Das arbeitslose Subjekt: Genealogie einer Sozialfigur in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland nach dem Boom [1 ed.] 9783666363313, 9783525363317

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Das arbeitslose Subjekt: Genealogie einer Sozialfigur in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland nach dem Boom [1 ed.]
 9783666363313, 9783525363317

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Wiebke Wiede

Das arbeitslose Subjekt Genealogie einer Sozialfigur in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland nach dem Boom

Nach dem Boom Herausgegeben von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Wiebke Wiede

Das arbeitslose Subjekt Genealogie einer Sozialfigur in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland nach dem Boom

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Arbeitslose vor dem Arbeitsamt II, Sonnenallee 262, Berlin, 8. Februar 1982. © Bundesarchiv (B 145 Bild-P109963) Satz: textformart, Göttingen Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-7246 ISBN 978-3-666-36331-3

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Arbeitslose – die Archäologen der Gesellschaft . . . . . . . . . . 11 2. Spuren des Subjekts: methodische Perspektiven und historische Bruchstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

II.

Konstitution eines Gegenstandes: Wissen und Nicht-Wissen über Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . 37 1. Kollateralschäden ökonomischer Theorie: Arbeitslose im Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.1 Unscharfe Diagnosen: Wirtschaftstheorien und Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . 40 1.2 Mischkalkulationen bundesdeutscher Wirtschaftspolitik . . 44 1.3 Neokonservatives Kalkül: Wirtschaftsliberalismus in Großbritannien . . . . . . . . . . 47 1.4 Arbeitslose Subjekte im Übergang . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Arbeitslosenstatistik: Subjektivierung durch Objektivierung . . 51 2.1 Die Arbeitslosenstatistik der Bundesrepublik: Residuen von Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.2 Britische Rechenspiele: Manipulation einer ökonomischen Kennziffer . . . . . . . . 62 3. Genealogie einer Subjektivierungsform: Der Belastungsdiskurs und der unternehmerische Arbeitslose . . 70 3.1 Arbeitslosigkeit als psychosoziale Belastung . . . . . . . . . 74 3.2 Das Ende des Belastungsdiskurses und die unternehmerischen Arbeitslosen . . . . . . . . . . . 84

III. Auf dem Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

1. Reform und Regulierung: von präventiven zu kurativen Arbeitsmarktpolitiken . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1.1 Arbeitsmarktpolitiken in der Bundesrepublik: Vom Aufstieg zur Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1.2 Arbeitsmarktpolitiken in Großbritannien: Vom markt­ abhängigen Laissez-faire zur marktgesteuerten Kontrolle . . 110

6

Inhalt

2. Arbeitsverwaltungen unter Druck: Reform und Überlastung . . 118 2.1 Reform der Arbeitsverwaltung in der Bundesrepublik: Gebremste Verwissenschaftlichung . . . . . . . . . . . . . . 118 2.2 Arbeitsvermittlung: Zwischen Paternalismus, Professionalisierung und Überforderung . . . . . . . . . . . 125 2.3 Arbeitsverwaltung in Großbritannien: Liberaler Zentralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2.4 Die britischen Jobcenter: unverbindliche Selbstbedienung . . 133 3. Vor Ort: Taktiken und Aushandlungen . . . . . . . . . . . . . . 140 3.1 Standardisierung von Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.2 Ärger auf dem Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3.3 Aushandeln von Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3.4 Zur Nummer werden: die Ordnung des Wartens . . . . . . . 157 3.5 Im Job Shop: unverbindliche Selbsthilfe . . . . . . . . . . . 163 3.6 Arbeitsmärkte und ihre Grenzen: Verwaltung und Nicht-Verwaltung arbeitsloser Migrantinnen und Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3.6.1 Migrantische Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik: Wenn Arbeit kein Argument mehr ist: das disponible Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3.6.2 Postkoloniale Marktliberalität in Großbritannien: Zwangslagen an der Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . 178

IV. Vor Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

1. Das Recht und die Arbeitslosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1.1 Foucault, das Recht und die Arbeitsgesellschaft . . . . . . . 189 1.2 Sozialrecht und die Subjektivierung des Rechts in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . 191 1.3 Social Security Law und die Zunahme sozialer Kontrolle in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . 199 2. Verhandlungen von sozialer Akzeptanz: Zumutbarkeit von Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2.1 Vom Qualifikationsschutz zur Verteidigung der Grundrechte in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . 209 2.2 Von Vertragssubjekten und Handelspartnern in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. Zum Recht verhelfen und Recht bekommen: Initiativen von Rechtsberatung und Rechtsbeihilfe . . . . . . . . 229 3.1 Bundesrepublik: prekäre Erziehung zur Mündigkeit . . . . . 230 3.2 Großbritannien: Subjektwerdung in inkohärenten Rechtskontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

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Inhalt

V.

Heterotopien, Gegen-Verhalten, Protest – der Arbeitslosigkeit entwischt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. Pop und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 1.1 Das Beste aus einer schlechten Situation machen: Pop und trübe Aussichten in den 1970er-Jahren . . . . . . . 246 1.2 Musikalische Resignation: Popmusik und Arbeitslosigkeit in den 1980er-Jahren . . . . 258 2. Auf der Straße: Lähmung statt Auflehnung . . . . . . . . . . . . 260 2.1 Befriedet in der Konfliktpartnerschaft: Arbeitskämpfe in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . 262 2.2 Straßenproteste in Großbritannien: Ohnmacht und Repression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 3. Selbsthilfe und Arbeitslosenprojekte in der Defensivhaltung: wer ist schon gerne arbeitslos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 3.1 Bundesrepublik: Professionell betreut durch die Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 3.2 Großbritannien: Konflikt und Initiative . . . . . . . . . . . . 291 4. Taktiken der Unterlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 4.1 Faulheitsvorwürfe – Faulheitspraktiken . . . . . . . . . . . . 303 4.2 Offensives Nichtstun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

VI. Soziale Mobilität oder der fast unaufhaltsame Abstieg

der Arbeitslosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

1. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Jugend und Krise . . . . . 329 1.1 Was bin ich? Berufswunsch und Notwendigkeitsarbeit . . . 333 1.2 Die Unbillen des Zertifikats: die Effekte zunehmender Bildungsnormen in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

1.2.1 Loyale Verlierer: gering qualifizierte Männer . . . . . . . . 343 1.2.2 Bescheidene Realistinnen: gering qualifizierte Frauen . . . 349 1.2.3 Assimilationspflichten jugendlicher Migrantinnen und Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . 358

1.3 Gelegenheitsmanagement: Chancen nutzen in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . 363

1.3.1 Self-made Typen: gering qualifizierte Männer . . . . . . . . 365 1.3.2 Ausweglose Abhängigkeiten: gering qualifizierte Frauen . 374 1.3.3 Überformte Diskriminierung schwarzer Jugendlicher . . . 381

2. Arbeitsbedingte Erschöpfung: Versehrte der Rationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 2.1 Frührente und Vorruhestand: Entlastung des Arbeitsmarkts in der Bundesrepublik . . . . 385

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Inhalt

2.2 Ungleichheit im Alter: Effekte von Privatisierungspolitiken in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 2.3 Abschied vom Malocher. Arbeitsbedingte Erschöpfung in der Montanindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 3. Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt: disqualifizierende Armut von Arbeitslosen . . . . . . . . . . . . 398 VII. Das arbeitslose Subjekt: Fährten in die Gegenwart . . . . . . . . . . 415

1. Diffamierung und Disqualifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . 415 2. Autonomie in der Defensive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 3. Subjektivierung nach dem Boom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Archivalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Hilfsmittel und Bibliographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Parlamentsprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Videos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Zeitungen und Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Gedruckte Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489

Vorwort

Diese wissenschaftliche Arbeit wurde als Habilitationsschrift im Fachbereich III der Universität Trier im Sommersemester 2022 angenommen. Für ihre Gutachten danke ich Prof. Dr. Lutz Raphael, Prof. Dr. Christian Jansen (beide Universität Trier) sowie Prof. Dr. Stefan Berger (Institut für soziale Bewegungen / Ruhr-­ Universität Bochum). Prof. Dr. Lutz Raphael danke ich darüber hinaus herzlich für die jahrelange Förderung als wissenschaftliche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl sowie im Forschungsprojekt »Nach dem Boom. Forschungen zur Entwicklung westeuropäischer Industriegesellschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhundert«, das durch Leibniz-Preisgelder der DFG finanziert wurde. Zudem wurde dieses Werk durch zwei Stipendien des Deutschen Historischen Instituts in London mit Mitteln des BMBF gefördert.

I. Einleitung

1. Arbeitslose – die Archäologen der Gesellschaft »Arbeitslose sind Arbeitssuchende, also äußerst wichtig als Archäologen der Gesellschaft,« so der Theaterregisseur Christoph Schlingensief im Januar 1998 in einem Zeitungsinterview.1 Im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 kündigte er einen »Wahlkampf für Arbeitslose« an und veranstaltete in den folgenden Monaten vorwiegend am Ostberliner Prater einen als Theaterspektakel aufgezogenen »Wahlkampfzirkus« der fiktiven Partei »Chance 2000«, deren Slogan im Bundestagswahlkampf 1998 »Wähle Dich selbst!« war.2 Diese Partei solle eine »ICH-Partei« sein, eine »Selbstbewußtseinsmaschine«, die »dazu auffordert, wieder Selbstbewußtsein zu haben, sich zu beweisen, sich zu sagen, ja (…) ich bin ein Mensch«. Die Partei, so heißt es in Floskeln, die zeitgenössischer populärpsychologischer Marketingliteratur und Lebensratgebern entnommen sein könnten, »managt Selbstbewußtsein und Selbstdarstellung«, begreife »Scheitern als Chance« und ermutige dazu »sich selbst darzustellen, um wieder wer sein zu können.« Schlingensiefs Kunstaktion war Ausdrucks- wie Distanzierungsmoment einer gegenwärtig gern als »neoliberal« apostrophierten Selbstoptimierung, die, so die einschlägigen Topoi, in allen Lebenslagen dazu auffordern würde, glücklicher, fitter, gesünder, flexibler, marktkonformer zu werden. Schlingensiefs »Schabernack« (Harald Schmidt) ging aber über eine ironische Imitation neoliberal-aktivierender Schlagworte hinaus. Er kritisierte vor allem die eingefahrenen politischen Routinen der späten Kohl-Ära und setzte dem in Anlehnung an Joseph Beuys die »Selbstdarstellung als politische Intervention« entgegen.3 Schlingensief inszenierte den eigenen Aktionismus, gleichwohl hatte sein Klamauk sozialkritisches Potential und spielte mit bundesdeutschen Wohlstandsklischees. Zu den Aktionen der »Chance 2000« zählten eine Shoppingtour von Arbeitslosen und als behindert eingestufter Menschen im Berliner »Kaufhaus des Westens« oder gemeinsames Schwimmen von Arbeitslosen im öster1 »Sind wir auf Sendung? Sind wir noch da?«. Interview Marcus Grill mit Christoph Schlingen­sief, in: taz, 15.01.1998, https://taz.de/Archiv-Suche/!1363991&s=arbeitslose%2B arch%C3%A4ologen&SuchRahmen=Print/, 30.01.2023; zum Weiteren vgl. auch: Christoph Schlingensief / Carl Hegemann, Chance 2000. Wähle Dich selbst, Köln 1998. 2 Zitate im Folgenden aus (in der Reihenfolge ihrer Nennung): ebd., S. 18, 116, 27, 18, 80. 3 Hierzu: Franziska Schößler, Drama und Theater nach 1989. Prekär, interkulturell, intermedial, Hannover 2013, S. 243–248; zur Rezeption von Marketingliteratur durch Schlingensief: Antje Hoffmann, Scheitern als Chance. Zur Dramaturgie von Christoph Schlingensief, in: Peter Reichel (Hrsg.), Studien zur Dramaturgie. Kontexte, Implikationen, Berufspraxis, Tübingen 2000, S. 217–311.

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Einleitung

reichischen Wolfgangsee, dem allseits bekannten und jährlich medial idyllisch präsentierten Urlaubsdomizil von Kanzler Kohl. Angekündigt war, den See mit sämtlichen Arbeitslosen der Bundesrepublik, kolportiert wurde die Ziffer von »sechs Millionen«, zum Überlaufen zu bringen. Schlingensief ging es um die öffentliche Sichtbarmachung von Arbeitslosen und die Anerkennung ihrer Würde. In seinen Kunstaktionen zeigte er, dass die bundesdeutsche Gesellschaft mit der Ausgrenzung von Arbeitslosen eine soziale Gruppe als Entbehrliche deklariert hatte, die ihre Identität als moderne Arbeitsgesellschaft in Frage stellte, als Arbeitslose aber auch Vorbote zukünftiger Entwicklungen seien oder, wie Schlingensief es formuliert, Archäologen der Gesellschaft. Arbeitslose seien Suchende, und zwar Arbeit Suchende, so Schlingensief. Arbeitslose suchten Arbeit nicht nur, indem sie Stellenanzeigen durchforsteten, sondern sie mussten die Gesellschaft als solche nach Arbeit durchsuchen, gesellschaftliche Schichten und Verschüttetes freiräumen, um dahin vorzudringen, wo Arbeit nachgefragt würde und ihnen Arbeit möglich sei. Arbeitslose legten unterirdische Fundamente der Gesellschaft als Arbeitsgesellschaft frei. Demnach seien Arbeitslose konstitutiv für die Gesellschaft, die sie ausgrenzt. Zudem hielten Arbeitslose diese Gesellschaft stabil und entwicklungsfähig, indem sie sozialverträglich lebten und ihrer Arbeit der Arbeitssuche nachgingen. Arbeitslosigkeit sei als »Beruf« anzuerkennen. Die von Schlingensief verwendete Metapher der Arbeitslosen als Archäologen der Gesellschaft lässt sich assoziativ weiterspinnen, denkt man an die Archäologie als methodische Perspektive historischer Anthropologie. Michel Foucault verwendet den Begriff der Archäologie, um an die Stelle einer hermeneutischen Ideengeschichte, eine Geschichte diskursiver Formationen zu setzen, die konkrete Möglichkeitsbedingungen von Wissensbeständen und Aussagen innerhalb ökonomischer Prozesse oder gesellschaftlicher Beziehungen rekonstruierbar macht. Nicht nach klassischen Fachdisziplinen gegliedert, macht sich eine historische Archäologie, laut Foucault, auf die Suche nach den »verschiedenen Positionen des Subjekts« und den mit ihnen korrelierenden, wissenshistorischen und sozialen Konstellationen.4 Querschnitthaft werden die historisch-strukturellen Schichten freigelegt, die Ablagerungen sozialer Machtverhältnisse und ihre Brüche hervortreten lassen. Eine so verstandene »Archäologie des Wissens« trägt in vielem bereits sozialhistorische Züge und lässt sich als methodisch perspektivenreiche historische Betrachtung sozialer Phänomene und Strukturen ausarbeiten. Der Alltagsgeschichte ähnlich, wendet sie sich dem Nebeneinander und den Vielschichtigkeiten historischer Phänomene zu, um die historischen Spuren von Subjekten in ihrer Unfertigkeit sichtbar zu machen. Ohne empirische Validität aus dem Auge zu verlieren, gilt die historische Aufmerksamkeit dann nicht nur der strengen Regelhaftigkeit struktureller Entwicklungen als vielmehr histo­ rischen Gemengelagen, in denen sozial wie kulturell Unscheinbares und Spektakuläres gleichrangig beachtet wird. Den »Sprödigkeiten des Materials« nicht 4 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt / Main 41994, S. 295.

Arbeitslose – die Archäologen der Gesellschaft

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auszuweichen und »das Fragmentarische« nicht vorschnell synthetisierend zu überdecken, wäre das Anliegen einer, wenn man es so nennen will, »Archäologie des Sozialen«, die strukturelle und situative Bedingungen von Subjektivierung lesbar machen möchte.5 Für Schlingensief war die Arbeitslosigkeit in seiner Gegenwart der Jahrtausendwende unverrückbarer Bestandteil der bundesdeutschen Realität. Die historische Betrachtung der Massenarbeitslosigkeit der 1970er- und 1980er-Jahre, die dahin führte, ist Thema dieses Buchs. Arbeitslosenquoten, die sich in der Bundesrepublik seit Mitte der 1970er-Jahre bei knapp fünf Prozent der Erwerbstätigen bewegten und bis 1983 auf neun Prozent anstiegen, stehen für eine soziale Dramatik, die in ihrer Symbolkraft noch zu untersuchen sein wird.6 Noch drastischer stellte sich die Lage in Großbritannien dar, dem zweiten Fallbeispiel dieser Studie. Innerhalb von zehn Jahren zwischen 1973 und 1983 verdreifachte sich die Arbeitslosenquote von vier auf zwölf Prozent aller Erwerbspersonen.7 In traditionellen Revieren der Schwer- und Schiffbauindustrie kletterte die Arbeitslosenquote Mitte der 1980er-Jahre in den zweistelligen Bereich von zehn bis zu 14  Prozent (Nordrhein-Westfalen, Bremen, Saarland), in Nordengland und Wales gar bis auf 17 Prozent.8 Das Problem der Arbeitslosigkeit diffundierte in die differenten Zuständigkeiten politischer Ressorts (Arbeits-, Wirtschaftsund Sozialpolitik) und berührte die Interessen nahezu aller gesellschaftlicher Organisationen (Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Medien, Bildungseinrichtungen, Unternehmen). Der Bamberger Soziologentag von 1982 widmete sich der »Krise der Arbeitsgesellschaft« und griff damit laufende Debatten in den Politik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften über Umstrukturierungen der Arbeitswelten und ihre gesellschaftlichen Effekte auf. Die Massenarbeitslosigkeit der 1970er- und 1980er-Jahre war so etwas wie das Signum der Jahre »nach dem Boom«.9 Grundlegende Umbrüche in Arbeitsstruk5 Zitate: Alf Lüdtke, Stofflichkeit, Macht-Lust und Reiz der Oberflächen. Zu den Perspektiven der Alltagsgeschichte, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, Göttingen 1994, S. 65–80, hier: S. 68. 6 Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf. Datenbestand: Dezember 2018; zur Entwicklung in Westeuropa vgl. die Zahlen bei: Martin Werding, Einbahnstraße in die Beschäftigungskrise? Arbeitsmarktentwicklung und Arbeitsmarktinstitutionen in den OECD -Staaten seit 1960, in: Thomas Raithel / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009, S. 23–36, hier: S. 27. 7 Angaben nach: Labour Force Survey. Office for National Statistics, https://www.ons.gov. uk/employmentandlabourmarket/peoplenotinwork/unemployment, 30.01.2023. 8 Daten für England und Wales: Employment Gazette 91 (1983), 1, S. 25. 9 Zum konzeptionellen Ansatz »nach dem Boom«: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; dort zur »Krise der Arbeitsgesellschaft« S. 34–42; in Perspektive der britischen Historiographie ist die Periode des »landslide«, die Eric Hobsbawm für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts entwirft, anschlussfähig vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1994, S. 503–720.

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Einleitung

turen und Arbeitsressourcen zeichneten sich ab und rüttelten an den Grundfesten der gesellschaftlichen Nachkriegsordnungen. Anhaltende finanzielle Belastungen der sozialen Sicherungssysteme delegitimierten den Wohlfahrtsstaat. Marktwirtschaftlich begründete Kürzungen von Sozialleistungen für Arbeitslose wurden gegen sozialstaatliche Gleichheits- und Freiheitsversprechen geltend gemacht. Nicht nur die finanzielle Unterstützung für Arbeitslose kam damit auf den Prüfstand. Soziale Sicherung in Notlagen gehörte in jeweils unterschiedlicher Ausformung zu den essentiellen Bürgerrechten westeuropäischer Wohlfahrtsstaaten, die im Zuge der Debatten um Sozialleistungen für Arbeitslose in vielerlei Hinsicht neu austariert und zunehmend eingeschränkt wurden. Die im modernen Sozialstaat immer ambivalenten Adressierungen von Subjektivierung – seien es Anforderungen sozialer Aktivität oder Mobilität, Definitionen von Produktivität oder Möglichkeitsräume von Autonomie – verschoben sich für Arbeitslose in den 1970er- und 1980er-Jahre beträchtlich und durchaus in antagonistische Richtungen. Für die Betroffenen bedeutete Arbeitslosigkeit einen unter Umständen tiefgreifenden Einschnitt und Umbruch in ihrer bisherigen Lebensführung. Mal als dramatisches Ereignis in Folge einer konjunkturbedingten Betriebsschließung, mal als unauffällige Erfahrung missglückten Berufseinstiegs oder vorzeitigen Ruhestands, wurde Arbeitslosigkeit zu einem ebenso weit verbreiteten und normalen, aber normierenden Faktor von Lebensalltag und Lebensläufen. Ausgeschlossen von Sozialräumen der Erwerbsarbeit, verloren Arbeitslose neben dem geregelten Erwerbseinkommen oft lebensweltliche Sicherheiten und soziale Kontakte. Konfrontiert mit der ökonomischen und sozialen Entwertung von Lebensleistung und Qualifikation, gingen veränderte Selbstwahrnehmungen und Selbstdefinitionen über das berufliche Zurückbleiben womöglich hinaus. Bereits das Label des »Arbeitslosen« war und ist viel zu grobschlächtig, um die soziale Lage der demgemäß klassifizierten Männer und Frauen, Müttern und Vätern, Jugendlichen und Älteren, Saisonkräften und Langzeitarbeitslosen, gering Qualifizierten und Akademikern hinreichend differenziert zu beschreiben. Als Arbeitslose waren sie jedoch mit einheitlichen Subjekt-Adressierungen konfrontiert, gingen notgedrungen mit ihnen um, passten sich an, rebellierten oder versuchten, sie zu ignorieren. Sie wurden zu »arbeitslosen Subjekten« und als solche zu emblematischen Sozialfiguren ihrer von Arbeitsmarktkrisen und Strukturwandel gebeutelten Gegenwart.10 Welche Anforderungen und Ansprüche an das arbeitslose Subjekt der 1970er- und 1980er-Jahre gestellt wurden, wie sich arbeitslose Subjekte in ihrer 10 Zum Begriff der Sozialfigur, der hier als anerkannt vorläufiger Begriff nicht im Zentrum der Analyse steht, vgl. Sebastian Moser / Tobias Schlechtriemen, Sozialfiguren – zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Diagnose, in: Zeitschrift für Soziologie 47 (2018), S. 164–180; bezeichnend, dass Arbeitslose im Panorama von Sozialfiguren der 2010er-Jahre allenfalls als »Verlierer« oder »Überflüssige« Erwähnung finden, vgl. Stephan Moebius / Markus Schroer, Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010.

Arbeitslose – die Archäologen der Gesellschaft

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Arbeitslosigkeit situierten, ist Thema und Fragestellung der vorliegenden Studie. Subjektanalytisch gefragt, geht es darum, wie Arbeitslose unter den historisch spezifischen Bedingungen der 1970er- und 1980er-Jahre zu arbeitslosen Subjekten gemacht wurden bzw. sich selbst zu den Arbeitslosen machten, die gesellschaftlich als solche erwartet und akzeptiert waren.11 Es mag begrifflich inadäquat erscheinen, von einer Subjektivierung von Arbeitslosen im Sinn einer Selbstbildung zu sprechen. Zu despektierlich und unattraktiv, zu banal und unbestimmt wirkt die bürokratische Kategorie und der soziale Zustand des Arbeitslosseins. Im Vergleich zu den Annahmen historischer und soziologischer Forschungen zu Subjektformen und Selbstbildungen seit den späten 1960er-Jahren, die von sich steigender Authentizität, Selbsterfahrung und Selbstexpressivität »konsumtiver Kreativsubjekte« oder therapierter Varianten politisierter Kulturformationen ausgehen, wirkt die Perspektive einer Subjektivierung von Arbeitslosen umso belangloser.12 Doch um eine Geschichte belangloser, alltäglicher Subjektivierung geht es hier – darum soziale Praktiken und Strukturen von Subjektivierung auch da ausfindig zu machen, wo kein Akteur und keine Akteurin in seinem oder ihrem therapeutisch-emotiven »Reden über das Selbst« der Historikerin die zu analysierenden Selbstkonzeptionen und Subjektivierungsweisen quasi frei Haus liefert. Mit der Betrachtung arbeitsloser Subjekte gerät notwendigerweise die soziale Bedingtheit von Subjektivierung in den Blick. Die Selbstbildungen von Arbeitslosen sind in alltäglicher Lebensführung (zum Amt gehen, Arbeit suchen, Finanzen organisieren) ausgeprägt und als solche in Machtverhältnissen sozialer Strukturen von Fremd- und Selbstregierung verankert. Um den Begriff der Subjektivierung zu definieren, wird häufig eine Sentenz Foucaults aus einem seiner 11 Vgl. zur Subjektanalyse und -theorie: Andreas Reckwitz, Subjekt. Bielefeld 2008; ders.: Subjekt, in: Sina Farzin / Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2008, S. 288‒291; Ulrich Bröckling, Genealogie der Subjektivierung ‒ ein Forschungsprogramm, in: ders.: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt / Main 2007, S. 19‒45; Andreas Gelhard / Thomas Alkemeyer / Norbert Ricken (Hrsg.), Techniken der Subjektivierung. München 2013, S. 49‒59; Thomas Alkemeyer / Gunilla Budde / Dagmar Freist (Hrsg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013; Wiebke Wiede, Subjekt und Subjektivierung. Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 15.12.2020, http:// docupedia.de/zg/Wiede_subjekt_und_subjektivierung_v3_de_2020, 30.01.2023. 12 Vgl. Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 441–628; Maik Tändler /  Uffa Jensen (Hrsg.), Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012; Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt / Main 2014; Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen 2016; Jens Elberfeld, Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert, Frankfurt / Main, New York 2020; teilweise die Beiträge in: Pascal Eitler / Jens Elberfeld (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung, Politisierung, Emotionalisierung, Bielefeld 2015; Philipp Sarasin, 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Berlin 2021, S. 169–249.

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Einleitung

späten Texte (Subject and Power von 1982) zitiert, die Subjektivierung als eine solche machtanalytische Verschränkung zusammenfasst: »Das Wort ›Subjekt‹ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderes unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.«13 Das binär anmutende Begriffspaar von unterworfenem »subjectum« und sich selbst regierenden Subjekt gerät allerdings bei Foucault in ein produktives Ungleichgewicht, da er »Selbstführung« sowohl ethisch-normativ als auch historisch bedingt und damit entwicklungsfähig versteht.14 Genau in der gewissermaßen asymmetrischen Abwägung der Begriffsanteile werden Perspektiven auf die Zusammenhänge, Zwischenräume und Verschiebungen von Unterwerfung und Selbstführung deutlich und eröffnen sich Freiräume für die historische Analyse eines »relativ autonomen« Subjekts und seiner »Ausbildung und (…) Entwicklung einer Praxis des Selbst, die zum Ziel hat, sich selbst als Arbeiter an der Schönheit seines eigenen Lebens herauszubilden.«15 Insbesondere Forschungen aus der frühen Rezeptionsphase Foucaults in Deutschland, aber auch die angelsächsische Sozialphilosophie warfen dem vogeblichen Pessimisten Foucault »machttheoretischen Monismus« vor.16 Subjekte seien von Macht vollständig determiniert, Freiheit und Widerstand nicht möglich, da machttheoretisch quasi mit eingepreist – so beispielsweise Thomas Lemke über den frühen Foucault. Ohne die umfangreiche sozialtheoretische Debatte zum Freiheitsproblem bei Foucault hier im Einzelnen zu diskutieren, ist festzuhalten, dass genealogisch gedacht, Freiheit als Abweichung von Hegemonialität für eine prozesshaft gedachte Subjektivierung konstitutiv ist.17 Subjekte sind gerade in der historischen Analyse und mit Foucault betrachtet, zweifellos handlungsfähige Subjekte. Nicht nur, aber auch wissenschaftspolitisch bleibt zu betonen, dass man nicht ohne Not auf Handlungsautonomie und Selbstbestimmung von Subjekten verzichten sollte. Soziale Prozesse und Positionen von Subjekten sind veränderbar – das ist eine Grundannahme historischen Denkens. 13 Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV 1980–1988, Frankfurt / Main 2005, S. 269‒294, hier: S. 275. 14 Frédéric Gros, Situierung der Vorlesungen, in: Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège des France (1981/82), Frankfurt / Main 2009, S. 616–668, hier: S. 642. 15 Michel Foucault, Die Sorge um die Wahrheit, in: ders.: Schriften Band IV, S. 823–836, hier: S. 828; zum »Selbstkult«: Ulrich Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln u. a. 1998, S. 521. 16 Claudia Albert, Diskursanalyse in der der Literaturwissenschaft der Bundesrepublik. Rezeption der französischen Theorien und Versuch der De- und Rekonstruktion, in: Das Argument 25 (1983) 140, S. 550–561, hier: S. 557. 17 Vgl. zur sozialtheoretischen Debatte z. B. Karsten Schubert, Freiheit als Kritik. Sozialphilosophie nach Foucault, Bielefeld 2018; Hanna Meißner, Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx, Bielefeld 2010.

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Der Blick wird so frei für ein breites Spektrum historisch möglicher Selbstführungspraktiken, die Subjekte nicht zu willfährigen Objekten von Realfiktionen reduzieren, sondern mit hochkomplizierter Körperlichkeit, abgründigen Seelen, unkalkulierbaren Emotionen, grotesken Gedanken und kontingenten Taten rechnen und versuchen, die Tiefe (oder Flachheit) subjektiven Daseins und Agierens auszuloten. Dies gilt gerade für die so wenig aufregende und durchschnittliche Erfahrung von Arbeitslosigkeit, die doch weitreichend für die soziale Sortierung und Strukturierung moderner Arbeitsgesellschaften ist.18 In Anbetracht der offensichtlichen gesellschaftlichen Relevanz ist die historische Forschungslage zur Arbeitslosigkeit seit den 1970er-Jahren für die beiden hier untersuchten Länder, Großbritannien und die Bundesrepublik, erstaunlich überschaubar. Zur Geschichte beider Arbeitsverwaltungen als auch zu Arbeitsmarktpolitiken und zu den Arbeitslosenversicherungen liegen für beide Länder lediglich Überblicksstudien vor, die politische und institutionelle Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf nationaler Ebene nachzeichnen.19 Sie liefern erste Deutungen für die differenten Modelle und Traditionen von Arbeitsverwaltungen in beiden Ländern und ihre Entwicklung seit den 1970erJahren. Laut Christine Trampusch befand sich die britische Arbeitsverwaltung auf der »Schnellspur der Zentralisierung«, d. h. es handelte sich um eine Verwaltung, die in hohem Maß vom Staat und seinen politischen Vorgaben abhing, die wenig Einfluss auf das Politikfeld Arbeitsmarktpolitik hatte und, bei geringer 18 Aus philosophischer Sicht: Éric Lecerf, Le Sujet du Chômage, Paris 2002. 19 Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt, Nürnberg 2003; Stefan Frank, Anpassung der deutschen Arbeitsverwaltungen und Arbeitsmarktpolitik 1927–2005. Pfadabhängigkeit und Reformen, Phil. Diss. Bamberg 2008, http://www.opus-bayern.de/unibamberg/volltexte/2008/159/pdf/Frankopus.pdf, 30.01.2023; Frank Niess, Geschichte der Arbeitslosigkeit. Ökonomische Ursachen und politische Kämpfe. Ein Kapitel deutscher Sozialgeschichte, Köln 1979; Günther Schmid / Frank Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 5. 1966–1974. Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2006, S. 331–379; Günther Schmid / Frank Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung, in: Martin H. Geyer (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 6. 1974–1983. Bundesrepublik Deutschland. Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten, Baden-Baden 2008, S. 311–363; Günther Schmid / Frank Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung, in: Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 7. 1982–1989. Bundesrepublik Deutschland. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, Baden-Baden 2005, S. 239–287; Georg Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik. Entstehung und Wirkung eines Reformkonzepts in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 2004; John Burnett, Idle Hands. The Experience of Unemployment 1790–1990, London, New York 1994; Noel Whiteside, Bad Times. Unemployment in British Social and Political History, London 1991; Howard Glennerster, British Social Policy. 1945 to the Present, Oxford ³2007; Bernhard Rieger, Making Britain Work Again: Unemployment and the Remaking of British Social Policy in the Eighties, in: The English Historical Review 133 (2018), S. 634–666.

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Einwirkung der Gewerkschaften, kaum institutionelle Legitimität genoss.20 Das bundesdeutsche Arbeitsamt wurde hingegen in der »Warteschleife verwaltet«. In der Tradition der 1927 gegründeten Arbeitsverwaltung korporatistisch verfasst, konnte es sich eine eigene Organisationsidentität und einen vergleichsweisen hohen Einfluss auf die Arbeitsmarktpolitik bewahren. Wie Trampusch gehen neuere historische Arbeiten, die sich auf die Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Industrienationen seit den 1970er-Jahren konzentrieren, verstärkt national vergleichend vor.21 Untersucht wurden verschiedene Akteursgruppen von Arbeitslosen, wie die Langzeitarbeitslosen, Jugendarbeitslose oder arbeitslose Akademikerinnen.22 Überwiegend sind gerade Überblickswerke, in Form politik- oder verwaltungshistorischer Studien, bilanzierend angelegt, d. h. in der Regel steht die Frage nach dem Erfolg oder Misserfolg des politischen Krisenmanagements im Mittelpunkt. Mit der Ausnahme einiger britischer Forschungen erfährt man aus historischer Sicht bisher wenig über Lage und Erfahrungen von Arbeitslosen.23 Konzise werden die politischen und sozialwissenschaftlichen Debatten um Arbeitslosigkeit nachgezeichnet, unbestimmt bleibt die soziale Reichweite und gesellschaftliche Bedeutung von Arbeitslosigkeit als sozialem Phänomen. Über die sozialen Folgen der Massenarbeitslosigkeit existieren seitens der Geschichtswissenschaft bisher lediglich weitreichende Vermutungen über die »Formierung neuer, polizeilich-bürokratisch kontrollierter und moralisch-sozialpädagogisch traktierter Unterschichten (…) mit längerfristig wohl

20 Vgl. Christine Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber. Ein Vergleich der Entstehung und Transformation der öffentlichen Arbeitsmarktverwaltungen in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden zwischen 1909 und 1999, Diss. Phil. Univ. Göttingen 2000, S. 194–247, 324–389, http://webdoc.sub.gwdg.de/diss/2000/ trampusch/Dissertation.pdf, 30.01.2023. 21 Vgl. Thomas Raithel / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009; Rolf Walter (Hrsg.), Arbeitsmärkte. Ihre Funktion, Bedeutung und Entwicklung für Wirtschaft und Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 2009; Noel Whiteside, Unemployment Revisited in Comparative Perspective: Labour Market Policy in Strasbourg and Liverpool, 1890–1914, in: International Review of Social History 52 (2007), S. 35–56. 22 Thomas Schlemmer, Abseits der Arbeitsgesellschaft. Langzeitarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, in: ders. / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009, S. 81–94; Thomas Raithel: Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. Entwicklung und Auseinandersetzung während der 1970er und 1980er Jahre. München 2012; Sindy Duong, Zukunft gestalten, konservieren oder befürchten? Gewerkschaftliche Auseinandersetzungen um Lehrer_innenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, in: Franziska Rehlinghaus / U lf Teichmann (Hrsg.), Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert, Bonn 2020, S. 81–106. 23 Vgl. Dennis Marsden, Workless. An Exploration of the Social Contract between Society and the Worker, London 1982; Jeremy Seabrook, Unemployment, London 1982.

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gravierenden Risiken für die Legitimationsgrundlagen der Demokratie«.24 So berechtigt diese Sozialkritik ist, so perpetuiert sie andererseits das in Wissenschaft und breiterer Öffentlichkeit verbreitete Stereotyp des Arbeitslosen als potentiell rechtsradikal oder rechtspopulistischem Wähler, wie es auch Forschungen zur Arbeitslosigkeit der Zwischenkriegszeit vertritt. Allzu schnell wird Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit im Zuge von Deindustrialisierungsprozessen in kausalen Zusammengang zum Aufstieg rechtspopulis­tischer Parteien gebracht.25 Eine solche Sichtweise verharmlost aber nicht nur die politische Problematik des Aufstiegs rechtspopulistischer Parteien, sondern ist auch in der empirischen Grundlage der Wahlforschung ergänzungsbedürftig. Zwar verzeichnen die Parteien dieses Spektrums in Europa prozentual relativ hohe Wahlerfolge in ökonomisch schwächeren Regionen, aber die Sozialstruktur­ analyse ihrer Wählerschaften ergibt ein komplexeres Bild: Rechtspopulisten erzielen ebenso in ökonomisch prosperierenden Gegenden Wahlerfolge, überwiegend bei männlichen Erwerbstätigen mit durchaus überdurchschnittlichen Einkommen.26 Dieser Befund gilt ähnlich für rassistische und rechtsextreme Parteien der 1970er- und 1980er-Jahre, wie den deutschen Republikanern oder dem British National Front, die Ende der 1980er- bzw. in den 1970er-Jahren vergleichsweise unbedeutende Wahlerfolge auf kommunaler bzw. Länder- oder Europaebene verzeichnen konnten, die zeitgenössisch mit erhöhter Arbeitslosigkeit in Verbindung gebracht wurden. Kulturhistorische Perspektivierungen, die in den letzten Jahren verstärkt auf das klassisch sozial- und wirtschaftshistorische Thema Arbeitslosigkeit angewandt wurden, können für Abwertungs- und Zuschreibungsmuster, die Arbeitslose auch dann stigmatisieren, wenn sie die soziale Dramatik des Phänomens Arbeitslosigkeit erklären wollen, sensibilisieren. Studien zur sozialtechnologischen Bearbeitungstechniken von Arbeitslosigkeit, zu Formen von Repräsentation oder Marginalisierung von Arbeitslosigkeit im öffentlichen Raum oder zur

24 Christoph Boyer, Schwierige Bedingungen für Wachstum und Beschäftigung, in: Raithel /  Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit, S. 9–22, hier: S. 16 f. 25 Teilweise sitzen auch verdiente Sozialreportagen der Parteipropaganda der einschlägigen Parteien auf, wenn z. B. die AfD behauptet »Langzeitarbeitslose seit 2013 an[zusprechen]« und »diesen Menschen Motivation und Gelegenheit zum Mitmachen [zu geben], zur Teilhabe und Gelegenheit dazu, Gemeinschaft im Kreise von Gleichgesinnten zu erleben«, in: Denkfabrik – Forum für Menschen am Rande (Hrsg.), Unerhört! Langzeitarbeitslose melden sich zu Wort, Stuttgart 2019, S. 81. 26 Zur Sozialstruktur der AfD-Wähler und der verkürzten Annahme, Langzeitarbeitslose würden überdurchschnittlich häufig AfD wählen: vgl. Oskar Niedermayer / Jürgen Hofrichter, Die Wählerschaft der AfD: wer ist sie, woher kommt sie und wie weit rechts steht sie?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 47 (2016), S. 267–284; zu den komplexen Kontexten von Langzeitarbeitslosigkeit in den 2000er-Jahren aus soziologischer Sicht: Berthold Vogel, Überflüssige in der Überflussgesellschaft? Sechs Anmerkungen zur Empirie sozialer Ausgrenzung, in: Heinz Bude / A ndreas Willisch (Hrsg.), Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«, Frankfurt / Main 2008, S. 154–160.

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visuellen Darstellung von Arbeitslosen fragen nach gesellschaftlich wirkmächtigen kulturellen Deutungen von Arbeitslosen und Arbeitslosigkeit.27 Theoretische Referenz, auch der vorliegenden Arbeit, sind Arbeiten französischer Historikerinnen, die auf die Herstellung einer administrativen Kategorie des Arbeitslosen in Deutschland und Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts abheben.28 Arbeitslosigkeit als Begriff und sozialer Status ist auf das Engste mit der Entstehung der Arbeitslosenversicherung verknüpft, die Formen von NichtArbeit und daraus resultierender Armut in ein soziales, kalkulierbares Problem übersetzte. Als Kategorie nationalen Handelns wird mit der Institutionalisierung von Arbeitslosigkeit als Tatbestand von Versicherung ein sozialer Raum geschaffen, der individuelle Identifikationen und Positionierungen nach sich zieht. Thematische und methodische Überschneidungen bestehen zur soziologischen Arbeitslosenforschung, die im interdisziplinären Dialog nutzbar gemacht werden sollten. Zeitgenössisch entwickelte sich seit den frühen 1980er-Jahren eine ausdifferenzierte Arbeitslosenforschung, für die stellvertretend die Arbeiten des Sozialpsychologen Alois Wacker stehen.29 Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung, die empirisch bis in die 1970er-Jahre zurückreicht, zeichnet Entwicklungen von Arbeitslosigkeit auf makroökonomischer und makrosoziologischer Ebene nach.30 Methodisch sind soziologische Arbeiten der Gegenwart zur so genannten »Subjektivierung von Arbeitslosigkeit« zu berücksichtigen. Der Ansatz ist in beiden Vergleichsländern existent, steht aber jeweils unter anderen methodischen Vorzeichen. Während die angelsächsische Forschung im Umkreis der Governmentality Studies angesiedelt ist, kommt die deutsche Forschung aus einer national eigenen Subjektsoziologie, die sich seit den frühen 1980er-Jahren in der Industrie- und Arbeitssoziologie entwickelt hat. Die Governmentality Studies entstanden in Rezeption der späten Vorlesungen Michel Foucaults zur »Geschichte der Gouvernementalität«, die er in den

27 Vgl. z. B. Simon Roloff, Strömung des Sozialen. Versicherung, Verwaltung und Architektur der Arbeitslosenmasse in den 1920er Jahren, in: illinx ‒ Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft 1 (2009), S. 23‒42; Matthias Reiss, Zwischen Revolte und Resignation. Das Bild des Arbeitslosen seit dem 19. Jahrhundert, in: Herbert Uerlings / Nina Trauth /  Lukas Clemens (Hrsg.), Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, Darmstadt 2011, S. 326‒335. 28 Vgl. Christian Topalov, Naissance du Chômeur. 1880–1910, Paris 1994; Bénédicte ­Zimmermann, Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zur Entstehung einer sozialen Kategorie, Frankfurt / Main 2006. 29 Vgl. Alois Wacker, Arbeitslosigkeit als Thema der Sozialwissenschaften. Geschichte, Fragestellungen und Aspekte der Arbeitslosenforschung, in: Raithel / Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit, S. 121–135; Hubert Heinelt / A lois Wacker / Harald Welzer, Arbeitslosigkeit in den 70er und 80er Jahren  – Beschäftigungskrise und ihre sozialen Folgen, in: AfS 27 (1987), S. 259–317. 30 Vgl. Duncan Gallie / Serge Paugam (Hrsg.), Welfare Regimes and the Experience of Unemployment in Europe, Oxford 2000.

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Jahren 1978/79 am Collège de France gehalten hat.31 Foucault umreißt mit diesem, wie er selbst schreibt, »häßlichen Wort ›Gouvernementalität‹«, diesem so »problematischen und künstlichen Begriff«, sein Interesse, Regierungsweisen, Machttechnologien und Wissensordnungen zusammen zu denken und ihren historisch-genealogischen Ausformungen nachzugehen.32 Arbeiten aus dem Schülerkreis Foucaults, die Gouvernementalität historisch ausbuchstabierten, befassten sich vor allem mit der »Erfindung des Sozialen« im Kontext sich formierender Wohlfahrtsstaaten des 19. Jahrhunderts.33 Angelsächsische Governmentality Studies hoben ausdrücklich auf Regierungsweisen britischer und amerikanischer Wohlfahrtssysteme und veränderte Subjektivierungsmodelle in den 1970er- und 1980er-Jahren ab, wobei ihr wissenschaftspolitisches Anliegen war, gleich dem Foucaults, die Funktionsweisen so genannter »neoliberaler« Regierungstechniken, die sie seit den 1980er-Jahren beobachteten, zu kritisieren.34 Die Gouvernementalität aktivierender Arbeitsmarktpolitiken des beginnenden 21. Jahrhundert analysierten Matthew Cole und William Walters dann für Großbritannien, Marinette Fogde für Schweden und Mitchell Dean bereits 1995 für Australien.35 Ihnen folgend wurde der arbeitslose Einzelne in den genannten Ländern seit ca. 1990 zum verantwortlichen und zentralen Ansatzpunkt staatlicher Arbeitsmarktinterventionen. Inhaltlich ähnlich, aber methodisch anders gelagert, wird in Arbeiten des deutschen Soziologen Wolfgang Ludwig-Mayerhofer und seiner Projektkolleginnen eine »Subjektivierung von Arbeitslosigkeit« in Folge von Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltungsreformen in der Bundesrepublik nach den ›Hartz  IV-Refor31 Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France. 1977–1978, Frankfurt / Main 2004; ders., Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II . Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt / Main 2006. 32 Ders.: Vorlesung 5. Sitzung vom 08.02.1978, in: ders., Sicherheit, S. 173–200, hier: S. 173 f. 33 Jacques Donzelot, L’Invention du Social. Essai sur le Déclin des Passion Politiques, Paris 1994; weitere Arbeiten: François Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt / Main 1993; ­Giovanna Procacci, Gouverner la Misère. La Question Sociale en France 1789–1848, Paris 1993. 34 Graham Burchell / Colin Gordon / Peter Miller (Hrsg.), The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Chicago 1991; Nikolas Rose, Governing the Soul. Shaping the Private Self, London, New York 1990; Nikolas Rose, Inventing Our Selves. Psychology, Power and Personhood, Cambridge 1996; Peter Miller / Anthony G. Hopwood (Hrsg.), Accounting as Social and Institutional Practice, Cambridge 1994; Peter Miller / Nikolas Rose, Governing the Present. Administering Economic, Social and Personal Life, Cambridge u. a. 2008; Andrew Barry / Thomas Osborne / Nikolas Rose (Hrsg.), Foucault and Political Reason. Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, London 1996; Mitchell Dean, Governmentality, Power and Rule in Modern Society, London 1999. 35 William Walters, Unemployment and Government. Genealogies of the Social, Cambridge 2000; Matthew Cole, From Employment Exchange to Jobcentre Plus: the Changing Institutional Context of Unemployment, in: History of the Human Sciences 20 (2007), S. 129–146; Marinette Fogde, The Work of Job Seeking. Studies on Career Advice for White-Collar Workers, Örebro 2009; Mitchell Dean, Governing the Unemployed Self in an Active Society, in: Economy and Society 24 (1995), S. 559–583.

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men‹ von 2005 konstatiert.36 »Subjektivierung« wird bei ihnen mit einer stärkeren Eigenverantwortung des Arbeitslosen im Rahmen politischer Aktivierungsprogramme von »Fördern und Fordern« verstanden. Sie schließen an industrie- und arbeitssoziologische Debatten der Subjektsoziologie aus den frühen 1980er-Jahren an, denen unter anderem das Theorem der »Individualisierung« von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim entstammt.37 Die sozialen Risiken von »Bastel­ biographien« »jenseits von Stand und Klasse« betonend, nennt Ulrich Beck an erster Stelle klassenübergreifender, individualisierender Risiken der frühen 1980er-Jahre die Arbeitslosigkeit, die »mehr und mehr Gut- und Schlechtbezahlte, Akademiker und Ungelernte, Stadt- und Landbewohner« träfe.38 Seit den 1990er-Jahren bezeichnen arbeitssoziologische Ansätze unter der Überschrift »Subjektivierung von Arbeit« grundlegende Veränderungen in der Arbeitsorganisation industrieller Lohnarbeit, die mit gesteigerten berufsinhaltlichen, kommunikativen und selbstexpressiven Anforderungen und Ansprüchen an den Arbeitnehmer einhergehen würden.39 Ein dahingehend neu geprägter Arbeitskrafttypus korrespondiere mit allgemeineren Tendenzen verbetrieblichter Lebensführung, und wurde zur Grundlage einer Reihe von Deutungsmustern neuartiger Subjektivität in Kontexten von Lohnarbeit, wie die »normative Subjektivierung« (Baethge, 1991), der »Arbeitskraftunternehmer« (Voß / Pongratz, 1998), der »Selbstangestellte« (Faust, 1999), der »Jobnomade« (Englisch, 2001) oder die »Neuen Ökonomien des Selbst« (Moldaschl, 2002).40 36 Wolfgang Ludwig-Mayerhofer / Olaf Behrend / Ariadne Sondermann, Auf der Suche nach der verlorenen Arbeit. Arbeitslose und Arbeitsvermittler im neuen Arbeitsmarktregime, Konstanz 2009. 37 Vgl. Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 35‒74; ­U lrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften  ‒ Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: dies. (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt / Main 1994, S.  10‒39. 38 Beck, Jenseits von Stand und Klasse? S. 64. 39 Vgl. Manfred Moldaschl / Günter G. Voß (Hrsg.), Subjektivierung von Arbeit, München 2002. 40 Martin Baethge, Arbeit, Vergesellschaftung, Identität – zur zunehmenden normativen Subjektivierung von Arbeit, in: Soziale Welt 42 (1991), S. 6–19; Hans J. Pongratz / G. ­Günter Voß, Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998), S. 131–158; dies., Arbeitskraftunternehmer – Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2003; aktualisierend und empirisch relativierend: dies. (Hrsg.), Typisch Arbeitskraftunternehmer? Befunde der empirischen Arbeitsforschung, Berlin 2004; Michael Faust / Peter Jauch / Karin Brünenecke / Christoph Deutschmann, Dezentralisierung von Unternehmen, Bürokratie- und Hierarchieabbau und die Rolle betrieblicher Arbeitspolitik, München 1999; Gundula Englisch, Jobnomaden. Wie wir arbeiten, leben und lieben werden, Frankfurt / Main 2001; Manfred Moldaschl, Ökonomien des Selbst. Subjektivität in der Unternehmergesellschaft, in: Johanna Klages / Siegfried Timpf (Hrsg.), Facetten einer Cyberwelt. Subjektivität, Eliten, Netzwerke, Arbeit, Ökonomie, Hamburg 2002, S. 29–62.

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Diese gehen weit über die ältere Vorstellung hinaus, »Subjektivität« abhängig Beschäftigter für den Produktionsprozess zu nutzen, sondern zielen auf eine im Ganzen unternehmerische Lebensführung, für die prekäre Beschäftigung und deregulierte Arbeitsmärkte in Kauf genommen werden.41 In eine ähnliche Richtung argumentieren eine Reihe von Gegenwartsdiagnosen von Selbstentwürfen und Subjektivierungsformen, denen in der Regel die Annahme wesentlich veränderter kapitalistischer Organisation im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und eines neuen, neoliberalen Geists des Kapitalismus, ausgeformt in einem ökonomisierten Unternehmerselbst, zugrunde liegt.42 Es spricht in der Tat einiges dafür, von einem gewandelten Subjektverständnis in der »westlichen Welt« seit den 1970er-Jahren auszugehen, das seit den 1980er-Jahren zunehmend in sozialwissenschaftliche Beobachtungen Eingang fand.43 Demnach seien, eingebettet in Prozesse von Säkularisierung und Demokratisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Autonomie des oder der Einzelnen und seine oder ihre Selbstresponsibilisierung nicht mehr an Religion oder Moral gebunden gewesen, sondern vielmehr den Interventionsund Therapietechniken ökonomischer und sozialer Experten und Expertinnen überlassen worden. Liberale Regierungstechniken individueller Freiheit seien seit den 1980er-Jahren in Großbritannien und den USA und wesentlich von neoliberalen Denkmustern und Lobbyismus beeinflusst, von Selbst- und Subjektivierungsmodellen abgelöst worden, die sich steigernde, unternehmerische Selbstentfaltung priorisiert hätten. Nicht zuletzt griffige Formeln der angelsächsischen Soziologie brachten die Beobachtungen neu sortierter, mit Krisenhaftigkeit des Kapitalismus assoziierter Subjektformen, auf den Punkt. Prominent geworden ist Giddens »reflexives Projekt des Selbst« oder Sennetts »flexibler Mensch im Kapitalismus« (in englischen: »Corrosion of Character«).44 In der gegenwartsnahen Soziologie ist das 41 Insoweit greift Uhls Kritik an der Argumentationsfigur des »Arbeitskraftunternehmers«, der »Faktor Mensch«, die »individuellen Potentiale der Beschäftigten« oder der »EigenSinn« der Arbeiter / innnen« sei bereits im so genannten Fordismus Potential und Ressource für den Produktionsprozess innerhalb von Fabriken gewesen, zu kurz vgl. Karsten Uhl, Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014, S. 225, 363, 156, 19 und passim.; deutlich hingegen: Moldaschl, Ökonomien des Selbst, S. 32. 42 Vgl. Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. 43 Vgl. auch: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 273; Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, S. 74; dies., Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche, in: dies. / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 9–34, hier S. 19; Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler, Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018, S. 13–36, hier S. 15 f. 44 Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Stanford 1991; Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998.

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»unternehmerische Selbst« von Ulrich Bröckling die einschlägige Referenz, um aktivierende Rhetoriken von Selbstoptimierung zu beschreiben, die einfordern, »dass jede und jeder zum Unternehmer des eigenen Lebens werden solle.«45 Es wird noch zu zeigen sein, dass und inwiefern Arbeitslosigkeit zentral ist für wissenschaftliche Ausprägung und politische Verbreitung dieser Subjektmodelle. Die Terminologie dieser Subjektivierungsansätze wurde derart prominent, dass Begriff und Methode von Subjektivierung oftmals gleichgesetzt wird mit dieser Kritik an den Ausformungen »neoliberaler« Subjektivierung. Auch Foucaults Interesse am Subjekt, das sich im Lauf der 1970er-Jahre herauskristallisierte und in den frühen 1980er-Jahre zuspitzte, lässt sich im Kontext dieser Gegenwart und als Wahrnehmung veränderter Relevanz individueller Selbstbildung lesen, reicht aber methodisch darüber hinaus.46 In einer seiner Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität bespricht er 1979 die unternehmerische Subjektform in Form einer »Rückkehr« des Homo Oeconomicus im US -amerikanischen Neoliberalismus und zwar nicht als Wiedergänger des zweckrational operierenden Transferpartners des klassischen Liberalismus, sondern als einen »Unternehmer und zwar ein[en] Unternehmer seiner selbst (…), der für sich selbst sein eigenes Kapital, sein eigener Produzent, seine eigene Eink ommensquelle« ist, insoweit das Produkt, das er oder sie am Markt anbietet, selbst ist.47 Vom »enterprising self« oder »enterprising subject« hatte auch der britische Soziologe Nikolas Rose, Foucaults Ansätze aufgreifend, dann Anfang der 1990er-Jahre in seinen Publikationen gesprochen.48 Wie in den Arbeiten von Nikolas Rose und Peter Miller zum Zusammenhang von Ökonomie und Psychologie als Wissensressourcen moderner Staatlichkeit korrespondieren auch bei anderen Autoren die Annahmen unternehmerischer Subjektformen mit denen psycho- und selbsttechnologisch geschulter »postmoderner« oder »linksalternativer Subjekte«. Das »konsumtorische Kreativsubjekt« sei demgemäß »ein ›enterprising self‹ seiner eigenen Person«.49 Allen Rhetoriken von Selbstentfaltung zum Trotz transportieren diese kapitalismuskritischen und unternehmerischen Subjektmodelle zum Teil eigentüm45 Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 53. 46 Vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, S. 74; Martin Kindtner, Strategien der Verflüssigung. Poststrukturalistischer Theoriediskurs und politische Praktiken der 1968er-Jahre, in: Doering-Manteuffel / Raphael / Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte, S. 373–392. 47 Foucault, Biopolitik, S. 314; hierzu auch: Jan-Otmar Hesse, »Der Mensch des Unternehmens und der Produktion«. Foucaults Sicht auf den Ordoliberalismus und die ›Soziale Marktwirtschaft‹, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 3 (2006), 2, S. 291–296, http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2006/id=4521, 30.01.2023. 48 Nikolas Rose, Governing the Enterprising Self, in: Paul Heelas / Paul Morris (Hrsg.), The Values of the Enterprise Culture, London 1992, S. 141–164; Peter Miller / Nikolas Rose, Production, Identity, and Democracy, in: Theory and Society 24 (1995), S. 427–467; Rose, Inventing Our Selves, S. 150–168. 49 Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 603; vgl. auch: Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 888 f.

Arbeitslose – die Archäologen der Gesellschaft

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lich kulturpessimistische Untertöne. Als »Kehrseite« zur übersteigerten Selbstexpressivität gelten Subjekte des Postfordismus bzw. der Postmoderne dann als charakterlich instabil, tendenziell erschöpft und stets ihrem Bemühen um Optimierung ungenügend.50 Bei aller politischen und selbstredend methodischen Differenz erinnern die defizitären und paternalistischen Diagnosen im Gestus fast an bürgerliche Kulturkritik der 1950er-Jahre und den »unbehausten«, »wirklichkeitslosen« oder im Selbstwertgefühl »unsicher« gewordenen »modernen Menschen«.51 Historisch ähneln sie Deutungen sozialer Auswirkungen der Hochindustrialisierung oder kultureller Verunsicherungen um 1900, die jenseits assoziativer Analogien ohne Erkenntniswert bleiben.52 Dabei geht es nicht darum, berechtigte Kritik an den aporetischen Anforderungen »episodischer Subjektivierung« oder an der sozialen Dramatik eines »zunehmend aus dem Zentrum seiner Formung herausrückenden Subjekts«, wie sie für gegenwärtige Subjektanforderungen in Ratgeberformaten formuliert wurde, abzuschwächen.53 Aus methodologischer Sicht ist der Abschied vom souveränen Subjekt in jedem Fall ernst zu nehmen. Jede Aussage über eine stabile Subjektivierung muss mit dem sozialen Machtgeflecht, in dem sie sich situiert, rechnen. Die politische »Lebensfähigkeit« von Subjekten wird immer wieder neu konstituiert.54 Das bedeutet aber auch, dass nicht jede Subjektkonstitution sozial gleichermaßen prekär ist, sondern Abstufungen intersektionaler Subjektverortungen zu beachten sind. Genauere Beachtung sozialer Machtdifferenzen (wie auch Differenzen von race und gender) schließt aber auch ein, dass fragile, verworfene Subjektivitäten, denen ein Selbstverhältnis (vorerst) nicht oder nur eingeschränkt zugestanden wird, genauer in den subjektivierenden Blick der Wissenschaft geraten. 50 Vgl. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 11 f.; Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 885; Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 283; Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 642; allgemein: Alain ­Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt / Main 2004; Thomas Fuchs / Lukas Iwer / Stefano Micali (Hrsg.), Das überforderte Subjekt, Berlin 2018; zum Befund vgl. auch: Brigitta Bernet, Insourcing und Outsourcing. Anthropologien der modernen Arbeit, in: Historische Anthropologie 24 (2016), S. 272–293, hier: S. 291 f. 51 Zu den Topoi vgl. Hans Egon Holthusen, Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur, München 1951; Hans Freyer, Der Mensch und die gesellschaft­ liche Ordnung der Gegenwart, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 110 (1954), S. 1–12. 52 Zu Deutungsmodellen des 19. Jahrhunderts, die soziale »Verunsicherungen« aufgrund erhöhter »Entscheidungszwänge« konstatieren vgl. Willibald Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert, Frankfurt / Main 2019, S. 40. 53 Alexander Hesse / Stefan Senne, Genealogie der Selbstführung. Zur Historizität von Selbsttechnologien in Lebensratgebern, Bielefeld 2019, S. 426, 422. 54 Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 205, 209; vgl. zur analytischen Perspektive und ihres (sozialphilosophischen) Kritikpotentials: Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt / Main, New York 2007, S. 319–346.

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Subjektivierung bedeutet deshalb, auch und gerade im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts betrachtet, weniger eine pädagogisch, psychologisch, religiös oder esoterisch angeleitete und in gewisser Weise sozial »abgesicherte« Selbstentfaltung oder Selbststeigerung, denn vielmehr einen komplexen und widerstreitenden Prozess, selbstbezogene soziale Akzeptabilität herzustellen, sich in hegemonialen Adressierungen von Selbstführung zurechtzufinden oder eigene Selbstkonzepte in Abweichung zu artikulieren. Deshalb ist näher zu bestimmen, wie Subjektivierung, jenseits statischer punktueller, sozialer Verortungen von Subjekten, beispielsweise als »gutsituierte Wohlstandskinder«, innerhalb sozialer Konfigurationen abläuft und vor allem, wie sie sich prozesshaft genealogisch lesbar machen lässt.55 Dem nüchternen Impuls historischer Fachwissenschaft nach dem empirischen Gehalt von Subjektmodellen zu fragen, ist weiter nachzugehen – auch da Teile der Arbeitssoziologie sowie unternehmens- und arbeitshistorische Fallstudien Zweifel an der Reichweite subjekttheoretischer Einzelkämpfermodelle, die das durchschnittliche Arbeitnehmerleben hinter sich gelassen hätten, anmelden.56 Die Betrachtung arbeitsloser Subjekte ermöglicht Aussagen zur Konstitution von Subjekten in Auseinandersetzung mit einem Kernproblem moderner Gesellschaften: der Verteilung und Regierung von Lohnarbeit. In welchen Macht­ mechanismen arbeitslose Subjekte fabriziert werden, in welche Wissensordnungen sie eingeschrieben werden und welche nützlichen Fähigkeiten, welche kulturelle und soziale Angemessenheit ihnen zugeschrieben werden und welche sie entwickeln, kurz: mit welchen »technologies of citizenship« ihre soziale Akzeptabilität hergestellt wird, gibt Auskunft über Adressierungen, Friktionen 55 Zitat: Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 889; in Kritik an Bröckling auch: Lisa Pfahl, Techniken der Behinderung. Der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien, Bielefeld 2011, S. 36; sozial komplex dagegen Jens Elberfeld, Unterschichten, Frauen, Ausländer. Zur Normalisierung von Differenz in Familientherapie und -beratung, BRD 1960‒1990, in: Traverse 18 (2011), 3, S. 105‒121; ders. / Pascal Eitler, Von der Gesellschaftsgeschichte zur Zeitgeschichte des Selbst und zurück, in: dies. (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung, Bielefeld 2015, S. 7–30, hier: S. 25; Massimo Perinelli, Migration und das Ende des bürgerlichen Subjekts. Transformationen des Subjekts vom Gastarbeiterregime bis zum Diskurs des Illegalen, in: ebd., S. 195–215; Jens Elberfeld, Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert, Frankfurt / Main, New York. 56 Vgl. Nick Kratzer / Wolfgang Menz / K nut Tullius / Harald Wolf, Legitimationsprobleme in der Erwerbsarbeit. Gerechtigkeitsansprüche und Handlungsorientierungen in Arbeit und Betrieb, Baden-Baden 2015; Stefanie Hürtgen / Stephan Voswinkel, Nichtnormale Normalität? Anspruchslogiken aus der Arbeitnehmermitte, Berlin 2014; die Beiträge in: Morten Reitmayer / Ruth Rosenberger (Hrsg.), Unternehmen am Ende des ›goldenen Zeitalters‹. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008; darin insbesondere: Jan-Otmar Hesse, Der Konsument als Unternehmer. Fünf Einwände und ein Interpretationsvorschlag, in: ebd., S. 319–335; Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, S. 416 f.

Arbeitslose – die Archäologen der Gesellschaft

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und Möglichkeiten von Selbstführungskonzepten zeitgenössischer Staatsbürgerlichkeit.57 Arbeitslose als »infame Menschen« westlicher Arbeitsgesellschaften stehen in besonderen Bezügen zu den Machtverhältnissen dieser Arbeitsgesellschaften.58 Sie müssen sich als Arbeitslose in deren Institutionen, Politiken und Interventionen bewegen, haben darin zu operieren und sich selbst zu situieren. Als Arbeitslose stoßen sie dabei grundsätzlich an bzw. sind Stein des Anstoßes im erwerbszentrierten Machtdispositiv. In der Kampagne »Chance 2000« von Christoph Schlingensief erklärte Axel Silber die Barrieren einer Subjektivierung »infamer Menschen.« Zum Zeitpunkt der »Chance 2000« 28 Jahre alt, trat er als »Kanzlerkandidat für Behinderte« im Bezirk Berlin-Mitte / Prenzlauer Berg an. Axel Silber, in seiner körperlichen Motorik sichtbar eingeschränkt, lebte damals selbstständig in Berlin-Lichtenberg und war nicht arbeitslos, sondern arbeitete stundenweise bei der Post. Aufgrund seiner körperlichen Erscheinung war sein Berufs- und Lebensweg aber perspektivisch auf Karrierechancen beschützender Werkstätten und betreuter Wohngruppen festgelegt. Ihm war es wichtig, mit der »Chance 2000« für eigene Ziele, stellvertretend für andere so genannte Behinderte einzutreten, sich ein eigenes Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können. »Jeder soll bekommen, was er zum Leben braucht,« äußerte er sich im Zeitungsinterview, verschwieg aber nicht, dass aus seiner Sicht ein gehöriges Maß aufdringlichen Selbstbewusstseins nötig war, um sich Gehör zu verschaffen: »Gerade in dieser Gesellschaft muss man schreien ›Hallo, hier bin ich!‹«59 Es ging ihm, wie seinen »behinderten« und arbeitslosen Mitstreitern darum, »zu beweisen, daß man überhaupt noch existiert« auf einer basalen, ja aufrichtigen Ebene künstlerischer Wahrheit, menschlicher Würde und politischer Teilhabe.60 Durchaus sperrig und radikal existentiell steht das arbeitslose Subjekt der »Chance 2000« mit seinem Anspruch auf Autonomie im selbst inszenierten Spektakel. Ein gesellschaftlich akzeptierter, souveräner Subjektstatus am Ende des 20. Jahrhunderts war immer noch eine Provokation – abhängig von der Position des einzelnen im sozialen Raum und seinen Möglichkeiten, für sich zu sprechen.

57 »Technology of Citizenship« in Anlehnung an Foucault vgl. Barbara Cruikshank, The Will to Empower. Democratic Citizens and other Subjects, Ithaka / London 1999, S. 91. 58 Michel Foucault, Das Leben der infamen Menschen, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III 1976–1979, Frankfurt / Main 2003, S. 309‒332. 59 Alle Zitate: Barbara Bollwahn, Wahlkampf 98 Einzelkämpfer. »Hallo, hier bin ich!«, in: taz, 19.08.1998, S. 23, https://taz.de/!1329776/, 30.01.2023. 60 Schlingensief / Hegemann, Chance 2000, S. 32.

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2. Spuren des Subjekts: methodische Perspektiven und historische Bruchstücke In diesem Buch geht es um die Subjektivierung von Arbeitslosigkeit in zwei Ländern: der »alten« Bundesrepublik und dem Vereinigten Königreich, das jedoch in der Regel als Vereinigtes Königreich Großbritannien betrachtet wird, da spezifische Probleme Nordirlands nicht zur Sprache kommen. Der historische Vergleich galt in der Bundesrepublik lange als »Königsweg« einer methodisch reflektiert vorgehenden Sozialgeschichte.61 Inzwischen ist er ein fast allzu bekanntes und arriviertes Verfahren, dessen heuristisches Potential anerkannt ist. Der analytische Vergleich und seine inhärente kontrastierende Betrachtung zweier Vergleichsgegenstände verhilft dazu, über den Tellerrand einer solitären Entwicklung hinauszublicken und gesellschaftliche Prozesse, Strukturen oder Institutionen in ihren historischen Ursachen und Veränderungen besser zu verstehen.62 Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene angesetzt, lässt der Vergleich nationale bzw. einzelstaatliche Entwicklungen und Eigenheiten wie auch Gemeinsamkeiten deutlicher hervortreten, und er erleichtert die Ursachenforschung für soziale Phänomene und Probleme. In diesem Sinn bietet sich beim Thema dieser Studie eine intergesellschaftlich vergleichende Vorgehensweise an, um nationalstaatlichen Traditionen von Wohlfahrtsstaatlichkeit und Arbeitsverwaltungen im Vereinigten Königreich und der Bundesrepublik gerecht werden zu können.63 Der deutsch-britische Vergleich zielt ferner auf zwei Vergleichsländer, die unterschiedliche Systeme von Wohlfahrtsstaatlichkeit repräsentieren. Der Typologie des dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen aus dem Jahr 1990 folgend, die, grob geschnitzt, aber aktuell in einschlägiger sozial- und politikwissenschaftlicher Literatur am häufigsten verwendet wird, können drei Typen kapitalistischer Wohlfahrtsstaaten definiert werden: liberale, konservative und 61 Hans-Ulrich Wehler, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1972, S. 11–31, hier: S. 24. 62 Vgl. Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt / Main, New York 1999, spez. S. 49–55; zum Vergleich als Methode auch: Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka, Comparative History: Methods, Aims, Problems, in: Deborah Cohen / Maura O’Connor (Hrsg.), Comparison and History. Europe in Cross-National Perspective, New York 2004, S. 23–39; Heinz-Gerhard Haupt, Historische Komparatistik in der internationalen Geschichtsschreibung, in: Gunilla Budde / Sebastian Conrad / Oliver Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorie, Göttingen 2006, S. 137–149. 63 Zum Begriff »intergesellschaftlich« vgl. Thomas Welskopp, Stolpersteine auf dem Königsweg. Methodenkritische Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschaftsgeschichte, in: AfS 35 (1995), S. 339–367, hier: S. 344.

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sozialdemokratische.64 Mittels der am Verhältnis von Staat und Markt, dem Grad an Kommodifizierung sowie Umverteilung orientierten Kategorisierung, ist die Bundesrepublik ein idealtypischer Vertreter des konservativen, durch staatliche Versicherungssysteme geprägten, Wohlfahrtsregime, während das Vereinigte Königreich dem liberalen, marktorientierten Modell zuzurechnen ist. Beide Länder unterscheiden sich mithin deutlich hinsichtlich der Organisation, Finanzierung und Leistungsdichte von Sozialleistungen, weisen aber auch eine grundsätzlich ähnliche sozio-ökonomische Gesellschaftsstruktur auf: hochindustrialisiert und technisiert sowie westlich-demokratisch verfasst und regiert. Bei einer solch vergleichsfreundlichen Kombination von Gemeinsamkeiten und Differenzen ist es nicht überraschend, dass der deutsch-britische Vergleich ein »Lieblingskind« vergleichend forschender, deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der letzten zwanzig Jahre war. Historikerinnen und Historiker erforschten insbesondere Gesundheitspolitik und Wohlfahrtsstaat in deutsch-britischer Perspektive.65 Sozialwissenschaftlich wurden Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in komparativer Anordnung untersucht.66 Deutsche Wissenschaftler waren an vergleichender Betrachtung der beiden Länder häufiger als britische interessiert, wie Hartmut Kaelble Anfang der 1990er-Jahre feststellte – zu einem Zeitpunkt, als die Vergleichsforschung auf günstige wissenschaftspolitische Finanzierungsbedingungen traf, wie vergleichend angelegte Sonderforschungsbereiche, Graduiertenkollegs oder Auslandsinstitute.67 Nicht zuletzt waren es Forschungsprogramme und Institutionen der Europä­ ischen Union, die wohlfahrtsstaatliche Vergleichsforschung finanzierten und 64 Vgl. Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990. 65 Vgl. nur z. B.: Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München 2004; Jochen Clasen, Reforming European Welfare States. Germany and the United Kingdom Compared, Oxford 2005; Karen Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001; Cornelius Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen 2015; Christine G. Krüger, Dienstethos, Abenteuerlust, Bürgerpflicht. Jugendfreiwilligendienste in Deutschland und Großbritannien im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016; Nicole Kramer, Prekäre Geschäfte. Privatisierung und Vermarktlichung der Altenpflege im deutsch-englischen Vergleich, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 17 (2020), 2, S. 234–260, https://zeithistorische-forschungen. de/2-2020/5855, 30.01.2023. 66 Vgl. Trampusch, Arbeitsmarktpolitik; Jochen Clasen, Paying the Jobless. A Comparison of Unemployment Benefit Policies in Great Britain and Germany, Aldershot 1994; Katrin Mohr, Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in Großbritannien und Deutschland, Wiesbaden 2007. 67 Vgl. Hartmut Kaelble, Vergleichende Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: Forschungen europäischer Historiker, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 34 (1993), S. 173–200, hier: S. 178; ders.: Historischer Vergleich, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 14.08.2012, http://docupedia.de/zg/kaelble_historischer_vergleich_v1_de_2012, 30.01.2023.

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etablierten bzw. teilweise überhaupt erstmals eine Datenbasis für vergleichende Sozialstrukturanalysen bereitstellten.68 Zweifellos waren viele Arbeiten in Erwartung europäischer Konvergenz und weiterer politischer Annäherung bzw. Abstimmung geschrieben. Das Votum des Brexit-Referendums und der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union zum Jahresbeginn 2020 hat, zumindest für die Verfasserin während der Arbeit an diesem Buch, die Erwartungen an europäische Gemeinsamkeiten und politische Harmonie neu justiert. Die historischen, nationalen Unterschiede in den Sozialsystemen beider Länder und die Unwägbarkeiten der Komparatistik, die als Verfahren unter Umständen vorschnell künstliche und damit ahistorische Gemeinsamkeiten herstellt, traten stärker hervor – einer der Vergleichsgegenstände »entfremdete« sich in gewisser Weise im Laufe des Projekts statt näher vertraut zu werden. Die damit verbundene methodologische Irritation stößt sich dabei nicht an Transferprozessen, die zwischen den Ländern stattgefunden haben. Beide Länder waren bzw. wurden im Betrachtungszeitraum Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften und hatten sich, jeweils national pfadabhängig, mit Prozessen wirtschaftlicher, politischer und kultureller Internationalisierung zu beschäftigen. So wie sich Vergleich und Transfer methodisch nicht ausschließen, bedingen sie sich einander in diesem Fall historisch. Die methodische Aufmerksamkeit gilt anderen, gewissermaßen grundsätz­ licheren Problemen der vergleichenden Methode und hebt auf das Verhältnis und die Verschränkung von historischer Makro- und Mikroebene ab. Thomas ­Welskopp prägte in den 1990er-Jahren die Formulierung von den »Stolpersteinen auf dem Königsweg« des historischen Vergleichs.69 Seine Skepsis richtete sich gegen das Abstraktionsvermögen und die theoretische Belastbarkeit der Komparatistik und verweist auf Defizite allzu rigider, vergleichender Standardisierung, die unter Umständen viel von historischer Vielfalt und historischem Kontext ihrer Vergleichsobjekte verlorengehen lässt. Er plädiert dafür, den vergleichenden Ansatz als »Betrachtungsweise« zu gebrauchen, die vor allem Fragestellungen eröffnet und keine vorschnellen generalisierenden Antworten liefert.70 Diese Bescheidenheit im Anspruch vergleichender Forschung muss keine methodische Indifferenz bedeuten, vielmehr trägt sie dazu bei, die heuristischen und analytischen Vorzüge komparativer Perspektiven variabler nutzen zu können. Es stellt sich gleichwohl die Frage, wie eine vergleichend perspektivierte Geschichte ihren Blick für gesellschaftliche Bereiche jenseits nationalstaatlich definierter, sozialstruktureller und politischer Makroebenen öffnen kann. Der systematische Vergleich wurde schließlich durchaus berechtigt dafür kritisiert, dass er die Erfahrungen und Handlungen Einzelner vernachlässige, und diese sind unabdingbar einzubeziehen, wenn es um die Geschichte von Subjektivie68 Vgl. für die Arbeitslosenforschung: Gallie / Paugam (Hrsg.), Welfare Regimes and the Experience of Unemployment in Europe. 69 Vgl. Welskopp, Stolpersteine. 70 Ebd., S. 343.

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rung geht.71 Die Mikrogeschichte machte einschlägige Angebote, welche Art des Vergleichens, dem »in den Quellen aufzufindende[n] gelebte[n] Leben« angemessen ist.72 Der Historikerin Natalie Zemon Davis wird bezüglich der Präzisierung mikrohistorischer Vergleiche die Formulierung des »dezentrierenden Vergleichens« zugeschrieben.73 Gemeint ist damit ein Vergleich, der nicht über Einzelfälle hinwegsieht, sondern diese als Bezugspunkte denkt, von denen aus sich die Vielzahl und Vielfalt historischer Stimmen entfalten kann. So geht meine Arbeit zwar von den »starren« wohlfahrtsstaatlichen Typologien aus und ihren klar gesetzten Regularien zur sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit. Daneben werden aber auch Wissens- und Rechtsordnungen, kulturelle Sinngebungsformen oder sozialräumliche Mobilität der bundesdeutschen und britischen Gesellschaften komparativ und punktuell perspektiviert werden. Grundlegend für die Auswahl der Untersuchungs- und Vergleichsmomente der Studie ist die Definition des »Sozialen«, wie sie die amerikanische Politologin Barbara Cruikshank entworfen hat.74 In Herleitung von wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierungen des 19. Jahrhunderts, unterscheidet sie drei Bereiche des »Sozialen«, verstanden sowohl als soziale Gesellschaftsstruktur wie auch als Regierungsweise von als sozial definierten Phänomenen, die maßgeblich sind für wohlfahrtsstaatliche Gouvernementalität und darin ablaufende Subjektivierungen: zum einen das Wissen über das Soziale (Statistiken, wissenschaftliche Deutungsmodelle), zum zweiten die sozialen Interventionstechniken (Sozialpolitik, Sozialarbeit, Wohlfahrtswesen) und zum dritten soziale Bewegungen (Selbsthilfe, Proteste). Subjektivierung von Arbeitslosen wird diesem Analyseraster folgend, in diesem Buch auf der ersten Ebene, des sozialen Wissens über Arbeitslosigkeit betrachtet, konkret in ökonomischer und rechtswissenschaftlicher Theorie, Arbeitslosenstatistiken und ihren Erhebungskriterien sowie sozial- und humanwissenschaftlichen Bewältigungskonzeptionen von Arbeitslosigkeit. Die zweite Ebene der sozialen Interventionstechniken ist zum einen in Programmatiken aktiver Arbeitsmarktpolitik in beiden Ländern, zum anderen in Vorgängen und Praktiken auf dem Amt, d. h. dem bundesdeutschen Arbeitsamt und den britischen Employment Exchanges bzw. Jobcenter ausgeformt.75 Sozial- und arbeitsrechtliche Legislation sowie ihre Verhandlung vor amtlichen oder gerichtlichen Widerspruchsinstanzen wären gleichfalls als institutionell eingebundene soziale Intervention zu werten. Schließlich befasst sich die dritte 71 Zur Kritik vgl. Kaelble, der Michel Espagne referiert: Kaelble, Historischer Vergleich. 72 Hans Medick, Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, Göttingen 1994, S. 40–53, hier: S. 45. 73 Zitiert nach: Medick, Mikro-Historie, S. 48; zum dezentrierten Verfahren vgl. Natalie Zemon Davis, Dezentrierende Geschichtsschreibung. Lokale Geschichten und kulturelle Übergänge in einer globalen Welt, in: Historische Anthropologie 19 (1993), S. 144–156. 74 Vgl. Barbara Cruikshank, The Will to Empower. Democratic Citizens and other Subjects. Ithaka, London 1999, S. 6. 75 Zur besseren Lesbarkeit wurde für die britischen Jobcentre die deutsche Schreibweise der Jobcenter gewählt.

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Ebene im weiteren Sinn mit Selbsthilfeinitiativen oder Protesten von Arbeitslosen. Diese drei Ebenen sind nicht als Kapiteleinheiten zu verstehen, bilden aber das Arbeitsgerüst für die Gliederung der Studie. Die letztlich problemorientierte Gliederung mag auf den ersten Blick statisch erscheinen und zu wenig die Dynamik zeitlichen Ablaufs historischer Ereignisse abbilden. Die Konstruktion erlaubt jedoch, den Faden der eingangs skizzierten »Archäologie des Sozialen« wieder aufzunehmen.76 Differente Kontexte von Subjektivierungsprozessen können so in ihren jeweiligen verstreuten Bezugspunkten freigelegt und beschrieben werden. Arbeitslose Subjekte sind keine historischen Akteure, deren Zeugnisse an der Oberfläche historischer Überlieferung zu vermuten wären. Ablagerungen politischer Funktionalisierung oder sozialer Beurteilungen sind erst einmal abzutragen, um als solche sichtbar zu werden und um zur Mikroperspektive derer vorzudringen, die Arbeitslose genannt werden. Vorschnelle Hierarchisierungen zwischen Makrostrukturen und Praktiken der Mikroebene sind zu vermeiden, um die Vorstellungen und »Eigensinnigkeiten« der arbeitslosen Subjekte nicht voreilig unter ablaufende Strukturprozesse zu subsumieren und insoweit ist eine an den Problemen und Aussagen von Arbeitslosen orientierte Herangehensweise zu begründen. In seinem Buch »Archäologie des Wissens« plädiert Michel Foucault dafür, Dokumente in ihrer materiellen Eigenlogik als Aussage-Ereignisse zu behandeln, die auf die jeweiligen Aussage-Bedingungen einer Aussage-Praxis zielen. Die jeweiligen Formationen von Äußerungsmodalitäten sind demnach nicht nach einem »verborgenen Sinn« zu beforschen, sondern bilden ein Geflecht von Diskursen, die »als Praktiken zu behandeln« sind, »die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie handeln.«77 In neuerer Forschungsliteratur wird diese poststrukturalistische Perspektive, die soziale Strukturen nicht als gegeben voraussetzt, sondern betont, dass sich diese in konkreten Praktiken immer wieder konstituieren, gern »praxeologisch« genannt. Die historische Praxeologie befasst sich, kurz gesagt, mit der Rekonstruktion konkreter, situativer Handlungen und Performanzen von Akteuren.78 Im prozesshaften Konzept der Subjektivierung ist eine praxeologische Methode bereits enthalten. Von Praktiken der Subjektivierung zu sprechen, ist daher im Grunde tautologisch, macht aber einen kritischen Blick auf diskursive Subjektideale und ihre historische Geltung wahrscheinlicher.79 Gerade in jüngeren Forschungen aus dem Bereich der Subjektanalytik wird in praxeologischer 76 Angelehnt an: Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt / Main 1994, S. 7–30. 77 Ebd., S. 74. 78 Vgl. Sven Reichardt, Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte 22 (2007), S. 43–65. 79 Vgl. Thomas Alkemeyer / Gunilla Budde / Dagmar Freist, Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik, in: dies. (Hrsg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 9–30, hier: S. 15.

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Perspektive produktiv von Subjektivierung im Sinn einer »Selbst-Bildung« bzw. eines »doing subject« gesprochen.80 Praktiken der Subjektivierung als alltägliche Erfahrungen von Subjektivierung verstanden, lassen Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten diskursiv propagierter Subjektideale erkennbar werden. Insoweit bestehen zwischen einer solchen Alltags-Subjektgeschichte methodologisch lose Überschneidungen zu einer Mikro- und Alltagsgeschichte, die auf eine sozial breit gestreute Erfahrungsgeschichte abhebt. Alltagsgeschichte entwickelte sich in Westdeutschland seit den späten 1970er-Jahren in Rezeption etwas älterer angelsächsischer Ansätze aus der historischen Anthropologie bzw. der sozialkritischen Cultural History. Wichtig in der publizistischen Breitenwirkung waren Netzwerke der Arbeiteralltagsgeschichte an den neu gegründeten Reformuniversitäten des Ruhrgebiets in den 1970er-Jahren, an die spätere Repräsentanten der Subdisziplin, die Alltagsgeschichte als Erfahrungsgeschichte konzipierten, in den frühen 1980er-Jahren anknüpfen konnten.81 Die wissenschaftspolitische Polemik und habituelle Distinktion bundesdeutscher Sozialgeschichte der 1980er-Jahre gegen eine vermeintlich modernisierungskritische Alltagsgeschichte soll hier als solche kein Thema sein – wenngleich Hans-Ulrich Wehlers Vorurteil gegenüber Alltagshistorikern, diese seien vor allem »arbeitslos«, mehr als eine kuriose Koinzidenz sein mag.82 Ernst zu nehmende methodische Bedenken der Sozialgeschichte richteten sich bekanntermaßen gegen eine übermäßig partikularistische Erzählweise der Alltagsgeschichte, die strukturelle Prozesse und historische Entwicklungen verunklare und kausale Erklärungen unmöglich mache. Der Vorteil einer Subjektgeschichte ist es, soziale und auch kulturelle Strukturen von Subjektadressierung und Subjekt-Hervorbringung mit den situativen, »alltäglichen« Erfahrungen der Subjekte zusammen denken zu können. Diese Überlegungen zur methodologischen Verortung einer subjekthistorischen Alltagsgeschichte, die gleichrangig Einfluss und Bestimmungsmacht poli-

80 So das Forschungsprogramm des von 2010 bis 2019 DFG -finanzierten Graduiertenkollegs ›Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive‹ an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg, https://uol.de/ graduiertenkolleg-selbst-bildungen, 30.01.2023. 81 Vgl. hierzu: Jürgen Reulecke, Geschichtskultur im Ruhrgebiet. Erinnerungen an eine im Ruhrgebiet entstandene »Erforschungskultur« in den frühen 1970er Jahren, 2017, S. 11, https://www.geschichtskultur-ruhr.de/wp-content/uploads/Geschichtskultur-imRuhrgebiet.pdf, 30.01.2023; Jürgen Reulecke / Wolfhard Weber (Hrsg.), Fabrik, Familie, Feierabend: Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978; zur kanonischen Referenz einer »Lüdtke’schen« Alltagsgeschichte geworden: Alf Lüdtke (Hrsg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen, Frankfurt / Main, New York 1989. 82 Vgl. kanonisch in der Polemik: Hans-Ulrich Wehler, Alltagsgeschichte. Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?, in: Bettina Hitzer / Thomas Welskopp (Hrsg.), Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen, Bielefeld 2010, S. 337–362, hier: S. 337.

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Einleitung

tischer, sozialer und kultureller Prozesse berücksichtigt, hat notwendigerweise Konsequenzen auf die Auswahl der Quellen und den Umgang mit ihnen. Für die Quellenauswahl und Quellenkritik subjekthistorischer Forschung ist zum einen schlicht zu beachten, dass das »Subjekt« nicht in den historischen Quellen zu suchen und zu finden, sondern in den Modalitäten seiner historischen Produktion zu beobachten ist. Zum anderen ist der Blick auf Quellen zu richten, die Auskunft geben über die »Selbsttechniken« der Selbstführung und Selbstsorge des Subjekts, verstanden im Sinn des Spätwerks Foucaults bzw. in dessen Ergänzung: die Rückschlüsse zulassen über »Handlungs-, Kritik- und Selbstgestaltungsfähigkeiten, nicht nur mittels spezifischer Selbsttechniken, sondern in den Praktiken aller möglichen Lebensbereiche«, wie es Thomas Alkemeyer formuliert.83 Bei der Auswahl der Quellen spielte deshalb abgesehen von ihrer Verfügbarkeit und der Vergleichbarkeit der Quellenlage beider Provenienzländer, eine Rolle, inwiefern sie Aussagen über die Subjektivität von Arbeitslosen und die Formen ihres »doing subject« zulassen. Neben Überlieferung der Arbeitsverwaltungen in den staatlichen Archiven, publizierten Verordnungen, politischen Verlautbarungen und Rechtsvorgängen betreffend Arbeitslosigkeit, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Expertisen, werden deshalb immer wieder Dokumente herangezogen, in denen sich Arbeitslose zu ihrer eigenen Arbeitslosigkeit verhalten. Diese subjektivierenden Praktiken von Arbeitslosen können sich in offiziellen, publizierten Berichten, archivalischen Akten sowie den Argumentationen von Rechtsvorgängen spiegeln. Darüber hinaus sind aber vor allem zeitgenössische Aussagen Arbeitsloser in schriftlichen Auslassungen oder qualitativen Interviews unterschiedlicher Provenienz und Zugänglichkeit von Interesse. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die je eigenen geschichts- und sozialwissenschaftlichen Traditionen und methodischen Gewohnheiten beider Länder sich entscheidend auf die Überlieferungssituation solcher im weiteren Sinn qualitativer Aussagedaten auswirken. Im Vereinigten Königreich ist die Oral History im Vergleich zur Bundesrepublik verbreiteter und thematisch in gewisser Weise unbelasteter aufgestellt. Trotz breiter Themenvarianz und repräsentativer Erinnerungs-Projekte an Arbeitswelten, wie die arbeitsweltbezogenen Interviews der »National Live Stories« der British Library oder die Interview-Sammlung »Britain at Work. Voices from the Workplace 1945–1995« von Gewerkschaftsseite, wird Arbeitslosigkeit in diesen nationalen Unternehmungen aber nur am Rand gestreift.84 Hinzu kommt, dass die Zugänglichkeit vieler kommunaler Geschichts-Initiativen und ihrer nur auf 83 So das praxeologische Programm bei: Thomas Alkemeyer, Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik, in: ders. / Gunilla Budde / Dagmar Freist (Hrsg.), Selbst-Bildungen, S. 33–68, hier: S. 43. 84 »Lives in Steel« und andere Oral-History-Sammlungen der British Library zur Arbeitswelt, https://www.bl.uk/collection-guides/oral-histories-of-industry-and-employment, 30.01.2023. Britain at Work. Voices from the Workplace1945–1995, http://www. unionhistory.info/britainatwork/resources/audio.php, 30.01.2023.

Spuren des Subjekts

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Kompaktkassette verfügbaren Audio-Materialien aufgrund ehrenamtlicher Betreuung und fehlender finanzieller Mittel zur Digitalisierung der Aufnahmen in Großbritannien nur unzureichend gewährleistet ist. Mit dem ›Mass Oberservation Project‹ (MOP), einer von 1937 bis in die 1960er-Jahre existierenden und 1981 wieder belebten Sammlung halbjährlicher Umfragen und alltäglicher Beobachtungen Freiwilliger, steht wiederum ein einzigartiges »Monument« im Foucaultschen Sinn, alltagshistorischer Forschung zur Verfügung, das in seiner ungezwungenen Anordnung in deutscher Wissenschaft nicht denkbar wäre.85 Nützlich für meine Arbeit war die Umfrage vom Sommer 1981, als den Laienchronisten des MOP aufgegeben war, ihre Gedanken zu Arbeit und Arbeitslosigkeit niederzuschreiben. In der Bundesrepublik sind hingegen qualitative Methoden in den empirischen Sozialwissenschaften früher und häufiger angewandt worden als in Großbritannien. Auch das Thema Arbeitslosigkeit wurde in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren bereits qualitativ bearbeitet. Die den zeitgenössischen Studien zugrundeliegenden qualitativen Interviews bieten hervorragendes historisches, sekundäranalytisch aufzubereitendes Quellenmaterial. Allerdings ist die Zugänglichkeit zu solchen qualitativen sozialwissenschaftlichen Daten in der Bundesrepublik bisher bedeutend unkomfortabler geregelt als in Großbritannien. Sind dort die wenigen vorhandenen Studien (vor allem der Soziologen Claire Wallace und Ray Pahl) über das seit 1994 bestehende Portal des »UK Data Archive« an der Universität Essex digital verfügbar, sind die Zugangswege für digitalisierte, qualitative Studien der Arbeitssoziologie in der Bundesrepublik auf die Forschungsdatenzentren der Bremer Universität »Qualiservice Bremen« sowie »eLabour« des Göttinger Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts (SOFI), basierend vor allem auf den Betriebsfallstudien des Instituts verteilt.86 Daneben existieren diverse Primärquellen in Privatbesitz von Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern, die Unterlagen ihrer eigenen empirischen Studien aufbewahrt haben. Deren Zugänglichkeit variiert nach Lagerungsmöglichkeiten, Stimmungslage und Zeitbudget der archivhaltenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.87 Das Potential der Sekundäranalyse solcher qualitativen, sozialwissenschaftlichen Erhebungen erschließt sich den deutschen Historikerinnen erst in den letzten Jahren, und der Umgang mit diesen Daten wird aktuell recht breit problematisiert. So berechtigt die in der deutschen Zeitgeschichte diskutierte 85 Mass Observation Project, Universität Sussex, http://www.massobs.org.uk/about/massobservation-project, 30.01.2023. 86 UK Data Service an der Universität Essex, https://ukdataservice.ac.uk/, 30.01.2023; Quali­service Bremen, https://www.qualiservice.org/de/, 30.01.2023; FDZ eLabour, http:// elabour.de/, 30.01.2023. 87 An dieser Stelle ist den Kolleginen und Kollegen im SOFI Göttingen (FDZ eLabour), Angelika Diezinger sowie Reinhard Bahnmüller zu danken, die mir Unterlagen ihrer Projekte überließen.

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Einleitung

Historisierung von Sozialwissenschaften für eine allgemeine Perspektivierung zeithistorischer Arbeiten ist, sollten sich Historiker allerdings in der Sekundäranalyse zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Daten nicht zu sehr hinter quellenkritischen Präliminarien verschanzen.88 Für quellenkritische Besonderheiten in der Sekundärnutzung qualitativer Studien bietet die soziologische Methodenlehre erprobte Routinen an, die auch für Historikerinnen nützlich sein können.89 Vor allem kann die britische Geschichtsschreibung beispielgebend sein, die, zwar begünstigt durch eine allgemeine Akzeptanz narrativer Historiographie, vorführt, dass historische Sekundärnutzung qualitativer Daten, auch in furchtloser Kombination mit Material der Oral History, vor allem der ureigensten Aufgabe historischer Darstellung dienen sollte: soziale Realität vielstimmig zu überliefern.90 Die Chance mittels der Sekundäranalyse, die »soziale Welt jenseits der Selbstbeschreibungen« sozial- oder medienwissenschaftlicher Studien zu verstehen, wie es Christina von Hodenberg formulierte, sollten sich Historikerinnen und Historiker nicht entgehen lassen.91

88 Diese Debatte ging aus von: Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, S. 57–79; zuletzt ausführlich das Themenheft Sozialdaten als Quellen der Zeitgeschichte GG 48 (2022) Heft 1. 89 Vgl. Irena Medjedović / Andreas Witzel, Wiederverwendung qualitativer Daten. Archivierung und Sekundärnutzung qualitativer Interviewtranskripte, Wiesbaden 2010; aus historischer Perspektive: Brigitte Halbmayr, Sekundäranalyse qualitativer Daten aus lebensgeschichtlichen Interviews. Reflexionen zu einigen zentralen Herausforderungen, in: BIOS 21 (2008), S. 256–267; für Großbritannien: Janet Heaton: Secondary Analysis of Qualitative Data: An Overview, in: Historical Social Research 33 (2008), S. 33–45. 90 Vgl. Selina Todd, The People. The Rise and the Fall of the British Working Class, London 2014; Jane Elliott / Jon Lawrence, The Emotional Economy of Unemployment: A ReAnalysis of Testimony From  a Sheppey Family, 1978–1983, in: SAGE Open, 6 (2016), S. 1–11; für die Auswertung betriebssoziologischer Studien spezifisch: Wolfgang Dunkel /  Heidemarie Hanekop / Nicole Mayer-Ahuja (Hrsg.), Blick zurück nach vorn. Sekundäranalysen zum Wandel von Arbeit nach dem Fordismus, Frankfurt / Main, New York 2019; für quellenkritischen Pragmatismus in der gesellschaftshistorischen Historiographie plädierend: Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 30 f. 91 Zitiert nach: Felizitas Schaub, Sektionsbericht: Zeitgeschichtliche Forschungen über Fächergrenzen und die Grenzen des Fachs, in: Gabriele Metzler / Michael Wildt (Hrsg.), Über Grenzen. 48. Deutscher Historikertag in Berlin 2010, Berichtsband. Göttingen 2012, S. 229–234, hier: S. 232.

II. Konstitution eines Gegenstandes: Wissen und Nicht-Wissen über Arbeitslosigkeit

Seit den Anfängen moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit ist die Bearbeitung sozialer Probleme eng mit ihrer Verwissenschaftlichung verwoben. Die »Verwissenschaftlichung des Sozialen« in Form der human- und sozialwissenschaftlichen Definition, Dokumentation, Rationalisierung und Analyse sozialer Handlungsfelder ist seit längerem ein anerkanntes und expandierendes Feld historiographischer Forschung.1 Argumente und methodische Kriterien humanwissenschaftlicher Experten bestimmten und bestimmen die Konzepte und Handlungsnormen sozialer Interventionen und sozialer Regulierungen in administrativer und politischer Praxis von Verwaltungen, Betrieben, Parteien, Gewerkschaften, Parteien oder Parlamenten moderner Gesellschaften wesentlich mit. Die Machttechnologien, auf denen eine spezifische wissensbasierte Regierung des Sozialen beruht, nannte Michel Foucault »Bio-Macht«.2 In den Machtverhältnissen der produktiven, am sozialen Leben der Bevölkerung interessierten »BioMacht« vollziehen sich gouvernementale Ordnungspolitiken von Gemeinwohl, sozialer Disziplinierung oder Produktivität. Bis in die Selbst- und Fremdregierung des Einzelnen hinein reichen die Kapillaren der sozialen Wissensordnungen in den verschiedenen Ausprägungen von Wissensfeldern, wissenschaftlich begründeten Wertungen oder humanwissenschaftlicher Selbstkonzepte. Arbeitslosigkeit wird insbesondere in der französischen Sozialgeschichte in diesem Sinn als staatliches Klassifizierungs- und Verwaltungsinstrument wissensbasierter Regierungsweisen begriffen.3 Arbeitslosigkeit entstand im Grunde Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge ihrer sozialen bzw. wohlfahrtsstaatlichen Erfassung und Bearbeitung in Statistiken und Versicherungskategorien, die den einzelnen Arbeitslosen in die Logiken der handlungsleitenden Wissensformationen einbanden.

1 Impulsgebend: Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193; überarbeitete Fassung in: ders., Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2018, S. 13–50. 2 Einschlägig entwickelt in: Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt / Main 1994; ders., Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd.  1, Frankfurt / Main 1983. 3 Vgl. Topalov, Naissance du Chômeur; Zimmermann, Arbeitslosigkeit.

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Wissen und Nicht-Wissen über Arbeitslosigkeit

Die wissenschaftlichen Problematisierungen der Massenarbeitslosigkeit der 1970er- und 1980er-Jahre bewegten sich in einer Zeit, für die zwei einander vordergründig widerstrebende Entwicklungen in der »Verwissenschaftlichung des Sozialen« festzuhalten sind.4 Einerseits haben wir es mit Gesellschaften zu tun, in denen die Rolle wissenschaftlichen Expertenwissens so sehr in staatlichen Entscheidungsprozesse mit eingebunden war, dass sie sich selbst als Wissensgesellschaften begriffen.5 Andererseits war ein vorläufiger Zenit wissenschaftlich gestützter Planungseuphorie Ende der 1960er-Jahre überschritten, ohne dass alle hehren Versprechungen wissenschaftsgestützter Gesellschaftsoptimierung hätten eingelöst werden können. Die Effekte und Verschiebungen dieser Umordnungen von Wissenschaften als Institution wie als diskursive Ordnungen werden im Folgenden nicht im Vordergrund stehen können in dem Sinn, einen eventuellen »Grad« von Verwissenschaftlichung festzustellen oder gegenseitige Verschränkungen von wissenschaftlichen und politischen Interessen glasklar auseinander zu dividieren. Vielmehr sollen wissenschaftliche Konzepte und Wissenskonfigurationen daraufhin abgeklopft werden, inwiefern Arbeitslosigkeit problematisiert wird und welche Implikationen für die Subjektivierung von Arbeitslosen damit einhergehen. Subjektanalytisch wird zu fragen sein, inwiefern wissenschaftliche Diskurse subjektivierungsrelevantes Wissen produziert haben. Dabei kommen im Wesentlichen zwei Ansätze zum Tragen. Zum einen wird zu untersuchen sein, inwiefern Wissensordnungen Konzeptualisierungen von Subjektivierung enthalten, also historische Repräsentationen von Subjekten hervorgebracht haben. Zum anderen ist der Gouvernementalität subjektrelevanten Wissens nachzugehen und seinen subjektformierenden Regulierungstechniken.6 Die Wissensfelder, die abgedeckt werden, sind diejenigen, die den Zugriff auf Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert dominiert haben: Ökonomie, Statistik und Sozialwissenschaften, die weitgehend in ihren wissenschaftlich oder staatlich kanonisierten Formen betrachtet werden. Es wird weniger um Populärwissen gehen und nur stellenweise darum, inwiefern sich wissenschaftliches Wissen über Arbeitslosigkeit popularisierte. Seriöse Aussagen dazu überfordern zum einen schlicht die Personalressourcen dieser Untersuchung. Zum anderen ist das populäre »Wissen« zu Arbeitslosigkeit, das z. B. in Ratgeberliteratur kondensiert greifbar wäre, selten im engeren Sinn wissensbasiert, sondern der praktischen Lebensführung gewidmet und wird daher an entsprechender Stelle thematisiert werden. 4 Vgl. Lutz Raphael, Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2018, S. 13–50, hier: S. 32. 5 Vgl. Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neu­ bestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: GG 30 (2004), S. 275−311; Mitchell G.  Ash, Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: AfS 50 (2010), S. 11−46. 6 Vgl. Foucault, Überwachen; ders.: Der Wille zum Wissen; daneben vgl. Cruikshank, The Will to Empower; Rose, Inventing Our Selves.

Kollateralschäden ökonomischer Theorie

1.

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Kollateralschäden ökonomischer Theorie: Arbeitslose im Übergang

Im Februar 1979 kam Michel Foucault in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität auf das Problem der Arbeitslosigkeit in neoliberaler Lesart zu sprechen: Insbesondere ist die neoliberale Politik mit Bezug auf die Arbeitslosigkeit vollkommen eindeutig. Man darf in einer Situation der Arbeitslosigkeit, wie hoch auch immer die Arbeitslosenquote sein mag, keineswegs direkt oder in erster Linie die Arbeitslosigkeit beeinflussen, als ob die Vollbeschäftigung ein politisches Ideal und ein wirtschaftliches Prinzip wäre, das unter allen Umständen gerettet werden müßte. Was zunächst und vor allem gerettet werden muß, ist die Preisstabilität. (…) Aber die Vollbeschäftigung ist kein Ziel, und es kann sogar sein, daß ein bestimmter Prozentsatz von Arbeitslosigkeit für die Wirtschaft absolut notwendig ist.7

Foucaults Auslassungen lesen sich auf den ersten Blick wie ein zeitgenössischer Kommentar zum Einbruch des marktfundamentalistischen Neoliberalismus in die Wirtschaftspolitiken Westeuropas in den 1970er-Jahren. Nach dem gängigen Forschungsstand ging die Phase des keynesianisch geprägten Booms und des wohlfahrtsstaatlichen Konsens’ in diesen Jahren zu Ende und wurde von monetaristischer Marktorientierung bzw., je nach wissenschaftlicher Einschätzung, von einer neoliberalen Ideologie des Marktes abgelöst.8 Vollbeschäftigung war nicht mehr das vorrangige politische Ziel, und Arbeitslosigkeit wurde fiskalpolitisch in Kauf genommen. Der politische Glaubenssatz des Keynesianismus, niedrigere Arbeitslosenquoten mit einer moderat steigenden Inflationsrate quasi »erkaufen« zu können, sei spätestens in den 1980er-Jahren abgelöst worden von einem deflationärem Monetarismus, der ein neues, von Massenarbeitslosigkeit gestütztes, Regime eines global vernetzten Finanzkapitalismus etablierte.9 In zeitlichen Entwicklungen etwas zurückhaltender formulierte Christopher Boyer konzise: »Inflation und Arbeitslosigkeit waren die Signatur der 1970er Jahre; sie waren durch das Stagflations-Dilemma unheilvoll miteinander verbunden,« und berücksichtigt damit das in der Bundesrepublik in den 1970er-Jahren missliche Verhältnis von Staatsverschuldung und Konjunkturschwäche.10 Tatsächlich befasste sich Foucault in der zitierten Vorlesung mit Regulierungen des deutschen Neoliberalismus, d. h. dem Ordoliberalismus der Freiburger 7 Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II . Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt / Main 2006, S. 198. 8 Vgl. z. B. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom; Brian Harrison, Finding a Role? The United Kingdom 1970–1990, Oxford 2010. 9 Vgl. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013, S. 102 ff. 10 Boyer, Schwierige Bedingungen, S. 13.

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Wissen und Nicht-Wissen über Arbeitslosigkeit

Schule und damit einer Traditionslinie der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit. Dem deutschen Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Röpke schreibt er dann im Folgenden fälschlich eine Aussage zur Funktion von Arbeitslosen in diesem deutschen Ordoliberalismus zu: Wie Röpke, glaube ich, sagt: Was ist der Arbeitslose? Er ist kein wirtschaftlich Behin­ derter. Der Arbeitslose ist kein soziales Opfer. Was ist also der Arbeitslose? Er ist ein Arbeiter im Übergang. Er ist ein Arbeiter, der von einer nicht rentablen zu einer rentableren Arbeit übergeht.11

In diesem Zitat und all seiner Vagheit deuten sich zwei Dinge an: zum einen die Unschärfe wirtschaftstheoretischer Begrifflichkeiten und zum anderen die Marginalisierung von Arbeitslosigkeit und Arbeitslosen in wirtschaftstheoretischen Modellen. Ökonomische Theorie der 1970er- und 1980er-Jahre verhielt sich dem Phänomen der Arbeitslosigkeit gegenüber weitgehend zurückhaltend.12

1.1 Unscharfe Diagnosen: Wirtschaftstheorien und Arbeitslosigkeit Dabei scheinen die Voraussetzungen eines wirtschaftstheoretisch angeleiteten wirtschaftspolitischen Umbruchs in der Regierung von Arbeitslosigkeit in den 1970er-Jahren gegeben zu sein. In der Ideengeschichte makroökonomischer Theorie und in der politischen Ökonomie, verstanden als deren Anwendung in der politischen Praxis, zeichnete sich in den 1970er-Jahren eine Ablösung keynesianischer Ansätze der Nachkriegsjahre durch neoklassische bzw. monetaristische Angebotstheorien ab.13 Monetaristische Konzepte diffundierten, mehr oder minder konsistent und in Großbritannien und der Bundesrepublik unter jeweilig spezifischen Bedingungen und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in politische Beratungsgremien und akademische Expertise.14 In der Tat scheint auch auf den ersten Blick in der Problematisierung von Arbeitslosigkeit ein entscheidender Unterschied zwischen Keynesianismus und Monetarismus zu liegen, betrachtet man jedenfalls die einschlägigen Einlassungen ihrer jeweiligen Hauptvertreter Keynes und Friedman. 11 Foucault, Die Geburt der Biopolitik, S. 198. 12 Vgl. auch: Johannes Moser, Jeder, der will, kann arbeiten. Die kulturelle Bedeutung von Arbeit und Arbeitslosigkeit, Wien, Zürich 1993, S. 62–80. 13 Vgl. Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007, S. 178; Thorsten Lange, Die Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende, in: Lutz Raphael / HeinzElmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006, S. 173–191. 14 Vgl. Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 143; Susan Howson, Money and Monetary Policy since 1945, in: The Cambridge Economic History of Modern Britain. Bd. 3, Cambridge 2004, S. 134–166, hier: S. 152.

Kollateralschäden ökonomischer Theorie

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Dem britischen Ökonom John Maynard Keynes ist es zuzurechnen, dass er im Gegensatz zur Neoklassik in seiner in der Weltwirtschaftskrise publizierten »General Theory« die Existenz von »unfreiwilliger Arbeitslosigkeit« einräumt, d. h. Arbeitslosigkeit, die strukturell oder konjunkturell bedingt ist und aus einem Überangebot von Arbeitskräften im Verhältnis zur Arbeitsnachfrage, unabhängig von deren Lohnvorstellungen, resultiert.15 Diese Arbeitslosigkeit sei nicht durch flexiblere Lohn- oder Geldpolitiken steuerbar, sondern durch staatliche Interventionen zur Steigerung der Nachfrage. Der Monetarist Milton Friedman hingegen spricht 1967 unter dem Eindruck schwächelnder Konjunktur und in Reaktion auf den Keynesianismus von »natürlicher Arbeitslosigkeit«, die keine unabänderliche, normale oder erwünschte Arbeitslosigkeit sei, hingegen modellhaft einkalkuliere, dass Arbeitslosigkeit durch politische Eingriffe in Geldpolitiken nicht zu beeinflussen sei.16 Gleichwohl ist die nach Friedman »unvermeidliche, natürliche Arbeitslosigkeit« eine Sockelarbeitslosigkeit oder Bodensatzarbeitslosigkeit, die, da auch unter günstigen konjunkturellen Bedingungen nur langsam abzubauen, in gewisser Weise hinnehmbar und Teil der »Vollbeschäftigung« sei, zudem der Umfang der natürlichen Arbeitslosigkeit, laut Friedman, unbekannt sei. Die Erklärung von Ursachen und erst recht Wirkung von Arbeitslosigkeit ist jedoch in beiden Ansätzen theoretisch unterbelichtet.17 Ihre arbeitsmarktoder beschäftigungstheoretischen Implikationen erschließen sich bestenfalls in indirekter Lesart, beispielsweise in Überlegungen, welche institutionellen oder soziologischen Prozesse hinter Friedmans Charakterisierungen von Friktionen und Marktunvollkommenheiten des Beschäftigungsmarkts ablaufen können.18 Auch bei Keynes sucht man eine ausdifferenzierte Arbeitsmarkttheorie vergeblich. Bezeichnenderweise beantwortet er die Frage, warum Arbeitslosigkeit besteht, nicht vom Arbeitsmarkt, sondern vom Gütermarkt her und damit, was eine effektive Güternachfrage bestimmt.19 Mit dem Arbeitsmarkt beschäftigte sich Keynes nur am Rande. Beide Theorie-Antipoden wurden in der weiteren ökonomischen Theoriedebatte und erst recht in der politökonomischen Praxis vielfältig abgewandelt 15 Vgl. John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936, S. 15. 16 Vgl. Milton Friedman, The Role of Monetary Policy, in: American Economic Review 58 (1968), S. 1–17, hier: S. 8; dazu auch: Jan Priewe, Zur Kritik konkurrierender Arbeitsmarktund Beschäftigungstheorien und ihrer politischen Implikationen, Frankfurt / Main, New York u. a. 1984, S. 59–66. 17 Vgl. Priewe, Zur Kritik konkurrierender Arbeitsmarkt- und Beschäftigungstheorien, S. 1–8, passim. 18 Hierzu: Friedman, The Role of Monetary Policy, S. 8 19 Vgl. Rudolf Richter, Warum Arbeitslosigkeit? Antworten von Wirtschaftstheoretikern seit Keynes (1936), in: Wolfgang Filc / Claus Köhler (Hrsg.), Macroeconomic Causes of Unemployment. Diagnosis and Policy Recommendations / Makroökonomische Ursachen der Arbeitslosigkeit. Diagnose und Therapievorschläge, Berlin 1999, S. 31–58, hier: S. 33.

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und, je nach wissenschaftspolitischer Einschätzung, ausdifferenziert oder trivialisiert. In puncto Arbeitsmarkt- bzw. Beschäftigtentheorie sind mikroökonomische Fundierungen von neo-keneysianischer oder neo-klassischer Theorie, die sich irritiert über theoretisch nicht kalkuliertes Verhalten von Wirtschaftssubjekten zeigten, aufschlussreich. Der bekannteste Vertreter einer Mikrofundierung keynesianischer Makromodelle ist der US -amerikanische Ökonom Edmund A. Phelps, der zum einen die These der »natürlichen Arbeitslosigkeit« Friedmans mit mikroökonomischen Annahmen zum Such-Kalkül und zur Lohnerwartung der Arbeitsanbieter stützte. Zum anderen lenkte er in den frühen 1970er-Jahren den ökonomischen Forschungsblick auf das Verhalten der Akteure des Arbeitsmarkts und der unter Umständen »irrationalen« Erwartungen der Wirtschaftssubjekte.20 Damit benannte er Phänomene wie Suchfriktionen, Ausbildungskosten und Informationsunvollkommenheiten sowie deren Verhaltensimplikationen. Phelps vertrat die These, dass Arbeitssuchende im beginnenden Konjunkturabschwung die Reallohnentwicklung überschätzten, so dass sich die Dauer der Arbeitssuche verlängerte.21 Zeittypisch begrenzte er den theoretisch zugebilligten Handlungsradius der Wirtschaftssubjekte auf ihre idealtypisch angenommene Produktivitätsbereitschaft. So findet die strukturelle Diskriminierung von Schwarzen als gesamtwirtschaftliches Produktivitätshemmnis der USA Erwähnung, die diskriminierende Erwartungshaltung gegenüber Schwarzen und ihrem vorgeblich instabilen Erwerbsverhalten angesichts unattraktiver Arbeitsplätze und höherer Freizeitpräferenz wird aber theorieimmanent bestätigt.22 Die individuelle Variable der Arbeitsplatzsuche erfassten die US -amerika­ nischen Ökonomen Robert E. Lucas und Edward D. Prescott Anfang der 1970erJahre im Modell der »freiwilligen Sucharbeitslosigkeit«.23 Diese baute auf der »natürlichen Arbeitslosigkeit« von Friedman und Phelps auf, berücksichtigte aber neben realen Preis- und Lohnverhältnissen die Erwartung von Arbeitsmarktteilnehmern an diese. »Freiwillige Sucharbeitslosigkeit« ist insoweit eine vorübergehende, aufgrund unvollständiger Informationen über die Höhe der erzielbaren Löhne zustande gekommene Arbeitslosigkeit. Weitere Entwicklungen makroökonomischer Ansätze ebneten der fiskalpolitischen Entwicklung der 1980er-Jahre den Weg. Die Forschungen des Chicagoer Wirtschaftswissenschaftler Robert J. Barro sind dafür symptomatisch. Anfang der 1970er-Jahre verortet sich Barro mit dem in Kooperation mit Herschel I. Grossmann entwickelten Barro-Grossmann-Modell im keynesianischen 20 Vgl. Edmund S. Phelps u. a. (Hrsg.), Microeconomic Foundations of Employment and Inflation Theory, New York 1970; Edmund S. Phelps, Inflation Policy and Unemployment Theory. The Cost-Benefit Approach to Monetary Planning, New York 1972. 21 Ebd., S. 60–64; Priewe, Zur Kritik konkurrierender Arbeitsmarkt- und Beschäftigungstheorien, S. 50. 22 Vgl. ebd., S. 91. 23 Vgl. Robert E. Lucas / Edward C. Prescott, Equilibrium Search and Unemployment, in: Journal of Economic Theory 7 (1958), S. 188–209.

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Spektrum.24 Arbeitslosigkeit resultiert bei ihnen aus einem allgemeinen Ungleichgewicht von Märkten und daraus folgenden Nachfrageausfällen. In den 1980er-Jahren argumentierte er mit dem gemeinsam mit David B. Gordon vorgestellten Zeitinkonsistenzmodell zwar in gewisser Weise keynesianisch, insoweit dass eine geldpolitisch gesteuerte Inflation Arbeitslosigkeit senken könne.25 Dieses sei aber von Wirtschaftssubjekten bereits insoweit antizipiert, als Lohnpolitiken und Lohnerwartungen damit rechne und diese Geldpolitik damit ihr Ziel, Senkung von Arbeitslosigkeit, verfehle. Barros Schlussfolgerungen sind monetaristisch: Eine politisch weitgehend unabhängige Notenbank müsse sich regelgebunden und glaubhaft zu einer stabilitätsorientierten Geldpolitik verpflichten und damit die Inflation in Schach halten. Insgesamt verblieb die Makroökonomik in den von Keynes aufgestellten Variablen, und die Schwachstellen in der Arbeitsmarktanalyse wurden allenfalls durch Anleihen bei den Sozialwissenschaften oder bei der Institutionenökonomik aufgebessert. Der nüchternen Aussage der Ökonomiekritik in den 1980er-Jahren, wonach der Stand der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungstheorie in der makroökonomischen Theorie unbefriedigend sei, ist deshalb im engeren disziplinären Rahmen durchaus zuzustimmen.26 Der Eindruck bestätigt sich mit einem Blick in die Inhalte der universitären Lehrbücher der Makroökonomik, die bis in die 1990er-Jahre Arbeitsmarktökonomik nur im Ausnahmefall behandelten und erst recht Arbeitslosigkeit in neo-klassischer Lesart als theoretisch randständig abtaten. »Zu jedem Zeitpunkt gibt es ein bestimmtes Maß an Unterbeschäftigung. Die natürliche Arbeitslosenquote beschreibt die durchschnittliche Unterbeschäftigung, um die die statistisch gemessene Arbeitslosigkeit schwankt,« heißt es lapidar im 1991 auf Englisch erstmalig publizierten Lehrbuch des neoklassischen Harvard-Ökonomen N.  Gregory Mankiw, das laut Autor an 350 Hochschulen in 27 Ländern eingesetzt wird.27 Im engeren Sinn der Arbeitsmarktökonomik wiederum sind monetaristische Modelle von Arbeitslosigkeit Standard geworden. Deren Erklärungswert für Arbeitslosigkeit wird freilich selbst innerhalb der Disziplin nicht allzu hoch eingeschätzt, und so kann man in einem einschlägigen Nachschlagewerk aus dem Jahr 2008 unter dem Stichwort »Arbeitslosigkeit« lesen: »Economists and others are interested in unemployment because it says something – we are not sure exactly what – about the economic conditions generally and the success or failure of economic 24 Robert J. Barro / Herschel I. Grossman, A General Disequilibrium Model of Income and Employment, in: American Economic Review 61 (1971), S. 82–93. 25 Ders., Theory of Monetary Policy in a Natural Rate Model, in: Journal of Political Economy 91 (1983), S. 589–610; Fritz Söllner, Die Geschichte des ökonomischen Denkens, Berlin, Heidelberg 32012, S. 186. 26 Vgl. Priewe, Zur Kritik konkurrierender Arbeitsmarkt- und Beschäftigungstheorien; Richter, Warum Arbeitslosigkeit?, S. 31–58. 27 Nicholas G. Mankiw, Makroökonomik, Wiesbaden 21996, S. 152; den Arbeitsmarkt explizit berücksichtigend: Rudolf Richter / U lrich Schlieper / Willy Friedmann, Makroökonomik. Eine Einführung, Berlin 1993.

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policy.«28 Arbeitslosigkeit, so der Eindruck, ist hier lediglich Störfaktor eines ökonomischen Theoriegebäudes. Im Hinblick auf die wissenschaftliche Vernachlässigung des Problemfelds der Arbeitslosigkeit durch die Makroökonomien des 20. Jahrhunderts, ist man versucht, zur Marx’schen politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts zurückzukehren und schlicht zu konstatieren, dass die »industrielle Reservearmee« der Arbeitslosen notwendig sei für das Funktionieren des Kapitalismus, der, altbekannt und eher system- als theorieimmanent »die Vollbeschäftigung scheut wie der Teufel das Weihwasser.«29 Obgleich Arbeitslosigkeit ökonomietheoretisch derart unterbelichtet war, zeigten die vorhandenen, eher indirekt operierenden Theorieansätze weitreichende politische Implikationen. Die Wechselwirkungen wissenschaftlicher und politischer Expertise, von der Forschungsliteratur für die Wirtschaftswissenschaften in beiden Ländern hinlänglich herausgearbeitet, ist auch in den einschlägigen Politikfeldern von Fiskal- und Geldpolitik ausgeprägt, einschließlich anzunehmender gegenseitiger Beeinflussung wie Trivialisierung von Wissenschaften und Politik.30 Im Folgenden liegt ein Schwerpunkt darauf, zu skizzieren, inwiefern in den politikökonomischen Praktiken ein ökonomietheoretisch angeleiteter oder fundierter Umbruch im politischen Umgang mit Arbeitslosigkeit in den 1970er- und 1980er-Jahren zu erkennen ist.

