dem Luhmann auch immer geliebäugelt hat, ohne sich ganz auf diese Möglichkeit zu verlassen. Es gibt bei Luhmann immer einen Restbestand von epistemologischem Realismus. Und wenn man den Gadamer-Satz so versteht, dann wäre das, glaube ich, aus heutiger Perspektive eine vernünftige 24 John L. Austin, How to Do Things with Words. The William James Lectures Delivered at Harvard University in 1955, Cambridge 1962.

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Position. Damit sind wir wieder bei dem angelangt, was wir vorher im Hinblick auf agency und Schicksal besprochen haben: Ich kann ein moralistisches Geschichtchen zur Erderwärmung erfinden oder nicht, sie bleibt jedenfalls jenseits unser Verfügbarkeit, wir können es nicht ändern. Das bedeutet auf der anderen Seite aber nicht, dass man sich in einer Wagner’schen Ekstatik ergibt und es für das Schönste erklärt, mit der Nationalflagge auf der Brücke zu ersaufen. F. E.: Weil der Name Heidegger gerade nochmals gefallen ist, würde ich Sie gerne zu Ihrer Sicht auf die Parallelen zwischen den 1920er Jahren und den 1970er und 1980er Jahren befragen. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der in den 1920er Jahren grassierenden Krise des Historismus und der Etablierung des Chronotopos Posthistoire seit den 1970er Jahren?25 Handelt es sich bei der Desorientierung, die sich seit den 1970er Jahren feststellen lässt, möglicherweise um das Wiederhervortreten jener Problemkonstellationen, die im Anschluss an den Ersten Weltkrieg und der von ihm ausgelösten Erschütterung des Fortschrittsnarrativs virulent waren und die in den 1950er und 1960er Jahren zwar latent vorhanden, aber durch den Zwang zum Wiederaufbau und durch den Wohlstand verdeckt wurden? H. U. G.: Für mich stellt sich das als eine Art Chiasmus dar. Die erste und rein phänomenale Parallele ist, dass sowohl die 1920er als auch die Jahre zwischen, sagen wir, Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er von einer Krise gekennzeichnet waren. In den 1920er Jahre ereignete sich eine existentielle Krise. Nach dem Ersten Weltkrieg fühlten die Menschen, dass sie keinen Boden mehr unter den Füßen hatten. Daraus erwuchs die Sehnsucht nach einer neuen Mythologie. Was sich in den 1970ern ankündigte, war eine Krise der totalen agency, die auch eine Krise des radikalen Konstruktivismus war. Denn wer radikaler Konstruktivist ist, braucht keine Grenzen der agency anzuerkennen. Die Welt erscheint wie eine Knetmasse, aus der sich alles machen lässt. Die Frage nach größerer epistemologischer und existenzieller Realität kommt erst später; erst dann nämlich, wenn man sich nach Verbindlichkeit sehnt, ohne Anhaltspunkte für sie zu haben. Die erstaunliche Produktivität jener Jahre zeigt sich in der intellektuellen Produktivität der Dekonstruktion, die ja, wie alles in jener Zeit, dem linguistic turn und mithin potenziell dem Konstruktivismus zuzurechnen ist. Es gibt in der Dekonstruktion aber immer eine eigenartige Melancholie angesichts dieses linguistic turn: Ist es nicht ungerecht, dass wir nicht aus der Sprache heraus können? Ganz im Sinne jener wiederholten Geste von Camus, dass die Nicht-Existenz Gottes ein Unrecht gegenüber dem Menschen sei. Und nun wird vielleicht deutlicher, was ich mit Chiasmus meine, denn diese 25 Zur Krise des Historismus siehe etwa: Otto Gerhard Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne, in: Ders. (Hrsg.), Krise des Historismus, Krise der Wirklichkeit: Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, S. 11–116.