1.2 Mischkalkulationen bundesdeutscher Wirtschaftspolitik Das Zitat des damaligen Bundesministers für Wirtschaft und Finanzen Helmut Schmidt (SPD) »Mir scheint, daß das Deutsche Volk  – zugespitzt  – 5  Prozent Preisanstieg eher vertragen kann, als 5 Prozent Arbeitslosigkeit,« aus einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 27. Juli 1972 wird gern herangezogen, um dessen vermeintlich keynesianische Grundüberzeugungen zu belegen.31 Doch weder die wirtschaftlichen Realitäten der Bundesrepublik in den 1960erund 1970er-Jahren, noch die Wirtschaftspolitik Helmut Schmidts in seiner Zeit 28 Robert Topel, Unemployment, in: The New Palgrave Dictionary of Economics, London 2017, https://rd.springer.com/referenceworkentry/10.1057/978-1-349-95121-5_1772-2, 30.01.2023; vgl. auch Priewe, Zur Kritik konkurrierender Arbeitsmarkt- und Beschäftigungstheorien, S. 1. 29 Karl Marx, Das Kapital. Bd. 1., in: Marx – Engels – Werke. Bd. 23. Berlin 1968, S. 11–802, hier: S. 661; Ralf Käpernick, Einleitung, in: Kai Eicker-Wolf / Ralf Käpernick / Torsten Niechoj / Sabine Reiner / Jens Weiß (Hrsg.), Die arbeitslose Gesellschaft und ihr Sozialstaat, Marburg 1998, S. 9–19, hier: S. 9. 30 Vgl. Alexander Nützenadel, Die Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005, S. 12; Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 13–18. 31 Hans-Ulrich Spree, SZ -Gespräch mit Helmut Schmidt, in: Süddeutsche Zeitung. 28.07.1972, S. 8; vgl. auch: Richter, Warum Arbeitslosigkeit? S. 36.

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als Bundeskanzler lassen eine solche Deutung zu. Schmidt, der keynesianisches Planungsdenken beargwöhnte, sah die wirtschaftlichen Probleme ursächlich in einer währungspolitisch destabilisierten Weltwirtschaftsordnung.32 Daneben zeigten die tatsächlichen Werte der Inflationsraten und der Arbeitslosenquoten in der Bundesrepublik Deutschland bereits seit 1960, dass eine einfache Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation nicht bestand. Keynesianische Politik gewann zudem gegenüber ordoliberalen Konzepten, da herrscht weitgehende Einigkeit unter Wirtschaftshistorikern, in der Bundesrepublik erst im Laufe der 1960er-Jahre an Einfluss. Auch war die Liaison zwischen SPD-Wirtschaftsexperten und dem Keynesianismus, der impulsgebend für die im Godesberger Programm von 1959 formulierte erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung war, von kurzer Dauer. Erst mit Eintritt der Sozialdemokraten in die Bundesregierung und dem »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft« 1967 wurde Globalsteuerung in gewissem Sinn wirtschaftspolitisch leitend.33 Aber selbst Karl Schiller (SPD), der das Gesetz auf den Weg gebracht hatte, posierte bekanntlich nach seinem Rücktritt als Wirtschafts- und Finanzminister 1972 gemeinsam mit Ludwig Erhard als »Hüter der Marktwirtschaft«. Die neue Wirtschaftspolitik der Großen Koalition entsprach für ihn eher einer »Synthese von Freiburger Imperativ und Keynesianischer Botschaft.«34 Angesichts der wirtschaftlichen Krisen, den Steuerungsfehlern und der Stagflation der 1970er-Jahre verlor die Globalsteuerung keynesianischer Prägung zudem rasch an Legitimität, wurde aber nicht grundsätzlich aufgegeben.35 So wenig also Keynesianismus in irgendeiner »Reinform« fiskalpolitisch handlungsleitend war, so wenig kann in den Folgejahren wirtschaftspolitisch von einem neuen, monetaristischen Paradigma, das gar schlüssig ökonomietheoretisch begründet war, die Rede sein. Die bundesrepublikanische Wirtschaftspolitik und ihre wissenschaftliche Beratung oszillierten in den frühen 1970er-Jahren zwischen ad hoc-Maßnahmen, Mischkalkulation und zeitweisen Antagonismen von expansiver, keynesianischer Fiskal- und restriktiver, monetaristischer Geldpolitik, die in diesem Mischungsverhältnis eigene Problematiken hervorbrachte. So führte der keynesianische Anspruch der Globalsteuerung von Wirtschaft im Grunde dazu, dass der seit 1963 bestehende »Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« (Rat der Wirtschaftsweisen) 1974 eine klare Zielgröße in der Geldpolitik empfahl, die Tarifpartnern und Regierung als Richtschnur bekannt sein müsse.36 Eine solche Zielmarke, ein geldpolitisches 32 Vgl. Winfried Süß, Der bedrängte Wohlfahrtsstaat. Deutsche und europäische Perspektiven auf die Sozialpolitik der 1970er-Jahre, in: AfS 47 (2007), S. 95–126, hier: S. 121. 33 Vgl. Nützenadel, Die Stunde der Ökonomen, S. 234–244, 321–328; Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 410. 34 Zitiert nach: Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 413. 35 Vgl. Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 161–171. 36 Ebd., S. 170; Jens Rohwäder, Die Geldpolitik der Deutschen Bundesbank zwischen 1969 und 1982 im Lichte von Monetarismus und Keynesianismus, Hamburg 1990, S. 111–114; allgemein auch bei: Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 421.

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Element der monetaristischen Theorie, wurde Ende 1974 von der Bundesbank erstmals definiert, die damit als unabhängiger finanzpolitischer Akteur auftrat, der im Zweifelsfall gegen die Regierung für Preisstabilität eintreten konnte.37 Zum Jahresende 1975 erklärte der FDP-Wirtschaftsminister Hans Friderichs im Manager-Magazin dann den Keynesianismus für »veraltet«.38 Zur gleichen Zeit setzten sich an den Universitäten sowie im Rat der Wirtschaftsweisen, dies hat Tim Schanetzky gezeigt, wirtschaftsliberale, neoklassische Positionen durch.39 Gleichwohl erwiesen sich auch monetaristische Politikempfehlungen als wenig effektiv, da die private Kreditnachfrage nicht zu steuern war.40 Grundsätzlich waren die Grenzen einer allgemeinen Konjunktursteuerung 1975 sichtbar geworden. Nach einer kurzen Phase expansiver Geldpolitik bis 1978 kehrte die Bundesbank zur knappen Geldversorgung zurück und rückte trotz hoher Arbeitslosigkeit davon ab, die beschäftigungsfördernde Finanzpolitik weiter zu unterstützen.41 Der Präsident der Bundesbank Otmar Emminger sprach 1979 davon, dass »775.000 statistische Arbeitslose (…) immer noch ein Problem,« seien. Aber man könne, »diesem Problem nicht mehr durch eine globale Ausweitung der Nachfrage beikommen.«42 An dieser Haltung der Bundesbank änderte sich auch im Wesentlichen nichts, als der Sozialdemokrat und vormalige Staatssekretär im Finanzministerium Karl Otto Pöhl 1980 Bundesbankpräsident wurde. In den Haushaltsplänen der Bundesregierung blieb zwar, so der Bundesfinanzminister Hans Matthöfer (SPD) in seiner Budgetrede vor dem Bundestag 1981, »Vollbeschäftigung das erste Ziel der Finanz- und Wirtschaftspolitik«, jedoch sei es nun »grundsätzlich richtig, auch in der Arbeitsmarktpolitik einige Anforderungen an die Eigenverantwortung und Zumutbarkeit erreichbarer Arbeitsplätze zu verstärken, und sie vor allem wirkungsvoller durchzusetzen.«43 Die sich in diesem Zitat abbildenden Aporien zwischen sozialpolitischen Vorstellungen von SPD -Basis und Gewerkschaften und den wirtschaftspolitischen Handlungsspielräumen führten bekanntlich zum Bruch der sozialliberalen Koalition 1982, manifestiert im Programmpapier des Wirtschaftsministers Lambsdorff (FDP). Die wirtschaftspolitischen Positionen Lambsdorffs unterschieden sich allerdings nicht wesentlich von denen der SPD -Regierungsmitglieder, wie 37 Rohwäder, Die Geldpolitik der Deutschen Bundesbank, S. 111 f. 38 Zitiert nach: Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 169. 39 Vgl. Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 178; Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 270. 40 Vgl. ebd., S. 422; Rohwäder, Die Geldpolitik der Deutschen Bundesbank, S. 126. 41 Vgl. Rohwäder: Die Geldpolitik der Deutschen Bundesbank, S. 165. 42 Vgl. ebd., S. 174. 43 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 51. Sitzung. 16.09.1981, S. 2866, 2874, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/09/09051.pdf, 30.01.2023; vgl. auch: Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, S. 506; Douglas Webber, Zwischen programmatischem Anspruch und politischer Praxis: Die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik Deutschland von 1974 bis 1982, in: Mitt AB 15 (1982), S. 261–275, hier: S. 267.

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ein Blick auf die Agenda ›90 zeigt, die der kurzzeitige SPD -Finanzminister ­ anfred Lahnstein 1982 vorlegte und die für mittelfristige HaushaltskonsoM lidierung, Effektivierung der Arbeitsvermittlung und Stärkung finanzieller Eigenanteile in der Krankenversicherung warb sowie »dauerhafte Anreize für unternehmerisches Handeln und Investitionen« forderte.44 Nach dem Regierungswechsel 1982 wurde die Haushaltspolitik restriktiver, aber für die Umsetzung einer konsequenten wirtschaftsliberalen Angebotspolitik fehlte auch in der CDU die Mehrheit.45 Ebenso veränderte sich der geldpolitische Stabilitätskurs der Bundesbank unter Karl Otto Pöhl nicht.46 Von einer fundamentalen, monetaristischen oder auch wirtschaftsliberalen Wende in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik, gar angeleitet von entsprechenden Theorieangeboten der Wirtschaftswissenschaften kann nicht die Rede sein. Dennoch hatten sich ordnungspolitisch die Gewichte verschoben, und die Bundesbank hatte, dies aber bereits im Laufe der 1970er-Jahre, als »eigenständiger, demokratisch nicht legitimierte[r] Akteur der Wirtschaftspolitik« an Bedeutung gewonnen.47 Über einen Zeitraum von annähernd zehn Jahren waren monetaristische Prinzipien als fiskalpolitischer »D-Mark Patriotismus« in die wirtschaftspolitische Agenda eingesickert.48 Geldpolitische Leitkategorien setzten haushaltspolitische Maßstäbe mit weitreichenden Rückwirkungen auf Restriktionen in der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik. Austeritätspolitiken wiederum signalisierten den Tarifparteien, dass Lohnzurückhaltung geboten sei, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

1.3 Neokonservatives Kalkül: Wirtschaftsliberalismus in Großbritannien In Großbritannien verliefen die fiskal- und geldpolitischen Entwicklungen dramatischer, aber im Grunde parallel zu denen in der Bundesrepublik. Der Amtsantritt Thatchers war in dieser Hinsicht keine größere Zäsur. Gleichwohl war die Gleichgültigkeit gegenüber extrem hohen Arbeitslosenzahlen in den 1980erJahren Teil der sozialpolitischen Agenda Thatchers und der Konservativen Partei. Bereits unter den Labour-Regierungen der 1970er-Jahre war allerdings eine monetaristische Kontrolle der Inflationskurve akzeptiert bzw. die Kontrolle der Inflation war das beherrschende Thema der britischen Wirtschaftspolitik der 44 Vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, S. 442–446. 45 Vgl. Christopher Kopper, Der langsame Abschied von der Deutschland AG? Die deutschen Banken und die Europäisierung des Kapitalmarkts in den 1980er Jahren, in: AfS 52 (2012), S. 91–110, hier: S. 93 f. 46 Vgl. Rohwäder, Die Geldpolitik der Deutschen Bundesbank, S. 189. 47 Vgl. Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 170. 48 »DM Patriotismus« bei: Stefan Eich / Adam Tooze, The Great Inflation, in: DoeringManteuffel / Raphael / Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 173–196, hier: S. 177, folgend: ebd., S. 185.

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1970er-Jahre.49 Das geldpolitische Chaos der 1970er-Jahre traf Großbritannien in besonderem Maß und beförderte den Einsatz geldpolitischer Instrumente, die nicht immer zielführend waren. Die Bank of England führte im September 1971 den »Competition and Credit Control«-Ansatz ein, der bis Herbst 1973 bestand.50 Er gab die Obergrenzen für Kredite der Clearing-Banken frei und kontrollierte die Geldmenge indirekt durch Wertpapierhandel. Folge waren rasant wachsende Kredit- und Geldmengen und eine exponentiell steigende Inflationsrate. Das expansive Budget der konservativen Regierung erhöhte den währungspolitischen Druck. Nach heftigen Spekulationsankäufen gab Edward Heath im Juni 1972 den Wechselkurs des britischen Pfund frei. Großbritannien scherte aus der erst ein halbes Jahr zuvor begründeten europäischen Währungsordnung aus und verlor Devisen im Wert von fast zehn Milliarden Deutscher Mark. Nach dem Wahlsieg der Labour-Party 1974 war es Finanzminister Denis ­Healey, der deflationäre Maßnahmen in seine Haushaltsplanung einfließen lassen musste, die Susan Howson als »conversion to ›monetarist‹ policy« bezeichnet.51 Die Inflation beschleunigte sich indes im Schatten des ersten Ölpreisschocks, während sich die Arbeitslosenquote 1975 verdoppelte und die Belastungen der öffentlichen Kassen Zahlungsbilanzdefizite nach sich zogen. Im September 1976 rückte Premierminister Callaghan auf dem Parteitag der Labour-Party in Blackpool sowohl vom Keynesianismus als auch vom Ziel der Vollbeschäftigung ab: the cosy world we were told would go on for ever, where full employment would be guaranteed by a stroke of the Chancellor’s pen (…), that cosy world is gone. (…) We used to think that you could spend your way out of a recession and increase employment by cutting taxes and boosting government spending. I tell you in all candour that that option no longer exists and in so far as it ever did exist, it only worked on each occasion since the war by injecting a bigger dose of inflation into the economy, followed by a higher level of unemployment as the next step.52

In Anbetracht von Inflations- und Beschäftigungsquoten der Nachkriegsjahre waren die Ausführungen Callaghans aber an sich »largely nonsense« und sig49 Vgl. Alec Cairncross, The British Economy since 1945. Economic Policy and Performance, 1945–1990, Oxford 1992, S. 187. 50 Vgl. Howson, Money and Monetary Policy since 1945, S. 153 ff.; Cairncross, The British Economy since 1945, S. 190 f. 51 Howson, Money and Monetary Policy since 1945, hier: S. 158; Cairncross, The British Economy since 1945, S. 203 f.; Glennerster, British Social Policy, S. 171 f. 52 Zitiert nach: Steven Fielding, The 1974–9 Governments and ›New Labour‹, in: Anthony Seldon / Kevin Hickson (Hrsg.), New Labour, Old Labour. The Wilson and Callaghan Governments 1974–1979, London, New York 2004, S. 285–295, hier: S. 288; Rodney Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, London 2005, S. 315–324; Glennerster, British Social Policy, S. 172; Tom Clark / Andrew Dilnot, British Fiscal Policy since 1939, in: The Cambridge Economic History of Modern Britain. Bd. 3, Cambridge 2004, S. 368–398, hier: S. 390.

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nalisierten allenfalls finanzpolitische Stabilität.53 Spätestens mit der durch die Pfundentwertung der Bank of England seit März 1974 in Kauf genommenen währungspolitischen Zwangslage zum Jahresende 1976, der zwangsweisen Aufnahme eines Kredits beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und dem zeitweisen Rückzug der Bank of England vom Devisenmarkt hatte der Keynesianismus aber realpolitisch »ein erstklassiges Begräbnis« erhalten.54 Die Haushaltsauflagen des IWF konnte Labour kurzfristig abfangen, jedoch um den Preis des von Streiks im öffentlichen Sektor geprägten »Winter of Discontent« 1978/79, dem der Wahlsieg Thatchers 1979 folgte. Die frühen 1980er-Jahre werden als »high tide of monetarism« in Großbritannien bezeichnet.55 Ziel der Fiskalstrategie der Thatcher-Administration war es, die Inflations- und Zinsrate zu senken, indem eine straffe Geldpolitik mit einer schrittweisen Verringerung des Haushaltsdefizits einherging.56 Diese restriktive Haushaltspolitik hätte auch im keynesianischen Sinn als deflatorisch bezeichnet werden können.57 Politisch war die monetaristische Begründung attraktiver, da die Anfang der 1980er-Jahre explodierenden Arbeitslosenzahlen dann nicht auf das Konto der Regierung gingen. Wachsende Arbeitslosigkeit war in dieser Darstellungsform ein Nebenprodukt fiskalpolitischer Alternativlosigkeit und kein politisches Kalkül. Britische Sozialhistoriker schätzen dies anders ein und sprechen, je nach politischem Standpunkt, davon, Arbeitslosigkeit sei als Preis für die Modernisierung der Wirtschaft in Kauf genommen worden oder aber Teil einer gezielten politischen Agenda, die Macht der Gewerkschaften zu brechen und Arbeitsbeziehungen politisch kontrollieren zu können.58 Nahezu legendär sind die Insider-Zitate konservativer Politiker der Thatcher-Regierung, die bereitwillig 53 Vgl. Jim Tomlinson, Economic Policy, in: The Cambridge Economic History of Modern Britain. Bd. 3, Cambridge 2004, S. 189–212, hier: S. 201. 54 Zitat: Stefan Berger, Die britische Labour Party, 1945–2000, in: Dieter Dowe (Hrsg.), Demokratischer Sozialismus in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Referate und Diskussionen einer internationalen Konferenz des Gesprächskreises Geschichte der Arbeiterbewegung der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Instituts für Soziale Bewegungen der Universität Bochum, Bonn 2001, S. 87–115, hier: S. 101, http://library.fes.de/fulltext/ historiker/00990006.htm#LOCE9E7, 30.01.2023; zur IWF-Krise: Kathleen Burk / A lec Cairncross, Good-Bye Britain. The 1976 IMF Crisis, New Haven, London 1992; Rodney Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, London 2005, S. 316; Glennerster, British Social Policy, S. 189 f.; Jose Harris, Tradition and Transformation: Society and Civil Society in Britain, 1945–2001, in: Kathleen Burk (Hrsg.), The British Isles since 1945, Oxford 2003, S. 91–125, spez. S. 110–116. 55 Vgl. Howson, Money and Monetary Policy since 1945, S. 159. 56 Vgl. Cairncross, The British Economy since 1945, S. 241. 57 Vgl. Tom Clark / A ndrew Dilnot, British Fiscal Policy since 1939, in: The Cambridge Economic History of Modern Britain. Bd. 3, Cambridge 2004, S. 368–398, hier: S. 391. 58 Vgl. Arthur McIvor, Working Lives. Work in Britain since 1945, London 2013, S. 251; Nick F. R. Crafts, Reversing Relative Economic Decline? The 1980s in Historical Perspective, in: Oxford Review of Economic Policy 7 (1991), S. 81–98, hier: S. 91.

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den Etikettenschwindel der Deflationspolitik erklärten. Nicholas Ridley, auf verschiedenen Ministerämtern im Kabinett Thatchers tätig, ließ mit dem Kommentar »the high level of unemployment is evidence of the progress we are making«, den er als Staatssekretär im Finanzministerium 1981 machte, noch Deutungsspielraum offen.59 Alan Budd, ökonomischer Berater im Finanz­minister, wurde im Interview mit der BBC 1992 deutlicher: They [the Government] did, however, see that it would be a very, very good way to raise unemployment, and raising unemployment was an extremely desirable way of reducing the strength of the working classes  – if you like, that what was engineered there in Marxist terms was a crisis of capitalism which re-created a reserve army of labour and has allowed the capitalists to make high profits ever since.60

In beiden Ländern, auch im Großbritannien Thatchers, kann von einem theoriegeleiteten monetaristischen Umschwung in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik im Betrachtungszeitraum nicht die Rede sein. Dennoch war die davongaloppierende Inflation, die »Great Inflation« der 1970er- und frühen 1980er-Jahre, und die Argumente ihrer Bekämpfung ein Einfallstor für institutionelle Verschiebungen in der geldpolitischen Steuerung, die den Durchbruch des »Finanzmarktkapitalismus«, d. h. die Liberalisierung der Kapitalmärkte der 1990er-Jahre einläuteten.61 Seit Mitte der 1970er-Jahre installierten die jeweiligen Nationalbanken neue fiskalpolitische Abhängigkeiten, die auch arbeitsmarktpolitisch einen Primat der Geldpolitik nach sich zogen. Auf europäischer bzw. internationaler Ebene kündigten der 1972 implementierte Europäische Wechselkursverbund und das Eingreifen des IWF in die Haushaltsplanungen Großbritanniens 1976 an, dass neue währungspoli­tische Interventionssysteme entstanden.62 Beschäftigungspolitik konnte auf die Unterstützung von Geld-, Fiskal- und Wechselkurspolitik nicht mehr zählen.63

1.4 Arbeitslose Subjekte im Übergang Was folgt daraus nun für die Subjektivierung von Arbeitslosen? Ökonomietheoretisch sowohl im Keynesianismus als auch im Monetarismus vernachlässigt, ist es wissenshistorisch wie auch sozialhistorisch irreführend von einer spezifisch »neoliberalen« Subjektivierung von Arbeitslosen im Sinn einer theoretisch angeleiteten neuartigen Ent-Subjektivierung von Erwerbslosen zu 59 Zitiert: McIvor, Working Lives, S. 251. 60 Zitiert nach Neil Davidson, Crisis Neoliberalism and Regimes of Permanent Exception, in: Critical Sociology 43 (2017), S. 615–634, hier: S. 619. 61 Vgl. Eich / Tooze, The Great Inflation; Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 72–81. 62 Vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, S. 167. 63 Vgl. Klaus Armingeon, Die Politische Ökonomie der Arbeitslosigkeit, in: Herbert Obinger / Uwe Wagschal / Bernhard Kittel (Hrsg.), Politische Ökonomie. Demokratie und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Wiesbaden 2006, S. 151–174.

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sprechen.64 Überzeugender ist es, die gesellschaftlichen Effekte einer angebotsorientierten Ökonomie zu betrachten, die, nach dem Scheitern keynesianischer Globalsteuerung den Blick auf das Individuum und seine unternehmerischen Qualitäten lenkte.65 Dass die unternehmerische Adressierung politischer Verlautbarungen bereits in den 1970er- oder 1980er-Jahren wirksam politisch umgesetzt wurde, wird in der wirtschafts- und unternehmenshistorischen Forschung begründet bezweifelt.66 Deutlich sind hingegen wirtschaftspolitisch regressive Tendenzen und daran gekoppelt, konservative sozialpolitische Subjektivierungsappelle festzustellen. Wurden im Großbritannien Thatchers die viktorianischen Tugenden des 19. Jahrhunderts beschworen, waren es in der Bundesrepublik die Ordnungspolitiken des Ordoliberalismus der 1950er-Jahre, die politische Rhetoriken und Programme sozialpolitischer »Selbstverantwortung« untermalten.67 Die ökonomietheoretische Vernachlässigung von Arbeitslosigkeit findet sich zwar in der fiskalpolitischen Hinnahme von Arbeitslosigkeit seit Mitte der 1970er-Jahre wieder, die Abkehr von der Vollbeschäftigung war hingegen politisch und nicht wirtschaftstheoretisch gerahmt. Begleitet von politischen Topoi der arbeitsscheuen, schwer vermittelbaren, »freiwilligen« Arbeitslosen, werden Arbeitslose als Strukturproblem schlicht missachtet. Als Wirtschaftssubjekte, die, sofern arbeitsfähig und arbeitswillig, sich allenfalls lohnpolitisch verschätzt haben, liegt es an ihnen, den Übergangszustand von Arbeitslosigkeit zu überwinden.

2. Arbeitslosenstatistik: Subjektivierung durch Objektivierung Die »Regierung der Zahl« in Form statistischer Erfassung und Kalkulierung von Bevölkerung gilt als klassisches Instrumentarium staatlicher Gouvernementalität.68 Statistische Daten liefern einerseits Informationen über den zu beobachtenden Gegenstand, andererseits präfigurieren sie den Erkenntnisgegenstand. Es wird das statistisch sichtbar und messbar, was die Statistik kategorial vorausgesetzt hat. Die Statistik ist demnach nicht nur eine Messtechnik, sondern auch 64 So: Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaats, Wiesbaden 42012, S. 75. 65 Vgl. Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 184. 66 Vgl. die Beiträge in: Reitmayer / Rosenberger (Hrsg.), Unternehmen am Ende des ›goldenen Zeitalters‹; Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler (Hrsg.), Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018. 67 Vgl. Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 254. 68 Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977‒1978, Frankfurt / Main 2004, S. 396.

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eine Technik, soziale Realität zu produzieren  – so der einhellige Tenor in der einschlägigen Wissensgeschichte.69 Die Genese von Statistik war historisch mit der Genese moderner Staatlichkeit verkoppelt. Die Regierung moderner Wohlfahrtsstaaten ist ohne statistische Expertise nicht denkbar.70 Die Logiken beitragsfinanzierter Sozialversicherungen beruhen auf kalkulierbaren Daten erwartbarer Beitragshöhen und Versicherungssummen. Es steht deshalb in gewisser Weise außer Frage, dass statistische Kategorien staatlichen Interessen dienten. Die Frage, inwiefern und in welcher Form statistisches Wissen in politisches Handeln übersetzt wurde, stellt sich dennoch in differenten historischen Kontexten jeweils neu. Thesen zu den Subjektivierungseffekten von Statistiken bauen auf dem Versprechen statistischer Eindeutigkeit auf, die es ermöglichen würde, politisch objektive soziale Klassifizierung sicherzustellen. Nikolas Rose unterstreicht die gouvernementale Funktion von Statistiken, die eine angeblich objektive Subjekthaftigkeit der statistisch Erfassten definieren würden.71 Aus Einwohnern begrenzter Gebiete wurde mit Einführung statistischer Techniken die Bevölkerung eines Staatsterritoriums mit kalkulierbaren Merkmalen: Alter, Geschlecht, Wohnort, Art der Erwerbstätigkeit, politische Präferenz oder Krankheit. Das Individuum war und ist für Statistiken nur in solchen kalkulierbaren Einheiten interessant: aufgespalten in einzelne Merkmale oder angehäuft im Einzelfall, dessen Merkmale in irgendeiner Weise »typisch« oder »repräsentativ« und vergleichbar sind.72 Zur maßgeblichen Bewertungsgröße statistischer Parameter entwickelte sich der Durchschnittswert als eine über das Individuelle hinausweisende Regelmäßigkeit.73 Auf der Berechnung von Durchschnittswerten aufbauend, lassen sich Wahrscheinlichkeiten zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen berechnen und wissenschaftliche Evidenz herstellen. In der Anwendung sozialer Standardisierung werden individuelle oder kollektive Durchschnittswerte wiederum zu Ziffern, die Normen setzen. Sie sind, wie es Theodore Porter formuliert, der Grundwortschatz einer Sprache von Normalität und Abnormalität.74 Die Veridiktionszuschreibungen statistischer Daten beruhen zum einen auf ihrer numerischen Messbarkeit, die verspricht, Realität neutral und objektiv zu erfassen und Quantifizierung zu ermöglichen.75 Zum anderen dürfte ihre Abbildbarkeit in Form von Listen, Graphen, Kurven und Diagrammen, dazu bei69 Die Literatur dazu ist ausufernd vgl. nur allgemein: Alain Desrosières, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin u. a. 2005; Theodore M. Porter, The Rise of Statistical Thinking 1820‒1900, Princeton 1986; Adam Tooze, Statistics and the German State 1900–1945. The Making of Economic Knowledge, Cambridge 2001. 70 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung des Sozialen, S. 172. 71 Vgl. Rose, Governing the Soul, S. 6 f. 72 Vgl. Oliver Schlaudt, Die politischen Zahlen. Über Quantifizierung im Neoliberalismus, Frankfurt / Main 2018, S.  48–51. 73 Vgl. Desrosières, Die Politik der großen Zahlen, S. 10–14, 77–115. 74 Porter, Trust in Numbers, S. 77. 75 Grundlegend hierzu: Porter, Trust in Numbers, spez. S. 198.

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tragen, statistische Daten zu staatlich handlungsleitenden Daten zu machen.76 Die Simplifizierung komplexer Sachverhalte, resultierend aus der Visualisierung wissenschaftlicher Daten, ist, wissenschaftstheoretischen Annahmen Latours folgend, ein Aspekt, der graphische und diagrammatische Darstellung und Abbildung sozialer Verhältnisse kennzeichnet. Insoweit Verdatung und Statistik in mehr oder minder expliziter Form Grundlage von Normalisierungsurteilen sind, so wichtig ist für ihre Wirksamkeit ihre Visualisierung und massenmediale Verbreitung.77 Durch anschauliche Grafiken, Kurven, Diagramme wird »Expertenwissen«, so wiederum Jürgen Link, »en gros in Subjektivitäten nicht bloß direkt eingespeist, sondern für die Formierung entsprechender Subjektivitäten mit konstitutiv.«78 Darüber hinaus erleichtern es kondensierte Datenabbildungen, Sachverhalte einerseits in ihrem Informationsgehalt zu fixieren, sie andererseits aber in andere Kontexte zu transportieren und sowohl formal als auch inhaltlich neu zu kombinieren. Daten werden in Schaubildern und Infografiken medial reproduzierbar, aber auch bildlich manipulierbar, d. h. aus statistischen Daten zur Arbeitslosigkeit wird in den 1970er- und 1980er-Jahren in der Regel eine dramatisiert aufgeladene, exponentiell ansteigende Kurve von Erwerbslosen. Für die 1970er- und 1980er-Jahre geht die Literatur von einem Schub numerischer Validität statistisch vergleichbarer Bezugsnormen und Leistungsindikatoren in nationaler und internationaler Politik wie individueller Lebensführung aus.79 Gleichwohl hat vorschnelle Kritik an der normativen – und für die Gegenwartsdiagnosen gern: »neoliberalen«  – Aufladung statistischer Daten durchaus einen wohlfeilen Beigeschmack. Allzu vorschnell und ohne Benennung poli­tischer Verantwortlichkeiten wird eine Eigendynamik quantifizierender Gouvernementalität perhorresziert.80 Entscheidend für den Gebrauch oder Missbrauch quantifizierender Methoden sind die politischen Strategien des sta76 Bruno Latour, Drawing Things together, in: Michael Lynch / Steve Woolgar (Hrsg.), Representation in Scientific Practice, Cambridge / M A u. a. 1990, S. 19–68, hier: S. 44 ff.; vgl. auch: Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich, Berlin 2008, S. 196–198; zu den subjektivierenden Effekten von Visualisierungen statistischer Daten auch: Ute Gerhard / Jürgen Link / Ernst Schulte-Holtey (Hrsg.), Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg 2001. 77 Vgl. Ute Gerhard / Jürgen Link / Ernst Schulte-Holtey, Infografiken, Medien, Normalisierung ‒ Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Infografiken, S. 7‒22. 78 Jürgen Link, Aspekte der Normalisierung von Subjekten. Kollektivsymbolik, Kurvenlandschaften, Infografiken, in: Gerhard / Link / Schulte-Holtey (Hrsg.), Infografiken, S. 77‒92, hier: S. 81. 79 Vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom. Neue Einsichten, S. 29; Porter, Trust in Numbers, S. 198; Tom Crook / Glen O’Hara, The ›Torrent of Numbers‹. Statistics and the Public Sphere in Britain, c. 1800‒2000, in: dies. (Hrsg.), Statistics and the Public Sphere. Numbers and the People in Modern Britain. c. 1800‒2000, New York 2011, S. 3‒31, hier: S. 16. 80 Teilweise vgl. Steffen Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017; ausgewogen: Schlaudt, Die politischen Zahlen., spez. S. 179–181.

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tistischen Zahlengebrauchs, die im Folgenden anhand der Arbeitslosenstatis­ tiken beider Fallbeispiele erörtert werden sollen. Die Entwicklung der statistischen Kategorie von Arbeitslosigkeit Ende des 19. Jahrhunderts ist vor allem für Deutschland und Frankreich gut dokumentiert.81 Um 1900 wurden auch in Großbritannien erstmals amtliche Statistiken zur Erwerbslosigkeit erhoben. Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland waren Untersuchungen der Gewerkschaften zur Erwerbstätigkeit ihrer Mitglieder seit Ende des 19. Jahrhunderts in beiden Ländern Vorläufer der zentralen Arbeitslosenstatistiken, die das deutsche Kaiserliche Statistische Amt seit 1905 und die neu eingerichteten britischen Labour Exchanges seit 1910 erstellten. Die Quantifizierung von Arbeitslosigkeit fügt sich somit in die Formation von Wohlfahrtsstaaten und ihrer Organisation in Versicherungssystemen ein. Die nationale Arbeitslosenquote wurde erst dann erhoben, so Robert Salais und seine Mitautoren, als politische Mittel vorlagen, sie einzuhegen und zu bekämpfen.82 Durch Abstraktion von sozialen Einzelproblematiken, wie Armut, öffentlicher Fürsorge, Vagabondage oder Arbeitsunwille gegen Ende des 19. Jahrhunderts geprägt, signalisierte der entpersonalisierte Begriff der Arbeitslosigkeit, dass das Phänomen ökonomisch erklärt wurde. Diskreditierung von Arbeitslosen war damit nicht ausgeschlossen, und die Abstraktion der Arbeitslosenziffer löste sich insbesondere im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts statistisch teilweise wiederum auf. Der Erklärungskontext von Arbeitslosigkeit hatte aber in der Formationsphase ökonomischer Wissenschaften um 1900 ein anderes Fundament bekommen. Ihrem Abstraktionswert ist es zuzuschreiben, dass die gleichsam elastische wie dekontextualisierte Arbeitslosenstatistik im 20. Jahrhundert zu einem wirkmächtigen Referenzwert gesellschaftlicher Stabilität, zu einer Art Fieberkurve der Gesellschaft wurde. Die Gefahrenpotentiale politischer Radikalität von oder sozialer Unruhen durch Arbeitslose, der Nachweis politischen Versagens oder die gegenteilige Demonstration politischer Handlungsfähigkeit sind nur einige Beispiele für Argumentationszusammenhänge, in denen die nationale Arbeitslosenquote instrumentalisiert wurde. Die Deutung der Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre als ursächlicher Faktor der politischen Instabilität der Zwischenkriegszeit trug dazu bei, die Arbeitslosenziffer symbolisch aufzuladen, sie zu einer der Symbolziffern des gesamten 20. Jahrhunderts (und auch des angehenden 21. Jahrhunderts) zu machen.83 81 Vgl. Topalov, Naissance du Chômeur; Zimmermann: Arbeitslosigkeit in Deutschland; Bénédicte Zimmermann, Semantiken der Nicht-Arbeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Jörn Leonhard / Willibald Steinmetz (Hrsg.), Semantiken von Arbeit. Diachrone und vergleichende Perspektiven, Köln u. a. 2016, S. 269–288; Desrosières, Die Politik der großen Zahlen, S. 283–288. 82 Vgl. Robert Salais / Nicolas Bavarez / Bénédicte Reynaud, L’Invention du Chômage. Histoire et Transformations d’une Catégorie en France des Années 1890 aux Années 1980, Paris 1986, S. 247. 83 Vgl. Daniel Fischer, Über das Verhältnis von Zahl und Wirklichkeit. Der Umgang mit statistischem Wissen im massenmedialen Diskurs, Wiesbaden 2009, S. 46.

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Die Arbeitslosenstatistiken entwickelten sich im nationalstaatlichen Rahmen beider Vergleichsländer und verblieben in den 1970er- und 1980er-Jahren im nationalen Deutungszusammenhang.84 Vergleichsdaten des jeweils anderen Landes wurden rezipiert und im Hinblick auf die ökonomischen Erfolgskriterien wissenschaftlich und politisch diskutiert. Tendenzen einer Vereinheitlichung von Datenerhebungen wurden durch statistische Richtlinien der ILO, die im Jahr 1954 allgemeine Richtlinien für die Erwerbsstatistik formulierte, und regelmäßig die »International Conference of Labour Statisticians« veranstaltete, sowie der OECD befördert.85 Bemühungen um eine Vergleichbarkeit nationaler Sozialstatistiken hatten in den 1970er- und 1980er-Jahren jedoch eher eine gewisse Routine entwickelt, als dass sie erfolgreich umgesetzt werden konnten. So waren aus deutscher Perspektive auch die sozialstatistischen Initiativen des Statistischen Amts der Europäischen Gemeinschaften für den nationalen Bereich kaum interessant, zudem die »Erweiterung der Gemeinschaft um drei neue Mitgliedsstaaten«, und damit meinte der hier zitierte Hermann Berié, Statistiker im Bundesarbeitsministerium, 1977 auch das Vereinigte Königreich, »diese Probleme ohnedies nicht erleichtert hat.«86

2.1 Die Arbeitslosenstatistik der Bundesrepublik: Residuen von Stabilität Die Bundesanstalt übernahm 1953 vom Bundesministerium für Arbeit die Aufgabe, die zentrale bundesdeutsche Arbeitsstatistik zu erstellen. Statt in den Arbeits- und Sozialstatistischen Mitteilungen wurden statistische Angaben nun in den monatlich erscheinenden Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (ANBA) herausgegeben, »um (…) der Selbstverwaltung sichtbaren Ausdruck zu geben«.87 Die Geschäftsstatistik der Bundesanstalt war und ist die wichtigste allgemeine Datenquelle zur Arbeitslosigkeit.88 Ihre Datengrundlage waren wiederum manuell bzw. später maschinell ausgezählte Arbeitslosenkarteien der örtlichen Dienststellen der Bundesanstalt, die an die Statistische Abteilung der Bundesanstalt in Nürnberg bzw. seit 1969 des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufs84 Vgl. Dieter Freiburghaus, Die Messung der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1979, S. IIf.; Hermann Hitz, Erwerbsstatistische Praxis und die Ermittlung von Arbeitslosenquoten im internationalen Vergleich. Bundesrepublik Deutschland, USA , Irland und Vereinigtes Königreich, Nürnberg 1986, S. 5. 85 Freiburghaus, Die Messung der Arbeitslosigkeit, S. XIV. 86 Hermann Berié: Zukunftsperspektiven, in: Arbeits- und Sozialstatistik 1977/1, S. 3–8, hier: S. 5; vgl. für die 1980er-Jahre: Heinz Werner, Ermittlung der Arbeitslosigkeit und Leistungsbezug in der EG , Nürnberg 1987. 87 ANBA 1 (1953), 1, S. 1. 88 Freiburghaus, Die Messung der Arbeitslosigkeit, S. XIV; zum Zählverfahren der Arbeitslosen: ebd., S. 19 f.

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forschung (IAB) weitergeleitet wurden. Bestandszählungen fanden zum Ende jeden Monats statt. Als arbeitslos wurde der- oder diejenige gezählt, der oder die zwischen 15 und 65 Jahre alt, bei der Bundesanstalt als arbeitssuchend gemeldet war, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stand und höchstens 20 Stunden in der Woche erwerbstätig war. Die Ergebnisse der statistischen Erhebungen wurden monatlich vom Präsidenten der Bundesanstalt auf einer Pressekonferenz verkündet, die, so Freiburghaus 1979, in der bundesdeutschen Öffentlichkeit »mit Bangen erwartet und auf den ersten Seiten der Zeitungen kommentiert wurde.«89 Oft und insbesondere in den Abendnachrichten der öffentlich-rechtlichen Sender wurde lediglich die gesamte Arbeitslosenzahl und die Arbeitslosenquote gemeldet. In ihrer kompakten Kürze war die Quote von sterilem Gehalt d. h. der Umstände, auf denen sie basierte, weitgehend enthoben. Ohne validen empirischen Aussagewert, wurden die Daten dennoch mit dem Anspruch verkündet, soziale Wirklichkeit in Tendenzwerten berechnen und abbilden zu können.90 Gegenstand der folgenden Betrachtungen sind die Hauptstatistiken der Bundesanstalt, die Arbeitsstatistiken, die monatlich als Zusammenfassung am Jahresende in den Amtlichen Nachrichten publiziert wurden. Ergänzt wurden sie um umfangreiche tabellarische Aufstellungen zu offenen Stellen, Kurzarbeit, Empfängern finanzieller Unterstützungsleistungen oder Tätigkeit der Berufsberatung. Neben den statistischen Tabellen enthielten die Amtlichen Nachrichten einen kommentierenden Textteil, der in Form einer zweimal jährlichen Strukturanalyse der Arbeitslosenzahlen weitgehend deskriptiv zusammengestellt war.91 Der Aufbau der amtlichen Hauptstatistik der Bundesanstalt macht vor allem ihre Funktion als Instrument der Konjunkturbeurteilung deutlich. Vorrangige konjunkturpolitische Indikatoren, wie sie sich in den 1970er-und 1980er-­Jahren im tabellarischen Anhang der Hauptstatistik abbildeten, waren die berufliche Qualifikation und die berufliche Struktur der Arbeitslosen. Arbeitslose und offene Stellen wurden, nach Männern und Frauen unterteilt, jeweils nach Berufsgruppen geordnet, um sie dann tabellarisch gegenüber zu stellen. Weitere statistische Aufstellungen richteten sich nach der arbeitsmarktpolitischen Lage. Übersichten zu Teilnehmern von Fortbildung und Ausbildung Anfang der 1970er-Jahre waren aber ebenso nach Berufsgruppen gegliedert wie Aufstellungen von Teilzeitarbeitslosen Anfang der 1980er-Jahre. Konstant blieb der Nachweis der eigenen Tätigkeit der Bundesanstalt, indem Anzahl der Arbeitsvermittlungen und das Verhältnis von offenen Stellen, Arbeitsgesuchen und Stellenbesetzungen nach Berufsgruppen geordnet, aufgeführt wurden. Berufliche Qualifikation und berufliche Weiterbildung war offensichtlich der Hauptansatzpunkt der bundesrepublikanischen Arbeitsmarktpolitik und die Bundesanstalt lieferte dazu den statistischen Apparat. 89 Ebda., S. 73; Fischer, Über das Verhältnis von Zahl und Wirklichkeit, S. 83. 90 So auch Fischer, Über das Verhältnis von Zahl und Wirklichkeit, S. 46. 91 Vgl. ANBA 23 (1975), S. 16, 813.

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Konjunkturpolitisch gerahmt war auch ein weiteres statistisches Verfahren der Bundesanstalt: die Identifizierung von ›Randgruppen‹ und geographischen ›Randbezirken‹, die jeweils überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen waren und im Umkehrschluss die statistische Herstellung eines qualifikatorisch und regional stabilen Kernarbeitsmarkts beruflich Qualifizierter sicherte.92 Die amtliche Hauptstatistik der Bundesanstalt bildete in Aufbau und Aussage Anfang der 1970er-Jahre noch einen stabilen, gesättigten Arbeitsmarkt ab. Grundsätzlich in Männer und Frauen unterteilt, verzeichnete die Hauptstatistik in ihrer ersten Zeile die beschäftigten Ausländer, gefolgt von Arbeitslosen, nichtarbeitslosen Arbeitsuchenden und offenen Stellen.93 In eigenen Abteilungen wurden Beitragsempfänger und die Vermittlungsbilanzen der Bundesanstalt aufgeführt. Im Kontext des konjunkturellen und saisonalen Anstiegs der Arbeitslosigkeit wurden 1974 erstmals nach den Boomjahren Merkmale von Arbeitslosen im statistischen Anhang veröffentlicht. Dabei wurde eine Überrepräsentation weiblicher Erwerbsloser festgestellt, die auf das übermäßige Interesse von Frauen an wenig verfügbarer Teilzeitarbeit zurückgeführt wurde.94 Daneben wurde eine leichte Verringerung des Durchschnittsalters von Arbeitslosen ermittelt und ein regional verteilter Anstieg der Arbeitslosenquote. Arbeitslosigkeit betraf vor allem strukturschwache »Randbezirke« der Bundesrepublik, wie Passau (Arbeitslosenquote von 16,3 Prozent), Leer (10 Prozent) oder Pirmasens (6,1 Prozent).95 Im weiteren Verlauf der 1970er-Jahre wurden Arbeitslose in ergänzenden statistischen Übersichten nach Geschlecht, Nationalität (deutsch / Ausländer), regionaler Herkunft und Berufszugehörigkeit, Qualifikation, gewünschter Arbeitszeit (Vollzeit oder Teilzeit) sowie nach Dauer der Arbeitslosigkeit sortiert.96 Demnach waren Frauen, Ausländer, Arbeiter, junge Erwachsene zwischen 20 und 30 Jahren, Teilzeitbeschäftigte sowie gering Qualifizierte am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen. Bei einem Drittel der Arbeitslosen dauerte die Arbeitslosigkeit länger als ein halbes Jahr an. Gleichzeitig wurde es als arbeitsmarktpolitischer Erfolg verbucht, dass eben jene ›Randgruppen‹ des Arbeitsmarkts aus der Gruppe der Beschäftigten bzw. der Arbeitsstatistik wieder herausfielen. Arbeitslose Ausländer kehrten in ihre Herkunftsländer zurück, arbeitslose Frauen zogen sich in die »stille Reserve« zurück und arbeitslose Jugendliche wurden in berufsvorbereitenden Maßnahmen eingebunden.97 Der Anteil älterer Arbeitslose, die 1966 noch 42 Prozent aller Arbeitslosen ausgemacht hatten, sank bis 1977 auf vier Prozent der Arbeitslosen.98 Ursächlich hierfür war einerseits ein verbesserter Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer, andererseits die 1973 92 93 94 95 96 97 98

Beide Entwicklungen angelehnt an: Freiburghaus, Die Messung der Arbeitslosigkeit. Vgl. z. B. ANBA 20 (1970), S. 53. ANBA 22 (1974), S. 111. Ebd., S. 113, 191. ANBA 23 (1975), S. 41‒86; ANBA 24 (1976), S. 36. Ebd., S. 30. Hierzu: Freiburghaus, Die Messung der Arbeitslosigkeit, S. 29 f.

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eingeführte flexible Ruhestandsgrenze, die es Frauen ab 60 und Männern ab 63 erlaubte, Rente zu beziehen, sofern sie in den vorangegangenen anderthalb Jahren vor dem Rentenzeitpunkt ein Jahr arbeitslos waren. Das statistische Schema der Hauptstatistik wurde 1977 und 1978 umgestellt.99 Nachdem kurzfristig 1977 die Zahl der versicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer erster Nennwert der Statistik gewesen war, gefolgt von der Rubrik der Arbeitsuchenden, von denen Arbeitslose eine Unterkategorie waren, standen 1979 die Arbeitslosenzahlen wieder an erster Stelle, darunter wurden arbeitslose Ausländer, Jugendliche unter 20 Jahren, Schwerbehinderte sowie Ältere und Teilzeitarbeitslose aufgeführt. Die Rubriken der Leistungsempfänger und Vermittlungstätigkeit blieben bestehen, traten aber durch Umsortierung und Umformatierung zurück. Arbeitsmarktpolitische Stabilität war zumindest optisch nicht mehr dominant. Stattdessen waren nun Arbeitslosigkeit, Arbeitslosenquote und die Zusammensetzung der Arbeitslosen bzw. die Aufzählung arbeitsmarktpolitischer ›Randgruppen‹ die Hauptthemen der Arbeitsstatistik. Neu hinzugekommen war die Gruppe der Teilzeitarbeitslosen. Als teilzeitarbeitslos galt, wer keine Vollzeitarbeit, aber eine Beschäftigung von mehr als 20 Stunden wöchentlich suchte. Ältere Arbeitslose waren diejenigen, die 59 Jahre und älter waren. Sie waren von Zumutbarkeitsregelungen ausgenommen, um den Übergang in den Ruhestand zu erleichtern. Die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen, die Mitte der 1970er-Jahre erstmals exponentiell anstieg, wurde statistisch sehr früh bemerkt und zeigt die konjunkturpolitische Sensibilität der Datenerfassung.100 Das statistische Kategoriensystem der Hauptstatistik blieb als solches bis 1990 konstant.101 Im ergänzenden statistischen Apparat wurden seit 1979 Arbeitslose mit Hochschulausbildung, d. h. die Lehrerberufe, aufgeführt, deren Anzahl sich seit 1973 fast verzehnfacht hatte (von 753 im Jahr 1973 auf 6.562 im Jahr 1978) und bis 1985 noch einmal vervierfacht (von 6.562 im Jahr 1978 auf 28.220 im Jahr 1984).102 Daneben wurde verstärkt die Dauer von Arbeitslosigkeit problematisiert, die zwar bereits in den 1970er-Jahren Thema spezifischer Aufstellungen von Bundesanstalt und IAB war, »jetzt [aber] wesentlich länger als während der Rezession Mitte der siebziger Jahre und als während der schwierigen Arbeitsmarktsituation in der Nachkriegszeit« sei.103 Ein Drittel der Arbeitslosen war Ende September 1984 ein Jahr und länger arbeitslos gemeldet.104 Erst seit Mitte der 1980er-Jahre wurde diese Arbeitslosigkeit begrifflich als Langzeitarbeitslosigkeit gefasst, vermutlich in Übersetzung des in englischsprachigen Untersuchungen gebräuchlichen »long-term unem­ 99 Vgl. ANBA 25 (1977), S. 45; ANBA 27 (1979), S. 131. 100 Vgl. Raithel, Jugendarbeitslosigkeit, S. 64. 101 ANBA 38 (1990), S. 103. 102 ANBA 27 (1979), S. 220; ANBA 33 (1985), S. 164 f. 103 Ebd., S. 170. 104 Ebda, S. 172.

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ployment«. Das vorher im deutschsprachigen Raum gebräuchliche »dauerarbeits­ los« bezeichnete in der Regel denjenigen, der länger als zwei bzw. drei Jahre arbeitslos war. Auch unter den Langzeitarbeitslosen wurden spezielle soziale und berufliche Gruppen (künstlerische Berufe, ungelernte Frauen) identifiziert, die von diesem Phänomen besonders betroffen waren. 1989 verabschiedete die Bundesregierung das erste Sonderprogramm der »Aktion Beschäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose«.105 Das Programm, das Lohnzuschüsse, Qualifikation oder Sozialbetreuung gewähren konnte, wurde statistisch begründet mit der Zunahme von Langzeitarbeitslosigkeit von 12,9 Prozent aller Arbeitsloser 1980 auf 32,6 Prozent im Jahr 1988. Zielgruppe waren so genannte schwer oder schwerst vermittelbare Arbeitslose, die mindestens zwei Jahre arbeitslos waren und mindestens ein bzw. drei so genannte vermittlungshemmende Merkmale aufwiesen. Als solche werden Alter, gesundheitliche Beeinträchtigungen, fehlende Berufsausbildung, nicht-deutsche Nationalität oder Herkunft (Ausländer, Aussiedler, Übersiedler), Mutterschutz und Erziehungszeiten, Schulden-, Alkohol- oder Drogenprobleme, Straftaten, Analphabetismus oder psychische Probleme genannt. Die so charakterisierten »Problemgruppen« sollten durch die »angebotsorientierten Maßnahmen« des Programms ihre »Wettbewerbsfähigkeit (…) auf dem Arbeitsmarkt verbessern.«106 Das statistische Instrument, Merkmale von Individuen aufzugliedern, wirkte hier direkt auf politische Subjektivierungsprogramme ein und adressierte eindeutig, das statistisch als abnormal ermittelte und definierte Merkmal zu normalisieren. Die Stabilität regionaler Arbeitskernzonen und Kerngruppen der Arbeitsbevölkerung, die statistisch Anfang der 1970er-Jahre noch suggeriert wird, spiegelt sich teilweise in der öffentlichen Wahrnehmung der Statistik. Die mediale Darstellung der Arbeitslosenzahl bewegte sich zwischen »routinierten Diskurselementen« einerseits und Dramatisierung des Unvorhergesehenen andererseits.107 Wurde in der ersten Jahreshälfte 1973 noch der Präsident der Bundesanstalt Josef Stingl dahingehend zitiert, dass der Arbeitsmarkt für Arbeitsmarktreserven, d. h. »ältere Arbeitnehmer, Behinderte und Frauen« geöffnet werden müsse, wurde gegen Ende des Jahres vereinzelt das Schlagwort der »Massenarbeitslosigkeit« kolportiert.108 Symptomatisch kann hierfür ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Januar 1974 betrachtet werden, der für den Dezember 1973 eine Arbeitslosenquote von 2,2 Prozent vermeldete, die »damit um 0,7 Prozent höher als im November« war.109 Trotz einer effektheischenden Überschrift, 105 Vgl. Alfons Schmid / Silvia Krömmelbein / Wolfgang Klems / Gerald Groß / Susanne Anger­ hausen, Neue Wege der Arbeitsmarktpolitik für Langzeitarbeitslose. Sonderprogramm und Modellvorhaben, in: Mitt AB 25 (1992), S. 323–332. 106 Schmid / K römmelbein / K lems / Groß / Angerhausen, Neue Wege der Arbeitsmarktpolitik, S. 323. 107 Fischer, Über das Verhältnis von Zahl und Wirklichkeit, S. 83. 108 Ebd., S. 75–98, hier: S. 80, 83. 109 Hierfür und folgend: Axel Schnorbus, Das Gespenst der Arbeitslosigkeit, in: FAZ , 22.01.1974, S. 11.

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das »Gespenst der Arbeitslosigkeit« ginge um, beschwört der Artikel allerdings die Stabilität des bundesdeutschen Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme. Der Arbeitslose wird als mündiger Bürger präsentiert, der »Anspruch« auf »Leistungen« habe und »sich daher nicht als Bittsteller« fühlen solle, »der vom Staat ein Almosen haben will.« Die Geister des Kapitalismus waren staatlich eingehegt und der Arbeitslose ein mündiger Staatsbürger im funktionierenden sozialen Getriebe. Allgemein kann für die frühen 1970er-Jahre gesagt werden, dass die Arbeitslosenzahl trotz Dramatisierung vor allem als »numerische Größe« verstanden wurde, die die politische Stabilität der Bundesrepublik und die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung bewies.110 Vergleichbar mit der allabendlichen Wetterprognose in den Abendnachrichten wurde die Arbeitslosenstatistik der Bundesanstalt grundsätzlich nicht angezweifelt. Sie galt als »Wirklichkeitsindikator« und Repräsentationsziffer einer funktionierenden und stabilen Regierung von Arbeitslosigkeit.111 Ausschlaggebend für eine derartig abgeklärte Sicht der Arbeitslosigkeit zu diesem Zeitpunkt mag auch die in der Statistik abgebildete arbeitsmarktpolitische Marginalisierungsstrategie gewesen sein. Betroffen von Arbeitslosigkeit waren demnach kaum »artikulations- und konfliktfähige Gruppen der Bevölkerung,« d. h. es handelte sich nicht unbedingt um Mitglieder politisch einflussreicher Gewerkschaften.112 Zehn Jahre später zeigte die öffentliche Debatte der Arbeitsstatistik eine breitere Rezeption der Arbeitsstatistik bei gleichzeitiger Diffusion der Expertise.113 In interpretatorischer Distanz zur Deutungshoheit der Bundesanstalt entwickelte sich eine Eigenlogik der medialen Darstellungsformen. Vermehrt drastisch visualisiert, den Titel des »Spiegel« zierte im Dezember 1982 eine Flutwelle von »zwei Millionen Arbeitslosen«, hatte sich die Arbeitslosenstatistik zu einer mehr und mehr unberechenbaren, nicht steuerbaren und bedrohlichen »Horrorzahl« entwickelt.114 Die monatliche Arbeitslosenzahl schaffte es auf die Titelseiten, gewann aber auch durch Wiedergabe statistischen Detailwissens der Bundesanstalt (von Arbeitslosigkeit betroffene soziale Gruppen oder Regionen, Zahl der Kurzarbeiter u. a.) nicht an Erklärungswert, sondern stagnierte in diffuser Unschärfe. In diesen Kontexten zunehmender Dramatisierung der Arbeitsmarktlage wurde auch das arbeitslose Subjekt hinter den Zahlen wieder sichtbarer als in

110 Fischer, Über das Verhältnis von Zahl und Wirklichkeit, S. 75. 111 Ebd., S. 79, auch: S. 86 f., 97. 112 Freiburghaus, Die Messung der Arbeitslosigkeit, S. XVI. 113 Hierzu: Fischer, Über das Verhältnis von Zahl und Wirklichkeit, S. 99–127. 114 Der Spiegel 36 (1982), 49, Titel, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14356280.html, 30.01.2023; ähnlich: 14.09.1982, in: Fischer, Verhältnis, S. 109; »Horrorzahl« nach: Im März soll ich mich mal wieder melden, in: Der Spiegel 36 (1982), 49, S. 30–50, hier: S. 31, https://www.spiegel.de/politik/im-maerz-soll-ich-mich-mal-wieder-melden-a-3cd97 31e-0002-0001-0000-000014356280, 30.01.2023.

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den Vorjahren. Die Marginalisierungstendenz der offiziellen Statistik, Arbeitslosigkeit auf bestimmte Regionen und Gruppen zu begrenzen, wurde in Zweifel gezogen: »Arbeitslosigkeit läßt sich am Ende dieses Jahres nicht mehr als Außenseiterphänomen bagatellisieren, das ja nur Randgruppen wie Ausländer oder Randgebiete wie die Küstenregion um Wilhelmshaven trifft.«115 Die mögliche Allgegenwart von Arbeitslosigkeit verstärkte die bedrohliche Situation. War Arbeitslosigkeit statistisch nicht mehr eindeutig einzugrenzen, so konnte es jeden treffen: Natürlich, nach wie vor sind Jugendliche und Ältere, Teilzeit-Frauen und Ausländer am stärksten von Arbeitslosigkeit bedroht. Aber es trifft nun auch viele aus der Mittelschicht, die sich ihres Wertes in der Arbeitsgesellschaft absolut sicher waren.116

Das Einzelschicksal des Arbeitslosen trat hervor. In Sozialreportagen und halbfiktionalen Erlebnisberichten von Arbeitslosen war der Topos der Berichterstattung, einen Blick »hinter die Zahlen« zu werfen, bereits seit den späten 1970er-Jahren gängig.117 Die Bildzeitung, die sinkende Kaufkraft ihrer arbeitslosen Leser vor Augen, bediente 1977 routiniert das einfühlend emotionale Genre. Unter der Überschrift »Die Statistik hat kein Herz« berichtet sie über die »Schicksale«, die »hinter den kalten Zahlen stehen«, den »Menschen, die nach dem Sinn des Lebens fragen.«118 Auch im »Kursbuch« kam 1978 ein Arbeitsloser zu Wort, der sich »als leere Zahl« beschreibt, »die sich beliebig formen ließ« und entweder Teil einer »Schreckenszahl« sei oder Teil einer Erfolgsmeldung, sofern die Arbeitslosenkurve sank.119 Der nüchternen Statistik und ihrer unterstellten, anonymisierenden Viktimisierung des Einzelnen wurde der nicht weniger viktimisierende Blick auf den Einzelnen entgegengesetzt. Ob dieses Vorgehen journalistisch berechtigt war, steht hier nicht zur Diskussion. Deutlich wird aber die Wahrnehmung der Arbeitslosenstatistik, die nicht mehr politische Handlungsfähigkeit zugunsten des arbeitslosen Subjekts transportierte, sondern Ratlosigkeit angesichts einer übermächtigen Zahlenflut.

115 Ebd., S. 31. 116 Ebd., S. 32. 117 So die taz-Reportagen im Jahr 1982, vgl. Fischer, Über das Verhältnis von Zahl und Wirklichkeit, S. 118. 118 Zitiert nach: Thomas Riedmiller, Arbeitslosigkeit als Thema der BILD -Zeitung, Tübingen 1988, S. 41. 119 Harry Tobinski, Zimmer 24 oder: Mit der Zeit vergeht das, in: Kursbuch. Jugend 54 (1978), S. 13–30, hier: S. 29.

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2.2 Britische Rechenspiele: Manipulation einer ökonomischen Kennziffer Im Vereinigten Königreich wurden Arbeitslosenstatistiken der Gewerkschaften seit 1893 monatlich in »The Labour Gazette«, dem Publikationsorgan des Labour Department, veröffentlicht.120 Nach der Verabschiedung des Labour Exchanges Act 1909 erschienen dort monatliche, amtliche Erhebungen der neu eingerichteten Arbeitsbörsen, die Arbeitslosenquoten innerhalb der im National Insurance Act von 1911 Versicherten ermittelten. Mit dem National Insurance Act von 1946 erhöhte sich die Reichweite der statistischen Aussagewerte. Diese Statistik des nunmehrigen Department of Employment wurde einmal monatlich in einer Presseerklärung publiziert und war Informationsgrundlage öffentlicher und politischer Debatten über Arbeitslosigkeit sowie der Mehrzahl wissenschaftlicher Untersuchungen über Arbeitslosigkeit.121 In den frühen 1980er-Jahren hätten Politiker, so der Historiker Brian Harrison, auf keine andere statistische Angabe »so narrowly and anxiously« gewartet wie auf die Arbeitslosenquote des Department of Employment.122 Parteipolitisch wurde aber bereits in den frühen 1970erJahren seitens der Konservativen mittels einer »alternativen« Presseerklärung zur Arbeitslosenlage versucht, die amtliche Statistik zu unterlaufen.123 Die Statistik des Department of Employment erfasste Personen, die sich als Arbeitslose registriert hatten, nicht in Erwerbsarbeit standen, Erwerbsarbeit suchten und für eine Vollzeitbeschäftigung verfügbar waren.124 Zur Registrierung verpflichtet waren nur diejenigen Arbeitslosen, die finanzielle Unterstützungsleistungen bezogen. Die britische Statistik war demnach auch aufgrund der allgemein vorausgesetzten niedrigen Vermittlungsquote der britischen Arbeitsverwaltung, die zu niedrigen Registrierungsquoten führte, weniger umfassend als die bundesdeutsche. Ein Großteil der verheirateten, arbeitslosen Frauen wurde bis 1977 nicht in der Arbeitslosenversicherung geführt, da für 120 Abgedruckt in: The Labour Gazette 1 (1893)–13 (1905), 1; später: Board of Trade Labour Gazette 13 (1905), 2–25 (1917), 6; The Labour Gazette (1917), 7–30 (1922), 5; The Ministry of Labour Gazette 30 (1922), 6–76 (1968), 5; The Employment and Productivity Gazette 76 (1968), 6–78 (1970); Department of Employment Gazette 79 (1971)–86 (1978), Employment Gazette 87 (1979)–103 (1995); vgl. William R. Garside, The Measurement of Unemployment. Methods and Sources in Great Britain 1850–1979, Oxford 1980, S. 2; James Denman / Paul McDonald, Unemployment Statistics from 1881 to the Present day, in: Labour Market Trends 104 (1996), S. 5–18; Alison Donaldson, The Measurement of Unemployment in Britain, Berlin 1979, S. 16–20, 56 f.; Desrosières, Die Politik der großen Zahlen, S. 192. 121 Vgl. Donaldson, The Measurement of Unemployment, S. 3. 122 Harrison, Finding a Role? S. 360. 123 Vgl. Donaldson, The Measurement of Unemployment, S. 17. 124 Freiburghaus, Die Messung der Arbeitslosigkeit, S. XXI‒XXIV; Donaldson, The Measurement of Unemployment, S. 5‒12; ebd.: United Kingdom Unemployment Statistics, Berlin 1978; Garside, The Measurement of Unemployment, S. 62‒115.

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sie bis dahin die Option geringerer Beitragszahlungen zum nationalen Versicherungssystem bei Verzicht auf Arbeitslosenversicherung bestand.125 Neben ihnen waren, wie in der Bundesrepublik Selbstständige, mitarbeitende Familienangehörige, Kranke, physisch und psychisch als behindert Eingestufte statistisch nicht vertreten sowie Teilzeitarbeitsuchende und Kurzarbeiter. Mit einer kurzzeitigen statistischen Lücke aufgrund von Streiks in den Arbeitsämtern zum Jahresende 1974, blieb die statistische Ordnung weitgehend stabil bis in die 1990er-Jahre.126 In der monatlich erscheinenden Labour ­Gazette war jeweils eine zusammenfassende Tabelle veröffentlicht, die Anzahl und Quote der Arbeitslosen getrennt nach Männern und Frauen (seit 1980 wurden verheiratete Frauen separat gezählt) sowie vorübergehende Arbeitslosigkeit z. B. aufgrund von Saisonarbeit (»temporarily stopped«), Vollzeitarbeitslosigkeit und Schulabgänger aufführte.127 Im monatlichen Erscheinungsrhythmus schlossen sich detailliertere Analysen von Arbeitslosigkeit in ihrer regionalen Verteilung sowie ausdifferenziert nach Alter und der Dauer der Arbeitslosigkeit (mehr oder weniger als vier bzw. 60 Wochen) an. Eindeutig diente die Statistik der Begründung regionaler Industrie- und Förderpolitiken. Großbritannien war nach OECD-Angaben 1970 nach den USA und Italien das Mitgliedsland mit den höchsten Ausgaben im Bereich regionaler Entwicklung bzw. Raumordnung.128 Zurückgehend auf die Zwischenkriegszeit, in der von Massenarbeitslosigkeit besonders betroffene Gebiete, als »assisted areas« ausgewiesen, staatliche Fördermittel erhielten (z. B. der Süden von Schottland und von Wales), förderten in der Nachkriegszeit staat­liche Interventionspolitiken Industrieansiedlungen in strukturschwachen Regionen.129 Entsprechende Einteilungen von Regionen in »development area«, »special development area« oder »intermediate area« anhand der Arbeitslosenquote waren in den amtlichen Arbeitslosenstatistiken der 1970er- und 1980er-Jahre gängig.130 Die Förderpolitiken wurden in der Regierungszeit der Conservative Party seit 1979 allerdings umgewandelt und zu einem Einfallstor für staatliche Unternehmensförderung.131 Der Förderumfang für »development areas« wurde reduziert bzw. auf Förderprogramme der EWG verlagert, die eigene Richtlinien geltend machten. So genannte »enterprise zones«, seit 1981 geschaffen, mit dereguliertem Bau- und Arbeitsrecht lösten diese regionalen Förderkonzepte 125 Freiburghaus, Die Messung der Arbeitslosigkeit, S. XXIf.; Garside, The Measurement of Unemployment, S. 86. 126 Department of Employment Gazette 87 (1979), S. 51. 127 Donaldson, The Measurement of Unemployment in Britain, S. 93–108. 128 OECD, The Regional Factor in Economic Develoment. 1970, zitiert nach: Trevor Fisk /  Ken Jones, Regional Development, London 1972, S. 22. 129 Vgl. Niles Hansen / Benjamin Higgins / Donald J. Savoie, Regional Policy in a Changing World, New York 1990, S. 89–118; Alan J. P. Taylor, English History 1914–1945, Oxford 1965, S. 383. 130 Z. B. Employment Gazette 87 (1979), S. 53. 131 Vgl. Harrison, Finding a Role?, S. 357.

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zum Teil ab.132 Brian Harrison schreibt über diese konservativen regionalen Förderprogramme, sie hätten Konzepte individueller Selbstverbesserung auf die volkswirtschaftliche Ebene gehoben.133 Die regionalen Arbeitslosenstatistiken sind keine Blaupausen für diese Politiken, stellen aber in gewisser Weise die volkswirtschaftliche Leistung einer Region vor die individuellen Merkmale von Arbeitslosen, z. B. in Aufstellungen zur Branchen- und Berufsstruktur. Auch in den seit 1981 einmal jährlich in der Beilage »Labour Market« veröffentlichten detaillierten Analysen war die regionale Verteilung von Arbeitslosigkeit die Hauptkategorie der Aufstellung.134 Erst daran anschließend wurden Arbeitslose nach Branchen- und Beschäftigtenstrukturen sowie nach Alter und Dauer ihrer Arbeitslosigkeit aufgeschlüsselt. Beruflichkeit war für die statistische Erfassung von Arbeitslosen in Großbritannien offenbar ein nachgeordnetes Kriterium. Ein Blick auf die Themen zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Erhebungen zu Arbeitslosigkeit bestätigt diesen Eindruck. Bereits für den relativ stabilen britischen Arbeitsmarkt der 1960er-Jahre und andauernd während der Rezession der 1970er-Jahre wird vornehmlich die Dauer von Arbeitslosigkeit und das Alter der Arbeitslosen (Jugendliche und ältere Arbeitslose) ursächlich mit erhöhtem Risiko von Arbeitslosigkeit in Beziehung gesetzt.135 Der vergleichsweise geringere Stellenwert berufsbezogener Qualifikationen in der Arbeitslosenstatistik geht gleichfalls konform mit Klassifizierungen des britischen Zensus, in dem, zurückgehend auf die Lobbyarbeit von Eugenikern, seit 1911 fünf hierarchisch geordnete Berufskategorisierungen Verwendung fanden.136 Als »Matrix (…) der sozialen Schichten« prägte das Klassenmodell sowie die Selbstverortung der Befragten im sozialen Raum und als Subjekte einer gesellschaftlichen Klasse britische Gesellschaftsanalysen im gesamten 20. Jahrhundert.137 Aufgrund der grundsätzlichen Kontinuität der statistischen Kategorien der britischen Arbeitslosenstatistik mussten sich politische Reduktionsstrategien der Arbeitslosenquote auf die Aussortierung von Arbeitslosen kaprizieren, d. h. die Aufhebung von Registrierungspflichten einzelner Gruppen oder die Änderung der Erhebungskriterien von Arbeitslosen. Eine Umsortierung oder Neudefinition arbeitsloser Subgruppen wie in der bundesdeutschen Statistik war deutlich erschwert. Demzufolge wurde die Arbeitslosenstatistik politisch oder in politiknaher Wissenschaft auch nicht im Detail diskutiert, sondern als solche

132 Vgl. hierzu: ebd., S. 333. 133 Ebd., S. 357. 134 Employment Gazette 89 (1981), S1–S39. 135 Vgl. William W.  Daniel, A National Survey of the Unemployed, London 1974; ders. /  Elizabeth Stilgoe: Where Are They Now? A Follow-up Study of the Unemployed, London 1977; Michael James Hill / R . M.  Harrison / A. V.  Sargeant / V.  Talbot, Men out of Work. A Study of Unemployment in three English Towns, Cambridge 1973. 136 Vgl. Desrosières, Die Politik der großen Zahlen, S. 191. 137 Zitat: ebd., S. 191.

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in ihrer Legitimität angezweifelt.138 Schätzungen von Arbeitslosenzahlen variierten Mitte der 1980er-Jahre je nach Provenienz der politischen Zahlenkritik. Linke Kritiker bemängelten, dass die offizielle Arbeitslosenzahl von 3.094.000 im November 1983 um mehr als eine Million zu niedrig sei und realistisch bei 4.437.000 liegen sollte. Konservative argumentierten, 1.688.000 Arbeitslose seien aus den Arbeitslosenregistern zu streichen aufgrund friktioneller, freiwilliger oder vorgetäuschter Arbeitslosigkeit.139 Gruppen, die in den 1970er-Jahren immer wieder als »unechte« oder »freiwillige Arbeitslose« genannt und von der »echten« Arbeitslosenquote zu trennen seien, waren Schulabgänger, Kurzzeitarbeitslose oder arbeitslos gemeldete Rentner. Seit Juli 1971 wurden denn auch die arbeitslosen Schulabgänger und Studenten aus der offiziellen Statistik aussortiert und separat verzeichnet. Kurzzeitarbeitslose (»temporarily stopped«) wurden seit 1972 nicht mehr in die Statistik aufgenommen, weshalb Kritiker eine manipulative Verkleinerung der Arbeitslosenzahl von 10.000 bis zu 200.000 (bei extrem schlechten Wetterverhältnissen) monierten.140 Durchschlagend waren dann regierungsamtliche Reduktionsmaßnahmen der frühen 1980er-Jahre.141 An die dreißig Änderungen der Zählweise und statistischen Erhebungskriterien seit 1979 wurden aufgeführt. Ursächlich hierfür waren Sparkonzepte der Efficiency Unit in Downing Street unter Derek Rayner, bis 1979 Manager bei und nach 1984 Vorstandsvorsitzender von Marks & Spencer.142 Die von Rayner 1980 angekündigten Personalkürzungen in der staatlichen Statistikbehörde (Office of Population and Censuses) lösten massiven Protest aus. Sogar die traditionelle Royal Statistical Society befürchtete allgemeinen Legitimitätsverlust offizieller Statistiken und den Vorwurf von Parteilichkeit. Die dem Rayner Report von 1980 folgenden Modifikationen der Arbeitslosenstatistik waren kaum weniger umstritten und hatten u. a. die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses des britischen Unterhauses zur Prüfung der Arbeitslosenstatistik zur Folge.143 Der Rayner Report empfahl u. a. von der

138 Vgl. Frank Field, Making Sense of the Unemployment Figures, in: ders. (Hrsg.), The Conscript Army. A Study of Britain’s Unemployed, London 1977, S. 1–12. 139 Harrison, Finding a Role?, S. 361. 140 James Denman / Paul McDonald, Unemployment Statistics from 1881 to the Present Day, in: Labour Market Trends 104 (1996), S. 5–18, hier: S. 12. 141 Garside, The Measurement of Unemployment, S. 66, 75 f.; McIvor, Working Lives, S. 241 f.; David Fenwick / James Denman, The Monthly Claimant Unemployment Count. Change and Consistency, in: Labour Market Trends 103 (1995), S. 397–400. 142 Zu Rayner: Les Metcalfe / Sue Richards, Raynerism and Efficiency in Government, in: Anthony Hopwood / Cyril Tomkins (Hrsg.), Issues in Public Sector Accounting, Oxford 1984, S. 188–211; Rodney Lowe, The Official History of the British Civil Service. Reforming the Civil Service. Vol. 1. The Fulton Years, 1966–81, London, New York 2011, S. 243–264. 143 Zum Rayner Report von 1980: Ruth Levitas, The Legacy of Rayner, in: dies. / Will Guy (Hrsg.), Interpreting Official Statistics, New York 1996, S. 7–25; zur Problematik der Arbeitslosenstatistik: Paul Gregg, Out for the Count: A Social Scientist’s Analysis of Unemployment Statistics in the UK , in: Journal of the Royal Statistical Society 157 (1994),

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bestehenden Meldepflicht von Unterstützungsbeziehern bei den arbeitsvermittelnden Jobcentern abzusehen. Folglich wurde die statistische Zählung von Arbeitslosen seit Oktober 1982 nicht mehr in der Arbeitsvermittlung, sondern in den Unemployment Benefit Offices und zudem automatisiert vorgenommen.144 Aufgrund genauerer Berechnungen, aber auch der Klassifikation derjenigen, die aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend arbeitsunfähig waren sowie aller, die keine finanzielle Unterstützung bezogen, als permanent arbeitsunfähig oder früh verrentet, kam es zur Verminderung der saisonbereinigten Arbeitslosenquote um 190.000 Personen oder ca. 3,7 Prozent. Insbesondere in den Montanregionen hatte die Arbeitslosenkalkulation ohne körperlich Versehrte stark verfälschende Effekte auf die Statistik.145 Bereits seit November 1981 waren Männer über sechzig, die länger als ein Jahr Sozialhilfe bezogen, nicht mehr verpflichtet, sich arbeitslos zu melden. Damit hatte sich die Arbeitslosenquote bereits um 37.0000 Personen vermindert. Weitere Regelungen, diese Gruppe der älteren, männlichen Arbeitslosen statistisch weiter zu verkleinern, traten 1983 in Kraft. Zum einen wurde für sie der Nachweis der Rentenversicherung von der Arbeitslosenmeldung entkoppelt und zum anderen die Gruppe der Langzeitarbeitslosen, die älter als sechzig Jahre, sozialhilfeberechtigt und nicht mehr meldepflichtig waren, nochmals vergrößert. Damit ergab sich eine Verminderung der Arbeitslosenzahl von ca. 150.000. Von Entlassung betroffene Bergarbeiter, für die der Ruhestand absehbar war, wurden seit 1989 von der Meldepflicht entbunden, womit wiederum 15.500 Personen aus den amtlichen Statistiken verschwanden. Seit dem Social Security Act von 1988 wurde Schulabgängern ein Platz im Youth Training Scheme (YTS) garantiert. Im Gegenzug entfiel der Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung in dieser Altersgruppe und ein Rückgang der saisonal bereinigten Arbeitslosenzahlen um 40.000 Personen konnte verzeichnet werden. Der Vorwurf des Sozialmissbrauchs gegenüber Arbeitslosen war tragend für diese statistischen Manipulationen. Laut Rayner arbeiteten bis zu zehn Prozent der registrierten Arbeitslosen ohne Papiere und bezogen unrechtmäßig Unterstützung.146 Das im Vorwurf des Sozialmissbrauchs mitschwingende ArguS. 253–270; David Bartholomew / Peter Moore / Fred Smith / Paul Allin, The Measurement of Unemployment in the UK , in: Journal of the Royal Statistical Society 158 (1995), S. 363–417; David Fenwick / James Denman, The Monthly Claimant Unemployment Count: Change and Consistency, in: Labour Market Trends 103 (1995), S. 397–400; vgl. auch: Harrison, Finding a Role?, S. 360 f. 144 Denman / McDonald, Unemployment Statistics, S. 13; hierfür und folgend auch: Fenwick / Denman, The Monthly Claimant Unemployment Count: Change and Consistency, S. 398 f.; Gregg, Out for the Count, S. 259. 145 Vgl. McIvor, Working Lives, S. 241. 146 William W. Daniel, The Employment Service and the Unemployment Flow, in: Policy Studies 2 (1981), S. 11–22; Rodney Lowe, The Official History of the British Civil Service. Reforming the Civil Service. Vol. 1. The Fulton Years, 1966–81, London, New York 2011, S. 253 f.

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ment, Arbeitslosigkeit sei selbst verschuldet, wurde auch statistisch bearbeitet. In den 1960er- und 1970er-Jahren ergänzten subjektive Einschätzungen der Arbeitsvermittler die numerischen Daten der Arbeitsstatistik.147 Erfragt wurde eine Einschätzung der Arbeitseinstellung des oder der jeweilig statistisch erfassten Arbeitslosen (»attitude to work«), die sich zwischen »obviously keen for work« und »somewhat unenthusiastic for work« bewegen konnte. Vorrangige statistische Bezugsgrößen der festgestellten Arbeitseinstellung waren Alter und Länge der Arbeitslosigkeit. Ergebnis war, dass mit zunehmendem Alter und zunehmender Länge der Arbeitslosigkeit die Bereitschaft, Arbeit aufzunehmen, abnahm. Zurückgeführt wurde dies auf die mangelnden Job-Aussichten von älteren Arbeitslosen und Langzeitarbeitslosen. Die Arbeitslosigkeit von Migrantinnen und Migranten bzw. von Briten, deren Eltern in ehemaligen Kolonien des Vereinigten Königreichs geboren waren, wurde in den zusammenfassenden, monatlichen Statistiken des Department of Employment nicht kategorisiert. Seit Mitte der 1980er-Jahre gab es in den amtlichen Veröffentlichungen eine Serie von Berichten zu den Zusammenhängen von Arbeitslosigkeit und »ethnischer Herkunft«.148 Untersuchungen und Erhebungen zu den Zusammenhängen von erhöhter Arbeitslosigkeit unter Migrantinnen und Migranten und ihre Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt häuften sich in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre. Die staatliche Behörde klinkte sich mit ihrer Datenpräsentation lediglich in die laufende Debatte ein. Die Artikel der Employment Gazette verwendete Daten des »Labour Force Survey«, der seit 1973 vom Office of Population, Censuses and Surveys (heute Office for National Statistics) erhoben wurde und gleichfalls Daten zur Arbeitslosigkeit einzelner sozialer oder generationeller Gruppen lieferte. Die Schwierigkeiten, ethnische Herkunft im Allgemeinen und im spezifisch britischen Kontext überhaupt statistisch zu erfassen, wird in den hierfür einschlägigen Fragekategorien des Labour Force Surveys nach Nationalität, Land der Geburt, Erwerb der Staatsbürgerschaft oder derjenigen des Vaters der Befragten sowie schließlich der eigenständigen Zuordnung der Befragten zu einer ethnischen Gruppe ansatzweise deutlich.149 Die Auswahl 147 Characteristics of the Unemployed, in: Ministry of Labour Gazette 74 (1966), S. 156–157; Characteristics of the Unemployed, in: Department of Employment Gazette 82 (1974), S. 211–221; Characteristics of the Unemployed, in: Department of Employment Gazette 85 (1977), S. 559–574; vgl. auch: Donaldson, The Measurement of Unemployment, S. ­115–118. 148 Ethnic Origin and Economic Status, in: Employment Gazette 91 (1983), S. 424–430; Unemployment and Ethnic Origin, in: Employment Gazette 92 (1984), S. 260–264; Ethnic Origin and Economic Status, in: Employment Gazette 93 (1985), S. 467–477; Ethnic Origin and Economic Status, in: Employment Gazette 95 (1987), S. 18–29; Ethnic Origin and Economic Status, in: Employment Gazette 96 (1988), S. 633–646. 149 Zugänglich sind die Labour Force Surveys seit 1975: UK Data Archive, Essex, Office of Population Censuses and Surveys. Social Survey Division: Labour Force Survey, 1975, 1977, 1979, 1981, 1989 [computer file], UK Data Service, SN: 1758, 1757, 1756, 1888, 2143, 2722.

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ethnischer Zugehörigkeit umfasste in den frühen 1980er-Jahren elf Obergruppen (»white, West Indian, Indian, Pakistani, Bangladeshi, African, Arab, mixed origin, other origin«), von denen insbesondere die Kategorie »mixed origin« u. a. mit den Subeinteilungen »Indian / white, African / white, Asian mixture, miscellaneous partly coloured« und »miscellaneous coloured« auf die Gemengelage möglicher ethnischer Zugehörigkeiten der Befragten hindeutet, die auch in den Handreichungen für die Interviewer deutlich wird.150 Seit 1986 wurde die Befragung teilweise mittels Telefoninterviews durchgeführt. 1989 wurden Telefoninterviewer darauf hingewiesen, dass niemand, der angibt, in Großbritannien geboren und britischer Staatsangehöriger zu sein, zwingend »weißer« Hautfarbe sei und Nachfrage im Interview nötig sei.151 Die Schwerfälligkeit amtlicher, auf einem »weißen« Phänotyp beruhenden, Kategorien, wird überdeutlich.152 Die Artikelserie der Employment Gazette nahm die ethnischen Unterteilungen des Labour Survey nur eingeschränkt auf und verfuhr vereinfachend zur Bezeichnung einer ethnischen Zugehörigkeit mit einer Sortierung in fünf Untergruppen: »White, West Indian, Indian, Pakistani / Bangladeshi, Other«.153 Weitere Variablen, die in ihrem Verhältnis zur ethnischen Herkunft erhoben wurden, waren Alter, Geschlecht, Wohnort, Branche und Qualifikation. Insbesondere Wohnort, Branche und Qualifikation wurden als ursächlich für die fast durchgehend höhere Arbeitslosenquote der nicht-weißen Briten angeführt. In der politischen und öffentlichen Wahrnehmung der britischen Arbeitslosenkurve zeigte sich ein wesentlicher Unterschied zur bundesdeutschen Kurve: seit 1987 änderte sich ihre Richtung – in regierungsamtlicher Darstellung sank die Arbeitslosenkurve rapide. Legendär ist das Foto des konservativen Arbeitsministers Norman Fowler, der sich auf einer Pressekonferenz des Department of Employment in der zweiten Jahreshälfte 1987 (vermutlich nach den von den Tories haushoch gewonnenen Parlamentswahlen im Juli), vor der im Maßstab verzerrten und demzufolge rapide sinkenden Arbeitslosenkurve ablichten ließ – dabei demonstrativ eine Tasse Tee trinkend.154 Die politische Manipulation der Arbeitslosenquote trieb auch die Dramatisierung in der Berichterstattung über Arbeitslosigkeit während der 1980er-Jahren an. Teilweise die Parlamentsdebatten wiedergebend, teilweise in eigener Kommentierung war in Artikeln zur Arbeitslosenstatistik in den 1980er-Jahren regelmäßig von »Manipulation«,

150 UK Data Archive, Essex, Office of Population Censuses and Surveys. Social Survey Division, Labour Force Survey, 1979 [computer file], UK Data Service, SN: 1756. 151 UK Data Archive, Essex, Office of Population Censuses and Surveys. Social Survey Division, Labour Force Survey, 1989 [computer file], UK Data Service, SN: 2722. 152 Vgl. Kathleen Paul, Whitewashing Britain. Race and Citizenship in the Postwar Era, Ithaca, London 1997; auch: Karen Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Berlin 2001, S. 39–48. 153 Z. B.: Ethnic Origin and Economic Status, in: Employment Gazette 95 (1987), S. 18–29. 154 Abgebildet in: Harrison, Finding a Role, Abb. 15.

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»Lügen« und »Täuschung« die Rede.155 Der Topos der »damned statistic«, der sich Ende der 1980er-Jahre in der Presse häuft, war aber nicht eindeutig adressierbar. Einerseits richtete er sich gegen die Zahlenobsession von Politikern und ihre mangelnde arbeitsmarktpolitische Konzeptionierung, wie es die »Times« formulierte.156 Andererseits war die statistische Lage aus regierungskritischer Perspektive, beispielsweise des »Guardian«, noch schlimmer als es die Arbeitslosenquote suggerierte.157 Im Grunde war die britische Arbeitslosenstatistik ein Zeugnis umfassender Orientierungslosigkeit. In gewisser Weise gingen aber auch nur statistische Rechenspiele auf, die, seitens der Monetaristen in den 1970er-Jahren angezettelt, politisch in der Presse lagerübergreifend funktionierten.158 Die zwischen Konservativen und Labour wechselnde Regierungsverantwortung in den 1970er-Jahren war dem ebenso dienlich wie eine grundsätzlich wirtschaftstheoretische Interpretation der Arbeitslosenquote als währungspolitischer Kennziffer des staatlichen Budgets. Frances Cairncross, Wirtschaftsredakteurin im Guardian, ließ sich im August 1975 darüber aus, die Arbeitslosenzahlen »exaggerate the gravity of the situation« und machten den Umgang mit der für Arbeitslosigkeit ursächlichen Rezession nur unnötig emotional. Eines ihrer Argumente war, dass komfortable finanzielle Arbeitslosensicherung dazu beitragen würden, dass »a few more people accept unemployment more willingly than they would once have done.«159 In der »Financial Times« verbreitete der Friedman-Schüler und Mitherausgeber Samuel Brittan im Februar 1982, die regierungsamtlichen Arbeitslosenzahlen würden in »the most negative possible way« präsentiert werden.160 Hingegen reduzierte eine optimistische Interpretation der Arbeitslosenkurve, die seinen Kommentar als Graphik illustrierte, die Arbeitslosenzahl um eine halbe Million. 155 Vgl. Damned Statistics, in: The Times (London), 04.06.1983, S. 9; Frances Williams, Jobless Total Drops as Over-60s Opt Out, in: The Times (London), 04.06.1983, S. 1; Christopher Huhne / Colin Brown, Clarke Denies Dole Figure ›Fiddle‹, in: The Guardian, 21.02.1986, S. 2; Michael Smith, Jobless Trend up Despite Figures ›Fiddle‹, in: The Guardian, 17.04.1986, S. 32; Robert Taylor, Whitehall’s Jobless Juggling Act, in: The Observer, 17.08.1986, S. 28; Gordon Brown, Cheating Millions, in: The Guardian, 31.10.1986, S. 11; Christopher Huhne, The Numbers that Count, in: The Guardian, 20.03.1987, S. 21; Peter Townsend, Hidden Despair Belies the Jobless Figure, in: The Guardian, 16.04.1987, S. 23; David Gow, There are really Lies, Damned Lies and Unemployment Statistics, in: The Guardian, 14.05.1987, S. 27; Keith Harper, Unemployment Down by 36.000 and still ›Falling‹, in: The Guardian, 15.05.1987, S. 1, 32; Patrick Wintour, Lies, Damned Lies and Job Figures, in: The Guardian, 05.06.1987, S. 11. 156 Damned Statistics, in: The Times (London), 04.06.1983, S. 9. 157 Martin Walker, The Grim Statistics of Distress, in: The Guardian, 21.04.1982, S. 13. 158 Jean Seaton, The Media and the Politics of Interpreting Unemployment, in: Sheila Allen / A lan Waton / Kate Purcell / Stephen Wood (Hrsg.), The Experience of Unemployment, Basingstoke 1986, S. 17–28. 159 Frances Cairncross, Looking beyond the Jobless Figures, in: The Guardian, 21.08.1975, S. 14. 160 Samuel Brittan, More Jobs without ›Reflation‹ II, in: Financial Times, 11.02.1982, S. 1.

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Seine Insinuation, es sei möglich und besser, Arbeitslosen die finanzielle Unterstützung »for doing something rather than nothing« zu bezahlen ist dem Scrounger-Vorurteil, die britische Boulevardpresse gegenüber Arbeitslosen pflegte, nah verwandt.161 Die den Konservativen nahe Yellowpress, wie »Daily Mail«, »Daily Telegraph« und »Daily Express« hatten bereits 1976 ihre »Scroungerphobia«-Kampagne gestartet, die Einzelfälle von Sozialmissbrauch vorführte.162 Reportagen, die auf eine Anonymisierung von Arbeitslosigkeit durch statistische Erhebungen anspielten, finden sich vereinzelt seit Ende der 1970er-Jahre. Die vierteilige Artikelserie des »Labour Reporters« im Guardian Keith Harper, die im Frühjahr 1978 ankündigte, »behind the numbers« über das soziale Elend von Arbeitslosen zu berichten, geriet aber schon in der zweiten Folge zu einer Analyse drohender Stimmenverluste für die Labour-Partei aufgrund der hohen Arbeitslosenquoten unter ihren Anhängern bei den Parlamentswahlen 1979.163 Der Blick »hinter die Zahlen« blieb oberflächlich und innerhalb der statistischen Logik volkswirtschaftlicher Berechenbarkeit.

3. Genealogie einer Subjektivierungsform: Der Belastungsdiskurs und der unternehmerische Arbeitslose Die »Verwissenschaftlichung« sozialer Phänomene ist in modernen Wohlfahrtsstaaten zumeist konkret in deren »Versozialwissenschaftlichung« ausgeformt, d. h. in Einflussnahme auf sozialpolitische Entscheidungen und wohlfahrtliche Strategien durch sozialwissenschaftliche Deutungsmuster und sozialwissenschaftliche Expertise bis hin zur sozialwissenschaftlichen Überformung poli­ tischer Handlungen.164 Sozialwissenschaften, verstanden in einem weiten Sinn der akademischen Disziplinen, die sich mit sozialen Gegebenheiten und Prozessen befassen (vor 161 Vgl. auch: Seaton, The Media and the Politics of Interpreting Unemployment, S. 17–28; Peter Golding / Sue Middleton, Images of Welfare. Press and Public Attitudes to Poverty, Oxford 1982; ebd., Why is the Press so Obsessed with Welfare Scroungers, in: New ­Society 46 (1978), S. 195–197. 162 Seaton, The Media and the Politics of Interpreting Unemployment, S. 17–28; zur »Scroungerphobia« ausführlich Kap. V.4.1. 163 Vgl. Keith Harper, The Sickening Search that Leads to Hopelessness, in: The Guardian, 20.03.1978, S. 11; ders., Where Labour stands to Lose the Election, in: The Guardian, 21.03.1978, S. 17; ders.: How Labour is Cutting the Jobs Queue, in: The Guardian, 22.03.1978, S. 13; ders.: Heath’s three Day Blueprint, in: The Guardian, 23.03.1978, S. 15. 164 Damit ist nicht gesagt, dass naturwissenschaftliche, medizinische oder mathematische Expertise keinen Einfluss auf die Regierung sozialer Phänomene hätte, insbesondere im Grenzbereich zwischen dem, was in Gesellschaften medizinisch bzw. sozial gelesen wird (z. B. im Pandemiefall).

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allem Soziologie, Psychologie, Pädagogik), gelten in ihren Deutungsmodellen und Begrifflichkeiten gleichermaßen als wichtiger Einflussfaktor auf und Indikator für historische Veränderungen von Subjektivierungstechniken und Subjektfigurationen. Insbesondere im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts häuften sich neuartige, »versozialwissenschaftlichte« Deutungen von Subjektivität, deren Nomenklatur die Diskussion um Subjektivierung bis in die Gegenwart bestimmt.165 Dabei geht es hier nicht um die stärkere Diffusion und Verbreitung angewandten psychotherapeutischen Wissens seit den 1970er-Jahren, wie sie aktuelle subjekthistorische Forschung unter dem Begriff der »Therapeutisierung« beschreibt.166 Gegenstand der folgenden Erörterungen sind sozialwissenschaftliche Deutungsmodelle des »arbeitslosen Subjekts« und die Frage nach ihren Argumentationsmustern und wissenschaftspolitischen Implikationen.167 In der Bundesrepublik wurde Arbeitslosigkeit vor allem von universitären und außeruniversitären Institutionen beforscht, deren Gründung in die Phase beschleunigter Expansion sozialwissenschaftlicher Forschung Ende der 1960erJahre, Anfang der 1970er-Jahre fiel.168 Beschleunigt durch zahlreiche Universitätsneugründungen und staatlich geförderte Großforschungsprojekte formierten sich die Sozialwissenschaften in diesen Jahren zu »Leitwissenschaften« im politischen Projekt gesellschaftlicher, wissenschaftlich begleiteter Modernisierung.169 Wichtig für die Arbeitslosenforschung wurde besonders das Feld der 165 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung; den Bezug zur Subjektivierung herstellend: Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 42. 166 Vgl. Elberfeld, Anleitung zur Selbstregulation, passim., spez. S. 12–14; Eitler / Elberfeld (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst; Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt; Sabine Maasen /  Jens Elberfeld / Pascal Eitler / Maik Tändler (Hrsg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den »langen« Siebzigern, Bielefeld 2011; Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 782–806; zuletzt Themenheft Psychologien der Menschenführung seit den 1960er Jahren GG 48 (2022) Heft 2. 167 Vgl. auch Wiebke Wiede, The Poor Unemployed. Diagnoses of Unemployment in Britain and West Germany in the 1970s and 1980s, in: Beate Althammer / Lutz Raphael / Tamara Stazic-Wendt (Hrsg.), Rescuing the Vulnerable. Poverty, Welfare and Social Ties in Modern Europe, New York, Oxford 2016, S. 307–331; Alois Wacker, Marienthal und die sozialwissenschaftliche Arbeitslosenforschung  – ein historischer Rück- und Ausblick, in: Jeannette Zempel / Johann Bacher / K laus Moser (Hrsg.), Erwerbslosigkeit, Ursachen, Auswirkungen und Interventionen, Opladen 2001, S. 397–414; Martin Kronauer /  Berthold Vogel / Frank Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft. Arbeitslose und die Dynamik sozialer Ausgrenzung, Frankfurt / Main 1993, S. 9–15; Wolfgang Bonß / Heiner Keupp / Elmar Koenen, Das Ende des Belastungsdiskurses? Zur subjektiven und gesellschaftlichen Bedeutung von Arbeitslosigkeit, in: Wolfgang Bonß / Rolf G. Heinze (Hrsg.), Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft, Frankfurt / Main 1984, S. 143–191. 168 Vgl. Christoph Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, München 2004, S. 235−365; zum wachsenden gesellschaftlichen und politischen Einfluss der Sozialwissenschaften vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, S. 57–89. 169 Martin H. Geyer, Die Gegenwart der Vergangenheit. Die Sozialstaatsdebatten der 1970erJahre und die umstrittenen Entwürfe der Moderne, in: AfS 47 (2007), S. 47–93, hier: S. 57.

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Arbeits- und Berufssoziologie, wie sie z. B. im neu gegründeten Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt betrieben wurde. In erster Linie wurde Arbeitslosigkeit aber indirekt in den zahlreichen sozialwissenschaftlichen Problematisierungen von Wandlungs- und Krisenphänomenen insbesondere der 1980er-Jahre thematisiert. Konnte sich sozialwissenschaftliche Forschung in der Bundesrepublik bis in die Gegenwart zumindest konsolidieren, so war in Großbritannien die Hochphase sozialwissenschaftlicher Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg kürzer.170 Der Aufschwung der Soziologie im Zuge der wohlfahrtsstaatlichen Konjunktur in der Nachkriegszeit bis in die frühen 1960er-Jahren war nur ein kurzer Moment der Blüte gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit von Sozial- und Gesellschaftswissenschaften. Auch sozialkritische Wissenschaftsprojekte, wie das Centre for Contemporary Cultural Studies, von Richard Hoggart in Birmingham 1964 gegründet und von Stuart Hall in den 1970er-Jahren zu internationalem Ansehen geführt, oder die Armutsforschung der 1960er-Jahre und 1970erJahre im Umfeld von Peter Townsend waren langfristig wissenschaftspolitisch nur bedingt durchsetzungsfähig und fielen großenteils politischen Sparplänen zum Opfer. Wie andere Zweige der britischen Sozialforschung hatte deshalb die sozialwissenschaftliche Arbeitslosenforschung Mitte der 1980er-Jahre ihren Zenit überschritten. In beiden Ländern waren Forschungen über Arbeitslosigkeit in der Regel als Anwendungsforschung bzw. »Verwendungsforschung« angelegt. Teilweise waren sie aufgrund der Finanzierungsgrundlage dem Auftraggeber (Kommune, Arbeitsamt) verpflichtet. Teilweise begriffen sich die verantwortlichen Sozialwissenschaftler selbst als Teil eines umfassenden Prozesses der »Versozialwissenschaftlichung« und hatten sich die Lösung ihrer krisenbehafteten Gegenwartsdiagnosen zur Aufgabe gemacht.171 International betrachtet, belief sich die Anzahl sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeiten über Arbeitslosigkeit Ende der 1980er-Jahre auf rund 3.000 bis 5.000 Titel, von denen die Mehrzahl soziologische Studien waren. Seit den 1980er-Jahren nahm tendenziell der Anteil sozialpsychologischer Arbeiten zu.172 Ein Großteil der Untersuchungen befasste sich mit den psychosozialen Aus170 Vgl. Mike Savage, Identities and Social Change in Britain since 1940. The Politics of Method, Oxford 2010, S. 1–21, 112–134. 171 Vgl. Ulrich Beck / Wolfgang Bonß, Soziologie und Modernisierung. Zur Ortsbestimmung der Verwendungsforschung, in: Soziale Welt 35 (1984), S. 381–406; dies., Verwissenschaftlichung ohne Aufklärung? Zum Strukturwandel von Wissenschaft und Praxis, in: dies. (Hrsg.), Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens, Frankfurt / Main 1989, S. 7–45. 172 Vgl. Wacker, Marienthal und die sozialwissenschaftliche Arbeitslosenforschung, S. ­397–414; vgl. auch die Bibliographien: Bibliographien zur Psychologie. Nr. 101. Psychosoziale Folgen der Arbeitslosigkeit. Zusammengestellt von Udo Wolff, Trier 1994; The Social and Economic Impact of Unemployment 1979–85. A Select Bibliography. Zusammengestellt von Penny Farmer, Letchworth 1985.

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wirkungen von Arbeitslosigkeit. Die darum kreisenden wissenschaftlichen Debatten transportierten in ihren Abläufen und Methoden wissenschaftlich und politisch wirksame Subjektivierungsmodelle, deren Genese im Folgenden nachvollzogen wird. Die tatsächliche psychosoziale Belastung von Arbeitslosen ist in diesem Zusammenhang nur indirekt von Interesse. Dass unter bestimmten Voraussetzungen ein erhöhtes Risiko für psychische Probleme bei Arbeitslosigkeit vorliegt, ist aktueller sozialpsychologischer Forschungsstand und wird in keiner Weise in Abrede gestellt werden, wenngleich die Befundlage gleichzeitig diffus bleibt.173 Die Anlage des Kapitels folgt dem von der Arbeitspsychologin Gisela Mohr vorgeschlagenen drei Phasen in der Erforschung psychosozialer Auswirkungen von Arbeitslosigkeit.174 Einer Phase von »klassischen« Arbeiten der 1930er- und 1940er-Jahre über die Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise, folgten Querschnittstudien der 1970er-Jahre, die Arbeitslosigkeit als kritisches Lebensereignis betrachteten. Sie waren nahezu einhellig als Belastungsforschung ausgelegt, d. h. dass sie die psychosozialen Einschränkungen durch und während Arbeitslosigkeit in ihrer Analyse voraussetzten. In den 1980er-Jahren wurde Arbeitslosigkeit, inzwischen annähernd etabliertes sozialwissenschaftliches Forschungsfeld, zunehmend als Längsschnittforschung angelegt. Die Perspektive der Betroffenen wurde mit qualitativen Methoden eingefangen und die These der psychosozialen Belastung durch Arbeitslosigkeit einerseits von der Ausdifferenzierung verschiedener sozialer Gruppen und Situationen von Arbeitslosigkeit, vom Sozialpsychologen Alois Wacker »differentielle Arbeitslosigkeitsforschung« genannt, und andererseits von der Debatte um das »Ende des Belastungsdiskurses« abgelöst.175

173 Vgl. exemplarisch: Helga Gumplmaier / Matthias Jaeger: Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit. Unemployment and mental health, in: Wolfram Kawohl / Wulf Roessler (Hrsg.), Arbeit und Psyche. Grundlagen, Therapie, Rehabilitation, Prävention  – Ein Handbuch. Stuttgart 2018, S. 191–206; eine »andauernde inkonsistente Befundlage« bei: Alois Wacker / A nna Kolobkova, Arbeitslosigkeit und Selbstkonzept  – ein Beitrag zu einer kontroversen Debatte, in: Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie 44 (2000), S. 69–82, hier: S. 71. 174 Vgl. Gisela Mohr, Erwerbslosigkeit, Arbeitsplatzunsicherheit und psychische Befindlichkeit, Frankfurt / Main 1997; daran anschließend: Wacker, Marienthal und die sozialwissenschaftliche Arbeitslosenforschung, S. 397–414. 175 Vgl. exemplarisch: Alois Wacker, Differentielle Verarbeitungsformen von Arbeitslosigkeit ‒ Anmerkungen zur aktuellen Diskussion in der Arbeitslosenforschung, in: ­ProKla 13 (1983), S. 77−88; Bonß / Keupp / Koenen, Das Ende des Belastungsdiskurses.

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3.1 Arbeitslosigkeit als psychosoziale Belastung In den frühen 1970er-Jahren griffen Sozialwissenschaftler, konfrontiert mit dem überraschenden Anstieg der Arbeitslosigkeit, vorerst auf ältere Forschung zurück, vor allem auf die Marienthal-Studie von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel aus dem Jahr 1933.176 Die soziographische Studie zu psychischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgephänomenen von Arbeitslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise im Wiener Arbeitervorort Marienthal war eine der ersten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen von Arbeitslosigkeit und gilt aufgrund der beispielhaften Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden als »Klassiker« empirischer Sozialforschung. Laut Jahoda und Lazarsfeld korrelierte die Dauer der Arbeitslosigkeit mit der Schwere der psychischen Deprivation. Die Mehrheit der Arbeitslosen würde nach anfänglichem Schockzustand aufgrund der zeitlichen Strukturverluste in Folge der Arbeitslosigkeit allmählich »aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere,« d. h. in einen Zustand fatalistischer Resignation hinabgleiten.177 Die Wissenschaftler stellten vier Haltungstypen von Arbeitslosen im zeitlichen Verlauf der Arbeitslosigkeit fest: »innerlich ungebrochen«, »resigniert«, »verzweifelt« und »verwahrlost apathisch«. Immerhin gut ein Viertel aller Arbeitslosen der Gemeinde Marienthal konnte zum Zeitpunkt der Untersuchung von den Wissenschaftlern als »innerlich ungebrochen« eingestuft werden. Eine politisch erhoffte oder befürchtete soziale Revolte von Arbeitslosen blieb, laut den Ergebnissen der Studie, aus.178 Die Marienthal-Studie verhielt sich mit diesem Ergebnis ambivalent zu älteren Untersuchungen sozialer Deprivationslagen. Einerseits setzte sie sich von der moralisierenden, bürger­lichen Devianzforschung des 19. Jahrhunderts ab, die Armut als Charakterproblem betrachtete, andererseits verblieb sie mit der Perspektive einer erwerbszentrierten Resozialisierung von Arbeitslosen im Deutungshorizont frühmoderner Strategien der Asylierung von Armen in Arbeitshäusern.179 In ähnlicher Weise hatte der US -amerikanische Soziologe Edward W. Bakke in seinen Arbeiten zu den sozialen Folgen von Arbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise in Großbritannien und den USA argumentiert, die 1933 bzw. 1940 erstmals publiziert, Ende der 1960er-Jahre neu aufgelegt wurden.180 Ganz im 176 Vgl. Marie Jahoda / Paul Lazarsfeld / Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, Leipzig 1933. Neuausgabe: Frankfurt / Main 1975; Wacker, Marienthal und die sozialwissenschaftliche Arbeitslosenforschung, S. 405 f. 177 Jahoda / Lazarsfeld / Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal, S. 83. 178 Vgl. Wacker, Marienthal und die sozialwissenschaftliche Arbeitslosenforschung, S. 405 f. 179 Ebd.; Alois Wacker, Arbeitslosigkeit als Thema der Sozialwissenschaften Geschichte, Fragestellungen und Aspekte der Arbeitslosenforschung, in: Raithel / Schlemmer (Hrsg.), Rückkehr der Arbeitslosigkeit., S. 121–135, hier: S. 133. 180 Edward W.  Bakke, The Unemployed Man: A Social Study, London 1933; Edward W. Bakke, The Unemployed Worker. A Study of the Task of Making a Living without a

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Sinn der Arbeitsbeschaffungsprogramme des amerikanischen New Deal betont Bakke die strukturgebende Rolle von Erwerbsarbeit, die wichtiger sei als die finanzielle Unterstützungsleistung öffentlicher Wohlfahrt. Der Verlust des Selbstbewusstseins infolge von Arbeitslosigkeit sei insbesondere für Familienväter und Familienstrukturen, Bakke ging selbstverständlich vom Modell des männlichen Alleinverdieners aus, psychosozial folgenschwer. Die in der Marienthal-Studie sowie von Bakke festgestellte Belastung von Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl durch Arbeitslosigkeit diente deutscher und britischer Arbeitslosigkeitsforschung bis in die 1980er-Jahre als Referenz. So rekurrierten die Soziologen Michael J.  Hill, Robert M.  Harrison, Anthony V.  Sargeant und Valerie Talbot in der Untersuchung »Men out of Work« von 1971 über soziale und psychische Belastungen durch Arbeitslosigkeit in den englischen Gemeinden Coventry, Hammersmith und Newcastle upon Tyne sowohl auf die Marienthal-Studie wie auf die Arbeiten von Bakke.181 Mittels standardisierter Fragebögen wurden je Fallbeispiel 400 bis 500 männliche Arbeitslose nach ihrer sozialen Situation und ihrem Gesundheitszustand befragt. Neben Faktoren wie Alter, Behinderung oder körperliche Gesundheit wurden Flexibilität und Anspruchshaltung bei der Arbeitsplatzsuche abgefragt, wie die Methoden der Arbeitssuche, die Gründe für den Verlust des letzten Arbeitsplatzes oder die Bereitschaft, für einen Arbeitsplatz, den Wohnort zu wechseln.182 Die Ergebnisse der Untersuchung variieren je nach Region. In Gemeinden mit überdurchschnittlicher Arbeitslosenquote bewegten sich auch die psychischen Probleme der Arbeitslosen auf überdurchschnittlichem Niveau.183 Ein Kausalzusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit konnte nicht nachgewiesen werden, da soziale Gruppen, die überdurchschnittlich mit psychischen Problemen betroffen waren, die gleichen Gruppen waren, die überdurchschnittlich häufig arbeitslos waren, z. B. Ältere oder gering Qualifizierte. Prädisposition und psychische Effekte von Arbeitslosigkeit waren demnach empirisch nicht zu trennen. In Verweis auf Bakke und Jahoda sprechen die Autoren von den »demoralising effects« von Arbeitslosigkeit, wenngleich heruntergebrochen auf volkswirtschaftlich funktionale Handlungshemmnisse. Angeführt wird z. B. das traditionelle Argument mangelnder räumlicher Mobilität des englischen, arbeitslosen Arbeiters.184 Ausweg aus dem methodischen Dilemma der Studie war eine eingeschränkt individualisierende Deutungsperspektive, die letztlich auf eine soziale Strukturanalyse verzichtete: »the main sufferers

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Job, New Haven 1940; neue Ausgabe als: Edward W.  Bakke, Citizens Without Work. A Study of the Effects of Unemployment upon the Workers’ Social Relations and Practices, Hamden, Conn. 1968. Hill / Harrison / Sargeant / Talbot, Men out of Work. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 69. Ebd., S. 131 f.

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from long-term unemployment are men possessing characteristics which is fairly self-evident will make them unattractive to employers.«185 Die Untersuchung »The Social and Psychological Impact of Unemployment« von John Michael Meath Hill wurde 1973 am sozialpsychologischen Londoner Tavistock Institute for Human Relations durchgeführt und 1977 publiziert.186 Das 1947 gegründete Institut war für seine anwendungsorientierte industrieund organisationssoziologische Forschungen im britischen Bergbau bekannt geworden.187 Für die Institutsarbeit war das Konzept der »action research« (Aktionsforschung) von Kurt Lewin maßgebend, deren Anspruch konkreten Praxisbezugs und gesellschaftlicher Problemlösung auch die Arbeitslosenstudie von Michael Hill veranlasste. Im Vergleich zu »Men out of Work« von 1971 war Arbeitslosigkeit nun ein massives, zumindest mittelfristig permanentes Pro­blem für die britische Gesellschaft und ihren volkswirtschaftlich nachteiligen psychischen Auswirkungen war deshalb nachzugehen. Der Studie lagen 150 offene Interviews mit Arbeitslosen zugrunde. In der Auswertung folgt sie dem Phasenmodell der Marienthal-Studie. Demnach trat nach einer ersten Phase von Schock oder aber Erleichterung bei Arbeitsplatzverlust, eine Phase psychischer Schwächung ein. Der Arbeitslose bliebe »länger im Bett, konsumiere mehr Fernsehen oder hinge einfach herum« (»staying longer in bed, watching more television or just lazing about«).188 Die Arbeitslosen würden sich selbst als »depressiv« beschreiben, und ihr Zustand sei von »boredom« und »laziness« gekennzeichnet.189 Schließlich würde Resignation einsetzen. Der Arbeitslose hätte sich mit einer Erwerbslosigkeit abgefunden, und »the individual becomes objectively less employable«.190 Die Untersuchung bestätigt die Belastungsthese von Jahoda und Lazarsfeld, und kommt zu dem Schluss, dass die »responses to unemployment (…) are (…) similar those observed in the (…) 1930s.«191 Die Nichtregierungsorganisation Political and Economic Planning (PEP, seit 1978 mit dem Centre for the Study of Social Policy zum Policy Studies Institute zusammengelegt) begleitete in den Nachkriegsjahren die Gründung des National Health Service und die britischen Entwicklungspolitiken in Afrika. PEP führte 1973 eine vom Leverhulme Trust und IBM finanzierte Studie zu den sozialen Merkmalen von Arbeitslosen durch, der 1976 eine von der Man185 Ebd., S. 140. 186 John M. Hill, The Social and Psychological Impact of Unemployment, London 1977. 187 Zum Tavistock Institute: vgl. Rose, Governing the Soul, S. 105; Peter Miller / Nikolas Rose, The Tavistock Programme. The Government of Subjectivity and Social Life, in: Sociology 22 (1988), S. 171–192; den Bogen von Forschungen der 1950er-Jahre zum »neuen Geist des Kapitalismus« undifferenziert schlagend: Daniel Monninger, Flexibilität, Anpassung, Selbstorganisation: Das Tavistock Institute of Human Relations und die Gruppe als therapeutisches Objekt, in: Mittelweg 36 28/29 (2019), 6, S. 92–113. 188 Hill, The Social and Psychological Impact of Unemployment, S. 122. 189 Ebd., S. 122. 190 Ebd., S. 43. 191 Ebd., S. 41.

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power Services Commission getragene Follow-Up-Studie folgte.192 Die Forschungsberichte basierten auf einer national repräsentativen Stichprobe von ca. 1.500 Arbeitslosen, von denen 932 erneut im Jahr 1976 befragt werden konnten. In beiden Untersuchungen wurden mittels standardisierter Fragebögen allgemeine Merkmale und Lebensumstände von Arbeitslosen erfasst, beispielsweise Gesundheit und körperliche Verfassung, um mögliche Ursachen für Langzeitarbeitslosigkeit oder erfolgreiche Arbeitssuche und die psychosozialen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit zu ermitteln. Die Mehrheit der Arbeitslosen der Studie von 1973 gab an, in irgendeiner Weise zu befürchten, Probleme wegen der eigenen Arbeitslosigkeit zu bekommen.193 Weitaus am häufigsten wurde die Befürchtung genannt, finanziell in Bedrängnis zu geraten. In 58 Prozent aller Antworten wurden psychische und soziale Einschränkungen aufgeführt: an erster Stelle relativ harmlose, wie »boredom« oder »having nothing to do«, gefolgt von schwerwiegenden, wie »depression« oder »apathy.«194 Das Gefühl, versagt zu haben oder »auf dem Schrottplatz gelandet zu sein«, plagte rund elf Prozent der Arbeitslosen, die Angaben an diesem Punkt gemacht hatten. Die sozialen und psychischen Problemlagen waren tendenziell gleichmäßig auf alle Alters- und Berufsgruppen sowie Männer und Frauen verteilt. Die Studie war jedoch mit einem ähnlichen Dilemma konfrontiert wie die Studie von Michael J. Hill von 1971. Ob Arbeitslosigkeit psychisch belastende Effekte oder psychische Belastungen Arbeitslosigkeit zur Folge hatte, ließ sich nicht eindeutig feststellen. Ein instabiler Gesundheitszustand erschwerte grundsätzlich die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz ebenso wie das Alter oder die ethnische Klassifizierung von Arbeitslosen.195 In der Follow-Up-Studie von 1976 trat das Problem verschärft hervor. Je schlechter Arbeitslose ihren Gesundheitszustand 1973 eingestuft hatten, desto wahrscheinlicher war es, dass sie 1976 erwerbslos waren.196 Der Anteil der Arbeitslosen, die psychische und soziale Einschränkungen beklagten, war ebenso gewachsen wie der Anteil derer, die finanzielle Einbußen erlitten. Insgesamt bestätigten beide Studien die These der psychosozial belastenden Auswirkungen von Arbeitslosigkeit. In der Bundesrepublik wurde am Institut zur Erforschung sozialer Chancen (ISO), das 1971 in Köln als Berufsforschungsinstitut von René König mitbegründet wurde, 1976 eine Untersuchung zur Arbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Das Institut war einer praxisnahen Grundlagenforschung verpflichtet. Anlässlich der Schließung des ISO im Jahr 2004 beschrieb der damalige Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats, der Industriesoziologe Werner Fricke, dessen Forschungsperspektive als »universell und sozialdemokratisch192 Daniel, A National Survey of the Unemployed; ders. / E . Stilgoe, Where are they now? A Follow-Up Study of the Unemployed, London 1977. 193 Daniel, A National Survey of the Unemployed, S. 44. 194 Ebd., S. 44. 195 Ebd., S. 111. 196 Daniel / Stilgoe, Where are they now? S. 19.

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technokratisch«.197 Arbeitslosigkeit wurde demnach als strukturelles Problem der Rhein-Ruhr-Region wissenschaftlich angegangen, und unter der Institutsleitung von Willi Pöhler, Professor für Industriesoziologie und der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit nahe stehend, die Situation von Arbeitslosen in den nordrheinwestfälischen Arbeitsamtsbezirken Coesfeld, Düsseldorf und Gelsenkirchen vergleichend betrachtet. Die Ergebnisse der Analyse, die auf standardisierten Befragungen von jeweils ca. 1.300 Arbeitslosen und Erwerbstätigen basierten, wurden in zwei, einander widersprechenden Forschungsberichten veröffentlicht. Der 1977 von Ulrich Hentschel, Carola Möller und Rüdiger Pintar veröffentlichte Bericht besagt, dass Arbeitslosigkeit psychisch negative Folgen hat. Unter Verwendung der vom Soziologen Franz-Xaver Kaufmann zu Beginn der 1970erJahre entwickelten »Fatalismus-Skala« kommen die Autorin und Autoren zu dem Schluss, es bestünde eine »direkte Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Fatalismus.«198 Der Fatalismusbegriff indiziert, laut Kaufmann, geringes Zutrauen in die eigene Handlungsfähigkeit und dient ihm zur Erklärung des in der Bundesrepublik empirisch festgestellten Zusammenhangs von negativen Erwartungshaltungen gegenüber öffentlichen Wohlfahrtseinrichtungen bei gleichzeitigen höherem Versorgungsanspruch.199 Geht es Kaufmann mithin um den Zusammenhang von geringem Selbstvertrauen (Fatalismus) und sozialpolitischen Erwartungsstrukturen, reduzieren die Wissenschaftler vom ISO den Begriff auf eine »allgemeine persönliche Grundhaltung«, die damit einher ginge, »mutlos und passiv zu reagieren, statt aktiv und planend auf gegenwärtige und künftige Lebensbedingungen Einfluß zu nehmen.«200 Diese Grundhaltung sei gleichzusetzen mit den Haltungstypen der Marienthal-Untersuchung, deren Phasenmodell die Wissenschaftler übernahmen. Der festgestellte »direkte Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Fatalismus« nimmt folglich mit Dauer der Arbeitslosigkeit zu, unabhängig von der finanziellen Situation.201 Der Befund der ISO -Untersuchung von 1977 wurde in die populärwissenschaftliche Zeitschrift »bild der wissenschaft« übernommen.202 Unter der Überschrift »Kölner Wissenschaftler untersuchten: Arbeitslose. Was sie denken, wie sie leiden« betonte der Artikel, dass »Arbeitslosigkeit (…) offensichtlich zu einem längerfristigen Problem [wird], das jeden Bürger direkt oder indirekt an-

197 Werner Fricke, Gründerzeiten, in: ISO Informationen 13 (2004), S. 2–4, hier: S. 3. 198 Ulrich Hentschel / Carola Möller / Rüdiger Pintar, Zur Lage der Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen, Köln 1977, S. 210. 199 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches System. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 1973, S. 180−186. 200 Hentschel / Möller / Pintar, Zur Lage der Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen, S. 210. Die Neuauflage von 1979 wurde in diesem Punkt nicht überarbeitet. 201 Ebd., S. 211. 202 Vgl. Kölner Wissenschaftler untersuchten: Arbeitslose. Was sie denken, wie sie leiden, in: bild der wissenschaft 14 (1977), 7, S. 102–109.

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geht.«203 In der Übersetzung der wissenschaftlichen Expertise in die Sphäre des Meinungswissens wird die Fatalismus-Diagnose des ISO noch einmal verkürzt. Arbeitslosigkeit wirkt sich nun nicht nur negativ auf die seelische Verfassung »ihrer Opfer« aus. Arbeitslosen wird tendenziell Devianz unterstellt, denn die »negativen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit können für sich allein oder auch kombiniert dazu führen, daß der Betroffene entweder in völliger Apathie versinkt oder zum Alkoholiker oder psychiatrischen Behandlungsfall wird.«204 Dass Fatalismus eine Folge von Arbeitslosigkeit sein könnte, wird dahingehend hinterfragt, inwiefern Fatalismus nicht eine Prädisposition, »eine Voraussetzung«, von Arbeitslosigkeit wäre.205 Bei allen verständnisvollen Formulierungen bezüglich des »Teufelskreises« von Misserfolgen, in dem Arbeitslose gefangen seien, trudelt der Artikel immer wieder in das Fahrwasser stereotyper Abwertungsargumente. Die »Gefahr von negativen Desintegrationsprozessen«, der Arbeitslose ausgesetzt seien, wird so zu einem unausweichlichen, aber selbst verschuldeten Schicksal, das Alkoholismus und Kriminalität nicht ausschließt.206 Ein weiterer Forschungsbericht des ISO in diesem Projektzusammenhang, unter Ägide des Institutsdirektors Karl Krahn von Dieter Fröhlich verfasst, wurde 1979 als »Psychosoziale Auswirkungen der Arbeitslosigkeit. Eine empirische Untersuchung in Nordrhein-Westfalen« veröffentlicht. Konträr zum Forschungsbericht von Hentschel, Möller und Pintar, aber auf der gleichen empirischen Grundlage hält er fest, dass es »für eine negative Veränderung des Gesundheitszustandes [von Arbeitslosen] (…) ›objektiv‹ keine stichhaltigen Gründe« gäbe.207 Fröhlich distanziert sich ausdrücklich vom Forschungsbericht von Hentschel, Möller und Pintar, dem trotz des gemeinsamen Projektzusammenhangs ein anderes »theoretisches Konzept zugrunde« läge, da die »gesellschaftspolitischen Orientierungen der Projektbearbeiter zu unterschiedlich« seien.208 Fröhlich verwendet auch den Fatalismus-Begriff Kaufmanns, setzt diesen aber im Gegensatz zur Untersuchung von Hentschel, Möller und Pintar ins Verhältnis zu anderen Dimensionen psychisch-sozialer Belastung (Zeiterleben, Gefühl von Wertlosigkeit, Sozialkontakte, Gesundheit) sowie in Abhängigkeit zum Alter und Bildungs- bzw. Ausbildungsstand der Befragten. Wiederum zeigt sich die Schwierigkeit, soziale Prädisposition und psychosoziale Folgen von Arbeitslosigkeit zu trennen. Vollkommen außer Acht lässt Fröhlich die Geschlechterverhältnisse. Gleichlautend zu Hentschel, Möller und Pintar verweist er auf die Schwierigkeiten, arbeitslose Frauen zu befragen, da viele Frauen sich in Folge der innerfamiliären Zuständigkeit für Care-Arbeit nicht als »arbeitslos« definierten. Anders als die Kolleginnen vom ISO verzichtete Fröhlich aber gleich 203 Ebd., S. 103. 204 Ebd., S. 103, 104. 205 Ebd., S. 107. 206 Ebd., S. 108. 207 Dieter Fröhlich, Psychosoziale Folgen der Arbeitslosigkeit. Eine empirische Untersuchung in Nordrhein-Westfalen, Köln 1979, S. 217. 208 Ebd., S. 54.

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ganz auf die Sortierung der Befunde nach Geschlecht und wertet diese nur für arbeitslose Männer aus. Gering qualifizierte Männer sowie Ältere und Beeinträchtigte wiesen demnach tendenziell fatalistischere Einstellungsmuster auf, waren aber auch öfter und länger arbeitslos. Fatalismus hatte demzufolge »in der von uns gemessenen Form kein[en] Bezug zur Arbeitslosen-Thematik.«209 Zudem sei die soziale Situation von Arbeitslosen in den 1970er-Jahren aufgrund des komfortablen Systems sozialer Sicherung und des verbesserten Bildungsniveaus nicht mit der Situation der Arbeitslosen in den 1930er-Jahren vergleichbar.210 Dieser Befund wurde auch nicht durch die 30 Prozent der Befragten eingetrübt, die mittels eines Drei-Fragen-Items (Ablehnung, Indifferenz, Zustimmung) einräumten, sich wegen ihrer Arbeitslosigkeit »wertlos« zu fühlen.211 Immerhin 50 Prozent stimmten diesem Statement nämlich nicht zu. Fröhlich sprach sich deshalb gegen die These einer eindeutig nachweisbaren psychosozialen Belastung durch Arbeitslosigkeit aus. Auch Hentschel, Möller und Pintar revidierten in einer zweiten, überarbeiteten Ausgabe ihrer Forschungsarbeit, die 1979, zwei Jahre nach der Erstausgabe erschien, in Bezugnahme auf Dieter Fröhlich die Annahme einer Korrelation zwischen Fatalismus und Arbeitslosigkeit. Nun heißt es in einem Vorwort zu dem Forschungsbericht: »Eine detailliertere Datenanalyse hat ergeben, daß es sich bei der Beziehung zwischen Fatalismus-Index und Dauer der Arbeitslosigkeit um eine Scheinkorrelation handelt.«212 Einer der wichtigsten Institutionen in der Bundesrepublik zur Erforschung von Arbeitsmarktpolitiken und Berufsfragen war und ist das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, der Bundesanstalt bzw. Bundesagentur für Arbeit angegliedert. Die Institutsgründung 1967 erfolgte im Kontext von Debatten um Automation und der damit zusammenhängenden Veränderung von Berufsstrukturen. In der Illustrierten »Stern« erschien 1963 der »Berufsreport«, der, in Zusammenarbeit mit dem Sozialwissenschaftler Burkart Lutz erstellt, die Kompetenz des Arbeitsamts angesichts des vorhergesagten beruflichen Wandels in Frage stellte.213 Planungsoptimistisch ging man bei Gründung des IAB davon aus, mit einer institutionalisierten Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, wie sie im AFG 1969 legislativ festgelegt wurde, zukunftsfähige, wissenschaftsbasierte Arbeitsmarkt- und Berufspolitik betreiben zu können.214 209 Ebd., S. 113. 210 Ebd., S. 223−224. 211 Ebd., S. 92. 212 Hentschel / Möller / Pintar, Zur Lage der Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen, S. 1. 213 Vgl. Leo Bauer / Jürgen von Kornatzki, wechseln sie ihren beruf rechtzeitig. STERNReport über Berufsaussichten und Berufsausbildung in der Bundesrepublik, in: Stern 16 (1963), 53, S. 32–38, 79–83; zum IAB: Christian Brinkmann / Werner Karr / Jürgen Kühl / Gerd Peters / Friedemann Stooß, 40  Jahre IAB. Ein Rückblick auf Forschung und Politikberatung, Nürnberg 2007. 214 AFG § 6, in: BGBl. I 51/1969, S. 582–632, hier: S. 584; vgl. auch Unterlagen zur Forschungskoordination BArch 149/8469, BArch 149/8470.

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Das IAB, das Anfang der 1970er-Jahre in die Nürnberger Zentrale der Bundesanstalt eingegliedert wurde, wuchs im ersten Jahrzehnt seines Bestehens rasch auf ca. 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Soziologie, Volkswirtschaft und Politikwissenschaft an. Kernaufgabe des IAB war eine Berufsforschung, die sich als Ressortforschung etablierte, d. h. orientiert war an Politikfeldern und konkretem Politikbedarf und dazu beitrug, »Arbeitsmarkt- und Berufsforschung« auf die politische und wissenschaftspolitische Agenda zu setzen. In sieben Abteilungen (Makroökonomie, Regionalforschung, Soziologie, Berufsforschung, Technologie, Statistik, Dokumentation) betätigte sich das Institut in Politikberatung, evaluierte Maßnahmen der Arbeitsförderung, erforschte Arbeitsmarktstrukturen und Arbeitskräftebedarf, lieferte entsprechende Kennzahlen und informierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung über aktuelle Forschungsprobleme. Die inhaltliche Ausrichtung der Forschungsschwerpunkte hing wesentlich von den Vorgaben des Direktors oder der Direktorin (1967 bis 1987: D ­ ieter Mertens) und den informellen Spielräumen innerhalb der Behörde ab. Die »Ära Mertens,« d. h. die Gründungsjahre des Instituts zeichneten sich durch ein weites Verständnis von Berufsforschung aus. Im Bestreben, zum einen den Fachabteilungen der Bundeanstalt keine Probleme zu bereiten und zum anderen den noch nicht etablierten Wissenschaftsbereich der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zu profilieren, verfolgte Mertens Themen, die nicht unmittelbar arbeitsmarktpolitisch wirkten, prägte jedoch teilweise interdisziplinäre Begrifflichkeiten, die längerfristig in die Berufs- und Wirtschaftspädagogik oder in das Personalwesen Eingang fanden.215 Bestes Beispiel ist Mertens᾽ Begriff der »Schlüsselqualifikation«, den er erstmals 1974 vorstellte und mit dem er ein breites Bündel überfachlicher und berufsunabhängiger Qualifikationen bezeichnete, die angesichts technologisch bedingter Veränderungen der Arbeitswelten zukünftig erforderlich seien.216 »Schlüsselqualifikationen,« die bisherige starre Bildungsziele ersetzen sollten, waren bei Mertens beispielsweise lebenslange Lernfähigkeit sowie Kommunikations- oder Planungsfähigkeit. Die Begriffs215 Gerd Peters, Ressortforschung und Politikberatung am Beispiel des IAB , in: C ­ hristian Brinkmann / Werner Karr / Jürgen Kühl u. a. (Hrsg.), 40 Jahre IAB. Ein Rückblick auf Forschung und Politikberatung, Nürnberg 2007, S. 2−62, hier: S. 37; Friedemann Stooß, Berufsforschung im IAB. Start und Ausbau in den Jahren 1967−1976 im Spiegel der persönlichen Erinnerungen, in: Brinkmann / Karr / Kühl u. a. (Hrsg.), 40 Jahre IAB , S. 121−159; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland ­1871–2002, S.  465–470. 216 Dieter Mertens, Schlüsselqualifikationen. Thesen zur Schulung für eine moderne Gesellschaft, in: Mitt AB 7 (1974), S. 36–43, hierzu: Martina Stangel-Meseke, Schlüsselqualifikation in der betrieblichen Praxis, Wiesbaden 1994; Katja Gruber, Schlüsselqualifikationen: Konsensstiftende Leerformel, technokratische Beherrschung des Subjektes oder Indiz für Reformbedarf in der betrieblichen Erstausbildung?, Diplomarbeit JohannesGutenberg-Universität Mainz, Fachbereich Philosophie / Pädagogik 2004, https://www. die-bonn.de/esprid/dokumente/doc-2004/gruber04_01.pdf, 30.01.2023.

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karriere der »Schlüsselqualifikationen« war beachtlich. Erleichtert durch eine gewisse Substanzlosigkeit und semantische Beliebigkeit – von pädagogischem Traditionsballast befreit, hatte Mertens als Vertreter eines neuen Forschungsfeldes hinreichende wissenschaftspolitische Beinfreiheit  – wurden »Schlüsselqualifikationen« tragendes Konzept in der betrieblichen Aus- und Fortbildung. In der Gegenwart mit diffusen Inhalten wie Flexibilität, Teamfähigkeit oder Kreativität assoziiert, wurde dem Begriffsfeld der »Schlüsselqualifikationen« auch angelastet, ökonomisch verwertbarer Subjektivierung das Wort zu reden. Seit Mitte der 1970er-Jahre stiegen Mitarbeiter des IAB in das Feld der Arbeitslosenforschung ein. Innovativ waren Arbeiten zu Sozialstrukturen von Arbeitslosen, wie diejenigen Karen Schobers zu arbeitslosen, ausländischen Jugendlichen Anfang der 1980er-Jahre. 1975 startete das Institut die Untersuchung »Finanzielle und psychosoziale Belastungen während der Arbeitslosigkeit« unter Leitung des IAB -Mitarbeiters Christian Brinkmann, für die ca. 6.000 Erwachsene und 600 Jugendliche, die im Vorjahr arbeitslos gemeldet waren, schriftlich über ihren beruflichen Verbleib sowie ihre finanziellen und psychosozialen Probleme während der Arbeitslosigkeit befragt wurden.217 In den Ergebnissen werden die psychosozialen Einschränkungen für die Befragten deutlich schwerer gewichtet als die finanziellen Nachteile. Insbesondere die durch Arbeitslosigkeit übermäßig vorhandene freie Zeit wird als Problem angesehen. Knapp die Hälfte der Arbeitslosen ging »das Zuhausesein auf die Nerven«, ebenso viele kamen sich »manchmal richtig überflüssig« vor.218 Andere empirische Befunde waren unklarer: Das auf Selbstattributierung abzielende Frage-Item »Ich habe mich oft gefragt, ob ich nicht selbst schuld bin an dieser Arbeitslosigkeit« wurde lediglich von 17 Prozent der Befragten bejaht.219 Nahezu gleich war der prozentuale Anteil derer, die angaben, »kaum finanzielle Schwierigkeiten« aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit zu haben.220 Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass finanzielle Belastungen für die Mehrheit der Befragten vorhanden waren. Immerhin stellten die IAB -Wissenschaftler fest, dass die psychosoziale Stabilität von der finanziellen abhängig war. Arbeitslose, die »kaum finanzielle Schwierigkeiten« hatten, gaben seltener an, nichtfinanzielle Probleme zu haben, im Vergleich 217 Christian Brinkmann, Finanzielle und psychosoziale Belastungen während der Arbeitslosigkeit, in: Mitt AB 9 (1976), S. 397−413; ähnlich: Christian Brinkmann, Finanzielle und psychosoziale Folgen während der Arbeitslosigkeit: In: Alois Wacker (Hrsg.), Vom Schock zum Fatalismus? Soziale und psychische Auswirkungen der Arbeitslosigkeit, Frankfurt / Main 1978, S.  57−91. 218 Brinkmann, Finanzielle und psychosoziale Belastungen während der Arbeitslosigkeit, in: Mitt AB 9 (1976), S. 397. 219 Ebd., S. 409; Wacker / Kolobkova weisen darauf hin, die Fragestellung sei »unglücklich«, da damit nur eine unmittelbare Verantwortungsübernahme für Arbeitslosigkeit (z. B. bei selbst verschuldeter Kündigung) evoziert würde, vgl. Wacker / Kolobkova, Arbeitslosigkeit und Selbstkonzept, S. 70, Fußnote 2. 220 Brinkmann, Finanzielle und psychosoziale Belastungen während der Arbeitslosigkeit, in: Mitt AB 9 (1976), S. 399.

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zu Arbeitslosen, die mit Zahlungsverpflichtungen in Verzug waren.221 Darüber hinaus wurden Zusammenhänge zwischen psychosozialer Lage und familiärer Lebenssituation sowie Dauer und Häufigkeit von Arbeitslosigkeit identifiziert. Mitentscheidend für die Frage nach psychosozialen Belastungen war, so Christian Brinkmann, ob so genannte »Alternativrollen« zur Arbeitslosigkeit (Ruhestand für Ältere, Care-Arbeit für Frauen) vorhanden bzw. wahrgenommen werden konnten. Das Deutungsmodell der »Alternativrollen« Brinkmanns war einer der ersten Versuche jenseits von Forschungen der Zwischenkriegsjahre, Arbeitslosigkeit als einen spezifischen Forschungsgegenstand mit einem eigenen methodischen Instrumentarium zu begreifen. Insgesamt distanzierte sich der Bericht von den Belastungsthesen der Arbeitslosenforschung der 1930er-Jahre. Die bundesdeutschen Wohlfahrtssysteme, in die das IAB als Forschungsinstitut selbst eingebunden war, hätten die finanziellen Einschränkungen in Folge von Arbeitslosigkeit in den 1970er-Jahren entscheidend abgeschwächt. Eine Follow-Up-Studie des IAB wurde Anfang der 1980er-Jahre durchgeführt. Annähernd 1.500 arbeitslose Erwachsene (älter als 25 Jahre) wurden innerhalb von sechs Monaten zweimal schriftlich befragt, davon 900, die bereits an der Studie von 1976 beteiligt waren.222 Wiederum wurde nach den Zusammenhängen zwischen finanziellen und psychosozialen Belastungen gefragt, nunmehr aber mit eindeutigem Fokus auf das Individuum, wie es schon der Titel des 1984 veröffentlichten Forschungsberichts besagt: »Die individuellen Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit«. Die stärkere Gewichtung individueller Handlungsmacht im Vergleich zur Untersuchung von 1976 spiegelt sich in geringfügigen Änderungen des Erhebungsbogens. Lautete 1976 das letzte per Skalierungsverfahren einzuschätzende Statement des Fragebogens »Wenn man jahrelang Versicherungsbeiträge gezahlt hat, kann man sich guten Gewissens auch mal Arbeitslosengeld auszahlen lassen«, so war dies 1984: »Ich kann mich gut durchsetzen«, was auf eine gewisse Prävalenz für arbeitsmarktpolitische Fitness des Befragten hindeutet.223 Im Gesamtdesign der Untersuchung ist der Arbeitslose in seinem individuellen Verhalten jedoch nur eine intervenierende Variable, um Faktoren für die Integration in das Arbeitsleben zu ermitteln. Aufgrund eines ökonomischen und sozialpolitischen Makroansatzes ging es der IAB -Untersuchung weiterhin um Lösungsansätze auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, um Langzeitarbeitslosigkeit zu verringern und ihre Auswirkungen abzumildern.224

221 Ebd., S. 412. 222 Christian Brinkmann, Die individuellen Folgen langfristiger Arbeitslosigkeit, in: ­Mitt AB 17 (1984), S. 454–473. 223 Vgl. Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeit. Untersuchung über Berufsverläufe, 1984, Frage 134. Privatbesitz ­Christian Brinkmann, dem ich für die Überlassung seiner Forschungsunterlagen danke. 224 Brinkmann, Die individuellen Folgen langfristiger Arbeitslosigkeit, S. 470.

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3.2 Das Ende des Belastungsdiskurses und die unternehmerischen Arbeitslosen Individualisierende Forschungsperspektiven gewannen in Folge fachlicher Ausdifferenzierung der Arbeitslosenforschung an Bedeutung, z. B. mit den qualitativen Methoden, die in den frühen 1980er-Jahren vermehrt in der Arbeitslosenforschung angewendet wurden. Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, führte eine von den Psychologen Dieter Ulich und Karl Haußer geleitete Arbeitsgruppe an den Universitäten Augsburg und München in den Jahren 1979 bis 1984 104 offene Interviews mit arbeitslosen Lehrerinnen und Lehrern, die als Berufsgruppe seit Ende der 1970er-Jahre überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen waren.225 Kombiniert mit statistischen Daten, konnte die Studie keine Evidenz für eine nach Phasen zunehmende psychosoziale Belastung während der Arbeitslosigkeit feststellen. Die Idee einer zeitlichen Entwicklung im Umgang mit dem belastenden Ereignis Arbeitslosigkeit wurde beibehalten, jedoch als Idee einer anhaltenden Krisenerfahrung. Für den theoretischen Rahmen der Untersuchung war das »Coping«-Konzept des US-amerikanischen Psychologen Richard S. Lazarus wichtig, um diejenigen Anstrengungen zu bezeichnen, die ein Individuum zur Problemlösung unternimmt. Eine »ÜberAttribution« von Selbstverantwortlichkeit des Arbeitslosen weisen die Wissenschaftler zurück, dennoch kommt die Studie zu dem Schluss, dass die kognitive Interpretation des subjektiven Befindens eine wichtige Rolle dabei spielen würde, welche Auswirkungen Arbeitslosigkeit auf den Einzelnen hätte.226 In sich bleiben die Ergebnisse von Ulich u. a. nicht nur an dieser Stelle widersprüchlich. Einerseits wirkten der Studie zufolge »Bewältigungskompetenzen nur dann belastungsreduzierend (…), wenn zusätzlich soziale und materielle Ressourcen vorhanden« waren.227 Finanzielle Unsicherheiten im Zusammenhang von Arbeitslosigkeit förderten darüber hinaus, eine »Jobmentalität«, die eigene berufliche Ambitionen schrumpfen ließe.228 Andererseits ließe sich »Selbstvertrauen trotz Arbeitslosigkeit (…) aus verschiedenen Quellen schöpfen«, wie ein »guter Freundes- und Bekanntenkreis, Mitarbeit in Arbeitslosenselbsthilfegruppen und auch ein politisches Engagement im Kampf gegen Arbeitslosigkeit.«229 Diese Punkte wurden zwar von Befragten genannt als Hilfsmittel, um ihr Selbstvertrauen zu stärken, trafen sich aber wohl auch mit den sozialen und politischen Gewohnheiten der akademisch ausgebildeten Autorinnen und Autoren.

225 Dieter Ulich u. a., Psychologie der Krisenbewältigung. Eine Längsschnittuntersuchung mit arbeitslosen Lehrern, Weinheim / Basel 1985. 226 Ebd., S. 34, 251. 227 Ebd., S. 251. 228 Ebda, S. 219 f. 229 Ebd., S. 138.

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Auch in der britischen Sozialforschung zeichnet sich in den frühen 1980erJahren eine zunehmende Ausdifferenzierung der Methoden in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Arbeitslosigkeit ab. Infolgedessen verlor auch dort die These eines einzigen Erfahrungs- und Verarbeitungsmuster von Arbeitslosigkeit, das der psychosozialen Belastung der Zwischenkriegszeit, allmählich an Deutungsmacht. Gleichwohl arbeitete die Studie »The Long-Term Unemployed. A Study of their Characteristics and Problems« von Peter Coppin, 1984 im Auftrag des Londoner Bezirksrats von Hammersmith und Fulham erstellt, mit dem Phasenmodell der Marienthal-Studie.230 Aufgrund der Ergebnisse einer standardisierten Befragung von 200 Langzeitarbeitslosen des Bezirks, die sich der Parameter des »General Health Questionnaire« (GHQ ) von David Goldberg bediente, geht die Untersuchung davon aus, dass etwa zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen im Bezirk das Risiko tragen würden, psychisch oder emotional in Folge ihrer Arbeitslosigkeit beeinträchtigt zu werden. Die Studie stellte auch kognitive Schwierigkeiten bei anhaltender Arbeitslosigkeit fest, die nach Definitionsrahmen der Studie ein breites Spektrum von »minor depressions, anxiety status, anxiety reactions« oder »prevalence of stress symptoms« umfassen konnten.231 Auf kommunaler Ebene der Grafschaft Cleveland wurde 1986 die Untersuchung »Impact of Unemployment on Individuals, Families and Communities« durchgeführt.232 Basierend auf standardisierten schriftlichen und mündlichen Befragungen von 400 Arbeitslosen der Region über berufliche Weiterbildung, Arbeitssuche, Freizeitaktivitäten, finanzieller Situation und den mentalen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf den Einzelnen, stellt die Studie bei einer signifikanten Anzahl der Befragten »poor social and psychological well-being« fest. Sie litten unter »boredom, despair, worry, lack of purpose, feeling worthless, loss of confidence, depression and breakdown in relations.«233 Insoweit der These psychosozialer Belastung durch Arbeitslosigkeit folgend, wurde der Zustand psychischer Gesundheit in Abhängigkeit von Geschlecht (das psychische Befinden arbeitsloser Frauen war schlechter als das arbeitsloser Männer), Alter, Dauer der Arbeitslosigkeit (zunehmendes Alter und andauernde Arbeitslosigkeit verschlechterten die psychische Situation), Wohnort und soziale Integration sowie zur Qualifikation gesetzt. Gering qualifizierte Arbeitslose neigten zu einem schwachen Selbstwertgefühl.234 Arbeitslose, die gut mit ihrer Arbeitslosigkeit zurechtkamen oder gar angaben, freie Zeit und Untätigkeit zu schätzen, wurden nur vereinzelt zitiert, etwa eine Arbeitslose, die angab: 230 Peter Coppin, The Long-Term Unemployed. A Study of their Characteristics and Problems, London 1985. 231 Ebd., S. 72−73. 232 Elizabeth M. Crookston / B. Maldé, Impact of Unemployment on Individuals, Families and Communities, Middlesbrough 1986. 233 Beide Zitate: ebd., S. 3. 234 Ebd., S. 20.

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I may be an exception but I have began to enjoy unemployment as a guard against having to do jobs which you didn’t want to do anyway. I do things I enjoy doing – could do with more money but a lot of activities don’t need a lot of money anyway. (…) There is a tendency for people to overdo the ›oh you poor thing‹.235

Im Bewertungsteil der Studie werden solche Statements als »schlechte Arbeits­ losigkeit« (»bad unemployment«) klassifiziert, die sich von »guter Arbeits­ losigkeit« (»good unemployment«) durch ihre Unproduktivität unterscheiden würde.236 Pragmatisch präsentierte die Untersuchung ihre kostensparenden Lösungsvorschläge für den Umgang der Kommune mit Arbeitslosigkeit, die in der Ermöglichung »guter«, d. h. produktiv ausgefüllter Arbeitslosigkeit lägen. Arbeitslose sollten in die Lage versetzt werden, ihre freie Zeit sinnvoll zu nutzen, z. B. mit Weiterbildung, Workshops, Sport, Gesprächstreffen oder kulturellen Veranstaltungen, für die die Kommunen Eintrittsgelder oder Teilnahmegebühren ermäßigen bzw. ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellen sollten.237 Das politische Ziel der Lokalstudie wird deutlich: zu verhindern, dass die ›Community‹ vor Ort finanziell leidet oder sozial auseinanderbricht. Die Cleveland-Untersuchung bezog sich auf Untersuchungen des Arbeitspsychologen Peter Warr aus den frühen 1980er-Jahren.238 In der Studie »Work, Unemployment, and Mental Health« von 1987 spricht sich Warr gegen die Annahme aus, Arbeitslose trügen ein höheres Risiko mentaler Belastung.239 Basierend auf Motivationstheorien des US -amerikanischen Psychologen Abraham Maslow geht Warrs »Vitamin-Modell« von neun Bedingungsmerkmalen in der Umwelt aus (Kontrollüberzeugung, Gelegenheiten, Fähigkeiten einzusetzen, Ziele zu verfolgen, Vielfalt, übersichtliche Lebensverhältnisse, finanzielle Sicherheit und physische Unversehrtheit), die laut Warr die psychische Gesundheit in ähnlicher Weise beeinflussten wie Vitamine die physische Gesundheit.240 Von Ausprägung und Kombination dieser »Vitamine« oder Umweltbedingungen hinge es ab, inwiefern in Situationen von Erwerbstätigkeit wie auch Arbeitslosigkeit, ein gesundes, von Zufriedenheit und Selbstwert getragenes Selbstverhältnis vorliegen könne. Warr schlägt vor, Arbeitslosigkeit genauso eingebunden in Umweltbedingungen zu betrachten wie Erwerbstätigkeit, da Lohnarbeit für viele Menschen schlechtere Lebensbedingungen biete als Arbeitslosigkeit.241 In Lesart von Nikolas Rose, der betonte, dass sich in sozialen und psychologischen Forschungen von Maslow u. a. zu Selbstkonzepten und Selbstbewusstsein einerseits die sozialen und kulturellen Werte einer fortgeschrittenen liberalen Demokratie 235 Ebd., Appendix 4. 236 Ebd., S. 26. 237 Ebd., S. 26. 238 Peter Warr, Job Loss, Unemployment and Psychological Well-Being, in: Evert van de Vliert / Vernon E. Allen (Hrsg.), Role Transitions, New York 1983, S. 263−285. 239 Peter Warr, Work, Unemployment, and Mental Health, Oxford 1987. 240 Ebd., S. 9. 241 Ebd., S. 194.

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und andererseits die Anforderungen der Industrie abbilden würden, entwirft Warr eine Art Anforderungsprofil einer zivilgesellschaftlich selbstreflektierten Staatsbürgerlichkeit, die mit erwerbsbiographischer Diskontinuität rechnet.242 Auch der britische Psychologe David Fryer kritisiert in einem 1986 publizierten Aufsatz die ältere Arbeitslosenforschung und schlägt alternative Handlungsmodelle für Arbeitslose vor.243 Die Belastungsthese der Marienthal-Studie war seiner Meinung nach politisch wichtig. Methodisch zeige sie aber insofern Mängel, als nicht eindeutig zwischen Ursache und Wirkung psychischer Belastungen unterschieden und die Bedeutung finanzieller Einschränkungen unterschätzt würde.244 Daneben kritisiert Fryer das Persönlichkeitskonzept, mit dem die Belastungstheorie rechnete. Die Forscher der Marienthal-Studie gingen davon aus, dass die Motivation Einzelner extrinsisch erfolge und genau diese extrinsische Ansprache bei Arbeitslosigkeit wegfalle.245 Fryers Theorie der »Agency«, d. h. der individuellen Handlungsfähigkeit, rechnet hingegen mit der intrinsischen Motivation von Personen und ihrer daraus folgenden Fähigkeit, ihre Lebenssituation zu verstehen und absichtsvoll eigene Ziele verfolgen zu können.246 Demzufolge hängt es, laut Fryer, von der »Agency« des Arbeitslosen ab, inwiefern Arbeitslosigkeit psychische Folgen hat – eine Belastung besteht für den oder die Arbeitslose nicht mehr zwingend. Mit einem ähnlichen Modell von Handlungsautonomie arbeitet die qualitative Untersuchung über arbeitslose Angestellte (»White Collar Unemployment. Impact and Stress«) des Organisationssoziologen und Psychologen Stephen Fineman, die von 1976 bis 1980 durchgeführt wurde. Während dieser Zeit war Fineman Berater von 100 arbeitslosen männlichen Managern und höheren Angestellten, die an Seminaren zur beruflichen Laufbahnentwicklung teilnahmen. Alle Kursmitglieder wurden vom Professional and Executive Recruitmen (PER) vermittelt. Die Studie ergab, dass einige Arbeitslose mit Arbeitslosigkeit besser zurechtkamen als mit vorangegangener unbefriedigender Erwerbsarbeit. Ein Mathematiker, der in mehreren, aus seiner Sicht prekären und stupiden Jobs gearbeitet hatte, entschied sich schließlich, arbeitslos zu bleiben: »I’ve done absolutely nothing about finding work. Since unemployment my life has been much more pleasant.«247 Fineman bezog sich, wie die Arbeitsgruppe um Dieter Ulich, auf das Stressmodell von Richard Lazarus.248 Wie allgemein die Debatten über 242 Rose, Governing the Soul, S.108 f. 243 David Fryer, Employment Deprivation and Personal Agency During Unemployment. A Critical Discussion of Jahoda’s Explanation of the Psychological Effects of Unemployment, in: Social Behavior 1 (1986), S. 3−23. 244 Ebd., S. 3. 245 Ebd., S. 17. 246 Ebd., S. 19. 247 Stephen Fineman, White Collar Unemployment. Impact and Stress. Chichester 1983, S. 273. 248 Vgl. Mark Jackson, The Age of Stress. Science and the Search for Stability, Oxford 2013, S. 215; Patrick Kury, Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, Frankfurt / Main 2012, S. 13.

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Stresserleben und Stressbewältigung in den 1960er- und 1970er-Jahren reflektierte das Modell von Lazarus die eigene soziale Statusposition unzureichend.249 Das Stressmodell von Lazarus drehte sich vor allem um Stress unter höheren Angestellten und Angehörigen der weißen Mittelschicht und nicht um Stresserleben im Kontext unterbezahlter manueller Lohnarbeit. Erwerbsarbeit als Stress zu erleben, konnte so als Statussymbol für hohe Arbeitsbelastung angesehen werden. Ebenso geht Finemans Studie davon aus, dass es charakteristisch für Angehörige der Mittelschicht war, Arbeitslosigkeit als Stress zu erleben. Obwohl mehr als zwei Drittel der von Fineman Befragten angab, Arbeitslosigkeit als Stresserfahrung wahrzunehmen, die ihre eigene Selbstkonzeption angriff, schlussfolgerte Fineman, dass Arbeitslosigkeit für diese hochqualifizierten Angestellten eine Herausforderung war, die bewältigt werden konnte. Insofern treffen sich die Ergebnisse Finemans mit den Ergebnissen der deutschsprachigen Untersuchung von Dieter Ulich über arbeitslose Lehrer. Gegenüber älterer Arbeitslosenforschung, die, wie Bakke in den 1930er-Jahren, die Gefahr des sozialen Abstiegs hochqualifizierter Arbeitsloser herausgestellt hatte, wirkte Qualifikation bei Fineman quasi präventiv gegen die Gefahr sozialpsychologischer Belastung. Insgesamt zeichnete sich in den 1980er-Jahren eine allmähliche Abkehr vom stereotypen Belastungsdiskurs in der Arbeitslosenforschung ab. Vor allem zwei Argumentationslinien werden im Umschwung der wissenschaftlichen Debatte deutlich. Zum einen wurden wissenschaftspolitisch seitens der kritischen Sozial- und Arbeitspsychologie (Alois Wacker, Thomas Kieselbach) Taktiken des »victim blaming« von Arbeitslosen desavouiert.250 Zum anderen und damit zusammenhängend veränderten und erhöhten sich die wissenschaftlichen Standards der Arbeitslosenforschung. Für die wissenschaftliche Reflexion und Ausdifferenzierung von Forschungsdesigns und -methoden der Arbeitslosenforschung prägte Alois Wacker 1983 den Begriff der »differentiellen Arbeitslosenforschung«.251 Darunter verstand Wacker eine Arbeitslosenforschung, die wachsende Vielfalt in der Arbeitslosenforschung zum Programm machte und das grobe Label »Arbeitslosigkeit« um präzisere Kategorien ergänzen sollte. Die rechtliche und arbeitsmarktpolitische Definition von Arbeitslosigkeit taugte, so Wacker, kaum noch dazu, die verschiedenen Lebens- und Problemlagen in Situationen von Arbeitslosigkeit hinlänglich zu erfassen. Insbesondere für die Untersuchung subjektiver, psychosozialer Folgewirkungen sei es erforderlich, Formen von Arbeitslosigkeit (saisonal, strukturell, Langzeitarbeitslosigkeit) sowie die soziale Situation von Arbeitslosen (Geschlecht, Alter, finanzielle Ressourcen) in die wissenschaftliche Betrachtung einzubeziehen. Wacker ist daran gelegen, 249 Vgl. Jackson, The Age of Stress, S. 206. 250 Thomas Kieselbach / Heinz Offe, Psychologische, gesundheitliche, soziale und politische Probleme als Folge von Arbeitslosigkeit. Ein kritischer Überblick, in: dies. (Hrsg.), Arbeitslosigkeit. Individuelle Verarbeitung. Gesellschaftlicher Hintergrund, Darmstadt 1979, S. 7−140. 251 Wacker, Differentielle Verarbeitungsformen von Arbeitslosigkeit.

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Klischeebilder über Arbeitslose zu vermeiden. Eine »eindimensionale Beachtung der destruktiven Auswirkungen« sei genauso problematisch wie »das reaktionäre Gegenbild des arbeitsscheuen Faulenzers«.252 Partikularen Befunden von Arbeitslosenforschung, wie die einer Vielzahl von Einflussvariablen auf Arbeitslosigkeit oder spezifischen ›Problemgruppen‹ von Arbeitslosen, hatte er jedoch wenig Konzeptionelles entgegenzusetzen, wie Sozialwissenschaftler des »Soziologischen Forschungsinstituts der Universität Göttingen« (SOFI) feststellten.253 Das SOFI selbst führte Ende der 1980er-Jahre ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt zu sozialstrukturellen Auswirkungen der Arbeitsmarktkrise am Beispiel der Region Südostniedersachsen durch.254 Die Arbeitslosen-Studie des SOFI, publiziert 1993, argumentierte strukturtheoretisch. Ihr Ansatzpunkt war die »Erwerbsorientierung« von Arbeitslosen. Kategorial entscheidend war die Frage, inwiefern bei den Befragten eine Chance bestand, wieder eine Beschäftigung aufzunehmen und mit welchen sozialen Realitäten diejenigen konfrontiert waren, die als »Langzeitarbeitslose« galten. Die Belastungsthese spielte in der Studie, die auf knapp 100 qualitativen Interviews beruhte, keine Rolle mehr. Psychosoziale Auswirkungen von Arbeitslosigkeit wurden eindeutig als nachgeordnetes Thema betrachtet. Einzig in politischer Distanzierung von Elisabeth Noelle-Neumann vom Institut für Demoskopie in Allensbach und ihren populärwissenschaftlichen, der politischen Lobbyarbeit verpflichteten Berichte über »Arbeitsverweigerer« aus der »Tabuzone Arbeitslosigkeit« wurde die Annahme eines Werteverfalls eines deutschen Arbeitsethos abgewehrt.255 Wissenschaftliche Argumentationsfolie der SOFI-Studie war die Debatte um Zustand und Zukunft der bundesrepublikanischen Arbeitsgesellschaft, die der Bamberger Soziologentag von 1982 unter der Frage »Krise der Arbeitsgesellschaft« gebündelt hatte. Die auf dem Soziologentag diskutierten Gegenwartsdiagnosen betrachteten die gesellschaftlichen Risiken und Verlustlagen des industriellen Strukturwandels in Westdeutschland und Westeuropa. Der Soziologe Ralf Dahrendorf sprach davon, dass der »Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht« und Claus Offe hinterfragte, inwiefern sich mit dem Wandel von Lohnarbeit soziale Status- und Machtverteilungen in der Gesellschaft signifikant veränderten.256 Theoretische Positionen, die in der schrumpfenden Ressource industriel-

252 Ebd., S. 86. 253 Kronauer / Vogel / Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft, S. 14. 254 Ebd., S. 90. 255 Vgl. Kronauer / Vogel / Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft, S. 12, Fußnote 2; Elisabeth Noelle-Neumann / Peter Gilles, Arbeitslos. Report aus einer Tabuzone, Frankfurt / Main, Berlin 1987. 256 Vgl. Ralf Dahrendorf, Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, in: Joachim Matthes (Hrsg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentags in Bamberg 1982, Frankfurt / Main 1983, S. 25–37; Claus Offe, Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie?, in: ebd., S. 38–65.

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ler Erwerbarbeit Potentiale emanzipatorischer Zukunftsgestaltung erkannten, die eine Abkehr von Zwängen und Widrigkeiten fremdbestimmter Lohnarbeit bedeuteten, waren zu dieser Zeit nur ansatzweise im Lager von Wachstums- und Ökologiekritikern zu erkennen, so in den sozialphilosophischen Entwürfen von Ivan Illich zur »schöpferischen Arbeitslosigkeit« (1978) oder von André Gorz zur Überwindung der Arbeitsgesellschaft (1980).257 Die Schlussfolgerung, am »Ende der Arbeitsgesellschaft« und konfrontiert mit dem massiven gesellschaftlichen Problem der Massenarbeitslosigkeit, den Belastungsdiskurs von Arbeitslosigkeit in Frage zu stellen, zogen schließlich 1984 die Münchener Soziologen Wolfgang Bonß und Elmar Koenen sowie der gleichfalls an der Ludwig-Maximilians-Universität tätige Sozialpsychologe Heiner Keupp.258 Arbeitslosigkeit in der Perspektive politischer Problemlösung diskutierend, führten sie die nachlassende Belastung von Arbeitslosigkeit vorwiegend auf eine geringere identitätsstiftende Bedeutung von Berufsarbeit zurück  – rekurrierten in gewisser Weise indirekt auf einen vorgeblichen Wertewandel. Ihr Debattenbeitrag, einschließlich neuer Deutungsmodelle arbeitsloser Subjektivität, fußt wesentlich auf Impulsen der so genannten »Münchener subjektorientierten Soziologie«, die in den 1970er- und 1980er-Jahren im Umfeld damaliger sozialwissenschaftlicher Forschungszusammenhänge in der Arbeits- und Berufssoziologie an den Münchener Universitäten und dem Institut für sozialwissenschaftlicher Forschung München (ISF) entstanden war.259 Deren Anliegen war es, so formuliert es der Soziologe und spiritus rector der Subjektsoziologie Karl Martin Bolte in Abkehr von eigenen sozialstrukturellen Modellen (»BolteZwiebel«), das »wechselseitige [historisch-konkrete] Konstitutionsverhältnis von Mensch und Gesellschaft besonders ins Blickfeld zu rücken.«260 Der Subjektbegriff wurde innerhalb dieser Forschungskontexte erstmals vom Soziologen Michael Brater verwendet, der in einem Arbeitspapier des Sonderforschungsbereichs 101 von einer »subjektbezogenen Theorie der Berufe« sprach.261 Gemeinsam mit Ulrich Beck und Karl Martin Bolte entwickelte er in den Folgejahren eine »subjektorientierte Theorie der Berufe«, die persönliche Interessen und soziale Faktoren der Beschäftigten in der Arbeitsmarkt- und Qualifikationsfor257 Vgl. Ivan Illich, Fortschrittsmythen: schöpferische Arbeitslosigkeit. Energie und Gerechtigkeit. Wider die Verschulung. Reinbek b. Hamburg 1978; André Gorz, Abschied vom Proletariat. Abschied vom Proletariat – jenseits des Sozialismus. Frankfurt / Main 1980 (frz.: Adieux au Proletariat. Au-dèla du Socialisme. Paris 1980). 258 Bonß / Keupp / Koenen, Das Ende des Belastungsdiskurses, S. 143–191. 259 Vgl. Karl Martin Bolte / Erhard Treutner (Hrsg.), Subjektorientierte Arbeits- und Berufssoziologie, Frankfurt / Main, New York 1983. 260 Karl Martin Bolte, Subjektorientierte Soziologie – Plädoyer für eine Forschungsperspektive, in: ders. / Erhard Treutner (Hrsg.), Subjektorientierte Arbeits- und Berufssoziologie, Frankfurt / Main, New York 1983, S. 12–36, hier: S. 15. 261 Vgl. Michael Brater, Gesellschaftliche Arbeitsteilung und berufliche Strategien. Zur Bedeutung der Berufe für die Interessen der Arbeitenden. Vorarbeiten zu einer subjektbezogenen Theorie der Berufe, München 1975.

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schung spezifisch berücksichtigen sollte.262 Der Soziologe Ulrich Beck setzte die berufssoziologischen Münchener Forschungslinien auf dem eigenen Ordinariat bis in die 2010er-Jahre medial öffentlichkeitswirksam fort. Wolfgang Bonß, Heiner Keupp und Elmar Koenen verwendeten die Münchener subjektzentrierten Ansätze, um die Belastungsthese der Arbeitslosenforschung mit der subjektiven Perspektive von Arbeitslosen zu konfrontieren. Sie beobachteten drei neuartige subjektive Reaktionstypen in Situationen von Arbeitslosigkeit, von denen einer der so genannte »Unternehmer der eigenen Arbeitskraft« war. Daneben gab es das Schema der »mimetisch-defensiven Angstreaktion«, gemäß dem es Arbeitslose schafften, sich für ihre Arbeitslosigkeit selbst verantwortlich zu machen und gleichzeitig als Opfer der Situation zu sehen und in paradoxaler Lage »auch zu Hinnahme objektiv sinnloser Maßnahmen der Arbeitsverwaltung« bereit waren.263 Arbeitslose, die dem dritten Reaktionstypus des »taktische[n] Realismus« zugeordnet wurden, akzeptierten pragmatisch Aporien ihrer Arbeitslosigkeit, wenngleich in »unerwarteter Enttäuschung« darüber, dass Bildungsanstrengungen und berufliche Tüchtigkeit keinen Erfolg auf dem Arbeitsmarkt garantierten.264 Der »Unternehmer der eigenen Arbeitskraft« schließlich begreife sich selbst als Arbeitsmarktware. Vorwiegend Kompetenzen aus dem Bereich der, wie es die Sozialwissenschaftler bezeichneten, »Grund-, Neben- und Generalistenqualifikationen« anbietend, wie »Führerschein«, »sicheres Auftreten« oder »Führungsqualitäten«, »kaufmännische Lehre, Verwaltungserfahrung, Beherrschung von Fremdsprachenkenntnissen, (…) Text- und Datenverarbeitung«, mache sich dieser Reaktionstypus »virtuell zum Subjekt einer eigenen Rationalität«, um die Friktionen des Arbeitsmarkts zweckrational zum eigenen Vorteil zu nutzen.265 Die empirische Basis für diese drei Typen bleibt im zitierten Textzusammenhang völlig unklar. Zeitgenössische Umbrüche in Arbeits- und Erwerbsformen, wie Auswüchse der expandierenden Dienstleistungsökonomie wurden nicht mitgedacht. Darin schwingt durchaus eine Ignoranz bzw. Abwertung »typisch weiblicher« Berufsarbeit als »soft skills« mit. Die soziale und Arbeitsmarktsituation, in der arbeitslose »Unternehmerinnen der eigenen Arbeitskraft« ihre eigene Realfiktion von Handlungsmächtigkeit entwarfen bzw. entwerfen mussten, wurde nicht berücksichtigt. Gleichwohl wurde der »Unternehmer der eigenen Arbeitskraft« zur Charakterisierung des marktorientierten Arbeitslosen die erste deutschsprachige Chiffre eines unternehmerischen Selbstkonzepts, das bis in die Gegenwart dominierendes Deutungsmuster einer kritischen Subjektanalytik ist.266 Der Soziologe Ulrich Bröckling sieht im »Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft« einen 262 Vgl. Ulrich Beck / Michael Brater (Hrsg.), Die soziale Konstitution der Berufe: Materialien zu einer subjektbezogenen Theorie der Berufe. 2 Bde., Frankfurt / Main 1977. 263 Bonß / Keupp / Koenen, Das Ende des Belastungsdiskurses, S. 182. 264 Ebd., S. 182. 265 Ebd., S. 183. 266 Ebd., S. 183.

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Vorläufer des von ihm für die Gegenwart des beginnenden 21. Jahrhunderts entworfenen »unternehmerischen Selbst«, der von ihm hegemonial eingestuften, subjektivierenden Adressierung, die den Einzelnen einem Diktat beständiger Selbstoptimierung und Marktkonkurrenz unterwerfen würde.267 Bröckling erscheint insbesondere die Annahme von Bonß, Keupp und Koenen »hellsichtig«, die unternehmerische Subjekthaftigkeit sei fiktional, da »sich als handlungsmächtig zu begreifen, statt sich den Kräften des Marktes wehrlos ausgeliefert zu fühlen, (…) gleichbedeutend damit [war], sich konsequent als Marktsubjekt zu verhalten.«268 Der »Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft« sei im »Kontext einer Analyse über die subjektiven Bewältigungsstrategien von Massenarbeitslosigkeit« entworfen worden, so räumt Bröckling ein, und referiert die »Ohnmachtserfahrungen tatsächlicher oder drohender Arbeitslosigkeit« als von Bonß, Keupp und Koenen gesetzten Bedingungsrahmen unternehmerischer Subjektform.269 Die Konjunktur individualistischer Methodologien führte, das lässt sich für die Arbeitslosenforschung und die Debatte um ihre psychosoziale Belastung seit Anfang der 1980er-Jahre in beiden Ländern feststellen, zu einer Reihe von Deutungsmodellen, die Autonomie und Handlungsfähigkeit von Arbeitslosen betonten. Neben Vorläufern und Varianten des »unternehmerischen Selbst« argumentierten einschlägige Studien mit Modellen von Alternativrollen jenseits von Arbeitslosigkeit (Christian Brinkmann), der »Agency« von Arbeitslosen trotz Arbeitslosigkeit (David Fryer) oder Bewältigungsformen von Arbeitslosigkeit (Ulich u. a.).270 Diese Studien verdeutlichen aber auch, dass die veränderte Wahrnehmung von Arbeitslosen sozial distinktiv vor sich ging. Die Prädispositionen des arbeitslosen Einzelnen veränderten sich nämlich in der Perspektive der Wissenschaftler insoweit, als sich in den frühen 1980er-Jahren die Arbeitslosen in ihrer sozialen Herkunft, Bildung und Qualifikation veränderten. Zunehmend waren Akademikerinnen und Angestellte, die ›weiße‹ Mittelschicht, von Arbeitslosigkeit betroffen. Deren psychische und mentale Robustheit wurde verbreitet höher eingeschätzt als diejenige arbeitsloser Arbeiterinnen und Arbeiter der 1970er-Jahre. Einerseits wurde somit psychisch-soziale Stabilität in ein Verhältnis zur sozio-ökonomischen Situation von Arbeitslosen, ihrem Geschlecht und ihrem Alter sowie der Dauer und Häufigkeit von Arbeitslosigkeit gesetzt. Andererseits standen verfeinerte Techniken rationalisierter Selbstregulation konzeptionell damit implizit oder explizit vor allem dem Emotionshaushalt finanziell, kulturell oder qualifikatorisch besser ausgestatteter Arbeitsloser zugute. 267 Vgl. Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 55; eine frühe unternehmenshistorische Analyse bei: Ruth Rosenberger, Demokratisierung durch Verwissenschaftlichung? Betriebliche Humanexperten als Akteure des Wandels der betrieblichen Sozialordnung in westdeutschen Unternehmen, in: AfS 44 (2004), S. 327–355. 268 Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 56. 269 Ebd., S. 55, 56. 270 Brinkmann, Die individuellen Folgen langfristiger Arbeitslosigkeit; Fryer, Employment Deprivation; Ulich u. a., Psychologie der Krisenbewältigung.

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Die Anwendung des Stress-Konzepts von Richard Lazarus und seinem Begriff des »Coping« in der Arbeitslosenforschung ist hierfür beispielgebend. Für die erfolgreiche Bewältigung von Arbeitslosigkeit galt: Je besser das Coping, desto geringer die Belastung durch den von Arbeitslosigkeit verursachten Stress. Der Arbeitslose musste jedoch die sozialen Voraussetzungen dafür mitbringen, Arbeitslosigkeit überhaupt als ein zu bewältigendes Stress-Erlebnis einschätzen sowie entsprechende Coping-Strategien und Coping-Fähigkeiten anwenden zu können. Laut der deutschen und britischen Arbeitslosenforschung der 1980erJahre (Dieter Ulich, Stephen Fineman) waren dazu gut qualifizierte Arbeitslose (Lehrer, höhere Angestellte), abhängig von sozialen und materiellen Ressourcen, eher in der Lage. Dieses Subjektmodell des »starken Arbeitslosen«, der sich Belastungen gewachsen zeigt und die Arbeitsfähigkeit erhalten kann, steht in der Tradition der paternalistischen Diskurse der Armenfürsorge des 19. Jahrhunderts. Es erinnert aber auch an den frühneuzeitlichen »starken Bettler«, der körperlich unversehrt und arbeitsunwillig den Armenordnungen des 16. Jahrhunderts keiner Fürsorge wert war und dem die Unterscheidung zwischen »würdigen« und »unwürdigen« Armen zugrunde liegt: einerseits die bedürftigen, arbeitsunfähigen Armen, der Fürsorge würdig, und anderseits diejenigen, die arbeitsunwillig ihre Armut vorspielen und kein Mitleid verdient haben.271 Die wissenschaftliche Befundlage zur psychosozialen Belastung von Arbeitslosigkeit war Anfang der 1980er-Jahre keineswegs klar. Für zeitgenössische Sozialwissenschaften war der »Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft« nur eine Subjektivierungsform von Arbeitslosigkeit unter anderen in einem Feld zunehmend heterogener wissenschaftlicher Deutungsmuster von Arbeitslosigkeit. Der Belastungsdiskurs von Arbeitslosigkeit war umstritten, aber keineswegs zu einem Ende gekommen. Der Eindruck einer »andauernden inkonsistenten Befundlage« in diesem Punkt bestand in der deutschen und britischen Forschung

271 Vgl. Wacker, Marienthal und die sozialwissenschaftliche Arbeitslosenforschung, S. 405 f.; ders., Arbeitslosigkeit als Thema der Sozialwissenschaften, S. 133; fast als Kommentar zu seiner Gegenwart lesen sich die einschlägigen Texte des Mediävisten und Frühneuzeitlers Ernst Schubert zum Terminus des »starken Armen« vgl. Ernst Schubert, Duldung, Diskriminierung und Verfolgung gesellschaftlicher Randgruppen im ausgehenden Mittelalter, in: Sigrid Schmitt / Michael Matheus (Hrsg.), Kriminalität und Gesellschaft in Spätmittelalter und Neuzeit, Stuttgart 2005, S. 47–69. für die Unterscheidung von »würdigen« und »unwürdigen Armen« vgl. Otto Gerhard Oexle: Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter: In Christoph Sachße / Florian Tennstedt (Hg), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt / Main 1986, S. 73–100; Sebastian Schmidt / A lexander Wagner, »Gebt dem Hausarmen umb Gottes willen.« Religiös motivierte Armenfürsorge und Exklusionspolitik gegenüber starken und fremden Bettlern, in: Andreas Gestrich / Lutz Raphael (Hrsg.), Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt / Main u. a. 2004, S. 479–509; für die britische Tradierung der Armenpolitik in Arbeitslosenpolitik: Noel Whiteside, Who were the Unemployed? Conventions, Classifications and Social Security Law in Britain (1911–1934), in: Historical Social Research 40 (2015), S. 150–169.

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weiter.272 Für die hier diskutierte Forschung sei nur an die »mimetisch-defensi­ven« oder »taktisch-realistischen« Typen von Arbeitslosen, die Bonß, Keupp und Koenen entwarfen, erinnert. Bis in die Gegenwart wurde und wird Arbeitslosigkeit als Belastungs-, Krisen- oder Stresserfahrung eingestuft.273 Kritische Begleitforschung zur psychosozialen Belastung durch Arbeitslosigkeit riss in beiden Ländern nie ab. Ebenso wurden im Umfeld der Münchener Subjekt­soziologie Analysen und Stellungnahmen zu entgrenzten Formen von Arbeit und sozialer Selbstaktivierung fortgesetzt. Hier ist der »Arbeitskraftunternehmer« der Soziologen Gerd Günter Voß und Hans J. Pongratz zu nennen, mit denen sie Ende der 1990er-Jahren einen historischen Typus von Arbeitskraft beschrieben, der sich mit »Anforderungen erhöhter Selbst-Kontrolle, Selbst-Ökonomisierung und Selbst-Rationalisierung konfrontiert sieht« und in dem Ulrich Bröckling eine dem »unternehmerischen Selbst« verwandte Sozialfigur sieht.274 Sozialkritisch hatten Voß und Pongratz mit ihrem Arbeitskrafttypus auch die Uneinlösbarkeiten unternehmerischer Wohlstandsversprechen in prekären Arbeits- und Erwerbsverhältnissen ihrer Gegenwart im Blick. Auch die Subjektivierung von Arbeitslosigkeit wurde in weiterer Traditionslinie der Münchener Subjektsoziologie beforscht. In den 2000er-Jahren führte eine Forschungsgruppe an der Universität Siegen unter der Leitung des Soziologen Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, der akademisch in der Münchener Subjektsoziologie sozialisiert war, ein Projekt zur Subjektivierung von Arbeitslosigkeit unter den neuen arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen durch.275 In der Kritik der Wissenschaftler an der »aktivierenden Arbeitsmarktpolitik« der Bundesregierung scheinen altbekannte Argumentationsweisen des Belastungsdiskurses von Arbeitslosigkeit und arbeitsloser Subjektivität wieder auf. Das Verwaltungshandeln der nunmehrigen Bundesagentur gegenüber Arbeitslosen bediente sich, so die Autoren der Abschlussstudie, aporetischer Figuren zwischen Logiken des »victim blaming« und Anforderungen persönlicher Autonomie an die Arbeitslosen – zugespitzt und in den politischen Zynismus sanktionierbarer Zwangsverhältnisse gekleidet. Die These von der psychosozialen Belastung durch Arbeitslosigkeit wurde zur krisenhaften Situation der »Arbeitssuchenden« (sic)  umgedeutet, die durch Interventionen der nunmehrigen Jobcenter verschärft würde. Im autonomietheoretischen Setting der Studie war diese Krisenerfahrung aber nur insoweit von Interesse, als dass die Wissenschaftler dafür 272 Wacker / Kolobkova, Arbeitslosigkeit und Selbstkonzept, S. 71; Ian Miles, Unemployment and Individual Well-Being in Britain. Research Results and Policy Implications, University of Sussex 1983. 273 Vgl. exemplarisch: Gumplmaier / Jaeger, Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit. 274 Hans J. Pongratz / G. Günter Voß, Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998), S. 131–158; ders., Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2003; Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 49. 275 Vgl. Ludwig-Mayerhofer / Behrend / Sondermann, Auf der Suche nach der verlorenen Arbeit.

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plädierten, diese im Verwaltungshandeln ernst zu nehmen und professionell in therapeutisch-sozialen und formal-berufsbezogenen Beratungen anzugehen.276 In Debatten britischer Sozialwissenschaften, konkret in der Anti-ThatcherAllianz der britischen Governmentality Studies, wurde die Kritik an entgrenzten Subjektkonzeptionen im Zusammenhang verschärfter sozialer Ungleichheit durch Massenarbeitslosigkeit bzw. der politisch mit Massenarbeitslosigkeit in Kauf genommenen sozialen Verwerfungen früher und deutlicher formuliert.277 Die Soziologen Peter Miller und Nikolas Rose griffen die Subjektfigur des »unternehmerischen Selbst« aus Michel Foucaults späten Vorlesungen auf. In den wirtschaftsliberalen Arbeitsmarktpolitiken Großbritannien erkannten sie »the birth of a new ethic of the active, choosing, responsible, autonomous individual obliged to be free« – das so genannte »enterprising subject.«278 Arbeitslosigkeit als hingenommenes und restriktiv regiertes Phänomen betrachteten Rose und Miller als Indikator für die Reichweite dieses unternehmerischen Subjektideals.279 Trotz aller kritischer Tendenzen war es aber in beiden Ländern das Deutungsmodell des »starken unternehmerischen Arbeitslosen«, das in den Folgejahren politisch wirkmächtig wurde. Bereits zeitgenössische sozialwissenschaftliche Anwendungsforschung tendierte dazu, kostengünstige Lösungen von Belastungs­situationen in Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit zu empfehlen. Kommunal finanzierte Studien befürworteten preiswerte Aktivitätsprogramme für Arbeitslose oder ermäßigte Eintrittspreise für Freizeitangebote.280 Arbeiten zur Akademikerarbeitslosigkeit favorisierten Selbsthilfegruppen und -programme als Lösungsperspektive ihrer Problemdiagnosen.281 Sie trafen sich in vielen Punkten mit Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken, die in Großbritannien seit Mitte der 1980er-Jahre und in der Bundesrepublik rund zehn Jahre später auf nationalen wie transnationalen Ebenen begannen, individualisierte Aktivierungsprogramme als kostengünstiges Mittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit zu forcieren. Das Ideal des »unternehmerischen« Arbeitslosen, der zum self-empowerment befähigt ist, war sowohl für britische »welfare-to-work«-Politiken von »New Labour« seit 1997 als auch für Arbeitsmarktreformen der rot-grünen »Agenda 2010« in der Bundesrepublik seit 1998 276 Ebd., S. 290–293. 277 Vgl. z. B. Nikolas Rose, Powers of Freedom. Reframing political Thoughts, Cambridge 1999, S. 27. 278 Miller / Rose, Governing the Present, S. 18; Miller / Rose, Production, Identity, and Democracy, S. 430; zu Rose vgl. auch: Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 58 f. 279 Colin Gordon, Governmental Rationality. An Introduction, in: ders. / Burchell / Miller (Hrsg.), The Foucault Effect, S. 1–51, hier: S. 44; Studien zu Arbeitslosigkeit aus dem Umfeld der Governmentality Studies: Walters, Unemployment and Government; Dean, Governing the Unemployed Self in an Active Society. 280 Vgl. Crookston / Maldé, Impact of Unemployment on Individuals; daneben: John T. ­Haworth / Stephen T. Evans, Meaningful Activity and Unemployment, in: David Fryer / Philip Ullah (Hrsg.), Unemployed People, Milton Keynes 1987, S. 241–267. 281 Vgl. Ulich u. a., Psychologie der Krisenbewältigung.

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zentral. Für die ideelle Integration und politische Durchsetzung aktivierender Arbeitsmarktpolitiken in sozialdemokratische Politikkonzepte waren daneben sicherlich transnationale Policy-Verflechtungen ausschlaggebend. So standen für den »Third Way« der britischen Labour Party die australischen Sozialdemo­ kraten Vorbild.282 In sozialpolitischen Programmschriften von OECD und Europäischer Kommission wurde seit den frühen 1990er-Jahren empfohlen, Arbeitslosensicherungssysteme und Arbeitsmarktpolitiken dahingehend umzubauen, vermeintlich »passiven« Einkommenstransfer abzubauen.283 Die beratende und unterstützende Rolle sozialwissenschaftlicher Intellektueller in der Implementation marktfundamentalistischer Politiken sollte aber nicht unterschätzt werden. Die Soziologen Anthony Giddens und Ulrich Beck sind Paradebeispiele für wissenschaftlich sanktionierte, politische Interventionen. Giddens gehörte zu den Beratern Tony Blairs in der programmatischen Umsteuerung der britischen Labour Party der 1990er-Jahre und fasste nach dem Wahlerfolg Labours 1998 die Thesen des »Third Way« in seinem Buch »The Third Way. The Renewal of Social Democracy« zusammen.284 Erst recht ist der Einfluss von Beck, Giddens und anderen Sozialwissenschaftlern für die subjektanalytischen Vorannahmen der arbeitsmarktpolitischen Programme geltend zu machen. Die zeitgenössischen Beobachtungen individualisierender und unternehmerischer Subjektmodelle wurden sowohl als Kritik formuliert wie als Blaupausen politischer Normsetzungen verwendet. Angesichts poli­ tischer Gestaltungsmöglichkeiten in den 1990er-Jahren verloren die Diagnosen risiko­behafteter, enttraditionalisierter Individualisierung in der »reflexiven Moderne«, vom frühen Beck in den 1980er-Jahren und von Giddens noch 1991 in »Modernity and Self-Identity« ausgeführt, in den 1990er-Jahren deutlich an sozialer Dramatik. Essentialistische Begrifflichkeiten diffundierten in allzu griffige Gebrauchsformeln politischer Anwendungskontexte. Soziologische Zeitdiagnosen avancierten so zu sich selbst erfüllende Prophezeiungen, die genau die sozialen Probleme verschärften, vor denen sie gewarnt hatten. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer drückte es 2001 in Bezugnahme auf die Theorie der »reflexiven Moderne« von Beck und Giddens süffisant aus: »problematische politische Folgekosten werden niedrig angesetzt.«285 Der Sozialpsychologe Klaus Weber wählte zum gleichen Zeitpunkt drastischere Worte und sprach von den 282 Zu Entwicklungen der Australian Labor Party und ihren Einfluss auf die europäischen sozialdemokratischen Parteien: Ashley Lavelle, Social Democrats and Neo-Liberalism: A Case Study of the Australian Labor Party, in: Political Studies 53 (2005), S. 753–771. 283 The OECD Jobs Study. Facts, Analysis, Strategies, Paris 1994; European Commission, European Social Policy. A Way Forward to the Union, Brüssel 1994, S. 17 f.; Katrin Mohr, Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat. Arbeitslosensicherung und Sozialhilfe in Großbritannien und Deutschland, Wiesbaden 2007, S. 185–207. 284 Vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom, S. 76 f.; Nachtwey ordnet Giddens eher als nachholenden Kommentator des »Third Way« ein, vgl. Oliver Nachtwey, Marktsozialdemokratie. Die Transformation von SPD und Labour Party, Wiesbaden 2009, S. 183 f. 285 Wilhelm Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I, Berlin 2018, S. 32.

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»verantwortlichen Nebelwerfern à la Beck und Giddens.«286 Giddens schwärmte im »Dritten Weg« historisch kühn davon, dass »wir alle (…) notwendigerweise offener und reflexiver als unsere Vorfahren« leben und damit »viele positive Möglichkeiten« verbunden seien.287 Ulrich Beck transportierte, darauf verweist Ulrich Bröckling konzise, als Mitglied in der »Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen« den methodologischen Individualismus in politisch-programmatische Adressierungen an das ostdeutsche Individuum. Neben der Ausweitung des Niedriglohnsektors oder der Einführung ehrenamtlicher »Bürgerarbeit« bewarb der Abschlussbericht besagter Kommission von 1997 »das Leitbild der Zukunft«, nämlich »das Individuum als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge.«288 Im hier diskutierten Zusammenhang interessiert die empirische Belastbarkeit unternehmerischer Subjektivierungsmodelle, deren zeithistorische Genealogie sich in weiten Teilen als eine Art doppelte Dekontextualisierung lesen lässt. Zum einen sind Subjektmodelle der 1980er-Jahre bisher unzureichend in ihrem Entstehungskontext betrachtet worden. So ist dem »Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft« von Bonß, Keupp und Koenen die ihn analytisch hauptsächlich konstituierende Arbeitslosigkeit in späteren soziologischen und politischen Bezugnahmen weitgehend abhandengekommen. Dreh- und Angelpunkt der Subjektmodelle von Bonß, Keupp und Koenen war aber die Debatte um die Belastung durch und Bewältigung von Arbeitslosigkeit. Die Massenarbeitslosigkeit der frühen 1980er-Jahre betrachteten Bonß, Keupp und Koenen als auslösenden Faktor für die krisenhafte Perspektivierung der Arbeitsgesellschaft und der damit einhergehenden veränderten Subjektmodelle. Das unternehmerische Selbst als »Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft« war in erster Linie ein »arbeitsloses Subjekt«. Dabei war für Bonß, Keupp und Koenen weniger von Interesse, ob Arbeitslosigkeit erhöhte psychosoziale Belastung nach sich zieht oder nicht. Wichtiger war, dass in der Debatte sowohl in Affirmation wie Ablehnung der Belastungsthese eine Psychologisierung, »wenn nicht gar Psychiatrisierung von Arbeitslosigkeit« stattfand, folglich soziostrukturelle Problemlagen von Arbeitslosigkeit vernachlässigt wurden.289 Die weitere wissenschaftliche Ausgestaltung des »unternehmerischen Selbst« tendierte hingegen, wenngleich in Kritik, dazu, sozialtechnologische Strategien und Programme auf der Schnittstelle psychologisch-ökonomischer Populärwissens zum Kern unternehmerischer Subjektivierung zu machen.290 Als zweiter Aspekt von Dekontextualisierung kommt zum anderen zum Tragen, dass Modelle des »arbeitslosen Unternehmersubjekts« 286 Klaus Weber, Subjektkonstruktionen im flexiblen Kapitalismus, in: Brigitte Stolz-Willig (Hrsg.), Arbeit und Demokratie. Solidaritätspotenziale im flexibilisierten Kapitalismus, Hamburg 2001, S. 33–51, hier: S. 37. 287 Anthony Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt / Main, Wien 1998, S. 50 f. 288 Zitiert nach: Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 7. 289 Bonß / Keupp / Koenen, Das Ende des Belastungsdiskurses, S. 180. 290 Vgl. Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 152 ff.

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empirisch selbst kaum unterfüttert sind, d. h. die grundlegenden Umstrukturierungen des zeitgenössischen Arbeitsmarkts blieben unterbelichtet. Auffallend ist die Marginalisierung der in den 1970er- und 1980er-Jahren zunehmend erwerbstätigen Frauen in den hier untersuchten sozialwissenschaftlichen Studien. Arbeitslosigkeit von Frauen wurde entweder verharmlost, indem ihnen mit familiärer Care-Arbeit »Alternativrollen« zugeteilt wurden – so in den Arbeiten von Christian Brinkmann. In die ISO -Untersuchung von Dieter Fröhlich wurden Frauen erst gar nicht einbezogen. Bonß, Keupp und Koenen diffamierten berufliche Anforderungen von Büroarbeit, die hauptsächlich Frauen ausübten, als »Grund-, Neben- und Generalistenqualifikationen«. Dem Deutungsmodell unternehmerischer Subjektivität liegt offensichtlich das normative Modell männlicher Industriearbeit zugrunde. Feminisierung des Arbeitsmarktes, Arbeitsverhältnisse in der Dienstleistungsökonomie, Vereinbarkeitsprobleme von Berufs- und Care-Arbeit und damit wesentliche Entwicklungen des zeitgenössischen Arbeitsmarkts wurden als Strukturprobleme ausgeblendet und methodisch in allgemeiner Form individualisiert.291 Die unter Umständen mit finanzieller Prekarität und instabileren Interessenvertretungen konfrontierten, auf Erwerbsarbeit angewiesenen Frauen werden vielfach bis in die Gegenwart von Soziologen abgewertet als »Verbündete der Arbeitgeber in ihrem Bestreben, den Arbeitsmarkt zu deregulieren.«292 Eine solche dekontextualisierende Rezeption unternehmerischer Subjektivität verharmlost im Grunde Strukturveränderungen des Arbeitsmarkts, darunter auch die persistente Massenarbeitslosigkeit, die als bloße Rahmenbedingung von Individualisierungsprozessen statt als gesellschaftliche Basisprozesse begriffen werden. Die zeitgenössische Subjektdiagnose des »unternehmerischen Selbst«, einschließlich des »starken Arbeitslosen« ist eine Sozialfigur, die erwerbstätige und arbeitslose Subjekte analytisch und sozial vernachlässigt. Konkrete Anforderungen von Erwerbsarbeit, Schwierigkeiten von Interessenvertretung oder sozial differentiell verortete Deprivation in Situationen von Arbeitslosigkeit wurden außer Acht gelassen zugunsten einer griffigen Subjektadressierung, die zu Teilen eine sozialwissenschaftliche Chimäre war, als solche aber politische Dynamiken entfaltete.

291 Vgl. hingegen Martin H. Geyer, Die Gegenwart der Vergangenheit. Die Sozialstaats­ debatten der 1970er-Jahre und die umstrittenen Entwürfe der Moderne, in: AfS 47 (2007), S. 47–93, hier: S. 85 f.; zeitgenössisch kritisierend: Ilona Ostner / Barbara Pieper, Arbeitsbereich Familie. Umrisse einer Theorie der Privatheit, Frankfurt / Main, New York 1980; Angelika Diezinger, Frauen: Arbeit und Individualisierung. Chancen und Risiken. Eine empirische Untersuchung anhand von Fallgeschichten, Opladen 1991. 292 Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2015, S. 85.

III. Auf dem Amt

Das Arbeitsamt, wie es sich als Ort der staatlichen Verwaltung von Arbeitslosigkeit historisch entwickelt hat, ist der eigentliche Ort der sozialen Konstruktion des arbeitslosen Subjekts. Auf dem Amt meldet man sich arbeitslos. Hier wird über den Bezug finanzieller Unterstützung und, unter Umständen, die weitere Vermittlung in Erwerbsarbeit und den Berufsweg entschieden. Die arbeitslosen Subjekte werden in die Verwaltungstechnologien eingepflegt. Sie werden typisiert, sanktioniert, beraten, gefördert, in eine Maßnahme vermittelt usw. In und mit den amtlichen Regularien und Abläufen und den ihnen eingeschriebenen Adressierungen konstituieren sich die mit Arbeitslosigkeit befassten Verwaltungssubjekte: arbeitslose Subjekte und diejenigen, die Arbeitslosigkeit verwalten. Den Eingriff staatlicher Verwaltungen in die Selbstgestaltung analytisch zu betrachten, ist grundlegendes Anliegen moderner Gesellschaftstheorie. Nicht mehr die Qualitäten des ›guten‹ Souveräns waren Gegenstand staatsphilosophischer Überlegungen seit dem 18. Jahrhundert, sondern der ›gute‹ Bürger und sein Wirken als Subjekt im und für das Gemeinwesen. Das machtanalytische Kernproblem des modernen Verwaltungsstaats, das Verhältnis von Staat und Individualität, umkreiste Karl Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843/44). In Auseinandersetzung mit dem Konzept staatlicher Souveränität Hegels, der den Staat »versubjektivieren« würde, dachte Marx staatliche Einheiten von den »wirklichen Subjekten« her, deren private und soziale »Daseins- und Wirkungsweisen« er unterschied: »Die Geschäfte und Wirksamkeiten des Staats sind an Individuen geknüpft (der Staat ist nur wirksam durch Individuen), aber nicht an das Individuum als physisches, sondern als staat­liches, an die Staatsqualität des Individuums.«1 Im Grunde formulierte Marx hier einen Grundgedanken von Subjektivierungstheorien, nämlich dass Subjekte nur in ihrer vergesellschafteten Form als Subjekte zu begreifen sind. Bei Foucault kommt die moderne Verwaltung als Subjektivierungsinstanz vor allem im Rahmen seiner Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität zur Sprache. Wenngleich er begrifflich nicht trennscharf zwischen Verwaltung und Regierung unterscheidet, ist die Organisation des Staates mittels administrativer Apparate dennoch als Technik neuzeitlicher Gouvernementalität zu werten. An Stelle reglementierender Zentralmacht, treten mit den neuzeitlichen Regierungsformen regulative Interventionen: »Man wird beeinflussen, anreizen, erleichtern, tun lassen müssen: Mit anderen Worten, man wird verwalten, und nicht mehr reglementieren müssen.«2 1 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: ders. / Friedrich Engels, Werke. Bd. 1, Berlin 1976, S. 203–333, hier: S. 222. 2 Foucault, Sicherheit, S. 506.

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Auf dem Amt

Der von Foucault grob gesetzte Prozess veränderter staatlicher Regierungsweisen mittels administrativer Apparate ist für die hier betrachteten Arbeitsverwaltungen in den 1970er- und 1980er-Jahren zuzuspitzen. Inwiefern sich deren Verwaltungslogiken für und Adressierungen an arbeitslose Subjekte verändert haben, inwiefern sie eine Einhaltung von Normen eingefordert oder ihr Verwaltungshandeln, gegenwärtiger Subjektforschung zufolge, vor allem an Selbstentfaltung und -ermächtigung appelliert hat, wird im Folgenden diskutiert.

1. Reform und Regulierung: von präventiven zu kurativen Arbeitsmarktpolitiken Westeuropäische Arbeitsmarktpolitiken der 1970er- und 1980er-Jahre folgten der Agenda einer so genannten »aktiven Arbeitsmarktpolitik«, die in den späten 1960er-Jahren leitende Maxime von Arbeitsmarktpolitik geworden war. In differente wohlfahrtsstaatliche Traditionen und institutionellen Pfadabhängigkeiten implementiert, wandelten sich Instrumente der »aktiven Arbeitsmarktpolitik« unter dem Eindruck rasch wachsender und anhaltend hoher, struktureller Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik und Großbritannien in unterschiedlichem Ausmaß von präventiven Steuerungsansätzen zu kurativen Reparaturwerkzeugen.3 Einflussreich für die Implementierung »aktiver Arbeitsmarktpolitiken« waren arbeitsmarktpolitische Empfehlungen internationaler Organisationen, namentlich der OECD. Nachgeordnet waren Empfehlungen und Beschlüsse der Europäischen Gemeinschaften oder der International Labour Organization (ILO). Die Europäische Gemeinschaft, obgleich als sektorales Beihilfesystem montanindustrieller Arbeitsmärkte gegründet, agierte bis in die 1990er-Jahre im Grunde reaktiv auf arbeitsmarktpolitische Probleme.4 Erst 1977 ermächtigte der Ministerrat mit der »Verordnung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit« den seit 1960 existierenden Europäischen Sozialfonds, »aktive Beschäftigungspolitik« zu betreiben. Das bedeutete vor allem, Jugendliche in ihrer Arbeitssuche zu unterstützen, Arbeitnehmermobilität zu fördern und regionale Strukturprobleme auszugleichen. In Vorbereitung eines europäischen Binnenmarkts und infolge der durchschnittlich erneut gestiegenen Arbeitslosenzahl durch die Süderweiterung der EG beschloss der Europäische Rat 1986 ein »Aktionsprogramm zur Förderung des Beschäftigungswachstums«, das, an die Mitgliedsstaaten 3 Vgl. Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber. 4 Vgl. Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik, S. 109–112; Dirk Hannowsky, Die Arbeitsmarktpolitik der Europäischen Union. Eine ordnungsökonomische Analyse, Baden-Baden 2003, S. 59–65; Johannes Frerich / Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 3: Sozialpolitik in der Bundesrepublik bis zur Herstellung der Deutschen Einheit, München, Wien 21996, S. 426–458.

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gerichtet, unter anderem zur Unternehmensgründung, zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit und zur Verbesserung der Berufsausbildung aufrief. In den Folgejahren wurde der Sozialfonds massiv aufgestockt und seine Zielsetzungen priorisiert. Neben dem Abbau von Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit wurden vor allem Mittel für regionale Strukturpolitiken und den regionalen Strukturwandel zur Verfügung gestellt. Letzteres diente in erster Linie dazu, den Niedergang der Montan- und Schwerindustrie in der Bundesrepublik, im Vereinigten Königreich und dem Beneluxraum abzufedern. An gemeinsamen Mindeststandards des Arbeitnehmerschutzes, die 1989 mit der »Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer« und 1992 im »Abkommen über Sozialpolitik« verabschiedet wurden, war das Vereinigte Königreich, bekanntlich erst seit 1972 Mitglied der EG, nicht beteiligt. Die ILO publizierte zwar im Sommer 1964 Papiere, die sich inhaltlich mit aktiver Arbeitsmarktpolitik beschäftigten (Ausgleich saisonal schwankender Arbeitsnachfrage, Strukturpolitik und Industrieansiedlung, Reformierung von Arbeitsmarktverwaltungen, Förderung von Umschulung und Ausbildung, Arbeitsmarktstatistik und -forschung, Einbindung der Sozialpartner), diese verwendeten jedoch den Begriff nicht.5 Übereinkommen und Empfehlungen zur Beschäftigungspolitik der ILO waren auf globale Entwicklungspolitiken und die Bedingungen in so genannten Entwicklungsländern zugeschnitten. Preisund währungspolitisch einflusslos, versuchte die ILO, Arbeitsmarktpolitik als Aktionsfeld von Entwicklungspolitik im globalen Süden zu etablieren. Gleichfalls 1964 veröffentlichte die OECD ihre Empfehlungen zur aktiven Arbeitsmarktpolitik.6 Sie beruhten hauptsächlich auf dem schwedischen Modell aktiver Arbeitsmarktpolitik, das seit den 1950er-Jahren von Gösta Rehn und Rudolf Meidner entwickelt worden war. Gösta Rehn war seit 1962 Direktor der Abteilung Manpower and Social Affairs bei der OECD. Aktive Arbeitsmarktpolitiken hatten zum Ziel, regionale und sektorale Ungleichgewichte der Arbeitsmärkte bei allgemein herrschender Vollbeschäftigung bzw. partieller Überbeschäftigung und steigenden Inflationsraten abzubauen. Um Vollbeschäftigung bei niedrigen Preissteigerungsraten herzustellen, sollte mit Hilfe der aktiven Arbeitsmarktpolitik die inflationstreibende, partielle Überbeschäftigung 5 Vgl. Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik, S. 109–112; Frerich / Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, S. 460–462; Daniel Maul, The International Labour Organization. 100 Years of Global Social Policy, Berlin 2019, S. 172–174. 6 Vgl. OECD, Recommendation of the Council on Manpower Policy as a Means for the Promotion of Economic Growth, Paris 1964; Georg Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik. Entstehung und Wirkung eines Reformkonzepts in der Bundesrepublik Deutschland, München 2004; J. Timo Weishaupt, From the Manpower Revolution to the Activation Paradigm. Explaining Institutional Continuity and Change in an Integrating Europe, Amsterdam 2011; Günther Schmid, Zur Konzeption einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, in: Michael Bolle (Hrsg.), Arbeitsmarkttheorien und Arbeitsmarktpolitik, Opladen 1976, S. 165–185; Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung 1966–1974, S. 335 f.

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durch Aktivierung strukturell und regional bedingter Arbeitslosigkeit abgebaut werden.7 Aktivierung bedeutete dabei ein Bündel spezifisch arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, wie z. B. eine enge Koordination der Arbeitskräfte- und der Wirtschaftspolitik unter Einbeziehung der Sozialpartner, Ausbau von Mobilitäts- und Umschulungsförderung, finanzielle Anreize und Mobilitätsbeihilfen, um Arbeitslosigkeit infolge des sich abzeichnenden technisch bedingten Strukturwandels abzufedern, Förderung von Fortbildung und Umschulung sowie wissenschaftliche Beobachtung und Analyse des Arbeitsmarkts in Forschungsinstituten der öffentlichen Hand. Aktive Arbeitsmarktpolitik war also ein Konzept, das auf aktive, aber strukturpolitische Steuerung und einen engen Zusammenhang von Wirtschafts- und Sozialpolitik setzte. Berufsbildung und Qualifikation waren zwar auch Instrumente, die den einzelnen Bürger in den Blick nahmen, rechneten aber (noch) mit arbeitsmarktpolitischem Erfolg – ihre subjektivierende Anrufung bestand im Anreiz, nicht in der Disziplinierung.

1.1 Arbeitsmarktpolitiken in der Bundesrepublik: Vom Aufstieg zur Anpassung In der Bundesrepublik Deutschland setzte aktive Arbeitsmarktpolitik mit dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969 ein.8 Die Empfehlungen der OECD waren ausschlaggebend für einen damit eingeläuteten Politikwechsel, der Wirtschafts- und Sozialpolitik insoweit zusammendachte, als wirtschaftspolitische Maßnahmen am Beschäftigungsziel ausgerichtet wurden. Initiiert wurde die aktive Arbeitsmarktpolitik im Kontext der Reformpolitiken der ersten Großen Koalition der Bundesrepublik. Im engen Zusammenhang von Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Bildungspolitik platziert, trägt sie deren bildungspolitischen Akzent in die Sozialpolitik. Im CDU-geführten Arbeitsministerium stand man den ILO - und OECD -­ Initiativen lange skeptisch gegenüber.9 Wesentliche Inhalte der Vorschläge seien in der bundesdeutschen Arbeitsmarktgesetzgebung und Arbeitsverwaltung bereits ausgeprägt (z. B. Selbstverwaltung und Strukturpolitik). Erst im Vorfeld der Bundestagswahl 1965 und dem anschließenden personellen Wechsel im Ministerium erhielt die vorher von SPD und Gewerkschaften befürwortete aktive

7 Vgl. Bernard J. Foley, The Rationale of an Active Manpower Policy, in: Annals of Public and Cooperative Economics 40 (1969), S. 307–318. 8 Vgl. Jürgen Kühl, Das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969, in: Mitt AB 15 (1982), S. 251–260; Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik, S. 113–191, 249f; Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 5. 1966–1974, S. 331–379; Weishaupt, From the Manpower Revolution to the Activation Paradigm, S. 93–96; Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 341–355; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, S. 450–492. 9 Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik, S. 128–134.

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Arbeitsmarktpolitik Auftrieb, zusätzlich forciert durch die Herausforderungen der ersten Nachkriegsrezession 1966/67. Im Verbund mit dem Berufsbildungsgesetz von 1969 und dem Ausbildungsförderungsgesetz von 1970 sollte das AFG Chancengleichheit in Beruf und Bildung verwirklichen. ›Herzstück‹ des Gesetzes war deshalb die Förderung beruflicher Qualifikation durch Umschulung und Fortbildung mit der Zielrichtung sozialer Mobilität im Sinn des sozialen Aufstiegs.10 Daneben sollte das Gesetz die Eingliederung bisheriger ›Problemgruppen‹ in den Arbeitsmarkt (so genannte Behinderte sowie Frauen und Ältere) erleichtern sowie eine neue, vorausschauende Beschäftigungspolitik ermöglichen. Das Verständnis von »aktiver« Arbeitsmarktpolitik differierte allerdings zwischen den beteiligten Akteuren der Arbeitsverwaltung.11 So wurde in internen Publikationen der Bundesanstalt das AFG zwar planungsoptimistisch mit gesundheitspolitischen Vokabeln »Vorsorge vor Fürsorge, Prophylaxe vor Therapie, Prävention vor Reaktion« beworben, in der Verwaltungspraxis waren Maßnahmen der »aktiven« Arbeitsmarktpolitik für die Bundesanstalt aber häufig gleich bedeutend mit allen administrativen Unternehmungen, die über rein ›passive‹ Versicherungsleistung hinausgingen.12 Im Bundestagsausschuss für Arbeit war »aktive Arbeitsmarktpolitik« vor allem ein Mittel, um Strukturkrisen zu bekämpfen. Im Arbeitsministerium hingegen wurde das Politikkonzept zuvorderst als eine umfassende Strategie globaler politischer Steuerung verstanden. Die Umsetzung des Gesetzes bewahrte bis in die frühen 1970er-Jahre in vielem Kontinuität zu den Regelungen des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927 (AVAVG).13 In der Arbeitslosenversicherung blieben Trägerschaft und Kreis der Pflichtversicherungen sowie Anwartschaft und Bezugsdauer der Versicherungsleistung weitgehend gleich. Arbeitslosengeld wurde weiterhin gestaffelt längstens 52 Wochen gewährt. Anschließende, als Versicherungsleistung gewährte, aber steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe für arbeitslos gemeldete, arbeitsfähige Personen war unbefristet. Die Höhe beider Unterstützungsleistungen war bereits 1967 um 15 Prozent erhöht worden, allerdings nunmehr vom vorhergehenden durchschnittlichen Netto- und nicht mehr vom Bruttoentgelt berechnet. Symbolträchtig im subjektivierenden Sinn war die Abschaffung der regelmäßigen, verpflichtenden Meldungen beim Arbeitsamt zur Abholung des ausschließlich bar ausgezahlten ›Stempelgeldes‹.14 Das AFG setzte damit das Anrecht auf den Bezug einer Versicherungsleistung um, in Abgrenzung von einem paternalistischen Akt der Fürsorgegewährung. 10 Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 5. 1966– 1974, S. 337, 356. 11 Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 341. 12 Heribert Rottenecker / Jürgen Schneider, Geschichte der Arbeitsverwaltung in Deutschland. Stuttgart 1996, S. 162. 13 Hierfür und folgend: Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 5. 1966–1974, S. 331–379. 14 Ebd., S. 351.

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In den Bereich der Beschäftigungspolitik im engeren Sinn fielen Konjunkturund Strukturpolitiken, d. h. Beihilfen für saisonal arbeitende Branchen oder strukturschwache Regionen, die von der Rezession 1966/67 in besonderem Maß betroffen waren. Gefragteste Angebote des AFG waren indessen die individuellen beruflichen Fort- und Weiterbildungen. Bereits 1971 war berufliche Bildung der höchste Ausgabenfaktor in der Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik.15 Gefördert mit erhöhtem und verpflichtendem Unterhalt, nahmen in den frühen 1970erJahre insbesondere berufstätige Männer der mittleren Alterskohorte (25 bis 35 Jahre) an aufstiegsbezogenen beruflichen Fortbildungen (Meister, Techniker, Betriebswirt) teil.16 Frauen und andere ›Problemgruppen‹ des Arbeitsmarktes (Ältere, so genannte Behinderte, gering Qualifizierte) blieben entgegen der im AFG niedergelegten Intentionen, deutlich unterrepräsentiert bzw. wurden statistisch gar nicht erst ausgewiesen. Auch abseits von Fortbildungspolitiken zeigten sich in der Arbeitsmarktpolitik eher ausschließende Tendenzen, um das Arbeitskräftepotential zu vermindern. In der Rentenreform von 1972, die den Ruhestand mit Vollendung des 63. Lebensjahres unter Bezug von Altersruhegeld bzw. für Schwerbehinderte ein Jahr früher ermöglichte, wurden Ältere aus dem Arbeitsmarkt ausgegliedert. Mit dem Anwerbestopp gegenüber ausländischen Arbeitskräften von 1973 sowie dem ›Inländerprimat‹ in der Arbeitsvermittlung sollte die Anzahl ausländischer Arbeitnehmer verringert werden. Die im AFG benannten »Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung«, gemeinhin unter dem älteren Begriff »Arbeitsbeschaffungsmaßnahme« (ABM) bekannt, waren eine modernisierte Variante der »Notstandsarbeiten« des AVAVG. Zeitlich befristet, gewährte oder verteilte die Bundesanstalt Zuschüsse und Darlehen aus eigenen Mitteln, denen des Bundes oder der Länder zur entlohnten Beschäftigung Arbeitsloser oder von Arbeitslosigkeit bedrohter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. In den ersten Jahren der AFG -Geltung waren die AB -Maßnahmen aber nahezu bedeutungslos.17 Der Charakter der gesetzlichen Vorgabe wie auch die politische und verwaltungstechnische Praxis änderten sich im Lauf der 1970er-Jahre unter dem Eindruck der anhaltenden Konjunkturschwäche und wachsender, persistenter Arbeitslosigkeit, die eine »faktische Aufgabe eines hohen Beschäftigungsniveaus« in den Jahren der sozialliberalen Koalition nach sich zogen.18 In den Haushalts15 Ebd., S. 368, Tab. 3. 16 Ebd., S. 356; Hermann Saterdag / Werner Dadzio, Die aufstiegsbezogene berufliche Fortbildung, in: Mitt AB 10 (1977), S. 399–421; Christian Brinkmann / Karen Gottwald / Lothar Schuster, Die berufliche Fortbildung männlicher Erwerbspersonen – Teil 1, in: Mitt AB 5 (1972), S. 1–30. 17 Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 5. 1966– 1974, S. 356. 18 Ebd., Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974–1983, S. 357; vgl. auch: Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, S. 504–533; Webber, Zwischen programmatischem Anspruch und politischer Praxis, S. 261–275.

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plänen der Bundesregierung blieb, so der Bundesfinanzminister Hans Matthöfer (SPD) in seiner Haushaltsrede vor dem Bundestag 1981, »Vollbeschäftigung das erste Ziel der Finanz- und Wirtschaftspolitik«, jedoch sei es nun »grundsätzlich richtig, auch in der Arbeitsmarktpolitik einige Anforderungen an die Eigenverantwortung und Zumutbarkeit erreichbarer Arbeitsplätze zu verstärken, und sie vor allem wirkungsvoller durchzusetzen.«19 Aktive Arbeitsmarktpolitik wandelte sich vom präventiven Instrument, Arbeitslosigkeit zu vermeiden, zum kurzfristigen Notfallmedikament, Arbeitslosigkeit zu vermindern. Insgesamt wurden neun größere Änderungsgesetze des AFG 1969 bis 1990 beschlossen, um die Gesetzeslage der schlechten Konjunktur anzupassen. Mit den Haushaltsstrukturgesetzen von 1975 und 1981 sowie dem Arbeitsförderungskonsolidierungsgesetz (AFKG) griff der Fiskus wiederholt finanziell begrenzend in die Regularien des AFG ein. Notwendig geworden waren diese Einschnitte zum einen durch eine antizyklische, expansiv angelegte Arbeitsförderungspolitik, deren beitragsabhängige Finanzierung auf konjunktursensiblen Füßen stand.20 Steigende Zinssätze und stabilitätsorientierte Währungspolitik verkleinerten den Spielraum der Bundesregierung, dem Haushaltsdefizit zu begegnen. Ohne andere Haushaltsbereiche zu kürzen bzw. die Finanzpolitik mittelfristig zu ändern, blieb die Leistungsminderung bzw. Beitragserhöhung in der Arbeitslosenversicherung als Weg des geringsten Widerstandes. Mit dem Haushaltsstrukturgesetz von 1975 wurde der Höchstbetrag zur Arbeitslosenversicherung von zwei auf drei Prozent angehoben. Nachdem 1975 die Lohnersatzleistungen  – Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld und Arbeits­ losenhilfe – im Niveau noch angehoben worden waren, wurde der Leistungs­ bezug seit 1977 mehr oder minder dezent, bis Mitte der 1980er-Jahre kontinuier­ lich eingeschränkt.21 Ab 1977 wurde die Arbeitslosenhilfe nur noch für längstens ein Jahr bewilligt und dann, bemessen an einem voraussichtlich zu erzielenden Arbeitsentgelt, jeweils neu berechnet. Mit dem AFKG von 1981 wurde die anspruchsbegründende, beitragspflichtige Beschäftigung von sechs auf zwölf Monate innerhalb von drei Jahren verlängert. Arbeitslosenhilfe wurde nur noch nach einer Beschäftigungszeit von 150 (vorher 70) Kalendertagen gewährt und, pro forma, nur für längstens ein Jahr bewilligt. Danach war der Antrag dahingehend neu zu prüfen, inwiefern das für die Bemessung maßgebliche Arbeitsentgelt für den Antragsteller noch erreichbar oder zu kürzen war, womit der soziale Abstieg längerfristig Arbeitsloser, d. h. »schwer Vermittelbarer« eingeleitet werden konnte. Im Anschluss an 19 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 51. Sitzung. 16.09.1981, S. 2866, 2874, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/09/09051.pdf, 30.01.2023; vgl. auch: Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, S. 506; Webber, Zwischen programmatischem Anspruch und politischer Praxis, S. 267. 20 Hierzu: ebd., S. 273 f.; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, S. 508–512. 21 Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974– 1983, S. 322–325.

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eine Berufsausbildung wurde Arbeitslosengeld vermindert ausgezahlt. Schüler und Studenten waren in keinem Fall mehr leistungsberechtigt. In erster Linie wurde leistungspolitisch das Versicherungsprinzip gestärkt, das heißt, dass die vom AFG integrativ ins Visier genommenen ›Randgruppen‹ (Frauen, längerfristig Arbeitslose, Jugendliche)  an Fürsorgeleistungen (vom ›Marktwert‹ des Arbeitslosen abhängige Arbeitslosenhilfe) gekoppelt und zugunsten einer stabilen Kerngruppe des Arbeitsmarkts (Männer mit stabilem Nettoeinkommen und Versicherungsanspruch auf Arbeitslosengeld) arbeitsmarktpolitisch geschwächt wurden.22 In Zusammenschau mit der Verdoppelung der maximal möglichen Sperrfristen des Arbeitslosengeldes im AFKG 1981 und der rapide ansteigenden Sperrfristen in der Verwaltungspraxis, setzte die Arbeitsverwaltung hier negative, repressive Anreize für Arbeitslose, sich den Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen.23 Zudem verstärkten eine Reihe von Regelungen die Tendenz, das Arbeitskräftepotential zu verkleinern. Für Migrantinnen und Migranten erschwerten regionale Zuzugssperren seit 1975 die berufliche Mobilität. Für Jugendliche hatten sich mit dem Berufsvorbereitungsjahr und dem seit 1973 bzw. seit 1976 sukzessive in den Bundesländern eingeführten Berufsgrundbildungsjahr die Schul- und Ausbildungszeiten verlängert, allerdings nur bis 1978, als Rahmenbedingungen beschlossen wurden, das Berufsgrundbildungsjahr an die regulären Ausbildungszeiten anzurechnen.24 Regelungen von Altersteilzeit und Vorruhestand fanden tarifpolitisch verbreitet Anwendung, und das Mindestalter für einen vorgezogenen Ruhestand für Schwerbehinderte wurde bis 1980 auf das vollendete 60. Lebensjahr herabgesetzt. Mit der AFG -Novellierung vom 1. Januar 1976 wurde die Beseitigung und Verhinderung von Arbeitslosigkeit als Ziel des AFG unterstrichen.25 Berufliche Fortbildung innerhalb von Arbeitsverhältnissen war dem nachgeordnet. Das um zehn Prozent gekürzte Unterhaltsgeld wurde nunmehr für »notwendige« Bildungsmaßnahmen von Antragstellern gewährt, die dieses Kriterium erfüllten, wenn sie arbeitslos waren, von Arbeitslosigkeit unmittelbar bedroht waren oder bisher keine berufliche Qualifikation erworben hatten. In der 5. Novelle

22 Ebd., S. 322. 23 Zu den Sperrfristen vgl. Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, S. 512; Frank Oschmiansky / Silke Kull / Günther Schmid, Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen einer Debatte, Berlin 2001, S. 27, http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-115197, 30.01.2023. 24 Vgl. Peter Auer / Gert Bruche / Jürgen Kühl (Hrsg.), Chronik zur Arbeitsmarktpolitik. National 1978–1986. International 1980–1986, Nürnberg 1987, S. 149; Joachim Schroeder / ​ Marc Thielen, Das Berufsvorbereitungsjahr. Eine Einführung, Stuttgart 2009, S. ­57–62. 25 Vgl. Hans Hofbauer, Teilnehmer an beruflichen Bildungsmaßnahmen und ihre Beschäftigungschancen, in: Mitt AB 10 (1977), S. 469–483; zum Folgenden vgl. AFG § 44, (2), in: BGBl. I 51/1969, S. 582–632, hier: S. 589.

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des AFG von 1979 wird in den »Maßnahmen zur Verbesserung der Vermittlungsaussichten« erstmals das Kriterium der beruflichen Qualifikation bei Bildungsmaßnahmen der Bundesanstalt zurückgestellt bzw. nach Protesten der Gewerkschaften in der Diskussion um die Novelle wurde der Bildungsaspekt überhaupt erst wieder, anders als vom Gesetzgeber vorgesehen, in den Gesetzestext eingefügt.26 In Kurzzeitmaßnahmen von vier bis sechs Wochen sollten nun die schon bekannten ›Problemgruppen‹ des Arbeitsmarkts (Langzeitarbeitslose, arbeitslose Frauen, gering Qualifizierte) nicht nur beruflich qualifiziert, sondern sozialpädagogisch trainiert werden, was der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft Anlass war, die Maßnahme als »psychotherapeutisches Verhaltenstraining« zu verspotten. Sowohl die Bedingungen für die Förderung von Qualifizierung als auch der zu fördernde Personenkreis wurden kontinuierlich seit 1971 eingeschränkt, und die Teilnahmezahlen an Förderprogrammen gingen rapide zurück: von 271.000 Teilnehmern, die 1975 eine durch das Arbeitsamt geförderte Fortbildung besucht hatten, auf 136.000 im Jahr 1977.27 AB -Maßnahmen hingegen wurden zum wichtigsten arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre.28 Die Anzahl der Teilnehmer an AB -Maßnahmen vergrößerte sich nahezu kontinuierlich wie auch der Anteil der Arbeitslosen: Waren 1970 noch 15 Prozent der Teilnehmer arbeitslos gemeldet, waren es in den 1980er-Jahren 80 Prozent.29 Seit 1974 zeichneten sich Verschiebungen der vorgenommenen Qualifikationen vom sekundären in den tertiären Sektor ab.30 Der Anteil der Frauen an den Geförderten stieg von neun Prozent in den Jahren 1975/76 auf über 25 Prozent im Jahr 1978. Sie waren vor allem in Maßnahmen des Dienstleistungsbereichs tätig, womit sich die AB Maßnahmen konform zu berufsspezifischen Geschlechterrelationen bewegten. 26 Vgl. Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung, hier: S. 341. 27 Vgl. Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, S. 512. 28 Vgl. Eugen Spitznagel, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). Beschäftigungswirkung, Zielgruppenorientierung und gesamtfiskalischer Kostenvergleich, in: Dieter Mertens (Hrsg.), Konzepte der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg 1982, S. 278–285; Andrea Hellmich, Arbeitsmarkt und sozialpolitische Effekte von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, in: WSI-Mitteilungen 35/2 (1982), S. 113–123; Hans E. Maier, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als Instrument aktiver Arbeitsmarktpolitik, in: Fritz Scharpf u. a. (Hrsg.), Aktive Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt / Main 1982, S. 119–140; Thea Dückert, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen – ein beschäftigungspolitisches Instrument?, Frankfurt / Main 1984; Martin W. R. Votteler, Die prinzipielle Eignung von Allgemeinen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung als Instrument der Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt / Main 1982. 29 Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik, S. 216; vgl. auch: Hofbauer / Dadzio, Berufliche Weiterbildung für Arbeitslose, S. 183. 30 Vgl. Eugen Spitznagel, Arbeitsmarktwirkungen, Beschäftigungsstrukturen und Zielgruppenorientierung von Allgemeinen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung (ABM), in: ­Mitt AB 12 (1979), S. 198–216, hier: S. 201; im Folgenden auch: Hofbauer / Dadzio, Berufliche Weiterbildung für Arbeitslose, S. 206.

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Zugenommen im Lauf der 1970er-Jahre hatte auch der Anteil der Jugendlichen (unter 20 Jahren) in AB -Maßnahmen. In den frühen 1980er-Jahren nahmen die Weiterbildungsangebote für so genannte arbeitslose Jungakademiker (unter 35 Jahre) als neue Risikogruppe für Arbeitslosigkeit zu.31 Teilweise waren die AB -Maßnahmen Teil übergreifender Konjunkturprogramme, wie dem »Zukunftsinvestitionsprogramm« von 1977 oder dem »Arbeitsmarktpolitischem Programm für Regionen mit besonderem Beschäftigungsproblem« von 1979.32 Verfolgten diese noch keynesianische Steuerungsphilosophien, förderte das Konjunkturprogramm von 1974 private Investitionen und Neueinstellungen von Arbeitslosen durch Lohnsubventionen. In den letzten Jahren der sozialliberalen Koalition stand allerdings die Haushaltskonsolidierung im Vordergrund, und weitere Konjunkturprogramme wurden nicht aufgelegt. In diesem Punkt setzte die konservativ-liberale Koalition die Arbeit der Vorgängerregierung nahtlos fort bzw. verschärfte sie teilweise.33 Im Haushaltsbegleitgesetz von 1983 wurden die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung auf 4,6  Prozentpunkte angehoben, und die Anwartschaftszeiten für den Bezug von Arbeitslosengeld erhöht. Ein Jahr Arbeitslosengeld konnte nur beziehen, wer vorher drei Jahre beitragspflichtig beschäftigt war und nicht, wie bis dahin, zwei Jahre. Im Haushaltsbegleitgesetz von 1984 wurden wiederum die Leistungssätze für Arbeitslose ohne Kinder gesenkt, aber auch die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für Ältere verlängert. 1987 wurde diese Maßnahme in Form einer Staffelung nach Lebensalter ausgeweitet, und die Länge der Vorbeschäftigungszeiten für die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld wieder auf den Stand von 1983 herabgesetzt. Als Folge der wachsenden Ausgrenzung von Langzeitarbeitslosen aus dem Bezug von Arbeitslosengeld und steigender Beiträge zur Arbeitslosenversicherung konnte die Bundesanstalt bald ihren Haushalt sanieren und die Überschüsse 1985 in eine von Bundesregierung, Opposition, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und Bundesanstalt gemeinsam getragene »Qualifizierungsoffensive« einbringen. Kurzfristig wurde das Unterhaltsgeld während einer Fortbildung oder Umschulung erhöht, was allerdings mit der 9. Novelle von 1989 wiederum durch Kürzungen u. a. in der Kostenübernahme von Teilnehmerkosten kompensiert wurde. Die Teilnehmeranzahl von Fortbildungen der Bundesanstalt schnellte nach 1985 um 30 Prozent nach oben. Insgesamt nahmen 596.000 Arbeitnehmer im Jahr 1987 an Fortbildungen teil, davon waren zwei Drittel vorher arbeitslos. Frauen und Arbeitnehmer ohne vorherige, berufliche Ausbildung blieben aber 31 Hans Hofbauer, Berufliche Weiterbildung für arbeitslose Jungakademiker, in: Mitt AB 18 (1985), S. 307–314, hier: S. 307. 32 Vgl. Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974–1982, S. 334–338. 33 Vgl. Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 7. 1982–1989, S. 239–287; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, S. 527–533.

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unterrepräsentiert. Zudem »verlagerte sich das Schwergewicht immer weiter von der Aufstiegsfortbildung zur Anpassungsfortbildung und Umschulung.«34 AB -Maßnahmen expandierten unter der konservativ-liberalen Koalition. 1984 wurden Langzeitarbeitslose, die mindestens ein Jahr arbeitslos waren, als AB -berechtigt definiert und die Berechtigungsklausel des »schwer Vermittelbaren« ausgeweitet.35 Die Zahl der AB -Beschäftigten vervierfachte sich in den Jahren 1982 bis 1986. Häufig wurde ABM inzwischen als Finanzierungsquelle lokaler Initiativen »von unten« für soziale und pädagogische Projekte genutzt. Trotz nachweisbaren Vermittlungserfolgen von ABM-Teilnehmern in feste Arbeitsverhältnisse, war es Konsens der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, die arbeitsmarktpolitische Funktion von ABM nicht zu überschätzen, sondern, insbesondere hinsichtlich der Inklusion besagter ›Randgruppen‹ des Arbeitsmarkts (Jugendliche, Frauen etc.), die sozialpolitische Funktion von ABM klar herauszustellen.36 AB -Maßnahmen hatten sich angesichts der Schwierigkeiten, diese Gruppen bei anhaltender Arbeitslosigkeit in den Arbeitsmarkt zu integrieren, von den 1970er- bis in die 1980er-Jahre von »einem prophylaktischen zu einem kurativen Instrument entwickelt.«37 Wichtigste neue politische Akzentsetzung der Regierung Kohl war die verstärkte Entlastung und Flexibilisierung des Arbeitsmarkts. Konservative Familienpolitik (Anerkennung von Familien- und Pflegezeiten in der Rente, Einführung von Erziehungsgeld)  förderte Frauenerwerbstätigkeit zumindest nicht weiter. Frühverrentung und Vorruhestand wurden mit dem Gesetz zur Förderung von Vorruhestandsregelungen von 1984, demnach die Bundesanstalt Vorruhestandsleistungen für arbeitslose Arbeitnehmer der Jahrgänge 1927 bis 1931, die das 58. Lebensjahr vollendet hatten, bezuschusste, ausgebaut. Im Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985 wurde schließlich Arbeitgebern ermöglicht, ohne sachlichen Grund bis zu 18 Monate laufende befristete Arbeitsverträge abzuschließen. Teilzeit- und Leiharbeit wurde erleichtert. Im Vergleich mit anderen Ländern (USA, Großbritannien) fiel die sich hier abzeichnende Deregulierung des Arbeitsmarktpolitik bis 1990 aber vergleichsweise moderat aus.

34 Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 7. 1982– 1989, S. 269. 35 Eugen Spitznagel, Zielgruppenorientierung und Eingliederungserfolg bei Allgemeinen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung (ABM), in: Mitt AB 22 (1989), S. 523‒538. 36 Hubert Heinelt, Chancen und Bedingungen arbeitsmarktpolitischer Regulierung am Beispiel ausgewählter Arbeitsamtbezirke. Zur Bedeutung der Kommunen beim Einsatz von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, in: Mitt AB 22 (1989), S. 294‒311, hier: S. 294. 37 Hofbauer / Dadzio, Berufliche Weiterbildung für Arbeitslose, S. 183.

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1.2 Arbeitsmarktpolitiken in Großbritannien: Vom marktabhängigen Laissez-faire zur marktgesteuerten Kontrolle Arbeitsmarktinitiativen, die sich im Kontext britischer sozialstaatlicher Arrange­ ments als »aktive Arbeitsmarktpolitik« fassen lassen könnten, trafen in den 1960er-Jahren auf ein liberales System fragmentierter Arbeitsbeziehungen und Tarifpolitiken einerseits und reformoffenen Regierungen von Konservativen und Labour-Politikern andererseits.38 Die Empfehlungen zur aktiven Arbeitsmarktpolitik der OECD beförderten in der britischen Politik korporatistische Tendenzen, die erst in den 1950er-Jahren parteiübergreifend wirkmächtig geworden waren. Die britische Arbeitsmarktpolitik, so formuliert es Timo Weishaupt, erlag in den ausgehenden 1950er-Jahren einer »corporatist temptation« – auch angesichts der im europäischen Vergleich geringen wirtschaftlichen Leistungskraft des Vereinigten Königreichs.39 Der 1962 von der Konservativen Partei ins Leben gerufene ›National Economic Development Council‹ (NEDC) war die erste tripartistisch organisierte Institution mit der Aufgabe, die Regierung in wirtschaftspolitischen Fragen zu beraten. Mit dem gleichfalls noch von den Konservativen auf den Weg gebrachten Industrial Training Act von 1964 wurden mit den Industrial Training Boards (ITB) institutionelle Voraussetzungen für national gültige Ausbildungsstandards von Berufsausbildungen geschaffen mit dem Ziel einer stärkeren staatlichen Regulierung und Zentralisierung beruflicher Bildung.40 Die ITBs setzten sich aus Repräsentanten der Unternehmerverbände, der Gewerkschaften und der Schulen zusammen. Die ITBs waren jedoch nicht zur Eindämmung oder Verhinderung von Arbeitslosigkeit gegründet worden. Verbessert werden sollten, zentral gesteuert, britische Arbeitskraft und Arbeitskompetenzen. Mit der Regierungsübernahme von Labour 1964 und den initiierten »New Britain«-Modernisierungspolitiken der Wilson-Administrationen nahmen 38 Zum System der Arbeitsbeziehungen in Großbritannien, vgl. Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 199–217; für die Sozialpolitik der 1960er-Jahre (vor allem auf Labour bezogen): Howard Glennerster, British Social Policy. 1945 to the Present, Oxford 32007, S. 97 f. 39 Weishaupt, From the Manpower Revolution to the Activation Paradigm, S. 98; ähnlich: Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 202–217. 40 Helen Rainbird, Vocational Education and Training in the United Kingdom, in: Gerhard Bosch / Jean Charest (Hrsg.), Vocational Training. International Perspectives, New York 2010, S. 242–270, spez. 255; Ewart Keep, The Multiple Paradoxes of State Power in the English Education and Training System, in: Linda Clarke / Christopher Winch (Hrsg.), Vocational Education. International Approaches, Developments and Systems, New York 2007, S. 161‒175; Patrick Ainley / Mark Corney, Training for the Future. The Rise and Fall of the Manpower Services Commission, London 1990.

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Arbeitsmarktreformen weiter Fahrt auf.41 Insbesondere Arbeitsministerin Barbara Castle verstand es, dem Ressort seit 1968 mehr Gewicht zu verleihen. Unterstützend wirkten Evaluationen der britischen Verwaltung bzw. der OECD, deren zumindest publizistischer Einfluss auf die britische Politik höher zu veranschlagen ist als für die Bundesrepublik.42 Monierte der Fulton Report von 1968 die mangelnde Professionalität in der öffentlichen Verwaltung Großbritanniens und forderte, rechenschaftspflichtige Management- und Planungseinheiten innerhalb der Ministerien zu schaffen, bemängelte die OECD, die gemeinsame Verwaltung von Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung, die zu dem geringen Ansehen der Arbeitsverwaltung bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern beitragen würde. Im 1970 publizierten Regierungspapier »The Future of the Employment Service« wurden viele dieser Vorschläge aufgegriffen, im gleichen Jahr verlor Labour jedoch die Regierungsmehrheit. Die konservative Regierung unter Heath setzte dann 1973 die wichtigste Neuerung der »aktiven Arbeitsmarktpolitik« in Großbritannien durch und richtete mit dem Employment and Training Act die Manpower Services Commission (MSC) ein. Mit der korporatistisch verfassten MSC wurde die britische Arbeitsverwaltung komplett umgestaltet. Steigende Löhne, hohe Streikbereitschaft der Gewerkschaften sowie steigende Arbeitslosigkeit hatten es auch für die Konservativen nahezu unumgänglich gemacht, die Sozialpartner bei der Neuorganisation der Arbeitsverwaltung einzubinden. Korporatistische Politiken in Großbritannien erreichten allerdings mit der Einrichtung der MSC nahezu gleichzeitig ihren Höhe- und Wendepunkt, denn letztlich verstärkte die Organisationsstruktur der MSC den zentralisierenden Zugriff von Whitehall auf Arbeitsmarktpolitiken.43 Formal funktionierte die MSC als Oberaufsicht über zwei selbstständige Einheiten (später Abteilungen), der Employment Service Agency und der Training Service Agency. Die gesamte Behörde war als ›agency‹ der direkten Rechenschaft und Kontrolle des Department of Employment unterstellt und damit der direkten Einflussnahme des Parlaments entzogen. Mit den beiden Abteilungen ist das Aufgabenfeld der MSC beschrieben: Während die Employment Service Agency die Arbeitsvermittlung sowie Organisation der Arbeitsämter übernahm, war die Training Service Agency für die Durchführung von Berufsausbildung und Weiterbildung zuständig. Wichtigste Zielvorgabe der MSC war eine erfolgreiche Arbeitsvermittlung an Erwerbstätige oder Arbeitslose. Ein spezifischer Vermittlungsfokus, abgesehen von Beschäftigungsprogrammen für Jugendliche, lag nicht vor. ›Problemgruppen‹ wurden als solche anfangs nicht identifiziert. Es wurde angenommen, dass in irgendeiner Form ›Benachteiligte‹ von einem allgemein verbesserten Vermittlungsservice profitieren würden.44 Insoweit war 41 Vgl. David Price, Office of Hope. A History of the Employment Service, London 2000, S. 124–145. 42 Vgl. ebd. 43 Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 218–225. 44 Vgl. Price, Office of Hope, S. 161, 168.

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die MSC eine auf die Angebote des Arbeitsmarkts reagierende Institution und keine, die arbeitsmarktpolitisch intervenierte. Das Budget der MSC stieg unter den Labour-Regierungen massiv an. Zwischen 1975/76 und 1978/79 verdreifachten sich die Ausgaben nahezu (von 249 auf 643 Millionen Pfund). Bereits in diesem Zeitraum hatte sich die Aufgabe der MSC , für eine verbesserte berufliche Qualifikation zu sorgen, in das Management zahlreicher Programmlinien verkehrt, die vor allem dazu dienten, die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen zu bekämpfen. Die in der britischen Arbeitsmarktforschung wegen der gebräuchlichen Abkürzungen als »Alphabet-Suppe« bezeichneten Programme, boten in der Regel befristete und schlecht bezahlte Arbeitsmöglichkeiten statt beruflicher Qualifikation an.45 Das bereits seit 1972 bestehende Training Opportunities Scheme (TOPS) setzte noch beim Problem der beruflichen Qualifikation von Jugendlichen an, die in Berufsbildungszentren (Skillcentres) kostenpflichtig Kurse in Büroarbeit, Rechnungswesen, EDV, Maschinenbau oder KfZ-Mechanik belegen konnten.46 Das Job Creation Programme (JCP) von 1975 stellte dann wie das Special Temporary Employment Programme (STEP) von 1978 befristete öffentliche Arbeiten für Arbeitslose und Langzeitarbeitslose zur Verfügung. Das Work Experience Programme (WEP) von 1976 gab jugendlichen Schulabgängern die Möglichkeit, erste Arbeitserfahrung zu sammeln. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des WEP erhielten lediglich Unterhaltsgeld und keinen Lohnersatz wie bis dato üblich. Das Programm war damit ähnlich schlecht bezahlt wie das Youth Opportunity Programme (YOP) von 1978, das allen arbeitslosen Schulabgängern ein sechswöchiges Praktikum bei privaten Unternehmen zur Einführung in das Arbeitsleben anbot mit begrenzten Elementen der beruflichen Qualifizierung. YOP wurde von Einzelgewerkschaften heftig kritisiert, da sie, berechtigt, Lohndrückerei und Substitutionseffekte fürchteten.47 Dass der Trades Union Congress (TUC) sich mit der Zusage eines höheren gewerkschaftlichen Einflusses bei zukünftigen Bildungsprogrammen für Jugendliche abspeisen ließ, ist bezeichnend für die geringe Ausprägung des korporatistischen Gedankens in der MSC . Arbeitsmarktpolitisch signalisierten die Beschäftigungsprogramme, dass die Ursache von Jugendarbeitslosigkeit auch bei den Jugendlichen selbst zu suchen sei, ihrer mangelnden Arbeitserfahrung und unter Umständen auch Arbeitsmotivation. Nichtdestotrotz waren repressive Adressierungen der MSC und nachgeordneter Stellen bis Anfang der 1980er-Jahre gering ausgeprägt. Kontrolle von Leistungsmissbrauch stand nicht im Vordergrund der MSC-Aufgaben. Zum einen war gerade der Schwerpunkt der MSC , der auf einer marktförmigen Vermitt45 Zitiert nach: Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 223, Anm. 243. 46 Vgl. MSC , Train for a better job with TOPS , London 1980; MSC , Back to work. An Alternative Strategy for the Manpower Services Commission, London 1982, 7 f. 47 Vgl. Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 225–227.

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lung von Arbeitskräften lag, ungeeignet, eben diese Arbeitskräfte zu sozialen Nutznießern zu erklären und damit ihre Vermittlungschancen zu senken.48 Zum anderen waren sozialpolitische Maßnahmen seit den 1960er-Jahren wie die Zusammenfassung der sozialen Unterstützungsleistungen durch den Ministry of Social Security Act 1966 oder die 1971 vorgenommene Trennung von Auszahlungsstellen von Arbeitslosenunterstützung und Vermittlungsbüros von der Idee getragen, der öffentlichen Fürsorge ihr Stigma zu nehmen.49 Repressive Kontrollpolitiken waren damit vorerst nicht in Einklang zu bringen. Parallel zur Ausweitung legislativ formulierter Anrechte und sozialstaatlicher Expansion begann allerdings die Anzahl von Unterstützungsgesuchen für bedürftigkeitsgeprüfte Sozialhilfe zu steigen, auch infolge erhöhter Arbeitslosigkeit, die überproportional Bevölkerungsgruppen betraf, die keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen hatten, z. B. Jugendliche. Nur zwei Fünftel der Arbeitslosen waren Mitte der 1970er-Jahre berechtigt, Arbeitslosenunterstützung (»Unemployment Benefit«) zu beziehen. Alle anderen waren auf Sozialhilfe (»Supplementary Benefit«) angewiesen. Das Versicherungsprinzip konnte sein Versprechen, eine allgemein zuverlässige Unterstützung in Situationen von Arbeitslosigkeit zu sein, nicht gerecht werden und verlor mittelfristig an Legitimität.50 Die »tödliche Kombination aus Arbeitslosigkeit, Inflation und industrieller Stagnation« zwang bereits Labour-Regierungen der 1970er-Jahre die wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben zu drosseln.51 Spätestens mit der währungspolitischen Zwangslage im Jahr 1976, der zwangsweisen Aufnahme des IWF-Kredits und dem zeitweisen Rückzug der Bank of England vom Devisenmarkt, traten sozialund arbeitsmarktpolitische Planungspolitiken in den Hintergrund.52 Die rabiate Rhetorik des Neuanfangs, mit der Margaret Thatcher ihr Amt 1979 antrat, täuscht denn auch teilweise darüber hinweg, dass sozialpolitisch Kontinuitäten zu Labourpolitiken bestanden.53 Vor allem aber übertünchten die von Thatcher verbal beschworenen Werte von Individualismus und Selbstverantwortung die sozialen Adressierungen neu eingeführter sozialpolitischer 48 So Price, Office of Hope, S. 189 f. 49 Hierzu auch: Rodney Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, London 2005, S. 156; Harry Calvert, Social Security Law, London 1978, S. 6. 50 Neville Harris, Beveridge and Beyond. The Shift from Insurance to Means-Testing, in: ders. (Hrsg.), Social Security Law in Context, Oxford 2000, S. 87–117, hier: S. 99; Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 156; Harry Calvert, Social Security Law, London 1978, S. 155–158. 51 Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 222; vgl. auch: Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 156; Calvert, Social Security Law, S. 315–324. 52 Vgl. hierzu: Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 316; Howard Glennerster, British Social Policy. 1945 to the Present, Oxford ³2007, S. 189f; Harris, Tradition and Transformation, S. 110–116. 53 Vgl. hierzu: Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 156; Calvert, Social Security Law, S. 370–374; Hill, Social Security Policy in Britain, S. 53 f.; Glennerster, British Social Policy, S. 190; Harris, Tradition and Transformation, S. 91–125, spez. S. 110.