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Melancholie ist langfristig gesehen eine Stimmung der 1920er Jahre und eine Reaktion auf das Zeitalter der Totalitarismen vor allem der 1930er Jahre. Wenn man sich etwa mit Hilfe des Schlögel-Buchs das Moskau des Jahres 1937 vor Augen führt: Da herrschte die Vorstellung einer totalen agency vor26. Wir erschaffen einfach die Stadt unserer Träume, wir führen Geschichte herbei. Der Totalitarismus war auch ein Höhepunkt von agency. Ein intellektuelles Äquivalent ist der späte Wittgenstein  – obgleich gerade Wittgenstein ganz ohne Verdacht einer Sympathie für die politischen Totalitarismen ist. Aber philosophisch gesehen ist der späte Wittgenstein so etwas wie ein Totalitarist. Alles ist ein Sprachspiel, also ist alles eine gesellschaftliche Konstruktion von X. Hier wie dort hat dies einen kurzen Moment ungeheurer Freiheit und auch der Selbstermächtigung entstehen lassen. F. E.: Wenngleich es ja bei Wittgenstein auch den einschränkenden Satz gibt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«27 H. U. G.: Das ist zwar so ein Kalenderblattsatz, aber in der Tat ist es diese Art von Sätzen, die dem konstruktivistischen Totalitarismus bald Begrenzungen auferlegten. Es gibt etwas, worüber wir nicht sprechen können, aber es existiert dennoch. Das ist kein radikaler Konstruktivismus mehr. Es gibt etwas, zu dem man von innerhalb des Textes nicht vorstoßen kann, man wird niemals über diese Grenze gehen. Wie man auch als Intellektueller nie über diese Grenze der Diskurse hinauskommt. Wenn man behaupten will, dass das 20. Jahrhundert das Zeitalter der totalitaristischen Ideologien war, dann wären die 1920er Jahre der Eingang und die 1970er und 1980er der Ausgang. F. E.: Ich möchte zum Ende unseres Gespräches noch auf eine Stelle aus Nach 1945 zu sprechen kommen, die ich extrem pessimistisch finde. Auf Seite 60 heißt es dort: Die Lebensbedingung hunderter Millionen Menschen in den Nachkriegsgesellschaften hatte sich objektiv verbessert, aber ihre Existenz hatte jeden ihrer einst strahlenden Horizonte verloren und viel von ihrer Intensität eingebüßt. Die Menschheit als historischer Prozess erstarrte zunehmend in scheinbar unsichtbaren Bedingungen, die nicht verschwinden wollten. […] Die Zeit scheint für uns heute eine neue Struktur aufzuweisen und sich in einem Rhythmus zu entfalten, der sich von der historischen Zeit unterscheidet, wie sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert vorherrschte. In diesem neuen Chronotopen, für den wir keinen Namen haben und in dessen Form wir, oft ohne es überhaupt zu merken, leben, sind Handlungsfähigkeit, Gewissheit und die historische Bewegung der Menschheit zu schwachen Erinnerungen verblasst. Was uns bleibt sind nur ein ungestilltes Verlangen, Unsicherheit und Orientierungslosig26 Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008. 27 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, § 7, in: Ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1999, S. 85.

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keit. Zugleich bedroht uns eine Zukunft, die wir uns gewiss nicht ausgesucht haben. Es gibt weder ein Entrinnen noch eine genaue Vorstellung davon, an welchem Punkt wir uns gerade befinden oder wo wir sein sollten.28

Eine düsterere, kulturpessimistischere Gegenwartsdiagnose scheint mir kaum möglich. Welche Konsequenzen wären daraus zu ziehen und ließe sich ein Leben in der Kontingenz nicht auch positiver fassen? Wie ließe sich das kritische Potential des Historismus aufrechterhalten bei gleichzeitigem Verzicht auf seine ordnungsstabilisierenden und mythenstiftenden Fallstricke? Jürgen Kaubes Nachruf auf Henning Ritter trug den schönen Titel Aufklärung ohne Ret­ tungsversprechen. Gibt es eine Aufklärung ohne Rettungsversprechen?29 H. U. G.: Ich möchte dafür nicht den Begriff Aufklärung verwenden. Und zwar weil es – nicht begriffsgeschichtlich, sondern begriffsstrategisch oder begriffsökonomisch – Begriffe gibt, die so oft und erfolgreich in verschiedenen Bedeutungen angeführt worden sind, dass man, wenn man sie selbst benutzt, immer sagen muss, ich meine ihn so und nicht so. Aufklärung klingt für mich nach gymnasialem Gemeinschaftskundeunterricht. Der Begriff ist nicht mehr zu retten. Der wird nicht mehr strahlen. Ich komme stattdessen nochmals auf den vorher angeführten Begriff des Schicksals zurück und auf die Ambivalenz von Schicksal und schicksalsfrei. Das kann positiv gewendet bedeuten, man stemmt sich, soweit es geht, gegen bestimmte Dinge, die außerhalb der agency liegen, ohne dabei naiv zu sein. Die andere Reaktion, die mir als Individuum nicht liegt, ist so eine Art: »Wenn etwas nie ganz vollkommen wird, kann es auch gleich ganz entsetzlich sein.« Ich glaube, dies genau ist der Punkt, dem man sich widersetzen muss. Zum Beispiel werden sich die Klimabedingungen verändern. Wie Sie sehen, haben mich die letzten zwei Jahre Trockenheit in Kalifornien sehr beeindruckt. F. E.: Haben Sie Ihren Rasen auch streichen lassen? H. U. G.: Naja, meine Frau hat in weiser Voraussicht andere Pflanzen ausgesucht. Man fährt jedenfalls durch das Land und sieht, die Landschaft hat vor zwei Jahren anders ausgesehen. Und es gibt keine Garantie, dass der Rasen je wieder von der Natur grün gestrichen wird. Man kann sich gegen bestimmte Dinge stemmen. Nehmen wir beispielsweise die Antibabypille, die mein Stanforder Kollege Carl Djerassi erfunden hat. Die hat ungeheuer viel verändert, einen großen Unterschied gemacht. Es gilt, solche Dinge einzusetzen, ohne dem Glauben zu verfallen, dass sich das dann akkumulieren muss zu einer Heilserwartung, zu einer 28 Gumbrecht, Nach 1945, S. 60 f. 29 Jürgen Kaube, Aufklärung ohne Rettungsversprechen. Die Denkfigur, die einem ein Licht aufsteckt: Zum Tod unseres Kollegen Henning Ritter, in: FAZ vom 25.6.2013, Nr. 144, S. 25.