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Regulierungen für Unterstützungsbedürftige, die mittelfristig weniger Autonomie als vielmehr die dezidierte Abhängigkeit von paternalistisch gewährter Fürsorge beförderten.54 In der Arbeitsmarktpolitik der Konservativen stand von Beginn an im Fokus, die Kosten zu senken.55 Die Massivität der Arbeitslosigkeit verlangsamte und verzögerte jedoch institutionell umzusetzende Sparpolitiken oder, wie ­Howard Glennerster es formuliert: »Social policy was an altogether harder nut to crack.«56 Erstes Ziel der Einkürzungen waren die Personalkosten der Arbeitsverwaltung.57 Massive Personalreduzierungen in der MSC um 13 Prozent, 1979 angekündigt, und noch einmal um acht Prozent 1980, führten dazu, die Arbeitsverwaltung auf ihr Kerngeschäft erfolgreicher Arbeitsvermittlung einzudampfen.58 Weitergehende Beratungsangebote für Arbeitslose mit Vermittlungsschwierigkeiten jeglicher Art wurden weitgehend abgeschafft. Förderprogramme wurden auf strukturschwache Regionen beschränkt. Das Mindestalter für die Frühverrentung im 1977 eingeführten Job Release Scheme wurde auf 64 Jahre heraufgesetzt. Im Employment and Training Act 1981 wurden 17 ITBs geschlossen. Bemühungen, qualifizierte Berufsausbildungen staatlich zu fördern, wurden damit wieder zurückgenommen. Wurde institutionell zwar dadurch einerseits die Position der MSC als Zentralbehörde gestärkt, wurde andererseits Berufsausbildung wieder zu einer Angelegenheit privater Unternehmen. Schwächung beruflicher Qualifikation, Stärkung kostengünstigerer Teilzeitbeschäftigung sowie Adressierungen unternehmerischer Initiative kennzeichneten die beschäftigungspolitischen Förderprogramme in den ersten Thatcher-Jahren. Das YOP wurde 1981 erheblich ausgeweitet, um Jugendlichen angesichts massiver Arbeitslosigkeit überhaupt eine erwerbsförmige Beschäftigung anbieten zu können. Im Winter 1982/1983 nahm nahezu die Hälfte aller Schulabgänger an YOP teil und war damit nicht über reguläre (nicht subventionierte) Arbeitsplätze abgesichert.59 1983 wurde YOP durch das Youth Training Scheme (YTS) ersetzt, das 1980 zum ersten Mal im Regierungspapier »A New Training Initiative: A Programme for Action« entworfen wurde.60 Das Programm war als zwölfmonatiges On-the-Job-Training für Schulabgänger im Alter von 16 oder 17 Jahren angelegt, das 1986 auf eine Höchstdauer von zwei Jahren ausgedehnt wurde. Arbeitgeber (Unternehmen, Berufsausbildungseinrichtungen, gemeinnützige Einrichtungen) verpflichteten sich dazu, neben der beruflichen Ausbildung 13-wöchige Weiterbildungen im Bereich allgemeiner 54 Pointiert hierzu: Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 156; Calvert, Social Security Law, S. 371; ähnlich: Harris, Tradition and Transformation, S. 110. 55 Vgl. Glennerster, British Social Policy. 1945 to the Present, S. 176; Auer / Bruche / Kühl (Hrsg.), Chronik zur Arbeitsmarktpolitik, S. 440, 442. 56 Glennerster, British Social Policy, S. 190. 57 Vgl. Price, Office of Hope, S. 197 f., 201 f.; Glennerster, British Social Policy, S. 176. 58 Vgl. ebd., S. 201 f. 59 Vgl. Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 228. 60 Vgl. ebd., S. 236–241.

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sozial-kommunikativer Kompetenzen sowie Einübung in wissensbasierter Problemlösung anzubieten.61 Neben beruflichen Fähigkeiten sollte dieses Programm explizit allgemeine Schlüsselkompetenzen vermitteln, um die Absolventen der zweijährigen Trainingsmaßnahme beruflich flexibel zu halten. YTS gilt als »Kernstück« oder »Meilenstein« der »neoliberalen« Ausrichtung von Thatchers Arbeits- oder Ausbildungspolitik.62 Zwar war es das erste Mal, dass in Großbritannien flächendeckend versucht wurde, Jugendlichen eine berufliche Erstausbildung anzubieten. Da das Programm jedoch überwiegend von Unternehmen genutzt wurde, die ihre »ausgebildeten« Jugendlichen nach Ablauf der Programmlinie wieder in die Arbeitslosigkeit entließen, schwächte es letztlich die Durchsetzung tarifrechtlich geregelter, qualifizierender Berufsausbildungen. Das Community Programme löste 1982 das kurzlebige Nachfolgeprogramm von STEP, das Community Enterprise Programme, ab.63 Wie die Vorgängerprogramme war das Community Programme für die längstens einjährige Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen bei Kommunen oder Wohlfahrtsorganisationen eingerichtet. Im Unterschied zu den Vorgängerprogrammen wurde auch Teilzeitbeschäftigung angeboten und von 80 Prozent aller Teilnehmer genutzt. Über das Enterprise Allowance Scheme konnten Arbeitslose, die sich in Vollzeit selbstständig machen wollten, seit 1981 bis zu einem Jahr finanzielle Unterstützung in Anspruch nehmen, sofern sie länger als dreizehn bzw. seit 1986 acht Wochen arbeitslos waren und ein Kapital- bzw. Kreditgrundstock von 1.000 Pfund in ihr Unternehmen investierten.64 Personell wurde die MSC allerdings erst 1982 auf Linie der Konservativen gebracht. Der von Labour eingesetzte Vorsitzende der MSC und letzter Befürworter der »aktiven Arbeitsmarktpolitik« Richard O’Brian wurde von David Young abgelöst.65 Mit seiner Ernennung übernahm ein Thatcher-Hardliner den Vorsitz der MSC . Süffisant erklärte Young seine Ernennung in seinen Memoiren (The Enterprise Years) selbst als, »one of life’s better ironies it [the MSC] represented all that I came into government to change, and yet here I was charged with the task of running it.«66 Young stand nur zwei Jahre an der Spitze der MSC , bevor er 1984 Minister ohne Geschäftsbereich und 1985 Arbeitsminister im Kabinett 61 MSC , The Working Group on Training Objectives and Content. A Report, London 1984, S. 6; MSC , Core Skills in YTS , London 1985, S. 5. 62 King, Actively Seeking Work? The Politics of Unemployment and Welfare Policy in the United States and Great Britain, Chicago, London 1995, S. 214; Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 236. 63 Vgl. Klaus Pester, Maßnahmen zur Bekämpfung von Langfristarbeitslosigkeit durch die britische Arbeitsverwaltung (Manpower Services Commission), in: Mitt AB 19 (1986), S. 464–477, hier: S. 469–471; MSC , Guide to Community Service, London 1978; Price, Office of Hope, S. 223–227. 64 Vgl. ebd., S. 227–229. 65 Vgl. King, Actively Seeking Work? S. 133 f. 66 Zitiert nach: Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 235; zu Young, später Lord Young of Graffham, als Arbeitsminister vgl. Price, Office of Hope, S. 236–257.

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Thatcher wurde. Die Prioritäten seiner Politik lagen eindeutig darin, die MSC weiter zum Steuerungsinstrument der Regierung umzuformen bzw. als Arbeitsminister bis 1987 die Fundamente für die Abschaffung der MSC im gleichen Jahr unter Norman Fowler zu legen. Aktivierende Fördermaßnahmen und restriktive Leistungsgewährung wurden unter Young zunehmend gegeneinander ausgespielt. Arbeitslose in Großbritannien gerieten in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre in das Fadenkreuz von Kontroll- und Aktivierungspolitiken.67 Im so genannten Restart Course-Programm, das 1986 eingeführt wurde, wurden alle Langzeitarbeitslosen über 18 Jahre zum Beratungsgespräch in die lokalen Jobcenter vorgeladen und hiermit die erst 1982 abgeschaffte Registrierungspflicht für Arbeitslose wieder eingeführt.68 Ein 30-minütiges Beratungsgespräch mit einem Berufsberater sollte in der Durchführung einer Anschlussaktivität, wie einer Bewerbung oder einem Telefonanruf bei einem potentiellen Arbeitgeber, münden. Der SSA von 1989 knüpfte an ein erfolgreich durchgeführtes Beratungsgespräch den Nachweis, der Arbeitslose würde ›aktiv‹ nach Beschäftigung suchen, was durch regelmäßig wiederholte Beratungen nach dreizehn, 26, 52 und 68 Wochen anhaltender Arbeitslosigkeit kontrolliert wurde. Nach 104 Wochen Arbeitslosigkeit sollte der Klient an einem einwöchigen Restart Course, eine Art Bewerbungstraining, teilnehmen. Fehlte der Arbeitslose bei diesem Kurs unentschuldigt, konnte ihm bis zu 40 Prozent der Arbeitslosenunterstützung gekürzt werden. Bereits seit 1987 drohte jugendlichen Arbeitslosen bei Ablehnung einer Trainingsmaßnahme der Verlust finanzieller Unterstützung.69 An diesem Punkt war die Qualifizierungspolitik der beruflichen Bildung in Großbritannien in die Überwachungspolitiken von Arbeitswilligkeit, wie sie in den 1920er-Jahren durch Arbeitslosenunterstützungsstellen in Großbritannien durchgeführt worden waren, umgeschlagen. Gleichfalls wurden 1986 die Jobclubs eingeführt, die einer angeleiteten Selbsthilfegruppe für Langzeitarbeitslose vergleichbar waren, in denen sich diese ›aktiv‹ um Beschäftigung zu bemühen hatten. Das in den USA in den 1970erJahren entwickelte Programm, lief in drei Phasen ab. Nach einer ersten Phase der beruflichen Selbstfindung der Teilnehmer wurden sie in der zweiten Phase mit Techniken der Jobsuche vertraut gemacht, um in der dritten Phase unterstützendes Training in der Selbstpräsentation vor potentiellen Arbeitgebern zu erhalten. Anschließend wurden sie in Gruppen von bis zu zwanzig Teilnehmern und unterstützt von einem Arbeitsvermittler dazu angehalten, an vier Vormit67 Vgl. Neville Harris, Beveridge and Beyond. The Shift from Insurance to Means-Testing, in: ders. (Hrsg.), Social Security Law in Context, Oxford 2000, S. 87–117, hier: S. 101; Nick Wikeley, Unemployment Benefit, the State and the Labour Market, in: Journal of Law and Society 16 (1989), S. 291–309, hier: S. 292. 68 Vgl. King, Actively seeking Work?, S. 150, 172 f.; Wikeley, Unemployment Benefit; Price, Office of Hope, S. 269. 69 Vgl. Cornelia Sproß / K ristina Lang, Länderspezifische Ausgestaltung von Aktivierungspolitiken. Chronologie und gesetzliche Grundlagen, Nürnberg 2008, S. 18 f.

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tagen pro Woche bis zu zehn schriftliche oder telefonische Aktivitäten der Beschäftigungsakquise zu starten.70 Parallel zu diesen Aktivierungspolitiken wurde der finanzielle Druck auf die Arbeitslosen erhöht.71 1982 wurde die Versteuerung der Arbeitslosenunterstützung eingeführt. Im SSA von 1986 wurde die Sperrfrist für den Bezug von Arbeitslosengeld von den seit 1975 geltenden maximal sechs Wochen auf 13 Wochen und im SSA von 1988 auf 26 Wochen verlängert.72 Jugendliche Schulabgänger im Alter von 16 und 17 Jahren wurden im gleichen Jahr von der Arbeitslosenversicherung generell ausgeschlossen. Die Tendenz, dass Arbeitslose zunehmend auf ergänzende, bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen angewiesen waren, verstärkte sich in den 1980er-Jahren dadurch noch einmal. Ende der 1980er-Jahre lag die Quote der Arbeitslosen mit Anspruch auf Unemployment Benefit nur noch bei 25 Prozent.73 1987 wurden Arbeitsverwaltung und Arbeitslosenunterstützung im Employment Service wiederum organisatorisch zusammengefasst und damit das »Laissez-faire«-Regime der eher nachlässigen Kontrolle finanzieller Bezugsleistungen organisatorisch abgelöst vom »Stricter Benefit Regime« der von David Young initiierten und von Norman Fowler weitergeführten restriktiveren Arbeitsmarktpolitiken.74 Neben Aktivierungs- und Diziplinierungspolitiken trat der politisch kolportierte Vorwurf des Sozialmissbrauchs gegenüber Arbeitslosen, dem man mit zusätzlichem Personal, behördlicher Kooperation und strengerer Kontrolle der Antragsteller begegnete. Der SSA von 1989, der den Status von Arbeitslosigkeit an den Nachweis band, »aktiv« nach Erwerbsarbeit zu suchen (»actively seeking employment«), markiert schließlich legislativ das Ende der kurzen Phase selbstverantwortlich liberaler »aktiver Arbeitsmarktpolitik« in Großbritannien und den Anfang der disziplinierenden, wirtschaftsliberalen »aktivierenden Arbeitsmarktpolitik« der 1990er-Jahre.75

70 Pester, Maßnahmen zur Bekämpfung von Langfristarbeitslosigkeit durch die britische Arbeitsverwaltung, S. 477. 71 Vgl. Tony Atkinson / John Micklewright, Turning the Screw. Benefits for the Unemployed: In: Andrew Dilnot / Ian Walker (Hrsg.), The Economics of Social Security, Oxford 1989, S. 17–49, hier: S. 17; Lowe, The Welfare State, S. 343; Wikeley, Unemployment Benefit, S. 292, 301. 72 Vgl. SSA 1986 43 (2); Wikeley, Unemployment Benefit, S. 301; Anthony I. Ogus / Eric M. Barendt, The Law of Social Security, London 21982, S. 97; nicht korrekt hingegen die Angaben bei: Harris, Beveridge and Beyond, S. 99. 73 Vgl. Mohr, Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat, S. 131. 74 Vgl. Price, Office of Hope, S. 267–269. 75 SSA 1989, 12 (1), (b), und 12 (4), (1), (b), »actively seeking«: SSA 1989, 10, www.legislation. gov.uk/ukpga/1989/24/pdfs/ukpga_19890024_en.pdf, 30.01.2023; Wikeley, Unemployment Benefit, hier: S. 303; Laura Lundy, From Welfare to Work? Social Security and the Unemployed, in: Harris u. a. (Hrsg.), Social Security Law in Context, S. 291–325, hier: S. 300; Neville Harris, Widening Agendas: the Social Security Reviews and Reforms of 1985–8, in: ders. (Hrsg.), Social Security Law in Context, S. 119–151, hier: S. 146.

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2. Arbeitsverwaltungen unter Druck: Reform und Überlastung 2.1 Reform der Arbeitsverwaltung in der Bundesrepublik: Gebremste Verwissenschaftlichung Die Organisationsstruktur der bundesdeutschen Arbeitsverwaltung blieb bei allen Reformbestrebungen der »aktiven Arbeitsmarktpolitik« grundsätzlich unangetastet. Nur langsam veränderten sich Adressierungen an das arbeitslose Subjekt in administrativen Konzepten und Richtlinien. Die 1952 begründete Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung war eine institutionelle Wiederbegründung der 1927 eingerichteten Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Die Entscheidungsgremien der Selbstverwaltung, bei allen anzunehmenden informellen Absprachen insbesondere der Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter, tendierten ebenso wie die föderale Organisationsstruktur aus neun Landesarbeitsämtern und 146 Arbeitsamtsbezirken zu schwerfälliger Entscheidungsfindung.76 Diese systemimmanenten Trägheiten mögen Reformen verlangsamt haben, sie verhinderten aber auch politische Eingriffe der Exekutive. Auch das AFG von 1969 griff nicht grundsätzlich in die Struktur der Arbeitsverwaltung ein. Der Gesetzestext bediente sich aber ausgeprägter Modernisierungsrhetoriken und unterstrich, dass die Anpassung an den »technischen Fortschritt und die wirtschaftliche Entwicklung« zu den zeitgemäßen Aufgaben der Arbeitsverwaltung gehören würde.77 Umfangreiche Modernisierung der Arbeitsverwaltung auf allen Ebenen wurde angekündigt. Begründet wurde der Reformbedarf auch mit dem traditionell schlechten Image der Bundesanstalt als »Stempelstelle« oder »Arbeitseinsatzbehörde«, das durch »neue Begriffe wie Rehabilitationszentrum, Arbeitsberatung, berufliche Hilfs- und Bildungsmaßnahmen, Arbeitskräfteaustausch mit dem Ausland usw.« zu überwinden sei. 76 Vgl. Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 342; vgl. Karl ­Maibaum / Friedrich Beie / Manfred Rademacher, Die Praxis der Arbeitsvermittlung, Stuttgart u. a. 1972, S. 63−66; Andeutungen von Absprachen zwischen Vertretern der Gewerkschaften und der Arbeitgeberseite in den Gremien der Selbstverwaltung in: ­Reinhard Bahnmüller / Michael Faust, Das automatisierte Arbeitsamt. Legitimationsprobleme, EDV-Mythos und Wirkungen des Technikeinsatzes, Gesprächsnotiz Herr S., S. 4, F. A.T. K. Tübingen, 1989–1992, Privatbesitz Reinhard Bahnmüller. 77 Vgl. Walter Lutz, Umdenken tut not! In: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe. Das Arbeitsamt 20 (1969), S. 99–101; Josef Stingl, Die neuen Aufgaben der Bundesanstalt nach dem Arbeitsförderungsgesetz, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe. Das Arbeitsamt 20 (1969), S. 217–221; Eugen Burg, Wandeln und Handeln. Gedanken zur Gestalt des Arbeitsamts von morgen, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe. Das Arbeitsamt  20 (1969), S. 227–230.

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Auch hafte »mancher Büroausstattung von Vermittlern und Berufsberatern (…) ein arme-Leute-Geruch« an, der »werbefeindlich« sei.78 Sichtbarstes Zeichen der Behördenreform war ihre Umbenennung in Bundesanstalt für Arbeit 1969 und der Neubau der Behördenzentrale in Nürnberg. 1970–1973 entstand hier für die Bundesanstalt das größte Verwaltungsgebäude der Bundesrepublik, das, »zweckbetont« und »zukunftsorientiert« in der Architektur, dazu dienen sollte, »noch besser und erfolgreicher zu arbeiten.«79 Andere Dienststellen, die in der Nachkriegszeit und in den 1960er-Jahren neu gebaut bzw. umgebaut wurden, waren baulichen Konzepten moderner und transparenter Dienstleistung verpflichtet.80 Die Gründung des IAB in Nürnberg 1967, wie auch die Expansion der Fachabteilung des psychologischen Dienstes seit den späten 1960er-Jahren deuten auf behördeninterne Verwissenschaftlichungsprozesse hin.81 Anders aber als die offizielle Arbeitslosenstatistik, die seit 1953 in den Zuständigkeitsbereich der Bundesanstalt fiel, und die in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit breite öffentliche und administrative Wirksamkeit entfaltete, sind die Effekte von Verwissenschaftlichungsprozessen innerhalb der Bundesanstalt, d. h. jenseits wissenschafts- und arbeitsmarktpolitischen Lobbyings und konkret auf amtliche Beratungs- und Vermittlungssituationen bezogen, deutlich unschärfer. Bürokratische Routinen überdeckten zu weiten Teilen wissenschaftsbasierte Reforminitiativen. So signalisiert die Gründung des IAB 1967 auf den ersten Blick arbeitsmarktpolitischen Aufbruch und Veränderung im Sinn »geplanter Modernisierung«.82 Tatsächlich blieb der organisationsinterne Einfluss des IAB verhältnismäßig gering. Das IAB konnte sich längerfristig eher allgemein in der »Arbeitsmarkt- und Berufsforschung« profilieren und dieses Anwendungsfeld in der sozialwissenschaftlichen Forschung stärken. Vereinzelt waren Abteilungsleiter der Landesarbeitsämter bzw. personenbezogener Abteilungen (Frauen, Ausländer, Behinderte)  an arbeitsmarktpolitischen Analysen des IAB interessiert und regten diese an, von einer »Verwissenschaftlichung« der Arbeitsverwaltung kann nicht die Rede sein. Selbst im Feld der Politikberatung tat sich das IAB schwer. Zu ungenau waren die Arbeitsmarktprognosen und zu wenig rationa78 Alle Zitate: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland (künftig LAV NRW R), BR 01343 Nr. 22, Disposition zum Thema »Arbeitsamt und Öffentlichkeitsarbeit«, 22.03.1962. 79 Das neue Verwaltungszentrum der Bundesanstalt für Arbeit, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe. Das Arbeitsamt 24 (1973), S. 201 f. 80 Vgl. z. B. Christiane Rädlinger, 100 Jahre Arbeitsamt München 1985–1995. Von der Arbeitsvermittlung zur Arbeitsförderung, München 1995, S. 86. 81 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung. 82 Vgl. Peters, Ressortforschung; Werner Karr, Die Gründung des IAB im Jahre 1967, in: ebd., S. 63−119; Christian Brinkmann, Die 1970er und 1980er Jahre: Forschungsprofile und Steuerungsprobleme, in: ders. / Karr / Kühl u. a. (Hrsg.), 40 Jahre IAB , S. 161–199; »geplante Modernisierung« bei: Raphael, Verwissenschaftlichung, in: ders., Ordnungsmuster, S. 30 f.

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lisiert, an exakter wissenschaftlicher Beratung interessiert, waren Akteure in den politischen Prozessen.83 Zwar war 1970 eine Richtlinie des Vorstandes der Bundesanstalt erlassen worden, die besagte, dass die Verwertung der aus den Forschungsergebnissen gewonnenen Erkenntnisse Pflicht für die Mitarbeiter der Bundeanstalt sei, dennoch wurden die Veröffentlichungen und Praxishilfen des IAB von den Verwaltungsmitarbeitern der Bundeanstalt kaum genutzt.84 Dafür wurden eine Vielzahl von Gründen angeführt (»Lesbarkeit«, »Aktualität«, »Überforderung«, zu wenig relevant), die auf getrennte Welten zwischen theoriebasierter Forschung und erfahrungsbasierter Beratung hindeuten.85 Deutlich wird dies am Beispiel des so genannten ABC-Handbuches für Berufsberatung, das aufwändig vom IAB erstellt und in Schulungsmaßnahmen verbreitet, in der Praxis kaum benutzt wurde.86 Ein verantwortlicher IAB -Mitarbeiter kommentierte, die anvisierten Beraterinnen und Berater seien nicht darin geübt, Bestandszahlen, ihre Veränderung, angegebene Quoten, Messziffern etc. in verbale Aussagen umzusetzen. Anscheinend hatten viele keinen Blick dafür, aus den Daten berufskundliche Informationen zur aktuellen Situation der Ausbildungsund Erwerbsberufe abzulesen – offenbar eine Überforderung, die sich auch nicht durch entsprechende Schulung beheben ließ,

Der Kommentar bestätigt allerdings die Vermutung einer gewissen Praxisferne, um nicht zu sagen Blasiertheit, der IAB-Forschung.87 Eine weitere Einrichtung der bundesdeutschen Arbeitsverwaltung, die für die Beobachtung von Verwissenschaftlichungsprozessen innerhalb der Behörde relevant sein könnte, wurde bereits genannt: der Psychologische Dienst der Bundesanstalt (heute: Berufspsychologischer Service), der seit der (Wieder-)Begründung der Bundesanstalt 1953, neben dem Ärztlichen Dienst und der Technischen Beratung einer der Fachdienste der Bundesanstalt war.88 Der Psychologische Dienst hatte vorrangig die Aufgabe, die Berufsberatung in der Durchführung von Eignungsuntersuchungen zu unterstützen sowie eigene Begutachtungen von Arbeitssuchenden, insbesondere Erwerbsgeminderter durchzuführen. Waren dies in den ersten Nachkriegsjahren kriegsver-

83 Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 5. 1966– 1974, S. 369 f. 84 Brinkmann, Die 1970er und 1980er Jahre, S. 182. 85 Ebd.; ähnlich: Peters, Ressortforschung, S. 36. 86 Ebd., S. 40; Karr, Die Gründung des IAB im Jahre 1967, S. 105; Friedemann Stooß, Berufsforschung im IAB. Start und Ausbau in den Jahren 1967−1976 im Spiegel der persönlichen Erinnerungen, in: Brinkmann / Karr / Kühl u. a. (Hrsg.), 40 Jahre IAB , S. 121−159, hier: S. 150 f.; Brinkmann, Die 1970er und 1980er Jahre, S. 183. 87 Stooß, Berufsforschung im IAB , S. 153. 88 Vgl. Maibaum / Beie / Rademacher, Die Praxis der Arbeitsvermittlung, S. 98 f.; Erich Hoeschel / Herbert Bischoff / G. Rusch, Ärztlicher Dienst, Psychologischer Dienst, Tech­ nische Beratung, Stuttgart u. a. 1977.

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ursachte Erwerbsminderungen (Waise, Kriegsinvalide), wurden später vor allem Rehabilitanden anlässlich beruflicher Fortbildung und Umschulung begutachtet. Psychologinnen und Psychologen der Bundesanstalt wirkten außerdem an der Aus- und Fortbildung der Arbeitsvermittlerinnen und Arbeitsvermittler der Bundesanstalt mit (Technik und Methodik psychologischer Beobachtung und Beschreibung, Gesprächsführung) und waren für die Entwicklung standardisierter Eignungs- und Berufswahltests für die Berufsberatung zuständig. Der Psychologische Dienst der Bundesanstalt hatte sich mit der formellen Wiederbegründung der Arbeitsverwaltung 1953 ausdrücklich von nationalsozialistischen Selektionsprinzipien von Konkurrenzauslese oder körperlicher Vermessungen distanziert.89 Die Grundrechte der Ratsuchenden waren verfassungs- und arbeitsrechtlich garantiert. Dennoch bestanden wissenschaftliche Traditionslinien der Zwischenkriegszeit und des NS fort, vor allem die psychologische Berufstestung in ihrer Form als Eignungsdiagnostik und methodisches Gemisch experimentell-quantitativer, psychotechnischer Verfahren und qualitativer Ansätze geisteswissenschaftlicher Anschauung (z. B. Charakterologie).90 Eine psychologische Eignungsuntersuchung lief bis in die späten 1960er-Jahre als Abfolge standardisierter Testverfahren ab, die motorische Geschicklichkeit in praktischen Übungen (z. B. Drahtbiegen) sowie in sprachliche Assoziationsfähigkeit oder räumliche Vorstellungskraft in schriftlicher Aufgabenform abprüften und die das Beratungsgespräch sowie vorhandene Schul- und Arbeitszeugnisse ergänzten.91 Im Zentrum der Untersuchung sollte die ganzheitlich gedachte »Persönlichkeit« des Ratsuchenden stehen, dessen Neigung, in Ergänzung zum psychotechnischen »Dispositiv der Eignung«, das sich um 1900 ausgebildet hatte, ausschlaggebend für die Berufswahl war.92 Die auf den ersten Blick humanistisch-liberale Herangehensweise verblieb bei näherer Betrachtung allerdings nicht nur in »spekulativ-intuitiven Verfahren« typologischer Persönlichkeitsbeurteilungen, sondern diese transportierten, teilweise im Rückgriff auf Literatur der 1920er- und 1930er-Jahre, klischeebeladene, sexistische und sozial distinktive Klassifikationsmuster von »kindliche[r] Charakteristik vor allem bei 89 Wilhelm Arnold, Die Neuordnung der psychologischen Berufsberatung, in: Psychologische Rundschau 5 (1954), S. 68‒72; Richtlinien für den Psychologischen Dienst in der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, in: ANBA 1 (1953), S. 5‒10; hierzu auch: Johannes Platz / Lutz Raphael / Ruth Rosenberger, Anwendungsorientierte Betriebspsychologie und Eignungsdiagnostik. Kontinuitäten und Neuorientierungen, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik: Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 291–309, hier: S. 308 f. 90 Platz / Raphael / Rosenberger, Anwendungsorientierte Betriebspsychologie, S.  294, 307. 91 Albert Huth, Handbuch psychologischer Eignungsuntersuchungen, Speyer 1953, S. 62‒66. 92 Ebd., Psychologische Aufgaben in der Berufsberatung, in: Psychologische Rundschau 1 (1949/50), S. 225‒228, hier: S. 225; vgl. auch: Andreas Gelhard, Das Dispositiv der Eignung. Elemente einer Genealogie der Prüfungstechniken, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) 3 (2012), S. 44–60.

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(…) weiblichen Versuchspersonen«, »schrullenhafte[n] Einzelgänger[n]« oder charakterlich bedingter »Hinterhältigkeit.«93 Seit den späten 1960er-Jahren wurden in der Arbeit des Psychologischen Dienstes quantitative Verfahren vermehrt standardisiert, sodass von einer gewissen Zäsur in der Arbeit des Psychologischen Dienstes die Rede sein kann.94 Die Eignungsdiagnostik geriet in die Defensive. Ursächlich hierfür mag die in der Literatur konstatierte »Amerikanisierung« psychologischer Wissenschaften in der Bundesrepublik gewesen sein, der anstehende Generationswechsel in der Leitungsebene des Psychologischen Dienstes und schließlich die EDV-gestützte Auswertung psychologischer Testbatterien, die den Einsatz quantitativer Skalierungen erforderlich machte.95 Die Deutlichkeit, mit der innerhalb der Behörde noch Mitte der 1970er-Jahre Kritik am bisherigen eignungsdiagnostischen Verfahren artikuliert, wurde, spricht dafür, dass von einer raschen Abkehr von diagnostischer Anschauung nicht die Rede sein kann. Der leitende Psychologe des Landesarbeitsamtes Südbayern, Günther Waidner, beanstandete auf einer Direktoren-Tagung der Landesarbeitsämter 1975 offen die nicht zeitgemäßen Arbeitsverfahren im Psychologischen Dienst.96 Die Trends der Hochschulen, in denen Diagnostik zugunsten von Sozialpsychologie, pädagogischer Psychologie oder klinischer Psychologie zurückträte, seien in der Bundesanstalt, in der Psychologen nach wie zur Eignungsdiagnostik eingesetzt würden, nicht angekommen. »Der Mensch«, so Waidner, gilt als lernendes Wesen. Die Betonung liegt auf Veränderung und Veränderbarkeit. Für eine Eignungsfeststellung ist dabei kein rechter Platz mehr, wohl aber für Entwicklung, Förderung, Anregung und für so etwas wie eine Umweltpsychologie.

Die Bundesanstalt, so der Text weiter, verharre mit der Festlegung ihrer Psychologen auf die Rolle von im Schwerpunkt diagnostisch arbeitenden Fachleuten, auf einem Funktionsbild des Psychologen (…), das dem Ausbildungsziel der Psychologen in den Jahren 1938‒1955 (!) entsprochen hat. 93 Untersuchungsverfahren für den Psychologischen Dienst. Bd. II. Psychologische Untersuchungen, o. O. [Nürnberg] 1955, S. VII/13, II/9, II/3; zu den »spekulativ-intuitiven Verfahren« vgl. Platz / Raphael / Rosenberger, Anwendungsorientierte Betriebspsychologie, S. 299. 94 So auch David Meskill, dessen Begründung, der Psychologische Dienst würde sich seit ca. 1973 vermehrt auf Einzelberatung konzentrieren und damit als Dienstleister der Bundesanstalt verstehen, nicht zu folgen ist. Berufliche Einzelberatung gehörte seit 1953 zu den Aufgaben des Psychologischen Dienstes, vgl. David Meskill, Arbeitssteuerung, Klientenberatung. Angewandte Psychologie in der deutschen Arbeitsverwaltung. 1914–1973, in: Zeitschrift für Psychologie 115 (2004), S. 212–226, hier: S. 222 f. 95 Zur Amerikanisierung: Platz / Raphael / Rosenberger, Anwendungsorientierte Betriebspsychologie, S. 307 f. 96 Bundesarchiv (künftig BArch) B 119/5431, Günther Waidner, LAA Südbayern, Aktuelle Fragen des Psychologischen Dienstes. Gekürzte Fassung eines Referates im Rahmen des Direktoren-Tagung am 17.07.1975 in Weilheim (auch folgendes Zitat).

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Die Psychologen der Bundesanstalt würden immer noch 70 Prozent ihrer Arbeitszeit für diagnostische Aufgaben aufwenden und nur zwölf Prozent für Beratung. Waidner beanstandete ferner, die »geringe Autonomie der Aufgabenerledigung« für Psychologen, die sich »darin nur durch die Bundeswehrpsychologen unterboten« sehen. Teilweise wurden zwar ältere Argumente aufgegriffen – die Kritik an der rein eignungsdiagnostischen Verwendung der Arbeitsamtpsychologen kursierte bereits Mitte der 1960er-Jahre in der Behörde  – von einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbeurteilung der Ratsuchenden wollte man dennoch nicht lassen.97 Noch Ende der 1970er-Jahre distanzierten sich Psychologen von den »systemfremden Expertenschätzungen« der EDV-gestützten Auswertungsverfahren unter Verweis auf eigene Deutungskompetenzen: »Solche Verfahren leisten nicht, was das Charakteristikum des Interpreten, des Gutachters, ausmacht: die lebendige, auf die Ganzheit des Individuums (…) bezogene, bewertende und urteilende individuelle Aussage.«98 Auch versuchte man, einen relativierten Begriff der »Eignung« in der wissenschaftlichen Diskussion zu halten.99 Standardisierte Testverfahren der Berufsberatung wurden erst 1990 umbenannt, und die »Eignungsuntersuchungsserie für die Berufsberatung« von 1969 zum »Berufswahltest«. Die im Testdesign abgebildete »Berufswahl« war letztlich eine Selbstverortung des Ratsuchenden in vorgegebenen Skalierungen von Interessen und Fähigkeiten, einschließlich der Akzeptanz besserer oder schlechterer Arbeitsmarktchancen eigener Berufsvorstellungen.100 In Handreichungen des Psychologischen Dienstes aus den 1980er-Jahren war generell mehr Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit der Arbeitssuchenden gefragt, ohne deren Rahmenbedingungen zu problematisieren. Beratungs­ situationen sollten, so eine Direktive der Nürnberger Verwaltungszentrale Anfang der 1980er-Jahre, auf Augenhöhe stattfinden und so gestaltet werden, dass »der Ratsuchende niemals die Rolle des Objekts« einnehme, sondern »als ›Kunde‹ der Arbeitsvermittlung und Arbeitsberatung (…) vielmehr Partner der Beratungsfachkraft ebenso wie des von dieser eingeschalteten Psychologen« sei.101 Zweck der Beratung sei weniger die »Eignungsbeurteilung der Ratsuchen97 Zur älteren Kritik: LAV NRW R, BR 1180 Nr. 405, Jahresbericht zur Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung 1964/65, 3.12.1965, S. 45. 98 Landesarchiv Saarbrücken (künftig LArch Saarbrücken), Landesarbeitsamt Saarbrücken (künftig LArbA SB) [unerschlossener Bestand], Landesarbeitsamt RheinlandpfalzSaarland an Hauptstelle: 1.8.1979. 99 Vgl. Hans-Henning Eckardt: Psychologische Eignungsprognosen, Ihre Stellung in einem Gesamtsystem arbeitsmarktorientierter und eignungsorientierter Beratungsinformationen, in: Mitt AB 6 (1973), S. 177−189; Hans-Henning Eckardt, Der Begriff der Eignung in psychologischer Sicht, in: Mitt AB 12 (1979), S. 51−57. 100 Vgl. Psychologischer Dienst der Bundesanstalt für Arbeit, BWT. Berufswahltest für die Berufsberatung, Nürnberg 1991. 101 LArch Saarbrücken, LArbA SB , Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg, 02.02.1981, Beratungsunterlage Sitzung des Vorstands der Bundesanstalt für Arbeit, Vorbereitung in der Sitzung des Vorstandsausschusses für Planungs-, Rechts- und Verwaltungsfragen, am 12.02.1981.

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den durch den Psychologischen Dienst«, sondern die Beratung sei selbst »eine wichtige Information und damit (…) eine Entscheidungshilfe für die eigene berufsbezogene Entscheidung« des Ratsuchenden.102 In solchen Adressierungen von Autonomie (oder vordergründig kritischer: von empowerment) schlägt sich auch der allgemeine Aufstieg verhaltenstherapeutischer Ansätze und Behandlungsmethoden in der bundesdeutschen psychologischen Praxis nieder.103 Ähnlich wie für das IAB, sind Aussagen über Wirkungen des Psychologischen Dienstes innerhalb der Bundesanstalt schwer zu treffen. Festzuhalten ist, dass die Fachabteilung des Psychologischen Dienstes seit den späten 1960er-Jahren expandierte.104 Waren 1964 bundesweit 59 Psychologen in der Bundesanstalt tätig, waren es zehn Jahre später mindestens an die 200, wobei Personalmangel beklagt wurde.105 Angaben über die Anzahl durchgeführter psychologischer Eignungsuntersuchungen schwanken in den Jahren 1973 und 1993 zwischen einer halben Million und 200.000 bundesweiten Testungen.106 Die Effekte der Psychologischen Beratungskonzepte auf den Beratungsalltag dürften aber überschaubar geblieben sein, erst recht, da ein Großteil der behördlichen Entscheidungsgremien der Regulierung finanzieller Leistungsgewährung diente und administrativ sowie politisch ganz anderen Dienstwegen folgte. Teilweise intendierten Psychologen des Arbeitsamts auch überhaupt gar keinen Praxisbezug und verzichteten bereits in ihren Forschungsdesigns auf jeglichen Anwendungsnutzen für die beraterische Tätigkeit.107 Äußerungen, wie die des langjährigen Direktors des IAB Dieter Mertens, der die Eignungsprognostik des Psychologischen Dienstes als »magische Prognoseutopien« bezeichnete, deuten auf Konkurrenzverhältnisse der wissenschaftlichen Einrichtungen der Bundesanstalt und ein eher wissenschaftstheoretisches und weniger praxisrelevantes Profilierungsbedürfnis der Abteilungen.108 Eindeutig zeichneten sich aber in den Debatten innerhalb des Psychologischen Dienstes spezifische Entwicklungen in Beratungskonzepten und ihren Adressierungen von Subjektivierung ab. Abgrenzend von ganzheitlicher, als 102 Ebd. 103 Knapp und leider die Konsequenzen auf die Anwendung psychologischen Wissens nur am Rande thematisiert: Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt, S. 131–135. 104 Vgl. David Meskill, Optimizing the German Workforce. Labor Administration from Bismarck to the Economic Miracle, New York, Oxford 2010, S. 215 ff.; ders.: Arbeitssteuerung, Klientenberatung, S. 222 f. 105 Platz / Raphael / Rosenberger, Anwendungsorientierte Betriebspsychologie, S.  293; LArch Saarbrücken, LArbA SB , Auszug aus der Niederschrift über die Tagung der Leitenden Psychologen der Landesarbeitsämter vom 10. bis 13.12.1974, 106 Eckardt, Psychologische Eignungsprognosen, S. 180; Reinhard Hilke, Computerunterstützte Eignungsdiagnostik im Psychologischen Dienst der Bundesanstalt für Arbeit, in: Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie 37 (1993), S. 138–141, hier: S. 138. 107 Vgl. Eckardt, Psychologische Eignungsprognosen; Eckardt, Der Begriff der Eignung. 108 Zitiert nach: Hans-Henning Eckardt, Das Test-Validierungs-und-Interpretations-System des Psychologischen Dienstes der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1973, S. 1.

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ideologisch fragwürdig eingestufter Eignungsdiagnostik der 1950er- und 1960er-Jahre, beginnt in den 1970er-Jahren die Konzeption einer auf Selbstbefähigung setzenden Beratung auf »Augenhöhe« zwischen Beraterinnen und Beratern und Ratsuchenden.

2.2 Arbeitsvermittlung: Zwischen Paternalismus, Professionalisierung und Überforderung In Rückgriff auf diese Konzepte des Psychologischen Dienstes setzten Beratungsansätze in Arbeitsvermittlung und Berufsberatung der Bundesanstalt seit den 1970er-Jahren gleichfalls offiziell auf die klientenzentrierte Beratung. Arbeitsvermittlung und Berufsberatung für jugendliche Schulabgänger und erwachsene Umschüler waren getrennte Abteilungen in der Bundesanstalt, in Konzeption und Praxis aber eng verschränkt.109 Sie existierten neben und in gewisser Konkurrenz zu Abteilungen für Leistungsgewährung und der allgemeinen Verwaltung. Insbesondere die Arbeitsvermittlung war eine Kernaufgabe der Bundesanstalt und bis in die 1980er-Jahre hinein für Arbeitslose notwendig an ein Gespräch bzw. eine Beratung mit einem Arbeitsvermittler gebunden. Die Vermittlungstätigkeit der örtlichen Arbeitsämter wurde ergänzt durch überbezirkliche Fachvermittlungsdienste für akademische oder künstlerische Berufe oder Berufe mit zeitlich befristeten Erwerbsverhältnissen, wie im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Schifffahrt oder Landwirtschaft sowie der Anwerbung und Vermittlung internationaler Arbeitskräfte. Die nach Berufsgruppen sowie in Abteilungen für schwer Vermittelbare (Rehabilitanden, Schwerbeschädigte)  und Jugendliche sortierte Arbeitsvermittlung war in jeder Dienststelle in Berufsgruppen unterteilt. Anfang der 1970er-Jahre war die Zusammenfassung vormals getrennter Vermittlungsstellen für Frauen und Männern vielfach noch in Vorbereitung. Im Arbeitsamt Neunkirchen (Saar) wurden erst 1973 die Vermittlungsabteilungen für Männer und Frauen zusammengelegt und nach Berufssystematiken geordnet.110 Die Bundesanstalt übte als unmittelbare Bundesverwaltung bei der Arbeitsvermittlung und Berufsberatung staatliche Hoheitsfunktionen aus, d. h. ausschließlich der Bundesanstalt war die Ausübung von Arbeitsvermittlung und Berufsberatung im Rechtssinn gestattet.111 Das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt bestand seit dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) von 1927 und begründete eine weitreichende institutionelle und versicherungsrechtliche Scharnierfunktion der Reichs- bzw. Bun-

109 Hierzu und folgend: Maibaum / Beie / Rademacher, Die Praxis der Arbeitsvermittlung, S. 63−77. 110 LArch Saarbrücken, ArbA.NK 35, Arbeitsamt Neunkirchen, Dienstanweisung 1/73, 11.1.1973. 111 Vgl. Maibaum / Beie / Rademacher, Die Praxis der Arbeitsvermittlung, S. 20 f.

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desanstalt zwischen Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik.112 Das staatliche Vermittlungsmonopol unterschied sich in seinen grundsätzlichen Zielsetzungen insoweit von rein ökonomischen Interessen privater Arbeitsvermittlung, als dass sozialer Ausgleich und gesellschaftliche Angleichung von Lebensverhältnissen bei der staatlich finanzierten Arbeitsvermittlung beachtet werden sollten. Obgleich das Grundgesetz das Recht auf freie Berufs- und Arbeitsplatzwahl festschrieb, distanzierten sich Verwaltungsorgane der Bundesanstalt erst in den 1960er-Jahren offiziell von kriegs- und nachkriegswirtschaftlichen Vorstellungen eines staatlich kontrollierten Arbeitsmarktes und staatlicher Arbeitsplatzlenkung.113 Inhaltliche Konzepte und Methoden von Arbeitsvermittlung und Berufsberatung wurden erst in den 1960er-Jahren neu formuliert. Bis dahin verliefen Arbeitsvermittlung und -beratung weitgehend als direktiv-autoritäre Eignungsdiagnostik allwissender Arbeitsvermittler, die dem weniger informierten Ratsuchenden, Empfehlungen, um nicht zu sagen: Vorgaben, für eine endgültige Berufs- und Arbeitswahl gaben.114 Basis der Beratungsgespräche waren ganzheitliche Persönlichkeitsurteile über die Arbeitssuchenden, mit denen Berater betonen konnten, den »Menschen in den Mittelpunkt« ihrer Bemühungen zu rücken, und sich so, im Rückgriff auf diesen gesellschaftlichen »Gemeinplatz« der Nachkriegszeit, offiziell von NS -Leistungsselektionen zu distanzieren.115 Darüber hinaus waren nach wie vor administrative Routinen der Arbeitskraftlenkung und der nationalsozialistischen »Menschenverteilung« gängig, wie das Führen einer Beschäftigtenkartei aller Arbeitnehmer (auch der erwerbstätigen), der lediglich das im NS gebräuchliche Gegenstück auf Seiten des Arbeitnehmers, das Arbeitsbuch, fehlte.116 Erneuerte administrative Richtlinien für die Arbeitsvermittlung traten erst 1962 und für die Berufsberatung 1968 in Kraft. 112 Vgl. ebd., S. 12−14, passim. 113 Vgl. Heribert Rottenecker / Jürgen Schneider, Geschichte der Arbeitsverwaltung in Deutschland, Stuttgart u. a. 1996, S. 133 f. 114 Vgl. Rainer Bahrenberg / Heiner Koch / Lothar Müller-Kohlenberg, Praxis der beruflichen Beratung, Stuttgart u. a. 22000, S. 87 f.; ähnlich in den empirischen Ergebnissen: Rudolf Manstetten, Das Berufsberatungsgespräch. Eine empirische Analyse der beruflichen Einzelberatung in der Berufswahl- und Berufsberatungssituation Jugendlicher, Trier 1975, passim. 115 Zitat: Ruth Rosenberger / Lutz Raphael / Johannes Platz, Psychologische Eignungsdiagnostik in westdeutschen Großunternehmen: Wirkung von Ideen als Neufiguration wissenschaftlicher Konzepte in professionellen Verwendungsfeldern, in: Lutz Raphael / HeinzElmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006, S. 479–496, hier: S. 491; zur Rolle von Persönlichkeit seit den Anfängen der Berufsberatung am Schweizer Beispiel vgl. auch: Daniela Saxer, Persönlichkeiten auf dem Prüfstand. Die Produktion von Arbeitssubjekten in der frühen Berufsberatung, in: Historische Anthropologie 19 (2011), S. 354–371. 116 Vgl. z. B. Karl Wilhelm Herbst, Ist die Beschäftigtenkartei entbehrlich? In: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe. Das Arbeitsamt 15 (1964), S. 49 f. und die nachfolgende Diskussion (ebd.).

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Sie betonten, dass Beratung durch die Bundesanstalt, den Ratsuchenden in die Lage zu versetzen hätte, »aus eigener Erkenntnis und in eigener Verantwortung seine Wahl oder Entscheidung in beruflichen Angelegenheiten zu treffen.«117 Mit dem AFG erweiterten und veränderten sich Aufgaben und Funktionen der Berufsberatung, der im prognostizierten technologischen Wandel erhöhte Relevanz beigemessen wurde.118 Eingespannt war Arbeitsvermittlung und Berufsberatung in die generellen sozial- und wirtschaftspolitischen Ziele des AFG, die der Gesetzgeber dahingehend formuliert hatte, »daß ein hoher Beschäftigungsstand erzielt und aufrechtzuerhalten [sei], die Beschäftigungsstruktur ständig verbessert und damit das Wachstum der Wirtschaft gefördert wird.«119 Der soziale Ausgleichsaspekt des AVAVG von 1927, der bereits in der Gesetzesnovellierung von 1957 abgeschwächt worden war, ersetzte nun die präventive Einflussnahme auf das Arbeitskräfteangebot. Die Berufsberatung expandierte demgemäß mit dem AFG beachtlich. Inhaltlich wurde dies ausgefüllt mit dem Aufstieg klientenzentrierter Beratungskonzepte, die darauf ausgelegt waren, den mündigen Berufs- oder Arbeitssuchenden in seiner Entscheidungsfähigkeit zu unterstützen und seine Entscheidungskompetenz zu fördern.120 In Beratungssituationen sollte jede direkte Einflussnahme auf den Klienten und seine beruflichen Entscheidungen vermieden werden. Die Beratungstätigkeit des Berufsberaters wurde als »Hilfe zur Selbsthilfe in der Berufswahlsituation« projektiert und hatte sich somit auf reine Informationsvermittlung zu Berufsbildern oder Entwicklungen des Arbeitsmarkts zu beschränken.121 Ausgebaut und gefördert wurden Angebote zur Berufsorientierung und Berufsaufklärung, die dem Arbeitsuchenden selbstständige Information ermöglichen und gleichzeitig das Image der Bundesanstalt als moderner Dienstleister repräsentieren konnten. Seit 1974 wurde der fachtechnische Dienst der Berufsberatung erweitert, d. h. die zuarbeitende Sachbearbeitung der Berufsberatung sowie 1975 die Dokumentationsabteilung aktualisiert, die berufs-, studien- und wirtschaftskundliches Informationsmaterial in Print oder mittels EDV-Systemen zur Verfügung stellte. Mit der Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung von 1971 wurde die schulische Berufsberatung ausgebaut.122 Daneben wurden den Arbeitsämtern Beratungseinrichtungen zur Selbstinformation angelagert. So genannte City-Büros, seit 1969 eingerichtete 117 Vgl. Richtlinien für die Arbeitsvermittlung September 1962, S. 10, in: Beilage ANBA 10 (1962). 118 Vgl. Harry Meisel, Die deutsche Berufsberatung. Gesamtüberblick, Stuttgart u. a. 1978, S. 19–25. 119 AFG § 1, in: BGBl. I 51/1969, S. 582–632, hier: S. 583. 120 Vgl. Bahrenberg / Koch / Müller-Kohlenberg, Praxis der beruflichen Beratung, S. 88. 121 Manstetten, Das Berufsberatungsgespräch, S. 211; Karl Hermanns, Berufsberatung als Entscheidungs-Hilfe, in: arbeit und beruf 26 (1975), S. 261–264. 122 Vgl. Elmar Lange / Heinz Neuser, Die Berufswahlvorbereitung durch Berufsberatung und Schule, Bestandaufnahme und Ansätze zur Weiterentwicklung, in: Mitt AB 18 (1985), S. 233‒246, hier: S. 234.

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kioskartige Vermittlungsbüros in Kaufhäusern und Einkaufspassagen, boten Aushilfstätigkeiten und Zeitarbeit bedarfsgerecht und niedrigschwellig an.123 Vor allem für Schulabgänger wurden seit 1979 Berufsinformationszentren (BIZ) eingerichtet, die berufskundliche Literatur oder audio-visuelle Medien zur Einsicht anboten.124 Das im BIZ umgesetzte Konzept der Selbstinformation sollte die »Eigeninitiative der Benutzer fördern«.125 Generell wurde in bundesdeutschen Amtszusammenhängen die Selbstinformation Arbeitssuchender durch den Einsatz technologischer Artefakte oder elektronischer Datenverarbeitung begünstigt, diente die EDV doch als Rationalisierungsargument und -instrument zur Bewältigung der wachsenden Antragsflut.126 Seit den 1980er-Jahren konnten Stellenangebote des Arbeitsamts per eigens gestalteten Mikrofiche-Lesegeräten, »micros« genannten, oder speziellen Bildschirmeinrichtungen mit integrierter Druckmöglichkeit, dem Stellen-Informations-Service (SIS), auf dem Amt eingesehen werden und eine Beratung durch Arbeitsvermittler oder Berufsberater zum Teil ersetzen.127 Als gewisse Antipode und erste Ankündigung von vertragsähnlichen Verfahren in der Arbeitsvermittlung wurden seit 1982 Eingliederungspläne erprobt, die in einem Beratungsgespräch erörterte Chancen und Probleme des Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt festhielten. Auf dieser Basis konnte der weitere Eingliederungsprozess auf dem Arbeitsmarkt »überwacht« und »auch korrigiert« werden.128 Eingliederungsvereinbarungen, die das seit 1997 geltende Sozialgesetzbuch (SGB) III seit 2002 aufweist, waren dann umso anschlussfähiger.129 In der Entwicklung regulierter Ausbildungswege von Arbeitsvermittlern und Berufsberatern seit den 1960er-Jahren schlagen sich die skizzierten veränder123 Vgl. Maria Keinhorst, Das ›City-Büro‹ des Arbeitsamtes Dortmund, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe. Das Arbeitsamt 20 (1969), S. 290–292; Helmut Minta, Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsvermittlung, Förderung und Beratung, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe. Das Arbeitsamt 23 (1972), S. 140–145. 124 Vgl. Reinhard Krämer, Die Berufsberatung in Deutschland von den Anfängen bis heute – eine historische Skizze, in: Informationen für die Beratungs- und Vermittlungsdienste der Bundesanstalt für Arbeit 2001, S. 1097–1105, hier: S. 1103. 125 Klaus Schweikert / Vera Meissner, Berufswahl und Berufsinformation. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, Nürnberg 1984, S. 46. 126 Vgl. Anne Höhmann, Einführung des coArb-AA-Verfahrens, in: Klaus Grimmer (Hrsg.), Arbeit der Arbeitsvermittler und ihre Veränderung durch Informationstechnologie. Bd. 2, Kassel 1986, S. 1–34. 127 Vgl. Stefan Kuhlmann, Veränderte Interaktionsbedingungen zwischen Arbeitsvermittlern und Klienten durch das Konzept der »halboffenen« Vermittlung, in: Grimmer (Hrsg.), Arbeit der Arbeitsvermittler, S. 195–219, hier: S. 195; Herbert Pfuhlmann / Manfred Grauel / A ndreas Stöhr, Stellen-Informations-Service. Eine Erweiterung des Dienstleistungsangebotes der AVu AB , in: arbeit und beruf 38 (1987), S. 341–345, hier: S. 343. 128 Peter Auer / Gert Bruche / Jürgen Kühl (Hrsg.), Chronik zur Arbeitsmarktpolitik, Nürnberg 1987, S. 117. 129 Zur sozialrechtlichen Problematik vgl. Ingwer Ebsen, Der Arbeitslose als Sozialbürger und Klient – Der Betroffene im Konzept des aktivierenden Sozialstaats, in: Matthias von Wulffen (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, Köln u. a. 2004, S. 725–744.

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ten Beratungsanforderungen und Professionalisierungstendenzen nieder. Die Ausbildung von Mitarbeitern der Bundesanstalt, ob in der Leistungsabteilung, der Arbeitsvermittlung oder der Berufsberatung tätig, wurde erst in den frühen 1960er-Jahren verbindlich durch Ausbildungsordnungen geregelt, und die Mitarbeiter in den Folgejahren verstärkt in berufs-, betriebs- und wirtschaftskundlichen Fragen sowie in Grundlagen der Psychologie, der Methodik und Technik der Gesprächsführung geschult.130 Die Qualifikation der Arbeitsvermittler und Berufsberater war bis in die 1970er-Jahre hinein nicht einheitlich. Teilweise hatten sie nach einem Volksschul-/Hauptschulabschluss und einer abgeschlossenen Ausbildung amtsinterne Lehrgänge durchlaufen.131 Im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre nahm der Anteil der Mitarbeiterinnen zu, die eine zweieinhalbjährige Fachausbildung der Bundesanstalt bzw. anderer öffentlicher Behörden absolviert hatten oder qualifizierte Quereinsteiger mit Berufserfahrung aus der Wirtschaft oder dem sozialen Bereich waren.132 Berufsberater hatten teilweise eine einschlägige Fortbildung der Bundesanstalt absolviert oder Ausbildungen in ihrem jeweiligen Fachgebiet. Berufsberater für Abiturienten und Universitätsabsolventen mussten über ein abgeschlossenes Hochschulstudium und eine mindestens einjährige Berufserfahrung in der allgemeinen Berufsberatung verfügen.133 1972 begann ein dualer Studiengang für Arbeitsvermittler und Berufsberater an der »Akademie für Beratungsfachkräfte«, seit 1976 »Fachhochschule der Bundesanstalt für Arbeit« in Mannheim, der perspektivisch die weitere Personalausbildung der Bundesanstalt abdecken sollte.134 In Kontrast zu diesen Professionalisierungstendenzen stand die reale Personalsituation auf dem Amt infolge der steigenden Anzahl von Arbeitslosen und der finanziellen Engpässe der Bundesanstalt. In den 1980er-Jahren wurde versucht, die personelle Unterversorgung durch Zeitverträge von verkürzt ausgebildeten Quereinsteigern (z. B. arbeitslose Hochschulabsolventen) auszugleichen. Ende 1981 wurden aber 700 Planstellen aus der Berufsberatung und der Arbeits130 Vgl. Herbert Kipplat, Zur Ausbildung der Fachanwärter für die Berufsberatung, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe. Das Arbeitsamt 17 (1967), S. 244–247; Karl Maibaum /  Friedrich Beie / Manfred Rademacher, Die Praxis der Arbeitsvermittlung, Stuttgart u. a. 1972, S. 68‒70; Harry Meisel, Die deutsche Berufsberatung. Gesamtüberblick, Stuttgart u. a. 1978, S. 150–155. 131 Vgl. Manfred Cramer, Verwaltete Arbeitslosigkeit – zu den Bewältigungsstrategien von Arbeitsvermittlern, in: Stephan Wolff / Thomas Lau / Sabine Kudera u. a. (Hrsg.), Arbeitssituationen in der öffentlichen Verwaltung, Frankfurt / Main, New York 1979, S. 115–159, hier: S. 126 f. 132 Wilhelm Eberwein / Jochen Tholen, Die Selektivität der öffentlichen Arbeitsvermittlung und Handlungsspielräume der Arbeitsvermittler, in: WSI Mitteilungen 40 (1987), S. 280–289, hier: S. 282; Maibaum / Beie / Rademacher, Die Praxis der Arbeitsvermittlung, S. 70 f. 133 Vgl. Kipplat, Zur Ausbildung der Fachanwärter für die Berufsberatung. 134 Vgl. Herbert Schneider, Studium für Berater der Bundesanstalt, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe. Das Arbeitsamt 23 (1972), S. 180 f.

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vermittlung abgezogen und vorwiegend der Leistungsabteilung überstellt, und im Jahr darauf annähernd 300 Stellen der Berufsberatung gestrichen.135 Beratungen von Schulabgängern oder Arbeitslosen fielen weg oder verkürzten sich. Das Personallevel sank, und es wurden Beschwerden über »Fließbandarbeit« und »Massengeschäft«, der »Taylorisierung der Berufsberatung« laut.136 Prinzipien des AFG, wonach Arbeitsvermittlung und Arbeitsberatung Vorrang vor der Leistungszahlung hätten, würden, so die zeitgenössisch in gewerkschaftlichen Gremien geäußerte Beschwerden von Arbeitsvermittlern, konterkariert.137 Die Leistungszahlung sei wieder in den Vordergrund gerückt, und das Arbeitsamt zur »Zahlstelle für Arbeitslose« degradiert.138 Jahrelange Imagekampagnen und Reformpolitiken, so die Zeitgenossen, wären dabei, sich zu verflüchtigen. Das bundesdeutsche Arbeitsamt der 1980er-Jahre sei wieder das, was es vor der reformoptimistischen Aufbruchsgeste des AFG und der »aktiven Arbeitsmarktpolitik« war: eine »Stempelbude«.139

2.3 Arbeitsverwaltung in Großbritannien: Liberaler Zentralismus Früher als im Deutschen Reich wurde in Großbritannien mit dem Labour Exchanges Act von 1909 und dem National Insurance Act von 1911 eine rudimentäre staatliche Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung institutionalisiert.140 Die Diskussionen um die Einsetzung einer Arbeitslosenversicherung waren in den wohlfahrtspolitischen Konstellationen des späten Viktorianismus verankert und setzten sich im Wesentlichen für eine Reform des New Poor Law von 1834 ein. Das alte Armenrecht hatte Arbeitslosigkeit vor allem als Problem individuel135 Vgl. Arbeitsgruppe 1: Ausmaß, Struktur und Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit auf die Beschäftigten in den Arbeitsämtern (Beitrag Norbert Möller-Lücking, DGB), in: DGB / ÖTV, Fachtagung Massenarbeitslosigkeit ‒ Krise der Beschäftigungspolitik. Krise in den Arbeitsämtern. 9./10. März 1982 in Bonn, Bochum 1982, S. 32‒56, hier: S. 32, 44. 136 Vgl. ebd., S. 34; Arbeitsgruppe 5: Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten für die Beschäftigten in den Arbeitsämtern (Beitrag Karl Obermann, ÖTV), in: DGB / ÖTV: Fachtagung Massenarbeitslosigkeit, S. 135‒155, hier: S. 143; Jens Springhorn, Die ›Taylorisierung‹ der Berufsberatung, in: arbeit und beruf 30 (1979), S. 358–359. 137 Vgl. Arbeitsgruppe 1: Ausmaß, Struktur und Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit auf die Beschäftigten in den Arbeitsämtern, S. 38. 138 Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 7. 1982– 1989, S. 277. 139 Berichte der Arbeitsgruppen (Beitrag Bernd Dieckmann, Arbeitsamt Köln), in: DGB / ÖTV, Fachtagung Massenarbeitslosigkeit, S. 156‒178, hier: S. 157. 140 Vgl. Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 121–154; Price, Office of Hope, S. 19–27; The National Archives Kew (TNA) LAB 21/116, Fifty Years of Service. The Story of Leek Employment Exchange 1912–1962. Hrsg. v. Leek Local Em­ ployment Committee, o. O. o. J. [Leek 1962]; Employment Exchanges are an Accepted and Respected Part of Britain, in: Midland Chronicle and Free Press, 05.02.1960.

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len moralischen Fehlverhaltens gedeutet, dem mit Arbeitsverpflichtung arbeitsfähiger Bedürftiger in Arbeitshäusern beizukommen war. Die Sozialreformer, die sich nach 1900 im Umfeld der Fabian Society für eine politische Reform des Armenrechts einsetzten, betrachteten Arbeitslosigkeit als strukturelles Marktproblem, das bürokratisch gezielt zu regulieren sei. Die Konzeption der neu eingerichteten Arbeitsvermittlung, im Wesentlichen von William Beveridge entwickelt, der seit 1909 Direktor der »Labour Exchanges« war und später als Autor des Beveridge-Berichts den britischen Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich prägte, zielte in erster Linie auf die volkswirtschaftlich bessere Funktion des Arbeitsmarkts und nicht auf die philanthropische Versorgung von Arbeitslosen. Bis 1920 war die neu eingerichtete, zentrale Arbeitsverwaltung auf die passgenaue und flexible Arbeitsvermittlung von »skilled worker« der Schwerindustrie beschränkt. Nach dem Vorbild der deutschen Arbeitsnachweise wurden landesweit Arbeitsämter (Labour Exchanges) eingerichtet, denen Arbeitgeber freie Stellen melden sollten und Arbeiter um Erwerbsarbeit nachsuchen konnten. Die zügige Vermittlung industrieller Fachkräfte in Arbeit sollte vor allem deren regionale Mobilität und damit die Produktivitätsleistung der nationalen Industrie steigern. Die finanzielle Unterstützung bestand aus einem Einheitssatz für alle Versicherten, und bei geringer Einbindung der Sozialpartner überdauerten gewerkschaftliche Selbsthilfe-Institu­tionen zur Arbeitsvermittlung. Bis zum Ersten Weltkrieg existierten bereits 430 Labour oder Employment Exchanges in Großbritannien. Gleichwohl war die institutionelle Legitimität und Vermittlungsquote der britischen Arbeitsverwaltung gering. Die Arbeitsverwaltung in Großbritannien war insoweit älter als die deutsche und bewahrte ihre institutionelle Gestalt über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Ihre institutionelle Modernisierung setzte indes bereits um 1960 und vor den Empfehlungen der OECD zur aktiven Arbeitsmarktpolitik ein. Gleichwohl waren die Empfehlungen des OECD letztlich maßgebend für die Implementierung genuin »aktiver Arbeitsmarktpolitiken«.141 Impulse für eine Reform der Berufsberatung und Arbeitsvermittlung gingen in den 1940er-Jahren von der Arbeits- und Berufspsychologie (Occupational Psychology) aus, die sich in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs in der militärischen Personalrekrutierung erfolgreich profilieren konnte.142 Die Erfahrungen mit einer angewandten Psychologie, die unmittelbar gesellschaftlich wirksam sein konnte, führte dazu, Psychologen seit 1950 im öffentlichen Dienst zu beschäftigen wie auch ihre Expertise im Arbeitsministerium einzusetzen, das bald größter Arbeitgeber für Arbeits- und Berufspsychologen wurde. Einer der treibenden Köpfe hinter dieser Entwicklung war der Arbeitsund Berufspsychologe Alec Rodger, selbst im Zweiten Weltkrieg im britischen 141 Vgl. Price, Office of Hope, S. 124–145. 142 Vgl. Sylvia Shimmin / Don Wallis, Fifty Years of Occupational Psychology in Britain, Leicester 1994, S. 34–36.

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Marine- und Kriegsministerium in der Personalführung beschäftigt und später am Birkbeck College tätig. In den Nachkriegsjahren plädierte er für ein System regionaler Berufsberatungsstellen unter Zuständigkeit des Arbeitsministeriums, deren Tätigkeit von Berufs- und Arbeitspsychologen begleitet werden sollte.143 Ausdrücklich erwähnte Rodger bereits 1946 die Bedeutung von »self-guidance« und »self-selection« der zu vermittelnden Kandidaten, die mittels einschlägiger Literatur und Informationsmaterial dazu angeleitet werden sollten, eigene Berufsinteressen und Neigungen zu überdenken. Drei Aufgabengebiete deckten Arbeits- und Berufspsychologen dann in den 1960er-Jahren im Arbeitsministerium ab: berufliche Rehabilitation (Industrial Rehabilitation Service), Beratung von Jugendlichen (Youth Employment Service) sowie die Berufsberatung Erwachsener (Occupational Guidance Service).144 Wurde die berufliche Rehabilitation bereits in den frühen 1940er-Jahren für Kriegsinvalide eingerichtet, existierten Einrichtungen für die Berufsberatung Jugendlicher seit den 1960er-Jahren. In beiden Bereichen war der Einfluss der akademisch ausgebildeten Psychologen eher indirekt und bestand darin, Angestellte der Arbeitsverwaltung aus- und weiterzubilden, psychometrische Testverfahren zu entwickeln oder empirische Evaluation von Arbeitsmarktpolitiken und angewandte Forschungen zu Berufswahl und Berufswegen durchzuführen. Der Youth Employment Service organisierte vor allem in enger Zusammenarbeit mit dem Erziehungsministerium schulische Berufsbildung und Berufsberatung im Abschlussjahr der weiterführenden Schule.145 Der 1966 eingerichtete Occupational Guidance Service, für Erwachsene über 18 Jahre zuständig, sollte berufliche Orientierung in Anbetracht rascher Veränderungen von Arbeitswelten in Folge von Technisierungsprozessen bieten.146 In größeren Arbeitsämtern oder speziellen Occupational Guidance Units wurde berufliche Einzelberatung und Eignungsprüfung mittels psychometrischer Berufstests angeboten.147 1970 waren in 43 Einrichtungen für Berufsberatung 144 Angestellte im Einsatz, die nach mehrjähriger Erfahrung in der Arbeitsvermittlung eine Fortbildung in Gesprächsführung und Beratung absolviert hatten. Der Employment and Training Act von 1973 griff unmittelbar und weitreichend in die institutionelle Organisation der britischen Arbeitsverwaltung ein, 143 Alec Rodger, Personnel Selection. By Whom? In: Proceedings of the Royal Society of Medicine 39 (1946), S. 287–290. 144 Vgl. John Crinnion / L . H. Raphael / G. C. White, Vocational Guidance at the Department of Employment: the Work of Psychologists, in: Occupational Psychology 44 (1970), S. 229–236. 145 Vgl. Ruth D. Lancashire / Barbara J. Cohen, Developments in Vocational Guidance, in: Occupational Psychology 45 (1971), S. 223–228, hier: S. 227. 146 Roger Mitton / Peter Willmott / Phyllis Willmott, Unemployment, Poverty and Social Policy. A Comparative Study in the United Kingdom, France and Germany, London 1981, S. 69; Price, Office of Hope, S. 131; John Crinnion, Ministry of Labour Occupational Guidance Units, in: Occupational Psychology 41 (1967), S. 121–126. 147 Ebd.

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die unter dem Dach der Manpower Services Commission (MSC) erneuert und zentralisiert wurde. Umstrukturierungen betrafen auch die Berufsberatungseinrichtungen. Die arbeitsmarktpolitischen Forschungen wurden 1975 unter dem Dach des Psychological Service zusammengefasst, der wiederum der Abteilung der Employment Service Agency innerhalb der MSC zugeordnet war. Der Youth Employment Service wurde in Careers Service umbenannt. Die seit Bestehen wissenschaftlich begleiteter Berufsberatung laufende Kontroverse zwischen einer an »Passung« zwischen Beruf und Jugendlichen interessierenden Berufsberatung und einem entwicklungsorientierten Beratungsansatz, der Lebensentwürfe und längerfristige Lebensziele des Ratsuchenden in den Mittelpunkt stellt, war damit zumindest bezüglich der offiziellen Etikettierung zugunsten Letzterer entschieden.148 Das damit zusammenhängende Subjektivierungsmodell setzte auf Eigenverantwortung des Individuums. Nunmehr war der Jugendliche bzw. die Ratsuchende dazu angehalten, die Entscheidung über seine bzw. ihre Berufswahl selbstverantwortlich zu treffen – die Beratung erfolgte lediglich unterstützend: »more emphasis is placed upon the life of the individual than the characteristics of the occupation.«149 Ob dieses individualisierende Subjektivierungsmodell insbesondere in Beratungssituation ein leitendes war, darf aber angezweifelt werden. Zu sehr stand die schwierige Arbeitsmarktlage einer Laufbahnplanung der Selbstverwirklichung entgegen. Adressierungen, den Anforderungen des Arbeitsmarkts gerecht zu werden, waren in den 1970er- und 1980er-Jahren in pragmatischen Beratungsformaten (Einüben von Bewerbungsschreiben und -gesprächen) wesentlich präsenter.150

2.4 Die britischen Jobcenter: unverbindliche Selbstbedienung Die institutionellen Neuerungen der Arbeitsverwaltung und -vermittlung sollten das Negativimage der Arbeitsverwaltung, explizit das »dole queue image« der Employment Exchanges, modernisieren.151 Die meterlangen Warteschlangen von Arbeitslosen, die in den Jahren der Weltwirtschaftskrise vor den Employment Exchanges anstanden, um ihr »Stempelgeld« abzuholen, war prägendes und immer

148 Zu den beiden Strömungen vgl. Alun Butler / Mike Dowsey, Using a Computer with a Careers Education Model of Guidance: The Interactive Careers Guidance System, in: Journal of Occupational Psychology 51 (1978), S. 57–67; Don Wallis, Occupational Guidance and Unemployment, in: Anthony Gale / A ntony J. Chapman (Hrsg.), Psychology and Social Problems. An Introduction to Applied Psychology, Chichester u. a. 1984, S. 101–123. 149 Butler / Dowsey, Using a Computer, S. 57. 150 Vgl. Rob Ward, Careers Education and Guidance. The Rise and Decline of Consensus, in: British Journal of Educational Studies 31 (1983), S. 117–130. 151 TNA ET 2/24, Jobcentres at Work. An Interim Evaluation [1977].

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wieder zitiertes Symbolbild für Verelendung und wirtschaftlichen Niedergang Großbritanniens. Employment Exchanges galten als ineffizient und indiskret und ihr Service als weder hilfsbereit noch hilfreich.152 Bei Arbeitgebern und Gewerkschaften genossen sie den zweifelhaften Ruf einer bloßen Versorgungseinrichtung für Arbeitslose und niedrig Qualifizierte. Einem modernen Konzept mündiger Bürger sei, so die Kritik in den späten 1960er-Jahren, der Paternalismus und das Misstrauen des alten Systems der Arbeitsvermittlungsstelle nicht mehr angemessen. Organisation und Abwicklung von Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung drängten die Arbeitssuchenden in die Rolle von Bittstellern und unterstelle ihm tendenziell kriminelles Potential.153 Um finanzielle Unterstützungsleistungen in Anspruch zu nehmen, war es für Arbeitslose seit Einrichtung der Employment Exchanges verpflichtend, sich zu registrieren und den Arbeitslosenstatus regelmäßig (täglich bzw. in den 1960er-Jahren einmal wöchentlich) durch Unterschrift zu bestätigen. Die finanzielle Unterstützung, das Stempelgeld (dole money), wurde nur in den Amtsstellen ausgezahlt, und Arbeitsvermittlung war nur im Beratungsgespräch mit einem Angestellten der Arbeitsverwaltung möglich. Unvermeidliche Folge dieses Vorgehens war bei größerem Andrang die »dole queue« – die Arbeitslosen standen auf der Straße an. Diesem Umstand half man ab, indem Auszahlungsstellen von Arbeitslosenunterstützung und Vermittlungsbüros institutionell seit 1971 durch die Einrichtung von separaten Unemployment Benefit Offices getrennt wurden. Im Regierungspapier »People and Jobs« von 1971 wurde dieser Schritt mit der erhofften Qualitätsverbesserung des Service begründet: The Employment Service has come to be regarded by many workers and employers as catering primarly for the unemployed and as having a poor selection of jobs and of workers seeking them. Thus if the Service is to improve its quality and reputation for satisfying a wide variety of needs, its ›dole image‹ must be removed.154

In Großbritannien begannen in den späten 1960er-Jahren, nach schwedischem Vorbild, wo Jobangebote der Arbeitsvermittlung in wöchentlichen Zeitungen annonciert wurden, erste Erprobungen von Selbstbedienung in der Arbeitsvermittlung. Selbstständige Arbeitssuche in den staatlichen Einrichtungen zur Arbeitsvermittlung war Teil der Qualitätsoffensive der Arbeitsverwaltung und der neuen Autonomieadressierungen an die Arbeitslosen. Die Assoziationen der Verwaltungsmodernisierer waren weitreichend. War es einerseits der »motor carowning generally emancipated jobseeker«, der »mainly needed straightforward information provided by self service,« war es andererseits, weniger konsumistisch, vorstellbar, »to run employment work like a library with vacancies on display.«155 152 Vgl. Price, Office of Hope, S. 135. 153 Vgl. King, Actively Seeking Work. 154 Department of Employment, People and Jobs. 1971, zitiert nach: David Price, Office of Hope, S. 159. 155 Zitiert nach: Price, Office of Hope, S. 132 f.

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Ergebnis der Überlegungen war die Einrichtung so genannter Jobcenter zur Arbeitsvermittlung und Arbeitsberatung.156 Treibende Kraft hinter der Verwaltungsreform war Ken Cooper, der Vorsitzende der Employment Service Agency innerhalb der MSC war. In seiner Jugend bei der Heilsarmee, war er für seine mitreißend-missionarische Rhetorik und seinen Eifer, Marketingkonzepte in öffentlichen Verwaltungen anzuwenden, bekannt.157 Die Employment Service Agency erhielt eigens einen von IBM rekrutierten Marketingdirektor, der nicht nur eine Neuorganisation der Employment Exchanges vornahm, sondern diese auch mit einem neuen Branding versah. Attraktives, modernes Design sollte die Jobcenter in ihren Räumlichkeiten, der Ausstattung und Lage auszeichnen und war wesentlicher Bestandteil ihres konsumorientierten Subjektivierungsansatzes.158 Die Einrichtung der Jobcenter machte die umfassenden Neustrukturierungen der britischen Arbeitsverwaltung in den frühen 1970er-Jahren äußerlich sichtbar, galten sie doch als »the spearhead of modernisation programme of the Employment Service Agency«.159 Die ersten Jobcenter wurden 1973 in Reading, Havant und Wakefield eröffnet. Bis Ende des Jahres waren bereits 17 Jobcenter landesweit vorhanden. 1976 waren es 217 Jobcenter und 1977 bereits 360 – und damit mehr als ein Viertel der staatlichen Arbeitsvermittlungsstellen in Großbritannien.160 Teilweise modernisierte Employment Exchanges bestanden parallel weiter. Waren die Standorte der Labour Exchanges immer wieder in der Diskussion (ob gut sichtbar im Stadtzen­ trum oder nicht), so wurden die Jobcenter bewusst in die Mitte der Ortschaften und Stadtteile platziert: in Einkaufspassagen, historischen Stadtkernen oder an die örtliche Hauptstraße. Sie sollten Jobsuche zu einem alltäglichen Geschäft werden lassen und die Scham- und Eingangsschwelle der Inanspruchnahme senken. Als »Job Shop« in einheitlichem Design von Ladenfront und Schaufenstern gestaltet, bewarben die Jobcenter ein modernes und kundenfreundliches Ladenimage: »Like Boots, Marks & Spencer or British Home Stores, the Jobcenter’s […] flag sign and window design create a streamlined image and an 156 Vgl. Matthew Cole, From Employment Exchange to Jobcentre Plus, the Changing Institutional Context of Unemployment, in: History of the Human Sciences 20 (2007), S. 129–146; Manfred Georg Träger, Entwicklung und Funktion des britischen und deutschen Systems der Arbeitsvermittlungs- und Berufsberatungsdienst, Nürnberg 1981, S. 32. 157 Vgl. Price, Office of Hope, S. 147, 163 f. 158 Zur Dinglichkeit der Jobcenter ausführlicher: Wiebke Wiede, Von Zetteln und Apparaten. Subjektivierung in bundesdeutschen und britischen Arbeitsämtern der 1970erund 1980er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 13 (2016), 3, S. 466–487, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2016/5398, 30.01.2023. 159 TNA ET 2/24, Jobcentres and your Community, Hrsg. von der Manpower Services Commission [1976]. 160 TNA ET 2/24, Jobcentres at Work. An Interim Evaluation [1977]; zur Planung der Jobcenter: TNA ET 9/3, Manpower Services Commission, Meeting 05.02.1974; MSC , Review and Plan 1977, London o. J. [1977], S. 29.

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instantly recognisable identity.«161 Selbstbedienung war die entscheidende Subjektivierungstechnik des neuen Verwaltungskonzepts.162 Die Idee hinter dem Jobcenter war der »job supermarket«, der die Stellenangebote dem Arbeitslosen offerierte und es ihm im Rahmen der dinglichen Arrangements frei stellte, sich zu informieren.163 Neben der Lage der Jobcenter in Einkaufsstraßen und Shopping Malls, der offenen Ladenfront und dem korporativen Branding, bestand das vorrangige verwaltungstechnisches Instrumentarium der Selbstbedienung in schlichten, standardierten Stellwänden für Stellenangebote (so genannte Vacancy Displays), auf denen freie Stellenangebote vermerkt waren und die gleichzeitig zur selbstständigen Information aufforderten. Eingehende und eingeworbene Jobangebote wurden auf vorgefertigten Karteikarten vermerkt, auf ein Steckdisplay angebracht und damit den Arbeitslosen, respektive Arbeitssuchenden zugänglich gemacht. Die Stellenangebote waren nach Branchen sowie nach Angeboten für Männern und Frauen sortiert. Im Sinn des korporativen Designs der Jobcenter gab es Handreichungen mit Ordnungs- und Gestaltungshinweisen für die Job-Stellwände. Das Kartenangebot umfasste geschlechtsspezifisch gestaltete Karten für Berufsgrupppen, Mottokarten und Karten für Titelzeilen, die es erlaubten, saisonale oder gestalterische Schwerpunkte zu setzen, unter anderem den »star job of the week« zu küren.164 Den Angestellten wurde allerdings nahegelegt, auf eine schlichte und überschaubare Optik der Job-Pinnwände zu achten. Wie das Raumkonzept der Jobcenter sollte auch die Stellwand dem Job-Shopper ein zurückhaltendes Serviceangebot bereitstellen: »Well-arranged, attractive looking vacancy displays draw people to them and encourage them to read the cards and enquire about the jobs on display.«165 Anleitungen der Behörde, wie die Job-Pinnwände am besten zu nutzen seien, offenbaren den konsumlenkenden Ansatz in Ausstattung und Einrichtung der Jobcenter: analysiert wurden Blickrichtungen der Arbeitssuchenden, ihr Bewegungsradius in den Ladenlokalen und deren Atmosphäre.166 Mehr noch als Selbstbedienung adressierten die Jobcenter, einen »economical and efficient« Service, der kostensparend Arbeitslose und Arbeitssuchende informierte.167 Die Angestellten in den Jobcentern erhielten die Rolle von diskreten und serviceorientierten Dienstleistern. Sie wurden erst aktiv, wenn Besucherinnen

161 TNA ET 2/24, Jobcentres and your Community, Hrsg. von der Manpower Services Commission [1976]. 162 David Price, Office of Hope. A History of the Employment Service, London 2000, S. 132 f.; TNA ET 2/24, Jobcentres at Work. 163 TNA ET 2/24, Jobcentres and your Community, S. 1. 164 TNA ET 2/33, How to Get the Most out of your Vacancy Display, Watford 1976. 165 Ebd. 166 TNA ET 24/15, MSC , Vacancy Display for Self-Service, Mai 1975. 167 MSC , Review and Plan 1977, London o. J. [1977], S. 30.

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oder Besucher ihr Interesse an einem Arbeitsangebot anmeldeten, und hatten dann in jedem Fall mit dem potentiellen Arbeitgeber ein Bewerbungsgespräch zu vereinbaren. Das »screening« der Kandidaten sollte sich auf ein Minimum beschränken und nur Bewerbungen der »observedly unsuitable« verhindern.168 Die Überprüfung von Qualifikation oder Eignung des Kandidaten oblag dem potentiellen Arbeitgeber, die Vermittlung der Kontaktdaten sollte schnell und unkompliziert verlaufen.169 Wurde der Arbeitssuchende am Stellenaushang nicht fündig und hielt weitere Beratung für nötig, konnte er die Hilfe eines Arbeitsberaters in Anspruch nehmen. Erst in diesem Fall hatte der Arbeitssuchende ein Formular auszufüllen, das seinen Besuch im Jobcenter dokumentierte.170 Die Vermittlungspolitiken hatten sich durch das neue Design der Jobcenter gegenüber den Employment Exchanges zwar nicht grundsätzlich verändert, die Effekte einer Ungleichheit reproduzierenden Behörde wurden aber verstärkt. Die Fachvermittlung für Berufe im gehobenen Management sowie für Führungs-, technische und wissenschaftliche Berufe war seit 1973 im Professional and Executive Recruitment (PER) separiert, der für potentielle Arbeitgeber kostenpflichtig, in landesweit 40 Büros computerunterstützt Arbeit vermittelte.171 Anforderungen des Arbeitsmarkts und die Eignung des arbeitssuchenden Kandidaten blieben nach wie vor für alle Vermittlungsvorgänge das primäre Vermittlungsargument. Die Länge der Arbeitslosigkeit oder die soziale Lage des Arbeitslosen wurden bei der Vermittlung nicht berücksichtigt.172 Dies lag auch daran, dass die quantitative Vermittlungsquote legitimierendes Erfolgskriterium der Arbeitsverwaltung war. Die Jobcenter punkteten in den späten 1970er-Jahren mit ihrer im Vergleich mit den Employment Exchanges um 30 bis 40 Prozent erhöhten Vermittlungsquote, die pro Vermittlungsfall zudem finanziell günstiger war.173 Damit konnten Kritiker der Jobcenter besänftigt werden, die den Einsatz von Steuergeldern für einen komfortableren Service für Arbeitslose kritisierten. Der Maßstab von Produktivität in der Vermittlungsarbeit tendierte aber dazu, erhöhten Vermittlungsaufwand bei schwer Vermittelbaren zu vermeiden, um die Vermittlungsquote möglichst reibungslos zu steigern. In den Selbstbedienungsarrangements der Jobcenter wurden diese Tendenzen verstärkt, da diejenigen, die Vermittlungsprobleme hatten, weiter ohne Beratung blieben und diejenigen

168 TNA LAB 106/17, Survey of Self Service Schemes. Hrsg. vom Department of Employment [1972], C 16. 169 Ebd. 170 Der »three tier service« findet sich in nahezu allen zeitgenössischen Programmschriften; vgl. z. B. TNA LAB 52/23, Services to Employers. Hrsg. von The Employment Service Agency, Leicester 1974. 171 Vgl. Price, Office of Hope, S. 166 f., 190 f.; The Professional and Executive Recruitment Service, in: Industrial and Commercial Training 5 (1973), 2, S. 96 f. 172 TNA LAB 21/116, Employment Exchanges are an Accepted and Respected Part of Britain, in: Midland Chronicle and Free Press, 05.02.1960. 173 Price, Office of Hope, S. 168, 175.

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begünstigt waren, die Selbstbedienung im Jobcenter bzw. auf dem Arbeitsmarkt für sich zu nutzen wussten.174 Der Selbstbedienungsappell der Jobcenter wurde mit Angeboten zur berufskundlichen Selbstinformationen weiter ausgebaut. Seit 1978 wurden den deutschen Berufsinformationszentren vergleichbare Joblibraries eingerichtet, die dem Besucher Informationsmaterial zu Berufsprofilen und dem Arbeitsmarkt anboten.175 Für die Produktion von Informationsmaterialien über Arbeits- und Berufschancen existierte seit 1974 das Careers and Occupational Information Centre (COIC). Das Selbstbedienungssetting der Jobcenter in Form von Stellwänden bedurfte zunächst keiner Technik bzw. keines Computereinsatzes. Die Technisierung der britischen Arbeitsverwaltung, die in den 1960er-Jahren einsetzte, diente denn auch, wie der Technikeinsatz im britischen Regierungsapparat allgemein, vorerst der Verarbeitung von Massendaten in der Leistungsberechnung und statistischen Erhebungen.176 Einsatz von Informationstechnik unterstützte jedoch den Leitgedanken effizienter und kostengünstiger Verwaltungsarbeit. Technik wurde in der britischen Arbeitsverwaltung vor allem dann eingesetzt, wenn es um Kostenersparnis ging. Seit Mitte der 1970er-Jahre wurde in Nordost-London die Datenverarbeitung mit dem so genannten CAPITAL-System in die allgemeine Arbeitsvermittlung einbezogen und die überregionale Stellenvermittlung per Datenbank geregelt.177 Überwiegend wurde das Verfahren jedoch lediglich als Vereinfachung zur Erfassung von Stellenangeboten genutzt, die, nun als Computerausdruck, immer noch an die Stellwände des Jobcenters gehängt wurden. Die Arbeitsvermittlung für gehobene Management-, Führungs-, technische und wissenschaftliche Berufe wurde seit 1973 computergestützt durchgeführt. In den Beratungsbüros des PER waren zudem Mikrofiche-Lesegeräte zur Nutzung durch Arbeitssuchende aufgestellt, die aktuelle Stellenangebote auf entsprechenden Mikrofilmen selbstständig einsehen konnten.178 1980 wurde dieses System reformiert und ein wöchentliches Magazin offener Stellenangebote herausgegeben. Beratungs- und Vermittlungsdienste entfielen, und die Stellensuche war auch hier der Selbstverantwortung der Arbeitslosen überlassen. 174 Dies wird in Evaluationen der Jobcenter auch vermerkt, vgl. TNA ET 24/15, MSC , Vacancy Display for Self-Service, Mai 1975, S. 3, 9. 175 MSC , Back to Work. An Alternative Strategy for the Manpower Services Commission, London 1982, S. 13. 176 TNA LAB 12/1076, Ministry of Labour: Unemployment Benefit Claims Procedure [1962]; vgl. auch Jon Agar, The Government Machine. A Revolutionary History of the Computer, Cambridge 2003, S. 316 f. 177 Dieter Gräßle / Christel Kumbruck, Computerunterstützte Arbeitsvermittlung  – zum Vergleich der Wirkungen verschiedener Verfahren zur computerunterstützten Arbeitsvermittlung auf die Auswahlentscheidung und die Arbeitssituation der Vermittler, in: Heinrich Reinermann u. a. (Hrsg.), Organisation informationstechnik-gestützter öffentlicher Verwaltungen, Berlin 1981, S. 155–162, hier S. 160. 178 The Professional and Executive Recruitment Service, in: Industrial and Commercial Training 5 (1973), 2, S. 96 f.

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Weitreichende Pläne der frühen 1980er-Jahre, ein Großteil der Jobcenter als »self service outlets« mit entsprechendem technologischem Equipment einzurichten, d. h. als Anlaufstellen zur Selbstinformation, teilweise integriert in Postfilialen oder Supermärkte, wurden zwar nie umgesetzt.179 Sie veranschaulichen aber, wie dominant Politiken von Rationalisierung und Wirtschaftlichkeit in den 1980er-Jahren in öffentlichen Verwaltungsstrukturen Großbritanniens waren. In der Literatur ist die Rede vom »New Public Management« zur Bezeichnung des neuen Bürokratiemanagements der Thatcher-Regierung und dessen Maßgabe von privatwirtschaftlicher Rentabilität.180 Umgesetzt wurden im Dunstkreis dieses Diskurses hingegen schlichte Kürzungen, Schließungen und Verkleinerungen der Verwaltungsorgane. Der Occupational Guidance Service wurde 1980/81 wegen Kürzungen im öffentlichen Haushalt abgeschafft.181 Der PER-Service wurde 1988 privatisiert. 1982 wurde die Registrierungspflicht für Bezieher von Arbeitslosenunterstützung bei der Arbeitsvermittlung aufgegeben – eine auf den ersten Blick untypische Maßnahme für die konservative Regierung.182 Dahinter stand jedoch die Absicht, die Jobcenter stärker auf ihre Kernaufgabe der Arbeitsvermittlung auszurichten und nicht zuletzt, ihre Vermittlungsquote zu erhöhen. Dem politisch übergeordneten Ziel, Sozialleistungen zu reglementieren und Sozialmissbrauch zu bekämpfen, kam man mit der durchgreifenden institutionellen Neuordnung von 1988 näher, d. h. die kurzlebige Umwandlung der MSC in die Training Agency bzw. Training and Enterprise Councils. Arbeitsvermittlung und Leistungsgewährung waren dann wieder unter dem Dach einer Behörde zusammengeführt. Kürzungen im Personalbestand der Arbeitsverwaltung und der Jobcenter, zwischen 1979 und 1985 wurde ein Drittel der Beschäftigten in der Employment Division der MSC abgebaut, sorgten für Arbeitsüberlastung und Frustration bei den verbliebenen Mitarbeitern der Verwaltung. David Price spricht von einer »turbulent atmosphere« in der Behörde.183 Hinzu kamen neue Beschäftigungs- und Aktivierungsmaßnahmen für Arbeitslose, die, auf disziplinierenden Subjektivierungsappellen aufbauend, den Aufwand für die Beschäftigten der Arbeitsverwaltung erheblich erhöhten. So wurden mit dem Restart Course Programm, das 1986 eingeführt wurde, alle Langzeitarbeitslosen, die älter als achtzehn Jahre waren, zum verpflichtenden Beratungsgespräch in die lokalen Jobcenter vorgeladen.184 Bei Versäumnis des Termins oder Versäumnis folgender Termine bei anhaltender Arbeitslosigkeit drohten finanzielle Sanktionen. Für die Arbeitsverwaltungen war die Einführung des Programms, so David Price, 179 Vgl. Price, Office of Hope, S. 229‒233. 180 Vgl. Kate McLaughlin / Stephen T. Osborne / Ewan Ferlie (Hrsg.), New Public Management. Current Trends and Future Prospects, London 2002. 181 Mitton / Willmott / Willmott, Unemployment, Poverty and Social Policy, S. 69; Price, Office of Hope, S. 131. 182 Vgl. ebd., S. 212. 183 Ebd., S. 235. 184 Zum Restart-Programm vgl. King, Actively Seeking Work?, S. 172 f.

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»traumatic«.185 Personal, das für das ambitionierte Restart Programm abgeordnet wurde, verursachte entweder personelle Lücken in anderen Abteilungen oder musste zeitintensiv neu angelernt werden. Im Oktober 1986 wurde seitens der Reformbefürworter in der Arbeitsverwaltung laut, man sei »deeply disturbed at the extent of under-performance in the Jobcentre.«186 Der Selbstbedienungsappell der Jobcenter hatte währenddessen weiter Bestand. Das Jobcenter bot nicht mehr nur schlechte (Arbeitsplatz-)Ware an, es verpflichtete die Arbeitslosen auch zum Kauf. In der Kluft zwischen den repressiven Verwaltungsmaßnahmen und dem Appell an die Selbstbedienung bildeten sich letztlich die Aporien der Arbeitsmarktpolitiken ab.

3. Vor Ort: Taktiken und Aushandlungen Um die Subjektivierungseffekte bürokratischer Arrangements in der Praxis zu verstehen, braucht es einen Blick auf die Mikroebene der sozialen Realität auf dem Amt: den alltäglichen Erfahrungen, Gesprächen, Reibereien und Gewohnheiten der beteiligten Akteure. Mit welchen Taktiken, so ließe sich im Sinn Michel Certeaus fragen, konnten sich Arbeitslose unter den gegebenen Umständen und Verhältnissen artikulieren?187 Welche Gelegenheiten konnten sie für eigene Positionierungen nutzen? Konnten Situationen des Verwaltungssettings für eigene Absichten umgeformt werden? Welche Spielräume ergaben sich in Aushandlungen mit Arbeitsvermittlern und Beratern? Im Folgenden werde ich einzelne Problemlagen des Alltags auf dem Amt mittels punktueller Fallstudien beleuchten. Die Quellenlage für solche alltagshistorischen Mikrostudien ist für beide Betrachtungsländer kontingent, denkbar unterschiedlich und nicht ansatzweise vergleichbar. Eine wie auch immer definierte letztgültige Repräsentativität ist deshalb nicht das Ziel der folgenden Unterkapitel. Ihr explorativer Wert liegt darin, episodisch Einblick in Abläufe zu gewähren, die großenteils abhängig sind von mündlicher Überlieferung. Die Fallstudien entfalten je für sich Facetten der Subjektivierung vor Ort: vom stumpfsinnigen Warten auf den Amtsfluren, der Aneignung von Beratungsadressierungen oder dem Umgang mit Aktivierungsvorgaben.

185 Price, Office of Hope, S. 252. 186 Ebd., S. 252. 187 Vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 23.

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3.1 Standardisierung von Beratung Im Dezember 1959 ging im Bonner Bundeskanzleramt der Brief eines damals 17-jährigen ein, der dem »hochverehrte[n] Herr[n] Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer« sein Leid klagte.188 Der junge Mann aus dem heutigen Duisburg, nennen wir ihn Theodor Holtkamp, trug seinen schweren Schicksalsweg vor. Als Kriegswaise geboren (sein Vater sei in »Russland« geblieben), sei sein Stiefvater arbeitslos, nachdem er wegen Grubenuntauglichkeit bei Rheinpreußen entlassen wurde. Theodor selbst war zwei Jahre zuvor ebenfalls bei Rheinpreußen als Berglehrling eingetreten und arbeitete ein Jahr unter Tage, als er »ohne Einverständnis meiner Eltern, bezwecks: meiner Mutter« operiert wurde und »mit großem Erschrecken aller Ärzte« als Bluter diagnostiziert wurde. Nach Rettung seines Lebens durch »Serum-Flug von Spanien«, sei sein Lehrvertrag von Rheinpreußen gekündigt worden. Im Anschluss erhielt er seinen Angaben zufolge weder öffentliche Fürsorge noch Arbeitslosenunterstützung. Bar jeder finanziellen Mittel bliebe ihm »nur noch der Selbstmord als letzter Ausweg« oder in Erfüllung seines »Weihnachtswunsches, die Bitte an Sie, Herr Bundeskanzler«: Entweder solle er »als ›Bluter‹ eine Vollrente« erhalten, Rheinpreußen solle ihn mit »leichte[r] Beschäftigung, welche meine Zukunft sichert« oder seinen Stiefvater wiedereinstellen, denn »Sie, Herr Bundeskanzler haben die ›Macht‹ [sic]« dazu. Nach Eingang im Bundeskanzleramt wurde der Brief über die Amtsflure zum Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, von dort an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Nürnberg, von dort an den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen und schließlich an das Arbeitsamt Moers, Abteilung Berufsberatung weitergeleitet, jeweils mit der »Bitte um weitere Veranlassung« und Prüfung, ob der Prätendent »eine Ausbildung noch ableisten bzw. eine Arbeitsstelle ausfüllen kann.« Der Beschwerdeführer wurde im Februar 1960 zu einer »eingehenden Beratung« in das Arbeitsamt Moers eingeladen. Nachdem die Vermittlung in eine Ausbildung bei der Kreishandwerkerschaft in Moers wegen eines Kuraufenthaltes fehlschlug, wurde Theodor im April 1960 eine Arbeitsstelle als Bote in einer Maschinenfabrik vermittelt. Der Fall dokumentiert einerseits die Vermittlungschancen für gering qualifizierte Arbeitslose im expandierenden Arbeitsmarkt der späten 1950er-Jahre, in dem Lohnarbeit einen zentralen Stellenwert sowohl für sozialstaatliche Gesetzgebungen, wie der Rentenreform 1957, als auch für gesellschaftliche und biographische Normalitätsstandards hatte. Die Vermittlungsakte von Theodor Holtkamp gibt zu allererst aber einen Einblick in die zeitgenössischen Arbeitsroutinen der Berufsberatung, die hier interessieren. Deutlich wird das Wechsel­ spiel zwischen der Versorgungserwartung des jungen arbeitslosen Theodors in seiner Notlage – samt Anrufung einer Herrscherautorität des Bundeskanzlers 188 LAV NRW, R BR 122, Nr. 200/II, S. 350‒358.

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und des paternalistisch fürsorglichen Verwaltungsakts, der hier auf dem amtlichen Dienstweg der Arbeitsvermittlung durchexerziert wird. Deutlich schimmert ein Verständnis von Berufsberatung durch, das dem Berater als hoheitlichem Vertreter des Staates die Amtsautorität zuweist, in der Tradition der Arbeitsplatzlenkung sozialdisziplinierend in die Berufslaufbahn des Kandidaten einzugreifen. Aktenförmig notiert, kumulieren Klassifizierungen der adminis­ trierenden Behörde hier in einer »verwalteten Biografie« von Subalternen, Hilfesuchenden, anvertrauten Schutzbedürftigen.189 Bis in die frühen 1960er-Jahre häufen sich in der schriftlichen Überlieferung der bundesdeutschen Arbeitsämter derartige Verwaltungsakte fürsorglicher Disziplinierung. Verstärkt von kriegsbedingten diskontinuierlichen Lebensläufen, die von »Flüchtlingsschicksal« und »schwerer Lebenslage« geprägt waren, musste dem jeweiligen »Schützling«, dem »armen Wurm« geholfen werden.190 Offen werden mentale oder psychische Schwierigkeiten der Betroffenen, in späterem Amtsdeutsch »Vermittlungshindernisse«, eingeräumt. Seine oder ihre Anlagen seien unter Umständen »mehr praktisch als theoretisch«. Bei einem anderen Berufsanfänger sei »körperliche und geistige Überforderung« zu vermeiden. Einem »einfachen, frischen Landjungen« wird »gute charakterliche Haltung« attestiert, obgleich seine »allgemeinen Begabungsvoraussetzungen« nur einen »Einsatz auf einfacher Ebene« erlauben. Über eine junge Berufsanfängerin heißt es, durchaus Stereotypen weiblicher Bildungsferne zitierend: »Es ist nicht so, dass sie für das Lernen nicht geeignet wäre, aber wozu soll man einen jungen Menschen mit einer langjährigen Schulausbildung belasten, wenn er mehr Anlage zu den Praktischen [sic] Dingen zeigt.«191 In gewisser Weise unnachgiebig wurden erst recht vermeintlich »Arbeitsscheue« oder »Renten-Neurotiker«, die angaben, aufgrund erlittener Kriegsverletzungen nicht mehr erwerbstätig sein zu können und deren Täuschungslist medizinische Experten in den 1950er-Jahren verbreitet fürchteten, in Arbeit vermittelt, unter Beachtung, »dass die Arbeit ihm körperlich zumutbar« ist, freilich auch, »damit man ihm jede Möglichkeit nimmt, dies als Ausrede zu gebrauchen.«192 189 Zur Definitionsmacht des Aktenförmigen vgl. Brigitte Studer, Biographische Erfassungslogiken. Personenakten im Verwaltungsstaat und in der Geschichtsschreibung, in: Claudia Kaufmann / Walter Leimgruber (Hrsg.), Was Akten bewirken können. Integrations- und Ausschlussprozesse eines Verwaltungsvorgangs / Ce que des Sossiers ­Peuvent Provoquer. Processus d’Intégration et d’Exclusion d’un Acte Administratif, Zürich 2008, S. 139–149; zu biografischen Auswirkungen vgl. die Beiträge in: Elisabeth ­Schilling (Hrsg.), Verwaltete Biografien. Wiesbaden 2018, insbesondere: Mechthild B ­ ereswill /  Patrik Müller: Die administrierte Biografie in der Heimerziehung der 1950er- bis 1970erJahre, in: ebd., S. 3–26. 190 Zitate im Folgenden: LAV NRW R BR 122; LArch Saarbrücken ArbASB 36, 50, 51. 191 LArch NRW R, BR 122, Nr. 200/I, S. 52. 192 LArch Saarbrücken ArbASB 50; zum Rentenneurotiker: Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München 2009, S. 241–243.

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Die Dokumentation der Berufsberatung sowie ihre Überlieferung änderte sich mit den 1970er-Jahren, sodass es schwierig ist, die Entwicklung oder Veränderung der berufsberaterischen Praxis kohärent nachzuweisen, d. h. konkret: ob und inwiefern eine konzeptionell adressierte Abkehr von hierarchischer Berufsund Arbeitsplatzlenkung durch Berufsberater hin zu einer Beratungsformaten »auf Augenhöhe«, wie es die Arbeitsmarktreformen der 1960er-Jahre vorsahen, tatsächlich erfolgt ist. Zeitgenössische sozialwissenschaftliche Studien gehen von einer Versachlichung und insoweit erfolgreich verlaufenden Verberuflichung des Beratungsgeschehens im Verlauf der 1980er-Jahre aus. Tendenziell ist dieser Befund, bei aller Gebundenheit der Studien an soziologische Debatten um die Krise des Berufs nachvollziehbar, aber um weitere Einflussfaktoren, wie hoher Arbeitsbelastung im Zuge der Massenarbeitslosigkeit und vermehrten EDV-Einsatz in Beratungsabläufen, zu ergänzen. In den 1970er-Jahren stellte Manfred Cramer in einer Studie zur Arbeitssituation in der Arbeitsverwaltung die mangelnde Professionalität von Arbeitsvermittlern im Umgang mit Arbeitslosen heraus.193 Großenteils Quereinsteiger und kurzfristig angelernt, würden die von ihm befragten Arbeitsvermittler aufgerieben zwischen den wirtschaftspolitischen Vermittlungsappellen des AFG und den mangelnden Vermittlungsoptionen des Arbeitsmarkts in Folge der steigenden Arbeitslosigkeit. Folge sei teilweise mangelnde Distanz zu den Arbeitslosen und ihren Anliegen und übermäßig emotionales Auftreten, sowohl in aggressiver wie empathischer Form, als präferierte Bewältigungsstrategie auswegloser Beratungssituation. Willkürliche paternalistische Fürsorge gegenüber hilflosen Arbeitslosen wechselte ab mit »Härte« gegenüber Arbeitslosen, die nach subjektiver Einschätzung »sich hinter ihrer Krankheit verstecken«, »schlitzohrig« erscheinen oder sich renitent gegenüber sozialen Abstiegszumutungen zeigen.194 In anderen Studien wurden Befürchtungen laut, die zunehmende Verknappung des Arbeits- und Ausbildungsangebots in den 1970er-Jahren ließe die Arbeitsberatung wieder in Arbeitsplatzlenkung umschlagen.195 Im Rückblick der 1980er-Jahre wird die Personalsituation als »katastrophal« erinnert, auch aufgrund der mangelnden Qualifikation der Arbeitsvermittler: Die »Leute [waren], also jetzt speziell auf der Vermittlereben einfach keine Vermittler«.196 Intern wurden Beschwerden, schlechte Presse und Eindrücke von Abteilungsleitern über die Alltagsarbeit im Arbeitsamt kommuniziert mit dem Appell, obrigkeits193 Vgl. Manfred Cramer, Verwaltete Arbeitslosigkeit – zu den Bewältigungsstrategien von Arbeitsvermittlern, in: Stephan Wolff / Thomas Lau / Sabine Kudera u. a. (Hrsg.), Arbeitssituationen in der öffentlichen Verwaltung, Frankfurt / Main, New York 1979, S. 115–159. 194 Cramer, Verwaltete Arbeitslosigkeit, S. 139, 148. 195 Vgl. Elmar Lange, Zur Wirksamkeit der Berufsberatung. Ein Überblick über den Stand der empirischen Evaluierungsforschung zur Berufsberatung, in: Mitt AB 8 (1979), S. 594‒606, hier: S. 600; Joachim Schaefer, Praxis der beruflichen Beratung, Stuttgart u. a. 1977, S. 9; Helmut Schröder, Die Funktion und Rolle des Berufsberaters. Eine Mehrebenenanalyse bei der Berufsallokation, Nürnberg 1989, S. 236. 196 Bahnmüller / Faust, Das automatisierte Arbeitsamt, Zitat: Interview AAKAV2P1, S. 12.

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staatliche Attitüden durch Höflichkeit zu ersetzen.197 Es gäbe, so eine behördeninterne Stellungnahme aus der Mitte der 1970er-Jahre, eine »Sensibilisierung in der Öffentlichkeit gegen jede Art von tatsächlichem oder vermeintlichem Unrecht, gegen Infragestellung, gegen Behandlung ›von oben‹.«198 Angesichts des veränderten Verhältnisses von Arbeitsplatzangebot und Arbeitslosen müssten es unsere Berater und Vermittler (…) es erst wieder lernen, mit dem Mangel umzugehen und ihrer Klientel Versagung zu bereiten. Doch das darf nicht obrigkeitlich geschehen, vom sicheren Porth [sic] aus, sondern mit ›Sympathie‹, mit Verständnis für die Seelenlage des anderen. Wir stehen vor einer großen Bewährungsprobe der Partnerschaft, des Aufgabenverständnisses, des sozialen Auftrages einer Dienstleistungsorganisation.199

Herablassung, Prahlerei und Arroganz gegenüber Antragstellern werden ebenso kritisiert wie »Formalismus, Schematismus«, die den Arbeitslosen zum »Fall« oder »Untertan« herabstufen.200 Die Verhaltensweisen, die der Verfasser empfiehlt, lassen darauf schließen, wie konfliktbehaftet die Abläufe im Publikumsverkehr des Arbeitsamts waren. Schulung in Höflichkeit allein sei zu wenig. Was herauskommen muß, ist u. a. auch mehr Höflichkeit. Die entscheidenden Ziele sind jedoch: Verbesserung der fremdseelischen Wahrnehmungsfähigkeit (Konfliktwahrnehmung), Verbesserung zur Fähigkeit der Konfliktregulierung (Antihavarie­ training), Techniken des Abbaus von Aggressionspotentialen, Dissonanzreduktion durch Informationszufuhr, Kommunikationstraining, letztlich: Änderung von Einstellungen und Bewertungen und Aufbau einer teilnehmenden Gesinnung für unsere Partner.201

Für die 1980er-Jahre geht die Sekundärliteratur davon aus, dass die Professionalisierung von Arbeitsvermittlern erfolgreich war, d. h. die Ausbildungsreformen der Bundesanstalt Wirkung zeigten.202 Die Beratung und Arbeitsvermittlung in den Arbeitsämtern erfolgte nun überwiegend sachbezogen und fachkompetent. Unter der Maßgabe, die Vermittlungsquoten professionell zu optimieren, stellten sich allerdings Selektionsmechanismen ein, der Nachfrage anfragender Betriebe nach qualifizierten Arbeitskräften entgegenzuarbeiten. Der praktizierten »Bestenvermittlung« fielen diejenigen zum Opfer, die als schwer vermittelbar eingestuft wurden. Neben »Arbeitsunwilligen«, von denen ein Arbeitsvermittler berichtet, er ließe sie »im großen und ganzen in der Kartei«, waren durch selektive Vermittlung 197 Vgl. BArch B 119/5431, Höflichkeit als Verhaltensanforderung für Angehörige des Öffentlichen Dienstes (Vorüberlegungen zum Thema) [undatiert, ca. 1976]. 198 Ebd., S. 1. 199 Ebd. 200 Ebd., S. 2. 201 Ebd., S. 3. 202 Vgl. Wilhelm Eberwein / Jochen Tholen, Die öffentliche Arbeitsvermittlung als politischsozialer Prozeß, Frankfurt / Main, New York 1987; Wilhelm Eberwein / Jochen Tholen, Die Selektivität der öffentlichen Arbeitsvermittlung und Handlungsspielräume der Arbeitsvermittler, in: WSI Mitteilungen 40 (1987), S. 280–289.

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auch arbeitslose Frauen, Teilzeitbeschäftigte, Frührentner, Ausländer, Jugendliche sowie gesundheitlich eingeschränkte Arbeitslose benachteiligt.203 In den frühen 1980er-Jahren waren Hauptvermittler an Fallzahlen gebunden, die den Effekt verstärkten, den »problemlosesten Fall« herauszugreifen, zudem amtsintern geführte »Wettlisten« über erzielte Vermittlungserfolge kompetitiven Druck zwischen den Mitarbeitern und den Abteilungen erzeugten.204 Andere Vermittlungsroutinen bestanden unverändert oder verändert konnotiert fort. Von einem paradigmatischen Wechsel von Beratungspraktiken der Arbeitsvermittlung kann nicht die Rede sein. Die Sekundärliteratur liefert zwar Hinweise darauf, dass einige Berufsberater die Adressierung von Arbeits- und Berufsberatung »auf Augenhöhe« erfüllten und ihre Tätigkeit als eine »mit pädagogisch-psychologischen Elementen durchsetzte Klientenorientierung« begriffen, bis hin zur »Vernachlässigung oder gar Negation volkswirtschaftlicher Zielsetzungen.«205 Gleichzeitig waren andere Berater der Meinung, dass »viele der jugendlichen Klienten regelrecht angeleitet werden müssen, damit sie ihre Berufswahlentscheidung treffen können.«206 Solche paternalistisch-fürsorglichen Einstellungen wurden in anderen Studien aus den 1980er-Jahren unter den Vermittlungstypus des »Sozialarbeiters« rubriziert. Anstatt die Arbeits­ suchenden allerdings erfolgreich in das Arbeitsleben integrieren zu können, sah der Arbeitsvermittler oder die Arbeitsvermittlerin sich mit sozialen und psychischen Problemen der Arbeitslosen überfordert. Sucht- oder Geldprobleme, familiäre Schwierigkeiten, soziale Notlagen der Ratsuchenden, die dem Vermittler vorgetragen wurden, ihn zum »Schuttabladeplatz für allgemeine Lebensgespräche« machten, überforderten letztlich das Beratungssetting des Arbeitsamts.207 Eigene Hilflosigkeit artikulierte sich in indifferenten Beurteilungen der sozialen Situation von Arbeitslosen auch innerhalb des Amts. In Befragungen zu den Auswirkungen des Technikeinsatzes im Arbeitsamt aus dem Jahr 1988 kamen Probleme sozial herausfordernder Beratungssituationen zur Sprache. Ein Dialog zwischen interviewten Arbeitsvermittlern zeigt, dass deren Emotionalität in aussichtslosen Beratungssituationen keineswegs abgenommen hat: »Man muss nicht nur Lösungen anreißen, sondern man muss auch dann Hilfen geben. Und das kann ich schon nicht mehr,« echauffierte sich einer der interviewten Arbeitsvermittler über mangelnde Unterstützungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose mit sozialen Problemen und fährt fort:

203 Zitat: Eberwein / Tholen, Die öffentliche Arbeitsvermittlung als politisch-sozialer Prozeß, S. 95. 204 Berichte der Arbeitsgruppen (Beitrag Bernd Dieckmann, Arbeitsamt Köln), in: DGB / ÖTV, Fachtagung Massenarbeitslosigkeit, S. 156‒178, hier: S. 159. 205 Schröder, Die Funktion und Rolle des Berufsberaters, S. 208. 206 Ebd., S. 187. 207 Zitat: Eberwein / Tholen, Die öffentliche Arbeitsvermittlung als politisch-sozialer Prozeß, S. 113.

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Dazu brauchst du dann wirklich jemanden. nicht nur einen Psychologen, der dem sagt, was er zu tun hat. Sondern da muss jemand kommen, der ihm auch dabei hilft. Denn die meisten (…) die können von sich aus gar nicht mehr. Selbst wenn sie wollen. Selbst wenn die rausgehen und sagen: aha, das ist es, das will ich! Die kommen nach Hause und haben ihre Schulden. Da steht die Flasche wieder auf dem Tisch und die Alte schreit, was weiß ich alles.

An dieser Stelle interveniert sein anwesender Kollege nur »leicht geflüstert«: »das stimmt gar nicht…,« woraufhin der Angesprochene klarstellt: »Ich spreche ja nicht von persönlicher Schuld, ne, das kann man mit Sicherheit in den Fällen nicht sagen. Aber was willste machen, was willste machen?«208 Der hier frustriert monierte mangelnde Handlungsspielraum manifestierte sich auch in Beratungsroutinen, die mit der Redensart »Dienst nach Vorschrift« treffend beschrieben sind. In den 1970er-Jahren als »formalisierter« Arbeitsstil charakterisiert, dürften sie sich in den 1980er-Jahren in Abläufen, die als »bürokratisch« beschrieben werden, manifestiert haben.209 Die Arbeitsweise dieses Beratertypus᾽ sei unauffällig, phlegmatisch und an korrekter Erledigung aller Formalitäten orientiert, so die Literatur. Das fatalistische Abarbeiten von Fallakten unter Verzicht auf eingehende unterstützende Beratung wurde mit Zeitund Arbeitsplatzmangel begründet – und das konstant über die Jahre hinweg. Fasst ein Vermittler in den 1970er-Jahren das Missverhältnis von Vermittlungs­ angeboten und -gesuchen mit den Worten zusammen, »in meiner Abteilung von Vermittlung zu reden, das ist ein Witz«, so beklagt in den 1980er-Jahren eine Hauptvermittlerin: »wegen der vielen Arbeitslosen bleibt nur wenig Zeit für den Einzelnen.«210 Diese Vermittlungszwänge werden in den Folgejahren, bedingt durch anhaltende »Massenabfertigung« von Arbeitslosen über längere Dauer hinweg, zum Regelfall. So gibt ein Ende der 1980er-Jahre befragter Arbeitsvermittler an, zwar gut ausgebildet zu sein, aber weil er »einfach in, ja zeitlich ständig unter Druck« sei »und in zehn Jahren oder fünfzehn Jahren ständiger Hektik verlernt habe zu beraten.«211 Eine verbandspolitisch aktive Berufsberaterin, bei der »so 30, 32, manchmal 34 Beratungen pro Woche bei einer 40 Stunden-Woche (…) keine Seltenheit« waren, kommt zu dem nüchternen Schluss, diese Beratungen würden »diesen Namen eigentlich gar nicht verdienen. (…) jeder, der mit Beratung etwas zu tun hat, sagt, dass das keine Beratung ist. Das ist also Wahnsinn.«212 Auch zentrale Vorgaben an die Berufsberatung werden von ihr kritisch betrachtet, 208 Bahnmüller / Faust, Das automatisierte Arbeitsamt, Interview DAVP2, S. 25. 209 Vgl. Cramer, Verwaltete Arbeitslosigkeit, S. 141; Eberwein / T holen, Die öffentliche Arbeitsvermittlung, S. 117–120. 210 Zitate: Cramer, Verwaltete Arbeitslosigkeit, S. 141; Eberwein / Tholen, Die öffentliche Arbeitsvermittlung, S. 119. 211 Bahnmüller / Faust, Das automatisierte Arbeitsamt, Interview LUBBP2, S. 25. 212 Bahnmüller / Faust, Das automatisierte Arbeitsamt, Interview Frau N., S. 1.

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denn »die sehen Beratung so unter dem Gesichtspunkt Information.«213 Reine Informationsvermittlung ersetzt ihrer Ansicht nach aber keine eingehende Beratung und verlangt insbesondere Jugendlichen vorschnelle Entscheidungssouveränität ab: »(…) der Jugendliche muss wissen, wo er Informationen herkriegt (…) Und dann kriegt er Ausbildungsstellenvorschläge und dann ist die Sache gegessen.«214 Kontinuierlicher Faktor des Beratungsalltags dürften auch Vorurteile von Arbeitsvermittlern gegenüber Arbeitslosen gewesen sein. Gewerkschaftliche Vertreter, Interviewpartner in besagter Studie zum Technikeinsatz, berichten vom Stammtischniveau, mit dem ihre »Arbeitsamtskollegen (…) mal was über ihre Klientel« erzählen: »was da für Sprüche kommen! Ja, die Bekloppten und die Faulen und so, also ich komme mir manchmal wirklich vor wie an der Eckkneipe, wenn da mal richtig Rambazamba gemacht wird.«215 Nicht wenige Fachvermittler reflektierten hingegen ihre Vorurteile und subjektive Auswahlkriterien, wenn es um Fragen nach den Konsequenzen des Technikeinsatzes im Vermittlungsvorgang ging. Nicht aufgrund einer professionelleren Ausbildung setzte eine Reflexion über die Voraussetzungen eigener Auswahltätigkeiten ein, sondern die technikgestützte Vermittlung, d. h. EDV-gestützte Auswahl von Vermittlungskandidaten, verminderte, so die verbreitete Aussage, den informellen Anteil am Vermittlungsvorgang.216 Die Arbeitsvermittlung verlief in gewisser Weise objektiviert. Ressentiments potentieller Arbeitgeber, die rechtlichen Gleichbehandlungsnormen widersprachen (Diskriminierung von Frauen oder Ausländern), waren durch den digital standardisierten Akteneintrag nicht mehr fixierbar. Durch Suchmaskenfunktion waren zudem mehr Arbeitssuchende in die technisch ablaufenden Such- und Auswahlprozesse eingebunden als bei der subjektiven, manuellen Auswahl des Arbeitsvermittlers, wenngleich abhängig von angewandten Suchparametern (Alter, Qualifikation, Region etc.).217 Der Technikeinsatz in der realen Beratungssituation bedeutete in den 1980erJahren, dass Anmelde- und Vermittlungsformulare vom Berater mit Hilfe einer Eingabemaske ausgefüllt wurden. Die Entfremdungserfahrung, die ein solcher Arbeitsvorgang mit sich bringt, wird in den Interviews mit Arbeitsberatern und ihren zeitgenössischen Auswertungen einhellig betont. Überwiegend drehten sich die Argumente der Vermittler um Koordinationsprobleme von Gesprächsund Aktenführung und die Befürchtung, dass sich der Spielraum für subjektive Interaktion (Augenkontakt, nicht sachbezogene Konversation, optischer Ein-

213 Ebd., S. 4. 214 Ebd. 215 Bahnmüller / Faust, Das automatisierte Arbeitsamt, Interview AAKSVP1, S. 12. 216 Bahnmüller / Faust: Das automatisierte Arbeitsamt, S. 174–178. Die Untersuchung wurde von der ÖTV und der Hans-Böckler-Stiftung finanziert. 217 Vgl. Bahnmüller / Faust, Das automatisierte Arbeitsamt, Interview AAKAV2P1, S. 17 f.

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druck) verkleinern würde. Eine Arbeitsvermittlerin vermittelte ein plastisches Bild der in die Beratungssituation intervenierenden Technik: Man kann ja den Ratsuchenden, der vorne sitzt, nicht in so ein Schema zwingen und sagen: Jetzt antwortest Du mir auch der Reihe nach, wie mich der Computer fragt[,] und ich frage dich dann das Weitere. Sondern da kommt einer rein und erzählt uns erst einmal, was er überhaupt will, oder er muß erst mal seinen Frust loslassen, weil er nun zwei Stunden draußen gewartet hat. Bis man dann überhaupt zu den Punkten kommt, die man wissen will, dauert es eine gewisse Zeit. Und der sagt ja auch kreuz und quer Dinge, die der Computer in der Reihenfolge gar nicht haben will. Aber der Computer verlangt nun diese vorgegebene Reihenfolge; diese Zwangsfelder müssen nach und nach ausgefüllt werden, sonst haben wir da ein laufendes Piepvergnügen, eine laufende ›Piepshow‹ im Arbeitsamt. Ja, das ist alles schöne Theorie. Und umgekehrt fallen Punkte raus, die sehr wichtig sind, die aber an die Stelle nicht passen. Die verkneift sich der Zuhörer schon, weil er sagt, jetzt sind sie mir drei Mal über den Mund gefahren, jetzt halte ich lieber meinen Mund und antworte nur noch auf Befragen.218

Trotz aller technischen und berufspolitischen Appelle, Beratung zu verändern und klientenzentriert vorzugehen, ist in der administrativen Praxis davon auszugehen, dass ältere, eignungsdiagnostische und paternalistisch-fürsorgliche Beratungsmodelle nicht einfach verschwanden, sondern in andere Ansätze integriert wurden, abgewandelt, relativiert oder aber auch reaktiviert wurden.219 Von einem radikalen Umschwung in Subjektivierungsmodellen der Arbeitsberatung und Arbeitsvermittlung in den 1970er- oder 1980er-Jahren kann deshalb nicht die Rede sein. Die Spielräume für paternalistische Beratungsoptionen verkleinerten sich jedoch und die Notwendigkeit, bürokratisch-sachlich zu verfahren, vergrößerte sich. Als vorläufiges Subjektivierungsmodell von Arbeitsvermittlung und Berufsberatung in bundesdeutschen Arbeitsämtern könnte man daher standardisierte Subjektivierungen von Beraterinnen und Beratern sowie Beratenden annehmen, die in zunehmend geregelten Verfahren angelegt waren. Wesentlicher Begleitund Einflussfaktor auf die Beratungssituationen waren technische oder personalpolitische Rationalisierungsmaßnahmen, die allerdings das Grundproblem der Arbeitsvermittlung in den 1970er- und 1980er-Jahren eher zum Ausdruck brachten, denn änderten: das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage von Erwerbsarbeit und die Frustrationen bei allen Beteiligten, die diese Diskrepanz nach sich zog.

218 Bahnmüller / Faust, Das automatisierte Arbeitsamt, Interview DAVP 1, S. 18. 219 Vgl. Rainer Bahrenberg / Heiner Koch / Lothar Müller-Kohlenberg, Praxis der beruflichen Beratung, Stuttgart u. a. 22000, S. 88.

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3.2 Ärger auf dem Amt Es blieb nicht bei reinen Unmutsbekundungen. Der Alltag auf dem Amt wurde, so ist es für bundesdeutsche Arbeitsämter für die 1980er-Jahre nachweisbar, aggressiver unter Einsatz tätlicher Gewalt. Innerhalb der Bundesanstalt wurde bereits 1976 der schärfere Tonfall im Publikumsverkehr angemerkt, der »aus vielen Beschwerdebriefen, Presseveröffent­ lichungen, Pressekampagnen, aus vielen Berichten von Ratsuchenden und einigen persönlichen Eindrücken« deutlich hervortreten würde.220 Kunden beklagen sich zunehmend darüber, daß sie beim Arbeitsamt unhöflich behandelt werden. Der Streß, in dem die Mitarbeiter stehen, erklärt allein nicht schon alles. Eine streßbedingte Versachlichung, Verknappung, Direktheit, ja Schroffheit könnten nicht solche Wellen schlagen,

heißt es in der behördeninternen Handreichung weiter.221 In den frühen 1980er-Jahren häuften sich Medienberichte über Sachbeschädigungen und gewalttätige Auseinandersetzungen in Arbeitsämtern.222 Auf die Zentrale der Bundesanstalt in Nürnberg wurde im Januar 1980 ein Bombenanschlag verübt, zu dem sich eine so genannte »Revolutionäre Arbeitslosenzelle« bekannte und der geschätzt eine Million D-Mark Sachschaden verursachte.223 In einem mit einem fünfzackigen Stern und der Unterschrift »Es wird Zeit, daß wir leben« gezeichneten Bekennerschreiben begründeten die angeblichen Urheber ihre Tat damit, die gegenwärtige Arbeitsmarktpolitik der Bundesanstalt, getragen von den Gewerkschaften, unterstütze die Rationalisierungspraxis des Kapitals. (…) Diese Bastion des modernen Sklavenhandels, deren Macht sich vor allem in unserer Vereinzelung und fehlenden Organisierung begründet, haben wir – wenn auch nur mit Sprengstoff – zum Beben gebracht.224

Daneben beklagten die anonymen Briefschreiber überlange Bearbeitungsfristen von Anträgen auf Arbeitslosengeld, Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen sowie die Zunahme von Computerisierung und Anonymisierung der Arbeits220 Vgl. BArch B 119/5431, Höflichkeit als Verhaltensanforderung, S. 1. 221 Vgl. ebd. 222 Vgl. Bernd Klees, Arbeitslosigkeit und Recht. Ein Handbuch zur Gegenwehr. Mit Kommentar des Arbeitsförderungsgesetzes, Mustern und Beispielen, Frankfurt / Main 1984, S. 8 f.; Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974–1983, S. 361. 223 »Arbeitslosenzelle« bekennt sich zu Anschlag, in: Frankfurter Rundschau, 09.01.1980; Bombenanschlag auf Bundesanstalt für Arbeit, in: Süddeutsche Zeitung, 08.01.1980, S. 20. 224 Zitiert nach: »Arbeitslosenzelle« bekennt sich zu Anschlag; laut Artikel der Süddeutschen Zeitung lautet der letzte Absatz des Schreibens: »zum Leben erweckt«; eine weitere Variante des Schreibens, http://www.freilassung.de/div/texte/rz/zorn/Zorn43a.htm, 30.01.2023.

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vermittlung. Die »Revolutionäre Arbeitslosenzelle« gehörte vermutlich zum Netzwerk der linksterroristischen Gruppierung »Revolutionäre Zellen«, die sich nach Festnahme des RAF-Führungskaders 1972 bildete und als lose vernetzte Untergrundorganisation bis in die 1990er-Jahre an die 200 politisch begründete Anschläge verübte.225 Nach eigener Aussage lehnten die »Revolutionären Zellen« die gezielte Tötung von Menschen ab. Der Anschlag auf die Nürnberger Zentrale der Bundesanstalt wurden von der Gruppe selbst in eine Reihe von Aktionen zur Fortsetzung linker Betriebspolitik der frühen 1970er-Jahre gestellt, die sich gegen Gewerkschaften, arbeitspolitische Institutionen oder Unternehmerverbände richteten.226 So wurde von den »Revolutionären Zellen in der IG Metall« zum 1. Mai 1979 der Garten des IG-Metall Vorsitzenden Eugen Lederer mit Teer überzogen und der Mercedes des zweiten Vorsitzenden Hans Mayr neu lackiert. Beiden Gewerkschaftsfunktionären wurde vorgeworfen, nurmehr Arbeitgeberinteressen zu vertreten. Im März 1980 wurde ein Sprengstoffanschlag gegen das Bundesarbeitsgericht in Kassel verübt, als dort über die Rechtmäßigkeit von Aussperrungen im Streikfall verhandelt wurde. Verbindungen der »Revolutionären Zellen« zur Autonomen- und Jobberszene, die Anfang der 1980er-Jahre Arbeitslosengeld zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts nutzten und Arbeitslose versuchten, politisch zu mobilisieren, sind anzunehmen. Wenige Tage nach dem Anschlag auf die Bundeanstalt in Nürnberg sorgte eine anonyme Bombendrohung im Januar 1980 dafür, dass das Dachauer Arbeitsamt für mehrere Stunden geräumt werden musste.227 In mehreren Arbeitsämtern wurden 1981 Mitarbeiter mit Waffengewalt bedroht. Im Arbeitsamt im Frankfurter Westend setzte ein 37-jähriger arbeitsloser Seemann einem Angestellten mit den Worten »Ich will mein Recht« eine Gaspistole an die Schläfe.228 Der Arbeitslose war eigenen Angaben zufolge seit einem dreiviertel Jahr arbeitslos, bezog Arbeitslosenhilfe und wollte endlich wieder einer Beschäftigung. Im Wuppertaler Arbeitsamt nahm ein 26-jähriger arbeitsloser KfZ-Mechaniker einen Sachbearbeiter zur Geisel, indem er ihm eine täuschend echte Spielzeugpistole mit aufgesetztem Schalldämpfer an die Schläfe hielt, um seiner Forderung nach Zahlung von Arbeitslosengeld Nachdruck zu verleihen.229 Seit Dezember des

225 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Im Schatten der RAF: Die Entstehungsgeschichte der ›Revolutionären Zellen‹, in: ders. (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 1, Hamburg 2006, S. 583–603; Johannes Wörle, Erdung durch Netzwerkstruktur? Revolutionäre Zellen in Deutschland, in: Alexander Straßner (Hrsg.), Sozialrevolutionärer Terrorismus. Theorie, Ideologie, Fallbeispiele, Zukunftsszenarien, Wiesbaden 2008, S. 257–273. 226 Vgl. Die Früchte des Zorns. Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora. Kapitel 11, http://www.freilassung.de/div/texte/down/zorn. pdf, 30.01.2023. 227 Bombendrohung gegen Dachauer Arbeitsamt, in: Süddeutsche Zeitung (Bayern), 12./13.01.1980, S. 21. 228 Mit der Pistole um Arbeit nachgesucht, in: Braunschweiger Zeitung, 07.01.1981, S. 3. 229 Arbeitsloser drohte: »Ich erschieße Sie«, in: Braunschweiger Zeitung, 19.02.1981, S. 4.

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vorangegangenen Jahres arbeitslos, befürchtete der Arbeitslose seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber seiner Frau, mit der er in Scheidung lebte, und seinem Kind nicht nachkommen zu können. Bei einem Brandanschlag auf das Arbeitsamt Landau an der Isar wurden zum Jahresende 1982 eine erkleckliche Anzahl von Akten vernichtet.230 Daneben entstand ein Sachschaden von ca. 200.000 D-Mark. Die Täter, zwei 24-jährige Arbeitslose, gaben an, aus Wut darüber, keine Stelle zu finden, eine Glastür eingeschlagen und in den Räumen der Arbeitsvermittlung einen Stuhl angezündet zu haben. Im Arbeitsamt von Eggenfelden (Niederbayern) führte eine Explosion nach Brandstiftung im Dezember 1984 zum Abriss des Behördengebäudes.231 Schließlich berichtete das Manager-Magazin 1986 in einem großangelegten Artikel zu den Rationalisierungsrückständen im Arbeitsamt über den erwähnten Vorfall in Landau an der Isar sowie von Arbeitslosen in Hamburg und Bielefeld, die mehrere Sachbearbeiter verprügelt hätten.232 Von den Aktiven der »Revolutionären Arbeitslosenzelle« abgesehen, denen man »sozialrevolutionäre« Motivation unterstellen könnte und die zum einen mit der linksautonomen Szene, aber auch mit anderen Terroristengruppierungen vernetzt waren, handelte es sich bei den überlieferten Vorfällen um Einzelfallaktionen. Die Anrufung des »revolutionären Subjekts« linksautonomer Mobilisierungskampagnen verhallte weitgehend ungehört. Die Angriffe waren vereinzelte Rebellionen, Akte individueller und zumeist spontaner Auflehnung in der Situation von Arbeitslosigkeit. Sie sind oft entscheidend mitverursacht durch die chaotischen Zustände auf den Ämtern vor Ort. Auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Arbeitsämter beklagten überfüllte Flure, Beschimpfungen von Angestellten, provozierendes Auftreten von Arbeitslosen und tätliche Angriffe.233 Insbesondere in der Leistungsabteilung sei das Aggressionslevel hoch, Scheiben gingen zu Bruch und Mitarbeiter hätten »schon eine Pistole an der Schläfe« gehabt, so Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Arbeitsamts auf einem Forum der Gewerkschaft ÖTV zu den Arbeitsbedingungen auf den Dienststellen 1982.234

230 Brandanschlag auf Arbeitsamt. Akten vernichtet, in: Süddeutsche Zeitung, 1./2.01.1983, S. 27; Brandanschlag auf Arbeitsamt, in: Frankfurter Rundschau, 31.12.1982, S. 9; Arbeitslose gestehen Brandanschlag, in: Süddeutsche Zeitung, 13.01.1983, S. 19. 231 Arbeitsamt fliegt in die Luft, in: Süddeutsche Zeitung, 17.12.1984, S. 16. 232 Ursula Schwarzer: Die Misere wird verwaltet, in: Manager-Magazin 16 (1986), 2, S. 58– 67, hier: S. 58. 233 Vgl. Arbeitsgruppe 1: Ausmaß, Struktur und Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit auf die Beschäftigten in den Arbeitsämtern (Beitrag Helmut Kühmichel: Arbeitsamt Frankfurt), in: DGB / ÖTV, Fachtagung Massenarbeitslosigkeit, S. 32‒56, hier: S. 36. 234 Ebd., S. 46; ähnlich: Arbeitsgruppe 2: Beschränkung der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik und Auswirkungen für die Arbeitnehmer und die Beschäftigten in den Arbeitsämtern (Beitrag Hans-Hermann Kalisch, ÖTV), in: DGB / ÖTV, Fachtagung Massen­arbeitslosigkeit, S. 57‒92, hier: S. 60

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Konflikte und Gewalt unterliefen Appelle nach transparenter und zugewandter Kommunikation. Im Gegenzug zu Konzepten architektonischer Öffnung und beraterischer Zugewandtheit wurden in den Arbeitsämtern Sicherheitsmaßnahmen installiert, die machtpolitisch repressiv und abschreckend wirkten oder allenfalls situativ die Gewaltsituation abschwächten. Polizeistreife oder patrouillierende Sicherheitsdienste, Alarmanlagen, offene Fluchtwege oder Distanzempfehlungen sind bis in die Gegenwart handlungsleitend in der Prävention gewaltbeladener Konflikte im Publikumsverkehr des Arbeitsamts bzw. der Jobcenter. Ein wissenschaftlich distanzierter Blick auf gewaltpräventive bauliche und kommunikative Maßnahmen, der annimmt, dass ihnen die Kriminalisierung von Klienten automatisch eingeschrieben sei, verharmlost allerdings unter Umständen die für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter reale Bedrohungslage.235 Diese war, so man den Aussagen Betroffener aus den frühen 1980er-Jahren Glauben schenkt, durchaus drastisch. Von einem »Kriegszustand zwischen Arbeitslosen und Mitarbeitern in den Arbeitsämtern,« ist die Rede.236 »Krieg im Arbeitsamt« nennt es ein anderer Angestellter und führt ein Beispiel an: Bei einem Vorfall wurde die ganze Misere sichtbar. Ein recht kräftiger Arbeitsloser stürzte sich auf einen Mitarbeiter des Arbeitsamtes und verprügelte ihn. Nachdem dieser bereits zu Boden gegangen war, wurde er noch mit Fußtritten in den Unterleib bedacht. Keiner der recht zahlreichen anwesenden Arbeitslosen half dem Mitarbeiter, nein, das Gegenteil trat ein. Man spendete Beifall und war mit Rufen wie ›Mach ihn alle!‹, ›Gib ihm Saures!‹, ›Hau ihn tot!‹ – dabei, Kollegen, die bei solchen Situationen ihren Kopf aus ihrer Zimmertür steckten, werden dann ebenfalls bedroht. Nach dem Motto: ›Bearbeite unsere Akten, sonst geht’s Dir genauso!‹237

Soziologische Subjekttableaus geben zumeist keinerlei Auskunft über den Stellenwert von Gewaltpraktiken in und für Subjektivierungsprozesse.238 Das erstaunt insgesamt für die an Gewalt nicht arme Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aber selbst im Hinblick auf den hier interessierenden Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Subjektivierung oder auch Subjektivierung in bürokratischen Institutionen, wird Gewaltausübung vor allem als Gewalterfahrung der Staatsmacht, als Unterwerfung problematisiert, in der sich Kriminalisierung von Subjekten 235 So Grimmer über die räumliche Ordnung der Jobcenter. Ihre Beobachtung »wer im Jobcenter arbeitet, lebt gefährlich« bleibt unklar, aber auch folgenlos für die weitere Analyse vgl. Bettina Grimmer, Folgsamkeit herstellen. Eine Ethnographie der Arbeitsvermittlung im Jobcenter, Bielefeld 2018, S. 52; im Zuge aktueller Entwicklungen von Infektionsschutz an Arbeitsplätzen mit Publikumsverkehr wirken auch ihre Beobachtungen distanzierender Beratung anachronistisch. 236 Arbeitsgruppe 2: Beschränkung der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, S. 63 237 Berichte der Arbeitsgruppen (Beitrag Hans-Hermann Kalisch, ÖTV), in: DGB / ÖTV, Fachtagung Massenarbeitslosigkeit, S. 156‒178, hier: S. 164. 238 Vgl. z. B. Reckwitz, der in seiner Theorie moderner Subjektkulturen allenfalls den in Arbeitsverhältnissen konkurrierenden »kämpfenden Angestellten« zulässt vgl. ­Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 352–358.

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abbilden würde und nur im Ausnahmefall als Gewaltakt der bürokratisch geformten Subjekte.239 Um arbeitslose Subjekte aber nicht vorschnell schlicht zu passiven Untertanen übermächtiger sozialer Strukturen und Bedingungen zu machen, stellt sich die Frage nach den arbeitslosen, widerspenstigen, aufrührerischen Subjekten. Wie lassen sich Rebellion und Gewaltakte im bürokratischen Zusammenhang des Arbeitsamts subjektanalytisch bewerten? Die Überforderung des Systems, die Überlastung aller Beteiligten diente sozialhistorischer Literatur zur Erklärung der »Tumulte« in einigen Arbeitsämtern.240 Das Unruhe- und Umsturzpotential, das man Arbeitslosen gern unterstellt und das sie sozial gefährlich macht, bildete sich in den versprengten Einzeltätern der 1980er-Jahre nur bedingt ab, erklärt jedoch zum Teil das Bedrohungspotential ihrer Tätlichkeiten. Für Arbeitslose war, so ein 53 Jahre alter, arbeitsloser Straßenbauer, der 1984 von einem Sozialwissenschaftler interviewt wurde, ein aggressives Auftreten sinnlos, da polizeiliche Disziplinierung unmittelbar folgen würde. »Das würde ja nichts bringen,« antwortet er auf die Frage, ob Arbeitslose mehr protestieren sollten, und er wiederholt: »Das würde gar nichts bringen. Gehen sie mal aufs Arbeitsamt und schlagen sie mit der Faust auf den Tisch. Dann hängen die sich ans Telefon und rufen die Polizei, da werden sie abgeführt. Man darf nicht brutal werden, selbst wenn’s einem zusteht. Das ist eben das traurige hier.«241 Auch verbale Ausfälligkeiten konnten folgenschwer sein. Er sei »schon einmal rausgeschmissen worden beim Arbeitsamt«, da er gesagt habe, »ihr seid doch nur Trantüten da unten«, so ein ebenfalls 1984 befragter arbeitsloser Industriearbeiter, dem, unterhaltspflichtig für drei Kinder, bereits Sperrfristen wegen Fristversäumung auferlegt wurden und der sich mehrfach aufgrund von Terminvergaben und mangelnder Information auf dem Amt benachteiligt sah.242 Per Strafverfolgung und späteren Sicherheitsroutinen schnell eingehegt, gelang den Delinquenten (oder die, die man dafür hielt) nicht einmal ein kurzfristiges »Entwischen« aus ihrer Arbeitslosigkeit oder den Anforderungen von Arbeitsamt oder Arbeitsmarkt. Es blieb ihnen einzig eine kurzfristige Artikulation ihres Unmuts, der historischer Überlieferung Wert ist, da er klarmacht, dass das Arbeitsamt der 1980er-Jahre nicht unbedingt ein friedlicher Ort war, in dem sich Arbeitslose widerspruchslos den Mühlen der Bürokratie unterwarfen.

239 Vgl. hierzu wie erwähnt die Studie von Grimmer; Ausnahme hingegen: Axel Philipps, Proteste und Resistenzen der Erwerbslosen, in: ders. / Daniel Hechler (Hrsg.), Widerstand denken. Foucault und die Grenzen der Macht, Bielefeld 2008, S. 261–275. 240 Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974– 1983, S. 311–363, hier: S. 361. 241 Martin Kronauer / Berthold Vogel / Frank Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft. Arbeitslose und die Dynamik sozialer Ausgrenzung, Interview Nr. U 47, S. 17, SOFIGöttingen, 1986–1989, Version: Originaldatenarchiv, FDZ eLabour. 242 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 59, S. 2.

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3.3 Aushandeln von Interessen Aufgrund der in der bundesdeutschen Arbeitsverwaltung obligatorischen Arbeitsberatung bei Bezug finanzieller Unterstützungsleistungen war der Arbeitsvermittler bzw. die Arbeitsvermittlerin wichtigste Anlaufstelle für den bzw. die Arbeitslose auf dem Amt. Oftmals für die Dauer einer langen Arbeitslosenkarriere waren Arbeitslose dem jeweils zuständigen Arbeitsvermittler zugeteilt. Selbstredend waren und sind Arbeitslose massiv und einseitig von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Arbeitsamts abhängig. Der oder die Angestellte ruft zur Beratung auf – der oder die Arbeitslose muss auf dem Amtsflur warten. Die Angestellten pflegen die Kartei und bieten Arbeit an – Arbeitslose können diese Angebote nur, und dies änderte sich in den 1980er-Jahren drastisch, bedingt ablehnen. Schließlich können Mitarbeiter Sanktionen verhängen  – innerhalb der Amtsräume können Arbeitslose das nur hinnehmen. Das Verhältnis zum Arbeitsvermittler oder zur Arbeitsvermittlerin, ein gutes Auskommen mit ihm oder ihr war für den oder die Arbeitslosen von heraus­ ragender Bedeutung. Das Verhältnis zu den zuständigen Vermittlern oder Sachbearbeitern war womöglich entscheidend für den weiteren Berufsweg. An diesem asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnis änderten auch Appelle an die Professionalität der Mitarbeiter wenig. Wie gezeigt, reichte die Bandbreite der Beratungstypologien auch in den 1980er-Jahren von denen, die sich um ihre »Schützlinge« sorgten, über die sachorientierten Bürokraten und denen, die klientenzentriert berieten bis zu denen, die Arbeitslose herablassend abfertigten. In zeitgenössischen Interviews mit Arbeitslosen sind zwei Wahrnehmungsmuster der Behörde dominant. Zum einen wird das Arbeitsamt personifiziert und in distanzierter, anonymisierter Form als staatliche Handlungsautorität angerufen: »Das Arbeitsamt gibt sich große Mühe«, »das Arbeitsamt hat zu mir gesagt«, »das Arbeitsamt tut so wenig«, »das Arbeitsamt könnte ruhig ein bißchen freundlicher sein«, »das Argument des Arbeitsamtes war« etc.243 Teilweise wurden Arbeitsvermittler und -vermittlerinnen in einem Erzählzusammenhang synonym zum Arbeitsamt gesetzt. »Meine Vermittlerin meinte« war gleichbedeutend mit »das Arbeitsamt will«.244 Die Arbeitsvermittler nahmen eine Art Stellvertreterfunktion für den Arbeitslosen ein. Zum anderen, und das ist das zweite vorherrschende Wahrnehmungsmuster war der Vermittler oder die Vermittlerin eine Art Verhandlungspartner. Die Adres­sierung der »Beratung auf Augenhöhe« in gewisser Weise aufgreifend, wurde ein kooperatives Auskommen mit dem einzelnen, oft namentlich genannten Mitarbeiter im Arbeitsamt gesucht. Auffallend sind die Unterschiede, die zwischen »freundlichen« und »unfreundlichen« Mitarbeitern gemacht werden 243 Zitate: Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interviews Nr. N 1, S. 1; N 44, S. 7; N 74, S. 1; U 19, S. 1; U 32, S. 9. 244 Cramer, Verwaltete Arbeitslosigkeit, S. 126.

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oder Berichte von der Ausnahme des zugewandten Beraters im insgesamt abstoßenden Behördendschungel. Es scheint notwendig, die Orientierung auf dem Amt zu erleichtern und Wege zu finden, die strukturelle Abhängigkeit durch persönliche Interaktion beeinflussen zu können. So beschreibt »Tiger«, wie ihn seine Freunde nennen, ein arbeitsloser Jugend­ licher ohne Schul- und Ausbildungsabschluss, der in Nietenjacke, Cowboystiefeln und umfangreichen Tätowierungen 1984 vor das Mikrofon der Sozialwissenschaftler von der Universität Bremen trat und die ihm aufgrund seines Aussehens »renitente« Wirkung attestierten, seine Erfahrungen mit verschiedenen Mitarbeitern des Arbeitsamts. Für den Jugendlichen war die Unterscheidung zwischen einem älteren, autoritär auftretenden Mitarbeiter und einem jüngeren, umgänglichen wichtig. Tiger hatte sich einmal im Monat auf dem zu Amt melden. Stand er mit seinem älteren Vermittler tendenziell auf Kriegsfuß »son Idiot da der hat gleich rumgeschrien (…) Meldepflicht und so ne?«, gewährte der Jüngere ihm Freiräume: »Und – der (…) schon gesacht, geguckt ›na ja wir ham nix für Sie. (…) Guckense mal in zwei Monaten widder’ nich? ›Brauchen sich – zwischendurch – nich melden nich?«245 In Befragungen des Göttinger SOFI Mitte der 1980er-Jahre standen Erfahrungen der Arbeitslosen auf dem Arbeitsamt nicht im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Der Interviewleitfaden fragt aber in einem Unterpunkt danach, ob das Arbeitsamt bei der Arbeitssuche behilflich war.246 Die Antworten in diesem Fragebereich sind entsprechend der präzisen Frage spärlich und einsilbig. Dies mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass die SOFI-Interviewerinnen und -Interviewer die Erhebungen im Arbeitsamt durchführten und somit von den Arbeitslosen als Teil des Arbeitsamtes wahrgenommen wurden.247 Interviewpartnerinnen und -partner waren Arbeitslose zweier Kleinstädte im Südosten Niedersachsens. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Arbeitsamts und Arbeitslose kannten sich aufgrund der engen kleinstädtischen Sozialbeziehungen. Schilderungen informellen Arrangements mit den Mitarbeitern des Arbeitsamts gingen hier soweit, dass fortgesetztes, berufliches Netzwerken ins Spiel gebracht wurde, um die eigene Arbeitslosigkeit besser in den Griff zu bekommen. Unter Betonung, dass die Arbeitslosigkeit ihr keine Probleme bereite, weist so eine arbeitslose Verkäuferin darauf hin, dass sie »Leute aus dem Arbeitsamt z. T. persönlich [kennt], die waren bei mir noch Kunden. Da ist man immer hilfsbereit, nett und freundlich zu mir, einfach weil ich zu denen auch ein z. T. 245 Peter Alheit / Christian Glaß, Beschädigtes Leben. Soziale Biographien arbeitsloser Jugendlicher. Ein soziologischer Versuch über die »Entdeckung« neuer Fragestellungen, Frankfurt / Main, New York 1986, S. 210. 246 Vgl. Kronauer / Vogel / Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft, S. 259. 247 Z. B.: »der vom Arbeitsamt hat mich zu ihrem Professor gebracht«, »Sie [die Arbeitslose] ist äußerst mißtrauisch und glaubt nicht, daß das SOFI unabhängig vom Arbeitsamt«, beide Zitate: Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview mit einem Arbeitslosen [ohne Nr.], S. 6; Interview Nr. U 29, S. 6.

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kameradschaftliches Verhältnis habe.«248 Einige Arbeitslose erwähnen namentlich einen Sachbearbeiter, nennen wir ihn Herrn Meier, der sich partnerschaftlich seiner Klientel annehmen würde. In Umkehrung einer anzunehmenden Beratungsasymmetrie auf dem Amt zwischen Arbeitsvermittler und Arbeitslosen, schätzen Arbeitslose an diesem Arbeitsvermittler seine Nachsichtigkeit bzw. ihre mehr oder minder begründete Annahme eigener Einflussnahme: »Mit dem Meier komme ich klar«, »Herrn Meier kann ich nur loben«, »der Herr Meier gibt sich wirklich Mühe«, so die verbreiteten Aussagen über den fürsorglichen Arbeitsvermittler, der es auch durchgehen lässt, wenn es um die Ablehnung formal zumutbarer Arbeit geht, für die sich der Betroffene »wirklich zu schade« war.249 Die Bewahrung von subjektiv erfahrener Autonomie in der Beratungssituation scheint den Arbeitslosen erwähnenswert zu sein. Zumal Eingriffe der Verwaltung in die eigene Lebensführung abgewehrt werden mussten. Private und berufliche Angelegenheiten verschwammen. Vormals unter Umständen eher »private« Probleme unterlagen nun anderen Rechtfertigungen und müssen mit dem Arbeitsvermittler ausgehandelt werden. Mit Herrn Meier lief das relativ problemlos. Er drückte auch gegebenenfalls im Härtefall »ein Auge zu«. So als ein Monteur, der über 50 Jahre alt, seit drei Jahren arbeitslos war und seine bettlägerige Mutter pflegte, alkoholisiert zu einem Beratungstermin erschien. Herr Meier »hat gleich gemeint, daß ich eine Fahne hätte«, so der gelernte Bergmann im Interview und fährt fort: »Da hab’ ich ihm gesagt, daß meine Mutter an dem Tag Geburtstag hatte. Da hat der Meier dann ein Auge zugedrückt.«250 In der Erzählung des Arbeitslosen scheint seine Zufriedenheit auf, sich mit der eigenen Chuzpe in der Ämterwelt behauptet zu haben. Eigentlich im Widerspruch zu seinem benebelten Auftritt im Arbeitsamt, schließt er seine Antwort ab: »Aber nee, bei den Ämtern da müssen Sie ein[en] ruhigen und kühlen Kopf bewahren.«251 Die Experteninterviews der SOFI-Studie erlauben es, die Perspektive des erwähnten Beraters, Herrn Meier, einzunehmen, der Dienststellenleiter und Arbeitsberater in einem der Arbeitsämter der beiden untersuchten Kleinstädte war. Das Gespräch mit ihm ist nur als Gedächtnisprotokoll der Wissenschaftler überliefert und auf die Probleme des lokalen Arbeitsamts fokussiert, lässt aber dennoch Rückschlüsse zu auf seine Sicht auf die Arbeitslosen.252 Herr Meier zeichnet ein weitgehend hoffnungsloses Bild des regionalen Arbeitsmarkts, dazumal im Zonenrandgebiet gelegen und von Pleitewellen produzierender Industriebetriebe (Möbel, Textil, Autozulieferer) geprägt. Arbeitslose der Region seien vorwiegend Ältere und gesundheitlich eingeschränkte, so Herr Meier. Und weiter: Ältere, kaum mobile Arbeitslose hätten, auch bei vorhan248 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 106, S. 6. 249 Zitate: Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interviews Nr. U 8, S. 8; U 36, S. 6; N 75, S. 4; U 57, S. 11. 250 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 15, S. 7. 251 Ebd. 252 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Expertengespräch mit dem Leiter der Arbeitsamtsdienststelle.

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dener, fachlicher Qualifikation in der Region kaum eine Chance, Erwerbsarbeit zu finden. Die Nachsichtigkeit des Beraters hing wohl auch mit den schlechten realen Vermittlungsmöglichkeiten für die betreffenden Arbeitslosen zusammen, die er nicht weiter mit Amtsmaßnahmen behelligt wollte, zudem er als Dienststellenleiter keinem unmittelbar Vorgesetzten Rechenschaft ablegen musste. Dennoch bleibt festzuhalten, dass arbeitslose Subjekte in Vermittlungs- und Beratungssituationen im bundesdeutschen Verwaltungssetting versuchten, sich in die Position des Verhandlungspartners zu bringen und ihre Interessen in der Interaktion mit dem Arbeitsberater oder der Arbeitsberaterin zu vertreten. Ein »guter Draht« zum zuständigen Sachbearbeiter eröffnete ein wenig Spielraum, dass zumindest das Vermittlungsgespräch nicht nur passive Autoritätserfahrung war. Soweit rekonstruierbar, hingen die subjektiven Spielräume in den 1980erJahren von den Arbeitsmarktbedingungen ab, und das hieß paradoxerweise: je schlechter die Chancen auf dem Arbeitsmarkt waren, desto höher war die Nachsicht des Vermittlers oder der Vermittlerin.

3.4 Zur Nummer werden: die Ordnung des Wartens Bilder von wartenden Menschen vor Arbeitsämtern oder auf Amtsfluren sind zu Ikonographien von Arbeitslosigkeit und assoziierter gesellschaftlicher Krisensituationen geworden. Die in Warteschlangen anstehenden Menschen vor den Arbeitsnachweisen und Arbeitsämtern der frühen 1930er-Jahre stehen in der Bundesrepublik wie Großbritannien für die ökonomische Katastrophe der Weltwirtschaftskrise und die einhergehende bedrohliche Massenarbeitslosigkeit – im deutschen Fall unter dem Menetekel des aufziehenden Nationalsozialismus. Noch 1979 taugte die »dole queue«, die Warteschlange der vor den britischen Arbeitsämtern für die Auszahlung ihres Stempelgeldes oder Dole Money anstehenden Arbeitslosen, zum berüchtigten, von der Werbeagentur Saatchi & Saatchi entworfenen, Wahlkampfmotiv der Konservativen Partei »Labour isn’t working«. Für die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre ist vor allem das Bild vom mehr oder minder geordneten Warten auf den Amtsfluren präsent, das oft als Hintergrundfolie allmonatlicher statistischer Schreckensmeldungen der steigenden Arbeitslosenkurve in den Medien diente. Als »Warte-Ämter« bezeichnet Britt Schlehahn die städtischen Neubauten von Arbeitsämtern im Deutschen Reich, die um die Jahrhundertwende erstmals als solche konzipiert und gebaut wurden.253 Warten war das wesentliche Dis253 Zum »Warte-Amt«: Britt Schlehahn, Das Arbeitsamt, in: Alexa Geisthövel / Habbo Knoch (Hrsg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt / Main 2005, S. 91–98; das Folgende unter Verwendung von: Wiebke Wiede, Von Zetteln und Apparaten. Subjektivierung in bundesdeutschen und britischen Arbeitsämtern der 1970er- und 1980er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 13 (2016), 3, S. 466–487, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2016/5398, 30.01.2023.

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positiv dieser Amtsgebäude, das sich in räumlichen Strukturen ausprägte und administrative Prozesse vorprägte. Architektonisch waren Warteräume mittig in den Gebäuden situiert, in denen den wartenden Arbeitslosen eingehende Arbeitsmöglichkeiten ausgerufen wurden. Um die Warteräume herum waren Büros, Treppenhäuser, Flure, Ein- und Ausgänge funktional angeordnet. Durch Neu- oder Umorganisation von Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenunterstützung veränderten sich die räumlichen Arrangements auf den Ämtern im Laufe der Jahre, änderten jedoch nichts am bautechnischen Warte-Dispositiv, das auch bestimmend für den Ablauf der Anstaltsbürokratie blieb. In den 1970er- und 1980er-Jahren war der Besuch des Arbeitsamts in der Bundesrepublik für den Arbeitslosen oder die Arbeitslose noch immer vor allem mit Warten verbunden. Sowohl Arbeitsvermittlung als auch der Antrag auf finanzielle Unterstützung in Form von Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe erforderten eine Beratung mit einem Arbeitsvermittler bzw. Sachbearbeiter.254 Die Beratung selbst erfolgte in den frühen 1970er-Jahren im Einzel- oder Großraumbüro in Sitzarrangements, die Zugewandtheit des Beratenden und flache Hierarchien signalisieren sollten. Gleichwohl bestand der Rahmen der bürokratischen Herrschaft des »Beamten im Bureau« (Max Weber) weiter.255 Folge waren Warterituale vor der jeweiligen Bürotür des Zuständigen oder in speziellen Warteräumen oder Wartezonen, oft geregelt durch technische Apparate von Wartenummern-Ausgabeautomat und Nummernanzeige oder Signalton.256 Die Einführung von Terminvereinbarungen für die Beratung von Arbeitssuchenden in den frühen 1970er-Jahren verminderte das Problem nur unwesentlich, vermehrten und verlängerten sich Wartezeiten doch bald infolge der drastisch steigenden Arbeitslosigkeit, auf die Arbeitsämter nicht ausgelegt waren. Das Warte-Dispositiv erhielt ein neues, aggressiveres Gesicht. Lange Wartezeiten und überfüllte Flure prägten das Image des Arbeitsamts in den 1980er-Jahren. Oft, so berichten Mitarbeiter des Arbeitsamts, waren die Flure »so voll, daß da kein Durchkommen mehr« war.257 Von »schlimmen Gängen«, voller »Mief«, »wo die Leute wie Sardinen dann da warten,« berichtet ein Arbeitsvermittler Ende der 1980er-Jahre über die Zustände in einem Arbeitsamt einer westdeutschen Großstadt.258 Er machte sogar Verbesserungsvorschläge für die insgesamt »ganz widerlichen« Verhältnisse auf dem Amt und schlug vor Wartezonen mit Beschäftigungsangeboten (Fernsehen, Musikhören) einzurichten.259 254 Vgl. Maibaum / Beie / Rademacher, Die Praxis der Arbeitsvermittlung. 255 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972, S. 128. 256 Roloff, Strömung des Sozialen, S. 13; Dröner, Insbesondere gegen und für den Schalter in der Arbeitsvermittlung, in: Das neuzeitliche Arbeitsnachweis-Gebäude. Vorschriften / Rechtsfragen / bauliche Gestaltung, Stuttgart 1926, S. 41 f., hier: S. 42. 257 Vgl. Arbeitsgruppe 1: Ausmaß, Struktur und Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit, S. 36 258 Bahnmüller / Faust, Das automatisierte Arbeitsamt, Interview KÖAVGR2, S. 27. 259 Ebd.

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Ebenso urteilte zeitgenössische Sozialkritik. Der Soziologe Rainer Paris kritisierte in essayistischer Form, die Technik des Wartenummern-Ausgabeautomats würde zwar Konfliktpotential von Vordrängeln und Verteilung reduzieren, hingegen zu Vereinzelung und Anonymisierung der Wartenden führen, zumal das Warten im Arbeitsamt nicht durch bequeme Sessel, angebotene Getränke, nur eingeschränkt spannende Lektüre oder andere »Wartegeschenke« angenehm ausgestaltet wurde.260 In den Jobcentern Großbritanniens scheint auf den ersten Blick die »dole queue« der Arbeitslosen abgeschafft zu sein. Die Adressierungen der Innenausstattung, sich freiwillig und selbstständig durch die Jobangebote zu bewegen und der reduzierte, aber auf Effizienz getrimmte Service, suggerierten, dass das Warten im Arbeitsamt sich nicht mehr wesentlich vom Warten an der Supermarktkasse unterscheiden würde. Eine Evaluation des MSC zu Wartezeiten in den Jobcentern von 1983 ergab denn auch, dass das Konzept aufging.261 Abgesehen von einem Jobcenter in Swansea (Wales) wartete man in den untersuchten Jobcentern im Durchschnitt nicht länger als fünf Minuten in der Warteschlange, um Auskunft zu Jobangeboten zu erhalten. Allerdings muss in Rechnung gestellt werden, dass diese intern durchgeführte Umfrage der MSC nicht unbedingt repräsentativ ist. Verfälschungen der Abläufe wie auch der Beobachtungen sind anzunehmen, stand die MSC 1983 doch bereits unter dem ökonomischen Argusblick der Regierung. Selbst im Zusammenhang dieser effizienzkontrollierenden Umfrage wird jedoch betont, dass das Warten nicht gänzlich aus dem Alltag des Arbeitslosen verschwinden sollte. Eine gewisse Betriebsamkeit würde, so die Verwaltungsangestellten des MSC , die Wichtigkeit des Services gegenüber den Ratsuchenden verdeutlichen, denn Arbeitslose würden erwarten, auf dem Amt zu warten: »Managers should not necessarily seek to abolish queues altogether. Jobseekers are prepared to wait  a reasonable amount of time.«262 Vereinzelte Stimmen aus Befragungen des Mass Observation Project bestätigen die naheliegende Annahme, dass Warteschlangen in Jobcentern nicht vermieden werden konnten. Ein 49-jähriger Arbeitsloser aus Chelmsford (Essex) berichtete in den 1990er-Jahren davon, dass er es sich nicht hätte vorstellen können, noch einmal arbeitslos vor dem Jobcenter »in line« zu stehen.263 Vor allem war das Wartegeschehen aus den Jobcentern ausgelagert. Mit der Einrichtung der Jobcenter in den frühen 1970er-Jahren wurde die Auszahlung finanzieller Unterstützung von der Arbeitsvermittlung getrennt. Das obligatorische Anstehen zum »signing on«, dem Beantragen und Beziehen von Arbeitslosengeld, fand also nicht in den Jobcentern, sondern in den Unemployment Be260 Vgl. hierfür: Rainer Paris, Warten auf Amtsfluren, in: ders.: Normale Macht. Soziolo­ gische Essays, Konstanz 2005, S. 193–238, hier: S. 217 f. 261 TNA ET 14/105, MSC , Development and Operation of the Employment Service. Queuing in Jobcentres. 262 Ebd. 263 Mass Observation Project, University of Sussex (künftig MOP), Sx MOA 19/5/2/16, Diaries of 1000 Adult Learners.

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nefit Offices (UBO) statt. Die »dole queues« waren auch für die Arbeitslosigkeit der 1970er- und 1980er-Jahre charakteristisch. Dem Genre der britischen Filmdramen über die soziale Misere Großbritanniens in den 1980er-Jahren dienten sie als eindrückliches Filmmotiv. In Meik Leighs »Meantime« (1983) oder Peter Cattameo »The Full Monty« (1997) war die Warteschlange dramaturgisches Mittel, die verbreitete Erfahrung trostloser Amtsräume »with their plastic seats bolted down to linoleum floors (…) with bad-tempered, harassed staff«, so die Publizistin Polly Toynbee über den Film »The Full Monty«, zu inszenieren.264 Historisch nachweisbar sind die Erfahrungen des Wartens vor den UBOs ambivalent. Assoziiert mit Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung und mit Scham behaftet, wird der »Coming-out«-Effekt des öffentlichen Anstehens in ironischer Brechung erzählt. Ein arbeitsloser Facharbeiter, der Anfang der 1970er-Jahre interviewt wurde, stellte fest, dass die Warteschlange von Arbeitslosen auf dem Amt für ihn eine Art unterstützende Gemeinschaft Gleichgesinnter war. Obwohl er seine Arbeitsstelle aufgrund einer Betriebsschließung verloren hat, sah er sich in seiner Arbeitslosigkeit isoliert. Es beruhigte ihn, als er in der Warteschlange vor dem Amt bekannte Gesichter sah und offensichtlich, im Wortsinn, mit seiner Arbeitslosigkeit nicht alleine dastand: »I saw one lad there this morning. He commented he’d been out of work six months and he’d still not got a job. I didn’t even know he was out of work.«265 Die eigene Handlungsfähigkeit im Wartestatus zu bewahren, war auch Tiger wichtig, dem arbeitslosen deutschen Jugendlichen, der ein selbstbewusstes Verhältnis zu seinen Arbeitsberatern pflegte. Aus Erfahrung und stundenlangem »rumsitzen« vor Büros klug geworden, kommt er nun morgens direkt nach der Öffnung des Arbeitsamts, um seiner Meldepflicht nachzukommen. Das Ritual ist ihm vertraut: »Und – mußte ja so ne Nummer ziehn ja oben die Uhr da. Steht die Zahl drauf ne? Meintwegen ich hab jetzt äh – Hunderteins oder Hundert meintwegen ne? Joa, denn bin ich eben als erster zweiter oder dritter dran ne?«266 Eingeordnet in die amtlichen Abläufe, war nun für Tiger nach zwanzig Minuten der bürokratische Akt erledigt. Martin, ein Anfang der 1980er-Jahre im Rahmen einer regionalen Sozialreportage in Norddeutschland interviewte 24-jähriger Arbeitsloser, der drei Ausbildungen abgebrochen hatte und in der linken Szene aktiv war, haderte auch mit der Warterei auf dem Amt und wählte letztlich erfolglose Ausbruchsszenarien aus der Ordnung des Wartens. Er stellte sich »nicht brav wie die anderen mit meiner Nummer in die Reihe.«267 Beim »Nummernabschiebedienst« machte er 264 Polly Toynbee, The Full Monty on Stage, in: The Guardian, 09.02.2010. 265 Dennis Marsden, Workless. An Exploration of the Social Contract between Society and the Worker, London ²1982, S. 80. 266 Alheit / Glaß, Beschädigtes Leben, S. 224 f. 267 [Ulrich Barr / Christiane Behmann], Ein junger Arbeitsloser berichtet aus seinem Leben (2. Teil). Gespräche mit Martin, Leben in Scene und Arbeitslosigkeit, in: Gezeiten. Archiv regionaler Lebenswelten zwischen Ems und Elbe 1 (1983), 2, S. 58–65, hier: S. 62.

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nicht mit und durchbrach die, nach eigener Schilderung, dramatische Wartesituation mit Selbstinitiative: wenn da zehntausend Leute vor dem Zimmer sitzen, und ich seh, daß der Typ, auf den die Leute warten – daß der mit seiner Buttermilch oder seinem Kakao aus der Kantine kommt, reingeht, sich an seinen Schreibtisch setzt und erst mal frißt. (…) Dann klopfst du an die Tür – ich hab sogar noch angeklopft – dann gehst du rein und siehst den Typ da am Rumschäkern und am Rummachen mit seinen beiden Sekretärinnen. Der sitzt da rum, und draußen sind die ganzen Existenzgestörten und weinen, daß sie keine Arbeit haben.268

Für Martin verbesserte sich die Situation. nach eigener Aussage, durch solche Aktionen nicht. Ganz im Gegenteil: in Konsequenz wurde er »von einem Büro zum anderen geschickt«, zudem er, da er ein als zumutbar definiertes Arbeitsangebot abgelehnt hatte, mit Sperrung seiner Arbeitslosenunterstützung zu kämpfen hatte.269 In der Regel verlief das Warten auf dem Amt aber unspektakulärer und vor allem resignativer. Der Soziologe Siegfried Heinemeier, der in den späten 1980er-Jahren Befragungen von Arbeitslosen im Rahmen eines DFG -Projekts zu »Arbeitslosigkeit und Handlungskompetenz« in Süddeutschland durchführte, beobachtete während eigener Arbeitslosigkeit (nach Auslaufen seines zeitlich befristeten Forschungsprojekts zu Arbeitslosigkeit) in den frühen 1980er-Jahren und teilnehmendem Warten auf dem Amt verschiedene Typen des Wartens, die sich nach den Abteilungen des besuchten großstädtischen Arbeitsamts unterschieden hätten. Warten wurde, laut Heinemeier, bei vorterminierten Besuchen in Beratungs- oder Vermittlungsabteilungen zu alternativen Tätigkeiten jenseits von Warten, zum Beispiel Lesen, Stricken, Kommunikation, genutzt. Passiv und stumm würde in den stark frequentierten Leistungsabteilungen, den Abteilungen zur Regelung der finanziellen Arbeitslosenunterstützung, gewartet.270 Das dortige Diktat der Nummernausgabe bewirkte, dass nur noch eine minimale Abstimmung über den Warteverlauf unter den Wartenden erfolgte, und trotz der Menge der Wartenden wurde die Nummernausgabe nicht dazu genutzt, sich zumindest kurzfristig autonom aus dem Wartesaal zu entfernen. Selbst die in den 1980er-Jahren bereits gängige Walkman-Technik diente, den Aufzeichnungen Heinemeiers nach, nur vereinzelt dazu, das Warten eigensinnig zu gestalten und sich der Technik der Nummerierung womöglich zu entziehen. Arbeitslose beugten sich dem Nummerierungsappell der Warteordnung. Heinemeier vollzieht mit seinen privaten Beobachtungen Ergebnisse seiner Untersuchung »Arbeitslosigkeit und Handlungskompetenz«, durchgeführt an der Universität Erlangen-Nürnberg, nach. Ein 48-jähriger arbeitsloser, kauf268 Ebd., S. 62. 269 Ebd. 270 Siegfried Heinemeier, Zeitstrukturkrisen. Biographische Interviews mit Arbeitslosen, Opladen 1991, S. 162 f.

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männischer Angestellter berichtet im Rahmen dieser Untersuchung über seine Erfahrungen mit der Wartenummer: Ja, und dann holen Sie sich dort a Nummer ab, früh um 7 oder ½ 8 war ich dort, da is des, da is der Raum aber schon so gestopft voll, und dann hab ich – die Nummer weiß ich nimmer, jedenfalls war die dann so – um 11 oder ½ 12 war die an der Reihe, und so lange sitzen Sie halt da drin ne, und – da hängt an der Säule so a Abreißblätterle, und die Nummern, die leuchten dann auf, des ja / eh / mehrere Kabinen drin, und in der melden Sie sich halt dann, und füllen Ihre Belege aus.271

Ähnlich resignativ rekapitulierte ein 25-jähriger arbeitsloser Schlosser, im gleichen Zusammenhang befragt, seine Warteerfahrung: Ich weiß, ich weiß net warum, aber ich kam mir da beschissen vor. Ich kam da, des weiß ich noch, ich kam da morgens rein – dann saß ich da – kriegst da so, so a Nummer da und mußte da warten – ne. Na wartest da ne halbe Stunde, dann wartest a Stunde, na tut sich da nix – mußt doch endlich a Mal dran kommen, ne. Da sitzen vielleicht fünf Leut in dem Zimmer, ne – die sitzen da und warten da – mit dir, ne. Die warten genauso lang – na, nach zwei Stunden endlich geht a Mal die Tür auf, ne. Du bist – wieder net dran, ne. Dann sitzt halt wieder da und denkst ›Na ja jetzt geht’s los‹, ne. ›Jetzt fangen sie endlich an zu arbeiten‹ […] Und mit der Zeit sitzt de dann da – zwei, drei Stunden, ne. Und fragst dich dann – ›Was soll ich denn hier?‹, ne. Sitzt da, da und bietest dich da an – des war so eigentlich mei, mei erster Eindruck, ne. So vom Arbeitsamt dann.272

Wartesituation und Nummerierung veränderten das Selbstverhältnis des Befragten. Die soziale Distanz im Verhältnis zu »denen hinter der Tür« nimmt im Verlauf des Wartens zu, und schließlich wird die eigene Person in aller Passivität als Teil einer Marktsituation assoziiert (»und bietest dich da an«). Das Warten im Amt erscheint als Teil eines Passageritus, der eine Rolle auferlegt: die Rolle des arbeitslosen Subjectums, des arbeitslosen Untertans, der zum Warten verurteilt, sich in seinem Selbstverhältnis anpasst. Das Warten blieb in beiden Ländern zentrale Erfahrung der Arbeitslosen auf dem Amt. In die Warteordnungen auf den Amtsfluren oder den »dole queues« hatten sich die Arbeitslosen einzufügen und taten dies in der Regel. Warten war darüber hinaus eine Zustandsbeschreibung von Arbeitslosigkeit, quasi eine Grunderfahrung von Arbeitslosigkeit. Die zitierten Interviews des Soziologen Siegfried Heinemeier publizierte dieser im Rahmen seiner »Zeitstrukturkrisen« betitelten Studie. Er problematisierte darin den allgemeinen Verlust erwerbsarbeitsbedingter Zeitstrukturen bei Arbeitslosigkeit. Das Übermaß an freier Zeit infolge von Arbeitslosigkeit als psychosoziales Problem zu werten, war ein Leitmotiv wissenschaftlicher Untersuchungen von Arbeitslosigkeit seit der Marienthal-Studie von 1933, an die auch Heinemeier anschloss. Arbeitslosigkeit verändere die Parameter zeitlicher Selbst- und Fremdbestimmung. An die Stelle 271 Zitiert nach: ebd., S. 160. 272 Ebd.

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erwerbsbedingter Zeitbezüge von Stetigkeit, Pünktlichkeit, arbeitsbedingter Zeitkontrolle und Zeitrhythmen, würde die »Arbeitslosenzeit« treten, geprägt von administrativen Fristvorgaben, biographischem Zeitdruck, Entwerfen neuer Zeitpläne bei gleichzeitig unklarem Zukunftshorizont und nicht zuletzt den zeitlichen Abläufen auf dem Amt, denen der Arbeitslose wartend ausgeliefert sei.273 So sehr die soziologischen Annahmen auf den zeitgenössischen Zeitbezügen einer Arbeitsgesellschaft beruhen, die letztlich Zeitbezüge betrieblicher, indus­ triell-fordistisch organisierter Erwerbsarbeit waren, so wird doch die Reichweite des subjektivierenden Wartens im Leben von Arbeitslosen deutlich: in der paradoxen Lage von Anrufung durch Nicht-Anrufung weitgehend fremdbestimmt, wurde Warten für weite Teile des arbeitslosen Alltags, auf dem Amt und jenseits davon, der dominante »Nicht-Handlungsmodus«.

3.5 Im Job Shop: unverbindliche Selbsthilfe Wie Millionen anderer Briten verfolgte Robert, ein ca. 60 Jahre alter Fabrikarbeiter aus Südostengland, am 29. Juli 1981 die Übertragung der Hochzeit von Prinz Charles und Lady Diana Spencer im Fernsehen. Im Rahmen des Mass Observation Projects der Universität Sussex nach dem Ereignis befragt, berichtet er nicht, wie viele andere, von Straßenparties, nationaler Begeisterung oder romantischer Rührung, sondern von einer seiner Meinung nach skandalösen Schnittfolge der BBC: …when the royal couple, were making their way to Waterloo Station, there suddenly appeared a huge sign on one of the shops which read ‒ JOB CENTRE JOBS GALORE. It seemed that when the BBC officials noticed it the camera scene switched back to the Queen still at St. Pauls. (…) This change of scene was done within seconds but no mention of this was made in the newspapers or on TV in the news bulletin.274

Dem schönen Schein des monarchischen Prunks, der, nicht nur laut der Boulevardpresse, einen Moment nationaler Einigkeit in unruhigen Zeiten herstellte, setzte Robert seinen Ingrimm über die mediale Überdeckung sozialer Probleme entgegen.275 Die sozialen Verwerfungen der Massenarbeitslosigkeit waren auch von den Inszenierungen royaler Pracht nur noch schwer zu überdecken. Die Jobcenter, zehn Jahre vorher noch als Speerspitze der Modernisierung gefeiert, repräsentierten in ihrem auffälligen Corporate Design nunmehr symbolisch die Verwerfungen der britischen Gesellschaft der frühen 1980er-Jahre. Es stellt sich die Frage nach der Wahrnehmung der Jobcenter in der breiteren Bevölkerung und insbesondere durch Arbeitslose, nach ihren Erfah273 Ebd., S. 7. 274 MOP, SxMOA2/1/1/1/1/13, Respondents A–K (Summer 1981 Directive)  B38, S. 1 f.; »Robert« ist ein Pseudonym. 275 Vgl. Arthur Marwick, British Society since 1945, London 42003, S. 231.

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rungen im und mit dem Jobcenter und seinen ungezwungenen, modernen Konsumadressierungen. In offiziellen Evaluationen der MSC , durchgeführt vom Psychologischen Service, zur Arbeit der Jobcenter ist deren Modernisierungsanspruch Grundlage der Untersuchungen. Erwartungsgemäß bescheinigen sie den Jobcentern erfolgreiche Arbeit und bestätigen durch Korrekturen im Detail die grundsätzlichen, arbeitsmarktpolitischen Strategien der MSC . So wird die numerisch erfolgreiche Vermittlungsquote der neuen Jobcenter und die Effizienz des Services betont.276 Die skalierungsbasierten Befragungen der MSC ergaben für die moderne Ausstattung der Jobcenter, den Möglichkeiten der Selbstbedienung sowie dem serviceorientierten Auftreten der Servicemitarbeiter jeweils hohe Zustimmungswerte.277 Die methodischen Probleme der Studien liegen auf der Hand und wurden von den durchführenden Wissenschaftlern selbst eingeräumt: Besucher von Jobcentern wurden auf freiwilliger Basis befragt, damit war das Untersuchungssample klar auf »willing user« der Jobcenter beschränkt.278 Auffallend war bei einigen Studien zudem ein hoher Anteil indifferenter Antworten, die »in between«-Kategorien bevorzugten und die Validität der Untersuchungsergebnisse insgesamt einschränkten.279 Untersuchungen mit breiterem Sample bzw. zeitgenössisch ungefilterte Stimmen zeichnen denn auch ein anderes Bild von den Erfahrungen im und mit dem Jobcenter. So ergab eine Umfrage, die 1987 unter Empfängern von Arbeitslosenunterstützung, d. h. Besuchern der UBO’s, durchgeführt wurde, dass zwar 72 Prozent der ca. 6.000 Befragten die Angebote des Jobcenters einmal in vierzehn Tagen nutzen, aber nur 20 Prozent der Meinung waren, dass sie dort ein passendes Jobangebot finden würden.280 Gemäß der verfügbaren Jobangebote waren dies überwiegend Arbeitslose, die neue Beschäftigung im Verkauf, im Büro oder im Fertigungsbereich (Fabrikarbeit) suchten.281 Wenig vertreten waren Arbeitssuchende auf der Managerebene, mit Hochschulabschluss sowie aus dem Sozial- oder Mediensektor, die den Service des PER zu nutzen hatten. Das geringe, um nicht zu sagen: miserable, Jobangebot der Jobcenter war auch Thema des Mass Observation Projects der Universität Sussex im Sommer 1983, das Fragen nach »work, leisure and the enforced leisure of unemployment« stellte.282 Vorgabe des saisonalen Projekt-Fragebogens an die Teilnehmerinnen war 276 TNA ET 2/24, Jobcentres at Work. An Interim Evaluation [1977]. 277 TNA ET 24/17, Jobcentre Evaluation Project. Jobseeker Attitude. Interim Report, 1975; TNA ET 24/204, Idwal Tylor / A nne Owen, Monitoring the Quality of Jobcentre Services 1985. Jobseeker Experience and Attitudes, 1986; TNA ET 24/296, Joyce Henderson, Benefit Claimants looking for Work. What They Do and How They Assess Jobcentres, 1988. 278 TNA ET 24/204, Tylor / Owen, Monitoring the Quality of Jobcentre Services, S. 1. 279 Ebd., S. 22. 280 Vgl. TNA ET 24/296, Henderson, Benefit Claimants, S. 6. 281 TNA ET 24/204, Tylor / Owen, Monitoring the Quality of Jobcentre Services, S. 12; TNA ET 24/296, Henderson, Benefit Claimants, S. 27. 282 Vgl. z. B. MOP, Sx MOA 2/1/12/1/1, Respondents A–K (Summer 1983 Directive) A012.

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unter anderem, die Jobangebote im lokalen Jobcenter zu prüfen. Die Auskunft gebenden Zeitgenossen waren sich in ihren Beobachtungen weitgehend einig. Das Jobangebot der Jobcenter sei eingeschränkt, nicht aktuell und viel zu gering angesichts der Menge von Arbeitslosen.283 Unseriöse Jobangebote in Drückerkolonnen seien ebenso im Angebot der Jobcenter wie veraltete Jobs, so Berichte von Hausfrauen aus Derby und Birmingham.284 Eine Buchhalterin mittleren Alters, im Südosten Londons lebend, mit Joberfahrung als Model, Barkeeper und Telefonistin »would not go to Job Centre by choice.«285 Der Eindruck eines ca. 30 Jahre alten Psychologen von seinem Besuch im Jobcenter in Brighton war generell »a bit sickening.«286 Auch der offiziell aufgrund seiner Effizienz hochgelobte Service der Mitarbeiter des Jobcenters verlor sein glänzendes Image, sofern externe, auf konkreten Erfahrungen von Arbeitslosen beruhende Untersuchungen herangezogen werden können. 1980 führte das Policy Studies Institute im Auftrag der MSC Interviews mit ca. 100 Langzeitarbeitslosen.287 Der Zuschnitt ihrer Untersuchungsfragen zielte einerseits darauf, Zustimmungswerte zur Arbeitsweise der Jobcenter zu evaluieren (»What would you say are the best things about the employment service as a way of finding a job?«), andererseits ablehnende Meinungen einzufangen (»And what would you say are the worst things about it?«). So kamen zwar einerseits hohe affirmative Werte bezüglich der Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der Jobcenter-Mitarbeiter zustande. Andererseits überwogen in der Gegenprobe die negativen Beurteilungen und Kommentare zu ihrem Auftreten und Entgegenkommen. 59 Prozent der Kommentare attestierten dem Personal der Jobcenter »poor attitude«, darunter fiel mangelnde Hilfsbereitschaft (zehn Prozent) und Desinteresse (18 Prozent), aber auch Arroganz, Geringschätzung, Viktimisierung und Vernachlässigung von Arbeitslosen. »You get the impression that you are being talked down to, being treated differently, because you have no work,« wird einer der Kommentare zitiert.288 Von massiven Deprivationserfahrungen berichten andere: »If you are unemployed you are the lowest of the low.«289 Wiederholt wird das Machtgefälle zwischen erwerbstätigen Mitarbeitern und nicht-erwerbstätigen Ratsuchenden problematisiert: »They have got jobs themselves and I don’t think they care« oder »they are in a job and you are not« lauten die einschlägigen Bemerkungen.290 Trotz effektiven Services und kurzen

283 Vgl. z. B.: MOP, Sx MOA 2/1/12/1/1, Respondents A–K (Summer 1983 Directive) A002, A013, B083, B823, B044, B078. 284 MOP, Sx MOA 2/1/12/1/1, Respondents A–K (Summer 1983 Directive), B078, B083. 285 MOP, Sx MOA 2/1/12/1/1, Respondents A–K (Summer 1983 Directive), A002. 286 MOP SXMOA 2/1/12/1/3, Respondents L–Z (Summer 1983 Directive), W976. 287 Vgl. TNA ET 24/145, Sue Hepworth: What do Customers Appreciate in Jobcentre Staff? 1983. 288 Ebd., S. 7. 289 Ebd. 290 Ebd.

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Wartezeiten taucht auch immer wieder das Motiv von serieller Abfertigung auf, des »zur Nummer-werdens« (»treated as a number«) im Verwaltungsakt.291 Forschungsergebnisse des sozialreformerischen Institute for Community Studies gehen in eine ähnliche Richtung.292 Im Vergleich der sozialen Lage britischer und deutscher Arbeitsloser betonten sie die höhere Beratungsbereitschaft der westdeutschen Arbeitsverwaltung gegenüber dem unverbindlichen, britischen Verwaltungssetting. Im untersuchten deutschen Fallbeispiel Saarbrücken würden die Arbeitsvermittler »more time and attention to each client than their British and French counterparts« geben.293 Gleichfalls berichten sie von Beschwerden von Arbeitslosen über das Jobcenter in Bristol Ende der 1970er-Jahre: »Jobcenters are most unhelpful. They do not seem to realise you want a job. They seem to think they have done their duty just by registering you. Their attitude is wrong. I don’t want charity. I want a job.«294 Der eher nachlässige Service der britischen Jobcenter klingt auch in Ratgebern für Arbeitslose der frühen 1980erJahre an, die in ihren Hinweisen zur erfolgreichen Arbeitssuche die Angebote der staatlichen Arbeitsvermittlung vergleichsweise kurz abhandelten: Your interview should last about 20 minutes. You may only get a quick five minutes, with a few brief questions about the kind of work you want. If you feel you have been treated a bit cheaply, you can complain, and ask for proper treatment, but it may not help. (…) It is up to you to keep in constant touch with the Jobcentre. If you assume that they will look after you, nothing will happen.295

Die Verwaltungstechnik des Jobcenters, die Arbeitslose überwiegend bemerkten, war, so lassen sich offizielle Evaluationen und Aussagen Betroffener zusammenfassen, eine Art freundliche Ignoranz. Einem modern apostrophierten Image verpflichtet, das auf Schnelligkeit und konsumtive Selbsttätigkeit setzte, stand das mangelhafte Angebot der »Job-Ware« gegenüber. Das Dienstleistungsversprechen der Jobcenter, selbstständig und ohne viel Aufwand, Arbeitslosigkeit zu verhindern, konnte im Grunde nur ins Leere laufen, d. h. ein Angebot, das nicht vorhanden war, konnte auch nicht erfolgreich verkauft werden. In einer Einrichtung, deren Besuch den Arbeitslosen bei der Jobsuche im Allgemeinen weder nutzte noch schadete, wurde die im Verwaltungssetting angelegte Unverbindlichkeit dominantes Erfahrungsmuster, sofern nicht Vernachlässigung, Arroganz und Geringschätzung der Angestellten die Machtverhältnisse auf dem Amt regelten. Evaluationen der MSC bestätigen die administrative Logik der unverbindlichen Selbsthilfe. Vor allem Arbeitslose mit hoher Eigenmotivation und breitem Aktivitätsradius bei der Arbeitssuche profitierten vom Jobcenter und stuften es als hilfreich ein. Wie bereits erwähnt, beförderten die Selbstbedienungsarran291 Ebd. 292 Vgl. Mitton / Willmott / Willmott, Unemployment, Poverty and Social Policy. 293 Ebd., S. 70. 294 Zit. nach: ebd., S. 69. 295 Guy Dauncey, The Unemployment Handbook, Cambridge 1981, S. 28 f.

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gements der Jobcenter soziale Asymmetrien in der Beratung von Arbeitslosen. Diejenigen, die Vermittlungsprobleme hatten, blieben weiter ohne Beratung und diejenigen, die Anforderungen des Arbeitsmarkts problemlos erfüllten, wussten auch die Selbstbedienung im Jobcenter für sich zu nutzen.296 Anders gesagt: »jobcentres were doing most (…) to help people who were doing most to help themselves.«297 Als »Joke Centre« seien die Jobcenter in Liverpool allgemein bekannt gewesen, »as during the Thatcher era the jobs didn’t exist«, so kommentierte ein gewisser Richard eine BBC-Sendung zum hundertjährigen Jubiläum der britischen Arbeitsverwaltung 2010.298 Ins Humorvolle gewendet, deuten sich Erfahrungen an, staatlichen Verwaltungen ihre Sinnhaftigkeit abzusprechen. In Situationen, die von existentieller Neuorientierung und im Einzelfall sicher auch von Not geprägt waren, wurden Arbeitslose gehalten, sich freiwillig an Amtsritualen zu beteiligen, die keinen Nutzen brachten. Der Versuch, die britische Arbeitsverwaltung mittels Imagepolitiken und ansprechendem Branding aufzupolieren, kann aus Perspektive der Arbeitslosen getrost als misslungen bezeichnet werden. Die darin abgebildeten Subjektivierungstechniken bewegten sich in ihrer Nachsichtigkeit und Unverbindlichkeit weit entfernt von direkter Kontrollmacht. Sie wurden allerdings, wie bereits skizziert, sekundiert von disziplinierenden Maßnahmen der britischen Arbeitsverwaltung auf programmatischer Ebene, wie dem Restart Course Programm, das seit 1986 verpflichtende Beratungsgespräche für Langzeitarbeitslose einführte.299 Bei Versäumnis des Termins bei anhaltender Arbeitslosigkeit drohten finanzielle Sanktionen. Die »institutionelle Demütigung« der Arbeitsverwaltung gegenüber arbeitslosen Subjekten wurde mit der angenehmen Möblierung der Jobcenter nicht abgeschafft, sie wurde nur delegiert an die Sachzwänge des Arbeitsmarkts.300 Abgesichert in disziplinierenden Verwaltungsmaßnahmen, überantworteten die Jobcenter die Aporien des Arbeitsmarkts in freundlich-unverbindlicher Selbstbedienungsrhetorik dem arbeitslosen Subjekt.

296 Dies wird in Evaluationen der Jobcenter auch vermerkt, vgl. TNA ET 24/15, MSC , Vacancy Display for Self-Service, Mai 1975, S. 3, 9. 297 TNA ET 24/175, Tim Edmonds, Job Seeking and Use of Jobcentre Services under Voluntary Registration, 1984, S. 35. 298 Tom Geoghegan, The Jobcentre at 100. BBC News Magazine, http://news.bbc.co.uk/2/hi/ uk_news/magazine/8482812.stm, 30.01.2023. 299 Zum Restart-Programm vgl. King, Actively Seeking Work? S. 172 f. 300 Zur »institutionellen Demütigung« vgl. Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt / Main 2012.

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3.6 Arbeitsmärkte und ihre Grenzen: Verwaltung und Nicht-Verwaltung arbeitsloser Migrantinnen und Migranten 3.6.1 Migrantische Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik: Wenn Arbeit kein Argument mehr ist: das disponible Subjekt Das deutsche Arbeitsamt war für Migrantinnen und Migranten, die sich als so genannte »Gastarbeiter« seit den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik niederließen, ein Erfahrungsraum mit existenzieller, über die Regulierung von Erwerbsarbeit hinausgehender Bedeutung.301 Wurden die Migrantinnen und Migranten über die von der Bundesanstalt mitorganisierten Rekrutierungsverfahren für »Gastarbeit« auf den bundesdeutschen Arbeitsmarkt vermittelt, waren sie bereits in ihren Heimatländern mit den Entscheidungsträgern der Bundesanstalt, die Eignungs- und Auswahlverfahren durchführten, bekannt. Die arbeitsamtliche Begutachtung war so etwas wie eine Initiation ihres Transits in die Bundesrepublik. Im Laufe ihres Aufenthalts und Lebens in der Bundesrepublik blieb das Arbeitsamt eine konstante, disziplinierende Instanz, die im Allgemeinen zuständig für die Erteilung von Arbeitserlaubnissen, nicht nur über den Subjektstatus auf dem Arbeitsmarkt entschied, sondern im Einzelfall über den Aufenthaltsstatus als solchen verfügte. Existenzgrundlage und physische Anwesenheit von Migrantinnen und Migranten auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik standen dann jeweils zur Disposition. Begründet war die zentrale Stellung von Bundesanstalt und ihren nachgeordneten Behörden im Charakter der westdeutschen Zuwanderungspolitik der Nachkriegszeit als »Ausländerpolitik auf der Basis arbeits- und aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen.«302 Als »Gastarbeiter« wurden Migrantinnen und Migranten als »Flexibilitäts-Reserve« des deutschen Arbeitsmarkts der 301 Vgl. Jochen Oltmer, Einführung. Migrationsverhältnisse und Migrationsregime seit dem Zweiten Weltkrieg, in: ders. / A xel Kreienbrink / Carlos Sanz Díaz (Hrsg.), Das ›Gastarbeiter‹-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München 2012, S. 9–22, spez. S. 14; zum Anwerbe- und Auswahlprozess vor Ort: Grazia Prontera, Das Emigrationszentrum in Verona. Anwerbung und Vermittlung italienischer Arbeitskräfte in die Bundesrepublik Deutschland 1955–1975, in: ebd., S. 89–102; Barbara Sonnenberger, Verwaltete Arbeitskraft: die Anwerbung von ›Gastarbeiterinnen‹ und ›Gastarbeitern‹ durch die Arbeitsverwaltung in den 1950er- und 1960er-Jahren, in: Jochen Oltmer (Hrsg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2003, S. S. 145–174; zur Zuständigkeit des Arbeitsamts auch: Maibaum / Beie / Rademacher, Die Praxis der Arbeitsvermittlung, S. 122 f. 302 Ulrich Herbert / Karin Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in

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1950er- und 1960er-Jahre angesehen.303 Subjektanalytisch ist im Grunde nicht von einer Rechtsbeziehung, sondern von einer »Opportunitätsbeziehung« oder auch »Zweckmäßigkeitsbeziehung« zwischen Arbeitsmigranten und dem Staat auszugehen.304 In der Begründung des Ausländergesetzes von 1962 ist dies eindeutig ausformuliert: Fremde Staatsangehörige und Staatenlose stehen zu dem Aufenthaltsstaat nicht in einem Treue- und Rechtsverhältnis mit eigenen Rechten und Pflichten. Ihnen gegenüber handelt der Staat nach Zweckmäßigkeitserwägungen, die nach politischen Zielen ausgerichtet sind.305

Migrantinnen und Migranten waren funktional und punktuell in den deutschen Arbeitsmarkt, nicht in die bundesdeutsche Gesellschaft eingebunden. Damit ist noch nichts gesagt über Subjektivierungsstrategien und -taktiken von Migrantinnen und Migranten oder über ihre Handlungsautonomie, mit der sie Erwerbsarbeit suchten oder ihre Lebensführung gestalteten. Neuere Arbeiten zu Migrationsgeschichte und -problematik, die subjektanalytisch perspektiviert sind, betonen die Eigenmächtigkeit von Migrierenden, die Migrationsregimen trotz eindeutig verteilter Machtasymmetrien nicht einfach ausgeliefert waren, sondern diese mitbestimmten und veränderten, ähnlich der akteurszentrierten Migrationsforschung, die Agency von Migrantinnen und Migranten unterstreicht.306 Kurz- und mittelfristige Strategien von Migrantinnen und Migranten, Arbeit und Lebensunterhalt zu organisieren, beeinflussten Verlauf und Regulierung von Migration. Fragen von Legalität waren bei »irregulärer« Einreise in die Bundesrepublik, vorbei an den offiziellen Anwerbungsinstitutionen, bei »Familiennachzug« oder »Kettenmigration«, bei »irregulärer« Verlängerung von Saisonarbeit bis Anfang der 1970er-Jahre zweitrangig. Auch in informellen Verhandlungen um die Arbeitserlaubnis auf dem Arbeitsamt wurde bis Ende der 1960er-Jahre immer wieder der legale Spielraum der Gesetzgebung ausgenutzt. So war es in Deutschland seit 1945. Bd. 5. 1966–1974. Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2006, S. 781–810, hier: S. 784; dass die Forschung seit längerem betont, dass die »Ausländerpolitik« der Bundesrepublik nicht nur arbeitsmarktpolitisch, sondern auch handels- und außenpolitisch motiviert war, spielt im hier diskutierten, subjektanalytischen Zusammenhang keine Rolle, vgl. hierzu aber: Karen Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001, S. 27. 303 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S. 206 f. 304 Knuth Dohse, Ökonomische Krise und Ausländerrecht, in: Kritische Justiz 9 (1976), S. 233–257, hier: S. 238. 305 Deutscher Bundestag, Drucksache IV/868, 28.12.1962, S. 9, http://dipbt.bundestag.de/ doc/btd/04/008/0400868.pdf, 30.01.2023. 306 Vgl. Serhat Karayakali, Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2008, S. 152, 258; als akteurszen-

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den 1960er-Jahren »gängige Praxis der Ausnahme«, die Arbeitserlaubnis auf dem Amt erst nach der Einreise und Arbeitsaufnahme zu beantragen und, mit Unterstützung der Arbeitgeber, auch zu erlangen.307 Erst im Ausländergesetz von 1965 wurde diese informelle Praxis in den Ländern bundesweit vereinheitlicht.308 Die Amtsroutinen wirkten jedoch weiterhin gegenläufig, woran selbst der Beschluss der Innenministerkonferenz von 1965, keine nachträgliche Legalisierung von Arbeitsaufenthalten von Ausländern zu erwirken, nichts änderte.309 Noch im September 1969 berichtete das Arbeitsamt Marburg (Dienststelle Stadtallendorf), dass in Absprache mit Vertretern des Landratsamts Ausländern, die über Touristenvisum eingereist waren, in Ausnahmefällen eine Arbeitserlaubnis zu erteilen war. Von solchen Ausnahmen abgesehen, verschlechterte sich jedoch im Kontext der steigenden Arbeitslosenzahlen der 1970er- und 1980er-Jahre und mit dem Anwerbestopp der Bundesregierung 1973 die Verhandlungsposition von Migran­tinnen und Migranten auf dem Amt massiv. Die Arbeitslosenquote dieser Erhebungsgruppe lag seit Mitte der 1970er-Jahre über dem Durchschnitt. Die Differenz zur Quote der »Inländer« betrug in den Jahren 1974 bis 1979 durchschnittlich ein Prozent. Zu Beginn der 1980er-Jahre schnellte die Arbeitslosenquote von Migrantinnen und Migranten von fünf Prozent im Jahr 1980 innerhalb von drei Jahren hoch auf beinahe 15 Prozent. Die Differenz zur Durchschnittsquote betrug 1982 bereits 4,4 Prozent.310 »Arbeit« als Argument der staatlichen Anerkennung von Migrantinnen und Migranten als Inländern gleichrangige Subjekte war angesichts der ökonomischen Lage der 1970er- und 1980er-Jahre nachrangig geworden. Die Erklärungen für die überproportionale Arbeitslosig­ keit unter Migranten sind hinreichend bekannt: überdurchschnittlich hohe Beschäftigung in krisenanfälliger Industrie, geringere formale Bildungsqualifikationen sowie mangelnde Deutschkenntnisse. Daneben erschwerte es aber auch

trierte Ansätze z. B.: Clelia Caruso, Befristete Migration und transnationaler Lebensstil. Italienerinnen und Italiener in einer wallonischen Bergbaugemeinde nach 1945, Köln 2019; diese Prämisse von Selbstermächtigung ist allerdings nicht mit der euphemis­ tischen Einschätzung von Lebens- und Arbeitsbedingungen italienischer »Gastarbeiter« bei Volkswagen (günstige Unterkünfte in Dreibettzimmern) von Richter / R ichter zu verwechseln vgl. Hedwig Richter / Ralf Richter, Der Opfer-Plot. Probleme und neue Felder der deutschen Arbeitsmigrationsforschung, in: VfZ 57 (2009), S. 61–97; zu den Machtasymmetrien in Fluchtzusammenhängen vgl. Bettina Severin-Barboutie / Nikola Tietze, Umkämpfte Interaktionen. Flucht als Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 15 (2018), 3, S. 415–430, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2018/5611, 30.01.2023. 307 Karayakali, Gespenster der Migration, S. 139 f. 308 Vgl. Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität, S. 324. 309 Vgl. Karayakali, Gespenster der Migration, S. 141. 310 Angaben nach: Herbert / Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, S. 767 f.; Stefan Bender / Werner Karr, Arbeitslosigkeit von auslän­ dischen Arbeitnehmern, in: Mitt AB 26 (1993), S. 192–206, hier: S. 195.

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der zunehmend legalisierte Arbeits- und Aufenthaltsstatus vielen Migrantinnen und Migranten der erwünschten Erwerbstätigkeit nachgehen zu können.311 Das AFG setzte 1969 im Anschluss an die Durchführungsverordnung des AVAVG von 1959 fest, dass »Arbeitnehmer, die nicht Deutsche im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes sind« zur Aufnahme einer Beschäftigung eine »Erlaubnis der Bundesanstalt« bedürfen.312 In der Novellierung der Arbeitserlaubnisverordnung von 1971 wurde diese Gesetzesvorgabe präzisiert. Die Erteilung einer Arbeitserlaubnis wurde dort von »Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes« abhängig gemacht.313 Vorangegangen waren Dienstanweisungen der Bundesanstalt, die in der Krise der ersten Rezession 1966/67 eine sehr viel härtere Gangart der Arbeitsämter einforderten und Ausweisungsszenarien arbeitsloser Migrantinnen und Migranten in Kauf nahmen.314 So wurden die Ämter im Januar 1967 angewiesen, eine Arbeitserlaubnis bei Bezug von Arbeitslosengeld nicht über den Bezugszeitraum hinaus bzw. längstens bis März 1967 zu verlängern. Der interministerielle Arbeitskreis für Fragen der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer auf Bundesebene intervenierte jedoch mit dem Standpunkt, dass Ausweisungen aufgrund von Arbeitslosigkeit vermieden werden müssten.315 Die ministerielle Arbeitserlaubnisverordnung von 1971 war relativ zurückhaltend angelegt. Dennoch schrieben diverse Bestimmungen zur Beschränkung der Dauer (längstens zwei Jahre) sowie der Geltung (betrieblich, beruflich, geographisch) der Arbeitserlaubnis den disponiblen Subjektstatus von Migranten fort. Etwas komfortabler war die Lage für Migranten, die mit einem deutschen Staatsbürger verheiratet waren oder eine ununterbrochene, unselbstständige Tätigkeit von mindestens fünf Jahren nachweisen konnten. Sie hatten Anrecht auf eine besondere Arbeitserlaubnis mit einer Dauer von fünf Jahren. Letzteres war angelehnt an Aufenthaltsregelungen des Ausländergesetzes von 1965 und bedeutete gegenüber früheren Regelungen eine Verlängerung um zwei Jahre.316 Dann waren Voraussetzungen für eine besondere Arbeitserlaubnis erreicht. Grund311 So ausgerechnet in einer Publikation des IAB: Hans-Uwe Bach / Christian Brinkmann /  Hans Kohler, Zur Arbeitsmarktsituation der Ausländer in der Bundesrepublik, in: ­Mitt AB 20 (1987), S. 277–287, hier: S. 278; vgl. auch Herbert / Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, S. 767. 312 AFG § 19, (1), in: BGBl. I 51/1969, S. 582–632, hier: S. 586; 9.  DV AVAVG § 1, (1), in: BGBl. I 47/1959, S. 689–693; vgl. auch: Ausländerbeschäftigung und Arbeitsmarktpolitik, in: Peter Auer / Gert Bruche / Jürgen Kühl (Hrsg.), Chronik zur Arbeitsmarktpolitik. National 1978–1986. International 1980–1986, Nürnberg 1987, S. 264–267, hier: S. 266. 313 Verordnung über die Arbeitserlaubnis für nichtdeutsche Arbeitnehmer (Arbeitserlaubnisverordnung), 02.03.1971, § 1, in: BGBl. I 17/1971, S. 152–154, hier: S. 152. 314 So Karin Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück …«. Die Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹ in der Bundesrepublik, Göttingen 2005, S. 193 f. 315 Karin Hunn gibt zu bedenken, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass dennoch Ausweisungen stattgefunden haben, vgl. Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück …«, S. 194, Fußnote 24. 316 Ausländergesetz 1965, § 8, (1), in: BGBl. I 19/1965, S. 353–362, hier: S. 354; vgl. hierzu: Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück …«, S. 278 f.

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sätzlich berechtigt für den einjährigen Bezug von Arbeitslosengeld, erhielten Nicht-Deutsche bei längerer Arbeitslosigkeit drei Monate Arbeitslosenhilfe und waren anschließend auf Sozialhilfe angewiesen. Gemäß den Bestimmungen des Ausländergesetzes (§ 10, 1 (10)) drohte ihnen dann die Ausweisung.317 Ausgenommen von der Notwendigkeit einer Arbeitserlaubnis waren seit 1969 Staatsangehörige von Mitgliedsstaaten der EWG, sodass es aufenthaltsrechtlich und arbeitsrechtlich abgestimmte Statusstufen unter den Migrantengruppen in der Bundesrepublik gab. Gesetzliche und amtliche Regelungen der 1970er-Jahre limitierten die Möglichkeiten, eine Arbeitserlaubnis zu erlangen für Migrantinnen und Migranten, die nicht aus EWG -Staaten kamen, d. h. im deutschen »Gastarbeiter«-System vor allem Türken und Jugoslawen sowie bis zur Süderweiterung der EWG 1986 Griechen, Spanier und Portugiesen, beträchtlich. Unmittelbar nach dem Anwerbestopp 1973 wies Arbeitsminister Walter Arendt (SPD) im November 1973 die Bundesanstalt an, »streng zu prüfen, ob eine Erneuerung der Arbeitserlaubnis aufgrund der Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes verantwortet werden kann.«318 Daraufhin erging am 26. November 1973 eine Weisung des Präsidenten der Bundesanstalt Josef Stingl (CSU) an die nachgeordneten Arbeitsämter, sowohl bei erstmaliger als auch bei erneuter Beantragung der Arbeitserlaubnis unter Anlegung eines strengen Maßstabs besonders sorgfältig zu prüfen, ob die Erteilung der Arbeitserlaubnis nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes verantwortet werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, ob Vermittlungsmöglichkeiten für deutsche und ihnen gleichgestellte nichtdeutsche Arbeitnehmer durch die Erteilung der Arbeitserlaubnis beeinträchtigt werden bzw. künftig beeinträchtigt werden können, weil durch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt solche Arbeitnehmer in absehbarer Zeit arbeitslos würden.319

Zukünftig erteilte Arbeitserlaubnisse sollten eine maximale Geltungsdauer von einem Jahr haben und keinesfalls die der Aufenthaltserlaubnis überschreiten und nur für den Bezirk des für die Erteilung zuständigen Arbeitsamts gelten. Die Vorgaben der Arbeitserlaubnisverordnung auf das strengste auslegend, setzte die Bundesanstalt auf oberster Verwaltungsebene ihren harten Kurs der Rezessionsjahre 1966/67 fort. Im November 1974 wurden die Regelungen weiter verschärft. Die Arbeitsämter waren nun angewiesen, das Inländerprimat bei der Erteilung von Arbeits317 Vgl. Klaus Sieveking, Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung für Ausländer, in: Klaus Barwig / K laus Lörcher / Christoph Schumacher (Hrsg.), Soziale Sicherung und Aufenthaltsrecht, Baden-Baden 1986, S. 27–70, hier: S. 47. 318 Zitiert nach: Knuth Dohse, Ökonomische Krise und Ausländerrecht, in: Kritische Justiz 9 (1976), S. 233–257, hier: S. 241. 319 Zitiert nach: Dohse, Ökonomische Krise und Ausländerrecht, S. 241 f.; vgl. auch: Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück …«, S. 333.

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erlaubnissen besonders streng zu beachten.320 Um beschäftigungspolitische Effekte von Familiennachzug steuern zu können, sollte sowohl neu einreisenden als auch bereits in der Bundesrepublik lebenden Migranten, die erstmals eine Beschäftigung aufnehmen wollten, keine Arbeitserlaubnis mehr ausgestellt werden. Ausgenommen hiervon waren Jugendliche, die sich bereits vor Dezember 1974 legal in der Bundesrepublik aufgehalten hatten, sowie Beschäftigte in Branchen mit Arbeitskräftebedarf, der nicht durch Inländer gedeckt werden konnte (Bergbau, Hotel- und Gaststättengewerbe – diese Ausnahmen wurden 1975 per Erlass beseitigt). Bestehende Beschäftigungsverhältnisse von Migranten konnten im Einzelfall durch Nicht-Verlängerung der Arbeitserlaubnis beendet werden. Inwiefern die rigiden Vorgaben Auswirkungen auf die administrative Praxis hatten, lässt sich statistisch schwer bestimmen. Eine dem DGB im Jahr 1974 übermittelte Ablehnungsquote von drei Prozent aller beantragten Arbeitserlaubnisse (oder 44.427 von 1,5 Millionen) lässt vermuten, dass der legislative Spielraum nur zurückhaltend genutzt wurde, was unter Umständen auch dem Einfluss von Arbeitgebern geschuldet war.321 Nachträgliche Legalisierungen irregulärer bzw. illegaler Arbeitsverhältnisse wurden Anfang der 1970er-Jahre kaum noch vorgenommen.322 Einreise per Touristenvisum und nicht-registrierte Erwerbsverhältnisse waren insbesondere in der Baubranche aber weiterhin verbreitet.323 1973 gab es nach DGB -Schätzungen zwischen 100.000 und 200.000 illegal beschäftigte Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik, was einem Anteil von zehn Prozent aller Migrantinnen und Migranten entsprach.324 Arbeitslosigkeit, als ein amtlich verwalteter Vorgang, war für diese undokumentierten Migrantinnen und Migranten keine Option. Ohne Zugang zu Versicherungsleistungen waren sie als Arbeitslose keine politisch artikulationsfähigen Subjekte. Sinkende Anteile von Beschäftigten mit allgemeiner Arbeitserlaubnis und steigende Quoten besonderer, d. h. von der Arbeitsmarktlage unabhängiger Arbeitserlaubnisse im Lauf der 1980er-Jahre deuten auf ein Hineinwachsen erwerbstätiger Migrantinnen und Migranten in weitergehende Arbeitsansprüche hin, aber auch darauf, dass die Chancen nachgereister Familienangehöriger auf eine allgemeine Arbeitserlaubnis gesunken waren.325 Aussagekräftiger für einen Einblick in die Amtspraxis und die Gründe, eine Arbeitserlaubnis zu verweigern, sind gerichtliche Auseinandersetzungen und richterliche Urteile. Einer 19-jährigen türkischen Chemiearbeiterin verlängerte 1974 das Arbeitsamt Montabaur die Arbeitserlaubnis nicht mit der Begründung, 320 Vgl. ebd., S. 347 f.; Herbert / Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, S. 756; Dohse, Ökonomische Krise und Ausländerrecht, S. 242 f. 321 Vgl. Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück …«, S. 348 f. 322 Vgl. Karayakali, Gespenster der Migration, S. 165 f. 323 Vgl. Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück …«, S. 264. 324 Vgl. Karayakali, Gespenster der Migration, S. 97. 325 Vgl. Hans-Uwe Bach / Christian Brinkmann / Hans Kohler, Zur Arbeitsmarktsituation der Ausländer in der Bundesrepublik, in: Mitt AB 20 (1987), S. 277–287, hier: S. 279.

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es stünden »gleich geeignete deutsche Arbeitnehmer« zu Verfügung.326 Das Sozialgericht Koblenz, wo die Geschädigte auf Initiative ihres Arbeitgebers und mit Unterstützung des DGB -Kreises Rhein-Lahn Widerspruch einlegte, wies die Klage ab und bekräftigte die Argumentation des Arbeitsamts. Die Bevorzugung deutscher Arbeitnehmer sei begründet, da »letztlich (…) deutsche Unternehmer und deutsche Arbeitnehmer (…) aus den Trümmern des 2. Weltkrieges in harter Arbeit die Produktionsstätten aufgebaut haben, in denen die ausländischen Arbeitnehmer als Gastarbeiter eine Arbeitsstelle gefunden haben.«327 Eine zunächst vom Landessozialgericht abgewiesene Revision des Urteils wurde vom Bundessozialgericht 1976 wiederum zugelassen. Laut Urteilsbegründung besteht die »Gefahr, daß sich der Erlaß einer solchen Entscheidung ohne Klarstellung der Rechtslage bei nächster Gelegenheit unter gleichen oder ähnlichen Voraussetzungen wiederholt.«328 Das Interesse der Klägerin an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts sei auch deshalb begründet, so die Urteilsbegründung weiter, da »nichts dafür ersichtlich sei, daß für die Klägerin (…) in Zukunft z. B. nur noch die Erteilung einer besonderen Arbeitserlaubnis in Betracht kommen würde.«329 Die Klägerin selbst hatte nach achtmonatiger Arbeitslosigkeit im August 1974 eine Arbeitserlaubnis für eine Tätigkeit in einer Bergbaufirma erhalten. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre waren die Gerichte mit der Frage befasst, inwieweit der Bezug von Arbeitslosenunterstützung eine Arbeitserlaubnis voraussetzt.330 1976 hatte eine 21-jährige Spanierin, die als Verkaufshilfe und Industriehilfskraft gearbeitet hatte und deren Arbeitserlaubnis während des Bezugs von Arbeitslosengeld vom Arbeitsamt Wetzlar nicht verlängert wurde, vor dem Sozialgericht Gießen mit der Klage gegen die darauf folgende Streichung der Arbeitslosenhilfe Erfolg.331 1977 entschied das Bundessozialgericht zugunsten eines Installateurs aus Jugoslawien, dem, nach einem Verkehrsunfall berufsunfähig und arbeitslos, die Arbeitslosenhilfe aufgrund fehlender Arbeitserlaubnis gestrichen wurde.332 Der Kläger war acht Jahre lang beim gleichen Arbeitgeber tätig gewesen, der es versäumt hatte, die Arbeitserlaubnis zu verlängern. Das Bundessozialgericht unterstrich in seiner Urteilsbegründung die rechtliche Unabhängigkeit von Versicherungsleistung und Aufenthaltsstatus: die »Gewährung von Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht«, sei nicht »von einer Ermessenentscheidung

326 Zitiert nach: Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück …«, S. 336 f. 327 Zitiert nach: ebd., S. 337. 328 BSG , Urteil vom 22.01.1976, 7 Rar 107/75, S. 9. 329 BSG , Urteil vom 22.01.1976, 7 Rar 107/75, S. 9. 330 Vgl. Klaus Sieveking, Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung für Ausländer, in: Klaus Barwig / K laus Lörcher / Christoph Schumacher (Hrsg.), Soziale Sicherung und Aufenthaltsrecht. Baden-Baden 1986, S. 27–70, hier: S. 45 f. 331 SG Gießen, Urteil vom 19.01.1971, S-5a Ar 87/75. 332 BSG , Urteil vom 27.01.1977, 12 Rar 83/76.

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(Erteilung oder Nichterteilung einer generellen Arbeitserlaubnis) bei Beginn der Arbeitslosigkeit abhängig zu machen.«333 Der Kommentar zum Urteil des Sozialgerichts Gießen weist auf die rechtsstaatlich zweifelhafte Amtspraxis der Arbeitsämter hin, die arbeitslosen Ausländern im gleichen Maß wie arbeitslosen Inländern zustehende finanzielle Versicherungsleistung aus aufenthaltsrechtlichen Gründen vorzuenthalten: Im Übrigen ist es – an rechtsstaatlichen Grundsätzen gemessen – äußerst bedenklich, wenn die Arbeitsverwaltung es selbst in der Hand hat, mittels der Entscheidung, ob eine Arbeitserlaubnis erteilt wird, gleichzeitig über die Anspruchsvoraussetzungen, aufgrund deren Leistungen zu gewähren sind, selbst bestimmen zu können. (…) Dem willkürlichen Vorgehen der Arbeitsämter gegenüber arbeitslosen Arbeitsemigranten (…) ist damit wenigstens in einem Punkt ein Riegel vorgeschoben worden.334

1981 entschied das Landessozialgericht Hessen, dass einem Elektroingenieur aus Jordanien, der seit 1972 legal in der Bundesrepublik lebte und arbeitete, die Arbeitserlaubnis nicht aus politischen oder aufenthaltsrechtlichen Gründen, z. B. unter Hinweis auf Einwanderungs- und Entwicklungshilfepolitik, verweigert werden dürfe.335 Eine Arbeitserlaubnis sei ihm vielmehr nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarkts für Elektroingenieure befristet zu erteilen. Die Entwicklung der Rechtsprechung zeigt einerseits eine durchaus willkürliche Amtspraxis, die Arbeitserlaubnisse nach amtsfiskalischen oder politischen Gründen erteilte. Andererseits wird die Herausbildung stärker aufenthalts- und sozialrechtlicher Sicherungen für ausländische Migrantinnen und Migranten nachvollziehbar.336 Unsicherer und vorläufiger Rechtsstatus sowie Sprachschwierigkeiten und Beratungsdefizite dürften allerdings auch dazu geführt haben, dass viele Migrantinnen und Migranten ihre Rechte gar nicht kannten und nicht wahrnahmen.337 Verwirrung und Orientierungsschwierigkeiten in Verhandlungssituationen auf dem Amt zeigten sich noch in den 1990er-Jahren. Im Fall des 1969 in der Türkei geborenen Elektrikers M., der 1995 in die Bundesrepublik kam, wird dies deutlich.338 M. war vom Militärdienst in der Türkei desertiert und über den 333 BSG , Urteil vom 27.01.1977, 12 Rar 83/76, S. 10. 334 Berthold Huber, Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 19.01.1976, in: Kritische Justiz 9 (1976), S. 306–311, hier: S. 311. 335 LSG Hessen, 27.05.1981, L1 Ar 168/81 (A). 336 Klaus J. Bade / Michael Bommes, Migration und politische Kultur im ›Nichteinwanderungsland‹, in: Klaus J.  Bade / Rainer Münz (Hrsg.), Migrationsreport 2000: Fakten  – Analysen – Perspektiven, Frankfurt / Main, New York 2000, S. 163–204. 337 So die Vermutung bei: Ulrich Herbert / Karin Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 7. 1982–1989. Bundesrepublik Deutschland. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, Baden-Baden 2005, S. 619–651, hier: S. 625. 338 Vgl. Robert Pütz, Transkulturalität als Praxis. Unternehmer türkischer Herkunft in Berlin, Bielefeld 2004, S. 116–126.

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Aufenthaltstitel seiner türkischen Ehefrau, die in Deutschland aufgewachsen war, eingereist. Ausgebildeter Elektroniker und erfahren in der Computerbranche, fand er einen passenden Arbeitsplatz, erhielt jedoch vom Arbeitsamt dafür keine Arbeitserlaubnis, da deutsche und EG -Bürger Vorrang bei der Besetzung der freien Stelle hätten. Seine Erfahrungen auf dem Amt sieben Jahre später rekapitulierend, ist M. immer noch Irritation anzumerken: Bin zum Arbeitsamt gegangen, habe mich dort beworben. ›Nee, darfst nicht arbeiten. Entweder suchst du Arbeit, bringst du uns die Arbeitsbesch-, die, die Antrag, lässt du Arbeitgeber aufführen,‹ und dann bringe ich bitte Arbeitsamt. Dort entscheiden dann. Also ich habe paar mal so was gefunden und geschickt. ›Nee. Nein, nein, nein!‹ (…) Keine Möglichkeit. Nixdorf, (…) eine Computerfirma (…). Dort habe ich beworben, die sagen ›o.K.‹ die haben gut und das. ›Brauchen wir das und das und das!‹ Ich gehe Arbeitsamt, sage, ›das, das, das?‹ Nichts.339

Die Beratung und Vermittlung von Migrantinnen und Migranten war in besonderer Weise von den sozialen Sortierungsgewohnheiten auf dem Amt geprägt, die vermutlich auch rassistische Untertöne mittransportierten. In den 1970er-Jahren beobachteten Sozialwissenschaftler ritualisierte und schichtabhängige Verfahrensweisen in der Arbeitsvermittlung. Waren Vermittler gegenüber arbeitslosen Akademikern, die man »nicht lange warten lassen kann«, verbindlich und zuvorkommend, wurden arbeitslose Migranten ungefragt geduzt oder verbal paternalistisch bevormundet (»Jetzt gehen wir schön in das Zimmer 118«).340 Eine gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiterin des Arbeitsamts kritisierte Mitte der 1980er-Jahre deutlich, dass die Arbeitslosen in »Klassen« eingeteilt seien. Während besonders qualifizierte Personengruppen spezielle Vermittlungsdienste in Anspruch nehmen könnten, wäre es »auf der anderen Seite« – und damit spricht sie u. a. die Beratungsprobleme bei Migranten an – »noch nicht einmal möglich, auch nur einen Dolmetscher in Arbeitsämtern einzusetzen, geschweige denn, Formulare in den verschiedenen Sprachen aufzulegen.«341 Aufenthalts- und arbeitsrechtliche Regelungen erschwerten für Migrantinnen und Migranten auch den Zugang zu Förderungsmaßnahmen des Arbeitsamts, für die zum einen ein gesicherter aufenthaltsrechtlicher Status notwendig war und zum anderen der voraussichtliche Erfolg der Maßnahme gewährleistet sein sollte.342 Letzterem standen oft nicht hinreichende Sprachkenntnisse im Weg. Unter den 353.100 Teilnehmenden allgemeiner, beruflicher Bildungsmaßnahmen waren 1984 nur ein Bruchteil, nämlich knapp 15.100 Ausländer, davon nur 8.500 aus den ehemaligen Anwerbeländern und davon wiederum nur 3.600 Türken. Für eine in den Jahren 1981 bis 1983 laufenden Modellversuch der Bundesanstalt zur Vorbereitung von Migranten auf den Facharbeiterbrief wurden 339 Zitiert nach: Pütz, Transkulturalität als Praxis, S. 122 f. 340 Cramer, Verwaltete Arbeitslosigkeit, S. 129. 341 Diskussion der Berichte (Beitrag Lioba Heitz-Safer, Arbeitsamt Mannheim), in: DGB / ÖTV: Fachtagung Massenarbeitslosigkeit, S. 179‒197, hier: S. 192. 342 Vgl. Sieveking, Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung für Ausländer, S. 35, 41.

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aufgrund der sprachlichen und fachtheoretischen Anforderungen von 700 Bewerbern nur 150 als geeignet eingestuft und 92 eingestellt.343 Ziel der Maßnahmen der Bundesanstalt war, im Einklang mit dem beruflichen Leitkonzept bundesdeutscher Arbeitsmarktpolitik, eine berufliche Erst- oder Weiterqualifikation. Mit den Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und sozialen Eingliederung junger Ausländer (MBSE) wurden seit 1979 Jugendlichen Berufsausbildungsbeihilfe gewährt sowie ein selbstständiger Anspruch auf eine besondere Arbeitserlaubnis nach Beendigung der Maßnahme in Aussicht gestellt. Über den Erfolg der Maßnahme lässt sich anhand publizierten Materials nichts sagen. Die offizielle Verbleibstatistik der Bundesanstalt ist mit einem mehr als 40-prozentigem Anteil der Kategorie »sonstiger Verbleib« nicht aussagekräftig.344 Der größte Teil der Jugendlichen verharrte wohl in Anlerntätigkeiten oder wurde arbeitslos.345 Zuwanderung wurde in den 1980er-Jahren zunehmend eine Angelegenheit von Asylpolitik und hing nicht mehr direkt mit der Anwerbung von Arbeitskräften zusammen. Die Gesamtzahl der Asylbewerber hatte sich seit 1977 bis 1990 mit Schwankungen mehr als verzehnfacht (von 16.410 auf 193.063).346 Infolge verschärfter asylrechtlicher Bestimmungen wurde amtlich festgestellte Arbeitslosigkeit, erst recht das Anrecht auf finanzielle Unterstützung im Fall von Arbeitslosigkeit, im Lauf der 1980er-Jahre für diese Migrationskohorte mehr und mehr zu einem Privileg. Diejenigen unter ihnen, die eine Asylberechtigung erlangt hatten, waren berechtigt für eine besondere, keinen weiteren Beschränkungen unterliegenden Arbeitserlaubnis. Zuverlässige Angaben über Anerkennungsquoten schwanken zwischen elf Prozent (1987) und 17  Prozent (1988), lassen aber dennoch den überwiegenden Teil der Asylsuchenden im Status der Asylbewerber ohne Arbeitserlaubnis verharren.347 Diese wurden seit 1980 mit einer sukzessive verlängerten Wartefrist belegt, bis eine allgemeine, arbeitsmarktabhängige Arbeitserlaubnis erteilt werden konnte.348 Betrug diese Wartefrist bzw. das damit verbundene Arbeitsverbot 1980 ein Jahr und im September 1981 zwei Jahre, war seit 1987 mit einer fünfjährigen Wartezeit auf eine allgemeine Arbeitserlaubnis zu rechnen, die jedoch, arbeitsmarktabhängig wie sie war, »auch nach Ablauf der Wartezeit grundsätz343 Vgl. Peter König, Berufsvorbereitende und berufliche Bildungsmaßnahmen für Ausländer, Bonn 1985, S. 163. 344 Vgl. Franz Schanda / Hildegard Happach-Kaiser, Integration ausländischer Jugendlicher durch MBSE , in: Mitt AB 16 (1983), S. 252–261, hier: S. 258. 345 Vgl. König, Berufsvorbereitende und berufliche Bildungsmaßnahmen, S. 190. 346 Vgl. Ulrike Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung und Alternativen, Wiesbaden 1992, S. 224. 347 Angaben für 1987 nach: Bach / Brinkmann / Kohler, Zur Arbeitsmarktsituation der Ausländer in der Bundesrepublik, S. 281; für 1988 nach: Ulrike Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung und Alternativen, Wiesbaden 1992, S. 149. 348 Vgl. Herbert / Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern. Bd. 7. 1982–1989, S. 641 f.; Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 95 f.

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lich an dem Vorrang der Deutschen und der privilegierten ausländischen Arbeitnehmer scheitert[e].«349 Die Arbeitslosigkeit von Asylbewerbern war gewissermaßen staatlich verordnet. Freilich fand sie an anderen Orten statt als auf dem Arbeitsamt. In Sammelunterkünften einquartiert, wurden Asylbewerber »über Jahre hinweg zum Müßiggang gezwungen (…) der deutschen Öffentlichkeit als Nichtstuer und Schmarotzer präsentiert.«350 3.6.2 Postkoloniale Marktliberalität in Großbritannien: Zwangslagen an der Peripherie Während des langen politischen Abschieds vom Empire in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Überlegungen, wer ein britischer Staatsbürger war oder sein sollte bzw. wie sich die britische Nation definieren sollte, von außenpolitischer Interessenwahrung und postkolonialen Zentralisierungsbemühungen der Londoner Metropole bestimmt.351 Britische Gesetzgebung, die Migrationsfragen berührte, kreiste zuvorderst um die juristische Einstufung und politische Anerkennung von Migrantinnen und Migranten aus dem Commonwealth als »subjects« oder »citizens«. Im British Nationality Act von 1948 erhielten alle Einwohner Großbritanniens gemeinsam mit Einwohnern ehemaliger Kolonien, nicht zuletzt Soldaten, die in den britischen Streitkräften gekämpft hatten, den Status des »British Subject« der identisch war mit dem des »Commonwealth Citizen«. Von Migrantengruppen der ehemaligen Kolonien zur Niederlassung im Vereinigten Königreich genutzt, wurde das Anrecht auf Staatsbürgerschaft in den folgenden British Nationality Acts (1958, 1964, 1965, 1981) sowie den Commonwealth Immigrants Acts (1962, 1968 sowie Immigrants Act 1971) sukzessive verengt. Erst im British Nationality Act von 1981 wurde eine territorial auf das Vereinigte Königreich beschränkte, britische Staatsbürgerschaft und im Gegenzug eine eigene »Citizen«-Kategorie für Angehörige der »Dependent Territories« eingeführt.352 Die seit 1962 bestehende Klassifizierung der Einwohner Großbritanniens und der verbliebenen Kolonien als »Citizens of the United Kingdom and Colonies« wurde damit abgeschafft. Es gilt deshalb einerseits die Feststellung Randall Hansens: »The United Kingdom differs notably from Germany in that most of its non-white immigrants are citizens, whereas the acquisition of German citizenship by migrants has been the 349 So im Kommentar des Gesetzes zur Änderung asylverfahrensrechtlicher, arbeitserlaubnisrechtlicher und ausländerrechtlicher Vorschriften von 1987, zitiert nach: Bach / Brinkmann / Kohler: Zur Arbeitsmarktsituation der Ausländer in der Bundesrepublik, S. 281. 350 Herbert / Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern. Bd. 7. 1982–1989, S. 640. 351 Vgl. Kathleen Paul, Whitewashing Britain. Race and Citizenship in the Postwar Era, Ithaca, London 1997, S. 16. 352 Vgl. Randall Hansen, Citizenship and Immigration in Post-War Britain. The Institutional Origins of a Multicultural Nation, Oxford 2000, S. 207–221.

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exception rather than the norm.«353 Andererseits war der Citizen-Status für den Subjektstatus von Migranten auf dem britischen Arbeitsmarkt eher zweitrangig. In den Nachkriegsjahren reisten Arbeitsmigranten aus Europa und Irland über verschiedene Anwerbe- und Kontraktsysteme in das Vereinigte Königreich ein, unbenommen von der Debatte um Commonwealth Citizens.354 Die Grenzen zwischen »legaler« und »illegaler« Migration, deren Konstruktionscharakter von den Governmentality Studies für Migrationsprozesse des 21. Jahrhunderts immer wieder betont wird, wurden dabei seitens der britischen Regierung erst sukzessive und kurzfristig eingezogen.355 Größte Migrantengruppe waren traditionell Iren, die, staatsbürgerlich gesondert kategorisiert, in der Industrie und, vor allem Frauen, im Dienstleistungssektor Erwerbsarbeit fanden. Teilweise über bilaterale Anwerbeabkommen wurden italienische Arbeitskräfte für Bergbauund Montanindustrie rekrutiert. Rund 200.000 Arbeitserlaubnisse wurden 1946 bis 1951 an »Aliens«, die gerade keinen Citizen-Status hatten, vergeben. Erst seit den 1960er-Jahren wurde undokumentierte Migration in das Vereinigte Königreich als »illegale« Migration bezeichnet und bis 1968 zwar abgewehrt, aber nicht strafrechtlich verfolgt.356 Für die Arbeitsmarktchancen von Migranten war es bis in die 1970er-Jahre unwichtig, ob sie dokumentiert oder undokumentiert nach Großbritannien eingereist waren, über einen Arbeitskontrakt angeworben, um Asyl nachsuchend oder Lohnarbeit »irregulär« organisierend (Vortäuschung von Studenten-, Touristenstatus, Scheinehe). Entscheidend war ihre marktgerechte und flexible Arbeitsbereitschaft. Insbesondere Anfang der 1980er-Jahre, im Zuge expandierender, aber kostengünstig kalkulierter Dienstleistungstätigkeiten in Privathaushalten, Hotellerie und Gastronomie im Raum London und Südengland, war es für undokumentierte Migrantinnen aus Südamerika oder Südostasien (Kolumbien oder Philippinen) leicht, eine, unter dem regulären Lohnniveau liegende Erwerbstätigkeit zu finden sowie ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien in ihren Herkunftsländern zu sichern.357 Bezug von Arbeitslosengeld stand ihnen nicht zu. Dies galt aber auch für dokumentiert eingereiste Inhaber einer Arbeitserlaubnis, da diese nicht unbedingt bedeutete, gemäß der Richt-

353 Hansen, Citizenship and Immigration in Post-War Britain, S. 3. 354 Vgl. hierzu: Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität, S. 40–42. 355 Vgl. William Walters, Imagined migration world. The European Union’s Anti-Illegal Immigration Discourse, in: Martin Geiger / A ntoine Pécoud, (Hrsg.), The Politics of International Migration Management, Basingstoke 2010, S. 73–95. 356 Vgl. Franck Düvell / Bill Jordan, Documented and Undocumented Immigrant Workers in the UK : Changing Environments and Shifting Strategies, in: Franck Düvell (Hrsg.), Illegal Immigration in Europe. Beyond Control?, Basingstoke 2006, S. 48–74, hier: S. 35. 357 Vgl. Nony Ardill / Nigel Cross, Undocumented Lives. Britain’s Unauthorized Migrant Workers, London 1987, S. 41–43.

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linien zum Bezug von Arbeitslosenunterstützung, für »Erwerbsarbeit verfügbar« zu sein (»being available to work«).358 Im Problemfeld, wie Arbeitslosigkeit von Migranten in Großbritannien debattiert wurde, wird die Frage nach der Akzeptanz schwarzer Migrantinnen und Migranten des New Commonwealth (also vorwiegend aus der Karibik oder vom indischen Subkontinent) in der ehemaligen kolonialen Zentrale unvermeidlich. Denn die verhältnismäßig liberale Politik Großbritanniens gegenüber seinen »postkolonialen Subjekten« in den 1950er- und den frühen 1960er-Jahren wurde weitgehend überformt von kulturellen und sozialen Vorbehalten in Politik und weiten Teilen der Bevölkerung. Schwarze Migranten waren weder politisch noch sozial begründet erwünscht – und sei es als funktionales Arbeitskräftereservoir.359 Die »open doors«-Politik der Nachkriegszeit hatte eine politische und gesellschaftlich wirksame exkludierende Kehrseite in der Wahrnehmung und Problematisierung von Einwanderung als »Rassenfrage« bzw. »Colour Problem«.360 Der Vorwurf an schwarze Migranten, steigende Arbeitslosenzahlen zu verantworten, war bereits in den frühen 1960er-Jahren gängiger und zentraler Topos, obgleich Schwarze häufig Beschäftigung in verarbeitender Industrie und Transportwesen in den Midlands und im Südosten Englands fanden.361 Potentielle jamaikanische Auswanderer wurden bereits in den späten 1950er-Jahren im Informationsmaterial des Colonial Office nicht nur darüber aufgeklärt, an warme Kleidung zu denken (»it’s cold in England, take warm clothes«), sondern auch darüber, dass es in ihrem Zielland Arbeitslosigkeit gäbe (»there is unemployment in England«) und sie vor ihrer Abreise sicherstellen sollten, eine Erwerbsmöglichkeit in England zu haben (»make sure there is a job before you go«).362 Berichte in englischen Zeitungen der frühen 1960er-Jahre über Einwanderer, die zum Wachstum von Arbeitslosenzahlen übermäßig beitragen würden, bereiteten den Commonwealth Immigrants Act von 1962 medial vor.363 In den Race Relations Acts von 1965, 1968 und 1976 sowie der dann erfolgten Einsetzung der Commission for Racial Equality spiegelt sich die Notwendigkeit, rassistisch motivierten Diskriminierungen vorzubeugen. Die höhere Sichtbarkeit rassistischer Diskriminierung von Migranten in Großbritannien im Vergleich 358 Vgl. Beth Lakhani / Jim Read / Penny Wood u. a., National Welfare Benefits Handbook, London 1989, S. 79. 359 Vgl. Hansen, Citizenship and Immigration in Post-War Britain, S. 4. 360 Vgl. Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität, S. 27 f., S. 39–81, passim.; John Turner, Governors, governance, and governed: British Politics since 1945, in: ­Kathleen Burk (Hrsg.), The British Isles since 1945, Oxford 2009, S. 19–61, hier: S. 51; Paul, W ­ hitewashing Britain, passim.; dagegen: Hansen, Citizenship and Immigration in Post-War Britain, S. 248. 361 Vgl. TNA ET 16/3, Employment, Unemployment and the Black Population, August 1981. Hrsg. v. Runnymede Trust, S. 8. 362 Abgedruckt in: Paul, Whitewashing Britain, S. 160. 363 TNA DO 175/64, »Pakistanis swell numbers of Jobless«, in: Yorkshire Post, Februar 1962, »More Jobless immigrants. Figures doubled«, in: Daily Telegraph, Februar 1962.

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zur Bundesrepublik hängt vor allem an diesen legislativen Gegebenheiten, die Beschwerden und Evaluationen nach sich zogen. Seit dem von der konservativen Regierung eingesetzten Commonwealth Immigrants Act von 1962 war die Niederlassung von Migrantinnen und Migranten aus dem Commonwealth, die über kein im Vereinigten Königreich ausgestelltes Ausweispapier verfügten, wie bei anderen Migrantengruppen an eine Arbeitserlaubnis (employment / labour voucher, seit 1971: work permit) gebunden, die nach Qualifikation dreistufig gestaffelt, und quantitativ limitiert war.364 Die Gesetzgebung und die Ausgabepolitik von Labour Vouchers war einerseits immer noch als liberal einzustufen mit großzügigen Bemessungsgrenzen von 30.000 bis 40.000 Migranten pro Qualifikationsstufe und Jahr sowie erlaubtem Familiennachzug.365 Andererseits indizieren moderat sinkende Migrantenzahlen seit Einführung der Immigrationsbeschränkungen abschreckende Effekte.366 Durch das qualifikatorische System der Arbeitserlaubnis war Einwanderung lose an die Anforderung des britischen Arbeitsmarkts gekoppelt, allerdings nicht an verfügbaren Arbeitsplätzen orientiert, sondern an einer allgemeinen Beurteilung der Aufnahmefähigkeit des Landes.367 Trotz oder gerade wegen dieses vorgeblich neutralen Kriteriums der Qualifikation galt das Verfahren als sozial diskriminierend, da Angehörige des »alten Commonwealth« weißer Hautfarbe aufgrund höherer Qualifikation bevorzugt Aufnahme finden würden oder wie es in einem Memorandum des britischen Innenministeriums hieß: Wir müssen anerkennen, daß  – obwohl das Verfahren vorgibt, sich nur auf die Beschäftigung zu beziehen und nicht-diskriminierend zu sein – sein vorrangiges Ziel ein soziales ist und sein restriktiver Effekt sich tatsächlich fast ausschließlich auf Schwarze auswirken soll und wird.368

Mit der strukturellen Arbeitslosigkeit der 1970er-Jahre nahm die Arbeitslosigkeit unter Migranten des New Commonwealth bzw. PoC migrantischer Herkunft tatsächlich überproportional zu, nachdem lange die allgemeine Arbeitslosigkeit schneller angestiegen war.369 1978 lag die Arbeitslosenquote für Schwarze, im Vereinigten Königreich geboren, nahezu um ein dreifaches (elf Prozent) über der von weißen Briten (vier bis sechs Prozent) und über der überdurchschnitt­lichen Quote schwarzer Migranten (sieben Prozent).370 Die Gründe dafür wurden, ähnlich wie im deutschen Fall, in der schlechteren Qualifikation der Migrantengruppen gesehen sowie in rassistischer Diskriminierung bei Einstellung und Be364 Vgl. Hansen, Citizenship and Immigration in Post-War Britain, S. 100–124; Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität, S. 151–153. 365 Vgl. Hansen, Citizenship and Immigration in Post-War Britain, S. 119. 366 Sinkende Zahlen laut: Hansen, Citizenship and Immigration in Post-War Britain, S. 265 f. 367 Vgl. Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität, S. 152. 368 Zitiert nach: ebd., S. 152; vgl. auch: Paul, Whitewashing Britain, S. 170–177. 369 Vgl. TNA ET 16/3, Employment, Unemployment and the Black Population, August 1981. Hrsg. v. Runnymede Trust, S. 5. 370 Vgl. ebd., S. 8.

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schäftigung, was auf die entscheidende und unabänderliche Akzeptanzschranke postkolonialer Subjekte auf dem britischen Arbeitsmarkt hinweist: »Being Asian or West Indian in itself leads to a higher risk of unemployment.«371 Eine liberale »open doors«-Haltung, die faktisch und in realen Arbeitsmarktzusammenhängen aber rassistisch diskriminierend wirkte, kennzeichnet auch den Zugang von Migrantinnen und Migranten zu Versicherungs- und Vermittlungsleistungen während der Arbeitslosigkeit. So war der Zugang zur Arbeitsvermittlung und den Jobcentern für arbeitslose Migrantinnen und Migranten selbstredend ungehindert möglich. Eine bürokratische Regelung und Kontrolle seitens der Arbeitsverwaltung hätte auch an dieser Stelle der institutionell verankerten Tradition Großbritanniens der vor staatlicher Intervention geschützten Individualrechte widersprochen.372 Der Zugang zu Versicherungsleistungen war aber für Migranten, mit Arbeits- aber ohne Residenzerlaubnis nicht gegeben.373 Die Jobcenter selbst pflegten ein inklusives Image und schmückten ihre Werbeprospekte gern mit schwarzen Menschen in Posen von Arbeitssuche, z. B. bei Sichtung von Jobangeboten oder als Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Arbeitsprogrammen.374 Über die tatsächliche Nutzung der Jobcenter durch Angehörige von ethnischen Minderheiten lassen sich schwer Aussagen treffen. Publikationen von MSC und der Commission for Racial Equality bestätigen eine hohe Nutzungsfrequenz der Jobcenter durch diese Gruppen, vor allem wenn die Schließung von Jobcentern in Vierteln mit überwiegendem Anteil als schwarz eingestufter Bevölkerung aufgrund von Sparpolitiken im öffentlichen Sektor zur Diskussion stand.375 Nicht-staatliche, die Perspektive der Untersuchungsgruppe berücksichtigende Studien kamen hingegen zu dem Ergebnis, dass Jobcenter und Beschäftigungsprogramme der Arbeitsverwaltung von Migrantinnen und Migranten wenig genutzt wurden.376 Einig waren sich die Studien darin, dass schwarze Arbeitslose migrantischer Herkunft zur Akquise von Erwerbsarbeit auf die öffentliche Arbeitsvermittlung eher angewiesen wären als weiße Arbeitslose britischer Herkunft oder Angehörige des weißen Old Commonwealth (Neuseeland, Australien, Kanada), da ihnen 371 Ebd. 372 Wenngleich die Gegenbeispiele dazu historisch zahllos sein dürften vgl. hierzu: Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität, S. 641. 373 Vgl. Beth Lakhani / Jim Read / Penny Wood u. a., National Welfare Benefits Handbook, London 1989, S. 79. 374 Vgl. z. B. die Abbildungen in: David Price, Office of Hope. A History of the Employment Service, London 2000, S. 238 f. 375 Vgl. Black Cultural Archives London 6.6 p man, MSC , Ethnic Minorities and Jobcentres, Research into the Ways Different Ethnic Groups View and Use Jobcentres in their Search for Work. Februar 1987, Para. 2.2, 5.6–5.9; TNA ET 14/127, Comments on the Development of the Employment Service [1984], S. 1. 376 Vgl. TNA ET 14/127, Dave Middleton / Stewart Palmer, »Blacks need not Apply…«, o. O. [1985]; Unemployment in Hounslow. A Paper Highlighting the Unemployment Problems in the Borough. Hrsg. v. Hounslow Community Relations Council, Hounslow 1982.