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Erlösung. Das heißt auch, sich diese Erlösungsillusionen zu verbieten. Selbst – und vor allem – in Deutschland. Was ich »Verwunschensein« nenne, ist keine Bedingung, die durch Beschluss des Bundestags oder des Historikerverbandes bereinigt werden kann. Das dauert Zeit und irgendwann wird wahrscheinlich die Stimmung des Verwunschenseins nachlassen. Aber ich denke, je mehr es durch Beschluss herbeigeführt werden soll, desto weniger wird es geschehen.

Autorinnen und Autoren Dr. Tobias Becker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut London, wo er zur »Nostalgie-Welle« in den 1970er und 1980er Jahren arbeitet. Veröffentlichungen: (mit Daniel Morat, Kerstin Lange, Johanna Niedbalski, Anne Gnausch und Paul Nolte), Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930, Göttingen 2016; Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880–1930, München 2014. Dr. Fernando Esposito ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Zeitgeschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, wo er zum Ungleichzeitigkeitsdenken und zur chronopolitischen Praxis in der Industriemoderne arbeitet. Veröffentlichungen: (Hrsg.), Fascist Temporalities. Themenheft des Journal of Modern European History 13/1 (2015); Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Anselm DoeringManteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer(Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 393–423. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist der Albert Guérard Professor in Literature an der Stanford University. Er lehrt und schreibt (akademisch und feuilletonistisch) vor allem über die romanischen Literaturen, »kontinentale« Philosophie und die Ästhetik des Sports. Veröffentlichungen: Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010; Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012. Lukas J. Hezel studierte von 2008 bis 2015 in Tübingen und Puebla (Mexiko) Geschichte, Anglistik und Romanistik. Von 2013 bis 2016 war er als Hilfskraft am Lehrstuhl von Prof. Anselm Doering-Manteuffel am Seminar für Zeitgeschichte in Tübingen tätig. Seit Frühjahr 2016 arbeitet er an einem Dissertationsprojekt zum Thema »Das Staatsdenken der globalisierungskritischen Bewegungen« bei Prof. Julia Angster (Universität Mannheim). Dr. Achim Landwehr ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die europäische Geschichte der Frühen Neuzeit, Kulturgeschichte, Geschichtstheorie und die Geschichtskultur der Gegenwart. Veröffentlichungen: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014; Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016; Blog: http://meinjahrmitluther.wordpress.com.

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Autorinnen und Autoren

Dr. Chris Lorenz war Professor für Philosophie der Geschichte an der Universität Leiden sowie an der Vrije Universiteit Amsterdam und ist zurzeit International Research Associate an der Ruhr Universität Bochum. Veröffentlichungen: Entre Filosofía e Historia. Volumen 1: Exploraciones en Filosofía de la Historia, Buenos Aires 2015; gemeinsam mit Berber Beverage (Hrsg.), Breaking Up Time. Negotiating the Borders between Present, Past and Future, Göttingen 2013. Dr. Silke Mende ist akademische Rätin auf Zeit am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen, wo sie zur Geschichte der Francophonie von den 1880er bis 1960er Jahre arbeitet. Veröffentlichungen: »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011; Von der »Anti-Parteien-Partei« zur »ökologischen Reformpartei«. Die Grünen und der Wandel des Politischen, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 273–315. Dr. Elke Seefried ist zweite Stellvertretende Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin und Professorin für Neueste Geschichte an der Universität Augsburg. Veröffentlichungen: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945–1980, Berlin u. a. 2015; (Hrsg.), Politics and Time from the 1960s to the 1980s. Themenheft des Journal of Modern European History 13/3 (2015); Bruch im Fortschrittsverständnis? Zukunftsforschung zwischen Steuerungseuphorie und Wachstumskritik, in: Anselm Doering-Manteuffel/ Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 425–449.