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andere Informationsquellen für die Arbeitssuche fehlten.377 Vor allem informelle Netzwerke, durch die Erwerbsarbeit »unter der Hand« vermittelt würden, seien nicht vorhanden oder als Netzwerke innerhalb der eigenen Migranten-Community wenig branchenvariabel. Übereinstimmend konstatierte man auch, dass vor allem Migrantinnen die Jobcenter nicht besuchten. Schwarze Frauen, als »asiatisch« oder »muslimisch« eingestuft, gingen, so wurde vermutet, aufgrund ihrer kulturellen Prägung, ihrer religiösen Lebensführung oder aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht auf Jobsuche.378 Zum Großteil nicht berechtigt, finanzielle Unterstützung zu beziehen, meldeten sie sich nicht arbeitslos. Betrachtet man schwarze Migrationsgruppen als Ganzes wird die Nicht-Erwerbstätigkeit von Frauen wohl ausschlaggebend für Feststellungen sein, dass Migranten Jobcenter nur marginal nutzten. Explizit ausgenommen hiervon wurden regelmäßig männliche Arbeitslose »indischer« (verstanden als Republic of India) oder »asiatischer« Herkunft (bezogen auf den indischen Subkontinent), die als »hard-working and achievement oriented« eingestuft, überdurchschnittlich (in Bezug auf die Gesamtbevölkerung) qualifiziert, Fortbildungsangebote der MSC wahrnahmen, aber auch insgesamt unterdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen waren.379 Bemerkenswert diffus blieb die Einschätzung der Servicequalität von Jobcentern und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durch Migrantengruppen bzw. arbeitslosen PoCs. Kritik wurde nur verhalten geäußert bzw. dokumentiert. Zwei Drittel der Besucher im Jobcenter, die sich selbst als »Asian« oder »Black« einstuften, gaben an, den Service als »useful« oder »very useful« einzuschätzen.380 Im Ganzen besehen lag dies im Durchschnitt von Beurteilungen weißer Besucher, war aber in der Verteilung zwischen den Kategorien »useful« und »very useful« deutlich unvorteilhafter für das Jobcenter. Die Annahme ist berechtigt, dass sich dahinter subtile Diskriminierungserfahrungen von institutionalisiertem Rassismus verbergen, die sich zum einen im Jobcenter und den Arbeitsverwaltungen selbst zeigten und zum anderen aber in der Interaktion mit dis-

377 Vgl. TNA ET 14/127, Ethnic Minority Youth Unemployment. A Paper Presented to Government. Hrsg.  v. Commission for Racial Equality, o. O. 1980, S. 2; Commission for Racial Equality, Comments on the Development of the Employment Service [1984], S. 2. 378 Vgl. z. B.: TNA ET 16/4/1, Special Programmes – special Needs. Ethnic Minorities and the Special Programmes for the Unemployed. The Problems, the Needs and the Responses. Report of a Working Group convened by the Special Programmes Division of the Manpower Services Commission and the Commission for Racial Equality, London 1979, S. 12. 379 TNA ET 14/127, Unemployment in Hounslow, S. I. 380 Zur Auswahl in der ethnischen Selbsteinstufung standen die Kategorien: African, Caribbean, Black British, White, Oriental, Indian, Bangladeshi, Pakistani, Asian, British, Other. Die Zusammenstellung der Auswertungskategorien »Black«, »Asian«, »White« wird nicht erklärt, vgl. Black Cultural Archives London 6.6 p man, MSC , Ethnic Minorities and Jobcentres, Research into the Ways Different Ethnic Groups View and Use Jobcentres in their Search for Work. Februar 1987, Para. 2.14, 6.16 sowie Appendix 6.

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kriminierenden Arbeitgebern nicht abgefangen wurden.381 Teilweise setzte sich die Benachteiligung gering qualifizierter Arbeitslose durch den unverbindlichen Service der Jobcenter in der Beratung bzw. Nicht-Beratung von Migranten fort. Der überdurchschnittliche Beratungsbedarf aufgrund von Sprachschwierigkeiten oder Unkenntnis von Arbeitsmarktgegebenheiten wurde durch das offene Beratungssetting der Jobcenter nicht abgedeckt.382 Unter Umständen war die verbale Verständigung zwischen den JobcenterAngestellten und Arbeitslosen mit geringen englischen Sprachkenntnissen nicht möglich, wie es eine Studie des Policy Studies Institute von 1981 erbrachte.383 Die Commission for Racial Equality empfahl den Jobcentern Informationsmaterial mehrsprachig zu erstellen, Kenntnisse von Fremdsprachen bei Jobcenter-Mitarbeitern zu fördern oder Jobcenter in Vierteln mit einem hohen Anteil schwarzer Bevölkerung zu erhalten bzw. neu zu eröffnen, worin verbreitete Problemlagen im Alltag der Jobcenter klar werden: mangelnde Sprachkenntnisse, Personalknappheit, strukturelle Einsparpolitiken.384 Seitens der Commission for Racial Equality hatte man ausgerechnet Anfang der 1980er-Jahre an den konservativen Regierungsberater Derek Rayner, berüchtigt für seine Einsparpläne, zu berichten, dass die Angestellten der Jobcenter »not fully understand the Race Relations Act and that in some cases they are even prepared to act in defiance of it. (…) In particular, however, Job Centre staff appear unaware for the nature and implications of indirect discrimination.«385 Beispielhaft wird die Nicht-Vermittlung zweier schwarzer Teenager aufgeführt, die vom Arbeitsvermittler nicht für verfügbare, ihrem Qualifikationsprofil entsprechende Jobs vorgeschlagen worden waren. Vor dem Arbeitsgericht und in Bezug auf den Race Relations Act von 1976 verhandelt, entschied dieses darauf, dass rassistische Diskriminierung vorliege und resümierte: »We cannot imagine anything more calculated to upset anyone urgently needing employment than

381 Vgl. Kevin Brown, Opportunities which never knock. Racism and the Careers Service. First Draft Prepared for Transfer to Ph. D. Degree, Centre for Urban and Regional Studies. University of Birmingham, März 1981; Dave Middleton / Stewart Palmer, »Blacks need not Apply…«, o. O. [1985]. 382 TNA ET 14/127, Comments on the Development of the Employment Service [1984], S. 1. 383 TNA ET 14/127, David J. Smith, Unemployment and Racial Minorities. Policy Studies Institute, Februar 1981, zitiert nach: Summary of CRE Evidence and Recommendations to the Rayner Scrutiny Team, S. 1. 384 TNA ET 14/127, Commission for Racial Equality, Comments on the Development of the Employment Service [1984], S. 4 f. 385 TNA ET 14/127, Summary of CRE Evidence and Recommendations to the Rayner Scrutiny Team, S. 3; zu Rayner: Les Metcalfe / Sue Richards, Raynerism and Efficiency in Government, in: Anthony Hopwood / Cyril Tomkins (Hrsg.), Issues in Public Sector Accounting. Oxford 1984, S.188–211; Rodney Lowe, The Official History of the British Civil Service. Reforming the Civil Service. Vol. 1. The Fulton Years, 1966–81, London, New York 2011, S. 243–264.

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to find his path blocked by racial discrimination.«386 Angestellte der Jobcenter waren aber, wie es in einer Studie zu Rassismus im Career Service hieß, »typically liberal-humanist in outlook« und »certainly not stereotypical prejudiced people«.387 Der vor Gericht verhandelte institutionalisierte Rassismus war dennoch kein Einzelfall. Immer wieder wurde die ethnisch verzerrte Vermittlungspolitik der Jobcenter kritisiert, die sich zu sehr an den rassistischen Vorurteilen potentieller Arbeitgeber orientiere. So sei die Meldung von Arbeitsangeboten an einzelne Jobcenter in vorwiegend von Weißen bewohnten Vierteln in Städten mit allgemein ethnisch gemischter Einwohnerschaft nicht hinterfragt worden.388 Ebenso würden Arbeits- und Ausbildungsangebote vorselektiert und schwarzen Arbeitslosen nicht vorgelegt.389 Ethnisch segregierende Vermittlungsvorgänge gingen hochwahrscheinlich auch auf bürokratisch eingespielte Routinen der Arbeitsverwaltung zurück. So war in den 1950er-Jahren die Abfrage der »ethnischen Präferenz« potentieller Arbeitgeber (»Will you take coloured [West Indian] labourers?«) und deren Berücksichtigung in der Stellenvermittlung üblich.390 Gemessen an den unter Arbeitgebern üblichen Abwertungsfloskeln gegenüber Schwarzen (»N*s«, »darkies«, »jolly black n*s« etc.), war dieses Vorgehen zwar vergleichsweise harmlos und für zeitgenössische Wissenschaftler sogar ein Grund, die Leistung der Labour Exchanges für die Integration von Migranten hervorzuheben.391 Die Begründung der Arbeitsvermittler, das Verfahren würde den Migranten die diskriminierenden Erfahrungen rassistisch agierender Arbeitgeber ersparen, offenbart aber das Arrangement mit den zynischen Standards segregierter Arbeitsmärkte. Neben möglichen Wahrnehmungsroutinen war die Arbeitsüberlastung von Arbeitsvermittlern und -beratern und der bürokratische Aufwand einer Anzeige oftmals Grund genug, Vorgängen rassistischer Diskriminierung durch Arbeitgeber nicht nachzugehen. Ein Arbeitsberater des »Career Service« beschreibt die Dilemmata seines Arbeitsalltags zu Zeiten massiv erhöhter Jugendarbeitslosigkeit zu Beginn der 1980er-Jahre. Trotz teilweise »blatant discrimination,« sei es »such a bureaucratic mess to do anything about it (…) you tend to lose heart.«392 Dokumentierte Diskriminierungsfälle, die 1983 der Beschwerdestelle 386 TNA ET 14/127, Summary of CRE Evidence and Recommendations to the Rayner Scrutiny Team, S. 3. 387 Brown, Opportunities which never knock, Anhang 1, S. 16. 388 TNA ET 14/127, Summary of CRE Evidence and Recommendations to the Rayner Scrutiny Team, S. 3. 389 Brown, Opportunities which never knock, Anhang 1, S. 16; Dave Middleton / Stewart Palmer, »Blacks need not Apply…«. o. O. [1985], S. 9. 390 So: Price, Office of Hope, S. 122 f. 391 Vgl. ebd., Price schließt sich in der anerkennenden Beurteilung der Labour Exchanges an die Anthropologin Sheila Patterson in ihrer Untersuchung »Dark Strangers. A Study of West Indians in London« (durchgeführt 1955/1958) an. 392 Brown, Opportunities which never Knock, Anhang 1, S. 20.

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der Commission for Racial Equality vorgelegt wurden, verdeutlichen die faktische Wirkungslosigkeit der Anti-Diskriminierungsgesetze. Einem ausgebildeten Elektriker wurde vom Jobcenter ein Bewerbungsgespräch bei einem Bauunternehmen vermittelt.393 Laut Aussage des Beschwerdeführers wurde er nicht zum zuständigen »Boss« vorgelassen, obgleich dieser anwesend war und ihn in Augenschein nahm. Daran machte sich seine Eingabe fest: Als Schwarzer wahrgenommen, sei ihm am folgenden Tag auf telefonische Nachfrage hin mitgeteilt worden, das Stellenangebot sei anderweitig besetzt. Der Kommissionsanfrage nach der Rechtmäßigkeit der Stellenbesetzung entging der Bauunternehmer durch Angabe einer erklecklichen Anzahl eingegangener Bewerbungen, die als »suitable as opposed to this applicant’s unsuitability« eingestuft worden wären.394 Ein weiterer Fall betraf eine Bewerberin als Küchenaushilfe, die mehrfach für eine Jobvakanz in einem Weinlokal vorsprach, die Stelle aber nicht erhielt.395 Der Arbeitgeber widersprach ihren belastenden Angaben, gab aber zu, es sei ein Verwandter eines Angestellten für den Job vorgesehen. Letztlich wurde der Betrieb kurzfristig wieder geschlossen, und der Job war nicht mehr verfügbar. Die Arbeitslosen, die sich von rassistischer Diskriminierung betroffen sahen, waren in der Nachweispflicht der Diskriminierung gegenüber potentiellen Arbeitgebern und damit in der eindeutig schwächeren Position. Im Handlungskontext der britischen Jobcenter hatten sie es zudem mit Arbeitsangeboten zu tun, die nicht aktuell waren und oftmals Aushilfs- und Anlerntätigkeiten zu schlechten, wenn nicht unseriösen Konditionen offerierten. Die Strafandrohung der Anti-Diskriminierungsgesetze lief angesichts des alltäglichen »muddling through« in ökonomisch prekär aufgestellten Kleinbetrieben, unter Umständen an der Grenze zur Schattenwirtschaft, weitgehend ins Leere. Der Race Relations Act setzte damit zwar wichtige Standards von Gleichbehandlung, blieb aber im Arbeitsalltag postkolonialer Subjektive ein stumpfes Schwert ihrer Interessenvertretung. Parallel liefen in der Arbeitsverwaltung Bemühungen, die Beschäftigungsprogramme für Arbeitslose, in Großbritannien vor allem Programme zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit (STEP, YOP), für schwarze oder Jugendliche anderer ethnischer Minderheiten zu öffnen. Von einer Arbeitsgruppe von MSC und der Commission for Racial Equality wurden spezifisch für Jugendliche dieser Gruppen zeitlich befristete Arbeitspraktika und Fortbildungskurse organisiert und begleitet.396 Die Trainings- und Weiterbildungsmaßnahmen waren 393 TNA ET 14/127, Commission for Racial Equality an MSC , 21.01.1983 und Anhang. 394 TNA ET 14/127, Solicitor England, Stickland & Co. on Commission for Racial Equality, 17.01.1983 und Anhang. 395 TNA ET 14/127, MSC on Commission for Racial Equality. 396 TNA ET 16/4/1, Special Programmes – special Needs. Ethnic Minorities and the Special Programmes for the Unemployed. The Problems, the Needs and the Responses. Report of a Working Group convened by the Special Programmes Division of the Manpower Services Commission and the Commission for Racial Equality, London 1979.

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als »positive action« der so genannten »negative action« der Anti-Diskriminierungsgesetze entgegengesetzt.397 Diskriminierung sollte nicht mehr ex post bestraft werden, sie sollte präventiv verhindert werden. Ansatzpunkt war freilich das Objekt der Diskriminierung: optisch als fremdartig eingestufte Jugendliche, die sich zum Subjekt eines normalisierten Arbeitslebens machen sollten. Ziel der Bemühungen war es, »to benefit the entire workforce«.398 Die Programme sollten den individuellen Bedürfnissen der Jugendlichen entgegenkommen, beispielsweise sei das Interesse an Tontechnik und Musikproduktion bei Jugendlichen aus der Karibik zu fördern (»they could also develop self-employment potential«399), jedoch sollten nicht allzu hohe berufliche Erwartungen geweckt werden. Den Kandidatinnen und Kandidaten war vielmehr ein gewisses »cooling down« nahe zu legen, d. h. ein Einfügen in ihre realen beruflichen Chancen, denn ihre »aspirations (…) tend to be higher than the Special Programmes make provision for.«400 Eine solche Einschätzung verwundert angesichts des anderweitig feststellbaren defensiven Verhaltens von Migrantinnen und Migranten gegenüber amtlichen Stellen. So wird an anderer Stelle erstaunt vermerkt, wenn Schwarze trotz Diskriminierungserfahrung die Arbeitssuche im Jobcenter weder aufgaben noch aggressiv reagierten. Selbst wenn eindeutig feststellbar war, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter nichts gegen rassistische Diskriminierung von Arbeitgebern unternahmen, war kein Ressentiment gegen die betreffenden Angestellten wahrzunehmen, hingegen würde die eigene Machtlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt akzeptiert: »They did not feel resentment towards the staff concerned but accepted as inevitable the fact that an institution such as the Job Centre would always tend to support its employer customers rather than its job seeking clientel.«401 »Inevitable« – unvermeidlich ist die häufigste Vokabel, mit der die Strategien der arbeitslosen Migrantinnen und Migranten im Umgang mit Benachteiligungen, Ausschluss und schlechteren Chancen kommentiert werden. Aus dem Blick geriet dabei, dass das geschmeidige Fügen in das Unvermeidliche gleichzeitig einen Abschied vom Arbeitsmarkt, aus regulärer Erwerbstätigkeit bedeuten konnte. Hatten doch nicht wenige der arbeitslosen Schwarzen, eigenen Angaben zufolge, Besuche im Jobcenter, Jobsuche und Bewerbungsaktivitäten weitgehend eingestellt. Resigniert, aber realistisch hatten sie sich im Zusammenhang mit Diskriminierungserfahrungen in eine »unvermeidliche« Chancenlosigkeit zurückgezogen. Lediglich in Bezug auf längerfristig arbeitslose Jugendliche wurden die Konsequenzen anhaltenden Misserfolgs auf dem Arbeitsmarkt seitens

397 TNA ET 16/5, Equal Opportunity in Employment. Why Positive Action? S. 3. 398 Ebd., S. 4. 399 TNA ET 16/4/1, Special Programmes – special Needs., S. 17. 400 TNA ET 16/5, Equal Opportunity in Employment. Why Positive Action? S. 6. 401 Dave Middleton / Stewart Palmer, »Blacks need not Apply…«. o. O. [1985], S. 9.

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der Arbeitsverwaltung angemahnt: »in time the failure to get work can lead to a conscious decision not to work.«402 Für arbeitslose Subjekte des postkolonialen Großbritanniens zählte das passive Hinnehmen der ernüchternden Realitäten, das Einfügen in das Unvermeidliche unter Umständen zu einer Grunderfahrung ihres Erwerbslebens. Betrachtet als Subjektivierungstechnik, lässt sich darin auch ein Entwischen in die Unverfügbarkeit lesen, ohne damit Diskriminierungserfahrungen als solche verharmlosen zu wollen. In einem 1978 geführten Interview gab ein Londoner Arbeiter afro-karibischer Herkunft einen Einblick in die Strategien seiner Selbstführung angesichts drohender und für ihn als Migranten »unvermeidlicher« Arbeitslosigkeit. Äußerlich konziliant, entzieht er sich jeder paternalistisch-fürsorglichen oder skandalisierenden Inanspruchnahme: You think a white man’s going to lose his job before a black one? Not in a life-time. Immigrants come last and go first, man. Everybody knows that. They start their layoffs and I’ll be sitting home with my mother all day and talking with all these guys out of work. Then you’ll see me talking politics. But what do I do to protect myself? I stay low and work until I drop. I don’t let them think they can break me. They got to see how I’m a bull of a worker. And they’ll tell you what that too. In their minds, see, I’m just the smallest step up from being a slave. But in my mind, I know, I’m earning what the next guy earns, the white guy, so I am no slave to nobody. To nobody, my friend. They can think their thoughts, and I’ll think mine. I got the laugh so far because I am working, you see what I mean. They want to arrest me for thinking they’re all a bunch of racists? Hell, they might just as well go arrest every black man and woman in Britain, child too, believe me. These kids know where it’s at.403

Ohne das Einzelzitat interpretatorisch zu überlasten, macht es doch deutlich, dass Arbeitslosigkeit für den Befragten weniger das Problem war, als die Subordination als Schwarzer gegenüber Weißen, ob in Situationen von Erwerbsarbeit oder Arbeitslosigkeit. Angesichts marktliberaler Adressierungen von Erwerbstätigkeit und gleichzeitigen Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt, erscheint die Frage nach Subjektivierungsstrategien von arbeitslosen, schwarzen Migranten per se eine privilegierte. Alltägliche Jedermannsarbeit leisten zu können, ist hingegen für den Befragten Teil seines Selbstkonzepts. Mit Arbeitslosigkeit rechnet er – unvermeidlich, weicht aber ihrer Problematisierung aus.

402 TNA ET 16/4/1, Special Programmes  – special Needs, S. 11; ähnlich: TNA ET 14/127, Ethnic Minority Youth Unemployment. A Paper Presented to Government. Hrsg.  v. Commission for Racial Equality, o. O. 1980, S. 2. 403 Zitiert nach: Marwick, British Society since 1945, S. 179 f.

IV. Vor Gericht

1. Das Recht und die Arbeitslosen 1.1 Foucault, das Recht und die Arbeitsgesellschaft Die Subjektivierung durch das Recht sei, so Michel Foucault in den zuletzt publizierten Vorlesungen zur »Strafgesellschaft«, von zentraler Bedeutung für die Erzeugung und Einhegung des industriegesellschaftlichen Arbeitssubjekts gewesen. Denn, so schreibt Foucault in Abgrenzung zu Marx, es ist falsch, (…) dass das konkrete Wesen des Menschen die Arbeit ist. Die Zeit und das Leben des Menschen sind nicht von Natur aus Arbeit, sie sind Vergnügen, Diskontinuität, Feiern, Ausruhen, Bedürfnis, Moment, Zufall, Gewalt etc. Diese ganze explosive Energie muss man nun in eine dauernd und dauerhaft zu Markte getragene Arbeitskraft transformieren. Man muss das Leben in Arbeitskraft synthetisieren, was den Zwang des Beschlagnahmesystems erfordert.1

Die institutionalisierte Form des Strafens, hier: das Gefängnis und seine Sanktionstaktik des Einsperrens, stünde in unmittelbarem Verhältnis zur disziplinarisch gesteuerten Arbeitsgesellschaft, deren Beginn Foucault auf die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert datiert. Ihr Disziplinarregime entwirft Foucault als ein Modell von Äquivalenzen, dessen Tauschmittel Lebenszeit ist. In der Organisation von Lohnarbeit würde Lohn gegen Arbeitszeit bezahlt, und die Zeitdauer der Einsperrung sei Mittel, die Schwere der zu sanktionierenden Schuld zu berechnen. Die Veridiktionstaktiken von »Lohn-Form« und »Gefängnis-Form« würden in der Disziplinierung von Lebenszeit miteinander korrespondieren. Obgleich Foucault mit der »Strafgesellschaft« keine Genealogie des Juridischen im Sinne eines normativen Phänomens geschrieben hat und sich auf die institutionelle Perspektive des Strafapparates in Form des Gefängnisses kapriziert, verspricht sein Ansatz, das Disziplinarregime zeitlich begründeter und definierter Einsperrung als basales Funktionsmoment der Arbeitsgesellschaft zu betrachten, für die hier diskutierte Fragestellung nach der Subjektivierung von Arbeitslosigkeit vor Gericht ertragreich zu sein.2 1 Michel Foucault, Die Strafgesellschaft. Vorlesung am Collège de France 1972–1973, Frankfurt / Main 2015, S.  316. 2 Zur Kritik von Foucaults Marginalisierung der Jurisdiktion: Regina Brunnett / Stefanie Gräfe, Gouvernementalität und Anti-Terror-Gesetz. Kritische Fragen an ein analytisches Konzept, in: Marianne Pieper / Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hrsg.), Gouvernementalität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept in Anschluss an Foucault, Frankfurt / Main,

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Vor Gericht

Die Arbeitslosen, als diejenigen die nicht arbeiten, sind nun eigentlich diejenigen, die das Disziplinarregime der »Strafgesellschaft« mehr oder minder stören oder auch stützen können, denn unter Umständen, so Foucault ohne nähere Spezifikation für das »19. Jahrhundert«, brauchte man »konjunkturelle Müßiggänger (…): die Arbeitslosen« zur Disziplinierung von Arbeitsverweigerung.3 Die rechtliche Sanktionierung von Arbeitslosen, und sei es eine präpönale oder angedrohte Sanktionierung, die mit der Logik der Einsperrung taktiert, diene letztlich dazu, die Ordnung der Arbeitsgesellschaft aufrecht zu erhalten. Im Umkehrschluss sind es die beschlagnahmten, sanktionierten Subjekte, die eine Rechtsordnung inkorporieren und wirksam werden lassen. Die rechtsförmige Subjektivierung vollzieht sich innerhalb der Machtverhältnisse von Rechtsetzung und Strafpraxis. Die Subjektivierung des Rechts lässt sich folgerichtig in den Räumen dieser Machtverhältnisse lesbar machen und hat sich sowohl mit der rechtlichen Kodifizierung als auch mit der Praxis von Rechtsprechung zu befassen. Widerstände, unerwartete Gebrauchsweisen von oder Gegenprogramme zu bestehenden Machtverhältnissen sind dabei nicht einem Individuellen jenseits der Machtverhältnisse zuzuschreiben, sondern sie produzieren auch im juristischen Strafsystem erneut Machtverhältnisse.4 Es geht, wie bei Foucault allgemein, so auch in der Analyse der »Strafgesellschaft« weniger um eine Analyse von Machtausübung als von Machtverhältnissen sowie von heterogenen und differenten Problematisierungen und Bedeutungsverschiebungen, die sich im sozialen Feld der Rechtsgeltung abspielen. Verkürzt wäre es aber, daraus zu folgern, mit Foucault gäbe es kein Entkommen aus Machtverhältnissen. Ihm geht es darum, »Praktiken der Freiheit zu definieren« und gegenüber einer »Praxis der Befreiung« zu gewichten, die im Ausweichen und Umgehen von Normen, in ihrer Subversion, aber auch im Widerstand gegen Herrschaftszustände versuchen, gesellschaftliche Machtzusammenhänge neu oder anders als bisher zu sortieren und zu kontrollieren.5

New York 2003, S. 50–67; Petra Gehring, Epistemologie? Archäologie? Genealogie? ­Foucault und das Recht, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 50 (2000), S. 18–33; zum Folgenden sowie die Abschnitte zur »Zumutbarkeit« vgl. auch: Wiebke Wiede, Zumutbarkeit von Arbeit. Zur Subjektivierung von Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien, in: Doering-Manteuffel / Raphael / Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 129‒147. 3 Foucault, Strafgesellschaft, S. 262. 4 Pointiert, aber nicht rechtsspezifisch hierzu: Marion Ott / Daniel Wrana, Gouvernementalität diskursiver Praktiken. Zur Methodologie der Analyse von Machtverhältnissen am Beispiel einer Maßnahme zur Aktivierung von Erwerbslosen, in: Johannes Angermüller / Silke van Dyk (Hrsg.), Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen, Frankfurt / Main, New York 2010, S. 155–181, hier: S. 156–160. 5 Zitate: Michel Foucault, Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit, in: ders., Analytik der Macht. Hrsg. v. Daniel Defert / François Ewald, Frankfurt / Main 2005, S. 274–300, hier: S. 276.

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Foucaults eigene politischen Einlassungen und Erfahrungen gerade in der französischen Gefangenenbewegung in den frühen 1970er-Jahren sind hinlänglich bekannt, ebenso wie deren Niederschlag in seiner Theorie und der Präferenz konkreter Praktiken im »Recht, sich zu erheben.«6 In seinen Interventionen ist Foucault Zeitgenosse der arbeitslosen Subjekte, die in den 1970er- und 1980erJahren über rechtliche Eingaben, Beschwerden und Klagen mehr oder minder in eigenem Interesse, aber auch in Kontexten politischer Bewegungen ihre Subjektivierung als Arbeitslose vor den Sozialgerichten und Schiedsstellen im Wortsinn »verhandelten.« Es geht nun im Folgenden weniger darum, eine ausschließlich hierarchische Machtausübung des Gesetzgebers und ihre Reichweite zu beschreiben, denn darum heterogene Machtverhältnisse und Bedeutungsverschiebungen sozialen Rechts, die sich letztlich vor Gericht artikulieren und abspielen, nachzuvollziehen. Im Machtfeld der sozialen Gerichtsbarkeit von Arbeitslosigkeit werden Auseinandersetzungen um das geführt, was »arbeitslose Subjekte« bereit waren, für die Aufnahme von Erwerbsarbeit in Kauf zu nehmen bzw. hinzunehmen hatten. Auf eine Analyse der Effekte legislativer Anordnungen im Bereich des Arbeitslosigkeit regelnden Sozialrechts jenseits der Rechtssphäre wird angesichts der empirischen Schwierigkeiten, tatsächliche valide Kausalitäten zwischen dem sozialen Handeln von Arbeitslosen und der, wie zu zeigen ist, dichten Folge von Gesetzgebungen des Rechtsbereichs bzw. anderweitigen Einflussfaktoren (Arbeitsmarkt, Qualifikationsniveau, Branchensituation) herzustellen, verzichtet.7 Legislative Rechtssetzungen, Regelungen und Sanktionierungsmaßnahmen sowie die von Arbeitslosen eingelegten Rechtsmittel formieren als solche rechtsförmige Genealogien des arbeitslosen Subjekts, um die es im Folgenden geht.

1.2 Sozialrecht und die Subjektivierung des Rechts in der Bundesrepublik Für das Recht der Arbeitslosen war und ist in der Bundesrepublik das Sozialrecht zuständig, das dem Öffentlichen Recht zugerechnet wird. Mit Einführung eines gegliederten Systems der Sozialversicherung wurde eine eigene Sozialgerichtsbarkeit notwendig, die 1953 vom Arbeitsrecht und damit vom Bürgerlichen Recht getrennt wurde, obgleich beide Rechtsmaterien nach wie vor eng ineinander6 Zitat: Michel Foucault, Den Regierungen gegenüber: die Rechte des Menschen (Wortmeldung), in: ders., Analytik, S. 273; zum politischen Engagement Foucaults z. B. Martin Kindtner, Strategien der Verflüssigung. Poststrukturalistische Theoriediskurse und politische Praktiken, in: Doering-Manteuffel / Raphael / Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 373–392. 7 Zum schwierigen Nachweis des Zusammenhangs von Zumutbarkeitsregeln und statistisch nachweisbarer, räumlicher Mobilität vgl. Raphael Emanuel Dorn, Alle in Bewegung. Räumliche Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland 1980–2010, Göttingen 2018, S. 185–212, spez. S. 203, 205, 207.

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Vor Gericht

greifen.8 1954 wurde mit dem Bundessozialgericht in Kassel die sozialgerichtlich höchste Instanz auf Bundesebene eingerichtet, vom Arbeitsgericht am gleichen Ort nur durch Stockwerke getrennt. Rechtswissenschaftlich betrachtet, ist das Sozialrecht eine relativ junge Disziplin, die sich, nach den rassen- und bevölkerungspolitischen Deformierungen des Sozialrechts im Nationalsozialismus, an den bundesdeutschen Universitäten erst zwischen 1960 und 1980 etablierte und in der juristischen Ausbildung bis heute eher nachgeordnet ist.9 Erst 1970 wurde eine Sachverständigenkommission zur Kodifizierung eines eigenen Sozialgesetzbuchs (SGB), im formell existierenden Sinn, eingesetzt, womit der Terminus »Sozialrecht« als Recht auf soziale Sicherung in verschiedenen bis dato verstreuten Rechtsbereichen durchdekliniert wurde.10 Daneben bezeichnet Sozialrecht nach wie vor einen Querschnittsbegriff, der verschiedene Rechtsmaterien umfassen kann, die Interessen des Sozialstaatsprinzips mit verfolgen, wie Arbeitsrecht, Mietrecht oder Verfassungsrecht. Die Funktion des Sozialrechts war auch nach seiner Institutionalisierung in der rechtswissenschaftlichen Debatte umstritten. Garantierte es einerseits den Schutz des Bürgers vor Rechtswidrigkeiten der staatlichen und vollziehenden Gewalt, gewährleistete also Grundrechte, wurde ihm andererseits unterstellt, vor allem der Konkretisierung und Fortbildung unklarer Rechtsbegriffe zu dienen.11 Der Vorwurf einer »Verrechtlichung« von Sozialpolitik stand im Raum. In seiner Ausformung als »Richterrecht« hing es deutlicher als andere Rechtsbereiche von der Auslegung von Präzedenzfällen ab. Darüber hinaus ist das Sozialrecht, auch hier unterscheidet es sich von anderen Rechtsbereichen, insoweit an die Wirtschaftslage gebunden, als es judikativ zu regeln hat, was Sozialpolitik legislativ und im Rahmen der Haushaltslage erlässt. Demgemäß dem gesellschaftlichen Wandel anhängig, weist das Sozialrecht eine relativ hohe legislative Dynamik auf, die wiederum eine stetig steigende Regulierungsdichte bewirkt.12 8 Hierzu: Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Ein Grundriß, Stuttgart 2003, S. 265–268; Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980, S. 160–165. 9 Zacher spricht von »ständigen Veränderungen«, denen das Sozialrecht im Nationalsozialismus ausgesetzt war, vgl. Hans F.  Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980, S. LX ; zum Sozialrecht in der juristischen Ausbildung: Georg Wannagat, Das vernachlässigte Sozialrecht in der juris­ tischen Ausbildung. München 1980. 10 Vgl. Hans F. Zacher, Das Vorhaben einer Kodifikation des Sozialrechts in der BRD, in: Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung 15 (1971), S. 209–226. 11 Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, S. 308; Jürgen A. E. Meyer, Sozialgerichtsprotokolle. Darmstadt 1981, S. 38. 12 Vgl. Berthold Vogel, Die Bedeutung eines verrechtlichten Sozialsystems für die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik, in: Peter Masuch / Wolfgang Spellbrink /  Ulrich Becker / Stephan Leibfried (Hrsg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht. Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht. Bd. 1, Berlin 2014, S. 297–309, hier: S. 307.

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In der judikativen Praxis tritt das Sozialrecht als Regulativ zwischen Demokratie und Wohlfahrt, genauer zwischen die Versprechen des demokratischen Staats von individueller und kollektiver Teilhabe und seinen wirtschafts- und sozialpolitischen Möglichkeiten und Intentionen, diese zu gewähren, d. h. es hat zwischen partizipatorischen und emanzipatorischen Teilhabe- und Freiheitsrechte und dem Recht auf sozialstaatliche Wohlfahrt zu vermitteln.13 Die Ausdeutung und Ausgestaltung des Verhältnisses von Freiheit und Wohlfahrt variiert im Spektrum sozialpolitischer Positionen, spielt sich aber in der Bundesrepublik vor der Folie der grundgesetzlich verankerten Grundrechte ab. In den 1950er-Jahren konnte noch der Staatsrechtler Ernst Forsthoff rechtsstaatliche Freiheit und sozialstaatlichen Schutz zu verfassungsrechtlichen Gegensätzen erklären.14 In den 1970er- und 1980er-Jahren kreisten die sozialpolitischen und sozialrechtlichen Debatten dann darum, an der sozialstaatlichen Maxime individueller Freiheit durch Sozialpolitik trotz wirtschaftlicher Rezession festzuhalten und gegen den Vorwurf des Sozialmissbrauchs zu verteidigen.15 Subjektanalytisch bleibt festzuhalten, dass derartige Debatten individueller Freiheit und sozialpolitischer Wohlfahrtsleistungen zeigen, dass die in sozialgerichtlichen Entscheidungen abgebildeten Subjektivierungsprozesse über den Begriff des Rechtssubjekts als Bezeichnung der juristischen Person und einem Individuum als Adressat des liberalen Rechtsstaates und seiner Rechtsprechung hinausgehen. So kulminieren in der so genanntem Fürsorgeentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts über den Rechtsanspruch auf Grundsicherung von 1954, der einschlägige Klagen und Gerichtsurteile auf der Ebene der Sozialgerichte und Landessozialgerichte vorausgegangen waren, Kontroversen um die Natur des sozialrechtlichen Subjektstatus in der frühen Formierungsphase des Sozialrechts.16 Das Grundsatzurteil hebt sich von der »Armenpflege« des »alten preußischen Rechts« ab, das dem Fürsorgeempfänger Hilfe zukommen ließ, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten und nicht »um seiner selbst willen.« Gemäß den Leitgedanken des Grundgesetzes ist der Fürsorgeempfänger aber 13 Vgl. Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, S. 334–338; Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980, S. LXXIV, 431–440. 14 Vgl. Thomas Kingreen, Das Sozialrecht in den 60er und 70er Jahren, in: Martin Löhnig / Mareike Preisner / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Reform und Revolte. Eine Rechtsgeschichte der 1960er und 1970er Jahre, Tübingen 2012, S. 149–170, hier: S. 158. 15 Herbert Ehrenberg / Anke Fuchs, Sozialstaat und Freiheit. Von der Zukunft des Sozialstaats, Frankfurt / Main 1981. 16 Etwas vage formuliert: Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, S. 266; differenziert für West-Berlin: Helge Jonas Poesche, Gesetz und Moral. Konflikte um das Recht auf Sozialhilfe in der Bundesrepublik und West-Berlin, ca. 1945–1965, Masterarbeit Humboldt-Universität zu Berlin 2017 [unveröffentlichtes Manuskript], S. 3; ders., Ein Recht auf Fürsorge? Juristische Konflikte zwischen Bürgern und Staat und der Wandel des westdeutschen Sozialstaats in den 1950er Jahren, https://gafprojekt.hypotheses. org/1007, 30.01.2023.

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nicht mehr »Objekt des behördlichen Handelns«, sondern »Subjekt der behördlichen Verpflichtung« oder, wie es anderer Stelle in der Urteilsbegründung heißt, »der Einzelne ist zwar der öffentlichen Gewalt unterworfen, aber nicht Untertan, sondern Bürger.«17 Dieses Rechtsurteil, so die einhellige rechtswissenschaftliche und sozialhistorische Bewertung, ging weit über den Verfahrensanlass um den Anspruch auf Grundsicherung hinaus.18 Zentraler Ansatzpunkt der zitierten Gerichtsentscheidung war die im Grundgesetz formulierte Subjektstellung der Bürgerinnen und Bürger und ihre Anerkennung als staatsbürgerliche Subjekte, die den staatlichen Souverän bilden und ihm nicht alleinig unterworfen sind. In den Folgejahren wurde die sozialrechtliche Subjektstellung insbesondere im Bundessozialhilfegesetz von 1961 ausbuchstabiert. Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre nahmen die sozialrechts- und verwaltungstheoretischen Debatten um die »Subjektivierung des Sozialrechts« und eine weitere Kodifizierung sozialer Grundrechte weiter an Fahrt auf.19 Im SGB I wurden 1975 dem Leitbild der Anspruchsberechtigung des Sozialbürgers folgend, die Aufgaben des Sozialrechts mit sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit definiert, die der freien Entfaltung der Persönlichkeit dienlich sein sollten. Obrigkeitsstaatliche Vorstellungen von Subordination des Untertans unter staatliche Gewalten verloren an Einfluss zugunsten konsensualer Konzepte von Kooperation zwischen dem Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern auf Augenhöhe mit beiderseitigen Rechten und Pflichten. Perspektivisch rücken hier auch Verwaltungspraktiken in den Blick, die eine solche Kooperation kontraktförmig regeln. In der bundesdeutschen Arbeitsverwaltung wurden solche Verfahren allerdings erst mit den Bestimmungen des SGB III in den 2000er-Jahren und seinen Vorgaben von vertragsähnlichen Vereinbarungen, wie Eingliederungsvereinbarungen zwischen »Kunden« und »Arbeitsagentur« praktiziert.20 Das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern, die in diesen Vereinbarungen zu sanktionierbaren Klienten geworden sind, war dann wiederum ein asymmetrisches.

17 BVerwG, Urteil vom 24.06.1954, V C 78, 54, Zitate: Rn. 24, 26. 18 Hartmut Bauer / Kai-Holger Kretschmer, Sozialrechtliche Vereinbarungen: Elemente moderner Sozialrechtsgestaltung, in: Peter Masuch / Wolfgang Spellbrink / U lrich Becker / Stephan Leibfried (Hrsg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht. Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht. Bd. 1, Berlin 2014, S. 369–403, hier: S. 370 f.; Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten Jahrzehnte, Berlin 2006, S. 31; Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980, S. 730. 19 Die »Subjektivierung des Sozialrechts« bei: Kingreen, Das Sozialrecht in den 60er und 70er Jahren, S. 158. 20 Zur sozialrechtlichen Problematik vgl. Ingwer Ebsen, Der Arbeitslose als Sozialbürger und Klient – Der Betroffene im Konzept des aktivierenden Sozialstaats, in: Matthias von Wulffen (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, Köln u. a. 2004, S. 725–744.

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Die sozialrechtliche Regelung von Arbeitslosigkeit fiel in den 1970er- und 1980er-Jahren, wie bereits erörtert, unter die Zuständigkeit des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), das dazumal noch nicht im SGB enthalten war, aber sozialgerichtlich verhandelt wurde. Das 1969 erlassene AFG stand, darauf soll hier noch einmal aus Gründen der Rechtstradition hingewiesen werden, in institutioneller Kontinuität zum AVAVG von 1927.21 Es war bis 1997 Grundlage des Arbeitsförderungsrechts. Durch das Arbeitsförderungs-Reformgesetz (AFRG) wurde das Arbeitsförderungsrecht zum 1. Januar 1998 als Drittes Buch (SGB III) in das Sozialgesetzbuch eingeordnet. Mit dem Inkrafttreten des SGB III wurde gleichzeitig das alte AFG außer Kraft gesetzt. Das AFG und die mit ihnen initiierten aktiven Arbeitsmarktpolitiken wurden bald mit der anhaltend hohen, strukturellen Arbeitslosigkeit der 1970er-Jahre konfrontiert, für die sie nie konzipiert worden waren. Wiederholte Gesetzesänderungen, die zwischen Restriktion und Expansion schwankten, waren die Folge. Im Detail interessieren sie an dieser Stelle nicht, festzuhalten ist die nüchterne Schlussfolgerung, dass das Gros der Änderungen des Arbeitsförderungsgesetzes nach 1975 sowohl unter den sozialliberalen als auch unter der konservativ-liberalen Koalitionen ab 1982 dem Diktat der Kassenlage und keiner arbeitsmarktpolitischen oder sozialrechtlichen Konzeption folgte.22 Insgesamt wurden neun Änderungsgesetze des AFG 1969 bis 1990 beschlossen. Mit den Haushaltsstrukturgesetzen von 1975 und 1981 sowie dem Arbeitsförderungskonsolidierungsgesetz (AFKG) von 1981, wie auch mit dem Haushaltsbegleitgesetzen von 1983 und 1984 griff der Fiskus darüber hinaus begrenzend in die Regularien des AFG ein. Daneben unterlagen mit dem AFG verknüpfte Rechtsbereiche (Arbeitsrecht, Ehe- und Familienrecht) Reformen unterschiedlicher Art. Die Einführung des Mutterschaftsurlaubs 1979 führte zu Übergangsfragen im AFG. Das Vorruhestandsgesetz (1984) und das Altersteilzeitgesetz (1988) sollten den Arbeitsmarkt durch Anreize zur Frühverrentung entlasten, aber auch hier waren Übergangsfragen zu regeln. Nicht zu vernachlässigen sind auch einsetzende Anpassungen des deutschen Arbeitsrechts an  EG -­ Richtlinien. Die Gesetzesmodifikationen des AFG verblieben überwiegend im Deutungsrahmen interventionistischer Arbeitsförderung und zeigten in ihrem hektischen

21 Vgl. Andreas Hänlein, Arbeitsmarktpolitik aus rechtswissenschaftlicher Sicht: Das Recht der Arbeitsförderung, in: Masuch / Spellbrink / Becker / Leibfried (Hrsg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats, S. 327–357, hier: S. 328 f.; Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 5. 1966–1974, S. 342–348; dies., Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974–1982, S. 322–363; dies., Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 7. 1982–1989, S. 253–268; Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik, S. 113–191. 22 Vgl. ebd., S. 216; ähnlich, allerdings die interventionistischen Politikansätze betonend: Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 7. 1982– 1989, S. 262, 264, 266.

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Reaktionsmuster eher »ökonomische Phantasielosigkeit«.23 In die Arbeitsmarktpolitik diffundierten allerdings bereits angebotsorientierte und deregulierende Tendenzen. Legislativer Ansatzpunkt war hierfür bis in die 1990er-Jahre vor allem das Arbeitsrecht. Innerhalb des gesetzlichen Rahmens des AFG trugen die Förderung von Selbstständigkeit sowie Leistungen an Arbeitgeber bei Einstellung von Arbeitslosen dazu bei, insbesondere seit Mitte der 1980er-Jahre Entgarantierung von Erwerbsarbeit zu erleichtern. 1976 wurde der Antrag der CDU / C SUFraktion, Fortbildungsmaßnahmen, an die selbstständige Tätigkeit anschließt, staatlich zu fördern, noch abgelehnt, da Wirtschaftsförderung nicht Aufgabe der staatlichen Arbeitsverwaltung sei. 1986 wurde hingegen Überbrückungsgeld für Arbeitslose, die selbstständig werden wollen, im AFG verankert.24 Nach einer Ergänzung der »Anordnung zur Förderung der Arbeitsaufnahme« vom Mai 1977 konnten Arbeitgeber bei Neueinstellungen die Kosten für ein befristetes Probearbeitsverhältnis von der Bundesanstalt erstattet bekommen.25 Erfolgte keine Einstellung nach beendeter Probezeit, war zwar eine ausführliche Mitteilung an das Arbeitsamt zu machen, die aber dem vorübergehend eingestellten Kandidaten eine Nicht-Eignung attestieren konnte. Das Probearbeitsverhältnis wurde als einseitige Bewährungsprobe adressiert, zudem ein ungünstiger Bericht an das Arbeitsamt Ausweitungen der angewandten Zumutbarkeitsregeln zur Folge haben konnte. Im Arbeitsrecht war es vor allem das Beschäftigungsförderungsgesetz (BeschFG) von 1985, das einen deregulierenden Hebel an Arbeitsverhältnisse anlegte, indem sachgrundlose Befristung von Arbeitsverhältnissen, Teilzeitarbeit auf Abruf sowie die Verlängerung von Leiharbeitsfristen zugelassen wurden.26 In Kombination mit arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien, die im AFG von 1969 angelegt waren, wie Eingliederungshilfe oder Einarbeitungszuschuss, die dem Arbeitgeber einer befristete und teilweise Übernahme des Tariflohns durch die Bundesanstalt bei Neueinstellung eines Arbeitslosen zusicherte, waren Tarifbindung und Dauer von Arbeitsverträgen geschwächt. Die Initiativen des Gesetzgebers blieben allerdings auch unter der liberalkonservativen Regierung vergleichsweise moderat und selbst im ersten, 1991 vollständig vorgelegten, Bericht »Marktöffnung und Wettbewerb« der 1987 eingesetzten Deregulierungskommission wurden, abgesehen von der Empfehlung,

23 So Altmann allerdings bereits zur Konzeption des AFG: Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik, S. 241. 24 Vgl. Marlies Mertens, Von der Stempelbude zur Dienstleistungsbehörde. Bundesanstalt für Arbeit – Verwalterin der Massenarbeitslosigkeit, in: Karl Heinz Balon / Joseph Dehler / Bernhard Schön (Hrsg.), Arbeitslose: Abgeschoben, diffamiert, verwaltet. Arbeitsbuch für eine alternative Praxis, Frankfurt / Main 1978, S. 37–47, hier: 40. 25 Vgl. Mertens, Von der Stempelbude zur Dienstleistungsbehörde, S. 40. 26 Den moderaten Charakter des BeschFG betonend: Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 7. 1982–1989, S. 249–252.

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das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt aufzuheben, keinerlei weitere Vorschläge zur Deregulierung der Arbeitsförderung gemacht.27 Rechtshistorisch ist schwindende Rechtssicherheit in der Arbeitsförderung und teilweise auch in der sozialen Sicherung von Arbeitslosigkeit zu konstatieren.28 Die unzähligen Anordnungen und Dienstanweisungen der Bundesanstalt, die jeweils die Gesetzesänderungen und Konjunkturprogramme begleiteten, führten zu Arbeitsaufwand, Arbeitsunsicherheit und Konfusion in den lokalen Arbeitsämtern. Symptomatisch liest sich der Kommentar des Sozialrechtlers Bernd von Maydell zu den Tendenzen des AFG im Jahr 1980: Die vorliegende Rechtsprechung des vergangenen Jahres zum Arbeitsförderungsrecht zeigt wieder einmal eine typische Besonderheit des Sozialrechts und speziell des Arbeitsförderungsrechts. Bedingt durch die Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Rahmenvoraussetzungen, speziell die Lage auf dem Arbeitsmarkt, unterliegt das Arbeitsförderungsrecht einem ständigen Wandel, der sich in der Rechtsprechung niederschlägt und zahlreiche Entscheidungen prägt. Vor allem verhindert der ständige Wandel der Gesetze und Verordnungen die Verfestigung der Einzelentscheidungen zu einer ständigen Rechtsprechung, die erst die notwendige Überschaubarkeit und Voraussehbarkeit sichern würde.29

Von Maydell kritisiert daneben explizit, dass »der Gesetzgeber immer wieder ändernd zum Nachteil der Versicherten eingegriffen hat und sich daraus vor allem unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes Probleme ergeben.«30 Er verweist auch auf die rasant wachsende Klageflut bei den Sozialgerichten, für deren Begründung die Betroffenen sich vermehrt auf »verfassungsrechtliche Prinzipien« berufen.31 Dass das Verfassungsrecht seit den frühen 1980er-Jahren in sozialrechtlichen Verfahren vermehrt hinzugezogen wurde, wird noch zu erläutern sein. Hier bleibt allgemein die exponentielle Zunahme sozialgerichtlicher Verfahren und im speziellen derjenigen, die das AFG betrafen, zu konstatieren. Allein die beim Bundessozialgericht eingegangenen Rechtsmittel in Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung nahmen im Zeitraum 1969–1974 um mehr als das Doppelte von 62 auf 161 zu, um in den Folgejahren nahezu konstant auf 230 eingegangene Rechtsmittel im Jahr 1979 anzusteigen. 1980 bis 1983 lagen sie jeweils bei ca. 230, um 1984 wieder anzusteigen und bis 1990 stets über 300 Einsprüchen

27 Vgl. Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974–1982, S. 341; dies., Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 7. 1982– 1989, S. 268. 28 Dies., Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974–1982, S. 356 f.; dies., Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 7. 1982–1989, S. 279 f. 29 Bernd von Maydell, Arbeitsförderungsgesetz und die dazugehörenden Nebengesetze in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, in: Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart 2 (1980), S. 217–240, hier: S. 236. 30 Ebd., S. 211 f. 31 Ebd., S. 215.

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zu liegen.32 1987 wurde in 368 Streitfällen in der Arbeitslosenversicherung die Bundesinstanz angerufen. Der Rückgang der Rechtsmittel in den Jahren 1980 bis 1983 hing vermutlich mit den im Zuge der 5. AFG -Novelle eingerichteten und bis 1983 bestehenden Widerspruchsausschüssen zusammen. Die Widerspruchsstelle innerhalb der Bundesanstalt, die einem möglichen Rechtsweg vorgeschaltet war, war bis 1979 der Direktor des jeweiligen Arbeitsamts. Im April 1980 wurden, aufgrund von Kritik der Gewerkschaften an diesem Sachverhalt, probeweise, paritätisch mit Vertretern der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und der Bundesanstalt besetzte Widerspruchsausschüsse in 146 Arbeitsämtern eingerichtet, die bis 1983 bestanden.33 Insgesamt gingen die Klagen vor den Sozialgerichten von 20.300 im Jahr 1979 auf 18.700 im Jahr 1980 zurück. Der Verwaltungsrat der Bundesanstalt beendete 1983 gegen die Stimmen der Arbeitnehmer die Erprobungsphase der Widerspruchsausschüsse und sprach sich gegen eine endgültige Einrichtung von Widerspruchsausschüssen aus.34 In ca. einem Drittel aller Widerspruchsfälle wurde dem Anliegen der Widerspruchsführer, d. h. der Arbeitslosen, stattgegeben. Eine Korrelation von Widerspruchsquote und Tätigkeit der Ausschüsse konnte nicht festgestellt werden. Die Bundesanstalt argumentierte aber mit zu hohem Zeit-, Kosten- und Personalaufwand. Gewerkschaftsvertreter vermuteten jedoch bereits vor Beendigung der Erprobung, dieses Argument verschleiere lediglich ein bürokratisches Verharren auf hierarchischen Verwaltungsentscheidungen.35 Neben der Nicht-Existenz intermediärer Schlichtungsinstanzen, wie den Widerspruchsausschüssen, ist die generell zunehmende Klagefreudigkeit einerseits der Rechtsunsicherheit der schnell gestrickten Ergänzungen des AFG zuzuschreiben, das die Sozialgerichte und letztlich das Bundessozialgericht in der Rechts32 Angegeben sind die beim Bundessozialgericht eingegangenen Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden. Die Zahlen 1969–1978 nach: Übersicht über die in den Jahren 1954 bis 1978 bei den Senaten des Bundessozialgerichts eingegangenen Rechtsmittel, in: Sozialrechtsprechung. Verantwortung für den sozialen Rechtsstaat. Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts. Bd. 2. Hrsg. v. Deutschen Sozialgerichtsverband e. V., Köln / Berlin u. a. 1979, S. 1207; 1979–1983 nach: Bundesarbeitsblatt 1979/5, S, 128, 1980/9, S. 154, 1981/5, S. 122, 1982/7–8, S. 118, 1983/7–8, S. 126, 1984/10, S. 168; 1984–1990 nach: Arbeits- und Sozialstatistik 1985, S. 196, 1986, S. 198, 1987, S. 204, 1988, S. 204, 1989, S. 204, 1990, S. 204, 1991, S. 202. 33 Vgl. Rainer Brötz, Zur sozialen Ausgestaltung der »Zumutbarkeit« im AFG . Erfahrungen mit den paritätisch besetzten Widerspruchsausschüssen in den Arbeitsämtern, in: WSI-Mitteilungen 35 (1982), S. 105–113; zur Beendigung des probeweisen Verfahrens: Deutscher Bundestag, Drucksache 10/442, 05.10.1983. 34 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 10/442: Bericht des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit gemäß der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 01.06.1979 über die Erprobung paritätisch besetzter Widerspruchsausschüsse in den Arbeitsämtern in der Zeit vom 1. April 1980 bis 31. Dezember 1982.15.03.1983, http://dipbt.bundestag. de/doc/btd/10/004/1000442.pdf, 30.01.2023. 35 Vgl. Brötz, Zur sozialen Ausgestaltung der »Zumutbarkeit«, S. 112.

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praxis quasi reparieren durften. Andererseits ist die veränderte soziale Zusammensetzung von Arbeitslosen in Rechnung zu stellen. Anfang der 1980er-Jahre verzeichnete man einen spürbaren Anstieg von Arbeitslosen mit Hochschulabschluss. Vorwiegend arbeitslose Akademiker bildeten Arbeitsloseninitiativen, die sich dafür einsetzten, ihre Interessen vor Gericht einzufordern. Dass seit der Reform des Armenrechts 1980 auch in sozialgerichtlichen Verfahren Prozesskostenhilfe in der ersten und zweiten Instanz geltend gemacht werden konnte, sofern hinreichend Aussicht auf Erfolg des Verfahrens bestand, könnte für den Anstieg der Rechtsmittel auf Bundesebene durchaus mit verantwortlich gewesen sein.36

1.3 Social Security Law und die Zunahme sozialer Kontrolle in Großbritannien Das britische Sozialrecht, das als Social Security Law auch die Unterstützungsleistungen für Arbeitslose regelt, wurde erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg substantiell ausformuliert. Wurden von William Beveridge in seinem 1942 publizierten Beveridge-Report die Grundlagen für das System sozialer Sicherungen in Großbritannien gelegt, so liefert der britische Soziologe Thomas H. Marshall in seinem Aufsatz »Citizenship and Social Class« aus dem Jahr 1949 die bekannteste gesellschaftstheoretische Deutung zum britischen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit.37 Seiner Lesart nach ist der sozialpolitische Entwurf des Beveridge-Reports, der universalistisch finanzielle Absicherung im Krankheitsfall, bei Arbeitslosigkeit oder im Alter vorsah, Endpunkt einer evolutionären Entwicklung moderner Gesellschaften und eines idealen Staatsbürgertums. Nachdem das 18. Jahrhundert die bürgerlichen, das 19. Jahrhundert die politischen Rechte hervorgebracht hätten, seien die sozialen Rechte das formgebende Element von Staatsbürgerschaft im 20. Jahrhundert.38 Soziale Rechte verstand 36 Vgl. Klees, Arbeitslosigkeit und Recht, S. 311 f.; Michael Behn, Probleme der Prozeßkostenhilfe. Mit Besonderheiten im sozialgerichtlichen Verfahren, Sankt Augustin 1985, S. 15–66. 37 Vgl. hierfür und folgend: Kenneth O.  Morgan, Britain since 1945. The People’s Peace, Oxford u. a. 2001, S. 4, 6; Harris, The Welfare State, S. 3‒38; Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat, S. 41; Friedbert W. Rüb, Risiko: Versicherung als riskantes Geschäft, in: Stephan Lessenich (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt / Main, New York 2003, S. 303–330; egalitäre Tendenzen betonend: Mohr, Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat, S. 50–52; Michael Freeden, Civil Society and the Good Citizen. Competing Conceptions of Citizenship in Twentieth-century Britain, in: Jose Harris (Hrsg.), Civil Society in British History. Ideas, Identities, Institutions, Oxford 2003, S. 275–291, spez. S. 285; Jose Harris, Citizenship in Britain and Europe: Some Missing Links in T. H. Marshall’s Theory of Rights, Bremen 2010, https://nbn-resolving. org/urn:nbn:de:0168-ssoar-358463, 30.01.2023. 38 Vgl. Thomas H. Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: ders., Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Hrsg. u. übersetzt v. Elmar Rieger, Frankfurt / Main, New York 1992, S. 33‒94, spez. S. 47‒52.

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Marshall einerseits als grundlegende Ansprüche auf soziale Sicherheit und Teilhabe, die soziale Egalisierung vorantreiben würden. Sie umfassten für Marshall somit eine ganze Reihe von Rechten, vom Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit, über das Recht an einem vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe, bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards.39

Andererseits waren seine Überlegungen weit von Vorstellungen egalitärer Sozialverhältnisse oder Einebnung von Klassenunterschieden entfernt. Marshall ging es eher um Statusgleichheit denn Einkommensgleichheit und darum, soziale Unterschiede »zwischen den Individuen einer Bevölkerung« zu dynamisieren.40 Jose Harris wies darauf hin, wie eng Marshalls Konzeptionen den britischen Diskussionen um »active citizenship« aus dem späten Viktorianismus verwandt sind, deren Pathos um bürgerliche Tugendhaftigkeit, Pflichterfüllung im Dienst der Allgemeinheit, nach Autonomie strebender Selbstverantwortung und Selbstdisziplin aber deutlich abgemildert ist.41 Marshall rechnet indes noch mit ähnlichen sozialen Kontexten und Subjektivierungsidealen, d. h. mit sozialen Aufstiegsdynamiken wirtschaftlicher Prosperität und aktiver Selbstverpflichtung, »das Leben eines guten Bürgers zu führen und so viel wie möglich dazu beizutragen, die Wohlfahrt der Gemeinschaft zu fördern.«42 In einem knapp 20 Jahre später publizierten Vortrag »The Right to Welfare« thematisiert Marshall, inwiefern soziale Staatsbürgerrechte juristisch einklagbare Rechte sein sollten. In Verweis auf sozialpolitische Überlegungen in Skandinavien und den USA spricht Marshall von Bestrebungen, im »Armenhäusler mehr als nur ein Objekt zu sehen, und ihn auch tatsächlich in dieser Angelegenheit als Subjekt wahrzunehmen, das heißt, als Person, die Ursprung von Rechten und damit auch Pflichten sein konnte.«43 Für Großbritannien verweist Marshall auf das administrative Einspruchsrecht, das ermöglicht, von einem allgemeinen »Wohlfahrtsbewusstsein« der Gesellschaft getragen, den Einzelfall von Bedürftigkeit angemessen zu prüfen. Marshall zielt nicht auf ein legislatives Recht auf Wohlfahrt ab. Seine argumentativen Bemühungen zeigen allenfalls, wie umstritten die Legitimität wohlfahrtsstaatlicher Sicherung in den Jahren des britischen Nachkriegskonsenses war. Hierfür ist zum einen die historisch späte Etablierung eines britischen Wohlfahrtsstaats in Betracht zu ziehen. Aus der wohlfahrtsstaatlichen Tradition des 19. Jahrhunderts entwickelt, die in Großbritannien »Armenpolitik« war, beschränkte er sich lange überwiegend auf bedürftigkeitsgeprüfte und insoweit

39 40 41 42 43

Ebd., S. 40. Ebd., S. 73. Harris, Citizenship in Britain and Europe. Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, S. 89. Ebd., S. 97.

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auch individuell gewährte Leistungen in Notsituationen.44 Zum anderen ist die utilitaristische Rechtstradition des richterrechtlichen Common Law und das Fehlen einer kodifizierten Verfassung des Vereinigten Königrechts ursächlich dafür, dass soziale Grundrechte als fundamental formulierte staatliche Normsetzungen dort bis heute nicht existieren.45 Die Einhaltung von Grundrechten hängt von der konsensualen Anwendung des Common Law ab und vom souveränen Parlament, das in der langen Tradition der englischen Legalität als gesetzgebende Gewalt Vorrang vor dem Common Law erlangt hat. Insoweit kann der Einspruch der Bürgerinnen und Bürger gegen eine Legislative, die nicht im Sinn der Rule of Law handeln würde, nicht vor einer höchstrichterlichen Instanz erfolgen, sondern an der Wahlurne. Das Common Law hat aber bis in die Gegenwart nicht erreicht, dass es einen »substantive floor of welfare rights« gibt, einen schriftlich fixierten Anspruch und Rechtsweg, der den Bürgerinnen und Bürgern im Konfliktfall ein Grundrecht auf finanzielle Unterstützung oder Bezug auf grundlegende Freiheits- und Gleichheitswerte zusichern würde.46 Ähnlich indirekt wirkte juridisches Recht in der sozialen Verwaltung. Hier hatte das Ermessen (discretion) der Amtsträger insbesondere in der individuellen Gewährleistung zusätzlicher Sachleistungen von Sozialhilfe große Bedeutung. Es stand allerdings auch immer wieder in der Diskussion, inwieweit »discretion« als Ausweis individueller Freiheit der Amtsentscheider, dem Einzelfall gerecht zu werden, ein notwendiges Korrektiv zur Rigidität rechtlicher Regulierung sei oder den Antragsteller der Willkür der Amtsbehörde ausliefere.47 Daneben ist die geringe Interventionsmacht sozialrechtlicher Expertise in einem Rechtssystem, das stark von den advokatorischen Fähigkeiten seiner Vertreter lebt, in Rechnung zu stellen. Arbeits- und Sozialrecht wurden erst in den

44 Vgl. Dingeldey, Der aktivierende Wohlfahrtsstaat, S. 238; Bernd Schulte, Großbritannien – Das Ende des Wohlfahrtsstaats?, in: Sozialer Fortschritt 46 (1997), S. 30–33, hier: S. 30; Gerhard A.  Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983, S. 77 f.; Antony I. Ogus, Conditions in the Formation and the Development of Social Insurance. Legal Developments and Legal History, in: Hans F. Zacher (Hrsg.), Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, Berlin 1979, S. 337–348. 45 Hierzu: Werner Heun, Verfassungsrecht und einfaches Recht. Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 61 (2001), S. 80–118; Martin Partington, The Juridification of Social Welfare in Britain, in: Gunther Teubner (Hrsg.), Juridification of Social Spheres. A Comparative Analysis in the Areas of Labor, Corporate, Antitrust and Social Welfare Law, Berlin, New York 1987, S. 419–438; Schulte, S. 32. 46 Partington, The Juridification of Social Welfare in Britain, S. 428. 47 Ebd., S. 434; Julian Fulbrook, Administrative Justice and the Unemployed, London 1978, S. 201–207; Michael Hill, Social Security Policy in Britain, Aldershot 1990, S. 84–92; Michael Adler / Stewart Asquith, Discretion and Power, in: dies. (Hrsg.), Discretion and Welfare, London 1981, S. 9–32.

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1960er- und 1970er-Jahren zu anerkannten juristischen Subdisziplinen.48 Das britische Sozialrecht, das Social Security Law, war folglich ein marginalisiertes Rechtsgebiet, das auch in der praktischen Juristenausbildung eine untergeordnete Rolle spielte. Insoweit war der Rechtsbereich der sozialen Sicherheit in gewisser Weise lockerer in die Rechtsorganisation des Vereinigten Königreichs eingebunden als in der Bundesrepublik und in geringerem Ausmaß überhaupt kodifiziert oder rechtswissenschaftlich diskutiert. Dies lässt sich auch für das Recht des Arbeitslosen auf öffentliche Unterstützung in Großbritannien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so festhalten, obgleich die legislative Regelung der sozialen Sicherung von Arbeitslosen in Großbritannien älter war als in Deutschland. Bereits 1911 wurden erste Ansätze von Versicherungsschutz für männliche Arbeitslose in industriellen, saisonal oder zyklisch operierenden Branchen im National Insurance Act festgehalten, an dem William Beveridge bereits beratend tätig war.49 In der Sozialgesetzgebung der Nachkriegszeit wurden die Kernelemente seines wohlfahrtsstaatlichen Entwurfs in eine legislative Form gegossen. Im National Insurance Act 1946 wurde die versicherungsgestützte, zeitlich begrenzte finanzielle Absicherung für Arbeitslose in ein allgemeines Sozialversicherungssystem integriert. Sie war bezüglich der Entgelthöhe bei Eintritt des Bedarfsfalls als pauschales Stufenmodell angelegt und folglich schwächer als das deutsche Modell auf vorherige Einkommensleistungen bezogen. Trotz längerer Gesetzestradition war das Versicherungsprinzip für Arbeitslose, im Sinne eines sozialen Bürgerrechts auf finanzielle Absicherung in Zeiten von Erwerbslosigkeit, aber eher schwach legitimiert und verlor seit spätestens Ende der 1970er-Jahre nochmals an Bedeutung. Der Rechtswissenschaftler Neville Harris spricht hinsichtlich allgemeiner sozialrechtlicher Entwicklungen in Großbritannien für die Jahre 1973 bis 1986 von einem »shift from insurance to means-testing«, d. h. einer Abkehr vom Versicherungsprinzip zugunsten bedürftigkeitsgeprüfter, steuerlich finanzierter Sozialleistungen.50 Bereits von der ersten Wilson-Administration wurde die Verwaltung sozialer Unterstützungsleistungen, ob von Bedürftigkeitsprüfungen abhängig oder 48 Vgl. Willibald Steinmetz, Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925), München 2002, S. 635; Johanna Wenckebach, Antidiskriminierungsrechtliche Aspekte des Kündigungsschutzes in Deutschland und England, Baden-Baden 2012, S. 99; Fulbrook, Administrative Justice and the Unem­ ployed, S. 196; Bernd Schulte, Einführung in das Recht der sozialen Sicherheit von Großbritannien, in: Gerhard Igl / Bernd Schulte / Thomas Simons (Hrsg.), Einführung in das Recht der sozialen Sicherheit von Frankreich, Großbritannien und Italien, Berlin 1977, S. 149–337, hier: S. 149–151. 49 Vgl. Kathleen Jones, The Making of Social Policy in Britain 1830–1990, London 1991, S. 101 f., 120–148; Glennerster, British Social Policy, S. 20–43; Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983, S. 93 f.; Mohr, Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat, S. 80. 50 Vgl. Harris, Beveridge and Beyond, S. 87–117.

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nicht, im Ministry of Social Security Act 1966 institutionell zusammengefasst. Die Reformen zielten darauf, die Antragsbarrieren für die bedürftigkeitsgeprüfte Sozialhilfe zu senken, und der öffentlichen Fürsorge ihr Stigma zu nehmen.51 Vorangegangen waren die bis in die frühen 1970er-Jahre anhaltenden »New Britain«-Modernisierungspolitiken der beiden Labour-Regierungen Wilsons seit 1964.52 Erstmals wurde im Ministry of Social Security Act ein Recht auf finanzielle Unterstützung für Bedürftige explizit legislativ formuliert: »every person in Great Britain of or over the age of sixteen whose resources are insufficient to meet his requirements shall be entitled (…) to a supplementary pension (…) [or] to a supplementary allowance.«53 Die institutionelle Vereinheitlichung der Sozialleistungen bildete der Social Security Act (SSA) von 1973, der vorangegangene National Insurance Acts ersetzte, legislativ ab. Das von den Konservativen entwickelte Gesetzespaket trat allerdings nicht in Kraft und wurde 1975 vom SSA der Labour-Regierung abgelöst, der einkommensbezogenen Sozialleistungen, flankiert vom Social Security Pensions Act und dem Child Benefit Act des gleichen Jahres, ein letztes Mal politisches Gewicht verlieh.54 Spätestens mit der Zahlungskrise 1976 war die Sozialpolitik der Labour-­ Regierung von ökonomischen Zwangslagen bestimmt. In Teilen der britischen Forschungsliteratur wird folglich eine sozialpolitische Zäsur nicht im Regierungsantritt Margaret Thatchers gesehen, sondern bereits auf die Kreditanleihe beim Internationalen Währungsfonds 1976 datiert.55 Der allen Sympathien für restriktive Sozialpolitik unverdächtige Armutsforscher, Sozialexperte und Vorsitzende der Supplementary Benefit Commission David Donnison warnte bereits 1978 vor einem Kollaps der Sozialversicherung und befürwortete ein vereinfachtes, letztlich besser zu kontrollierendes System bedürftigkeitsgeprüfter Sozialleistungen.56 Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass mit der Regierungsübernahme der Konservativen wohlfahrtsstaatliche Strukturen mittel- und langfristig unterlaufen wurden. Wohlfahrtsstaatliche Politiken schlitterten in Großbritannien vom »economic Hurricane« der späten 1970er-Jahren in den »ideological Blizzard« des Thatcherismus der frühen 1980er-Jahren.57

51 Hierzu auch: Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 156; Calvert, Social Security Law, S. 6. 52 Vgl. Price, Office of Hope, S. 124–145. 53 Zitiert nach: Ulrike Davy / Dilek Çinar, Ausgewählte europäische Rechtsordnungen, in: Ulrike Davy (Hrsg.), Die Integration von Einwanderern. Rechtliche Regelungen im europäischen Vergleich, Frankfurt / Main, New York 2001, S. 197–923, hier: S. 898. 54 Vgl. Hill, Social Security Policy in Britain, S. 39; Harris, Beveridge and Beyond, S. 116; Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 156; Calvert, Social Security Law, S. 341. 55 Vgl. hierzu: Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 316; Glennerster, British Social Policy. 1945 to the Present, S. 189f; Harris, Tradition and Transformation, S. 110–116; Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber, S. 222. 56 Vgl. Hill, Social Security Policy in Britain, S. 51f 57 Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 322.

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Arbeitslose waren erstrangige Objekte der konservativen, monetaristisch begründeten, gleichwohl politisch motivierten Sparpolitiken. So wurden im SSA (Nr. 2) von 1980 die einkommensabhängigen Zulagen (Earnings-Related Supplement) von Arbeitslosenversicherung und Krankengeld, die seit 1966 bestanden hatten, abgeschafft sowie wenig später die Versteuerung von Arbeitslosenunterstützung eingeführt.58 Der SSA von 1986, unter Sozialminister Norman Fowler beraten und 1988 in Kraft gesetzt, wurde als grundlegendste Überarbeitung des Sozialsystems seit Beveridge angekündigt und setzte die Agenda für zukünftige Sozialpolitik.59 Das regierungsamtliche Grünbuch von 1985, das den Fahrplan der Gesetzesinitiative vorgab, adressierte die Selbstverantwortung des Individuums, dem die staatliche Wohlfahrt nicht im Wege stehen sollte. Basis der sozialen Sicherung sollte ein gleichrangiges Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern sein: »a partnership between the individual and the state.«60 Auch hier bestand der überwiegende Teil der Reform in der forcierten Fortsetzung der unter Labour begonnenen Verwaltungsmodernisierung. Bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistungen (nun Income Support benannt) wurden vereinheitlicht und in zwei Bezugsklassen, für die unter 25-jährigen und über 25-jährigen, aufgeteilt. Zusätzliche Leistungen wurden für Familien, Behinderte und Ältere gewährt. Die Neuerungen erleichterten einerseits schlicht administrative Abläufe, vor allem indem sie computergestützte Antragsverfahren ermöglichten. Betrachtet man die Fowler-Reformen andererseits im breiteren Kontext der konservativen Regierungspolitiken, die bis Ende der 1980er-Jahre implementiert wurden, bedeuteten sie gleichwohl eine sozialpolitische Neuorientierung. Das individuelle Recht auf Wohlfahrt wurde deutlich geschwächt. Zum einen, da die vereinfachten Regelungen den administrativen Spielraum für den Einzelfall verkleinerten.61 Zum anderen wurden alle zusätzlichen finanziellen Leistungen, die aufgrund außergewöhnlicher Umstände gezahlt wurden, in einem »Social Fund« zusammengefasst und dem Ermessensspielraum des zuständigen »Social Fund Officer« der, nun budgetgebundenen, lokalen Sozialbehörde anheimgegeben. Widerspruch von Leistungsempfängern gegen dessen Entscheidungen waren nicht vorgesehen.

58 Vgl. Glennerster, British Social Policy. 1945 to the Present, S. 181; John Micklewright, The Strange Case of British Earnings-Related Unemployment Benefit, in: Journal of Social Policy 18 (1989), S. 527–548; John Mesher, The 1980 Social Security Legislation. The Great Welfare State Chainsaw Massacre?, in: British Journal of Law and Society 8 (1981), S. 119–127; Mohr, Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat, S. 131. 59 Hierzu: Neville Harris, Widening Agendas: the Social Security Reviews and Reforms of 1985–8, in: ders. (Hrsg.), Social Security Law in Context, S. 119–151; Hill, Social Security Policy in Britain, S. 56, 63; Rodney Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 344. 60 Reform of Social Security, London 1985, para 1.5, zitiert nach: Harris, Widening Agendas, S. 119. 61 Zitiert nach: Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 344.

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Norman Fowler schaffte als Arbeitsminister 1987 die MSC ab und führte die Verwaltung von Arbeitsvermittlung und Leistungsbezug wieder zusammen. Zuvor als Staatsekretär enthusiastischer Befürworter von Privatisierungsideologie und Privatisierungspolitiken gilt er als Anhänger der neoliberalen »New Right« und setzte auch im Ministeramt auf erzieherisches Agendasetting.62 Den Sozialstaat nun wieder als »welfare state« apostrophierend, kündigte er an »to change this depressing climate of dependence and revitalize the belief which has been such a powerful force throughout British history: that individuals can take action to change their lives.«63 John Moore, einst aufsteigender Stern der Konservativen und seit 1987 Gesundheits- und Sozialminister, wurde zwar 1989 bereits wieder demissioniert, hinterließ aber mit dem SSA von 1989 ein sozialpolitisches Vermächtnis, das besonders Arbeitslose in ihren sozialen Rechten einschränkte. Das Anrecht auf »zumutbare« (suitable) Erwerbsarbeit wurde im Gesetzestext stark eingeschränkt und der Status von Arbeitslosigkeit an ihre Bereitschaft gebunden, »aktiv« nach Arbeit zu suchen (»actively seeking employment«).64 Arbeitslose wurden legislativ als passive Wohlfahrtsempfänger, als »voluntary unemployed«, denunziert und damit Disziplinierungspolitiken wiederbelebt, die an Gesetzesvorgaben der 1920er-Jahre gemahnten, die finanzielle Unterstützung an den Nachweis banden, »ernsthaft nach Erwerbsarbeit zu suchen« (»genuinely seeking whole-time employment«).65 In Großbritannien fächerte staatliche Gouvernementalität von Sozialpolitiken das Spektrum von sozialrechtlich wirksamen Machttechniken auf, zudem erstmals Grundformen des Vertragsrechts in Form obligatorischer und sanktionierter Teilnahmeverpflichtungen zu Trainingsmaßnahmen in das Sozialrecht eingeführt wurden. Sie kündigten an, dass das Vertragsrecht das Fundament der aktivierenden Arbeitspolitiken in den 1990er-Jahren werden wird. Mit den Jobseeker’s Agreements, die im Jobseekers Act von 1995 unter der konservativen Regierung John Majors beschlossen und 1996 eingeführt wurden und die eine Eingliederungsvereinbarung (»Jobseeker’s Agreement«) an den Beginn obligatorischer Vermittlungsberatung setzten, wurden Arbeitslose zum Vertragspartner des Staates gemacht.66 Arbeitslosenunterstützung, nun Job­ seeker’s Allowance genannt, die Unemployment Benefit und Income Support

62 Vgl. ebda., S. 340 f.; Harris, Widening Agendas, S. 146 f. 63 Zitiert nach: King, Actively seeking Work?, S. 180. 64 SSA 1989, 12 (1), (b), und 12 (4), (1), (b), »actively seeking«: SSA 1989, 10, www.legislation. gov.uk/ukpga/1989/24/pdfs/ukpga_19890024_en.pdf, 30.01.2023; Wikeley, Unemployment Benefit, S. 303; Lundy, From Welfare to Work? S. 300; Harris, Widening Agendas, S. 146. 65 Wikeley, Unemployment Benefit, S. 298 f. 66 Vgl. Jobseekers Act 1995, 1, (2), (b), http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1995/18/part/I/ enacted, 30.01.2023; hierzu auch: Lundy, From Welfare to Work, S. 29; Harris, The Welfare State, Social Security, and Social Citizenship Rights, S. 38.

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Vor Gericht

zusammenführte, wurde nur dann gewährt, wenn zwischen dem Arbeitslosen und der Amtsvertretung diese Vereinbarung über ihre aktive Suche nach Erwerbsarbeit sowie ihre Verfügbarkeit für Erwerbsarbeit abgeschlossen wurde. Dieser Vertrag sah nicht nur bei Zurückweisung eines Arbeitsangebots umfassende Sanktionierung vor, sondern bestrafte auch Terminversäumnisse im Jobcenter, nicht getätigte Bewerbungen oder abgelehnte Trainingsmaßnahmen systematisch mit dem Entzug finanzieller Unterstützung. Nikolas Rose spricht in Bezug auf die britische Arbeitsmarktpolitik der 1990er-Jahre von den »politics of the contract« des »fortgeschrittenen« britischen und US -amerikanischen Liberalismus der 1990er-Jahre, die Kundenservice und Kaufentscheidung vorgaukele, jedoch im Grunde Rechte des staatsbürgerlichen Subjekts von dessen Selbstführungs- und Kooperationsqualitäten abhängig mache.67 In der euphemistischen Sprache des »New Deal« der folgenden Labour-Regie­ rung von Tony Blair basierten derartige Wohlfahrtskontrakte wie das Job­seeker’s Agreement auf einem Vertrag zwischen zwei Partnern mit wechselseitigen Rechten und Pflichten: dem Staat als Leistungsanbieter und dem Bürger als Leistungsnehmer.68 Aber nicht nur einseitige Sanktionsmöglichkeiten des Staates machten aus dem Vertragsverhältnis ein asymmetrisches. Das Recht von Bürgerinnen und Bürgern auf soziale Unterstützung war schlicht nicht mehr vorbehaltlos, sondern an staatlich definiertes Wohlverhalten, das Sozialmissbrauch unterstellte, gebunden. Der Grundsatz des Ermessensspielraum der lokalen Behörden hatte sich mit zunehmender Regulierungsdichte der Sozialgesetzgebung weitgehend verflüchtigt bzw. wurde spätestens im Lauf der 1980er-Jahre einseitig zum Nachteil und zur Kontrolle von Sozialleistungsempfängern ausgeübt.69 Die Kritik am Ermessensspielraum der Sozialbehörden, die Ende der 1960er-Jahre besonders lautstark von linken »welfare rights«-Gruppierungen als Kritik an behördlicher »Willkür« formuliert wurde, war damit letztlich an ihr Ziel gelangt – freilich mit ganz anderen Folgen als intendiert, war doch die rechtliche Formalisierung nicht unbedingt mit einer Ausweitung rechtlich durchsetzbarer Belange sozialer Leistungsempfänger verbunden.70 Dies zeigen auch die Entwicklungen im formellen Klageweg gegen behördliche Entscheidungen, die weitgehend parallel zur wohlfahrtsstaatlichen Gesetzgebung verliefen. Nach Jahren pragmatischen, durchaus chaotischen Nebeneinan67 Rose, Powers of Freedom. Reframing Political Thought, S. 165, 267. 68 Vgl. Department of Social Security, New Ambitions for our Country. A New Contract for Welfare, London 1998; zur Kritik: Bernhard Hilkert / Lutz Leisering, »New Britain«, »New Labour«, »New Deal«– Innovation oder Rhetorik? Das Beispiel aktivierender Sozialhilfepolitik unter Blair, in: Christine Stelzer-Orthofer (Hrsg.), Zwischen Welfare und Workfare. Zur Neukonzeption sozialer Leistungen in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion, Linz 2001, S. 193–228. 69 Vgl. Hill, Social Security Policy in Britain, S. 84. 70 Vgl. ebd., S. 46; Tony Prosser, Test Cases for the Poor. Legal Techniques in the Politics of Social Welfare, London 1983, S. 85; Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 156.

Verhandlungen von sozialer Akzeptanz

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ders verschiedener Rechtswege für versicherungsgestützte und bedarfsgeprüfte Leistungen, wurden diese schließlich, den Vereinheitlichungstendenzen der Sozialgesetzgebung folgend, im Health and Social Services and Social Security Adjudications Act (HASSASSA) von 1983 in einer einheitlichen Gerichtsbarkeit zusammengefasst.71 Der Beschwerdeweg verlief nun z. B. sowohl bei Empfängern von Sozialhilfe als auch von Arbeitslosenunterstützung über drei Instanzen: erstens einer lokalen behördlichen Schiedsstelle (adjudication officers), zweitens dem lokalen Sozialgericht (Social Security Tribunal) und schließlich den zentralen Sozialgerichten (Social Security Commissioner) in England, Wales und Schottland. Die Klagen vor den lokalen und zentralen Sozialgerichten, die sich gegen behördliche Entscheidungen in puncto Arbeitslosenunterstützung bezogen, bewegten sich bis in die frühen 1970er-Jahre ca. bei 3.000 pro Jahr.72 Im Jahr 1975 kletterte die Anzahl der Klagefälle erstmals auf über 4.000 (4.427) und überstieg 1980 die Marke von 5.000 (5.131) gerichtlich monierten Beschwerden von Arbeitslosen. 1985 wurde die Höchstmarke von 5.356 eingereichten Klagen im Betrachtungszeitraum erreicht. Im Folgejahr begannen die juridischen Beschwerden zu sinken, um 1989 wieder bei 3.399 zu liegen. Schlugen sich in der Klagekonjunktur Anfang der 1980er-Jahre vor allem die restriktiven, finanziell einschneidenden Gesetzesakte nieder, so könnte sich der nahezu kontinuierliche Anstieg der eingelegten Widersprüche seit den frühen 1970er-Jahre auch dem Ausbau kostenloser Rechtshilfe verdanken, die von einem Netzwerk gewerkschaftlicher und bürgerrechtlicher Gruppierungen betrieben wurde.73

2. Verhandlungen von sozialer Akzeptanz: Zumutbarkeit von Arbeit Innerhalb der differenten Rechtskontexte Großbritanniens und der Bundesrepu­ blik sind die Verfahrensanlässe im Themengebiet von Arbeitslosigkeit weitgehend mit dem Anspruch des Arbeitslosen auf finanzielle Unterstützung befasst. In der Bundesrepublik wurde überwiegend Widerspruch gegen Anerkennung oder Ablehnung einer von der Bundesanstalt empfohlenen Maßnahme von Umschulung und Weiterbildung, den Status der Verfügbarkeit von Arbeitslosen, die Definition von Selbstständigkeit, Verhängung von Sperrfristen in finanziellen 71 HASSASSA 1983, 25, Schedule 8; dazu: Roy Sainsbury, Social Security Decision Making and Appeals, in: Harris (Hrsg.), Social Security Law in Context, S. 207–230; Fulbrook, Administrative Justice and the Unemployed, S. 195–207. 72 Die folgenden Zahlenangaben der eingereichten Klagen nach: Social Security Statistics 1988, S. 286–289; Social Security Statistics 1989, S. 473; Social Security Statistics 1990, S. 322. 73 Hierzu: Chris Smith / David Hoath, Law and the Underprivileged, London, Boston 1975, S. 228–230.

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Vor Gericht

Leistungen bei Kündigung oder finanzielle Unterstützung während eines Streiks eingelegt.74 In Großbritannien verursachte die Regelung, Unterstützung bei konjunkturbedingter Arbeitslosigkeit, aber nicht im Fall einer streikbedingten Aussperrung zu zahlen und insofern in der Rechtspraxis letztere von der streikbedingten Arbeitseinstellung innerhalb oder des gesamten Betriebs unterscheiden zu müssen, rechtlichen Klärungsbedarf. Daneben standen Fälle von selbst verschuldeter Arbeitslosigkeit durch freiwillige Kündigung oder wegen Fehlverhaltens des Arbeitnehmers sowie die Dauer von Arbeitslosenunterstützung und die Berechtigung von Sperrfristen zur Verhandlung.75 Im Folgenden steht der Rechtsbestand von zumutbarer Arbeit im Mittelpunkt. Der Rechtsbegriff der Zumutbarkeit bezeichnete trotz semantischer und rechtshistorischer Differenzen in Großbritannien und der Bundesrepublik in beiden Ländern sozialrechtliche Regelungen, die Arbeitnehmer dazu berechtigten, eine Arbeit aufzugeben, oder die es Arbeitslosen erlaubten, eine Erwerbstätigkeit abzulehnen, ohne hierfür durch Minderung oder Entzug finanzieller Leistungen sanktioniert zu werden. Im Begriff »zumutbarer Arbeit« wird die Grenze eingezogen, welche Erwerbstätigkeit von Arbeitslosen sozial zu akzeptieren ist bzw. welche Akzeptanzschranken gegenüber Erwerbstätigkeit Arbeitslose geltend machen können. Der Begriff steht im Zusammenhang mit Debatten über Rechte und Pflichten von Arbeitslosen gegenüber der Gesellschaft und umgekehrt über die Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber den Arbeitslosen und scheint deshalb besonders geeignet, Subjektivierung in rechtlichen Kontexten lesbar zu machen. Für Arbeitslose werden neben den zu akzeptierenden Bedingungen von Lohnarbeit in diesen Regeln auch veränderte Anforderungskataloge von Flexibilität erfahrbar. Zumutbarkeitsregeln zwingen zu räumlicher, zeitlicher und beruflicher Flexibilität; sie formulieren die Zumutungen von »Diskontinuitäten und sozialen Kontingenzen« angesichts variierender Ansprüche an die Flexibilität des Arbeitnehmers und Arbeitslosen im Zeichen struktureller Massenarbeitslosigkeit.76 Aufgrund der Schutzfristen personenbezogener Verfahrensakten muss im Folgenden auf die  – vermutlich lohnenswerte  – Auswertung sozialrechtlicher Fallakten verzichtet werden.77 Es werden zur Schilderung von Fallstudien lediglich veröffentlichte Gerichtsurteile herangezogen. 74 Werner Thieme, Arbeitsförderung, in: Sozialrechtsprechung. Verantwortung für den sozialen Rechtsstaat. Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts. Bd. 1. Hrsg. v. Deutschen Sozialgerichtsverband e. V., Köln, Berlin u. a. 1979, S. 361–390. 75 Vgl. Calvert, Social Security Law, S. 145–203. 76 Katharina Pühl, Der Bericht der Hartz-Kommission und die »Unternehmerin ihrer selbst«. Geschlechterverhältnisse, Gouvernementalität und Neoliberalismus, in: Pieper /  Gutiérrez Rodríguez (Hrsg.), Gouvernementalität, S. 111–135, hier: S. 115. 77 Die Schutzfristen betragen in der Bundesrepublik 60 Jahre nach Entstehung der betreffenden Rechtsakte, in Großbritannien 80 Jahre nach dem Tod des in der Rechtsakte Betroffenen; für eine lohnenswerte Nutzung älterer sozialrechtlicher Fallakten: Poesche, Gesetz und Moral.

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2.1 Vom Qualifikationsschutz zur Verteidigung der Grundrechte in der Bundesrepublik Zumutbarkeit findet in verschiedenen bundesdeutschen Rechtskontexten Verwendung (Unterhaltsrecht, Strafrecht, Verwaltungsrecht, Ehescheidungsrecht) und definiert immer Anforderungen der Rechtsordnung an das Rechtssubjekt.78 Im Sozialrecht hat der Begriff insofern Bedeutung, als er den Bürgerinnen und Bürgern gewissermaßen die Grenzen ihrer sozialstaatlichen Begünstigung aufzeigt und sie stattdessen auf ihre Pflichten gegenüber der Solidargemeinschaft verweist. Der Begriff »zumutbare Arbeit« wurde in der Bundesrepublik legislativ erstmals im AFG von 1969 verwendet und seither in den Regelungen und Neufassungen des Gesetzes weiter ausdifferenziert.79 Das AFG verpflichtete den Arbeitslosen, jede ihm »zumutbare Beschäftigung« anzunehmen, und ersetzte die Formulierungen des AVAVG von 1927 und seiner Neufassung von 1957, wonach Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung hatte, wer »ernstlich bereit« war, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts auszuführen.80 Seit dem AVAVG war die Ablehnung oder Verweigerung einer zumutbaren Beschäftigung sanktioniert. Laut AFG trat in diesem Fall eine Sperrung der finanziellen Unterstützung von vier Wochen ein. Im Wieder­holungsfall erlosch der Anspruch auf Arbeitslosengeld. Die gesetzliche Festschreibung von 1969 bedeutete indes nicht, dass vorher Arbeitslose jede Beschäftigung anzunehmen hatten. Seit den Anfängen der Bun78 Hierzu: Helmar Bley, Die (Un)Zumutbarkeit als Sozialrechtsbegriff, in: Wolfgang Gitter /  Werner Thieme / Hans F. Zacher (Hrsg.), Im Dienst des Sozialrechts. Festschrift für Georg Wannagat, Köln u. a. 1981, S. 19–49, hier: S. 19 f.; Susanne Peters-Lange, Zumutbarkeit von Arbeit. Ein Plädoyer zur Rechtsfortentwicklung, Köln 1992, S. 42–89; Hermann HummelLiljegren, Zumutbare Arbeit. Das Grundrecht des Arbeitslosen, Berlin 1981, S. 77–96. 79 Vgl. Stefan Sell, Entwicklung und Reform des Arbeitsförderungsgesetzes als Anpassung des Sozialrechts an flexible Erwerbsformen? Zur Zumutbarkeit von Arbeit und Eigenverantwortung von Arbeitnehmern, in: Mitt AB 31 (1998), S. 532–549; ebd.: Zur normativen Funktionalität der »Zumutbarkeit« von Arbeit in der Arbeitslosenversicherung, in: Sozialer Fortschritt 45 (1996), S. 84–88; Norbert Möller-Lücking, Unzumutbare Zumutbarkeitsanordnung, in: Soziale Sicherheit 31 (1982), S. 129–132; Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit; Jürgen Karasch, Der Begriff der »Zumutbarkeit« im Wandel der Rechtsauffassungen vom AVAVG 1927 bis zum AFKG 1982, in: Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung 37 (1983), S. 65–72; den Zusammenhang von Zumutbarkeitsregeln und öffentlicher Debatte betonen: Frank Oschmiansky, Faule Arbeitslose? Zur Debatte über Arbeitsunwilligkeit und Leistungsmissbrauch, in: APuZ B06-07/2003, http:// www.bpb.de/apuz/27813/faule-arbeitslose?p=all, 30.01.2023; Frank Oschmiansky / Silke Kull / Günther Schmid, Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen einer Debatte, Berlin 2001, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-115197, 30.01.2023; Bley, Die (Un) Zumutbarkeit als Sozialrechtsbegriff, S. 30–35. 80 § 103 AFG , in: BGBl. I 51/1969, S. 582–634, hier: S. 599; zum Folgenden vgl. BGBl. I 51/1969, S. 582–634, S. 603 (§ 119,3).

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desrepublik wurde »zumutbare Arbeit« als Rechtsgegenstand verhandelt. Die Entscheidungen der Gerichte gingen mithin den Regelungen des AFG voran und bestimmten die schriftliche Fixierung der Gesetzestexte mit. Nach der Massenarbeitslosigkeit der Nachkriegsjahre, in denen praktisch jede Arbeit zumutbar war, bestand das Hauptproblem der Rechtsprechung der 1950er- und 1960erJahre darin, auszutarieren, in welchem Maß sozialer Abstieg, vorwiegend im Sinne eines sozialen Ansehens in einem bisher ausgeübten Beruf verstanden, zugemutet werden könne.81 So war 1953 bei günstiger Arbeitsmarktlage Tiefbauarbeit für einen Schriftsetzer nach vier Wochen Arbeitslosigkeit unzumutbar. 1960 war es einer erfahrenen Büroangestellten nicht zuzumuten, die einfache Arbeit auszuüben, Minen in Kugelschreiber einzulegen. Im gleichen Jahr entschied das Landessozialgericht Niedersachsen, dass eine Tätigkeit als Schießbahnarbeiter einem landwirtschaftlichen Verwalter, der seit drei Jahrzehnten als Angestellter tätig war, wegen der Gefahr drohenden sozialen Abstiegs, nicht zuzumuten war. In den erwähnten Einzelfällen zeichnete sich ab, dass Abstiegszumutungen sozial gestaffelt und Arbeitern eher Abstieg zuzumuten war als Angestellten. In Urteilen, die Statusgruppe als solche betreffend, wurde hingegen auch von Angestellten, gefordert, Erwerbsarbeit jenseits der Angestelltentätigkeit aufzunehmen. 1961 entschied das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, dass derjenige, der nur als Angestellter tätig sein wolle, nicht ernstlich arbeitsbereit sei. 1967 wurde vom Landessozialgericht Niedersachsen geurteilt, dass auch Angestellten körperliche Arbeit zumutbar sei. Dissens bestand zwischen den Landessozialgerichten, inwiefern einer mutmaßlichen Einstellungspraxis der Arbeitgeber nachzugeben sei, demnach eine sozial niedriger eingestufte Arbeit die Rückkehr in den bisherigen Beruf verhindere.82 Während das Landessozialgericht Niedersachsen 1960 den Schutz des sozialen Abstiegs unterstrich, widersprachen dem die Landessozialgerichte Bayerns und Hamburgs 1962. Daneben wurden Mobilitätszumutungen und Zumutungen von Arbeitszeit problematisiert. 1952 waren sechs Stunden Fahr- und Wegzeiten täglich unzumutbar. Zudem galt eine Nachtruhe von kaum acht Stunden und das Fehlen von Entspannungszeit als unzumutbar. 1958 erging das Urteil, dass auswärtige Arbeit trotz nebenberuflicher Versorgung von Bienenvölkern zumutbar sei. 1961 konnte ein Arbeitsloser auswärtige Tätigkeit nicht mit dem allgemeinen Hinweis ablehnen, dass hierdurch seine Ehe gefährdet sei. Im zeitlichen Umfeld des AFG wurde in den frühen 1970er-Jahren im Zuge der Reform des Ehescheidungsrechts die Frage nach der Zumutbarkeit beruflicher Tätigkeit des vor der Scheidung nicht erwerbstätigen Ehepartners, in der gesellschaftlichen Realität der 1970er-Jahre also in der Regel die Ehefrau, unter 81 Vgl. Norbert Möller-Lücking, Unzumutbare Zumutbarkeitsanordnung, in: Soziale Sicherheit 31 (1982), S. 129–132; zum folgenden vgl. Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 106 ff. 82 Vgl. Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 108 f.

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dem legalen Begriff der Angemessenheit von Arbeit diskutiert. Wurde bereits im Ehegesetz von 1938 die Pflicht der geschiedenen Ehefrau formuliert, eine »Erwerbstätigkeit, die von ihr den Umständen nach erwartet werden konnte« auszuüben, so wurde im Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts von 1976 dem geschiedenen Ehepartner »nur eine ihm angemessene Erwerbstätigkeit« abverlangt.83 Bis in die 1980er-Jahre verschiebt sich die Grenze von Zumutbarkeit im Ehescheidungsrecht nur langsam und nur bei sozial Schwächeren oder der unteren Mittelschicht.84 Der in der Ehe erworbene »Rang« findet in Rechtsprechung und Kommentaren nach wie vor Berücksichtigung. In einschlägigen, zeitgenössischen juristischen Kommentaren diente die Ehefrau eines Fabrikanten, die nach der Ehescheidung nicht »wieder« als Sekretärin arbeiten musste, da dies ihren »sozialen Rang« unzumutbar gefährdet hätte, als Musterbeispiel. Wie in anderen Rechtszusammenhängen, waren im Scheidungsrecht bis in die frühen 1980er-Jahren »Statusidentität«, »Berufsstand« oder »Milieukonstanz« gewährleistet.85 Mithin waren damit aber auch soziale Ungleichheiten legal abgesichert. In den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren geriet der Begriff »zumutbare Arbeit« im AFG unter den Bedingungen steigender Arbeitslosigkeit in die juristischen und politischen Debatten und wurde präzisiert. Das Haushaltsstrukturgesetz von 1975 sah vor, dass bei der Beurteilung der Zumutbarkeit die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarkts, die Interessen der Gesamtheit der Beitragszahler und die des Arbeitslosen zu berücksichtigen seien.86 Der Begriff Zumutbarkeit wurde dahingehend konkretisiert, dass der Arbeitslose bereit sein musste, eine seiner bisherigen Tätigkeit nicht entsprechende Beschäftigung aufzunehmen, wenn ihm nach Lage des Arbeitsmarkts in absehbarer Zeit keine Beschäftigung in seinem früheren Beruf und keine gleichwertige Tätigkeit angeboten werden konnte. Dies galt jedoch unter anderem dann nicht, wenn etwa familiäre oder gesundheitliche Gründe entgegenstanden oder wenn Arbeitslose durch die Ausübung der angebotenen Beschäftigung in seiner weiteren beruflichen Entwicklung schwer beeinträchtigt würden. Im Folgejahr nahm die Zahl der von den Arbeitsämtern gegen Arbeitslose wegen Ablehnung zumutbarer Arbeit verhängten Sperrfristen um ein Drittel zu.87 Die Konkretisierung der Zumutbarkeitsregelungen bewirkte also unmittelbar restriktivere Praktiken der Arbeitsämter.

83 § 66 Ehegesetz von 1938 beziehungsweise § 1574 Abs. 2 BGB , zitiert nach: Peters-Lange, Zumutbarkeit von Arbeit, S. 46. 84 Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 80 f. 85 Ebd., S. 95. 86 Vgl. Werner Hoppe, Die »zumutbare Beschäftigung« (§ 103 Abs. 1 AFG). Zur Auslegung des Begriffs durch den Runderlass 230/78 der BA , in: Arbeit und Beruf 30 (1979), S. 3–8, hier: S. 4. 87 Vgl. Douglas Webber, Zwischen pragmatischem Anspruch und politischer Praxis. Die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik Deutschland von 1974 bis 1982, in: Mitt AB 15 (1982), S. 261–275, hier: S. 264.

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Das Gesetz erfüllte dennoch nicht die Erwartungen des Gesetzgebers. Vor allem die FDP drängte darauf, den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit zu konsolidieren.88 Im Haushaltsausschuss des Bundestags waren die Mitglieder der Regierungsfraktion von SPD und FDP bereits 1975 der Meinung, dass gerade eine Umschreibung des Begriffs Zumutbarkeit in der Praxis hilfreich wäre. Im Juli 1978 erklärte der Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg (SPD), aber immer noch im Widerspruch zu Teilen der SPD -Bundestagsfraktion und der Gewerkschaften, vor der Presse: Der Begriff der ›Zumutbarkeit‹ soll enger gefaßt werden. Arbeitslosen soll es künftig schwerer gemacht werden, eine neue Stelle als ›unzumutbar‹ abzulehnen. Arbeitslose (…) sollen mobiler werden (…). Das Arbeitsministerium will klarstellen lassen, daß übergangsweise auch eine Beschäftigung in Frage kommen kann, die zwar der bisherigen Tätigkeit oder der Ausbildung nicht ganz entspricht, aber persönlich doch zumutbar sein könne.89

Im August 1978 gab die Bundesanstalt einen Runderlass heraus, der aus Sicht der Behörde die Grundsätze zur zumutbaren Beschäftigung zusammenfasste, wie sie sich bis dahin aus der Verwaltungspraxis der Arbeitsämter und der Rechtsprechung der Sozialgerichte ergeben hatten.90 Ziel war es, die Gleichbehandlung von Arbeitslosen bei Vermittlungsangeboten bundeseinheitlich sicherzustellen sowie Auslegungskonflikte in den Ämtern zu reduzieren. Kernpunkte der Argumentation waren, die Arbeitslosen qualifikatorisch an den Arbeitsmarkt anzupassen sowie die Arbeitsbereitschaft von Arbeitslosen auf Felder jenseits ihrer beruflichen Qualifikation auszudehnen. Arbeitslose wurden nun in drei Qualifikationsstufen eingeteilt: A) Hochschulausbildung, B) Fachausbildung, C) alle restlichen Beschäftigungen. Ein Sprung von einer Stufe abwärts galt dem Runderlass gemäß für die Regelzeit von sechs Monaten als unzumutbar. Ein Sprung über zwei Stufen war nach einer Regelzeit von 12 Monaten angemessen. Nicht nur berufliche Mobilität wurde geregelt, auch die Zumutbarkeit von räumlicher Mobilität und sonstigen Arbeitsbedingungen setzte der Runderlass in Abhängigkeit zur Dauer der Arbeitslosigkeit. Nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit wurde nun eine Beschäftigung im Wochenendpendelbereich zumutbar. Wochenendpendeln war allerdings nicht zumutbar, wenn dem Pendler für seinen Aufenthalt am Wohnort eine Aufenthaltszeit von weniger als 40 Stunden verblieb. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit galt ein Umzug als zumutbar. Die Versorgung von Angehörigen, nebenberufliche Bildungsmaßnahmen, öffentliche Ehrenämter oder eine 88 Vgl. Webber, Zwischen pragmatischem Anspruch und politischer Praxis, S. 261–275, hier: S. 273; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, S. 510, sowie allgemein: Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik, S. 193–246. 89 Zitiert nach: Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 112 f. 90 Vgl. ebd., S. 112–119; Sell, Entwicklung und Reform des Arbeitsförderungsgesetzes als Anpassung des Sozialrechts an flexible Erwerbsformen?, S. 536; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, S. 513–516.

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Landwirtschaft im Nebenerwerb waren Einschränkungsgründe für räumliche Zumutungen. Private Bindungen, schulpflichtige Kinder, Hauseigentum und Berufstätigkeit des Ehegatten galten dagegen nur in Ausnahmefällen als wichtiger Grund zur Ablehnung einer Beschäftigung. Der Erlass rief heftigen Widerspruch seitens der Gewerkschaften und der SPD -Basis hervor. Kritisiert wurde, dass sozialer Abstieg erleichtert und Dequalifizierung in Kauf genommen würde. Unakzeptabel war seitens des DGB die geforderte räumliche Mobilität: die Gefahr eines individuellen »Nomadentums« oder auch »Wanderarbeiterschaft« wurde heraufbeschworen.91 Strittig war auch, inwiefern die Bundesanstalt, als institutionelle Urheberin des Erlasses, die bisherige Rechtsprechung lediglich konkretisierte oder eigeninitiativ verschärfte. Im so genannten »Geologenfall« hatte das Bundessozialgericht 1977 noch darauf bestanden, Arbeitslose nicht zu schnell und drastisch beruflich herabzustufen.92 Ein diplomierter Geologen hatte nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit eine angebotene Tätigkeit als Hilfsarbeiter abgelehnt, worauf ihm für vier Wochen der Bezug des Arbeitslosengeldes gesperrt worden war. Zuvor hatte er dem Arbeitsamt schriftlich ein potentielles Arbeitsangebot vorgelegt, das ihm eine seiner Ausbildung adäquate Beschäftigung garantierte, die drei Monate später beginnen sollte und voraussetzte, dass sein laufendes Promotionsverfahren beendet sei. In einer internen Stellungnahme für die Leistungsabteilung des Arbeitsamts wurde im Hinblick dieses Vorgehens die Verfügbarkeit des Klägers angezweifelt. Das Bundessozialgericht urteilte, die Sperrfrist sei aufzuheben und erwähnte in seiner Urteilsbegründung, dass die Bundesanstalt »zumindest aus Sicht des Klägers wahllos (…) ein Arbeitsangebot gemacht« hätte, »um seine Arbeitsbereitschaft zu testen«, da diese wegen seiner Promotionspläne in Zweifel gezogen worden sei.93 Mit dem Runderlass von 1978 stellte die Bundesanstalt jedoch die in der Rechtsprechung angemahnte Berücksichtigung des individuellen Einzelfalls im Bemühen, Allgemeingültigkeit der Regelungen herzustellen, hinten an und schuf mit der Definition der Qualifikationsstufen und der Fristen des zumutbaren Abstiegstempos, jeweils schärfere Varianten möglicher Auslegungen von Gesetzesvorlage bzw. Rechtsprechung. Damit entspricht der Runderlass, so der Wirtschaftsjurist Hermann Hummel-Liljegren in seinem Kommentar von 1981, »einer guten deutschen Verwaltungstradition, Anordnungen der Verwaltung möglichst klar und präzise abzufassen.«94 Der Runderlass stellt aber auch eindeutig die Rechtssicherheit der Behörde über sozialpolitische und auch sozialrechtliche Absichten, dem arbeitslosen Subjekt, das hier nachdrücklich zu einem 91 Rainer Brötz, Zur sozialen Ausgestaltung der »Zumutbarkeit« im AFG . Erfahrungen mit den paritätisch besetzten Widerspruchsausschüssen in den Arbeitsämtern, in: WSI-Mitteilungen 35 (1982), S. 105–113, hier: S. 107. 92 BSG , 7. Senat, Urteil vom 22.06.1977, 7 RAr 131/75; vgl. auch: Webber, Zwischen pragmatischem Anspruch und politischer Praxis, S. 271. 93 BSG , 7. Senat, Urteil vom 22.06.1977, 7 RAr 131/75, Rn. 6. 94 Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 119.

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Vor Gericht

verwalteten Subjekt wird, in seiner jeweiligen beruflichen Situation gerecht zu werden. Arbeitsminister Ehrenberg (SPD) geriet über die vom Runderlass der Bundesanstalt ausgelöste Debatte in den eigenen Reihen derart in Bedrängnis, dass er den zuständigen Abteilungsleiter Manfred Baden (CDU) in den vorläufigen Ruhestand versetzen ließ.95 Im Zuge der Kritik von Gewerkschaften, aber auch aufkommender verfassungsrechtlicher Bedenken wurde das AFG erneut und im Versuch vorhergehende Kontroversen juridisch zu definieren, überarbeitet.96 Novelliert wurde u. a. § 103 AFG, der nun besagte, dass bei der Beurteilung der Zumutbarkeit »die Interessen der Arbeitslosen und die der Gesamtheit der Beitragszahler gegeneinander abzuwägen« und »alle Umstände des Einzelfalles (…) zu berücksichtigen« seien. Damit sollten nun die Bedingungen des regionalen Arbeitsmarktes Beachtung finden. Ausdehnung der Zumutbarkeit durch Dauer von Arbeitslosigkeit, Zumutungen von beruflichem Abstieg, von Pendeln oder Umzug waren nur noch als bedingt zulässig definiert. Im zeitlichen Kontext der AFG -Reform hatte bereits das Bundessozialgericht in einem Grundsatzurteil vom Juni 1979 die Arbeitsämter zur Vorsicht gegenüber vorschnellen beruflichen Abstiegszumutungen gemahnt.97 Der Fall betraf einen gelernten Bankkaufmann und geprüften Betriebswirt, der eine Stelle als Programmierer mit BWL-Studium anstrebte, und dem nach eineinhalb Jahren Arbeitslosigkeit eine schlechter bezahlte Position als Betriebswirt in einer Universitätsverwaltung nicht zumutbar war. Hier spielte aber neben der reinen Qualifikation vor allem die Zumutung des finanziellen Abstiegs eine Rolle. In den »unteren« Qualifikationsstufen waren die Abstiegszumutungen der Richter steiler. So entschied das Bundessozialgericht 1979, eine Krankenpflegehelferin müsse notfalls auch als Verkäuferin arbeiten. Im Rahmen der Neuregelung von Widerspruchsverfahren innerhalb der Arbeitsämter im Jahr 1980 und der Einrichtung von paritätisch besetzten Widerspruchsstellen, die, wie erwähnt bis 1983 bestanden, sind einige Widersprüche gegen zugemutete Arbeit im Arbeitsamt West-Berlin verhandelt worden. Sie offenbaren eine gewisse ›eigensinnige‹ Anspruchshaltung der Beschwerdefüh95 Der Spiegel sprach in der Angelegenheit sinngemäß vom »Bauernopfer«, vgl. Nichts gewußt, In: Der Spiegel 32 (1978), 47, S. 131, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40606291. html, 30.01.2023. Manfred Baden ging unter Ehrenbergs Nachfolger Norbert Blüm 1987 als Staatssekretär in den endgültigen Ruhestand, vgl. Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Bd. 12. Karl Becker. Hrsg.  v. Deutschen Bundestag, Boppard / R hein 1993, S. 219 f.; zu Manfred Baden auch: Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik, S. 93; Herbert Ehrenberg begründete 2009 in Abgrenzung vom sozialpolitischen Kurs der SPD die linksorientierte Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten in der SPD (AGSS) mit. 96 Brötz, Zur sozialen Ausgestaltung der »Zumutbarkeit« im AFG , S. 107; vgl. auch: Hummel-­Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 123–127, 231–233 (Novellierung im Wortlaut); Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974–1982, hier: S. 327 f. 97 Vgl. Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 122 f., 128 f.

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rer, allerdings wurde in keinem Fall dem Widerspruch stattgegeben.98 Einem gelernten Eisenflechter war es nach zweieinhalb Monaten Arbeitslosigkeit zuzumuten, eine Stelle als Gartenbauarbeiter anzunehmen, da Eisenflechter ein Anlernberuf sei, der nicht auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt sei. Einer seit siebeneinhalb Monaten arbeitslosen Serviererin, die im zweiten Monat schwanger war und die zwei minderjährige Kinder zu betreuen hatte, war es im gleichen Jahr zumutbar, eine ABM-Stelle als Gartenarbeiterin in Teilzeit anzunehmen. Auch war es einem 63-jährigen arbeitslosen Gartenpfleger zumutbar, wieder in seinem Beruf an wechselnden Einsatzstellen und, dies wird explizit erwähnt, zusammen mit ausländischen Kollegen zu arbeiten. Amtsärztlich wurde festgehalten, dass Dauersteh- und Dauersitzarbeiten zu vermeiden seien. Eine 47-jährige Montiererin legte Widerspruch dagegen ein, nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit eine Tätigkeit in ihrem erlernten Beruf aufzunehmen, da dies einen Anfahrtsweg von einer halben Stunde und einen Arbeitsbeginn um viertel vor sieben bedeuten würde; damit würde aber der morgendliche Ablauf in der Familie, die Klägerin war verheiratet und hatte eine erwachsene Tochter, »in Unordnung gebracht«.99 Dieser Widerspruch blieb ebenso erfolglos wie die Klage eines arbeitslosen Kaufmanns, der eine Tätigkeit als Großhandelskaufmann ablehnte, da der zehnminütige Fußweg von der Bushaltestelle zur Firma aufgrund von Sand und Staub, von Sattelschleppern aufgewirbelt, unzumutbar sei. Ihm war es auch zuzumuten in der Einarbeitungszeit einem starken Raucher gegenüberzusitzen, obgleich dies, nach eigener Aussage, seine Arbeitsleistung hemmte und bei ihm eine negative Stimmungslage erzeugte. Seitens der Bundesanstalt wurde weiterhin die Rechtsunsicherheit der Gesetzeslage beanstandet oder, wie es Hummel-Liljegren formuliert, man war, anders als in Großbritannien nicht bereit, »mit Ambivalenzen zu leben.«100 Der Spiegel kolportierte eine dahingehende Law-and-order-Position von Josef Stingl, seit 1968 Präsident der Bundesanstalt und vormals Bundestagsabgeordneter der CDU, der reklamierte, seine »Beamten können nicht mehr so hart zufassen.«101 Tatsächlich ging die Anzahl der verhängten Sperrfristen zurück und zog erst gegen Ende der 1980er-Jahre wieder an.102 Steigende Arbeitslosenzahlen taten ein Übriges, damit die Debatte um das AFG nicht abriss. Die Polemik der Opposition schwenkte um: von der »Luftmatratze« des Pendlers, die der CDU-Sozialexperte Norbert Blüm in der Debatte der 5. AFG -Novelle dem SPD -Arbeitsminister Herbert Ehrenberg 1979 vorhielt, der »wohl so eine Campinggesellschaft für ideal« hielte, zum Topos der »Hängematte«, in der es sich, laut dem CSU-Politiker Erich Riedl im Bundestag 1981, 98 Ebd., S. 128 f. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 127. 101 Hart zufassen, in: Der Spiegel (1982), 9, S. 27 f., http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/ spiegel/pdf/14347244, 30.01.2023. 102 Vgl. Brötz, Zur sozialen Ausgestaltung der »Zumutbarkeit« im AFG , S. 105–113; für den Verlauf der Sperrzeitenquote: Oschmiansky / Kull / Schmid, Faule Arbeitslose?, S. 6, 27.

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Vor Gericht

Demonstranten, Hausbesetzer und Anarchisten bequem gemacht hätten.103 Befeuert von der Diskussion um den »Leistungsmissbrauch« der Arbeitgeberverbände, d. h. dem Vorwurf des Sozialmissbrauchs, wurde die Diskussion um das AFG neu aufgerollt und Zumutbarkeit im AFKG von 1981 enger definiert.104 Das AFKG wurde im Zuge der Beratungen zur Sanierung des Bundeshaushalts im Dezember 1981 verabschiedet. Im Mittelpunkt aller Debatten um Änderungen des AFG stand die Bekämpfung des Missbrauchs von Sozialleistungen durch Arbeitslose, vor allem durch Neufassungen der gesetzlichen Bestimmungen über Zumutbarkeit, Verfügbarkeit, Meldeversäumnisse und Sperrzeiten. In das AFG wurden Passagen eingefügt, die besagten, dass der Arbeitsvermittlung nur zur Verfügung stehe, wer unter anderem bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen. Die Bundesanstalt wurde dann aufgefordert, eine Anordnung zu erlassen, die den Zumutbarkeits-Begriff weiter konkretisierte. Im März 1982 genehmigte der Verwaltungsrat der Bundesanstalt gegen die Stimmen der Arbeitnehmervertreter eine neue Zumutbarkeitsanordnung, die nach Zustimmung der Bundesregierung im April 1982 in Kraft trat. Nun hieß es im allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung: »Dem Missbrauch von Leistungen soll vor allem durch Änderung der gesetzlichen Bestimmungen über die Zumutbarkeit (…) entgegengewirkt werden.«105 Die Qualifikationen von Beschäftigung und damit zeitlich gestaffelter Zumutungen beruflicher Mobilität bestanden nun aus fünf Stufen: 1. Hochschul- und Fachhochschulausbildung, 2. Aufstiegsfortbildung auf einer Fachschule oder in einer vergleichbaren Einrichtung, 3. Ausbildung in einem Ausbildungsberuf, 4. Anlernausbildungen, 5. alle übrigen Beschäftigungen. Ein Sprung von einer Stufe abwärts galt für die Regelzeit von vier Monaten als unzumutbar. Bei mindestens sechsjähriger Berufszugehörigkeit betrug die Regelzeit sechs Monate. Innerhalb einer Qualifikationsstufe waren Einkommenseinbußen von 20 Prozent des letzten Bruttoarbeitsentgelts zumutbar sowie ungünstigere Arbeitsbedingungen und längere Anfahrtswege zur neuen

103 Äußerungen Blüms nach: Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 221 (Abdruck der 16. Bundestagsdebatte zur Zumutbarkeit einer Arbeit); Zitate Riedls nach: Oschmiansky /  Kull / Schmid, Faule Arbeitslose?, S. 2, Anm. 4, allerdings unter Vernachlässigung politischer Differenzen der Positionen; auch zitiert in: Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974–1982, S. 328; vgl. auch für Riedl, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 40. Sitzung. 02.06.1981, S. 2121, http://dipbt. bundestag.de/doc/btp/09/09040.pdf, 30.01.2023, sowie für Westphal, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 52. Sitzung. 17.09.1981, S. 2974, http://dipbt.bundestag.de/ doc/btp/09/09052.pdf, 30.01.2023. 104 Vgl. Brötz, Zur sozialen Ausgestaltung der »Zumutbarkeit« im AFG , S. 105–113; Werner Hoppe, AFKG seit 1.1.1982 in Kraft, in: Arbeit und Beruf 33 (1982), S. 33–36; zum Folgenden vgl. Sell, Entwicklung und Reform des Arbeitsförderungsgesetzes als Anpassung des Sozialrechts an flexible Erwerbsformen?, S. 532–549, und Karasch, Der Begriff der »Zumutbarkeit«. 105 Zitiert nach: Fritz-Heinz Himmelreich, Ein Stückchen mehr Gerechtigkeit, in: Wirtschaftsdienst 62 (1982), S. 159 ff., hier: S. 159.

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Arbeitsstelle. Bei mehr als sechsstündiger Tätigkeit waren für Hin- und Rückfahrt zur Arbeitsstelle täglich bis zu zweieinhalb Stunden in Kauf zu nehmen. Wochenendpendeln oder Umziehen wurde zumutbar, wenn überregionale Mobilität in dem Beruf üblich war oder eine besonders ungünstige Wohnlage die Vermittlung für einen näher gelegenen Arbeitsplatz aussichtslos erscheinen ließ. Die Dauer der Regelsperrzeit wurde auf acht Wochen verdoppelt.106 Im Vergleich zur vorhergehenden Regelung des AFG, die gerade einmal vier Jahre alt war, und den massiv gesenkten Fristen, in denen Qualifikationsverlust zumutbar war, war berufliche Qualifikation deutlich abgewertet worden. Mit dem Nachfolgegesetz von AFG respektive AFKG, dem ArbeitsförderungsReformgesetz von 1997 und der Einordnung in das Dritte Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB III), das 1998 in Kraft trat, wurde der Qualifikationsschutz gänzlich aufgehoben und durch gestaffelten Einkommensschutz ersetzt. Dem Arbeitslosen waren nunmehr »alle seiner Arbeitsfähigkeit entsprechenden Beschäftigungen zumutbar, soweit allgemeine oder personenbezogene Gründe der Zumutbarkeit einer Beschäftigung nicht entgegenstehen.«107 Nach Ablauf von sechs Monaten wurde die Ablehnung von Erwerbstätigkeit, die finanziell an das Arbeitslosengeld heranreichte oder einer angebotenen Umschulung oder Fortbildung mit einer Sperrzeit des Arbeitslosengeldes sanktioniert. In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre (1983/1984) häuften sich Klagen gegen die zum Teil erheblichen Leistungseinschränkungen, die mit verfassungsrechtlichen Prinzipien argumentierten.108 Dies war zum einen der legislativen Konjunktur von AFG -Reformen und der daraus folgenden Rechtsunsicherheit geschuldet, zum anderen bildeten sich darin sozialstaatliche und juridische Adressierungen in der Subjektivierung von Recht in längerer Dauer ab. Seit den frühen 1970er-Jahren und im Zuge der Strafrechtsreformen stand rechtswissenschaftlich eine sozialstaatlich grundierte Deutung personaler Freiheitsrechte zur Diskussion. Auf der Tagung der Staatsrechtslehrer 1971 vertrat der damalige Marburger Hochschullehrer Peter Häberle, ehemaliger Assistent Horst Ehmkes, seine letztlich maßstabsetzende Auffassung konzise: »die Grundrechtsdogmatik (…) ist vom Sozialstaat her zu betreiben.«109 Diese kontextgebundene, d. h. gesellschaftsbezogen argumentierende Position des Verfassungsrechtlers Häberle wurde rechtsdogmatisch als zu sozialwissenschaftlich kritisiert. Der, wenn man so will, Appell Häberles wurde aber seit den frühen 1980erJahren von den Rechtssubjekten, die sich auf ihre verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte beriefen, vom Sozialstaat eingefordert. In der Rechtsprechung, die Zumutbarkeitsregeln des AFG betraf, wurden verfassungsrechtliche Fragen 106 107 108 109

Vgl. Martin Kühl, Die Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe, Berlin 2007, S. 21. Oschmiansky / Kull / Schmid, Faule Arbeitslose. Vgl. von Maydell, Arbeitsförderungsgesetz, S. 215. Peter Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 30 (1972), S. 44–191, hier: S. 72; vgl. auch: Kingreen, Das Sozialrecht in den 60er und 70er Jahren, S. 160.

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dann angesprochen, wenn es um die Ablehnung einer angebotenen Arbeit aus Gewissensgründen oder aus religiösen Gründen ging. Religiös begründete Klagen, die sich auf das Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit beriefen, wurde stattgegeben. So gab das Berliner Sozialgericht 1989 einem arbeitslosen Krankenpfleger recht, der als Siebenter-TagsAdventist zur Arbeit am Sonnabend nicht bereit war.110 Ähnlich hatte bereits das Niedersächsische Landessozialgericht 1979 im Fall eines Angehörigen der Zeugen Jehovas entschieden, der aufgrund seiner religiösen Aktivitäten nur Teilzeit arbeiten konnte.111 Bei beiden Entscheidungen war die Verfügbarkeit der Arbeitnehmer nach Auffassung des Gerichts nicht eingeschränkt. Widersprüchlicher war die Rechtsprechung in Entscheidungen, die Ablehnung einer Arbeit aus Gewissensgründen betrafen.112 Die Abwägung der Grundrechte war bei diesen Verfahrensanlässen auch hier, wie im gesamten AFG, einzelfallbezogen, gewissermaßen in letzter Instanz individualisierend. Das Bundessozialgericht hatte 1982 in einer Güterabwägung zwischen der Gewissensprüfung eines Kriegsdienstverweigerers und den Interessen der Versichertengemeinschaft, letzterem den Vorrang eingeräumt.113 Der Kläger war ausgebildeter technischer Zeichner und sollte in einem Zulieferungsunternehmen der Bundeswehr in der Katalogredaktion arbeiten. Diese Tätigkeit war ihm, laut Gerichtsentscheidung, zuzumuten und eine verhängte Sperrfrist daher rechtskräftig. Eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht wurde nicht zugelassen, da die Gewissensbeeinträchtigung des Beschwerdeführers nur unmittelbar wäre und seine finanziellen Einbußen durch die Sperrfrist angemessen. Das Sozialgericht Frankfurt hingegen entschied 1983 einen Konflikt zugunsten eines Arbeitslosen, der Arbeit, die unmittelbar mit der Herstellung von Waffen verbunden gewesen wäre, abgelehnt hatte.114 Der Kläger war EDV-Kaufmann und wurde vom begonnenen Wehrdienst aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig ausgemustert. Arbeitgeber der angebotenen Anstellung war das US -Militär, und der Kläger hätte militärische Kleidung und einen militärisch kurzen Haarschnitt tragen sowie einmal jährlich an Schießübungen teilnehmen müssen. Dieser unmittelbare Einsatz an Waffen war ausschlaggebend, dass das Gericht entschied, dem Schutz der individuellen Grundrechtsposition sei in diesem Fall »ausnahmsweise« Vorrang einzuräumen.

110 SG Berlin, Urteil vom 25.01.1989, S 60 Ar 76/88; Breithaupt, Sammlungen von Entscheidungen aus dem Sozialrecht 79 (1990), 4, S. 338–341. 111 LSG für das Land Niedersachsen, Urteil vom 09.01.1979, L 7 Ar 118/77. 112 Vgl. von Maydell, Arbeitsförderungsgesetz, S. 216. 113 BSG , Urteil vom 23.06.1982, 7 RAr 89/81; vgl. auch: von Maydell, Arbeitsförderungsgesetz, S. 216; NJW 1983, S. 701–704; NJW 1984, S. 912. 114 SG Frankfurt, Urteil vom 22.09.1983, S 1/Ar 541/83; vgl. auch: von Maydell, Arbeitsförderungsgesetz, S. 216; NJW 1984, S. 943–945.

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Jenseits des Rechtsgebiets der »Zumutbarkeit« von Erwerbsarbeit richteten sich verfassungsrechtliche Klagen gegen Bescheide der Bundesanstalt vermehrt gegen »Zumutungen« finanzieller Existenzsicherung. So unterstellte das Bundesverfassungsgericht 1986, einige Jahre nach Renten und Rentenanwartschaften auch den Anspruch auf Arbeitslosengeld dem Schutz der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes gemäß Artikel 14.115 In Bezugnahme auf diese Eigentumsgarantie hatte ein 32-jähriger Politologe gegen seinen negativen Bescheid auf Arbeitslosengeld geklagt. Er war nach seinem Studium arbeitslos, 1981 neun Monate beschäftigt und zur Arbeitslosenversicherung beitragspflichtig gewesen. Sein Arbeitsverhältnis endete durch Kündigung des Arbeitgebers. Sein Antrag auf Arbeitslosengeld wurde abgelehnt, da er die seit Januar 1982 verlängerte Beitragspflicht von 360 Kalendertagen nicht erfüllt hatte. Aufgrund der gegen diese Ablehnung gerichteten Klage setzte das Sozialgericht das Verfahren aus. Es legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob das AFKG an dieser Stelle mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Kernpunkt der Argumentation war die Frage nach den Regelungen für den Personenkreis, der bei Inkrafttreten des Gesetzes die Anwartschaft von 180 Kalendertagen nach dem alten Gesetz, aber noch nicht die Anwartschaft von 360 Kalendertagen nach dem neuen Gesetz erfüllt hatte. Der Klage des Politologen wurde stattgegeben mit dem Verweis auf den Schutzbereich des Artikels 14 des Grundgesetzes. Das Gericht mahnte in diesem Zusammenhang die Einsetzung von Übergangsfristen an, da das sofortige Inkrafttreten der im AFKG verlängerten Anwartschaftszeiten eine »übermäßige (…) unzumutbare Belastung« für die Betroffenen darstelle.116 Im Verfahrensanlass von zumutbarer Arbeit verkleinerten sich in den 1970erund 1980er-Jahren einerseits die Spielräume arbeitsloser Subjekte. Zumutungen sozialen und beruflichen Abstiegs, räumlicher Mobilität oder von Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen erhöhten sich innerhalb von zehn Jahren drastisch und sozial klassifizierend und sanktionierend, nachdem sie im AFG von 1969 erstmals juridisch definiert worden waren. In Reaktion darauf, aber auch als gegenläufige Tendenz einer »Subjektivierung des Rechts« artikulierten Arbeitslose ihre Beschwerden gegen die Zumutungen vor Gericht. Die Anrufungen von Grundrechten stehen in diesem Zusammenhang sowohl für den deliberativen Anspruch demokratischer Subjekte wie für ihre Grenzen in der letzten Instanz des Rechtswegs. In jüngst zurückliegender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Legitimität existenzgefährdender Sanktionen der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2019 zeigt sich die Reichweite und Notwendigkeit dieser

115 BVerfG, Urteil vom 12.02.1986, 1 Bvl. 9/83, BVerfGE 72,9; vgl. von Maydell, Arbeitsförderungsgesetz, S. 218 f.; Andreas Hänlein, Arbeitsmarktpolitik aus rechtswissenschaftlicher Sicht: Das Recht der Arbeitsförderung, in: Masuch / Spellbrink / Becker / Leibfried (Hrsg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats, S. 327–357, hier: S. 334 f. 116 BVerfG, Urteil vom 12.02.1986, 1 Bvl. 39/83, BVerfGE 72,9.

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in den 1980er-Jahren einsetzenden Tendenzen, soziale Rechte in Bezug auf die Grundrechte durchzusetzen. »Die Würde des Menschen ist unantastbar« – den ersten Artikel des Grundgesetzes zog das Bundesverfassungsgericht im November 2019 in Verbindung mit Artikel 20 (»Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«) heran, um der Klage eines zum Zeitpunkt des ersten Sanktionsfalls 25-jährigen ausgebildeten Logistikfachmannes stattzugeben, der im Verkauf arbeiten wollte und dem wegen Ablehnung eines Arbeitsangebots als Lagerarbeiter der Bezug seiner Arbeitslosenunterstützung unter den dann geltenden Bestimmungen des SGB mehrfach, insgesamt um 60 Prozent des Regelsatzes gekürzt worden war.117 Die Richter hinterlegten ihrer Argumentation eine historische Herleitung des Bundessozialhilfegesetzes in Abgrenzung zu Internierungspraktiken von so genannten »Arbeitsscheuen« im Nationalsozialismus. Legislativ, darauf weisen die Richter in der Urteils­ begründung unkommentiert hin, hatten diese bis zum Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes 1961 Bestand bzw. waren im Begriff »arbeitsscheu« bis zum Dritten Gesetz zur Änderung des Sozialhilfegesetzes 1974 im Sozialrecht weiter präsent. Die Entscheidung erinnert auch daran, wie kurz die Tradition des mündigen, arbeitslosen Rechtssubjekts in Deutschland ist, das sich nach wie vor in den amtlich und juridisch tradierten, sozialutilitaristischen Versatzstücken eines autoritären Wohlfahrtsstaates zu bewegen hatte.

2.2 Von Vertragssubjekten und Handelspartnern in Großbritannien In Großbritannien wurde ein dem deutschen Rechtsbegriff Zumutbarkeit vergleichbarer Begriff in sozialrechtlichen Zusammenhängen zur Regierung von Arbeitslosigkeit seit dem National Insurance Act von 1911 verwendet. Das Prinzip der »passenden Beschäftigung« (»suitable employment«) regelte dort die Bedingungen, unter denen ein Arbeitsloser unterstützungsberechtigt war, nämlich dann, wenn »he is capable of work but unable to obtain suitable employment.«118 In der Formierungsphase der Arbeitslosenversicherung, mit der Großbritannien international Vorreiter war, ist es also auch ein Begriff, mit dem festgestellt wurde, wer überhaupt als arbeitslos zu definieren ist und wer nicht (z. B. Frauen, Invalide).119 Quasi komplementär dazu, diente der Begriff »suitable employment« in arbeitsmarktpolitischen Studien aus dem angelsächsischen Raum seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert dazu, das Anrecht von vormals Nicht-Erwerbstätigen, Frauen, Invaliden oder so genannte Behinderte, auf »passende Beschäftigung« zu 117 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 05.11.2019, 1 BvL 7/16, Rn. (1–225), http://www. bverfg.de/e/ls20191105_1bvl000716.html, 30.01.2023. 118 National Insurance Act 1911, Sect. 86 (3), in: Orme Clarke (Hrsg.), The National Insurance Act, 1911, London 1912, S. 271; Ogus / Barendt, The Law of Social Security, S. 101 f. 119 Vgl. Whiteside, Who were the Unemployed.

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formulieren.120 »Suitable employment« ist somit als legislativer Begriff in Zeiten industrieller, in gewisser Weise expansiver Arbeitsmarktpolitik oder zumindest verfügbarer Erwerbsarbeit geprägt worden. Internationale und supranationale Gremien legten den Begriff des »suitable employment« in ihren Direktiven seit den 1950er-Jahren in ähnlicher Weise zur Definition von Arbeitslosigkeit nieder.121 Die ILO verwendete den Terminus in der Empfehlung Social Security (Minimum Standards) von 1952, um Arbeitslosigkeit als »inability to find a suitable employment« zu definieren. Im European Code of Social Security des Europarats von 1964 wird Arbeitslosenunterstützung als sozialer Standard der Mitgliedsländer eingefordert, die arbeitsfähigen Personen »due to inability to obtain suitable employment« gewährt werden solle. In Großbritannien wurde in den 1930er-Jahren aus dem Qualifizierungsgrund für finanzielle Unterstützung ein Disqualifizierungsgrund, diese zu verlieren. Vor dem Erfahrungshintergrund von Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit wurde die Ablehnung von »suitable employment« im Unemployment Insurance Act 1930 Teil der Rechtsgrundlage, Arbeitslosen die Arbeitslosenunterstützung für maximal sechs Wochen zu sperren.122 Diese Regelung wurde mit dem Beveridge-Report in den britischen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit übernommen, beibehalten und, an die Tradition der englischen Armutsbekämpfung durch Arbeitsverpflichtung in gewisser Weise anschließend, mit einer »Erzwingung der den Bürger treffenden Pflicht, jede vernünftige und angemessene Beschäftigungsmöglichkeit anzunehmen« verbunden (»enforcement of the citizen’s obligation to seek and accept all reasonable opportunities of work«).123 Gleichfalls war der einschlägige Paragraph nun im Kontext erwerbsbezogener Sanktionierungsbestimmungen kodifiziert. Arbeitslosenunterstützung wurde auch dann zeitweise gesperrt, sofern die vorangegangene Beschäftigung aus eigenem Verschulden (»own misconduct«) gekündigt worden war oder ohne triftigen Grund (»without just cause«) freiwillig aufgegeben wurde. Abgesehen von der Regelung, Unterstützung im Fall einer streikbedingten Aussperrung nicht zu gewähren (eine vergleichbare Regelung wurde in Deutschland erst 1986 mit einer Änderung des § 116 des AFG eingeführt), waren alle Sanktionierungsgründe seit 120 Vgl. Ellen Jordan, Suitable and Remunerative Employment. The Feminization of Hospital Dispensing in Late Nineteenth-Century England, in: Social History of Medicine 15 (2002), S. 429–456; Helping disabled People to Obtain and Keep Suitable Jobs, in: Department of Employment Gazette 80 (1972), S. 703 f. 121 Elise Dermine, Suitable Employment and Job of Quality, in: Pascale Vielle / Silvia Borelli (Hrsg.), Quality of Employment in Europe. Legal and Normative Perspectives, Brüssel 2012, S. 157–180. 122 Unemployment Insurance Act 1930, Sect. 4, (1); vgl. Guide to the Unemployment Insurance Act 1930, London 1930, S. 4. 123 William Beveridge, Beveridge Report, o. O. 1942, S. 128 und 58 (Zitat); vgl. auch: Lundy, From Welfare to Work, S. 292 f.; vgl. auch: Eberhard Eichenhofer, Recht des aktivierenden Wohlfahrtsstaates, Baden-Baden 2013, S. 120; Walters, Unemployment and Government, S. 4; Nick Wikeley, The Welfare State, in: Peter Cave / Mark Tushnet (Hrsg.), The Oxford Handbook of Legal Studies, Oxford 2003, S. 397–412.

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den wohlfahrtsstaatlichen Entwürfen des Beveridge-Plans individualisiert.124 Darüber hinaus wird deutlich, dass wohlfahrtstaatliche Rechte im britischen Fall elementar vertragsrechtlich formuliert waren. Die im Beveridge-Report relativ vage paraphrasierten, subjektiv einzustufenden Verhaltensanforderungen an Erwerbstätige, mit denen ihnen ein Recht auf Erwerbslosenunterstützung in Aussicht gestellt wurde, waren keineswegs auf korrekte Erledigung von Arbeitsaufgaben beschränkt und nur im Ausnahmefall auf zertifizierbare, berufliche Qualifikation bezogen. Sie erstreckten sich vielmehr auf allgemeine Adressierungen individueller Arbeitsmoral, aber auch auf Wohlverhalten innerhalb und außerhalb von Arbeitszusammenhängen. Insbesondere sollten Schlendrian oder Arbeitsvermeidung (»idling«) verhindert werden. In Lesart wohlfahrtsstaat­licher Kritiker verkehrten sich in diesem Gesetzesarrangement die Bestrafung, die Sanktionierung von Arbeitslosen in Disziplinierungs- und Abschreckungstaktiken gegenüber Erwerbstätigen, sich in positiver Arbeitsmoral zu üben und gar nicht erst arbeitslos zu werden. Die Kritik trifft freilich die viktorianischen Traditionen des britischen Wohlfahrtssystems, dessen Praktiken, das arme Fürsorgeobjekt, in seinen Bürgerrechten zu beschneiden, bereits Thomas H. ­Marshall in »Citizenship and Social Class« 1949 festhielt.125 Der Rechtsbegriff der »passenden Beschäftigung« blieb in Großbritannien im Ganzen betrachtet ein legislativ eher schwach bestimmter Terminus, dessen Auslegung in hohem Maß von der wirtschaftlichen Konjunktur und vom Ermessen der entscheidungsbefugten Sozialbehörden und Schiedsstellen abhing. Dies bedeutete selbstverständlich keine liberalere Anwendung in der adminis­trativen Praxis, eröffneten sich doch lediglich der ausführenden Behörde größere Spielräume der Sanktionierung, zumal die Beweislast, ob und inwiefern eine angebotene Beschäftigung unpassend sei, seit der Rechtsprechung der 1950er-Jahre dem Arbeitslosen oblag.126 Folglich kam dem Rechtskomplex des »suitable employment« auch eher marginale Bedeutung in der Rechtspraxis zu.127 1971 waren nur 0,5 Prozent aller Klagen gegen Sanktionierung von Arbeitslosenunterstützung gegen die Ablehnung von »passender Beschäftigung« gerichtet. Dagegen hatten aber 7,8  Prozent gegen eine freiwillige Kündigung des Klägers ohne triftigen Grund (»voluntary leaving«) und 4,4 Prozent gegen eine aufgrund eigenen Fehlverhaltens selbst verschuldete Kündigung (»industrial misconduct«) gericht­ lichen Widerspruch eingelegt. Neben den angeführten Rechtsunsicherheiten sind hier unter Umständen aber auch Alltagspraktiken der betroffenen Arbeitslosen in Rechnung zu stellen, die informell potentielle Arbeitgeber eher von ihrer eigenen Nicht-Eignung überzeugten, als eine »passende Beschäftigung« offiziell abzulehnen. Festzuhalten sind zudem die von der zeitgenössischen Forschung festgestellten geringen Effekte der Rechtslage und Rechtsprechung auf Arbeits124 125 126 127

Vgl. Fulbrook, Administrative Justice and the Unemployed, S. 25 f. Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, S. 49 f. Vgl. Calvert, Social Security Law, S. 194. Vgl. Fulbrook, Administrative Justice and the Unemployed, S. 26 f.

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suche und Arbeitsplatzwahl von Arbeitslosen, für die persönliche Vorlieben und das soziale Umfeld ausschlaggebender waren.128 Die 1950er- und 1960er-Jahre spiegeln in der Rechtspraxis denn auch weniger die autonome Artikulation Arbeitsloser als vielmehr die Einübung sozialrechtlicher Begriffe, abhängig vom sozialen Kontext. Die Reichweite von »suitability« oder auch der ihr vorausgesetzten Verfügbarkeit (»availability«) von Arbeitslosen wurde in Rechtsentscheidungen der 1950er- und 1960er-Jahre mit restriktiver Tendenz festgelegt. In Bezug auf das Feststellen von »Verfügbarkeit« folgte man darin den Empfehlungen des National Insurance Advisory Committee, das die vage Formulierung im National Insurance Act von 1946 kritisierte.129 1951, 1953 und 1969 wurde die Nicht-Verfügbarkeit eines Arbeitnehmers bestätigt, sofern er als Immigrant keine Arbeitserlaubnis hatte oder vertraglich an einen anderen Arbeitgeber gebunden war.130 Die Teilnahme an einer Fortbildung war, so wurde 1950 entschieden, großzügig als Verfügbarkeit des Arbeitnehmers auszulegen. Ein unverheirateter, seit sieben Monaten arbeitsloser Arbeiter, wohnhaft auf, aber nicht gebürtig von den Shetland-Inseln, wurde 1958 gehalten, eine knapp 1.200 Kilometer entfernte, »passende Beschäftigung« in Buckinghamshire anzunehmen.131 Lediglich in einem Urteil von 1964, demnach eine fehlende Teepause ein Arbeitsangebot nicht unzumutbar mache, wird eine gewissen Anspruchshaltung der Kläger deutlich.132 Der National Insurance Act von 1965 bestätigte noch einmal die in den 1930er- bzw. Nachkriegsjahren niedergelegten Sanktionen bei Ablehnung »passender Beschäftigung« sowie die Regelungen, nach denen eine Beschäftigung als unzumutbar ohne weitere Sanktionen abgelehnt werden konnte.133 In vier Fällen galt eine Beschäftigung als unzumutbar: sofern die angebotene Vakanz durch Streik entstanden war, bei unangemessener Bezahlung, sofern das Arbeits­ angebot nicht den Qualifikationen des Betroffenen entsprach oder die Entfernung des Arbeitsangebots vom eigentlichen Wohnort des Arbeitslosen zu groß war. Alle Ausnahmeregelungen waren nur für einen angemessenen Zeitraum der Arbeitslosigkeit anzuwenden. Welchen Zeitraum diese »Schonfrist« umfasste, hing von der Einschätzung durch die zuständige Behörde ab.134 Ein Umzug zur Aufnahme eines passenden Arbeitsangebots war dem Arbeitslosen folglich dann 128 Vgl. ebda., S. 27. 129 Vgl. Ogus / Barendt, The Law of Social Security, S. 102. 130 Vgl. hierzu: Calvert, Social Security Law, S. 193–198; Ogus / Barendt, The Law of Social Security, S. 90–110. 131 Die englischen Gerichtsurteile warden nach den Reported Decisions of the Commissioner under the National / Security Acts zitiert. Dort: R (U) 34/58; vgl. Fulbrook, Administrative Justice and the Unemployed, S. 27. 132 Vgl. Ogus / Barendt, The Law of Social Security, S. 107. 133 Vgl. Guide to the Unemployment Insurance Act 1930, London 1930, S. 4; National Insurance Act 1965, 22 (5), http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1965/51/section/22/enacted, 30.01.2023. 134 Vgl. King, Actively Seeking Work, S. 150.

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zumutbar, sofern wenig oder keine Aussicht bestand, dass er in seinem bisherigen Beruf an seinem Wohnort Arbeit finden würde, und Gründe wie Alter oder Verpflichtungen von Kinderbetreuung dem nicht entgegenstanden. Die vom Arbeitslosen zu akzeptierende Bezahlung hing von der Arbeitsbiographie des Betroffenen ab, dessen finanzieller Abstieg verhindert werden sollte. Die durchschnittliche Bezahlung in der jeweiligen Branche, in der der Arbeitslose gearbeitet hatte, war der Maßstab für die Angemessenheit der »passenden Beschäftigung«. Standards anderer Branchen waren irrelevant. Insoweit wurde eine notorische Unterbezahlung innerhalb einer Branche zumindest in Kauf genommen. In der Definition der bisherigen Beschäftigung wurde der vage Begriff der »usual occupation« verwendet. Qualifikations- oder Statusfragen spielten jenseits eines vorübergehend unzumutbaren finanziellen Abstiegsniveaus keine Rolle. In der Rechtsprechung zur Versagung von Arbeitslosenunterstützung zeigte sich, dass diese Punkte in der Verwaltungspraxis weiter strittig blieben. In einem Gerichtsurteil vom März 1968 wurde die Berechtigung, unzumutbare Arbeit auf Grundlage dieser Kriterien abzulehnen, noch einmal unterstrichen.135 Der Beschwerde eines seit knapp fünf Monaten arbeitslosen Metallarbeiters, der von der Arbeitsverwaltung angebotene Erwerbsarbeit aufgrund seiner Qualifikation unangemessenen Arbeitsanforderungen sowie untertariflicher Bezahlung abgelehnt hatte, wurde stattgegeben mit Hinweis auf die Bemühungen des Klägers, den potentiellen Arbeitgebern die Möglichkeiten eingeräumt zu haben, sein Arbeitsangebot hinsichtlich Anforderungen und Bezahlung zu verändern. Die entsprechenden Regelungen zur »suitability« erfuhren damit eine gewisse Aufwertung, wenngleich nicht immer zum Vorteil von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Zudem wurde der Begriff »suitability« 1975 im Employment Protection Act verwendet und damit im Kündigungsrecht niederlegt. Dem Arbeitgeber wurde zugebilligt, eine Klage wegen rechtswidriger Kündigung (»unfair dismissal«) sei unzulässig, sofern dem klagenden Arbeitnehmer eine »passende, alternative Beschäftigung« angeboten worden sei, die dem gegenwärtigen Arbeitsverhältnis hinsichtlich angebotener Bezahlung, den verlangten Kenntnissen und Fertigkeiten sowie Arbeitszeiten und Arbeitswegen vergleichbar sei.136 Lehnte der Arbeitnehmer ein solches Angebot unbegründet oder nicht ausreichend begründet ab, verlor er den Anspruch auf Abfindung. Im Employment Rights Act von 1996 wurde diese Regelung fortgeschrieben. Seit den 1970er-Jahren zeichneten sich die Friktionen der Arbeitsmärkte in den rechtlichen Kommentierungen insoweit ab, als sie nahelegten, Spielräume für Sanktionsmöglichkeiten nicht auszureizen. 1972 wurde die Definition von Verfügbarkeit in Abhängigkeit von den lokalen Arbeitsmarktbedingungen er135 R (U) 5/68; vgl. Calvert, Social Security Law, S. 193–195; ebd., Cases and Materials on Social Security Law, London 1979, S. 138–140. 136 Vgl. Bob Hepple / Paul O’Higgins, Employment Law, London 31979, S. 649 f.

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neut bestätigt. Die Verhängung von Sperrfristen mit maximaler Dauer von sechs Wochen, der Zeitraum war bereits im National Insurance Act von 1911 festgelegt und galt seit einem Präzedenzurteil von 1954 als Standardsanktion, wurde in den frühen 1970er-Jahren aber wiederholt sozialrechtlich angemahnt.137 Alle darunter liegenden Sperrfristen unterlagen einer gesonderten und der einzelnen Schiedsperson abliegenden Rechtfertigungspflicht.138 Unter anderem wurde dies damit begründet, eventuell entstehende soziale Härten aufgrund wiederholt angeordneter Sanktionen zu vermeiden. An die Schiedsbehörden wurde appelliert, den Einzelfall zu beachten und ihren Ermessensspielraum im Sinn einer »sensible discretion« auszuüben.139 Diese Formulierung betraf den Fall einer 21-jährigen Klägerin, die als Kindermädchen in einem Privathaushalt gearbeitet hatte und aufgrund unzumutbarer Arbeitszeiten und einer Arbeitsatmosphäre, die von Feindschaft und Misstrauen geprägt war, gekündigt hatte.140 Gegen den behördlichen Entscheid, ihr aufgrund ihrer »freiwilligen« Kündigung für sechs Wochen die Arbeitslosenunterstützung zu sperren, hatte sie geklagt. Die Klage gegen die freiwillige Kündigung wurde 1974 abgewiesen, jedoch die Sperrfrist von sechs auf vier Wochen verkürzt, da sie gewichtige Gründe für ihre Kündigung vorzuweisen sowie selbst bereits wieder nach Erwerbsarbeit gesucht hätte. Im Hinweis auf den Stellenwert des behördlichen Ermessensspielraums, kritisierte der Richter auch, dass die seit den 1950er-Jahren allein beim Supplikanten liegende Beweislast diesen unverhältnismäßig im Verfahren benachteilige.141 Im Laufe der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre verkleinerten sich die administrativen Spielräume, und die Geltung »passender Beschäftigung« wurde stärker administrativ reguliert.142 1979 wurden das Job Search-Programm und das Job Transfer-Programm eingeführt – Anreizpolitiken, die Zuschüsse und Erstattungen von Reise- und Umzugskosten (Startgeld, Trennungsgeld, Umzugsgeld bis 900 Pfund) zur Verfügung stellten und damit zu räumlicher Mobilität im Sinne eines freiwilligen Umzugs motivieren sollten. Zur Frage der Entfernung zwischen Wohnort und potentiell passendem Arbeitsplatz existierten seit 1978 relativ exakte, regional anwendbare Zumutbarkeitsregeln. Die örtlichen Arbeitsverwaltungsbehörden bestimmten Wegstrecken-Bereiche (»travel-towork areas«), deren Größe auf den Erhebungen des britischen Zensus von 1971 zur durchschnittlichen Arbeitsmobilität beruhte und je nach Region und der dortigen Infrastruktur und so etwas Unbestimmtem wie Lebensgewohnheiten variierte.143 137 Vgl. Ogus / Barendt, The Law of Social Security, S. 110. 138 Vgl. R (U) 4/87, para. 11. 139 R (U) 8/74, para. 20. 140 R (U) 8/74. 141 R (U) 8/74, para. 18. 142 Vgl. Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit. Das Grundrecht des Arbeitslosen, Berlin 1981, S. 135–137. 143 Vgl. R. M. Ball, The Use and Definition of Travel-to-Work Areas in Great Britain. Some Problems, in: Regional Studies 14 (1980), S. 125–139.

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Vor Gericht

Erneut kam 1980 der Begriff der Verfügbarkeit (»availability«) in den Blick einer gemeinsamen Evaluationskommission von Arbeits- und Sozialministerium, die ihn als ineffizient und unpräzise einstufte.144 Sie teilte die Arbeitssuchenden in zwei Kategorien ein: Arbeiter (»manual worker«) und Angestellte (»non-manual worker«), die nach einer Frist von drei Monaten Arbeitslosigkeit jeweils jedwede manuelle (Arbeiter) oder nicht-manuelle (Angestellte) Beschäftigung zu akzeptieren hätten. Seit Mitte der 1980er-Jahre ist davon auszugehen, dass Arbeitslose in der Praxis der Arbeitsverwaltung gehalten wurden, jede angebotene Beschäftigung anzunehmen, die sie ihren Fähigkeiten gemäß ausüben konnten.145 Gesonderten juridischen Regelungsbedarf verursachten 1982 die in den frühen 1980er-Jahren eingeführten staatlichen Förderungsprogramme freiwilliger, unbezahlter Arbeitseinsätze von Arbeitslosen in kommunalen und sozialen Einrichtungen.146 Die Verfügbarkeit eines oder einer Arbeitslosen musste nun für diese Zielgruppen neu bestimmt werden. Vormalige Regelungen für Extremfälle, wie die Nicht-Verfügbarkeit von Arbeitslosen, die an einem Einsatz der freiwilligen Feuerwehr oder der Seenotrettung teilnahmen, weiteten sich nun auf Arbeitslose aus, die freiwillig in Wohlfahrts- und Gesundheitseinrichtungen tätig und dort im Notfalleinsatz waren. War hier die britische Rechtsprechung eher Nachhut und Konfliktlöser politischer Subjektivierungsprogramme, so wirkte sie an anderer Stelle als deren Beschleuniger. So wurde im SSA von 1989 die in der Praxis bereits gängige Regelung, dass jegliche von der Sozialbehörde angebotene Beschäftigung seitens des oder der Arbeitslosen zu akzeptieren sei, schlussendlich durch die simple Streichen von »suitable« aus dem Gesetzestext kodifiziert.147 Gleichfalls hielt der Gesetzesakt von 1989 fest, dass der Arbeitslose seine Verfügbarkeit für Erwerbsarbeit dadurch nachweisen müsse, »aktiv« nach Erwerbsarbeit zu suchen (»to seek employment actively«).148 Dem Gesetz war einschlägige Rechtsprechung vorausgegangen. Bereits 1980 wurde in einem entsprechenden Urteil die Verfügbarkeit eines Arbeitslosen für »passende Beschäftigung« an seine Bereitschaft gebunden, aktiv nach Arbeit zu suchen.149 144 Vgl. Ogus / Barendt, The Law of Social Security, S. 102, 105 f. 145 Vgl. Eberhard Eichenhofer, Der Thatcherismus und die Sozialpolitik. Wohlfahrtsstaatlichkeit zu marktwirtschaftlichen Bedingungen, Baden-Baden 1999, S. 50; Dingeldey, Der aktivierende Wohlfahrtsstaat, S. 238 f.; Eichenhofer, Recht des aktivierenden Wohlfahrtsstaates, S. 303 f.; Schulte, Großbritannien, S. 32. 146 Vgl. Ogus / Barendt, The Law of Social Security, S. 96. 147 SSA 1989, 20 (1), (b), http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1989/24/section/12/enacted, 30.01.2023; Anthony I. Ogus / Eric M. Barendt / Nick Wikeley, The Law of Social Security, London 41995, S. 103 f.; Nick Wikeley, Unemployment Benefit, the State and the Labour Market, in: Journal of Law and Society 16 (1989), S. 291–309, hier: S. 303. 148 SSA 1989, 10, http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1989/24/section/10/enacted, 30.01.2023; Ogus / Barendt / Wikeley, The Law of Social Security, S. 103 f., 111 f. 149 R (U) 5/80; vgl. Ogus / Barendt / Wikeley, The Law of Social Security, S. 108; Wikeley, Unemployment Benefit, the State and the Labour Market, S. 298 f.

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Ein entsprechendes Urteil betraf einen 57-jährigen Briten, der jahrelang in Südafrika, Belgien und schließlich den Niederlanden in der Ölindustrie gearbeitet hatte und im Juni 1977 in den Niederlanden arbeitslos wurde. Drei Monate später war er mit seiner Familie wieder in Großbritannien sesshaft geworden, meldete sich arbeitslos und klagte darauf, rückwirkend Arbeitslosenunterstützung beziehen zu können. Seine Klage begründete er damit, dass er nicht darüber informiert gewesen sei, dass er sich in Großbritannien hätte arbeitslos melden müssen, wenn er in den Niederlanden, wo er sich nicht als Arbeitsloser registriert hatte, arbeitslos werden würde. Seine wiederholten Aufenthalte in Großbritannien, wo er einen Hauskauf tätigte, um seine Familie angemessen unterbringen zu können, fanden am Wochenende statt, und die zuständigen Behörden seien geschlossen gewesen. Der Richter entschied im Mai 1980, dass seine Klage abzuweisen sei. Zum einen hätte der Kläger sich weder in Großbritannien noch den Niederlanden arbeitslos gemeldet und somit würden EG -Regelungen zur Übertragbarkeit von Versicherungsleistungen nicht greifen. Aufgrund dessen würden für den Kläger die Regelungen des britischen Sozialrechts gelten, demnach er dem britischen Arbeitsmarkt zur Verfügung hätte stehen müssen. Als Folge seiner nur sporadischen Anwesenheit in Großbritannien sei dies aber zum anderen nicht der Fall gewesen, und auch sonst hätte der Kläger nicht weiter erkennen lassen, dass er sich »aktiv« um Arbeit bemühte. Der entscheidende Richter lieferte in diesem Zusammenhang eine erweiterte Definition des Rechtsterms »Verfügbarkeit«, die sogar noch über den zukünftigen Gesetzestext des SSA von 1989 bezüglich der Aktivierungsappelle an Arbeitslose hinausging: »Being available (…) means being available in an active, positive sense, that is by making oneself available. Availability implies some active steps by the person concerned to draw attention to his availability.«150 Die Verfahrensregel des »actively seeking« erinnert an den Unemployment Insurance Act von 1921, der den Bezug von Arbeitslosenunterstützung an den Nachweis der tatsächlichen, ernsthaft betriebenen Stellensuche (»genuinely seeking work«) band und der während der Weltwirtschaftskrise unter der ersten Labour-Administration mit dem Unemployment Insurance Act 1930 abgeschafft worden war.151 Transferiert in juristische Nomenklatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts wurden damit Klassifizierungen aus den Anfängen der britischen Arbeitslosenversicherung um 1900 rehabilitiert: die des würdigen (»deserving«) und unwürdigen (»undeserving«) Arbeitslosen, die ihrerseits auf frühneuzeitliche Traditionen der Armenfürsorge und auf das »New Poor Law« von 1834 zurückgehen.152 150 R (U) 5/80, para. 14. 151 Wikeley, Unemployment Benefit, the State and the Labour Market, S. 298 f.; John ­Burnett, Idle Hands. The Experience of Unemployment, 1790–1990, London, New York 1994, S. 259; Ogus / Barendt / Wikeley, The Law of Social Security, S. 111. 152 Zur Klassifizierung der Arbeitslosenversicherung im National Insurance Act 1911 vgl. Whiteside, Who were the Unemployed, S. 151 f., 155 f., 162 f.

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Vor Gericht

Nur folgerichtig verstärkten sich in den 1980er-Jahren die neo-konservativen Tendenzen der Rechtsprechung. Wiederum legislative Entwicklungen vorwegnehmend, fanden kommerzielle Versicherungslogiken individueller Haftung in die juridische Urteilsfindung Eingang bei gleichzeitiger, letztlich in paternalistischer Fürsorgehaltung verharrender Abmilderung der legislativen Entwicklungen. So argumentierte ein Grundsatzurteil von 1987, wie schon Anfang der 1970erJahre eindringlich dafür, die durch vorangegangene finanzielle Sanktionen womöglich entstandenen finanziellen Härtefälle bei der erneuten Festsetzung von Sperrfristen im Bezug von Arbeitslosenunterstützung zu berücksichtigen und von den nun möglichen maximalen Sperrzeiten von 26 Wochen abzusehen. Der Kläger war studierter Sozialwissenschaftler und arbeitete seit 15 Monaten als Sachbearbeiter in der Verbraucherschutzbehörde, als er Ende Februar 1985 seine Beschäftigung freiwillig aufgab, um als Sozialarbeiter in der Betreuung mental Beeinträchtigter zu arbeiten.153 In der Urteilsbegründung wird ausdrücklich erwähnt, es sei dem Kläger, seit er freiwillig im sozialen Bereich in Indien gearbeitet hätte, ein Herzenswunsch gewesen, wieder als Sozialarbeiter tätig zu werden. Der Kläger war viereinhalb Monate arbeitslos, bevor er seine neue Stelle antrat. Die Schiedsstelle der lokalen Sozialbehörde legte fest, ihm für sechs Wochen die Arbeitslosenunterstützung zu sperren und schöpfte damit das Maximum der damals möglichen Sanktionierung aus. Der Kläger argumentierte, dass er mit triftigem Grund (»just cause«) sein Arbeitsverhältnis im öffentlichen Interesse aufgelöst hätte. Um als Sozialarbeiter beschäftigt zu werden, hätte er einige Zeit unbezahlt volontieren müssen. Mit seinem Berufswechsel hätte er dem Gemeinwohl gedient, da er aus einer nachgefragten Position im öffent­lichen Dienst in eine Branche gewechselt habe, die unter Personalnot leide. Dem Richter konnte der Kläger glaubhaft versichern, »that he is very much happier now in his social work.«154 Der Richter verkürzte die Sperrfrist von Arbeitslosengeld auf eine Woche, was er zum einen mit den Argumenten des Klägers zur Begründung seines Berufswechsels rechtfertigte. Der Kläger würde mit seiner Arbeit »a real social need« erfüllen.155 Er forderte darüber hinaus, unter Rückgriff auf Rechtsprechung aus den frühen 1970er-Jahren und unter Hinweis, des kürzlich in Kraft getretenen SSA 1986, der die zulässige Sperrfrist von Arbeitslosenunterstützung auf 13 Wochen verlängert hatte, es sei »thus essential that adjudication officers should abandon their old habit of virtually automatically imposing the maximum.«156 Andererseits erkannte der Richter dennoch keinen berechtigten Kündigungsgrund und wies die dahingehende Klage ab. In seiner Begründung verglich er die Kündigung des Klägers einerseits recht blumig, andererseits nüchtern mit einem Fall von Haftpflichtversicherung, denn jemand, der zur Kündigung eine 153 154 155 156

R (U) 4/87. Zitat: R (U) 4/87, para. 5. Zitat: ebd., para. 6. Zitat: ebd., para. 11; vgl. auch: Ogus / Barendt, The Law of Social Security, S. 110.

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Alternative hätte, sei »rather (…) a person who throws his baggage overboard to make room in the lifeboat can claim on his baggage insurance.«157 Der Bezug zum individuellen Versicherungsschaden, der lediglich durch die Argumentation des Klägers, er würde sich für das allgemeine Wohl einsetzen, abgemildert wurde, war schon ganz im Tonfall des Jobseekers Act von 1995 gehalten, der individualisierendes Haftungsrecht in Form des Jobseeker’s Agreement in der Sozialversicherung festschrieb und dessen subjektivierenden Kontraktlogiken vorwegnahm.158

3. Zum Recht verhelfen und Recht bekommen: Initiativen von Rechtsberatung und Rechtsbeihilfe Der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz wird in Artikel drei des Grundgesetzes wie in Artikel acht der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen festgeschrieben. Die Verfassungsnorm der Gleichbehandlung mag in ihrer verkürzten Formulierung nicht in erster Linie die Rechtspraxis tangieren, führt sie den Gleichheitssatz doch lediglich aus, die Frage, inwiefern Bürgerinnen und Bürgern ein gleichrangiger Zugang zum Recht gewährt ist, wirft sie gleichwohl auf. »Recht bekommen« oder auch um rechtlichen Rat zu ersuchen, hängt und hing ab von mehreren Faktoren, u. a. der sozialen und finanziellen Situation des oder der Ratsuchenden, von seinem oder ihrem Kenntnis- und Bildungsstand, der Zugehörigkeit zu berufsständischen Organisationen oder Interessenvertretungen, dem Rechtsgebiet sowie der Dauer und den Erfolgsaussichten eines potentiellen Prozesses. Fragen danach, wer Recht bekommen kann und welche Rechtsbarrieren existieren, greifen zentrale subjekttheoretische Überlegungen auf. Auf dem Recht zu beharren, das einem zusteht, bedeutet, juristisch auf dem eigenen Vorteil zu beharren, aber dies im Sinn des allgemein freiheitlichen Rechtsgebrauchs zu tun, mithin sich als das Rechtssubjekt zu verhalten, das vom Rechtssystem als solches vorgesehen wird. Nur wenn das Subjekt das Recht, rechtmäßig oder unrechtmäßig, einfordern kann, ist nachgewiesen, dass der Rechtsstaat, der dieses Recht einräumt, funktioniert. Um Arbeitslosen angemessen zu ihrem Recht vor den Arbeits- und Sozialbehörden und Gerichten zu verhelfen, existierten in Großbritannien und der 157 Zitat: R (U) 4/87, para. 9. 158 Vgl. Jobseekers Act 1995, 1, (2), (b), http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1995/18/part/I/ enacted, 30.01.2023; hierzu auch: Lundy, From Welfare to Work, S. 29; Harris, The Welfare State, Social Security, and Social Citizenship Rights, S. 38; zum Jobseekers Act vgl. Kap. IV.1.3.

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Vor Gericht

Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahren verschiedene Initiativen zur rechtlichen Beratungshilfe bzw. diese wurden neu gebildet. Die Arbeitsweise und politische Positionierung dieser Initiativen war unterschiedlich und bewegte sich im Geflecht von Gesetzgebung, rechtspolitischen Debatten, Beratungszwängen und Selbsthilfe. Ihre Betrachtung kann Aufschluss darüber geben, aus welchen Beweggründen Rechtsbeihilfe und Rechtsberatung für Arbeitslose angeboten wurde und in welchen Rechtskontexten sich diese situierte. Der zugebilligte oder beanspruchte Status von Arbeitslosen als Rechtssubjekt und die Voraussetzungen, unter denen dieser zustande kommt, wird hierin deutlich.

3.1 Bundesrepublik: prekäre Erziehung zur Mündigkeit Rechtsberatung und Rechtsvertretung sozial Schwacher waren in der Bundesrepublik grundsätzlich durch eine restriktive, berufsständische Interessen wahrende Gesetzgebung erschwert.159 Mit dem »Gesetz zur Verhütung von Mißbräuchen auf dem Gebiete der Rechtsberatung« (seit 1964: Rechtsberatungsgesetz) von 1935 wurden Rechtsberatungsinstitutionen in privatrechtlicher Trägerschaft illegal, darauf abzielend, sowohl nichtanwaltliche Tätigkeiten der seit 1933 von der Mandatswahrnehmung ausgeschlossenen jüdischen Rechtsanwälte zu unterbinden, als auch die Monopolstellung von Behörden, Dienststellen, Untergliederungen oder Verbänden der NSDAP bei der Rechtsberatung zu wahren. Noch durch Kontrollratsgesetzgebung wurden die offenkundigen nationalsozialistischen Inhalte des Gesetzes 1945 entfernt, die Rechtsberatung blieb jedoch exklusiv geregelt und zugelassenen Rechtsanwälten, Behörden oder Körperschaften öffentlichen Rechts vorbehalten. Rechtsberatungsbefugnisse wurden an keiner Stelle definiert, und altruistische Rechtsberatung (auch durch Fachanwälte) blieb verboten.160 In der Nachkriegszeit waren vom Verbot von Rechtsberatung besonders die finanziell Bedürftigen betroffen, deren rechtliche Vertretung vorher von den Ausnahmeregelungen für die NS-Organisationen abgedeckt worden waren, beispielsweise den in die Deutsche Arbeitsfront eingegliederten Rechtsberatungsstellen der Gewerkschaften. Die neu oder wiedergegründeten Sozialverbände (Verband der Kriegsbeschädigten, Reichsbund)  übernahmen zwar in den Nachkriegsjahren wiederum die sozialrechtliche Vertretung von Invaliden und Sozialrentnern und die Gewerkschaften ihr traditionelles Terrain des Arbeits- und Kündigungsrecht, die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg boten auch kommunale Rechtsberatung an, die Ausbreitung von Rechtsberatung der 1920er-Jahre erreichte man

159 Vgl. Thomas Weber, Die Ordnung der Rechtsberatung in Deutschland nach 1945. Vom Rechtsberatungsmissbrauchsgesetz zum Rechtsdienstleistungsgesetz, Tübingen 2010, S. 93–98, 187–191, 222–225; Klees, Arbeitslosigkeit und Recht, S. 310–316. 160 Vgl. Günter Rennen / Gabriele Caliebe, Rechtsberatungsgesetz mit Ausführungsverordnungen. Kommentar, München 1986, S. 14.

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jedoch nicht wieder.161 Es war diese »Rechtsnot« finanziell Bedürftiger, die rechtspolitisch Aufmerksamkeit fand, nicht die nationalsozialistische Provenienz der Gesetzgebung. Seit 1969 setzten sich im Zuge der sozialliberalen Justizreformen gewerkschaftsnahe Arbeitsrechtler wie Wolfgang Däubler dafür ein, das »Armenrecht« in der Zivilprozessordnung zu überarbeiten. Anfang der 1970er-Jahre kündigte dann Justizminister Gerhard Jahn (SPD) an, die außergerichtliche Rechtshilfe und Rechtsbetreuung finanziell Bedürftiger sei neu zu regeln. Erst 1980 konnten das Beratungshilfegesetz und das Prozesskostenhilfegesetz im Bundestag verabschiedet werden, die zumindest die Kostenfrage rechtlicher Auseinandersetzungen abfederten. Das Anwaltsmonopol und das Verbot altruistischer Rechtsberatung verstärkten diese Gesetze jedoch, war doch nur die Beratung durch einen Anwalt vom Fiskus subventioniert.162 Parallel zu den legislativen Reformbemühungen hatte sich seit den späten 1960er-Jahren das juristische Professionsfeld pluralisiert und alternative Öffentlichkeiten wurden geschaffen. In der Zeitschrift »Kritische Justiz«, die 1968 gegründet, rechtspolitisches Organ der Neuen Sozialen Bewegungen wurde, publizierten ausgewiesene Wissenschaftler (Alois Wacker, Stephan Leibfried, Karl-Jürgen Bieback) bereits in den frühen 1970er-Jahren zu juristischen und sozialwissenschaftlichen Problemen von Berufsverbot aufgrund des Radikalenerlasses, zu Arbeitslosigkeit, zum Arbeitsrecht und zum Arbeitsförderungsgesetz. Die Sektion Rechtssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie veranstaltete ihre Arbeitstagung 1975 zum Thema »Rechtshilfe«.163 Eine Reihe allgemeiner juristischer und populärer Ratgeberveröffentlichungen aus diesen Jahren zur Rechtssituation Arbeitsloser traten mit dem Anspruch hervor, so der Arbeitsrechtler und Autor eines beratenden Gesetzeskommentar Bernd Klees, »mitzuhelfen, aus Objekten endlich Subjekte und aus Unterworfenen würdevoll und verantwortlich Handelnde zu machen.«164 Die rechtliche Beratung wurde auch als Akt politischer Erziehung eines »mündigen Bürgers« aufgefasst. Sozialrechtliche Beratung war neben einer weitergehenden Sozialberatung, die materielle Schwierigkeiten abdämpfen sollte, ein Schwerpunkt in der Arbeit von Arbeitslosenzentren, die seit Ende der 1970er-Jahre vorwiegend in kirch-

161 Vgl. auch Armin Schoreit / Jürgen Dehn, Wie der Bürger sein Recht bekommt. Rechtsberatung – Prozeßkostenhilfe in der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1984, S. 38; Rennen / Caliebe, Rechtsberatungsgesetz mit Ausführungsverordnungen, S. 45. 162 Erhard Blankenburg / Josef Falke / Wolfgang Kaupen u. a., Beratungshilfegesetz. Kritik am Gesetzentwurf der Bundesregierung und Alternativentwurf mit Begründung, Hannover 1980, S. 14. 163 Vgl. Erhard Blankenburg / Wolfgang Kaupen (Hrsg.), Rechtsbedürfnis und Rechtshilfe. Empirische Ansätze im internationalen Vergleich, Opladen 1978. 164 Klees, Arbeitslosigkeit und Recht, S. X; daneben: Arbeitslosenprojekt TUWAS , Leitfaden für Arbeitslose, Frankfurt / Main 1982.

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Vor Gericht

licher Trägerschaft zur Unterstützung Arbeitsloser eröffnet wurden.165 Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu diesen Einrichtungen zeigen, dass die überwiegende Anzahl der Besucherinnen der Zentren um Rechtshilfen nachsuchte, entweder im Umgang mit Behörden, d. h. dem Arbeits- und Sozialamt und der Durchsetzung von Unterstützungsansprüchen, oder in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten, d. h. zur Durchsetzung finanzieller Ansprüche aus früherer Tätigkeit oder Nebentätigkeiten bei Arbeitslosigkeit.166 Im Hinblick auf die Regelungen des Rechtsberatungsgesetz war die Rechtsberatung unter dem Dach der Kirche als »Körperschaft des öffentlichen Rechts« legal, zumindest formell wurde die Rechtsberatung aber von Rechtsanwälten übernommen, die teilweise auf Honorarbasis beschäftigt, gegebenenfalls in einem Gerichtsprozess anwaltliche Vertretung übernehmen konnten.167 Die Beratungsnachfrage stieg in den 1980er-Jahren an.168 Insbesondere zahlreiche Gesetzesnovellen oder deren Ankündigung zogen Beratungs- und Rechtshilfebedarf nach sich. So führten die Kürzungen in der finanziellen Unterstützung von Umschulungen, Rehabilitationen oder Kann-Leistungen der Sozialhilfe ebenso zu vermehrtem Ersuchen um Beschwerde wie die Erhöhung der Eigenbeteiligung bei Fortbildung und Umschulung oder die Ausweitung von Arbeitsverpflichtungen bei Sozialhilfebeziehenden oder die seit 1986 verfügte Praktik der Arbeitsämter, Arbeitslosenhilfe nach drei Jahren durch fiktive tarifliche Einordnung herabzusetzen. Daneben erzeugten Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf Familienstrukturen oder die finanzielle Situation juristischen Beratungsbedarf bezüglich Wohnungskündigungen, Unterhaltsansprüchen oder Anrechnung von Partnerunterhalt im gemeinsamen Haushalt oder der Regelung von Trennungen infolge dieser seit 1986 geltenden Vorschrift. Im Durchschnitt stuften Anfang der 1990er-Jahre rund 60 Prozent der Ratsuchenden die Beratung als hilfreich ein, um ihre Rechte beim Arbeits- oder Sozial165 Vgl. Friedhelm Wolski-Prenger, »Niemandem wird es schlechter gehen…!«. Armut, Arbeitslosigkeit und Erwerbslosenbewegung in Deutschland, Köln 1993, S. 47–90; ders. / Dieter Rothardt, Soziale Arbeit mit Arbeitslosen. Beratung, Bildung, Selbstorganisation, Weinheim, Basel 1996, S. 151–161; Friedhelm Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekte zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung. Eine explorative Untersuchung zu einem neuen sozialen Phänomen, Frankfurt / Main 1989; Lutz Finkeldey, Armut, Arbeitslosigkeit, Selbsthilfe. Armuts- und Arbeitslosenprojekte zwischen Freizeit und Markt, Bochum 1992; vgl. auch Kap. V.3.1. 166 Hierfür: Hubert Heinelt /  Carl-Wilhelm Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover. Eine Einrichtung zwischen Selbsthilfe und Institutionalisierung, Hannover 1985, S. 15–20; Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekte zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 94. 167 Heinelt / Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover, S. 8, 10; zur Kirche als »Körperschaft öffentlichen Rechts«: Rennen / Caliebe, Rechtsberatungsgesetz mit Ausführungsverordnungen, S. 44. 168 Vgl. zum Folgenden: Arbeitslosenzentrum Hannover, Praktische Arbeit, Aktivitäten, Einschätzungen. Bericht 1993/94, Hannover 1994, S. 26 f.; Arbeitslosenzentrum Hannover, Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt. Bericht 1985/86, Hannover 1986, S. 48 f.

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amt durchsetzen zu können.169 Ein etwa gleich hoher Anteil der Befragten hatte bereits Widerspruch oder Klage eingereicht. Zehn Prozent von diesen hatten wiederum vor Gericht bereits Erfolg mit ihrer Klage gehabt, bei ca. 50 Prozent lief das Verfahren noch und 30 Prozent blieben erfolglos. Die dokumentierten Fälle der Rechtsberatung zeigen Arbeitslose, die finanziell schlecht ausgestattet, von Sanktionierungen des Arbeitsamts existentiell bedroht waren.170 Ihnen war Arbeitslosenhilfe nach langjähriger Arbeitslosigkeit, Ablehnung gesundheitlich unzumutbarer Erwerbsarbeit oder aufgrund von Fehlangaben korrupter Arbeitgeber gekürzt oder gestrichen worden. Die Rechtsbeihilfe des Arbeitslosenzentrums war für die Arbeitslosen mutmaßlich die letzte Möglichkeit, zu ihrem Recht zu kommen. Rechtshilfe erwies sich hier als eines der letzten Sicherungsnetze für die arbeitslosen Subjekte, aber auch des Rechtsstaats, der sein eigenes Funktionieren an den Rändern der Arbeitsgesellschaft beweisen konnte. Gewerkschaftliche Rechtsvertretung konzentrierte sich währenddessen auf arbeits- und rentenrechtlichen Angelegenheiten (Kündigungsschutz, Erwerbsunfähigkeit).171 Dass die Vertretung genuin arbeitsloser Interessen (und nicht die Verhinderung von Arbeitslosigkeit) für den gewerkschaftlichen Rechtsschutz von größerer Bedeutung gewesen sei, kann trotz gegenteiliger Erfolgsmeldungen der DGB -Rechtssekretäre nicht behauptet werden. Von den 1977 bis 1980 geführten einschlägigen Verfahren vor Landessozialgerichten, ohne Angabe des Verfahrensgrunds, waren nur knapp neun Prozent mit Unterstützung des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes geführt worden, wenngleich mit leicht steigender Tendenz. Arbeitslose waren keine attraktiven Rechtssubjekte für die Gewerkschaften, die nach wie vor die erwerbstätige Kernklientel schützten. Die wenigen unabhängigen Arbeitslosen- bzw. Erwerbsloseninitiativen, die sich zeitgleich zu den kirchlichen Arbeitslosenzentren formierten, propagierten in Rechtsangelegenheiten ein offensives Ausbrechen aus der erwerbsorientierten Ordnung. In Flugschriften und Flugblättern informierten sie über die aktuelle Gesetzeslage von AFG und Sozialrecht, verbreiteten aber auch Hinweise zum konfrontativen Umgang mit Arbeits- und Sozialbehörden. Das Recht forderten die autonomen Arbeitslosen nicht nur ein, sondern heraus. Den Ämtern sei, so der Tenor der Hamburger Erwerbsloseninitiative »Schwarze Katze«, grundsätzlich mit begründetem Misstrauen zu begegnen, da sie ihre Macht als staatliche Zwangs- und Kontrollinstanzen ausspielen würden.172 Neben praktischen 169 Vgl. Jörg Reuter-Radatz, Beratung von Arbeitslosen im ALZ Hannover. Ergebnisse einer Befragung von ratsuchenden Arbeitslosen, Hannover o. J. [1991], S. 19. 170 Vgl. Arbeitslosenzentrum Hannover, Jahresberichte 1979–1982, o. O. o. J. [Hannover 1982], S. 11 f. 171 Vgl. Klees, Arbeitslosigkeit und Recht, S. 316 f. 172 Archiv für alternatives Schrifttum Duisburg (künftig afas-Archiv Duisburg), Erwerbslosen und Jobberinfo. Hrsg. v. d. Erwerbslosen- und Jobberinitiativen 18/1986; vgl. auch: Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekte zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 144; vgl. zur »Schwarzen Katze« auch Kap. V.3.1.

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Hinweisen dazu, »was man für’s Arbeitsamt unbedingt wissen muss«, nämlich dass man »besser zu zweit auf die Ämter« geht, Anspruch auf drei Wochen bezahlten Urlaub pro Jahr andauernder Arbeitslosigkeit hat sowie Bildungsurlaub und Kur­urlaub beantragen kann, gab die Aufforderung, »bei allen Entscheidungen des Arbeitsamtes, die euch zweifelhaft erscheinen, sofort Widerspruch ein­legen!« die aktionsbereite Richtung vor.173 Die Ablehnung der Institution spitzten die Aktivisten zu und nahmen einzelne Sachbearbeiter in Haftung, »von denen wir wissen, daß sie über zustehende Rechte nicht informieren, Zahlungen ohne Grund verweigern, die Hilfesuchenden einschüchtern und schikanieren.«174 Im Rahmen so genannter »Aktionstage« hätten sie im Oktober 1985 »vier Sachbearbeiter im Sozialamt Altona besucht (mit ca. 60 Leuten!)« und ihnen »deutlich gemacht, daß wir ihr weiteres Verhalten beobachten werden und uns ggf. Schritte überlegen, damit sie nicht länger hinter ihrem Schreibtisch sitzen und ihre Macht ausspielen können.«175 Subjektiv behaupteten diese Arbeitslosen ihr Recht auf legale Unterstützung auch mit illegalen, aber als legitim erachteten Mitteln. Sie artikulierten sich als politische Subjekte, deren Ungehorsam nicht gegen die Rechtsstaatlichkeit gerichtet war, sondern auf die Affirmation ihrer sozialen Rechte zielte. Gleichwohl waren es wohl Einzelfälle, die sich auf diesen Wegen des zivilen Ungehorsams zu ihrem Recht verhalfen. Die Frontstellung der Autonomen gegenüber den Behörden wie auch die Notwendigkeit von Rechtsbeihilfe und Rechtsbeistand in prekären sozialen Situationen bezeugt auch Notwendigkeiten, sich im Umgang mit der Arbeitsverwaltung und ihren als willkürlich eingestuften Entscheidungen entschieden zu behaupten.

3.2 Großbritannien: Subjektwerdung in inkohärenten Rechtskontexten In Großbritannien war die Entwicklung einer Rechtsberatung für finanziell Bedürftige eng mit der Konjunktur wohlfahrtsstaatlicher Debatten verknüpft. Um 1900 entstanden eine Reihe von Rechtsberatungseinrichtungen, die als »Poor Man’s Lawyer« von sozialpolitisch engagierten Rechtsanwälten betrieben wurden und erschwingliche oder kostenlose Rechtsberatung vorwiegend für mittellose Angehörige der »working class« anboten.176 Seit dem Legal Aid and Advice Act von 1949 war im Beveridge-Wohlfahrts­ staat eine kostenlose Rechtsvertretung für finanziell Bedürftige vorgesehen, die 173 Afas-Archiv Duisburg, Erwerbslosen und Jobberinfo. Hrsg. v. d. Erwerbslosen- und Jobberinitiativen 18/1986, S. 1 [5]. 174 Ebd. 175 Ebd., S. 2. 176 Vgl. Kate Bradley, Lawyers for the Poor: Legal Advice, Voluntary Action and Citizenship in England, 1890–1990, Manchester 2019, spez. S. 148–179.

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von den Büros des gemeinnützigen »Citizens Advice« übernommen wurde. Klagen und Verhandlungen sozialrechtlicher Art waren aber aufgrund der schwachen rechtssystematischen und disziplinären Stellung des Sozialrechts eher nachgeordnetes Beratungsterrain. In traditioneller Rechtsbetrachtung waren sozialrechtliche Fälle schlicht »no matter of law.«177 Die Gesetzgebung verhinderte aber nicht, wie im deutschen Fall, eine plurale, kommunal und mit Sozialberatung verzahnte Organisation von Rechtsberatung.178 Aus dem Milieu der Bürgerrechtsgruppen heraus bildeten sich seit Mitte der 1960er-Jahre Initiativen, die sich spezifisch für die sozialen Rechte Arbeitsloser einsetzten und hierfür kostenlose Rechtsberatung anboten. In der Literatur wird der Einfluss der US -amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sowie der Aktionsprogramme des »War on Poverty« Lyndon B.  Johnsons der 1960er-Jahre für Etablierung und Entwicklung dieser sozialen und bürgerrechtlichen Bewegungen hoch gewichtet.179 Die Idee des amerikanischen »Community ­Action«-Programms von kommunaler (Selbst-)hilfe, mit einem starken Gewicht auf Rechtsberatung, konnte sich demnach in den 1960er-Jahren in Großbritannien auch in Kritik an einem reaktionären, traditionelle Eliten bevorzugenden Rechtssystem verbreiten. 1972 schlossen sich in der »Legal Action Group« eine Handvoll Rechtswissenschaftler und Anwälte zusammen, »who believed that the lawyers᾽ traditional role as agent for the rich and well-to-do should be changed«. Diese bauten rasch ein Netz kommunaler, kostenloser »Legal Advice Centres« bzw. »Neighbourhood Law Centres« auf (1972 existierten bereits 61 Einrichtungen ehrenamtlicher Rechtsberatung).180 Noch direkter von Kampagnen zur Armutsbekämpfung motiviert, war die »Child Poverty Action Group«, die 1965 von den Armutsforschern Brian AbelSmith und Peter Townsend mitbegründet wurde. Ihre Angebote zielten auch auf Weiterbildung von Sozialarbeitern in Fragen von Sozial- und Wohlfahrtsrecht, da Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter wegen ihrer Vertrautheit mit den Problemen der Antragstellerinnen und Antragsteller diese in sozialrechtlichen Verhandlungen häufiger begleiteten. Oft als »Verwandte / r« oder »Freund / in« getarnt, um das Misstrauen der Entscheidungsträger nicht zu erregen, blieben von Rechtshilfe begleitete Verfahren gleichwohl in der Minderzahl. 1973 wurden 177 Fulbrook, Administrative Justice and the Unemployed, S. 277. 178 Michael Zander, Legal Services for the Community, London 1978; Martin Partington, Die Entwicklung der Rechtshilfe in England – aktuelle Reformbestrebungen, in: Erhard Blankenburg / Wolfgang Kaupen (Hrsg.), Rechtsbedürfnis und Rechtshilfe. Empirische Ansätze im internationalen Vergleich, Opladen 1978, S. 150–161. 179 Hierfür und folgend: Fulbrook, Administrative Justice and the Unemployed, S. 276–293; Chris Smith / David Hoath, Law and the Underprivileged. London / Boston 1975, S. 228– 230; TNA AST 36/99, J. S. Westbey, Study of Claimants’ Union. Civil Service College, Social Administration Course [ca. 1971], S. 3–6. 180 Legal Action Group 25 Years. LAG’s early Days. Some Reflections, in: Legal Action October 1997, S. 6–8, hier: S. 6; Fulbrook, Administrative Justice and the Unemployed, S. 291.

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Vor Gericht

nur 1.560 von 8.575 Verfahren, die Ansprüche auf Sozialhilfe verhandelten, von einer dritten Partei begleitet.181 Die Rechtsinteressen von Arbeitslosen wurden von Rechtsbeihilfen der Gewerkschaften teilweise mitvertreten, jedoch vor allem in im engeren Sinn arbeitsrechtlicher Auseinandersetzungen, beispielsweise im Fall streikbedingter oder anderweitig unzulässiger Kündigung. Ihre Vertretung konzentrierte sich allerdings auf Streitfälle, die Erfolg für die Gewerkschaft versprachen. Berufsund soziale Gruppen, die gewerkschaftlich schwach vertreten waren (Frauen, Jugendliche, Langzeitarbeitslose), hatten selbstredend auch arbeitsrechtlich keine Lobby.182 Um die Interessen der Unorganisierten zu vertreten, schwerpunktmäßig von Frauen, Wohnungslosen und Langzeitarbeitslosen, die auf Sozialhilfe angewiesen waren, hatten sich 1969 die so genannten »Claimants’ Unions« gegründet, die sich publizistisch lautstark für die Rechte ihrer Klientel einsetzte und darin immer wieder die offensive Auseinandersetzung auf dem Amt oder vor Gericht unterstützte.183 Die konkrete Beteiligung der Claimants’ Union an sozialrechtlichen Gerichtsverfahren war dennoch unerheblich. Zumindest für die frühen 1970erJahre weisen Statistiken der Sozialbehörde keine signifikante Unterstützung von Klägern durch die Claimants’ Union nach.184 Das hing vermutlich auch damit zusammen, dass sich die Erfolgsaussichten eines Widerspruchs oder einer Klage nicht unbedingt erhöhten, sobald ein Vertreter der Claimants’ Union, die aus ihrer Feindseligkeit gegenüber den Behördenvertretern keinen Hehl machten, anwesend war.185 In den frühen 1980er-Jahren fand in Arbeitslosenzentren des TUC umfangreiche Sozialberatung statt.186 Hilfestellung im Umgang mit Behörden und Aufklärung über »Welfare Rights« waren, neben Angeboten zur Weiterbildung oder Freizeitgestaltung, zentrale Aufgabe der Zentren. Neben hauptamtlichen Sozialarbeitern oder ehrenamtlich tätigen Rechtsanwälten, waren in der Rechtsberatung und -vertretung auch Ehrenamtliche tätig, die sozialrechtliche Fortbildungen des TUC besucht hatten oder »on the job« gelernt hatten. Die Beratungen waren hoch frequentiert. In Leeds stieg die Beratungsfrequenz innerhalb eines Jahres auf 320 Fälle im Jahr 1985, im walisischen Bangor waren es im gleichen Jahr sogar über 3.000.187 Im nordenglischen Sheffield, Hauptschauplatz des Miners’ Strike 1984/85 schnellten die Anfragen während des Arbeitskampfes auf 181 Ebd., S. 285. 182 Ebd., S. 282. 183 Hilary Rose, Up against the Welfare State: the Claimants Unions, in: Social Register 10 (1993), S. 179–203. 184 TNA AST 36/99, Westbey, Study of Claimants’ Union, S. 14. 185 Vgl. Fulbrook, Administrative Justice and the Unemployed, S. 285 f. 186 Zu den Zentren vgl. Kap. V.3.2. 187 Keith Forrester / Kevin Ward, Organizing the Unemployed? The TUC and the Unem­ployed Workers Centres, in: Industrial Relations Journal 17 (1986), S. 46–56, hier: S. 50.

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800 in acht Monaten hoch.188 In einer Umfrage von 1988 gaben knapp 57 Prozent der Arbeitslosenzentren an, ihre Hauptaufgabe würde in der sozialrechtlichen Beratung liegen.189 Inhalte der Beratung in den Zentren hingen von ihrem Standort und den örtlichen Arbeitsmarktgegebenheiten ab. Hauptsächlich wurde wegen rechtswidriger Kündigungen, Gewährung von Sozialhilfe sowie aus der Arbeitslosigkeit resultierender finanzieller Probleme um rechtliche Beratung nachgesucht.190 Finanzielle Zwangslagen betrafen vor allem Mietschulden, Schulden bei Heizund Nebenkosten sowie Überschuldung nach Hauskauf bis hin zu Wohnungslosigkeit und den Fragen legaler Hausbesetzung. In den Standorten des Miners’ Strike von 1984/85 war streikrechtliche und finanzielle Beratung nachgefragt. Hinzu kamen sozialrechtliche Probleme von Migrantinnen und Migranten, wie Hilfestellung bei Erlangung von Aufenthaltserlaubnissen oder Ausweispapieren. Ein Blick in einschlägige Handbücher zur sozialrechtlichen Beratung verstärkt den Eindruck sehr differenter rechtlicher Probleme, mit denen arbeitslose Subjekte in Großbritannien konfrontiert waren. Ausschlaggebend hierfür war auch die sozialrechtliche Unterscheidung finanzieller Unterstützungsleistungen in bedürftigkeitsgeprüfte (»means-tested benefits«) und ungeprüft gewährte Zahlungen (»non-means-tested benefits«), die sich nur sekundär am Status der Erwerbstätigkeit orientierten.191 Die Rechtsvertretung für Arbeitslose war dadurch sehr viel komplexer und unübersichtlicher als im deutschen Rechtssystem. Das arbeitslose Rechtssubjekt hatte sich gewissermaßen innerhalb der Rechtskontexte, die seine Lage bestimmen konnten, zu orientieren, und diese Rechtskontexte, die aus seiner oder ihrer Arbeitslosigkeit folgten, aber nicht Grund der rechtlichen Beschwerde waren, waren durchaus inkohärent: Erwerbslosigkeit, Wohnungsnot, Citizenship, Kindergeld etc. Erst in der subjektiven Anwendung dieser Rechtsgebiete bildete sich im britischen Rechtssystem das arbeitslose Subjekt in den sozialrechtlichen Problemen heraus, die mit seiner Arbeitslosigkeit zusammenhingen. In Anlehnung an zeitgenössische angelsächsische Rechtstheorie kann sogar von einer signifikanten und zunehmenden Bedeutung des Rechtssubjekts in der Ausformung der Rechtsgeltung des Common Law die Rede sein, das in der subjektiven Rechtswahrnehmung nicht nur bestätigt, sondern in rechtlicher Kohärenz erst hergestellt wird.192

188 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Local TUCs, SCAU [Sheffield Centre Against Unemployment] Report 1984–85. Sheffield o. J., S. 6. 189 Vgl. Keith Forrester / Kevin Ward / Bernie Stinson, TUC Centres for the Unemployed. A First National Survey. University of Leeds 1988, S. 13. 190 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Local TUCs, SCAU [Sheffield Centre Against Unemployment] Report 1984–85. Sheffield o. J. 191 Vgl. hierzu auch: Lakhani / Read / Woof, National Welfare Benefits Handbook; Mark Rowland / Roger Smith, Rights Guide to Non-Means-Tested Benefits, London 1990. 192 Vgl. Jack M. Balkin, The Legal Subject and the Problem of Legal Coherence, in: The Yale Law Journal 103 (1993), S. 105–176.

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Vor Gericht

Dem einzelnen Subjekt forderten diese rechtlichen Inkohärenzen einiges an Flexibilität ab. Im Beratungsalltag der Arbeitslosenzentren war zusätzlich zur unübersichtlichen Rechtslage mit einem heterogenen Publikum zu rechnen und einem hohen Anteil Ehrenamtlicher als Beratende. So arbeitete Mohammed R., seit zwei Jahren arbeitslos, ehrenamtlich für die »Asian Welfare Association« in einem Sheffielder Arbeitslosenzentrum. Vorwiegend für die Beratung von Migrantinnen und Migranten zuständig, ist er mit grundständigen Verständigungsproblemen und Übersetzung beschäftigt. »I work there every day«, wie er berichtete, »dealing with Social Security problems, difficulties in form filling, passport problems and with translation work.«193 Seine eigene Motivation, im Arbeitslosenzentrum mitzuarbeiten, war es, die eigene Expertise soweit zu verbessern, um einen »full-time advice worker job« zu ergattern. Auch für den seit zwei Jahren arbeitslosen Dave war die Tätigkeit als ehrenamtlicher Berater gleichzeitig eine Art Fortbildung in der Wahrnehmung subjektiver Rechte.194 Auf der Suche nach ehrenamtlicher Tätigkeit wurde er an die »Welfare Rights«Beratung der Arbeitslosenzentren verwiesen und begann dort, »on a few courses and just by doing the job«, mit der sozialrechtlichen Beratung gekündigter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie mit der Vertretung von Sozialhilfebeziehern vor den Widerspruchsstellen. Das britische Rechtssystem war für derartige »on the job«-Beratung offen, erforderte aber auch das kostengünstige Ehrenamt, damit sich Subjekte an den Peripherien des Wohlfahrtsrechts überhaupt bemerkbar machen konnten.

193 Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Local TUCs, What the Users say, in: Sheffield Unemployed and Drop-In Centres. A Guide to the Centres for Unem­ployed People in Sheffield. Sheffield o. J., [S. 8]. 194 Ebd.

V. Heterotopien, Gegen-Verhalten, Protest – der Arbeitslosigkeit entwischt?

Arbeitslosigkeit wurde im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre zunehmend zur Normalität vieler Lebensläufe der Menschen in der Bundesrepublik und Großbritannien im Sinn einer alltäglichen, allgemein verbreiteten Erfahrung. Allerdings blieb Arbeitslosigkeit stets ein Zustand der Abweichung vom Normalen, im Sinn des sozial Akzeptierten. Arbeitslosigkeit war als solche ein gesellschaftlicher Skandal und für den Einzelnen ein biographisches Ereignis mit zumeist weitreichenden Folgen für die weitere Lebensplanung. Erwartungen, dass es aufgrund der mit Arbeitslosigkeit verbundenen Erfahrung von Benachteiligung und gesellschaftlicher Marginalisierung zu Aufruhr und Protest von und unter Arbeitslosen kommen müsste bzw. zu befürchten sei, waren vor allem im Deutungsrahmen sowie Rezeption der (neo-)marxistischen Verelendungstheorie zu finden. Da »mit gut beschäftigten Arbeitern (…) keine Revolution zu machen« sei, wie Friedrich Engels um 1850 formulierte, ruhten die Hoffnungen derer, die mit dem Klassenkampf in der Geschichte rechneten, auch auf der Revolutionsbereitschaft verelendeter »Arbeitsloser«, die freilich später an anderer Stelle von Marx und Engels als politisch unzuverlässiges »Lumpenproletariat« verunglimpft wurden.1 Theoriehistorisch hiermit verknüpft, wurden mit Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eigene Erwartungen an Arbeitslose als »revolutionäre Subjekte« gestellt, die ihren Maßstab darin fanden, inwiefern Arbeitslosigkeit zum medialen oder politischen Agendasetting taugte.2 Derart normative Vorstellungen gelungenen, klassenkämpferischen oder sozialreformerischen Protests beeinflussten die Analyse von Protesten oder widersetzlichen Akten von Arbeitslosen erheblich. In der zumeist politisch links zu verortenden zeitgenössischen Beobachtung wie der überschaubaren histo1 Friedrich Engels, Die deutsche Reichsverfassungskampagne, in: Marx-Engels-Werke. Bd. 7, Berlin 1960, S. 109−197, hier: S. 128; das Zitat findet sich bei: Alois Wacker, Arbeitslosigkeit ist ein massenhaftes Schicksal, aber ein massenhaft individuelles, in: Ulrike Roßmann (Hrsg.), Provinz  – Arbeitslosigkeit. Ergebnisse der Tagung »Arbeitslosenprojekte in der Provinz«, Hannover 1987, S. 71–91, hier: S. 72; für das Lumpenproletariat z. B. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke. Bd. 8, Berlin 1960, S. 111–207, hier: S. 160 f. 2 Vgl. Dieter Rucht / Friedhelm Neidhardt, Soziale Bewegungen und kollektive Aktionen, in: Hans Joas (Hrsg.), Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt / Main, New York 1994, S. 533–556; ähnlich: Roland Roth / Dieter Rucht, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Frankfurt / Main, New York 2008, S. 9–38.

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Heterotopien, Gegen-Verhalten, Protest – der Arbeitslosigkeit entwischt?

rischen und sozialwissenschaftlichen Literatur der Bundesrepublik überwiegt dabei eine klassenbewusst distinktive Betrachtung, die sich enttäuscht über die Apathie der »klassenlosen« Arbeitslosen insbesondere in den 1970er- und 1980er-Jahren zeigt.3 Die allgemein klassenbewusster argumentierende linke, britische Historiographie war den Protestereignissen im Zusammenhang hoher Arbeitslosigkeit in Großbritannien gegenüber aufgeschlossener.4 Als Erzählung sozialer Unruhe in den 1980er-Jahren sind diese Teil allgemeiner Historiographie. Überlieferungen arbeitsloser Renitenzen und Proteste verblieben jedoch überwiegend im Subgenre außerwissenschaftlicher, sozialkritischer Reportage. Erklärungen für die politische Abstinenz der Arbeitslosen lieferte die sozialwissenschaftliche Forschung, die bereits seit der Marienthal-Studie davon ausging, dass es Arbeitslosen aufgrund von Resignation und Apathie an kollektiver Identität mangele und ihre Interessen daher zu fragmentiert seien, um zu gemeinsamer Aktion zu gelangen.5 Die finanziellen und sozialen Ressourcen der Arbeitslosen seien zu schwach, um politisch artikulationsfähige Organisationsformen zu entwickeln. Die Arbeitslosen seien quasi in ihren subjektiven Bedürfnissen, wie Sicherung des Lebensunterhalts, Aufrechterhalten des sozialen Lebens oder ihrer psychischer Stabilität, gefangen und fänden keinen Weg zur Solidarität untereinander. Zudem sei die Dauer und Häufigkeit von Arbeitslosigkeit sehr unterschiedlich und die sozialen Effekte von Arbeitslosigkeit folglich zu differenzieren. Arbeitslosigkeit als »transitorischer Zustand« von Erwerbslosigkeit zwischen unterschiedlichen Phasen von Erwerbsarbeitsverhältnissen biete zudem keine Ansatzpunkte längerfristiger Identitätsbildung als Arbeitsloser oder Arbeitslose oder gar solidarischer Aktion mit Gleichgesinnten.6 Die Vorannahmen über den fragmentarischen Charakter von Protesten oder Widersetzlichkeiten Arbeitsloser legen es nahe, auf Foucaults Konzeption kapillarer Machtstrukturen und relationalem »Gegen-Verhaltens« zurückzugreifen. Demnach konstituiert Widerstand Machtverhältnisse einerseits mit, andererseits werden diese im Widerstand begrenzt.7 Wo Macht ist, ist (fast) immer 3 Vgl. Manfred Prisching, Arbeitslosenprotest und Resignation in der Wirtschaftskrise, Frankfurt / Main 1988; Lothar Rolke, Millionen im Griff. Warum es (noch?) keine Arbeitslosenbewegung gibt, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 2 (1988), S. 45–50. 4 Vgl. Paul Bagguley, From Protest to Acquiescence? Political Movements of the Unemployed, London 1991; ders., Protest, Acquiescence and the Unemployed. A Comparative Analysis of the 1930s and the 1980s, in: British Journal of Sociology 43 (1992), S. 443–461. 5 So kritisch: Didier Chabanet / Jean Faniel, Introduction: The Mobilization of the Unemployed in a Comparative Perspective, in: dies. (Hrsg.), The Mobilization of the Unemployed in Europe. From Aquiescence to Protest?, New York 2012, S. 1–27, hier: S. 1; Harald Rein, Proteste von Arbeitslosen, in: Roth / Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, S. 594. 6 Wacker, Marienthal und die sozialwissenschaftliche Arbeitslosenforschung, S. 407. 7 Für den Begriff des »Gegen-Verhaltens« vgl. Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France. 1977–1978, Frankfurt / Main 2004, S. 292; zu den Denkmöglichkeiten von »Widerstand« bei Foucault vgl. die Beiträge in: Hechler / Philipps (Hrsg.), Widerstand.

Heterotopien, Gegen-Verhalten, Protest – der Arbeitslosigkeit entwischt?

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Widerstand, der gesellschaftliche Machtstrukturen dynamisch hält. Angedockt an alltägliche und vielfältige Machtbeziehungen ist ein solches widerständiges »Gegen-Verhalten« nicht nur als heroisches Auflehnen gegen eine souveräne Zentralmacht zu begreifen. Vielmehr gibt es eine Vielzahl mikropolitischer Widerstandsakte des Unterlassens oder Dagegenseins: »einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromißbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände.«8 Die Gegenbewegungen widerständiger Praktiken zu den Regierungstechniken ermöglicht, diesen »zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben.«9 Das den Machtverhältnissen zuwiderlaufende Verhalten muss dabei keiner Intention folgen. Es kann ein eingeübtes Alltagshandeln sein, das als widersetzlich wahrgenommen und eingestuft wird oder aber eine geplante und umfassende soziale Revolte. In Formen und Orten von Gegen-Verhalten können sich mehr oder minder stabile Heterotopien ausbilden – Orte des Freiraums eigensinniger, subversiver Praktiken jenseits festgefügter Ordnungen.10 Foucault schlägt den Begriff der »Heterotopie« vor, der vage auf physische Räume als ›andere Räume‹ abzielt als »Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.«11 In der Schwebe bleibt, inwiefern »Heterotopien« Orte außerhalb einer normativen Ordnung sind und damit der Status, den das »Andere«, gelesen als »GegenVerhalten«, in diesen einerseits realen Räumen der Gesellschaft, die anderseits fundamental anders sind, hat. Anders gesagt: Es besteht bei Foucault ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen dem konkreten Raum der Heterotopie zur beweglichen Relation von Macht und Widerstand.12 Indem Foucault jedoch auch und vor allem marginale, sozial randständige Räume – Kliniken, Bordelle oder Schiffe – als Heterotopien charakterisiert, verweist er auf offene, evolutionäre Deutungen der Begrifflichkeit. Der fluide, ambulante Charakter dieser Räume verdeutlicht den Interpretationsspielraum von Heterotopien als vage, instabile Zwischenräume abweichenden Verhaltens, als Orte, die mit Praktiken von Eskapismus einhergehen und Zuflucht vor den Zumutungen sozialer Realität sein können. Hetero8 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1, Frankfurt / Main 1983, S. 116 f.; ähnlich Alf Lüdtke zum Eigensinn: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. 9 Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 12. 10 Vgl. Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34–46; vgl. auch: Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt / Main 2005. 11 Foucault, Andere Räume, S. 39. 12 Vgl. Ursula Rao, Tempelbau als Widerstand? Überlegungen zum Begriff der Heterotopie, in: Hechler / Philipps (Hrsg.), Widerstand, S. 219–233.

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Heterotopien, Gegen-Verhalten, Protest – der Arbeitslosigkeit entwischt?

topien schaffen Freiräume verschiedener Orte und ihrer Übergänge, bezeichnen aber auch Zwischenräume und Spielräume zwischen normativen Kategorien und Ordnungsmustern. Der Begriffsrahmen, der sich durch Heterotopie und Gegen-Verhalten aufspannt, soll im Folgenden Ansporn sein, den mehr oder minder fragilen Protest, die vielfältigen Widersetzlichkeiten und Eigensinnigkeiten arbeitsloser Subjekte in den 1970er- und 1980er-Jahren nachzuzeichnen. Darunter werden »klassische« Formen sozialen Protests zu verstehen sein, wie Straßenprotest oder Demonstration sowie kollektive Interessensorganisation, aber auch eskapistisches Ausweichen aus der Arbeitslosigkeit in popkulturelles Vergnügen. Schließlich sind unterschwellige und anonyme Praktiken von Erwerbslosen zu erwähnen, die sich gegen die mit Arbeitslosigkeit einhergehenden sozialen Adres­sierungen richten. Hier kommen Praktiken zum Tragen, die man »stummen Protest« nennen könnte und die im basalen Rückzug aus der Arbeitslosigkeit bestehen und zwar nicht in erneute Erwerbsarbeit, sondern im Entgleiten aus der arbeitslosen Subjekthaftigkeit.13

1. Pop und Politik Im August 1980 veröffentlichte die englische Reggaeband UB 40 ihr erstes Album, »signing off« betitelt. Das Cover des Albums bildete das gelbe Antragsformular für die Arbeitslosenunterstützung: Unemployment Benefit, Formblatt 40, nach dem sich die Band benannt hatte. Der Titel des Albums »signing off« spielte darauf an, welche Handlungsmöglichkeiten die Bandgründung den Musikern eröffnete. Im September 1980 meldeten sich die acht Bandmitglieder von UB 40 aus der Arbeitslosigkeit ab und verzichteten auf die finanziellen Unterstützungsleistungen – »signing off«, wie es im Englischen heißt. Ermöglicht hatte ihnen dies der kommerzielle Erfolg des Albums. Der Bandname sei, so der Bandgründer Ali Campbell, eine spontane Idee eines Freundes gewesen, der, bezugnehmend auf die Antragsformulare auf Arbeitslosengeld, die von den Bandmitgliedern beständig ausgefüllt wurden, fragte: »You’re all on the dole, why don’t you call yourselves UB 40?«14 Das Label war eine spielerische Camouflage bürokratischer Erfassungslogiken und ein Statement für einen Lebensstil »on the dole« jenseits der Zumutungen der Arbeitsgesellschaft. Ali Campbell und sein Bruder Robin hatten die multiethnische Reggae-Band mit Freunden aus der Nachbarschaft des Birminghamer Stadtteils Moseley gegründet. Teilweise Absolventen der Moseley School of Art, kannten sich die 13 Vgl. Harald Rein / Wolfgang Scherer, Erwerbslosigkeit und politischer Protest. Zur Neubewertung von Erwerbslosenprotest und der Einwirkung sozialer Arbeit, Frankfurt / Main 1993, S. 253. 14 Ali Campbell / Robin Campbell, Blood and Fire, London 2005, S. 55.

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Bandmitglieder aus der Schule und trafen sich auf dem Arbeitsamt wieder. Nach mehrjähriger Arbeitslosigkeit, allenfalls durch kurzfristige Jobberei in den örtlichen Fabriken unterbrochen, gründeten sie die Band, finanziert durch den Bezug von Arbeitslosenunterstützung. Zwar drohten Restriktionen des Arbeitsamts, Ali Campbell und seine Bandkollegen beschlossen dennoch, ihre Musik zum Hauptberuf zu machen und zur Sicherung des Lebensunterhalts Arbeitslosenunterstützung zu beziehen: »Signing-on meant that we had to turn up for every rehearsal at nine in the morning.«15 Die Campbells verorteten sich damit durchaus in die politischen Traditionen der britischen Arbeiterbewegung und der eigenen Familie. Bereits ihr Vater Ian Campbell war, »intellectual lefty«, als Folksänger unterwegs, nachdem er seinen Job als Graveur in der Birminghamer Schmuckindustrie aufgegeben hatte.16 Ihr Großvater David Gunn Campbell war Gewerkschafter und hatte bereits die Hungermärsche der Arbeitslosenbewegung in den 1930er-Jahren musikalisch befeuert. Noch während des Bergarbeiterstreiks von 1984/85 traten Großeltern und Vater Campbell bei gewerkschaftlichen Protestkundgebungen auf. Ali und Robin Campbell hatten sich bereits in den späten 1970er-Jahren als Vertreter der linken Aktivistengruppen Claimants’ Union, an Fälschungen amtlicher Dokumente beteiligt, um älteren »Nigerian Ladies«, wie sie selbst schreiben, zu finanzieller Unterstützung zu verhelfen.17 So subversiv-radikal die Campbells diese politischen Aktionen darstellten, so artikulierten sie musikalisch, den sozialkritischen Impuls des Reggae aufnehmend, ihre sozialpolitischen Anliegen ostentativ lässig. Dem zeitgenössisch vor allem von den Gewerkschaften kolportierten »Right to Work« hielten sie, wie bereits sozialistische Jugendliche in den 1970er-Jahren zumindest ein formales »Right not to Work« entgegen. Ali Campbell schreibt: »We started to get into the idea of the right not to work. Maybe, we thought, that would open our options up a little.«18 Die arbeitslosen Musiker schufen eine Situation des Entwischens, einen Freiraum, der ihnen Handlungsmöglichkeiten eröffnete. In der Situation von Arbeitslosigkeit ist die Musikpraxis der Band als eine Artikulationsform ihrer politischen Selbstregierung zu lesen, mithin als eine Subjektivierungspraxis. Die hier angedeuteten Zusammenhänge von sozialer Situation, musikalischkulturellem Ausdruck sowie politischer Selbstverortung sind in gewisser Weise repräsentativ für Phänomene, die in der historischen Literatur lange vor allem als Teil jugendlicher Subkulturen der 1970er- und 1980er-Jahre verstanden wurden. Anregungen der britischen ›Cultural Studies‹ und einer sich in den letzten Jahren neuformierenden deutschsprachigen ›Popgeschichte‹ aufgreifend, ist für die folgenden Überlegungen die Annahme zentral, dass Popkultur ein wichti15 Ebd., S. 53. 16 Ebd., S. 4–9; Ali Campbell, My Family Values. Interview mit Nick McGrath, in: Guardian 14.11.2014, https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2014/nov/14/ali-campbell-myfamily-values, 30.01.2023. 17 Ebd., S. 4, 45; zur Claimants’ Union detaillierter im Kapitel V.3.2. 18 Ebd., S. 45.

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ger Bedeutungsträger gesellschaftshistorischer Entwicklungen in ihrer gesamten Bandbreite und ihren sozialen Differenzierungen ist.19 Insbesondere die Frage nach historisch transportierter Subjektivität und ihren subversiven Potentialen, Selbstbestimmung gegenüber hegemonialen Kultur- und Lebensstilkonzepten zumindest in Aussicht zu stellen, ist dabei zentral.20 Für das Verständnis des »Pop-Subjekts« wird in besonderem Maße auf seine Performanz zu achten sein. Zu seiner Subjektwerdung, d. h. zur sozialen Anerkennung seiner selbst durch sich selbst wie durch andere, gehört der Auftritt in einer realen oder imaginierten Öffentlichkeit. Ob auf der Bühne, im Club oder auf der Straße: popkulturell signifikante Gruppen zeichnen sich durch ihre Inszenierung aus, die im Wortsinn zu verstehen ist. Mittels bestimmter kultureller Aktivitäten, zeichenhafter Kleidung, exzeptionellen Sprachregelungen und anderer Ausdrucksformen setzen sich ihre Mitglieder in Szene. Die Dramaturgie ist, ähnlich der Szene im Theater, einerseits situativ und flüchtig, andererseits keineswegs zufällig, sondern inszeniert und bedeutungstragend.21 Selbstpräsentationen, die in keiner Weise als feststehende, unverrückbare Identitäten zu verstehen sind, orientieren sich an dem verfügbaren, sozialisierten Rollenrepertoire, und es wird zu untersuchen sein, inwiefern »Pop-Subjekte« soziale Erwartungen erfüllen, variieren oder unter Umständen mehr oder minder bewusst »aus der Rolle fallen«. Zu betonen ist, dass ihr Rollenscript und ihre Rollenauslegung, anders als es das kulturaffine Vokabular eventuell vermuten ließe, sozial verortet und sozial vermittelt ist. Es sind »soziale Rollen«, deren Analyse mit sozialen Verhältnissen, Asymmetrien und Vexierspielen zu rechnen hat.22 Bisherige deutschsprachige 19 Bodo Mrozek / A lexa Geisthövel, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Popgeschichte. Bd. 1. Konzepte und Methoden, Bielefeld 2014, S. 7–31; vgl. auch die Rezension von Fernando Esposito zu: Alexa Geisthövel / Bodo Mrozek (Hrsg.), Popgeschichte. Band 1: Konzepte und Methoden. Bielefeld 2014/Bodo Mrozek / A lexa Geisthövel / Jürgen Danyel (Hrsg.), Popgeschichte. Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958–1988, Bielefeld 2014, in: H-SozKult, 23.03.2016, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-23527, 30.01.2023; Bodo Mrozek, Popgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 6.5.2010, http:// docupedia.de/zg/Popgeschichte?oldid=106465, 30.01.2023; Jürgen Danyel / Á rpád von Klimó, Popkultur und Zeitgeschichte, in: Zeitgeschichte-online, April 2006, http://www. zeitgeschichte-online.de/thema/popkultur-und-zeitgeschichte, 30.01.2023; empirisch reichhaltig für die 1950er- und 1960er-Jahre: Bodo Mrozek, Jugend, Pop, Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019. 20 Vgl. auch: Alexa Geisthövel, Lebenssteigerung. Selbstverhältnisse im Pop, in: dies. /  Mrozek (Hrsg.), Popgeschichte. Bd.1, S. 177–199. 21 Doris Lucke, Behind the Scenes. Anmerkungen aus dem Off, in: dies. (Hrsg.), Jugend in Szenen. Lebenszeichen aus flüchtigen Welten, Münster 2006, S. 7‒22; allgemein sozialanthropologisch: Hans-Georg Soeffner, Auslegung des Alltags – der Alltag der Auslegung. Zur sozialwissenschaftlichen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Konstanz 22004, S. 160–179, 285–289; angelehnt an: Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 21973. 22 Vgl. Goffman, Wir alle spielen Theater, S. 35–48.

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kultursoziologische und kulturhistorische Arbeiten, die dezidiert Selbstverhältnisse und Popkultur in den Blick nehmen, konzentrieren sich auf weitgehend ästhetische und affektive Dimensionen einer popkulturellen Subjektivierung, die, sozial freischwebend, das »somatisch-affektive, intensivierte ›Fühlen‹ seiner selbst« trainieren würde oder generell ein lebensphilosophisch inspiriertes Bedürfnis nach »Lebenssteigerung« befriedigen würden.23 Diese Abstraktheiten insbesondere der deutschen Forschungsliteratur sind zwar auch der akademischen Flughöhe der Studien geschuldet, die das »gegenkulturelle Musiksubjekt« der 1960er- und 1970er-Jahre als Teil der »Subjektkultur der Counter Culture« in den Blick nehmen bzw. sich an übergreifenden Annahmen zu einer popkulturellen Subjektivierung versuchen, eingeräumter Vielfalt und Unübersichtlichkeit von Popkultur zum Trotz.24 Dennoch scheint sich die Popkultur hier auch durch ihre eigene »Brille der Kultur« betrachten zu wollen, die Stilfragen und symbolische Identitäten schärfer stellt als ökonomische Ausgrenzung.25 Britische Arbeiten in der Tradition der ›Cultural Studies‹ wie auch deutschsprachige sozialhistorische Literatur zur Popkultur kalkulieren eher mit den gesellschaftlichen Konnexen ihres ästhetischen Ausdrucks, damit also, wie Ernst Bloch es bereits formulierte, wie eine »so gesellige Kunst [wie die Musik] von den jeweiligen sozialen Verhältnissen bedingt« ist und »wie tief Gesellschaft schon ins Klangmaterial hineinreicht«, folglich »Klangmaterial«, oder auch »Kunstmaterial«, Auskunft über Gesellschaft gibt.26 Insbesondere mag dies für künstlerische Selbstexpressivität von Pop gelten und ihre gesellschaftlichen Implikationen, Aneignungen, Vorstellungen und Sehnsüchte, selbstredend für die 1970er- und 1980er-Jahre, in denen sich Popkultur exponentiell verbreitete und ihrerseits als Subkultur oder Mainstream sozioökonomisch einflussreich wurde. Die »Kultur der Selbstanerkennung«, mit der Axel Schildt und Detlef Siegfried die Kulturgeschichte der Bundesrepublik in den Jahren 1983 bis 1990 überschreiben und damit sowohl die staatliche Ebene des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik als auch das Tableau kultureller Subjektivitätskonzepte der 1980er-Jahre überschreiben, kann hier einen Hinweis liefern, dass popkulturel23 Geisthövel, Lebenssteigerung, S. 191–194; Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 475; ähnlich das trotz des expressiven Inhalts etwas trocken überschriebene Kapitel »Musikveranstaltungen« bei Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 595–605; sozial differenzierter, wenngleich die Hypothese, popkulturelle Praktiken mittlerer und unterer Einkommensschichten seien vorwiegend Aneignungen bürgerlicher Rezeptionsweisen, durchschimmert: Mrozek, Jugend, Pop, Kultur, S. 735. 24 Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 475; Geisthövel, Lebenssteigerung, S. 177–199. 25 So das »Ergebnis von jugend- und popkulturellen Kämpfen« beschreibend: Tom Holert /  Mark Terkessidis, Mainstream der Minderheiten, in: Peter Kemper / Thomas Langhoff /  Ulrich Sonnenschein (Hrsg.), »but I like it«. Jugendkultur und Popmusik, Stuttgart 1998, S. 314–332, hier: S. 330. 26 Ernst Bloch, Überschreitung und intensitätsreichste Menschwelt in der Musik, in: ders., Zur Philosophie der Musik. Hrsg. v. Karola Bloch, Frankfurt / Main 1974, S. 280–333, hier: S. 295.

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ler Selbstausdruck und sozio-ökonomische und politische Verhältnisse, genauer: die sozioökonomische Situation von Arbeitslosigkeit eng beieinanderliegen.27

1.1 Das Beste aus einer schlechten Situation machen: Pop und trübe Aussichten in den 1970er-Jahren Für den Punk im Großbritannien der 1970er- und 1980er-Jahre ist der Zusammenhang zwischen seiner sozialen Situierung, der popkulturellen Ästhetik und den Selbstentwürfen von Punkern in der Forschung nahezu kanonisch. Die wirtschaftliche und soziale Lage des Landes, steigende Arbeitslosenzahlen, verlassene Industrielandschaften, zerfallende Innenstädte, der eskalierende Terrorismus der IRA, bildete für den seit Mitte der 1970er-Jahre aufkommenden Punk nicht nur eine eindrückliche Auftritts-Szenerie. Soziale Wirklichkeiten und die Selbst-­Inszenierungen der Punker gingen, so die kunsttheoretische Literatur, eine eigentümliche Allianz von Tristesse ein. Punk war die soziale Realität dieser Jahre, als auch ihr künstlerischer Ausdruck: »social crisis, and in particular the embodiment of social crisis in the image of the traumatized city (…) is also extremely punk.«28 Arbeitslosigkeit wurde sowohl in der Punkmusik thematisiert, als auch in der Punkbewegung zelebriert. Bereits 1977 bezeichnete, vielzitiert, Peter Marsh den Punk als »dole-queue-rock«, als »music of the unemployed teenager«, der seine durch Arbeitslosigkeit hervorgerufenen Aggressionen artikulieren würde.29 Man kann dieses Urteil sicher auch als eine zeitgenössische Zuschreibung eigener oder fremder Ängste lesen.30 Dies ändert allerdings an der Frage nach den gesellschaftlichen und subjektiven Bezügen der Punker nichts. Die kulturwissenschaftliche Diskussion in Großbritannien darüber, ob Punk nun »working class culture« ist oder nicht, kam dem schon näher. Dick Hebdige wurde zumindest zugeschrieben, er hätte Punk als Ausdruck der Klassenlage der weißen ehemaligen Arbeiterjugend und ihrer ökonomisch desolaten Lage gelesen.31 Dem setzte Simon Frith argumentativ die soziale Herkunft der frühen 27 Axel Schildt / Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 403–469, hier: S. 403. 28 Mark Sladen, Introduction, in: ders. / Ariella Yedgar (Hrsg.), Panic Attack! Art in the Punk Years, London 2007, S. 9–17, hier: S. 9. 29 Peter Mars, Dole Queue Rock, in: New Society 1977, 20.01.1977, S. 112–114. 30 Fernando Esposito, No Future  – Symptome eines Zeit-Geists im Wandel, in: Morten Reitmayer / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 95–108, hier: S. 100. 31 Simon Frith, Sound Effects. Youth, Leisure, and the Politics of Rock, London 1983, S. ­158–163; vgl. auch: Lawrence Grossberg, Another Boring Day in Paradise: Rock and Roll and the Empowerment of Everyday Life, in: Popular Music 4 (1984), S. 225–258, hier: S. 245 f.; bezogen auf: Dick Hebdige, Subculture. The Meaning of Style, London, New York 1979, S. 62–70.

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Punk-Aktivisten und Punk-Musiker aus der Mittelklasse entgegen sowie ihr Bezug zu Bohème und Avantgarde: »Punk’s cultural significance was derived not from its articulation of unemployment but from its exploration of the ­aesthetics of proletarian play. (…) punk was not the voice of the unemployed youth but a strident expression of the bohemian challenge to orderly consumption,« so Frith.32 An anderer Stelle erwähnt Frith allerdings die stilistische Wichtigkeit der »working-class voice« von John Lydon alias Johnny Rotten, Sänger der Sex Pistols, und seinen Einsatz von »proletarian accents« und deutet damit selbst an, worum es auch Hebdige geht: der »working classness« des Punk, seinen »working class«-Inhalten, unabhängig von der sozialen Herkunft seiner Anhänger.33 Frith gibt selbst zu, dass die Bezüge zwischen Punk als ästhetischer Ausdrucksform und Punk als sozialer Lebensform verwickelter sind. Allein die Aussagen der Punkmusiker selbst über Punk sind wenig hilfreich und deuten auf Beliebigkeit hin. Punkrock sei Provokation gegen Ordnungen, drogengestützter Exzess, Antihaltung, Spaß, Genialität und Dilettantismus.34 Insbesondere im Vergleich zur vorangegangenen theorielastigen Studentenbewegung kommt die Literatur denn auch zum Schluss, dass Punk »keine Botschaft« hatte.35 Aber auch wenn Punker und insbesondere Punkmusiker allen sozialen Schichten und Milieus angehörten und sich keine Ansätze zur historisch verwertbaren Selbstdeutung finden, gemeinsam waren ihnen und ihrem Publikum die Erfahrungen von unsicheren Lebensperspektiven, Uneindeutigkeiten der sozialen Lebenszusammenhänge und nicht zuletzt die Risiken sozialer Deklassierung durch Arbeitslosigkeit.36 Peter Wicke betont, methodisch an britische Forschungen anschließend, Punk sei kein »unmittelbarer Ausdruck« von Arbeitslosigkeit.37 Punk bezieht aber, laut Wicke, aus den Erfahrungskontexten von Arbeitslosigkeit seinen »Sinn, als gegenständliche Form von kulturellen Zusammenhängen«, in denen 32 Frith, Sound Effects, S. 267; allgemein zum Punk: S. 158–163; ähnlich auch: Winfried Longerich, »Da Da Da«. Zur Standortbestimmung der Neuen Deutschen Welle, Pfaffenweiler 1988, S. 33 f. 33 Frith, Sound Effects, S. 161; Hebdige, Subculture, S. 63. 34 Hierzu die Zeitzeugen in: Jürgen Teipel, Verschwende deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New-Wave, Berlin 2012; Longerich, »Da Da Da«, S. 49. 35 Hans-Georg Soeffner, Stil und Stilisierung. Punk oder die Überhöhung des Alltags, in: ders., Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags. Bd. 2, Frankfurt / Main 21995, S. 76–101, hier: S. 98. 36 Bruno Hafenegger / Gerd Stüwe / Georg Weigel, Punks in der Großstadt – Punks in der Provinz. Projektberichte aus der Jugendarbeit, Opladen 1993, S. 14 f.; Hans-Christian Harten, Jugendarbeitslosigkeit in der EG , Frankfurt / Main, New York 1983, S. 301–312; die deutsche Debatte auch bei: Salvio Incorvaia, Der klassische Punk. Eine Oral History. Biografien, Netzwerke und Selbstbildnis einer Subkultur im Düsseldorfer Raum 1977– 1983, Essen 2017, S. 517; zur sozialen Herkunft der Punks: ebd., S. 80 f.; Schildt / Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte, S. 363. 37 Hierfür und folgend: Peter Wicke, Rockmusik. Zur Ästhetik und Soziologie eines Massenmediums, Leipzig 1987, S. 188–211.

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sich wiederum »die Problematik der Arbeitslosigkeit vermittelte«.38 Jon Savage spricht davon, dass es die Arbeitslosenzahlen waren, »die Punk in Szene setzte[n].«39 Wicke unterstreicht in Anlehnung an zeitgenössische westdeutsche Sozialwissenschaften, dass Arbeitslosigkeit für Jugendliche eine Form eigener sozialer Realität erschaffen würde, die von zeitlicher Unstrukturiertheit, von Langeweile gekennzeichnet sei, aber vor allem von sozialer Isolation, von Erfahrungen von Nutzlosigkeit. Beruflich chancenlos seien »Klassenzugehörigkeiten« und damit die Frage, welcher sozialer Schicht Punks entstammten, letztlich irrelevant, da die Erfahrung jugendlicher Arbeitslosigkeit zu einer neuen klassenübergreifenden Klasse der klassenlosen Arbeitslosen führte. Die Subkultur der Punks sei entscheidend durch diese Erfahrung von De-Klassierung im Wortsinn geprägt worden und provozierte damit, sich selbst zur Randfigur zu machen, die soziale Isolation also selbstregulativ in den Griff zu bekommen.40 Punk ist hier sozial konkret situiert, und die dem Punk allgemein zugeschriebenen Subjektivierungspotentiale von Wut und Aggressivität erhalten einen Fluchtpunkt.41 Mit gefärbten, zum Irokesenschnitt geformten Haaren, Ratten als Haustieren, Hundehalsbändern und Fetischausstattung als Schmuck, dem pöbelnden und provozierendem Herumlungern in der Öffentlichkeit bedienten die Punks eine soziale Rolle, die zwischen Außerirdischem, verhindertem Superheld, Bettler und Hofnarr oszillierte.42 In Anlehnung an Goffman ließe sich sagen, dass Punks ihre Rolle als »Unperson« problematisierten und neugestalteten.43 Sich selbst als »nicht anwesend«, von sozialen Interaktionen ausgeschlossen, wahrnehmend, arrangierten sie, unter bewusster Unterschreitung und Missachtung sozialer Verhaltenskodices, die sozialen Szenerien ihres Auftritts neu. Ihr stilistisches Repertoire in der »Gesellschaft des Spektakels« war eines der Fragmentierung, der Unterbrechung, bis hin zur radikalen Negation gängiger ästhetischer Gewohnheiten und Maßstäbe.44 Nicht zufällig war die Sicherheitsnadel eines der wichtigsten Utensilien der Punk-Outfits.45 Sie hielt die in 38 Wicke, Rockmusik, S.199. 39 Jon Savage, England’s Dreaming. Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock, Berlin 2001 (engl. EA 1992), S. 252, ähnlich: S. 266. 40 Ein anderes Bild liefert Salvio Incorvaia, der zehn ehemalige Punks in den 2000er-Jahren interviewt hat, die alle »geordneten« Erwerbsberufen nachgehen, deren Lebensjahre in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren allerdings von diskontinuierlicher Erwerbsarbeit (Gelegenheitsarbeit, abgebrochene Ausbildung, Schulabbruch etc.) geprägt waren, vgl. Incorvaia, Der klassische Punk, S. 172, 175 f., 222, 243, 266 f., 353, 369, 371. 41 Zur emotiven Aggressivität von Punk: Henning Wellmann, »Let fury have the hour, anger can be power«. Praktiken emotionalen Erlebens in den frühen deutschen Punkszenen, in: Mrozek / Geisthövel / Danyel (Hrsg.), Popgeschichte. Bd.  2, S.  291–311. 42 Vgl. Thomas Lau, Die heiligen Narren. Punk 1976–1986, Berlin, New York 1992; Incorvaia, Der klassische Punk, S. 96–113. 43 Goffman, Wir alle spielen Theater, S. 38 f., 138 f. 44 Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978 (frz. EA : 1967). 45 Lau, Die heiligen Narren, S. 93; inspiriert ist das Folgende auch vom Titelbild von: Incorvaia, Der klassische Punk.

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der Regel selbst hergestellte, zerfetzte Kleidung zusammen oder zierte Wange, Ohr oder Nase. Laut Hebdige verweisen sie im Punk auf den Übergang vom »realen zum symbolischen Mangel«, zu einem trotz materiellen Wohlstands »leeren Leben« einer durchschnittlichen Bürgerlichkeit.46 Einfacher gedeutet, illustrieren sie den Versuch, die soziale Rolle ihrer Träger provisorisch »zusammenzuhalten«. Die in der Soziologie für die frühen 1980er-Jahre konstatierte »Bastel- oder Patchwork-Mentalität« angesichts diskontinuierlicher Erwerbsbiographien und gehäufter Arbeitslosigkeitsphasen materialisierten sich bei den Punks im Accessoire der vorläufigen Sicherheit. In gewisser Weise stilbildend war der Kurzroman »The Punk«, der ersten literarischen Publikation zum Punk.47 Der Autor, Gideon Sams schrieb den 1977 publizierten Roman im Alter von 14 Jahren als Hausarbeit in der Schule. Sein Cover war ein Fotoportrait von John Lydon alias Johnny Rotten. Durch die Abbildung seiner Lippen und den realen Buchdeckel war eine Sicherheitsnadel gesteckt. Der Protagonist des Romans, Adolph, gebürtig David Sphitz, ist Punker, der seine Nächte zusammen mit anderen Punks auf Punkkonzerten und seine Tage auf dem Arbeitsamt oder mit Gelegenheitsjobs verbringt. Das Finanzierungsmodell durch öffentliche Unterstützung, das Gideon Sams schildert, hatte reale Vorbilder in der Punk-Bewegung, die zwar nicht unbedingt absichtsvolle, politische Kritik aus ihrer Arbeitslosigkeit ableiteten, aber die günstige Lebensweise auf ihre Weise nutzten. Die vier Mitglieder der Punkband Sex Pistols wohnten mietfrei in besetzten Häusern oder bei den Eltern.48 Außer Paul Cook, dem Schlagzeuger, lebten sie von Arbeitslosenunterstützung. Der Sänger John »Johnny Rotten« Lydon bekannte sich freimütig zum Schnorrertum: Musik befreit dich (…). Da geht’s nich darum, wie schlechts dir geht, wenn du nur Unterstützung kriegst. Ich weiß, dasses hart is, aber doch auch nich so schlimm. Ich war auf Unterstützung und hab Kohle fürs Nixtun gekriegt. Fand ich tierisch gut. Beste Art aufs System zu scheißen…49

Die lockere Pose des Künstlers gerinnt an der jugendlichen Basis der Punk­ szene allerdings schnell zur sozialen Risikolage. Es wird dann doch »schlimm« angesichts von Arbeitslosigkeit und Arbeitsverweigerung, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit, Konsum von Alkohol und harten Drogen und sozialer Ausgrenzung. Vor allem in den 1980er-Jahren, als größere Gruppen von Punks abseits der Subkulturzentren zunehmend in den Einkaufsmeilen der Innenstädte wegen 46 Hebdige, Subculture, S. 115. 47 Gideon Sams, Der Punk, in: Kemper / Langhoff / Sonnenschein (Hrsg.), »but I like it.«, S. 212–225; dazu auch: Miriam Rivett, Misfit Lit: ›Punk Writing‹ and Representations of Punk through Writing and Publishing, in: Roger Sabin (Hrsg.), Punk Rock: So What? The Cultural Legacy of Punk, London, New York 1999, S. 31–48, hier: S. 33–37. 48 Savage, England’s Dreaming, S. 142. 49 Zitiert nach: Simon Frith, Zur Ideologie des Punk, in: Kemper / Langhoff / Sonnenschein (Hrsg.), »but I like it.«, S. 226–231, hier: S. 229 f.

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Schnorrereien und Pöbeleien auffallen und folglich in das Visier von Sozialarbeiterinnen und Sozialwissenschaftlern geraten, sind diese sozialen Problemlagen in der Punkszene überdurchschnittlich nachweisbar, bestätigen aber auch den Zusammenhang von sozialer Deklassierungserfahrung und provokativer Selbstexpression.50 Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler entdeckten ihr Inte­ resse an Punks in den 1980er-Jahren unter voraussetzungsreichen Umständen. Sie wollten der »Totalablehnung einer Integration in die Gesellschaft« dieser Jugendlichen, »ihren Wert- und Normenzumutungen wie ihren tragenden Institutionen, ohne Hoffnung überhaupt irgendwann, irgendwo etwas Sinnvolles tun zu können« auf die Spur kommen.51 Das Zitat stammt von Wissenschaftlern des Göttinger SOFI, die im Rahmen einer Untersuchung zum identitätsbezogenen Stellenwert von Erwerbsarbeit für Jugendliche Punks als »Jugendliche im sozialen Abseits« in den Blick nahmen, deren Lage sich allerdings in einer »für Jugendliche typischen Form der Auseinandersetzung mit der Realität«, in gewisser Weise also stellvertretend für die Alterskohorte, lesen lasse.52 Diese Punks hätten, so die Wissenschaftler des SOFI, »die von den Verhältnissen aufgezwungene Existenz«, d. h. ihre soziale Abseitsrolle als Folge von Arbeitslosigkeit, »zum eigenen Programm«, d. h. zur gewollten Rolle des gesellschaftlichen Außenseiters, gemacht.53 Interviewt wurden Punks aus einer mittelgroßen Stadt des Ruhrgebiets, die zum Zeitpunkt des Interviews arbeitslos waren.54 Der überwiegende Teil von ihnen stammte aus sozial schwachen Familien, deren Alltag teilweise erheblich von sozialer Deprivation, d. h. Alkoholkrankheiten der Eltern, häuslicher Gewalt und Existenznot geprägt war. Der Arbeitslosigkeit vorangegangen waren Lebensphasen kurzfristiger, wiederholt von Arbeitslosigkeit unterbrochener Erwerbstätigkeit. Ihre so gesammelten, von Beginn an perspektivisch prekären, Arbeitserfahrungen wurden immer wieder als Erfahrungen autoritärer Willkür von Ausbildern und Vorgesetzten geschildert. Ein 20-jähriger, der seine Lehre als Bauschlosser einige Monate vor Beendigung abgebrochen hat, berichtet von Meistern und Vorarbeitern, die »echt nur rumgeschnauzt« hätten.55 Gleichfalls einige Monate als Bauschlosser gelernt, hatte ein 21-jähriger, der vom Meister

50 Hafenegger / Stüwe / Weigel, Punks in der Großstadt, spez. S. 14, 29, 67; für die Entwicklung des Punk auch: Incorvaia, Der klassische Punk, S. 504, 508 f. 51 Zitat: Martin Baethge / Brigitte Hantsche / Wolfgang Pelull / U lrich Voskamp, Jugend: Arbeit und Identität. Lebensperspektiven und Interessenorientierung von Jugendlichen, Diskussion am 07.07.1981, S. 13, FDZ eLabour. 52 Martin Baethge / Brigitte Hantsche / Wolfgang Pelull / U lrich Voskamp, Jugend: Arbeit und Identität. Lebensperspektiven und Interessenorientierung von Jugendlichen, Opladen 2 1989, S. 146. 53 Ebd., S. 148. 54 Hierzu und folgend: ebd., S. 146–152. 55 Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend, Interview Nr.  B 1308, S.  11.

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»andauernd angemacht« worden sei.56 Wegen geringster Unregelmäßigkeiten, »schon wenn man das zweite Mal auf’s Klo gegangen ist«, seien »irgendwelche Moralpredigten gehalten und einzelne Leute zur Sau (…) vor versammelter Mannschaft« gemacht worden.57 Hinzu kamen stupide Pflichtarbeiten, teilweise als Schikane, in der Regel jedoch als fremdbestimmend und stumpfsinnig wahrgenommen. »Bei der Arbeit wird man ja bekloppt«, fasst der 20-jährige Bauschlosser-Lehrling seine Azubitätigkeiten zusammen.58 Zu kurz gegriffen wäre es allerdings, und hier schließe ich an die zeitgenössischen Deutungen der SOFI-Wissenschaftler an, hier einen kohortenspezifischen Rückgang oder Wandel von so etwas wie Arbeitsethik zu vermuten.59 Das von den Interviewern in das Gespräch eingebrachte »Null-Bock-Gefühl« als Echo der zeitgenössischen Debatte über die Stimmungslage von Jugendlichen, wird von einem Befragten, einem 25-jährigen ausgelernten KfZ-Mechaniker, der nach längerer Berufstätigkeit betriebsbedingt gekündigt, seit einem dreiviertel Jahr arbeitslos ist, deutlich zurückgewiesen. »Ja, ich glaube, wenn alle Arbeit hätten, dann wäre auch nicht so viel mit Null Bock (…). Wenn du den ganzen Tag rumgammelst, dann kriegt man eben das Null-Bock-Gefühl, dann sagst Du Dir, es ist scheißegal alles,« so der Jugendliche.60 Obgleich selbst bereits vor seiner Arbeitslosigkeit Punk, hängen für ihn Punk und Punk-Lebensstil unmittelbar mit Arbeitslosigkeit und ihren sozialen Effekten zusammen. »Punks, das kommt ja nur durch die Arbeitslosigkeit finde ich,« so beantwortet er die Frage, wie er sich Gesellschaft in zehn Jahren vorstellt. Punks sind für ihn repräsentativ für allgemeine soziale Vereinzelungstendenzen, für »versprengte Gruppen«, die es dann »nur noch« geben würde.61 Überformt sind derartige Überlegungen von kurzfristigen Zeithorizonten eigener Lebensführung (»ich weiß ja noch nicht einmal, was nächstes Jahr ist«), wie auch von eskapistischen Momenten von Selbstbestimmung oder deren Inszenierung. Nicht-konformes Herumlungern und Herumpöbeln auf der Straße

56 Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend, Interview Nr.  B 1307, S.  7. 57 Ebd. 58 Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend, Interview Nr. B 1308, S. 10; vgl. auch Zitat bei: Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend: Arbeit und Identität, S. 147; der dort zitierte Jugendliche (»Nur weil du Stift warst, mußtest du die Scheiße wegmachen.«) ist allerdings nicht als Punk einzustufen (vgl. Interview Nr. B 1311). 59 Zum Theorem des »Wertewandels« vgl. die deutschsprachige Forschung: Bernhard Dietz / Jörg Neuheiser (Hrsg.), Wertewandel in der Wirtschaft und Arbeitswelt. Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2017; Jörg Neuheiser, Vom bürgerlichen Arbeitsethos zum postmaterialis­ tischen Arbeiten? Werteforschung, neue Arbeitssemantiken und betriebliche Praxis in den 1970er Jahren, in: Leonhard / Steinmetz (Hrsg.), Semantiken von Arbeit, S. 319–346. 60 Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend, Interview Nr. B 1305, S. 22; auch zitiert bei: Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend: Arbeit und Identität, S.  150. 61 Alle Zitate: Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend, Interview Nr. B 1305, S. 30.

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werden durchaus als Ausbruch aus Arbeits- und Alltagszwängen beschrieben. Einer der Befragten, »Sugar«, wie er von seinen Freunden genannt wird, da er seine Punkfrisur mit Zuckerwasser in Form hält, formuliert rhetorisch ansprechend seine Vorstellungen kurzzeitiger Freiheitsbedürfnisse: Im Sommer setze ich mich einfach in die Stadt und hole mir eine Flasche Bier, setze mich dahin, auf die Steine, und trinke mein Bier (…). Eben ganz frei, ganz frei weg! Und die anderen Leute, sind sich zu fein, die laufen so pinkelfein über die Straße, möchten auch gerne ein Bier trinken, aber machen das nicht. Sie trinken ihr Bier lieber zu Hause, wo es keiner sieht. Das finde ich doof, man sollte immer das machen, wozu man gerade Bock hat! Ich fühle mich eben freier dabei, wenn ich das mache, was ich gerade machen will und fertig, ab! Wenn die anderen das nicht machen, sind sie selber schuld. Sie sind für mich zu blöd!62

Angesichts der Lebensumstände des 20-jährigen, der seine Lehre abgebrochen hatte, seit zwei Jahren arbeitslos sowie ohne festen Wohnsitz war und während des Interviews unter erheblichem Alkoholeinfluss stand, wird deutlich, dass Sugars Freiheiten äußerst prekär und inhaltlich vage sind. Politische Stellungnahmen werden ausweichend und unentschieden beantwortet, wie die politische Position von Punkmusik und Punkszene allgemein einerseits uneindeutig, andererseits unzweifelhaft vorhanden ist. Beliebt waren Attitüden, die eigene Lässigkeit und Autonomie zu betonen: »Punk (…) wasn’t political. I mean, maybe that is political. I mean, the great thing about punk was that it had no political agenda. It was about real freedom, personal freedom,« erinnert sich der US -amerikanische Musikjournalist Legs McNeil, der immerhin 1975 die Verwendung des Begriffs »Punk« als Bezeichnung für die aufkommende neue Jugendkultur geprägt haben soll.63 Es wäre sicher auch, so Peter Wicke, »reine Romantik«, Punkkultur zu einer zielgerichteten Solidaritätsbewegung sozialkritischer Arbeitsloser zu stilisieren.64 Dazu hängt das politische Subjektivierungspotential des Punkrock zu eng mit den mehrdeutigen Semantiken der Punkkultur zusammen. Der Punk-Lebensstil und der Happening-Charakter der Punk-Konzerte, die musikalischen Dilettantismus feierten, evozierten zwar soziale Konfrontation, jedoch in diffuser, wenig gesellschaftspolitisch absichtsvoller Weise. Simon Frith formulierte den inhaltslosen Standpunkt des Punk griffig: »Diese Musik hat damit zu tun, wie man das Beste aus einer schlechten Situation machen kann, nicht damit, sie zu ändern.«65 Von dieser milieubezogenen politischen Indifferenz weichen allerdings Vertreter des Politpunk in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre und Anfang der 62 Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend, Interview Nr.  B 1308, S.  17. 63 Legs McNeil / Gillian McCain (Hrsg.), Please Kill Me. The Uncensored Oral History of Punk, New York 1996, S. 331. 64 Wicke, Rockmusik, S. 204. 65 Zitiert nach: ebd.

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1980er-Jahre ab, die so David Ensmingers Urteil, Punk zu einem »nucleus of politics on the move« machten.66 Insbesondere, dies räumt selbst Frith im Fall der sozialistischen Punkband The Clash ein, gilt dies im Hinblick auf »den Zusammenhang von Teenager / Rock’n’Roll / Arbeitslosenbewußtsein«.67 Die Band The Clash hatte ihre Anfänge in der seit 1975 geplanten Formation »London SS.«68 »SS« stand als Abkürzung für »Social Security«, der britischen Sozialversicherung, bediente aber auch den im Punk beliebten Schockeffekt des provozierenden Gebrauchs von Nazi-Symbolik, hier die Assoziation zwischen Sozialversicherung und nationalsozialistischer Terrororganisation. The Clash veröffentlichte 1977 ihr erstes, gleichnamiges Album. Titel wie »Career Opportunities«, »White Riot« oder »Remote Control«, laut Frith die »zornigsten Lieder« der Band, waren Schimpftiraden auf gesellschaftliche Einpassungs- und Arbeitszwänge, auf Nutzlosigkeit und Langeweile. »They think you’re useless, and so you are, punk,« heißt es in »Remote Control«, die eigene Randständigkeit trotzig zur Schau stellend. Die in »Career Opportunities« persiflierten Berufsperspektiven (»Do you wanna make tea at the BBC? Do you wanna be, do you really wanna be a cop?«) finden ihren deutschsprachigen Widerpart bereits Anfang der 1970er-Jahre bei der West-Berliner Politrockband Ton, Steine, Scherben. Auf ihrem Debütalbum »Warum geht es mir so dreckig« von 1971 lieferten sie mit »Macht kaputt, was euch kaputt macht« und »Keine Macht für niemand« den Soundtrack zu den ersten Hausbesetzungen in Berlin-Kreuzberg. Der Titel schildert die Frustrationserfahrungen körperlicher Knochenarbeit und nimmt ironisch Bezug zum Arbeitsgedicht Gottlob Wilhelm Burmanns, das dieser zur bürgerlichen Kindererziehung Ende des 18. Jahrhunderts schrieb und das in der Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts rezipiert wurde: »Arbeit macht das Leben süß, so süß wie Maschinenöl. Ich mach den ganzen Tag nur Sachen, die ich gar nicht machen will.«69 Das Motiv harter, übermäßig monotoner Arbeitserfahrungen zieht sich durch Erzählungen wie Musik von Punk und Rock der 1970er- und 1980er-Jahre. Die Musiker von UB 40 finanzierten ihre Bandgründung vom Arbeitslosengeld auch, da ihre kurzfristige Fabrikarbeit in den in Birmingham ansässigen Betrieben für sie inakzeptabel wurde. Robin Campbell schildert, dass er dreißig Jobs gehabt hätte, von dem der kürzeste als Dreher acht Minuten gedauert hätte. Die Ankündigung seines zukünftigen Vorarbeiters, »Here’s your lathe, and this is your post 66 David A. Ensminger, The Politics of Punk. Protest and Revolt from the Streets, New York, London 2016, S. 8. 67 Frith, Zur Ideologie des Punk, S. 229; grundlegend auch: Ensminger, The Politics of Punk. 68 Zu London SS: John Robb, Punk Rock. An Oral History, Oakland, CA 2006, S. 106–109; Savage, England’s Dreaming, S. 113 f., 155–158. 69 Hierzu auch: Wiebke Wiede, Die glücklichen Arbeitslosen. Zu einer paradoxen Subjektivierungsform, in: Stephanie Kleiner / Robert Suter (Hrsg.), Stress und Unbehagen. Glücks- und Erfolgspathologien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018, S. 146–167.

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for the next seven hundred years….«, veranlasste seine umgehende Flucht vom Arbeitsplatz.70 Ali Campbell arbeitete sieben Wochen in der Nachtschicht von »Cadbury’s«, einer Schokoladenfabrik in Birmingham, vor allem mit polnischen Migranten zusammen, die, so Campbell, »had been working nights at the factory ever since the end of the war.«71 Nur durch Aufputschmittel würden viele von ihnen die Arbeitsschichten, die Campbell als »something out of Metropolis or an Orwellian nightmare« erinnert, überhaupt durchhalten.72 Dass sie sich politisch im linken, sozialistischen Spektrum verorteten, war für britische Punk-Bands in mancher Hinsicht selbstverständlich. Die britische Band Chelsea hatte ihre erste Single »Right to Work« von 1977 nach der gleichnamigen Protest-Kampagne der International Socialists bzw. der Socialist Workers Party gegen Arbeitslosigkeit benannt. Mit Zeilen, wie »standing around just waiting for a career« vermittelten sie darin die ernüchternden Erfahrungen arbeitsloser Jugendlicher. The Clash spielte 1981 bei einer gewerkschaftlichen »Right to Work«-Kundgebung in Liverpool.73 Für andere Bands war die Affinität zu Arbeitslosigkeit bzw. dem politischen Protest dagegen eher zufällig. Die Sex Pistols trafen im Spätsommer 1977 im nordenglischen Wigan unbeabsichtigt auf einen Demonstrationszug von Arbeitslosen der »Right to Work«-Kampagne, der von London nach Blackpool zur Konferenz des TUC führte.74 Im Rahmen einer zeitlich parallel angesetzten ›geheimen‹ Tournee der Sex Pistols, bei der die Band aus Sicherheitsgründen unter dem Decknamen Spots (Sex Pistols on Tour Secretly) reiste, war ein Auftritt der Band im Club »The Casino« von Wigan angekündigt, der aber nicht zustande kam. Stattdessen spielten Punkbands aus Manchester (Drones, Nosebleeds), und es kam zu Straßenkämpfen zwischen Pistols-Anhängern und Northern Soul-Fans, die ihr angestammtes Amüsier-Revier bedroht sahen. In der Berichterstattung wurden die Krawalle dem Zusammentreffen von Punk als »Dole Queue Rock« und Arbeitslosen zugeschrieben und die Sex Pistols zu Unterstützern des »Right to Work«-Marsches. An der Positionierung von Punkbands innerhalb des im Wesentlichen durch die Perspektivlosigkeit Jugend­ licher geprägten gesellschaftlichen Spannungsfelds Nordenglands in den späten 1970er-Jahren ändert das freilich nichts. Punkbands blieben Sprachrohr und Medium der teilweise kanalisierten, teilweise spontanen Wut und Aggression der Jugendlichen.75 Ähnlich ambivalent erscheint die mediale Vereinnahmung des Punkmotivs für die Arbeitslosenproteste des TUC in den frühen 1980er-Jahren. In Werbebroschüren, die den vom TUC organisierten Arbeitslosenprotest des »People’s 70 71 72 73 74

Campbell / Campbell, Blood and Fire, S. 49. Ebd., S. 60 f. Ebd., S. 61. Vgl. Ensminger, The Politics of Punk, S. 7. Hierzu: Paul Cobley, Leave the Capitol, in: Roger Sabin (Hrsg.), Punk Rock: So What? The Cultural Legacy of Punk, London, New York 1999, S. 170–185, hier: S. 177–179. 75 Ebd., S. 179.

Pop und Politik

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March for Jobs« vom Mai 1981 dokumentierten, sind Punks beliebte Bild­ motive.76 Im vergleichsweise gesitteten Setting des Veranstalters, der sich als politisch zuverlässiger Sozialpartner zu präsentierten hatte, werden die jugendlichen Punks in harmlosen, aber engagierten Posen abgelichtet: beim Fußbad am Abend nach langem Marsch, als tatkräftige Bannerträger oder euphorische Unterstützer. Bei anderen Veranstaltungen des TUC , wie dem »Jobs Express« gegen Jugendarbeitslosigkeit von 1981 oder der Wiederholung des »People’s March for Jobs« 1983 waren »Rock for Jobs«-Konzerte bei freiem Eintritt Teil des Begleitprogramms.77 Die Absicht des TUC liegt auf der Hand: sich als tolerante und diverse Organisation zu präsentieren, die auch die Rechte der jugendlichen Punks vertritt. Die Erwartung an die Jugendlichen, sich in den zivilen, »positive anger« des organisierten Protests einzureihen, lief indessen implizit mit.78 Die »Rock for Jobs«-Konzerte sind sicherlich an die Veranstaltungsinitiativen von »Rock against Racism« angelehnt, die seit 1978 rassismuskritische Rockkonzerte angesichts der politischen Aktivitäten des rechtsextremen British National Front veranstaltete.79 Auch die ehemaligen Arbeitslosen von UB 40 positionierten sich mit ihrem Debütalbum und Titeln, wie »King« über Martin Luther King oder »Tyler«, über den schwarzen Jugendlichen Gary Tyler, der in den USA in der Todeszelle einsaß, in der »Rock against Racism«-Szene. Im Sinn ihrer multiethnischen Bandzusammensetzung übten sie offensive Selbstkritik an ihrem eigenen Status als britisches weißes Bürger-Subjekt: »I am a British subject not proud of it, while I carry the burden of shame,« lautet der Refrain des Titels »Burden of Shame«, der von Großbritanniens imperialer Gewalt im larmoyanten Tonfall des Reggae erzählt und damit generell in der sozialkritischen Tradition des Reggae als Sound eines internationalen Widerstands Subalterner steht.80 Die Verbindung zwischen Arbeitslosigkeit und postkolonialer, subversiver Subjektartikulation klingt, im Wortsinn, auch bei anderen Reggae-Bands an und verknüpft in popkultureller Lesart postkoloniale Kritik und Kritik an sozialen Hierarchien. Laut Hebdige waren es spezifische Fremdheitserfahrungen schwarzer Jugendlicher karibischer Herkunft, die den Reggae Anfang der 1970er-Jahre für sozialkritische Aussagen öffnete.81 Überdurchschnittlich von 76 Vgl. News Line Magazine. Day-by-Day Reports and Colour Pictures of the Peoples [sic] March for Jobs. May 1 to May 30, 1981, London [1981], S. 12, Abb. S. 7, 25, 49, 61. 77 Vgl. London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Pamphlet Boxes, Flugblatt: Festival for Jobs. 1983; Jobs for Youth Campaign, 1981, S. 7. 78 Vgl. in dieser Hinsicht auch: Ensminger, The Politics of Punk, S. 8. 79 Simon Frith / John Street, Rock against Racism and Red Wedge. From Music to Politics, from Politics to Music, in: Reebee Garofalo (Hrsg.), Rockin’ the Boat. Mass Music and Mass Movements, Cambridge 1992, S. 67–79. 80 Vgl. allgemein zum Reggae: Titus Engelschall, The Upsetter & The Beat. Reggae als Sound eines transnationalen Widerstands, in: jour fixe initiative berlin (Hrsg.), Klassen und Kämpfe, Münster 2006, S. 199–223. 81 Hierzu und folgend: Hebdige, Subculture, S. 35–45.

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Heterotopien, Gegen-Verhalten, Protest – der Arbeitslosigkeit entwischt?

Arbeitslosigkeit betroffen, vermehrt als »suspected person« polizeilich arrestiert sowie von schlechten Wohnbedingungen betroffen, boten Reggae und der Rastafari-Kult (Dreadlocks, Khakiuniform, Cannabis-Konsum) vorübergehend Orte und Zeichen ethnischer und spiritueller Zugehörigkeit. Unter Anrufung widerständiger Archetypen, wie dem »rude boy«, dem Guerilla-Kämpfer oder dem Gauner, konnte Dissidenz, Revolte oder nur vorübergehendes Entfliehen aus der derzeitigen sozialen Lage zumindest imaginiert werden. Die Twinkle Brothers, 1962 auf Jamaika gegründet, veröffentlichten 1983 das Album »Burden Bearer« darauf der Titel »Unemployment«. In der steten Wiederholung von Textzeilen wie »Time hard Sir, a so it rough, Sir, devaluation of the dollar, prices get higher, Time hard Sir, but it getting harder, Tell you time rough Sir, Talking about Unemployment, Sir« werden ökonomische Restriktionen von Arbeitslosigkeit in die Sprache kolonialer Subordination gekleidet. Einen politischen Lösungsweg bietet der Text nicht an, eher Angebote des geschmeidigen Einfügens in das Unabänderliche und semantischer, tonaler Variation. Frith führt aus, dass Spielräume des Reggae in seiner hierarchiefreien musikalischen Struktur als solches liege, die polyphon sei, aber ohne Leitstimme auskomme, und in polyrhythmischen Variablen um einen gleichmäßiges Grundmuster kreisen.82 Die musikalische Praxis selbst ist hier der Ort von Selbstermächtigung in Lagen von Fremdbestimmung allgemeiner Art oder konkret erfahrener Situationen von Arbeitslosigkeit. Bis Ende der 1970er-Jahre hatten der Aufstieg des British National Front und politisierende Opposition gegen die Thatcher-Administration zu einer Neusortierung der jugendlichen Subkultur- und Musikszenen in Großbritannien geführt. Vor allem der zunehmende Einfluss rechtsextremer Gruppen veränderte das politische Aussagespektrum punkinspirierter Musikkulturen. So fusionierten Ende der 1970er- bzw. Anfang der 1980er-Jahre Skinhead- und Punkszene teilweise im so genannten Oi!. Musikalisch eine Mixtur aus Punk und Ska, trat Oi! an, den rauen Authentizitätsanspruch des Punk, der in der Kommerzialisierung der ersten Punk-Generation verloren gegangen sei, zu erneuern.83 Britische Bands der Oi!-Bewegung dieser Jahre pflegten eine proletarische Attitüde und zelebrierten in ihren Texten den Alltag der vom Verschwinden bedrohten Arbeiterklasse. Der Punkdichter Garry Johnson beschrieb den lebensnahen Anspruch der Oi!-Inszenierungen: »Oi! handelt vom wahren Leben (…), vom arbeitslos sein und über das Zurückschlagen und den Stolz auf deine Klasse und deinen Hintergrund. Oi! (…) ist unsere Show, unsere Welt, es ist eine Art zu leben.«84 82 Frith, Sound Effects, S. 163. 83 Philipp Meinert / Martin Seeliger, Punk in Deutschland. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, in: dies. (Hrsg.), Punk in Deutschland. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 9–55, hier: S. 24; Matthew Worley, Oi! Oi! Oi! Class, Locality, and British Punk, in: Twentieth Century British History 24 (2013), S. 606–636. 84 Zitiert nach: Christian Menhorn, Skinheads. Portrait einer Subkultur, Baden-Baden 2001, S. 45.

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Ein Beispiel des frühen, sozialkritischen Oi! ist die 1977 gegründete Oi!- und Punkband »Angelic Upstarts«, deren Mitglieder dem Werftarbeitermilieu von Tyneside entstammten.85 Ihr Titel »Solidarity« von 1981 spielte auf symbolischen Schulterschluss mit der polnischen Solidarność-Bewegung an. Im selben Jahr veröffentlichten sie mit »2 Million Voices« einen Kommentar zur Massenarbeitslosigkeit, der ohne Benennung der Sache »unemployment« auskam, stattdessen zwischen Ohnmachtsaffekten arbeitsloser Massen (»shout for an answer trying to survive«) und Beharren auf gestaltbarer, arbeitsbestimmter Zukunft (»we wanna work for a future«) schwankte. Problematisierung von Erwerbsarbeit und Reminiszenzen an eine vermeint­ liche oder tatsächliche Kultur der weißen Arbeiterklasse waren gleichfalls Thema der politisch gegenläufig aufgestellten Musikszenen. Die englische SkinheadSzene zu Beginn der 1970er-Jahre noch politisch heterogen, entwickelte, wie ihr bundesdeutsches Pendant, das sich seit den späten 1970er-Jahren etabliert hatte, vor allem seit den frühen 1980er-Jahren einen politisch rechtslastigen Flügel. In beiden Ländern stand die Szene seit Mitte der 1980er-Jahre massiv unter dem Einfluss rechtsextremer Parteien und Gruppierungen (British National Front, NPD). Ähnlich den Punk- und Oi!-Vertretern artikulierten sie die Ausweglosigkeit ihrer Generation und die Umbrüche ihrer Subjektivierungsanforderungen. Ihr Pathos und auch ihre Lösungsangebote zeigten freilich in gänzlich andere Richtung. Die Skin-Band »Kraft durch Froide« (KdF), ursprünglich als Punkband 1981 gegründet, vertrat einen eindeutigen politisch-rechten Avantgardeanspruch, wenn sie 1985 im Song »Erwachet« verkündete: »Armee der verlorenen Kinder, Heerscharen der Zukunftslosen, Millionen ohne Perspektiven, Ihr seid noch nicht verloren, nehmt das Leben in die eigene Hand und laßt Euch nicht mehr verarschen (…) wir zeigen Euch den Weg, ein Leben ohne Bonzenhiebe (…) KdF führt in ein neues Land.«86 Im Allgemeinen prägten denn auch weniger Bezüge zur aktuellen, desolaten Arbeitslosigkeit als Rückbezüge zur stilisierten Ästhetik einer glorreichen weißen Arbeiterklasse Aussagen und Auftreten der Skins. Mit Hilfe der gepflegten Ästhetik des Proletarischen – ein an die Arbeitshäuser des 19. Jahrhunderts gemahnender glattrasierter Schädel, Bomberjacke, Springerstiefel – verorteten sie sich in der imaginären Gemeinschaft einer weiß definierten Arbeiterklasse, versuchten, so der britische Soziologe John Clarke, »die magische Rückgewinnung der Gemeinschaft«, unter Umständen in Abgrenzung zur Angestelltenkultur der Elterngeneration.87 In Großbritannien fanden sich denn die meisten Anhänger auch unter den jüngeren (16- bis 18-jährigen) ungelernten Arbeitern ohne Schulabschluss, deren 85 Menhorn, Skinheads, S. 60. 86 Zitiert nach: Menhorn, Skinheads, S. 193. 87 John Clarke, The Skinheads and the Magical Recovery of Community, in: Stuart Hall / Tony Jefferson (Hrsg.), Resistance through Rituals. Youth Subcultures in Post-War Britain, London 1976, S. 99–102; daran anschließend: Klaus Farian / Eberhard Seidel-­ Pielen, Skinheads, München 1993, S. 26; zum Aussehen der Punks: ebd., S. 23–26.

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Erwerbskarriere nur prekäre Perspektiven bot.88 »Arbeiterklasse, sauber, fair & ordentlich, gegen Kriminelle, Asoziale & Militaristen jeglicher Art, Ich selbst zu sein und für meine Meinung und Ziele ohne zu ducken einzustehen«, antwortete ein 27-jähriger in den 1980er-Jahren auf die Frage, was es für ihn bedeutete, Skin zu sein und deutet ein eigentümliches Spannungsverhältnis von Selbstbehauptung und Kollektivitätsorientierung an.89 Unverrückbarer Baustein ihres kämpferischen Arbeiterklassen-Ehrenkodex war für Skins die Hochschätzung körperlicher Arbeit, die finanzielle Unabhängigkeit sicherte.90 Arbeitslosigkeit hing aus Skin-Perspektive der Ruch des Schmarotzertums an.

1.2 Musikalische Resignation: Popmusik und Arbeitslosigkeit in den 1980er-Jahren Auf der anderen Seite der politisch linken Popmusik wurde die Kritik an industrieller und serieller Erwerbsarbeit zu Beginn der 1980er-Jahre von einer zunehmenden Normalisierung des Arbeitslosenthemas abgelöst. Arbeitslosigkeit wurde zu einem geläufigen Bestandteil resignativer Gesellschaftsbeschreibung per Popmusik. Beispiel hierfür ist die Generalabrechnung frustrierter Arbeitsloser »Living with Unemployment« der seit 1979 bestehenden »Newtown Neurotics«, produziert 1983.91 Das Leben mit Arbeitslosigkeit, das sie zeichnen, ist nach Aufwachsen in der Vorstadt und Problemen mit den Eltern, geprägt von der Anonymität der Großstadt, Wohnungsnot, Ohnmacht und Perspektivlosigkeit angesichts der eingeschränkten Berufschancen, Einsamkeit, Diskriminierungserfahrungen, Tagesabläufen zwischen Langeweile und Fernsehunterhaltung, kurz: allgemeiner Hoffnungslosigkeit, der mit dem trotzigen Abschlusszeile »we are the scroungers« nur ein hilfloses Verweigern entgegengesetzt wird. Für Chaos Z, 1980 gegründete westdeutsche Punkband, war Arbeitslosigkeit bereits Baustein eines tristen Gesellschaftspanoramas, das sie im Titel »1981« in einem stupiden Reigen eingängiger, aber zynischer Abzählreime gewissermaßen negativ bewarben: »Arbeitslos, arbeitslos, das geht heut ganz rigoros«, »Pharmazie, Pharmazie, es muss gehen irgendwie, Autobahn, Autobahn, ich krieg gleich den Straßenwahn« oder »Kontrolle, Kontrolle, fall bloß nicht aus der Rolle.« Vom punktypischen monotonen Rhythmus unterlegt, endete der Weg durch den Alltagstrott für die Punker fatalistisch im gesellschaftlichen Abseits: »Wenn Du nicht mehr kannst, kommst Du zum Schrott.«92 Die Sindelfinger Punkband Wizo griff 1991 die Glücksbotschaft von Bobby McFerrins Kassenerfolg »Don’t worry be happy« von 1988 auf und münzte sie um zum fatalistisch-ironischen »We are 88 89 90 91 92

Harten, Jugendarbeitslosigkeit in der EG , S. 301 f. Zitiert nach: Klaus Farian / Eberhard Seidel-Pielen, Skinheads, München 1993, S. 10. Menhorn, Skinheads, S. 276. Ensminger, The Politics of Punk, S. 7. Chaos Z, 1981, https://www.youtube.com/watch?v=vMSQJthkonw, 30.01.2023.

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unemployed, happy, happy unemployed.« Der textlich und rhythmisch monotone Sprechgesang fiel in eine Konjunkturphase deutscher Arbeitslosen-Punkmusik in der post-1990 Bundesrepublik, in der die Thematik u. a. von der massiv von Arbeitslosigkeit betroffenen ostdeutschen Punkszene verbreitet wurde. Die Band »Abfluss« machte sich 1997 über »Abi Punx« lustig, die »große Punker sein« wollten, und doch nur »Gymi-Schwein« und »zum Schluss (…) genauso so arbeitslos wie wir« blieben. Die zur Neuen Deutschen Welle gezählte Punk- und Rockband »Wohlstandskinder« wiederum besangen die Vorzüge, von öffentlicher Unterstützung zu leben (»es lebt sich so schön vom Arbeitslosengeld«) in ihrer Schnorrerhymne »Arbeitslosengeld« von 1997. Die Punk-Novelle von Gideon Sams endet damit, dass sich der arbeitslose Punker Adolph in seiner neuen vorübergehenden Wohnung durch die Plattensammlung seines Vormieters wühlt, der wegen einer Schlägerei mit National Front-Anhängern inhaftiert ist. Adolph wählt eine Reggae-Platte von Bob ­Marley aus. Während die »Musik aus den Lautsprechern dröhnte, machte er sich ’ne Tasse Tee.«93 Die Spielräume, die sich in der Musikpraxis des Punkers Adolph eröffnen, sind minimal und nur in Andeutungen der Kontexte (National Front, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit) politisch. Die Musik hätte, so UB 40 bei ihrer Gründung, die Handlungsmöglichkeiten in der Arbeitslosigkeit ein wenig erweitert (»open our options up a little«).94 Die musikalischen und stilistischen Inszenierungen von Arbeitslosigkeitserfahrungen im Punk oder anderer Popkultur können als solche Eröffnungen subjektiven Handlungsspielraums gelesen werden.95 Handlungsspielräume, die, so geringfügig sie gewesen sein mögen, unter Umständen in starkem Kontrast standen zu den Fremdbestimmungen und Zwangslagen von Erwerbs- bzw. Erwerbslosenbiographien. Besagter Punk Sugar aus dem Ruhrgebiet bringt seine Vorstellungen vom Leben auf den Punkt: »Ich möchte eigentlich mit ein bisschen Pep im Arsch durch die Gegend laufen ‒ bzw. durch das Leben wandern, ich bin ja auch noch jung.«96 An diesem Momentum subjektiven Eigensinns veränderten gesellschaftliche Hegemonialisierungsprozesse wenig, die Popkultur zu einem im Mainstream vermarkteten Konsumgut, im Sinn einer kommerziell verfügbaren Ware machten, die überdies den subversiven Gestus der Abweichung zur allgemeinen Norm, zum »Mainstream der Minderheiten« machten.97 Das ökonomische Potential von Popmusik als »cultural industry« wurde gerade in Großbritannien 93 Sams, Der Punk, S. 225. 94 Campbell / Campbell, Blood and Fire, S. 45. 95 Hierzu auch: Rosetta Brooks, Rip it Up, Cut it Off, Rent it Asunder, in: Mark Sladden /  Arielle Yedgar (Hrsg.), Panic Attack! Art in the Punk Years, London 2007, S. 44–49, hier: S. 48; Frith, Sound Effects, S. 158–163. 96 Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend, Interview Nr.  B 1308, S.  20. 97 Tom Holert / Mark Terkessides (Hrsg.), Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kon­ trollgesellschaft, Berlin 1998; ders., Mainstream der Minderheiten, in: Kemper / Langhoff /  Sonnenschein (Hrsg.), »but I like it«, S. 314–332; zur »Norm der Abweichung«: Marion von Osten (Hrsg.), Norm der Abweichung, Zürich 2003.

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früh erkannt und z. B. seit Ende der 1970er-Jahre arbeitslose Musiker von kommunalen Institutionen Londons durch verbilligten Zugang zu Produktionsmöglichkeiten gefördert.98 Dennoch würde eine kulturpessimistische Deutung des musikalisch artikulierten »Arbeitslosenbewusstseins« als bloße Wegmarke unumgänglicher Kommerzialisierung ihr dissidentes Potential vernachlässigen. Ohne andererseits die Mythologisierung von Pop als politisches Emanzipationsprojekt fortzuschreiben, wissen die Arbeitslosen in den skizzierten Situationen arbeitsloser Subjektivität Freiräume zu produzieren und zu nutzen, die Tom ­Holert und Mark Terkessides im Anschluss an Denkfiguren von Gilles Deleuze als »Fransen« oder »Wucherungen« bezeichnen.99 Ob am Rand oder inmitten von Popkultur, ob Punk, Reggae oder auch Skinmusik, ob kommerziell erfolgreich oder nicht, eröffneten sich Subjektivierungsmodi von Arbeitslosigkeit, die ihre historische Entwicklung vielschichtig lesbar machen: von der provokativen Gestus des Punk hin zum resignativen Einfinden in gesellschaftliche Normalität.

2. Auf der Straße: Lähmung statt Auflehnung Im Protest auf der Straße lag und liegt für viele zeitgenössische wie historische Beobachter das politische Potential sozialer Interessengruppen und sozialer Bewegungen. Inwiefern sich Unmut öffentlich bemerkbar macht und lautstark artikuliert, offenbart den gesellschaftlichen Durchsetzungswillen der Protestierenden. Seitens historischer Forschungen zu Straßenprotesten sind Arbeitslosen­ proteste oder Proteste aufgrund drohender Arbeitslosigkeit als Forschungsgegenstand randständig. Obgleich Protestgeschichte inzwischen undogmatisch als Teil von Demokratiegeschichte historiographisch veralltäglicht ist, ist zumindest die deutsche Forschung zumeist auf spektakuläre Protest-Performances von Friedens- oder Anti-AKW-Bewegungen, wie Menschenketten, Straßentheater oder Besetzungen, fokussiert.100 Auffallend sind die unterschiedlichen Interpretationsfolien von Protesten und Streiks gegen Betriebsschließungen in der allgemeinen Geschichtsschreibung Großbritanniens und der Bundesrepublik. In Großbritannien sind Stra98 Peter Wicke, Popmusik und Politik. Provokationen zum Thema. Hauptreferat zur Konferenz Popmusik und Politik, Oybin November 1992, S. 6, http://www.popmusicology. org/PDF/Politik.pdf, 30.01.2023. 99 Holert / Terkessides, Einführung in den Mainstream der Minderheiten, in: dies. (Hrsg.), Mainstream der Minderheiten, S. 5–19, hier: S. 10; dies., Mainstream der Minderheiten, in: Kemper / Langhoff / Sonnenschein (Hrsg.), »but I like it«, S. 320. 100 Vgl. Thomas Balistier, Straßenprotest. Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1979 und 1989, Münster 1996; als Beispiel eines allgemeinhistorischen Überblicks: Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 620–650; eine Ausnahme hingegen: Rein, Proteste von Arbeitslosen.

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ßenkämpfe und Streikaktionen in diesen Jahren Teil der Erzählung von sozialer Unruhe und aufgrund ihrer militanten Frontstellung gegen Margaret Thatchers Privatisierungspolitiken sind sie historiographisch einigermaßen anerkannt. In der Bundesrepublik ist hingegen das Demokratisierungspotential, das in den neuen sozialen Bewegungen in den 1970er- und 1980er-Jahren gesehen wird, Maßstab für die Bewertung von Arbeitslosenprotest, die sich als Gegenstand von Protestforschung allenfalls indirekt über die Frage nach den Konflikten zwischen Neuen Sozialen Bewegungen und »alter Arbeiterbewegung« einschleichen.101 Erst allmählich und bisher nur für die Schwer- und Metallindustrie werden Arbeitskonflikte und Proteste gegen Betriebsschließungen Gegenstand allgemeiner bundesdeutscher Gesellschaftsgeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre.102 Die britische und deutsche Perspektive treffen sich nur teilweise in Forschungen zur globalen oder europäischen Dimensionen sozialer Bewegungen seit den 1970er-Jahren.103 Umfangreicher ist in diesem Rahmen die spezielle historische und sozialwissenschaftliche Forschungslage zu Arbeitslosenprotesten im europäischen Vergleich sowie in der längeren Betrachtungsdauer über das 20. Jahrhundert hinweg, die, einschlägige Aufsätze vergleichend zusammenführend, aber nur ansatzweise Ausgleich für fehlende Einbindung in die allgemeine Forschung bietet.104 Vor allem die Arbeitslosenproteste und sozialen Unruhen der Zwischenkriegszeit, die allerdings relativ gut erforscht sind, und die Frage, ob und wie Arbeitslose für den Nationalsozialismus mobilisiert werden konnten, motivierte Forschung zum Protestpotential von Arbeitslosen. Dem Menetekel der politischen Radikalisierung zum Trotz stehen Arbeitslose der 1970er- und 1980er-Jahre allerdings auch in der internationalen sozialen Bewegungsforschung unter dem Generalverdacht, politisch unsichtbar zu bleiben. Dies gilt umso mehr für den Straßenprotest in Form von Demonstration oder Kundgebungen, die zum einen kollektiver Organisation bedürfen und zum anderen mit positiver, legitimierender Resonanz und Sympathie in der Öffentlichkeit rechnen sollten.105 Beides wird den Arbeitslosen abgesprochen. Ihre 101 Vgl. Philipp Gassert, Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945, Stuttgart 2018, S. 166–186. 102 Für die Montanindustrie: Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 177−186; Arne Hordt, Kumpel, Kohle und Krawall. Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in Montanregionen, Göttingen 2018; aus gewerkschaftlicher Sicht: Elke Hannack / Bernhard Jirku / Holger Menze (Hrsg.), Erwerbslose in Aktion. Aktionsformen – Rahmenbedingungen – kulturelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart, Hamburg 2009, S. 79–112. 103 Vgl. Stefan Berger / Holger Nehring (Hrsg.), The History of Social Movements in Global Perspective. A Survey, London 2017. 104 Vgl. hierzu: Matt Perry / Matthias Reiss (Hrsg.), Unemployment and Protest. New Perspectives on Two Centuries of Contention, Oxford 2011; Didier Chabanet / Jean Faniel (Hrsg.), The Mobilization of the Unemployed in Europe. From Acquiescence to Protest?, New York 2012. 105 Vgl. den Forschungsstand zum Arbeitslosenprotest der 1980er-Jahre im europäischen Überblick: Matt Perry / Matthias Reiss, Beyond Marienthal. Understanding Movements of the Unemployed, in: dies. (Hrsg.), Unemployment and Protest, S. 3–37, hier: S. 30–37.

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Heterotopien, Gegen-Verhalten, Protest – der Arbeitslosigkeit entwischt?

Stigmatisierung als potentiell Arbeitsscheue und ihr Ausschluss von kollektiven Interessensorganisationen erschwerten ihre Formierung im öffentlich vernehmbaren Straßenprotest und dies wiederum marginalisierte sie politisch.106 Arbeitsloser Protest, der sich selbstbewusst auf der Straße Gehör verschafft, scheint unmöglich  – eine Subjektivierung lediglich in Negation von Handeln vorhanden und damit historisch kaum nachweisbar.

2.1 Befriedet in der Konfliktpartnerschaft: Arbeitskämpfe in der Bundesrepublik Betrachtet man Straßenprotest als organisierte und medial präsente Demonstration, so war mit dem Arbeitslosenprotest in der Bundesrepublik bis in die 1990erJahre in der Tat nicht viel los. Trotz zeitgenössischer Großdemonstrationen, an den Friedensdemonstrationen in Bonn und anderen westdeutschen Städten Anfang der 1980er-Jahre waren bis zu einer Million Menschen beteiligt, ging von den Arbeitslosen kein sichtbarer Protest im Sinn öffentlich und medial präsenter Demonstrationen aus.107 Ihr ausbleibender Protest war bereits zeitgenössischen Soziologen Anlass, politisch durchaus enttäuscht, nach den Gründen der arbeitslosen Passivität zu fragen.108 Die KPD (AO) versuchte Anfang der 1970er-Jahre an die umfangreiche Arbeitslosenarbeit der KPD Ende der 1920er-Jahre anzuknüpfen, verblieb aber in der Reichweite ihrer Aktionen im eigenen Milieu.109 Abgesehen von einer Handvoll Demonstrationen im Januar und April 1975 in Bielefeld, Dortmund und Darmstadt mit jeweils 800 bis 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, von den Berichterstattern im Parteiorgan »Rote Fahne« unter der Überschrift »Deutsche und ausländische Arbeiter protestieren« beworben, lassen sich kaum längerfristige Solidarisierungen feststellen.110 Die erhoffte Rekrutierung proletari106 Vgl. Didier Chabanet / Jean Faniel, The Mobilization of the Unemployed. A Recurrent but Relatively Invisible Phenomenon, in: Perry / Reiss (Hrsg.), Unemployment and Protest, S. 387–405; Didier Chabanet / Jean Faniel, The Mobilization of the Unemployed in a Comparative Perspective, in: dies. (Hrsg.), The Mobilization of the Unemployed in Europe, S. 1–27. 107 Zu den Protesten in den 1980er-Jahren vgl. Balistier, Straßenprotest; Rucht / Neidhardt, Soziale Bewegungen und kollektive Aktionen, S. 537 f.; Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 172. 108 Vgl. Manfred Prisching, Arbeitslosenprotest und Resignation in der Wirtschaftskrise, Frankfurt / Main 1988, S.  13. 109 Vgl. zur Arbeitslosenarbeit der KPD z. B. Anthony McElligott, Mobilising the Unemployed. The KPD and the Unemployed Workers Movement in Hamburg-Altona during the Weimar Republic, in: Richard J. Evans / Dick Geary (Hrsg.), The German Unemployed. Experiences and Consequences of Mass Unemployment from the Weimar Republic to the Third Reich, London, Sydney 1987, S. 228–260. 110 Vgl. Rote Fahne, 05.02.1975, https://www.mao-projekt.de/BRD/ORG/AO/RF/KPD_ RF_1975_05.shtml, 30.01.2023.

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scher Kader unter den Arbeiterinnen und Arbeitern dürfte nicht geklappt haben und auch die gewünschte Rückwirkung auf die Betriebsarbeit war vermutlich kaum gegeben. Arbeitslose Selbsthilfegruppen initiierten im Anschluss an den ersten Bundeskongress von Arbeitslosen in Frankfurt 1982 einen Protestmarsch. Von einem Großteil der Arbeitsloseninitiativen abgelehnt und terminlich parallel zu einer DGB -Veranstaltung in Stuttgart geplant, traf der »Solidaritätsmarsch« im März 1983 in Bonn lediglich auf eine Resonanz von ca. 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.111 Das Medienurteil über die Veranstaltung fiel postwendend mitleidig und degradierend aus: »Die Betroffenen (…) haben offenkundig (noch) nicht die Kraft und das Selbstbewußtsein zu einer eigenständigen politischen Anklage,« so die Westfälische Rundschau.112 Erst 1998 fanden in der Bundesrepublik so etwas wie koordinierte und vernehmbare Proteste von Arbeitslosen statt.113 Bundesweite Aktionstage, jeweils am Tag der Verkündung der neuen Arbeitslosenstatistik durch den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, konnten in den ersten Monaten bis zu 50.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mobilisieren. Ursächlich hierfür waren zum einen die bessere Vernetzung der Arbeitslosen im Arbeitslosenverband Deutschland seit 1990 sowie europäische Initiativen gegen Sozialabbau, wie die Euromarsch-Bewegung aus Frankreich gegen Sozialabbau und Erwerbslosigkeit, die 1997 in Amsterdam und 1999 in Köln demonstrierten. Zum anderen war es aber wohl die horrende Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern, die im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 dazu führte, dass sich der politische Unmut unter Ostdeutschen mit weiteren Protesten artikulierte, wie den seit 2004 wiederbelebte Montagsdemonstrationen gegen Sozialabbau. Deutlich häufiger und in Maßen militanter waren in den 1970er- und 1980erJahren Arbeitskämpfe und Sozialproteste gegen drohende Betriebsschließungen. Obgleich die Bundesrepublik im internationalen Vergleich ein relativ streikarmes Land war, lassen sich in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren relativ hohe Streikaktivitäten in einzelnen Jahren nachweisen, die in der Tendenz dann bis 1990 nicht mehr auftraten.114 Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre sind eine Reihe inoffizieller Streikwellen zu verzeichnen, die auch daran erinnern, dass die offizielle bundes111 Vgl. Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekte zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 255–257; Rein / Scherer, Erwerbslosigkeit und politischer Protest, S. 248. 112 Zitiert nach: ebd., S. 257. 113 Vgl. Rein, Proteste von Arbeitslosen, S. 594, 598, 603–609; Uwe Kantelhardt, Blick über die Grenzen. Die Arbeitslosenbewegung in den USA , England, Italien und Frankreich, in: Hannack / Jirku / Menze (Hrsg.), Erwerbslose in Aktion, S. 161–228. 114 Vgl. Walther Müller-Jentsch, Streiks und Streikbewegung in der Bundesrepublik 1950–1978, in: Joachim Bergmann (Hrsg.), Beiträge zur Soziologie der Gewerkschaften, Frankfurt / Main 1979, S. 21–71; für die Jahre 1976–1990 vgl. auf gleicher Datenbasis (Statistische Jahrbücher): https://www.gewerkschaftsgeschichte.de/downloads/ tab_arbeitskaempfe_ab_1949.pdf, 30.01.2022.

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deutsche Streikstatistik, beruhend auf der Meldepflicht des Arbeitgebers und des Melderechts der Gewerkschaften, fehleranfällig ist und ein erheblicher Anteil der Arbeitskonflikte unter Umständen nicht gemeldet und registriert wurde.115 Die Septemberstreiks 1969, die Aprilaktionen 1972 und die spontanen Streiks im Sommer 1973 betrafen verschiedene Branchen, d. h. sowohl die Schwer-, wie die Textilindustrie oder den öffentlichen Dienst.116 Waren die Arbeitsproteste 1972 politisch motiviert, forderten die Streikenden im September 1969 und im Sommer 1973 höhere Löhne bzw. Lohnzulagen. Sie kündigten eine Phase »lohnpolitischer Militanz der frühen siebziger Jahre« in den großen gewerkschaftliche Tarifauseinandersetzungen in der Metallindustrie (1971, 1974), in der chemischen Industrie (1971), der Schleifmittelindustrie (1972), im Druckgewerbe (1973, 1976) sowie im öffentlichen Dienst (1974) an.117 Seit Mitte der 1970er-Jahre veränderte die Massenarbeitslosigkeit die Bedingungen von Arbeitskämpfen grundlegend. Zahlreiche Streiks waren nun spontan und richteten sich überwiegend gegen Entlassungen und Betriebsschließungen.118 Besonders betroffen waren die Stahlindustrie, wo seit Beginn der 1960er-Jahre bereits 100.000 Arbeitsplätze verloren gegangen waren, die Metallverarbeitung, Automobilindustrie, Druckgewerbe und Textilindustrie. An Arbeitskämpfen anlässlich von Betriebsschließungen waren in den Jahren 1974 bis 1977 an die 150.000 Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellte beteiligt. Bereits im Dezember 1973 hatten auf Aufruf der Gewerkschaft Textil-Bekleidung  8.000 Beschäftigte der konjunkturgeschwächten Textil- und Bekleidungsindustrie in Bonn demonstriert.119 In Bochum fanden Proteste gegen Entlassungen bei den Deutschen Edelstahlwerken statt. Im Juni 1975 gingen Betriebsräte der Firma für Kunststofftechnik Stübbe-Demag in Kalletal in einen dreitägigen Hungerstreik vor der Hauptverwaltung des Mutterkonzerns Mannesmann in Düsseldorf. Das Zementwerk Seibel in Erwitte wurde zu diesem Zeitpunkt bereits ein Jahr bestreikt. Großenteils entlassen, hatten sich Teile der 150-köpfigen Belegschaft vor dem Arbeitsgericht erfolgreich eingeklagt, aber auch neue Arbeitsplätze gesucht. Im März 1976 beraumte der DGB eine Solidaritätskundgebung mit 30.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Erwitte an.

115 Vgl. Müller-Jentsch, Streiks und Streikbewegung in der Bundesrepublik, S. 67. 116 Einschlägig: Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt / Main 2007. 117 Müller-Jentsch, Streiks und Streikbewegung in der Bundesrepublik, S. 53. 118 Vgl. Hannack  /  Jirku  /  Menze (Hrsg.), Erwerbslose in Aktion, S. 56–60; Eberhard Schmidt, Arbeitskämpfe 1974 bis 1977 (Ein Überblick), in: Otto Jacobi / Walther MüllerJentsch / Eberhard Schmidt (Hrsg.), Gewerkschaftspolitik in der Krise. Kritisches Gewerkschaftsjahrbuch 1977/78, Berlin 1978, S. 115–124, hier: S. 118 f. 119 Arbeitslose. So knüppeldick war’s noch nie, in: Der Spiegel 27 (1973), 51, https://www. spiegel.de/politik/arbeitslose-so-knueppeldick-wars-noch-nie-a-ae98ed68-0002-00010000-000041810643?context=issue, 30.01.2023.

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Bei den Vereinigten Flugtechnischen Werke Fokker in Speyer streikten im März 1976 1.300 Mitarbeiter gegen Schließungspläne. Mit Demonstrationen im April sowie die Bewachung des Betriebs im Mai, um den Abtransport von Maschinen zu verhindern, wurde erreicht, dass die Geschäftsleitung im September den Erhalt von 1.000 Arbeitsplätzen garantierte. In Speyer hatten bereits zwei Jahre zuvor über 1.000 Menschen gegen Entlassungen bei Fokker sowie die Stilllegung des Salamander Werks protestiert, nachdem in der Südwestpfalz zuvor eine Baumwollspinnerei, eine Zelluloidfabrik, eine Möbelfabrik, eine Brauerei und Schuhfabriken auf den Dörfern geschlossen worden waren. Nach ersten Demonstrationen im Januar 1976, protestierten im September 6.000 Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellte in Bruchsal gegen das Vorhaben, das örtliche Siemens-Werk aufzugeben. Im November wurde in dem Zweigwerk gegen Entlassungen und die Kündigung einer Vertrauensfrau wiederholt gestreikt. An Standorten der Stahl- und Schiffbauindustrie fanden 1977 Großdemonstrationen statt. Im Januar 1977 zogen 15.000 Hamburger Arbeiter und Arbeiterinnen sowie Angestellte mit einem Fackelzug gegen die Vernichtung von Arbeitsplätzen durch die Straßen. Im Saarland demonstrierten nach Warnstreiks 10.000 gegen die Streichung von 2.000 Arbeitsplätzen auf der Völklinger Hütte. Ebenso wurde in den Neukirchner Eisenwerken, bei der Thyssen AG in Oberhausen oder der Klöckner-Hütte in Bremen kurzzeitig gestreikt. Vereinzelt sind auch Arbeitskämpfe gegen Betriebsschließungen im Einzelhandel überliefert, so 1980 im Fall des Horten-Kaufhauses in Marburg.120 Bewährten sich in den erwähnten Arbeitskonflikten der 1970er-Jahre noch die Instrumente der Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmern, Gewerkschaften und Politik und konnten entweder Arbeitsplätze oder über Frühverrentung und Umsetzung die soziale Lage der Beschäftigten gesichert werden, so wurden die Arbeitskämpfe gegen Betriebsschließungen und Massenentlassungen zu Beginn der 1980erJahren konfrontativer geführt. Zunehmend waren Stammbelegschaften und die gewerkschaftlich hochorganisierte Kerngruppe der Facharbeiter (die männliche Form ist bewusst gewählt) in der Metallindustrie von Rationalisierungsmaßnahmen betroffen.121 Die Arbeitskämpfe in der Montan- und Schwerindustrie des Ruhrgebiets sowie der nordwestdeutschen Schiffbauindustrie entwickelten sich mit zeitlichen Schwerpunkten in den Jahren 1983 und 1987 zu aufwendig inszenierten Sozialprotesten, die ihre Anliegen teilweise aus den Betrieben auf die Straße trugen und beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnten.122 Die Stahlarbeiter der Henrichshütte im nordrhein-westfälischen Hattingen demonstrierten im Jahresverlauf 1983 immer wieder gegen die Ende 1982 ange-

120 Vgl. Heike Leitschuh, Nicht nur »geduldige Lohnarbeiter«. Der Kampf um die Schließung des Horten-Kaufhauses in Marburg, Marburg 1985. 121 Vgl. Müller-Jentsch, Streiks und Streikbewegung in der Bundesrepublik, S. 53. 122 Vgl. auch Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 170–173,182–186; Gegenwehr konkret. Die 1980er-Jahre, in: Hannack / Jirku / Menze (Hrsg.), Erwerbslose in Aktion, S. 79–112.

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kündigten Massenentlassungen.123 Seit einer ersten Protestaktion vor der Hauptversammlung der Thyssen AG im April 1983 in Duisburg, brachten Demonstrationen im Laufe des Frühjahrs und Sommers mehrere tausend Menschen auf die Straßen. Am 5. September nahmen 12.000 Personen an einer Kundgebung für den Erhalt der Arbeitsplätze auf der Henrichshütte teil. Die Stahlarbeiter wurden von einem inzwischen gegründeten Bürgerkomitee »Hattingen muss leben« und einer Fraueninitiative unterstützt. Letztere überreichte am 24. November dem Aufsichtsrat der Thyssen Stahl AG eine Bittschrift für den Erhalt der Arbeitsplätze ihrer Ehemänner. Fast zeitgleich kulminierten die Arbeitskonflikte auf den norddeutschen Werften. In den Bremer Werften Vulkan und AG Weser sowie den Hamburger Hobaldtswerken Deutsche Werft (HDW) besetzten Mitte September 1983 Arbeiter inoffiziell, aber untereinander koordiniert die Werftbetriebe für eine Woche bzw. zehn Tage.124 Zuvor waren Ehefrauen der Werftarbeiter von AG Weser und HDW in Hungerstreik getreten. Dieser änderte an den Werftschließungen ebenso wenig wie Protestaktionen mit Solidaritätsadressen norddeutscher Künstler (u. a. die Schauspielerin Heidi Kabel) oder der von Werft- und Stahlarbeitern gemeinsam getragene »Marsch auf Bonn« am 29. September 1983 mit 130.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Nennenswerte Mobilisierung konnte oftmals nur punktuell erreicht werden und hatte nicht immer mit Zustimmung unter allen Betroffenen zu rechnen, wie die Fraueninitiative der Jansen-Werft in Leer zeigt, deren vorwiegend männliche Belegschaft im Mai 1987 mit bevorstehender Entlassung konfrontiert war. Zwar nahmen an einer Großkundgebung von IG Metall und Betriebsrat im Mai 1987 in Leer ca. 7.000 Personen teil. Gleichwohl hatten sich die wenigen betroffenen Ehefrauen, die sich zur Unterstützung von Protestaktionen bereit erklärten, es waren ca. 60 bei einer Belegschaft von 460 Männern, die »dummen Bemerkungen« der versammelten Arbeiter anzuhören.125 Die Schließung der Werft konnte nicht verhindert werden. Die Ankündigung der Hüttenleitung im Februar 1987, Hochofen und Teile der Stahlproduktion der Henrichshütte in Hattingen aufzugeben und 2.900 Arbeitsund 400 Ausbildungsplätze zur Disposition zu stellen, ließ den dortigen Protest 123 Vgl. Otto König, »Die Stahlstädte müssen leben!«, in: Hannack / Jirku / Menze (Hrsg.), Erwerbslose in Aktion, S. 79–88; Otto König u. a., Das Ende der Stahlzeit. Die Stillegung der Henrichshütte Hattingen, Essen 1997; zu den Aktivitäten der Fraueninitiativen Hattingen vgl. Alicia Gorny, »Unsichtbare Motoren«? Die Fraueninitiative Hattingen, in: Ingrid Artus / Nadja Bennewitz / A nnette Henninger / Judith Holland / Stefan KerberClasen (Hrsg.), Arbeitskonflikte sind Geschlechterkämpfe. Sozialwissenschaftliche und historische Perspektiven, Münster 2020, S. 184–198. 124 Zur Besetzung der AG Weser vgl. Sarah Graber Majchrzak, Arbeit – Produktion – Protest. Die Leninwerft in Gdańsk und die AG »Weser« in Bremen im Vergleich (1968–1983), Köln u. a. 2020, S. 477–489. 125 Es war für uns alle ein Schock. Gespräch mit Sabine B., Fraueninitiative der JansenWerft, Leer, in: Patrick Friedrichs / A nne Galle / Josef Kaufhold u. a. (Hrsg.), … und raus bist Du… arbeitslos in Ostfriesland, Bunde 1989, S. 39–43, hier: S. 40.

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wieder aufflammen. Eine Protestkundgebung auf dem Rathausplatz Hattingen besuchten 30.000 Menschen. Belegschaft wie Betriebsrat und IG Metall, Fraueninitiative und Bürgerkomitee organisierten im Jahresverlauf 1987 Demonstrationen, Kundgebungen, Mahnwachen, im April 1987 eine Menschenkette von 5.000 Personen rund um das Hüttenwerk sowie einen fünftägigen Hungerstreik der Ehefrauen der Hüttenarbeiter im Juni 1987. Nachdem auch dieser erfolglos blieb und Ende Juni die Entscheidung für die Schließung fiel, wurde im September 1987 ein illegales »Dorf des Widerstands« auf dem Betriebsgelände, eingerichtet, das, mit Diskussionsveranstaltungen und Schulunterricht bespielt, elf Tage bestand. In der Geschichte bundesdeutscher Arbeitskämpfe waren solche Formen der Betriebsbesetzung neu.126 Bekannt waren diese Protestformen bis dato aus der Anti-AKW- oder Umweltbewegung, wie die Hüttendörfer in Gorleben oder auf dem Gelände der geplanten Startbahn West des Frankfurter Flughafens im Jahr 1980. Trotz der breiten Unterstützung der Proteste in der Region sowie der Kommunal- und Landespolitik wurde mit dem letzten Hochofenabstich in Hattingen im Dezember 1987 die dortige Stahlproduktion eingestellt. Durch konzerninterne Umsetzungen konnten 2.000 Arbeiter weiterbeschäftigt werden. In den Sozialplan wurden 700 Mitarbeiter übernommen. Das Jahr 1987 war insgesamt von Arbeitskämpfen für den Erhalt von mehreren Stahlstandorten geprägt. Die Unternehmen Krupp und Thyssen planten im Ruhrgebiet den Abbau von summarisch 14.000 Arbeitsplätzen. Die IG Metall organisierte im Jahresverlauf fünf so genannte »Stahlaktionstage« unter anderem in Hattingen, Oberhausen und Duisburg-Rheinhausen mit Kundgebungen und Demonstrationen. Beim »Stahlaktionstag« am 12. Dezember 1987, der 200.000 Teilnehmer verbuchen konnten, blockierte die Belegschaft des Bochumer Opelwerks und die Stahlarbeiter von Hoesch die Bundesstraße eins. Im November 1987 wurde bekannt, dass der Krupp-Konzern plante, die Produktion im Hüttenwerk Duisburg-Rheinhausen zum Jahresende 1988 stillzulegen, was den Verlust von 6.000 Arbeitsplätzen bedeutete. Die folgenden Arbeitsniederlegungen und Protestaktionen der Stahlarbeiter dauerten fünf Monate an. An eingeübte Protestroutinen der »Stahlaktionstage« anknüpfend, setzte die Belegschaft ihr Anliegen mit wenigen, aber wirkungsvollen Besetzungen von Betriebs- oder öffentlichen Räumen in Szene.127 Monatelange Mahnwachen vor dem Werkseingang oder Demonstrationen bei der Konzernleitung waren noch eingeübte Akte des Arbeitskampfes. Bereits Anfang Dezember wurde dann der Betrieb »still« besetzt, das heißt die Produktion von den Arbeitern teilweise selbst verwaltet. Die zentrale Rheinbrücke zwischen Rheinhausen und Duisburg wurde am 2. Dezember durch Besetzung blockiert und am 20. Januar 1988 in Anwesenheit von 6.000 Arbeitern in »Brücke der Solidarität« umgetauft. Ende Januar 1988 demonstrierten 15.000 Arbeiter mit einer Menschenkette um das Werksgelände. Am 20. Februar konnte das Musikfestival »AufRuhr« in der 126 Vgl. Balistier, Straßenprotest, S. 88. 127 Vgl. Hordt, Kumpel, Kohle und Krawall, S. 193–209.

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Walzwerkshalle auf prominente Unterstützung (es spielten u. a. Rio Reiser, Katja Epstein, Herbert Grönemeyer, Die Toten Hosen) und 40.000 Besucherinnen und Besucher zählen. Am 23. Februar bildeten 80.000 Menschen eine Kette von Rheinhausen nach Dortmund. Kirchenglocken läuteten, und Solidaritäts-Gottesdienste zeigten einmal mehr den Rückhalt der Arbeitsproteste in der Region. Die Proteste erreichten mittelfristig nicht, dass das Stahlwerk erhalten blieb. Gemäß der unter Vermittlung des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau (SPD) zustande gekommenen »Düsseldorfer Erklärung« zur Zukunft des Stahlwerkes wurde dieses teilweise geschlossen, teilweise verlagert und zu einem anderen Teil weiterbetrieben. Die Konzernleitung verpflichtete sich dazu, 1.500 neue Arbeitsplätze am Standort zu schaffen. Nach dem Abbau von gut 10.000 Arbeitsplätzen bis 1987 arbeiteten bei Werksschließung im August 1993 nur noch rund 2.200 Personen am Stahlstandort Rheinhausen. Im Oktober 1987 war bereits auf Bundesebene das letzte von fünf »Stahlgesprächen« zwischen Bundesregierung, Stahlindustrie und Gewerkschaften mit dem Ergebnis beendet worden, 35.000 der insgesamt knapp 190.000 Arbeitsplätze in der Stahlindustrie bis 1989 abzubauen. Mit Unterstützung der öffentlichen Hand sollten die sozialen Folgen für die Betroffenen abgemildert und betriebsbedingte Kündigungen bis Ende 1989 vermieden werden. Stattdessen war vorgesehen, durch Frühverrentungen, konzerninterne Versetzungen, Abfindungszahlungen bei »freiwilligem« Ausscheiden sowie neue Arbeitsplätze die personelle Verschlankung abzufedern. Das Ausmaß der Proteste, die von den noch nicht arbeitslosen Subjekten in der Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahre auf der Straße ausging, war nicht unbeträchtlich. Mit dem Rückhalt der betrieblichen Organisation und der regionalen Vernetzung machten sich insbesondere Industriearbeiter der Schwerund Schiffbauindustrie in den frühen 1980er-Jahren sozial bemerkbar. In ihren Protestformen blieben sie zivilisiert. Gewaltausbrüche blieben aus, nicht zuletzt aufgrund deeskalierender Polizeitaktiken, die in der Zuständigkeit der SPD -regierten Länder lagen.128 Die protestierenden Stahlarbeiter in Rheinhausen, so formuliert es Arne Hordt überzeugend, hätten sich selbst als »ordnungsliebende, gewaltfreie Staatsbürger« betrachtet.129 Auch in Distanz zu gewaltaffinen Akteuren der autonomen Hausbesetzerszene oder terroristischer Anschläge, blieben die Arbeitskämpfe in Rheinhausen und anderswo weitestgehend im Rahmen des Legalen. Der Tonfall in den Arbeitskonflikten verschärfte sich, die korporatistischen Routinen industrieller Beziehungen wurden aber grundsätzlich nicht aufgegeben. Verhandelt zwischen Staat, Gewerkschaften und Arbeitgebern waren subventionierte Sozialpläne das Instrument, die Straßenproteste regulativ zu befrieden. Mit Umsetzungen innerhalb der Konzerne auf andere Arbeitsplätze, »freiwilligen« Arbeitsplatzwechsel oder frühzeitigen Ruhestand, wurde Arbeitslosigkeit teilweise verhindert oder sozial abgefedert. In den Betrieben wirkten 128 Für Rheinhausen: Hordt, Kumpel, Kohle und Krawall, S. 142. 129 Ebd., S. 203.

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Entlassungswellen und weiter latent zu befürchtende Arbeitslosigkeit weiter disziplinierend auf Interessensorganisation und -vertretung.130 Bezeichnend ist, dass der Industriesoziologe Walther Müller-Jentsch den Begriff der »Konfliktpartnerschaft« prägte, um Arbeitsbeziehungen in der bundesdeutschen Industrie Anfang der 1990er-Jahre adäquat zu beschreiben.131 Oft als kontroversere Variante der Sozialpartnerschaft gelesen, aber letztlich dazu dienend, den Begriff des Klassenkampfes obsolet zu machen, wurden die industriellen Beziehungen wissenschaftlich zu einem Zeitpunkt »entdramatisiert«, als es für einen Großteil der Beschäftigten um die Sicherung der Existenz ging. Arbeitslose kamen in den sozialpartnerschaftlich regulierten Konflikten nur als abzuwendende Zukunftsprojektion, als zu vermeidende ungünstige Sozialprognose vor, die gleichwohl Potential besaß, fiktiv ganze Regionen zu destabilisieren. Als Arbeitslose waren die Entlassenen nicht mehr zu vernehmen. Arbeitsloser Straßenprotest blieb in der Bundesrepublik bis in die 1990er-Jahre die Ausnahme, und erst der Zusammenbruch der ostdeutschen Betriebe und die Verquickung mit dem politischen Sozialprotest 1998 änderte dies. Zu vermuten ist, dass die strukturpolitische Versorgungspolitik den Sozialprotesten von Arbeitslosen in gewisser Weise den Wind aus den Segeln nahm. Wer angesichts des politisch artikulierten Vorhabens, die als unvermeidbar dargestellten Entlassungen in der Schwerindustrie, möglichst sozial und in allgemeinem Konsens ablaufen zu lassen, arbeitslos blieb und seine Unzufriedenheit artikulierte, hatte offensichtlich die entscheidenden Passagen in den Empfehlungen des gewerkschaftlichen Sozialplans überlesen und war in gewisser Weise sozial nicht zu versorgen oder aber: selbst schuld.132

2.2 Straßenproteste in Großbritannien: Ohnmacht und Repression »Bang!« – so der Titel des Buchs, das der Historiker Graham Stewart über Großbritannien in den 1980er-Jahren verfasste.133 Im Englischen knapp und klar, wäre die deutsche Übersetzung »Bäng« kaum eine seriöse historiographische Terminologie. »Bang« fasst aber komprimiert zusammen, dass das Vereinigte Königreich in den frühen 1980er-Jahren politisch polarisiert war und sich soziale Spannungen in Konfrontationen auf der Straße, in Demonstrationen, in Aufruhr und Gewalt 130 Vgl. z. B. Rainer Zoll u. a., »Nicht so wie unsere Eltern!« Ein neues kulturelles Modell, Opladen 1989, S. 18–22. 131 Walther Müller-Jentsch, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Konfliktpartnerschaft. Akteure und Institutionen industrieller Beziehungen, München 1991, S. 7–10, hier: S. 8. 132 Angelehnt an Überlegungen von: Chabanet / Faniel, The Mobilization of the Unem­ ployed. A Recurrent but Relatively Invisible Phenomenon, S. 392. 133 Vgl. Graham Stewart, Bang! A History of Britain in the 1980s, London 2013.

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entluden.134 Führte das Land nach außen Krieg auf den Falklandinseln, so eskalierte im Inneren der Terror der IRA. 1981 starben zehn Mitglieder von IRA und Irish National Liberation Army während eines Hungerstreiks im nordirischen »Maze Prison« im Protest gegen ihre Haftbedingungen. Einem Bombenanschlag gegen das britische Regierungskabinett im Oktober 1984 in Brighton entging die Premierministerin nur knapp. Mediale Dramatisierungen, Aufmerksamkeitsmechanismen und visuelle Zuspitzungen in Rechnung gestellt, ist doch das Gewaltpotential und die Unruhe auf den Straßen in Großbritannien in den 1970er- und 1980er-Jahren beachtlich. Strukturell betrachtet, war Arbeitslosigkeit der auslösende Faktor von ökonomischen und sozialen Deprivationsprozessen in den Montanregionen sowie den innerstädtischen Wohnvierteln der Großstädte Großbritanniens. Ganz unterschiedlich spielte sich in diesen Zusammenhängen die Subjektivierung von Arbeitslosigkeit und Arbeitslosen in ihren Protesthaltungen und Protestpraktiken ab. Die subjektive Expressivität dieser Aktionsformen war in Großbritannien deutlich offensiver als in der Bundesrepublik. In den frühen 1980erJahren kulminierten Konfrontationen zwischen staatlicher Polizeimacht und denen, die auf der Straße als Arbeitslose oder im Kontext ihrer Arbeitslosigkeit protestierten, in offene Gewaltausübung. Die teilweise bürgerkriegsähnlichen Situationen sind sicher auch als Teil einer neokonservativen Ordnungspolitik zu lesen, die polizeistrategisch Eskalation in Kauf nahm.135 Es zeigen sich aber auch Praktiken arbeitsloser Subjekte in körperlich gewalttätiger Aktion. Die Zwischenkriegszeit mit ihren Großdemonstrationen gegen die Massenarbeitslosigkeit war gewissermaßen das »Golden Age« der Arbeitslosenproteste in Großbritannien.136 Das 1921 von der britischen Communist Party gegründete »National Unemployed Workers’ Movement (NUWM) mobilisierte in den 1920er- bis 1930er-Jahren Hunderttausende Arbeitslose zu einer Reihe von »Hungermärschen« (Hunger Marches), die aus den Elendsregionen Nord­englands, Wales’ und Schottlands vor die Regierungszentrale nach London führten. Am bekanntesten war der »Jarrow March« oder »Jarrow Crusade« von ca. 200 Werftarbeitern vom nordenglischen Jarrow nach London im Oktober 1936.137 In ReEnactments zum 50- bzw. 75-jährigen Jubiläum sowie in Populärkultur, wie dem »Jarrow Song« von Alan Price oder einschlägigen Theaterstücken, wurde der

134 So auch Marwick, British Society since 1945, S. 239 f.; darauf bezugnehmend: Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 179. 135 Hierzu: Hordt, Kumpel, Kohle und Krawall, S. 140. 136 Vgl. Perry / Reiss, Beyond Marienthal: Understanding Movements of the Unemployed, S. 22–28, unter der Überschrift »The Golden Age of the Unemployed Movements. The Inter-War Years« auch die Beiträge des Bandes von Jeanette Gabriel, Alex Zukas, Philip H. Slaby sowie David de Vries und Shani Bar-On; hierzu auch die Sondernr. »The History of Unemployed Movements« der Labour History Review 73 (2008), 1 über Arbeitslosenproteste in Großbritannien der Zwischenkriegszeit. 137 Vgl. Matt Perry, The Jarrow Crusade: Protest and Legend, Sunderland 2005.

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Jarrow March zum folkloristischen Bezugspunkt für Arbeitslosenproteste der 1970er- und 1980er-Jahre. Die Tradition der Arbeitslosenbewegungen der Zwischenkriegszeit lebte aber auch konkret in Arbeitskonflikten der 1970er-Jahre und einer Reihe von Arbeitsniederlegungen, Besetzungen sowie ›Work-Ins‹, d. h. Werksbesetzungen bei weiterlaufendem Arbeitsbetrieb, fort, die von Angehörigen der kommunistischen Partei Großbritanniens maßgeblich initiiert wurden.138 Modell einer Reihe von Protestaktionen gegen Werkschließungen waren Bestreikung und Besetzung der Upper Clyde Shipbuilders, einem 1968 aus mehreren kleineren Werften fusionierten schottischen Schiffsbauunternehmen.139 Nachdem die Werft 1971 der Bankrott drohte und die Tory-Regierung finanzielle Unterstützung verweigerte, reagierten die Vertrauensleute Jimmy Reid und Jimmy Airlie, beide Mitglieder der kommunistischen Partei Großbritanniens, nicht mit der Organisation des erwarteten Streiks, sondern mit einer ›Work-In‹ genannten, selbstverwalteten und geordneten Fortsetzung der Arbeit, die sechs Monate andauerte. Die Kampagne wurde durch Demonstrationen in Glasgow, an denen bis zu 80.000 Menschen teilnahmen, unterstützt und erreichte einen teilweisen Weiterbetrieb der Werften. Imitiert wurde das ›Work-In‹ unter anderem mit der Besetzung der Fabrik von Fisher-Bendix in Kirkby bei Liverpool 1972, die fünf Wochen andauerte und, ein »Right to Work« reklamierend, eine drohende Schließung vorübergehend abwenden sowie erhebliche Verbesserungen der Arbeitsbedingungen (35-Stunden-Woche, bessere Bezahlung sowie eine Woche Extra-Urlaub) erreichen konnte. Die Streikhäufigkeit in Großbritannien nahm generell seit Ende der 1960erJahre zu. Die Anzahl der Streiktage hatte sich in den Jahren 1970 bis 1974 nahezu verfünffacht im Vergleich zu den Jahren 1965 bis 1969.140 Vor allem offizielle, gewerkschaftlich organisierte Streiks häuften sich, war es doch bis Ende der 1960er-Jahre stehende Redensart, dass Streikaktivitäten beendet waren, bevor die Gewerkschaften diese überhaupt bemerkt hatten. Diese Streiks, am bekanntesten wohl die erfolgreichen Bergarbeiterstreiks von 1972 und 1974, letzterer erreichte sogar den Rücktritt der konservativen Heath-Regierung, drehten sich allerdings noch um Lohnfragen und nicht um Betriebsschließungen. Proteste von Arbeitslosen gegen Arbeitslosigkeit gingen zu allererst von betroffenen Jugendlichen aus, die in den frühen 1970er-Jahren von den Young

138 Vgl. Sarah Cox, Down the Road. Unemployment and the Fight for the Right to Work, London 1977, S. 111−114. 139 Vgl. Charles Alexander Woolfson, Working Class Culture: The Work-In at Upper Clyde Shipbuilders. PhD Thesis, University of Glasgow 1982; Roy Hay / John McLauchlan, The Oral History of Upper Clyde Shipbuilders: A Preliminary Report, in: Oral History  2 (1974), S. 45–58; John Foster / Charles Alexander Woolfson, The Politics of the UCS Work-In, London 1986; Alan Tuckmann, After UCS: Workplace Occupation in Britain in the 1970s, in: Labour History Review 86 (2021), S. 7–35. 140 Vgl. Marwick, British Society since 1945, S. 130 f.

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Socialists unterstützt, Demonstrationen starteten und dafür das »Right to Work«-Motto der Betriebsbesetzungen übernahmen. 1971 demonstrierten sie in Birmingham. Im Februar 1972 zogen, angelehnt an den »Jarrow Crusade«, Gruppen von jeweils ca. 50 Jugendlichen in einem fünfwöchigen Fußmarsch von Glasgow, Liverpool bzw. Swansea aus nach London, tageweise begleitet von linken Kulturschaffenden wie dem Regisseur Ken Loach, dem Schauspieler Corin Redgrave oder dem Schriftsteller Arnold Wesker.141 Die Initiative wurde seit 1976 als »National Right to Work Campaign« von den International Socialists, dem Vorläufer der Socialist Workers Party, formalisiert und ausgeweitet. Die Proteste Arbeitsloser häuften sich. Hauptsächlich wegen der nunmehrigen Regierungsverantwortung der Labour-Partei wurden sie vom TUC nicht unterstützt, nur von einzelnen Gewerkschafts- und Labourfunktionären.142 Eine Demonstration der »Right to Work«-Kampagne führte denn auch im November 1975 mit 20.000 Teilnehmern in die Londoner Innenstadt und passierte die Zentrale des TUC , damit nicht nur gegen Regierungspolitiken, sondern auch die Haltung der Gewerkschaften gegenüber Arbeitslosen protestierend. Im darauffolgenden Jahr führte ein Demonstrationszug von achtzig Teilnehmern für ein »Right to Work« von Arbeitslosen wieder quer durch England von Manchester nach London. Am ersten Demonstrationstag angeführt von zwei Veteranen der Hungermärsche, stellten sie sich direkt in deren Traditionslinie. Zur Schlusskundgebung versammelten sich die Demonstranten in der Royal Albert Hall in London. Zuvor, in den Vororten Londons, war es zu teils heftigen Zusammenstößen mit der Polizei gekommen, bei denen mehr als 60 Demonstranten verletzt und 43 in polizeilichen Gewahrsam genommen wurden. Gleichfalls 1976 konnte im März eine Demonstration gegen Arbeitslosigkeit im schottischen Dundee ca. 50.000 Personen mobilisieren. Regelmäßig demonstrierten teilweise bis zu 1.000 Arbeitslose anlässlich der jährlichen TUCKongresse: 1976 und 1978 führten die Protestzüge von London nach Brighton, 1977 von London nach Blackpool.143 Auf Druck der Straße und nach Regierungsübernahme der Tories änderte der TUC seine Politik in der Arbeitslosenfrage und beschloss auf dem TUC-Kongress von 1980, dem Thema Arbeitslosigkeit eine eigene Konferenz zu widmen.144 Ein Jahr darauf veranstaltete der TUC einen ersten größeren Protestmarsch, genannt »People’s March for Jobs«. Die TUC-Dokumentationen zitierten einerseits in Organisation, Protestmitteln und Ablauf ebenfalls die Hungermärsche. Vetera­ 141 Vgl. We demand the Right to Work. A young Socialists Pamphlet, London 1972; halbdokumentarisch: Right to Work March (1972), BFI National Archive, https://www.youtube. com/watch?v=N4nRrAY_qt0, 30.01.2023. 142 Vgl. Cox, Down the Road, S. 114−125. 143 Hierzu: Cobley, Leave the Capitol, S. 177–179; Jimmy Reilly, Anger on the Road, or How the TUC learned to hate the Right to Work March, London 1979. 144 Vgl. Bagguley, From Protest to Acquiescence? S. 114–140; Paul Lewis, Trade Union Policy and the Unemployed, Aldershot 1990.

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nen der Zwischenkriegszeit erklärten ihre Solidarität, ein Original-Banner des »Jarrow Crusade« wurde mitgetragen und teilweise wurde dessen Streckenverlauf nachvollzogen.145 Der TUC distanzierte sich jedoch andererseits in den politischen Zielsetzungen von den Hungermärschen, denn, so hieß es in den TUC-Werbemitteln, »the 1981 march was not  a ›crusade‹ but the preparation for out and out battle against the Tories.«146 Damit zusammenhängend, gab der TUC sich modern und bediente sich zeitgenössischer Werbemittel. Die Demonstrationen waren medial in einheitlicher Kleidung und Merchandising (Buttons, Bierdeckel, Tassen) inszeniert. Folge der kommerziellen Demo-Ausstattung (Shirts mit Motto und Banner) war auch, dass diese nur für eine begrenzte Anzahl von 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer finanzierbar war, die im Mai 1981 von Liverpool / Manchester bzw. Yorkshire über Birmingham nach London marschierten.147 Unterwegs wurden Solidaritätsadressen von Gewerkschaftlern (u. a. Arthur Scargill) verlesen, Jubelstrecken arrangiert oder satirische Szenerien aufgeführt.148 Eine Empfangsveranstaltung in der Londoner County Hall sowie eine »Carnival against Unemployment« genannten Party im Londoner Brockwell Park beendeten Ende Mai den Protestmarsch. Im September 1982 veranstaltete der TUC-Regionalverband der englischen Midlands einen »Midlands People’s March for Jobs« als Sternmarsch nach Birmingham.149 Er erhob ebenso die Forderung nach mehr Arbeitsplätzen, wie ein zweiter »People’s March for Jobs«, der im April und Mai 1983 von Glasgow sowie weiteren Startpunkten in Nordengland und Cornwall nach London führte.150 Ein Festival im Crystal Palace Park London sowie eine Kundgebung im Hyde Park am 5. Juni 1983 bildeten den Schlusspunkt der Demonstration, die mit ca. 15.000 bis 20.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gleichwohl hinter den Erwartungen des TUC , der mit 250.000 Protestierenden gerechnete hatte, erheblich zurückblieb. Auch 1983 wurde der Protestmarsch von Solidaritätsadressen, Versammlungen und Konzerten begleitet, so von einem »Rock for Jobs«-Konzert in Wythenshawe, einem Stadtteil von Manchester, das gleichfalls als Teil der »Jobs for Youth Campaign« des TUC ausgewiesen war.151 Im Rahmen dieser Kampagne fuhren im November 1981 400 jugendliche Arbeitslose in einem Eisenbahnzug, dem »Job Express«, sieben Tage durch England und Wales, um unter dem Motto »Give us a Future« für ihre Vermittlung in 145 Vgl. News Line Magazine. Day-by-Day Reports], S. 5, 47. 146 Vgl. ebd., S. 47. 147 Vgl. ebd.; London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Pamphlet Boxes, The News Line Magazine 1981. 148 Vgl. News Line Magazine. Day-by-Day Reports. 149 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Pamphlet Boxes, Flugblatt: Midlands Peoples March for Jobs. 150 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Pamphlet Boxes, The News Line Magazine 1983. 151 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Pamphlet Boxes, Flugblatt: Festival for Jobs. 1983.

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Erwerbsarbeit zu werben.152 In London beendete eine Demonstration von 10.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern vom Hyde Park zu den Jubilee Gardens an der Londoner Southbank die Reise. Ein anschließendes Festival mit Rockkonzerten (»Rock for Job«) sollte den Protest, der sich nicht allzu kämpferisch geben wollte, für weitere Jugendliche attraktiv machen sowie seine lockere, »festive atmosphere«, unterstreichen. Die Arbeitslosenproteste des TUC verliefen ruhig und domestiziert, vor allem im Vergleich mit den spektakulären großen Streikaktionen britischer Gewerkschaften gegen Betriebsschließungen in den späten 1970er-Jahren und der ersten Hälfte der 1980er-Jahre. Zwar ging die Anzahl der Streiks sowie Streiktage seit 1973 im Vereinigten Königreich kontinuierlich zurück und betrug in den 1990er-Jahren weniger als ein Zehntel der Arbeitskämpfe, die in den 1970erJahren ausgefochten wurden, dennoch demonstrierten die Gewerkschaften mit den großen Arbeitskämpfen in diesen Jahren ein letztes Mal ihre gesellschaftliche Macht.153 Im berüchtigten »Winter of Discontent« von 1978/79 schränkten diverse Streiks vor allem im Transport- und Infrastruktursektor (LKW-Fahrer, Müllabfuhr) das öffentliche Leben und die Warenversorgung massiv ein. Die gewerkschaftlichen Forderungen waren aber noch auf höhere Löhne bei steigender Inflationsrate und kürzere Arbeitszeiten gerichtet. Die Arbeitskämpfe der gewerkschaftlichen Traditionsbranchen der Montan- und Schwerindustrie, im Hafensektor und Printbranche in den frühen 1980er-Jahren hatten dann zum Ziel, die drohende Schließung der Betriebe abzuwenden und Arbeitsplätze zu erhalten. Im Schiffbau konnte die im National Dock Labour Scheme von 1947 festgeschriebene Arbeitsplatzgarantie für Hafenarbeiter fast geräuschlos 1989 durch eine Erhöhung der Abfindungsprämie um 10.000 Pfund seitens der Regierung rechtzeitig ausgehebelt werden, bevor sich Streikaktivitäten ausbreiteten. Im Bergbau war dies indes nicht gelungen. Der Miners’ Strike von 1984/85 ging als einer der militantesten Arbeitskämpfe in die britische Geschichte ein.154 Auslöser des Streiks war die Ankündigung Ian McGregors, des Vorsitzenden des National Coal Boards, zwanzig unrentable Zechen zu schließen, was den Verlust von 20.000 Arbeitsplätzen bedeutete. Der Arbeitskampf begann am 6. März 1984 mit der Arbeitsniederlegung in der Cortonwood Zeche in Yorkshire. Der Präsident der National Union of Mineworkers, Arthur Scargill, machte den Streik am 12. März 1984 in ganz Großbritannien 152 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Pamphlet Boxes, Jobs for Youth Campaign, 1981, S. 7. 153 Angaben nach: Graham Stewart, Bang! A History of Britain in the 1980s, London 2013, S. 376. 154 Vgl. Raphael Samuel / Barbara Bloomfield / Guy Boanas (Hrsg.), The Enemy Within: Pit Villages and the Miners’ Strike of 1984–85, London 1986; Hordt, Kumpel, Kohle und Krawall, S. 282–290; Stewart, Bang, S. 341–360; Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 177–182.

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offiziell, obwohl keine landesweite Abstimmung über den Streik stattgefunden hatte, wie es das unter Thatcher restriktiv beschnittene Streikrecht vorsah. Heftige Auseinandersetzungen zwischen Streikposten, die den Transport von Kohle verhindern sollten oder Streikbrecher angriffen, und der Polizei prägten das medial vermittelte Bild des Arbeitskampfes. Ab Januar 1985 begann die Streikfront zu bröckeln. Die Streikkassen der Gewerkschaften waren blockiert oder leer und staatliche Unterstützung wurde den Streikteilnehmern bzw. ihren Angehörigen nach den Bestimmungen des SSA von 1980 verweigert, sodass viele ihre Familien nicht mehr ernähren konnten und in die Minen zurückkehrten. Der Streik endete offiziell am 3. März 1985, fast ein Jahr nach seinem Beginn, als eine Delegiertenkonferenz der National Union of Mineworkers schließlich für das Ende des Arbeitskampfes stimmte. Das Ende des Streiks bedeutete einen kurz- und langfristigen Sieg der konservativen Regierung und die Schließung der meisten britischen Zechen in den nächsten Jahren. 80 Prozent der Bergleute im Vereinigten Königreich wurden in den Folgejahren entlassen. Die Kosten des Streiks waren immens: 10.000 Bergleute waren zumindest vorübergehend inhaftiert, 20.000 Verletzte und zehn Tote waren zu verzeichnen, die Polizeieinsätze kosteten die öffentlichen Kassen an die 20 Millionen Pfund, die Streikfolgekosten beliefen sich auf ca. 2,5 Billionen Pfund.155 Durch den Streik gingen über 26 Millionen Arbeitstage verloren  – der höchste Verlust an Arbeitszeit durch einen Arbeitskampf seit dem britischen Generalstreik von 1926. Sein Ziel, die Erhaltung von Arbeitsplätzen, hatte der Arbeitskampf verfehlt. Trotz einschlägiger Streikparolen, wie »Support the Miners Fight for Jobs« oder »Coal not Dole«, war die drohende Arbeitslosigkeit zwar das Menetekel, das über dem Arbeitskonflikt schwebte, in der zeitgenössischen Inszenierung wie in der Historiographie überwiegt hingegen die Deutung als dramatischer, geradezu chiliastischer Klassenkampf.156 Repräsentiert im Antagonismus der konservativen Premierministerin Margaret Thatcher einerseits und dem klassenbewusstem Gewerkschaftsfunktionär Arthur Scargill andererseits, standen gesellschaftspolitische Machtfragen im Vordergrund der Auseinandersetzungen oder aber die Verteidigung der Bergarbeiter-Community und ihrer Lebenswelten.157 Die beteiligten Bergmänner und ihre Familien als potentiell oder reell arbeitslose Subjekte waren weitgehend unsichtbar. Als Streikende von der Regierung und konservativer Presse als aufsässig und moralisch defizitär gebrandmarkt, als Streikbrecher von den Gewerkschaften wiederum mit Hassparolen übersät, waren sie doppelt stigmatisiert. Als »Scum of the Earth« wurden die streikenden Bergarbeiter auf der Titelseite der konservativen Boulevardzeitung »Sun« im 155 Angaben nach: Stewart, Bang, S. 358 f. 156 Vgl. Hordt, Kumpel, Kohle und Krawall, S. 20–22; Andrew J. R.  Richards, Miners on Strike. Class Solidarity and Division in Britain, Oxford, New York 1996; vgl. auch die Zusammenstellung von Zeitzeugenaussagen in: Guthrie Hutton (Hrsg.), Coal not Dole. Memories of the 1984/85 Miners’ Strike, Glasgow 2005; Samuel / Bloomfield / Boanas (Hrsg.), The Enemy Within. 157 Vgl. Stewart, Bang, S. 341 f.

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September 1984 bezeichnet.158 Nach ihrer Niederlage blieben ihnen »no results but poverty and broken homes, frustration, and therefore violence,« wie es der Historiker Arthur Marwick formuliert.159 Politisch uninteressant geworden, fanden sich die für ihre Klassenidentität kämpfenden, englischen Bergarbeiter in der Gesellschaft der Arbeitslosen und ihrer sozialen Deprivation wieder. Auf den ersten Blick unzusammenhängend mit den Arbeitskämpfen der Gewerkschaften, waren die Straßenkämpfe Jugendlicher in den frühen 1980erJahren. Im Frühjahr und Sommer 1981 wurden englische Innenstädte zu Schauplätzen einer Reihe von Zusammenstößen zwischen hauptsächlich schwarzen Jugendlichen und der Polizei. Am bekanntesten wurde der so genannte Brixton Riot im April 1981.160 Die Straßenkämpfe kulminierten am 11. April in den gewaltsamen Auseinandersetzungen des vom Time Magazine in Anlehnung an den »Bloody Sunday« 1972 so genannten »Bloody Saturday«, an dem über 5.000 Personen beteiligt waren und der an die 280 Verletzten auf Seiten der Polizei und 45 verletzte Zivilpersonen, über fünfzig verbrannte Polizeifahrzeuge, über dreißig ausgebrannte Gebäude und eine Vielzahl von Plünderungen verzeichnen konnte. 82 Personen wurden festgenommen. Noch während der zur Untersuchung der Unruhen eingesetzte Regierungsausschuss unter Leitung von Lord Scarman tagte, kam es im Juli 1981 erneut zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen jugendlichen Skins und schwarzen Jugendlichen in Southall, West London. Die Maßnahme der Regierung, aufgrund der königlichen Hochzeit des Thronfolgers Prinz Charles und Diana Spencer am 29. Juli 1981 für den gesamten Monat ein Demonstrationsverbot in der Londoner City zu verhängen, wirkte eher kontraproduktiv.161 Im Verlauf des Monats Juli folgten nämlich Unruhen in Handsworth, einem Vorort von Birmingham, Toxteth in Liverpool, Hyson Green in Nottingham sowie Moss Side in Manchester. Kleinere Gewaltausbrüche randalierender schwarzer Jugendlicher ereigneten sich in Leeds, Leicester, Southampton, Halifax, Bedford, Gloucester, Wolverhampton, Coventry, Bristol und Edinburgh. In Toxteth, einem Stadtteil von Liverpool, dauerten die Unruhen neun Tage. Nach offiziellen Zahlen wurden über 450 Polizisten verletzt, 500 Personen festgenommen. 70 Gebäude hatten Brandschäden. Autos waren beschädigt und Geschäfte geplündert. Die Polizei von Merseyside musste um Verstärkung in ganz England ersuchen und setzte taktisch schließlich auf Methoden, die in Nordirland zur Terrorismusbekämpfung erprobt waren: Einsatz von Tränengasgranaten sowie Mannschaftswagen, die in hoher Geschwindigkeit in die Menge fuhren, wobei ein 23-jähriger Zivilist angefahren und tödlich verletzt wurde. In Handsworth entzündeten sich 158 Zitiert nach: Michael Atkin, The 1984/85 Miners Strike in East Durham, A Study in Contemporary History, Ph.D. Thesis Durham University 2001, S. 207, http://etheses.dur. ac.uk/2015/, 30.01.2023. 159 Marwick, British Society since 1945, S. 282. 160 Vgl. Marwick, British Society since 1945, S. 239 f., 290 f.; Stewart, Bang, S. 85–99. 161 Vgl. Stewart, Bang, S. 94.

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die Unruhen an einem Gerücht über eine bevorstehende Demonstration des rechten National Front. Die folgenden Krawalle hatten 121 Festnahmen und 40 verletzte Polizisten zur Folge sowie umfangreiche Sachschäden. In Moss Side, einem Viertel im Innenstadtbereich von Manchester, das seit über dreißig Jahren vorwiegend Wohngebiet von Schwarzen aus der Karibik war, belagerten am 8. Juli 1981 mehr als 1.000 Jugendliche die örtliche Polizeistation. Die Fenster des Gebäudes wurden eingeschlagen und zwölf Polizeifahrzeuge in Brand gesteckt. Der amtliche Bericht von Lord Scarman über die Brixton Riots, publiziert im Dezember 1981, kam zu dem Schluss, dass die Ausschreitungen spontan waren, ihnen aber begünstigende politische, soziale und wirtschaftliche Faktoren, wie erhöhte Arbeitslosigkeit und schlechte Wohnbedingungen aufgrund rassistischer Diskriminierung zugrunde lagen.162 Daneben hätte das »Stop and Search«-Recht der Polizei, das, auf den Vagrancy Act von 1824 zurückgehend, erlaubte, verdächtige Personen festzuhalten und zu durchsuchen und das unverhältnismäßig oft schwarze Jugendliche treffen würde, die Unruhen mit provoziert. Scarman empfahl Änderungen in der polizeilichen Ausbildung und bei der Strafverfolgung sowie die verstärkte Rekrutierung ethnischer Minderheiten für die Polizei. Trotz eingeleiteter Polizeireformen löste polizeiliche Gewalt im September und Oktober 1985 wiederum eine Reihe von Ausschreitungen aus, bei denen Schwarze, oftmals Jugendliche und die weiße Polizei aufeinandertrafen. Erneut in Brixton und Handsworth sowie in den Londoner Stadtteilen Peckham und Tottenham führten Todesfälle von Schwarzen durch Polizeigewalt und unrechtmäßige Verhaftungen zu teilweise mehrtägigen Straßenkämpfen. Ist bei diesen 1985er-Unruhen das Motiv der polizeilichen Diskriminierung Schwarzer offensichtlich, wurden die Krawalle von 1981 insbesondere seitens der politischen Linken als eine Konsequenz der Jugendarbeitslosigkeit gesehen, die in den betroffenen »Problemvierteln« überdurchschnittlich hoch war.163 In Moss Side in Manchester waren 60  Prozent aller 19-jährigen arbeitslos. In anderen Stadtquartieren mit überwiegend schwarzer Bevölkerung waren die Zahlen ähnlich. Die mit Arbeitslosigkeit verbundene Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit hätte zum Ausbruch der Gewalt geführt, so Politikerinnen der Labour oder Socialist Party, die damit ein politisches Argument setzten und die Arbeitsmarktpolitik der konservativen Regierung für die Unruhen verantwortlich machten.164 Den Arbeitslosen wurde die Rolle der Verelendeten zugeschrieben, die aufbegehrten, »not just victims, however, but active participants in this story«.165 162 Vgl. Leslie Lord Scarman, Scarman Report: The Brixton Disorders, 10–12 April, 1981, Hamondsworth 1982. 163 Vgl. McIvor, Working Lives, S. 251; Stewart, Bang, S. 85 f. 164 Vgl. Julian Bowery, The 1985 ›Riots‹. 1981 Revisited? Town Planning Discussion Paper Nr. 47, Februar 1985, S. 6 f. 165 McIvor, Working Lives, S. 251.

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Im Hinblick auf die Subjektpositionen und -praktiken der Randalierer, auch und vor allem als arbeitslose Subjekte, ist eine solche Deutung zumindest ergänzungsbedürftig. Der Alltag der revoltierenden Jugendlichen, dies betonten zeitgenössische Studien, war strukturell durch Rassismus geprägt. Ihre soziale Situation, ihr Wohnort, ihre Wohnverhältnisse und ihre Möglichkeiten, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, war durch ihre beständige Identifikation als Schwarze limitiert. Ihre Erfahrungen, sich im Stadtraum zu bewegen und einen Status als Subjekte zu beanspruchen, waren mit rassistischer Diskriminierung bzw. Bedrohung und körperlichen Angriffen verbunden. Bei sichtbarem öffentlichem Auftreten hatten sie damit zu rechnen, ihre körperliche Integrität nicht bewahren zu können. Die Gewaltausbrüche vom Juli 1981 wurden wesentlich ausgelöst durch einen provokativen Aufmarsch von 300 rechtsextremen Skinheads im überwiegend von Schwarzen bewohnten Londoner Stadtteil Southall Anfang Juli 1981.166 Frühere Rassenunruhen in den USA im »long, hot summer« von 1967 oder die Auseinandersetzungen des Notting Hill Carnival in London von 1976 ereigneten sich gleichfalls in von Arbeitslosigkeit und ökonomischer Deprivation betroffenen Stadträumen, prägten aber vor allem Muster rassistischer Konfrontation vor. In allgemeiner, körperlich manifester und konflikthafter Chancenlosigkeit war Arbeitslosigkeit für die Jugendlichen ein Problem unter anderen strukturellen Benachteiligungen. Aussichtsreicher war die Perspektive von Erwerbsarbeit, zumeist in niedrig entlohnten, gering qualifizierten Gelegenheitsjobs und zumeist nicht in ihrer näheren Wohnumgebung, für sie nicht. Eine schlichte, durchschnittliche Verminderung der Arbeitslosenquote hätte an den sozialen Limitationen der rebellierenden Jugendlichen nichts geändert bzw. diese nur verschoben.167 »We want to riot not to work«, so deutete ein an den Krawallen beteiligter britischer Jugendlicher, den Brixton Riot von 1981 in einer unter einem kollektiven Pseudonym 1982 publizierten Broschüre.168 Sich selbst der anarchistischen Szene zuordnend, waren die Unruhen seiner Ansicht nach gegen das politische System als solches gerichtet. Arbeitslosigkeit und die schlechten Wohnbedingungen hätten den Ausbruch der Revolten mit beeinflusst, die Unzufriedenheit sei jedoch sehr viel tiefgehender gewesen: The riot can be interpreted as the free experience of anger and disgust at the whole force. During the riot there were no demands for jobs, we wanted everything then and there. It was rejection of the system of which bad housing and unemployment are parts.169 166 Vgl. Stewart, Bang, S. 92; John Rex, Racial Conflict in the Inner City, in: ders. / Malcom Cross, Unemployment and Racial Conflict in the Inner City. Working Paper on Ethnic Relations Nr. 16, St. Peter’s College Birmingham 1982, S. 1–14, hier: S. 1. 167 Vgl. Malcolm Cross, Black Youth Unemployment and Urban Policy, in: ders. / John Rex, Unemployment and Racial Conflict in the Inner City, S. 15–30. 168 Vgl. [M. Brique], We Want to Riot not to Work. The 1981 Brixton Uprisings. Hrsg. v. The Riot not to Work Collective, London 1982. 169 Ebd., S. 27.

Selbsthilfe und Arbeitslosenprojekte in der Defensivhaltung

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Die Krawalle seien nicht mit einem Politikwechsel und wirtschaftlichem Aufschwung in der Zukunft zu verhindern, wie es die Labour Party vertreten würde, sondern sie würden kapitalistische Produktionsweisen als solche herausfordern. Mit den Aktivisten der linksautonomen Claimants’ Union forderte der Autor des Pamphlets, das »Right not to work«.170 Der Autor bekennt sich zwar zu den Privilegien seiner Sprecherposition als Weißer, dennoch instrumentalisiert er die Rassenunruhen eindeutig für den Klassenkampf der »working class«. Sein Bezug zum Operaismus eröffnet aber auch die Perspektive auf die Subjektivität der Rebellierenden. In den Straßenkämpfen der frühen 1980er-Jahre artikulierten sich Subjekte im Moment des Ausrastens in einer für sie ausweglosen Situation von ökonomischer Mühsal, körperlicher Bedrängnis aufgrund ihrer Hautfarbe und einer paternalistischen Limitierung ihrer Lebenschancen. Ob es ein öder Job war oder Langeweile aufgrund von Arbeitslosigkeit, im Augenblick der Auflehnung konnten sich die Jugendlichen davon distanzieren und das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen. »It’s something to do,« – schreibt der zitierte Aktivist im August 1981, um die Essenz der Unruhen zusammenzufassen.171 Die Gewalt lässt sich im Wortsinn als ein Akt der Selbstbehauptung lesen, in dem die Jugendlichen ihr Selbst, ihre Subjekthaftigkeit autonom behaupteten. Eine Behauptung freilich, die sie allzu schnell erneut stigmatisierte und kriminalisierte und ihre soziale Lage unmittelbar nicht verbesserte. Darin waren sich streikende Bergarbeiter, denen Arbeitslosigkeit bevorstand, und marodierende arbeitslose, schwarze Jugendliche in den frühen 1980er-Jahren einig: ihr Protest war lautstark, verhallte aber jenseits offiziöser Berichte, wie dem Scarman Report, vorerst ungehört.

3. Selbsthilfe und Arbeitslosenprojekte in der Defensivhaltung: wer ist schon gerne arbeitslos? 3.1 Bundesrepublik: Professionell betreut durch die Arbeitslosigkeit »Habt doch nur Arbeit, weil wir keine Arbeit haben!« Dieses Zitat legte der Schriftsteller Harry Böseke einem arbeitslosen Jugendlichen in Beurteilung sozialpädagogisch angeleiteter Arbeitslosenarbeit in der Bundesrepublik Anfang der 1980er-Jahre in den Mund.172 Es benennt eine zentrale Problematik für die soziale und politische Organisation von Arbeitslosen in der Bundesrepublik 170 Ebd., S. 38. 171 Ebd., Umschlagseite. 172 Zitiert nach: Wolski-Prenger / Rothardt, Soziale Arbeit mit Arbeitslosen, S. 125.

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wie Großbritannien in diesen Jahren: Arbeitslosenarbeit als professionell angelegte Sozialarbeit mit Arbeitslosen war (auch) ein Arbeitsmarkt (ehemaliger) Arbeitsloser mit allen daraus folgenden inhaltlichen und organisatorischen Einschränkungen. Großenteils nur temporär finanziert, waren sozial unterstützende Arbeitslosenprojekte stets finanziell prekär und auf Vorläufigkeit gestellt. Zeitgenössische Professionalisierungstendenzen sozialer Arbeit, die einerseits die Notwendigkeit von Arbeitslosenprojekten begründeten, führten andererseits zu in der Regel unvollständig durchgesetzten Betreuungskonzepten von Arbeitslosen zwischen fürsorglicher Klientelisierung und Selbsthilfe. In der Bundesrepublik datiert die zeitgenössische Literatur zur sozialen Arbeit mit Arbeitslosen, in der Regel verfasst von Sozialwissenschaftlern und Sozialpädagogen, die selbst als Arbeitslose in Arbeitslosenprojekten gearbeitet hatten, den Höhepunkt der Aktivitäten der Arbeitslosenarbeit auf Anfang der 1980er-Jahre, als in Frankfurt am Main der erste von zwei Bundeskongressen von Arbeitslosen stattfand.173 Vorangegangen war eine aus den vorwiegend von den Industrie- und Sozialpfarrern bzw. dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) der evangelischen Kirchen getragene Arbeitslosenarbeit, die seit Mitte der 1970er-Jahre Bildungsarbeit mit arbeitslosen Jugendlichen und Frauen anbot.174 Mit zunehmender Arbeitslosigkeit entwickelten sich diese kirchlichen Initiativen zu Treffpunkt- und Beratungszentren, deren Vorbild Arbeitslosenzentren in Kanada, aber auch die damals gerade entstehenden gewerkschaftlich getragenen Arbeitslosenzentren in Großbritannien waren.175 In der Regel wurden die Zentren mit Hilfe von AB -Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit personell ausgestattet und finanziell von den Kommunen unterstützt. 173 Vgl. ebd., S. 154 f.; ähnlich: Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekt zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 251 f.; ders., »Niemandem wird es schlechter gehen…!«, S. 55 f.; Lutz Finkeldey, Armut, Arbeitslosigkeit, Selbsthilfe. Armuts- und Arbeitslosenprojekte zwischen Freizeit und Markt, Bochum 1992, S. 101; Rein, Proteste von Arbeitslosen; Rein / Scherer (Hrsg.), Erwerbslosigkeit und politischer Protest; Harald Rein (Hrsg.), 1982–2012. Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest. Dokumentation, Analyse und Perspektive, Neu-Ulm 2013; Wolski-Prenger engagierte sich in der Paderborner Initiative gegen Jugendarbeitslosigkeit. Finkeldey war an der Hannoveraner Arbeitslosenarbeit beteiligt. Harald Rein arbeitete als Berater im Frankfurter Arbeitslosenzentrum; Herbert KantBohlin, Lutz Finkeldey und Alois Wacker danke ich für Material über die Arbeitslosenarbeit Hannover sowie persönliches Gespräch. 174 Hierzu: Wolski-Prenger / Rothardt, Soziale Arbeit mit Arbeitslosen, S. 155 f.; Wolski-­ Prenger, Arbeitslosenprojekt zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 166−168; ders., »Niemandem wird es schlechter gehen…!«, S. 57 f.; zum KDA : Herbert Koch, KDA – Kirchlicher Dienst (auch) in der Arbeits(losen)welt?, in: Arbeitslos – was ist das bloß? 10 Jahre Arbeitslosenzentrum Hannover 1979–1989. Entwicklungen, Wahrnehmungen, Perspektiven, Hannover [1989], S. 97–100. 175 Vgl. Hubert Heinelt / Carl-Wilhelm Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover. Eine Einrichtung zwischen Selbsthilfe und Institutionalisierung, in: Bernhard Blanke /  Bernhard Badura u. a. (Hrsg.), Die Zweite Stadt. Neue Formen lokaler Arbeits- und Sozialpolitik, Opladen 1986, S. 213–231, hier: S. 215.

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Die Arbeitslosenprojekte verbreiteten sich im Bundesgebiet rasch: von ca. 50 Arbeitslosenprojekten auf etwa 250 Projekte 1985 und über 1.000 Projekten 1988.176 Geht man von Arbeitsloseninitiativen aus, d. h. einschließlich Arbeitslosenselbsthilfe ohne institutionelle Anbindung gab es 1984 bundesweit 1.400 Initiativen, wo sich 20.000 bis 30.000 Menschen engagierten, das entsprach allerdings nur ca. einem Prozent der registrierten Arbeitslosen.177 Die Organisationsformen der Projekte reichten von Arbeitsloseninitiativen, Treffpunkten, erwerbsorientierten oder erwerbsvorbereitenden Maßnahmen bis hin zu institutionalisierten Beratungszentren.178 Die Trägerschaften erweiterten sich über den karitativen Rahmen hinaus in den frühen 1980er-Jahren auf Gewerkschaften und Parteien, die in lokalen Arbeitslosenzentren teilweise zusammenarbeiteten.179 Einige wenige Gruppen Arbeitsloser waren auch völlig unabhängig. Die Gewerkschaften stiegen relativ spät in die Arbeitslosenarbeit ein.180 Der DGB begrüßte die kirchlichen Initiativen und hielt die Einrichtung eigener gewerkschaftlicher Arbeitsloseninitiativen nicht für sinnvoll, da man keine »Spaltung der Interessen zwischen beschäftigten und arbeitslosen Gewerkschaftsmitgliedern« riskieren wolle.181 Noch 1984, als sich zeitgleich die ersten gewerkschaftlichen Arbeitslosengruppen bundesweit zu einer Arbeitstagung trafen, äußerte sich der DGB -Landesbezirk Niedersachsen skeptisch zum Aufbau eigener Arbeitslosenzentren der Gewerkschaften. Innerhalb des DGB waren die arbeitslosen Lehrer in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Vorreiter in der Arbeitslosenarbeit. Bereits 1977 existierte ein Sekretariat arbeitsloser Lehrer und 1981 wurde ein erster Kongress zur Lehrerarbeitslosigkeit veranstaltet. Innerhalb des DGB von den mitgliederstarken und lautstarken Industriegewerkschaften jedoch vorerst mit latent intellektuellenfeindlichen Argumenten bedacht, wurde erst mit den Betriebsschließungen in der Montan­ industrie in den 1980er-Jahren in den gewerkschaftlichen »Kerngruppen« ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Arbeitslosenarbeit geschaffen. Seit 1985 gab es eine Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, die dann die vielfältigen lokalen, gewerkschaftlichen Basisinitiativen bündeln konnte. 176 Angaben nach: Wolski-Prenger, »Niemandem wird es schlechter gehen…!«, S. 56; ebd., Soziale Arbeit mit Arbeitslosen, S. 155. 177 Lutz Finkeldey, Armut, Arbeitslosigkeit, Selbsthilfe, S. 69. 178 Vgl. hierfür die Überblicke in: Wolski-Prenger, »Niemandem wird es schlechter gehen…!«, S. 47−56; ebd. / Dieter Rothardt, Soziale Arbeit mit Arbeitslosen, S. 125−155. 179 Vgl. Finkeldey, Armut, Arbeitslosigkeit, Selbsthilfe, S. 92, 101. 180 Vgl. Wolski-Prenger, »Niemandem wird es schlechter gehen…!«, S. 71−89; WolskiPrenger / Rothardt, Soziale Arbeit mit Arbeitslosen, S. 168−181; »Wir lassen uns nicht abkoppeln!« Ein Bericht von der Tagung »Arbeitslose und Gewerkschaften« der IG Metall-Verwaltungsstelle Emden und der Hans-Böckler-Stiftung, in Emden am 08.04.1988, Bremen, Emden 1988. 181 Wolski-Prenger, »Niemandem wird es schlechter gehen…!«, S. 72; vgl. auch: Heinelt /  Mack, Das Arbeitslosenzentrum Hannover. Eine Einrichtung zwischen Selbsthilfe und Institutionalisierung, in: Blanke / Badura u. a. (Hrsg.), Die Zweite Stadt, S. 215.

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Sowohl gewerkschaftliche als auch kirchliche Initiativen und Beratungszentren waren vor allem erwerbsorientiert, d. h. es ging ihnen darum, die Vermittlungschancen der Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Dem dienten, wenngleich immer unzureichend, zum einen die Einzelfallhilfe bezüglich beruflicher Förderung, soziale Begleitung bei der Arbeitssuche und Arbeitsaufnahme sowie Angebote im Trainings- und Qualifikationsbereich sowie die psychosozialen Unterstützungsangebote durch offene Freizeittreffen und Gruppengespräche, die vor allem das Selbstwertgefühl der Arbeitslosen stärken sollten. Rechts- und Schuldnerberatung war, wie erwähnt, für alle Arbeitslosenzentren ebenfalls zentral. Zum anderen waren Öffentlichkeits- und publizistische Arbeit auf politisches und medienwirksames Agendasetting ausgerichtet, um Demonstrationen und Protestaktionen zu organisieren. Beispielhaft kann hier die Arbeit des Arbeitslosenzentrums Hannover betrachtet werden, das, 1979 gegründet, das älteste seiner Art war.182 Träger des Zentrums, das sich aus einer Selbsthilfeinitiative Arbeitsloser entwickelt hatte, war das Industriepfarramt des Evangelischen Stadtkirchenverbandes Hannover, wodurch ABM-Stellen für vier Mitarbeiter und Sachkostenzuschüsse beantragt werden konnten. 1985 verfügte das Zentrum über drei feste Mitarbeiterstellen, einschließlich Sekretärin und Geschäftsführer, sowie drei weitere ABM-Kräfte, einem Zivildienstleistendem und einer Jahrespraktikantin. Organisatorisch stabil, war das Spektrum der Aktivitäten von und mit Arbeitslosen sehr breit und reichte von Handwerks-, Näh- und Fotogruppen über Herstellung von Arbeitslosenzeitungen, gemeinsamem Kochen bis hin zu Gartenprojekten zur Selbstversorgung.183 Die Sozial- und Rechtsberatung wurde bis in die 1980er-Jahre stark ausgebaut. Bereits Mitte der 1980er-Jahre wurden diese Angebote, so die Einschätzung der Aktiven des Zentrums, »(in Vergleich zu früheren Zeiten) nur noch von relativ wenigen Arbeitslosen angenommen«.184 Zeitgenössisch wurde die Tendenz beobachtet, dass sich das Arbeitslosenzentrum »kaputtlaufe«.185 Als ursächlich für diese Probleme galt die professionelle Struktur des Arbeitslosenzentrums und damit das, was die Einrichtung andererseits stabil hielt: die Arbeit der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Hauptamtlichen, mehr schlecht als recht und immer in Stellenkonkurrenz zu den arbeitslosen Besucherinnen und Besuchern des Zentrums per ABM-Zeitvertrag beschäftigt, übernahmen, so die Einschätzung, in ihren beratenden Tätigkeiten im Grunde nachgeordnete 182 Vgl. Arbeitslos – was ist das bloß; Heinelt / Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover. Eine Einrichtung zwischen Selbsthilfe und Institutionalisierung, in: Blanke / Badura u. a. (Hrsg.), Die Zweite Stadt, S. 213–231; Heinelt / Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover. 183 Vgl. Einleitung, in: Arbeitslos – was ist das bloß, S. 7; Heinelt / Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover, S. 11. 184 Ebda. 185 Heinelt / Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover. Eine Einrichtung, in: Blanke /  Badura u. a. (Hrsg.), Die Zweite Stadt, S. 222.

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Aufgaben der Bundesanstalt.186 Der Direktor des Hannoveraner Arbeitsamtes sprach 1989 sogar davon, der »Dolmetscherdienst für die Behördensprache«, wie sie die Beratung des Arbeitslosenzentrums anbiete, sei »zum flankierenden In­strument« der Arbeitsverwaltung geworden.187 Obgleich Mitarbeiter des Arbeitslosenzentrums betonten, die »größtmögliche Autonomie« der Arbeitslosen in »gegebener schlechter Lage« wahren zu wollen, sah der Beratungsalltag anders aus.188 Das Arbeitslosenzentrum Hannover, so heißt es in einer zeitgenössischen Untersuchung, hätte sich »im wesentlichen auf professionelle Sozialberatung reduziert,« sei in »traditioneller Sozialarbeit mit allen ihren selektierenden Anteilen kanalisiert« bzw. Selbsthilfe sei der Schwere der Probleme nicht angemessen: die »zur Programmformel hochstilisierte Selbsthilfe prallt im Arbeitslosigkeits- und Armutsbereich an der sozialen Wirklichkeit (…) ab. Der Verweis auf Selbsthilfe kann für einen längerfristig Arbeitslosen auch als blanker Zynismus erscheinen.«189 Beratung bedeutete für die damaligen Aktiven in den Arbeitslosenzentren nicht, »Selbstbestimmung« oder »Selbstführung« eines Klienten zu steigern, wie es gegenwärtige soziologische Kritik an Beratungsindustrien formuliert.190 Beratung von Arbeitslosen war vielmehr Teil der Professionalität hauptamtlicher Mitarbeiter, mit der sie versuchten, der sozialen Realität zu begegnen. Euphorische Anfangserwartungen von revolutionär-politischer Mobilisierung von Arbeitslosen, häufig im nostalgischen Rückblick auf die Anfänge einer »selbstbestimmten« Arbeitslosenarbeit, die »kämpferische Zeit, da stand alles oder nichts auf dem Spiel« formuliert, prallten schnell ab an den prekären Lebenslagen einiger Arbeitsloser.191 Langfristig arbeitslos, älter, oft invalide und arbeitsunfähig, teilweise in schwierigen Wohnverhältnissen untergebracht, ohne Familien, suchtkrank und jahrelange Behördenkarrieren hinter sich, forderten

186 Vgl. Heike Fricke, »Das AB -Mariechen«, in: Arbeitslos  – was ist das bloß, S. 48–53; Wolski-Prenger / Rothardt, Soziale Arbeit mit Arbeitslosen, S. 131, 132 f.; Heinelt / Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover., S. 114; Finkeldey, Armut, Arbeitslosigkeit, Selbsthilfe., S. 103; ABM – befristet bis in alle Ewigkeit, in: Lutz Finkeldey / Christiane Hoppe / Herbert Kant (Hrsg.), Arbeitslosenzentrum Hannover Bericht 1985/86. Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt, Hannover [1986], S. 14–18. 187 Jobst du Boisson, Auch das Arbeitsamt hat Grenzen  – Vom Nutzen des Arbeitslosen Zentrums aus Sicht der Arbeitsverwaltung, in: Arbeitslos – was ist das bloß, S. 110–114, hier: S. 114. 188 Herbert Kant-Bohlin / Jörg Reuter-Radatz, Was wir wollen – und was von uns erwartet wird, in: Arbeitslos – was ist das bloß, S. 42–47, hier: S. 46. 189 Heinelt / Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover, S. 10; Heinelt / Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover. Eine Einrichtung zwischen Selbsthilfe und Institutionalisierung, in: Badura / Blanke u. a. (Hrsg.), Die Zweite Stadt, S. 213–231, hier: S. 231. 190 Vgl. Stefanie Duttweiler, Beratung, in: Ulrich Bröckling / Susanne Krasmann / Thomas Lemke (Hrsg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt / Main 2004, S. 23–29. 191 Heinelt / Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover. Eine Einrichtung, in: Blanke /  Badura u. a. (Hrsg.), Die Zweite Stadt, S. 222.

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sie beraterisches Krisenmanagement in kompromissbereiter Kooperation mit den Sozialbehörden heraus. Der Alltag in den Arbeitslosenzentren war vom Umgang mit so genannten »Dauerbenutzern« geprägt, denen man durchaus abschätzig begegnete. »Mangel an Eigeninitiative und Fantasie«, »Alkoholismus und niedriger Ausbildungsstand«, »Unzuverlässigkeit vieler Arbeitsloser«  – so die harschen Urteile zu Arbeitslosen in einer allgemeinen Befragung zu Arbeitsschwierigkeiten in den Arbeitslosenzentren, die eine Mitarbeiterin im Arbeitslosenzentrum Hannover aporetisch zuspitzte: Also, ich denke so, daß ich nicht in der Lage bin, einige Arbeitslose, die hierher kommen, den ganzen Tag zu ertragen. (…) Weil das Problem sich auch nicht auflöst, das bleibt gleich, ich kann mich mit denen unterhalten, und ich kann auch versuchen, was zu machen, aber das ändert sich auch nicht.192

Problemorientierte Sozial- und Rechtsberatung in schwierigen Leistungsfällen, aber auch kurzfristige Rechtsberatung für ein Klientel, das die Arbeitslosenzentren nur punktuell nutzte, bestimmten den subjektiven Handlungsspielraum der Mitarbeiter. Auf die Frage nach der Besonderheit des Arbeitslosenzentrums antwortete eine langjährige Mitarbeiterin: »In der Beratung. In der Beratung von Menschen, die erstmal hilflos sind (…). Überhaupt die Möglichkeit, was alles machbar ist, einem zusteht, denen das beizubringen.«193 Im weiteren Betrieb der Zentren zogen diese fürsorglichen Subjektivierungsadressierungen indes Routinierungseffekte in zweierlei Hinsicht nach sich: Besucher des Zentrums verließen sich auf die Hilfe »ihrer« Berater (»wenn ich jetzt mal irgendwas habe, gehe ich zum X. [einem der Hauptamtlichen] und der erledigt das dann für mich«), während die hauptamtlichen Mitarbeiter in der Wahrnehmung der Arbeitslosen dazu neigten, im Beratungsalltag »nach Schema F.«, bürokratisch und zweckrational mit Terminvergabe zu verfahren.194 Beide Seiten, Berater und Arbeitslose, hatten sich gewissermaßen in routinierter Fürsorglichkeit eingerichtet. Politische Vorstellungen und Aktivitäten waren zurückgefahren worden und dies sei, so die verbreitete Meinung von Zeitgenossen, auch auf die kirchliche Trägerschaft des Arbeitslosenzentrums zurückzuführen, die »Kirche hätte wohl einen starken Drang, das Thema (Arbeitslosigkeit, d. Verf.) auf ihrer eigenen Ebene abzuhandeln – in ihrer betreuenden und versorgenden Funktion,« aber nicht, um »die Leute zu befähigen, etwas mehr aktiv daraus zu machen.«195 Trotz anderslautender Aussagen von Hauptamtlichen in der Arbeitslosenarbeit,

192 Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekte zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 81; Heinelt / Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover, S. 60. 193 Ebd., S. 44. 194 Ebd., S. 45, 49. 195 Ders., Das Arbeitslosenzentrum Hannover. Eine Einrichtung zwischen Selbsthilfe und Institutionalisierung, in: Blanke / Badura u. a. (Hrsg.), Die Zweite Stadt, S. 226.

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in der Regel Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, die versicherten, solidarisch und politisch, die Interessen von Arbeitslosen zu vertreten, waren sie dennoch primär sozialpädagogischer Dienstleister für die Arbeitslosen und räumten selbst ein: »ohne dabei gesellschaftlich verändernd Einfluß nehmen zu wollen.«196 Sie kritisierten Staat und Gesellschaft, die sich »aus materieller, sozialer Verantwortung zurückziehen und den einzelnen (sic)  auf sich selbst verweisen« würden, perpetuieren aber dennoch die Perspektive auf den Arbeitslosen als vereinzeltes Subjekt in schablonisierenden Betrachtungen Arbeitsloser im Hinblick auf die Funktionalität ihrer eigenen, sozialen Arbeit.197 Teilweise aufgrund des Misserfolgs der eigenen Arbeitslosenarbeit, reagierten sie wiederum mit defizitären Charakterisierungen von Arbeitslosen: »Arbeitslose im ALZ erscheinen entweder als hilfe- oder organisierungsbedürftige ›Typen‹, oder aber als ›Macher‹, die ein ›zeitlich‹ beschränktes Engagement anderer Arbeitsloser (eine dritte Gruppe?) zurückdrängen.«198 Welchem Typus der oder die Arbeitslose auch zugeordnet würde, es wäre immer an ihm oder an ihr zu beweisen, sein oder ihr Schicksal bewältigen zu können. Die Erfolgsaussichten des Unterfangens wurden gering eingeschätzt: »von selbst sind nur wenige Dauerarbeitslose bereit und in der Lage, sich aktiv für die Verbesserung ihrer Lebenslage einzusetzen.«199 Überzogene Erwartungen an das »revolutionäre Subjekt« des Arbeitslosen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten, taten ein Übriges, die Arbeitslosenarbeit politisch und pädagogisch zu überfrachten und Arbeitslosen Passivität zu unterstellen. In den Aussagen von Arbeitslosen, die für die SOFI-Untersuchung zu den »Sozialstrukturellen Auswirkungen der Arbeitsmarktkrise« gefragt wurden, ob die örtlichen Arbeitslosen-Selbsthilfegruppen bekannt und von Nutzen seien, bestätigt sich der Eindruck geringer Selbstwirksamkeit aller Beteiligten.200 In der Regel waren die vorwiegend nicht-akademischen Berufsfeldern entstammenden Arbeitslosen an örtlichen Selbsthilfeinitiativen nicht interessiert. Die Arbeitslosenarbeit wurde verbreitet als »Gelabere«, »therapiemäßig«, »halbe Gruppentherapie« oder »Imagepflege« von Leuten, die »in der Zeitung stehen« wollten, beschrieben.201 Die »Vertröstungs-Tour« von »schmuddeligen (…) Sozialpädagogen« ablehnend, distanzierte man sich vom Stigma psychischer Probleme, die Arbeitslosen unterstellt würden bzw. die von den Befragten mit Selbsthilfe in Verbindung gebracht wurden: »Ich brauche keinen [Anreiz]. (…) Ich bin psy196 Vgl. Kant-Bohlin / Reuter-Radatz, Was wir wollen  – und was von uns erwartet wird, S. 42–47. 197 Vgl. Finkeldey, Armut, Arbeitslosigkeit, Selbsthilfe, S. 58; Heinelt / Macke, Das Arbeitslosenzentrum Hannover, S. 60–62. 198 Ebd., S. 51. 199 Wolski-Prenger / Rothardt, Soziale Arbeit mit Arbeitslosen, S. 127. 200 Frage im Leitfaden vgl. Kronauer / Vogel / Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft, S. 260. 201 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interviews Nr. N 1, S. 16; N 56, S. 20; U 62, S. 20.

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chisch stabil,« betonte ein Arbeitsloser, der für sich selbst sorgte, indem er unter anderem seine horrenden Schulden nach Autokauf durch inoffizielle Tätigkeiten als Nachtwache abbezahlte und auf seine Umschulung zum Krankenpfleger wartete.202 Diejenigen Arbeitslosen, die sich in den Befragungen des Göttinger SOFI anerkennend zur Arbeit der Arbeitsloseninitiativen äußerten, schätzten in der Regel pragmatische Hilfsangebote der Projekte. Politische Zielsetzungen oder individuelle Selbstermächtigung in Beratungsgesprächen der Initiativen wurden anerkennend erwähnt, vorrangig war jedoch, dass konkrete Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche oder in Rechtsangelegenheiten erfolgte.203 Auffallend sind Hinweise von Interviewten auf persönliche Bekanntschaften mit Mitarbeitern der Arbeitsloseninitiativen, was zu deren positiver Einschätzung beigetragen haben mag, aber auch davon zeugt, dass es Arbeitslosen darum ging, ihre eigene Handlungsmacht herauszustellen und sei es als »Netzwerker«, der die »richtigen Leute« kennt. Eben dies wird argumentativ überwiegend gegen die Arbeitslosenprojekte gewandt. Selbst Arbeitslose, die sich selbst aufgrund ihres Alters keine Chancen mehr auf dem Arbeitsmarkt einräumten, sahen sich nicht als Zielgruppe von Selbsthilfe. So ein 55-jähriger ehemaliger Außendienstmitarbeiter, der nach eigenen Angaben erheblich unter finanziellen Einbußen als Bezieher von Arbeitslosenhilfe litt und dem die Arbeitsloseninitiative seines Wohnortes zu wenig erwerbsorientiert agierte: Aber ich glaube, daß mir das nichts bringt, man müßte mir konkret etwas sagen. Also ich meine auch in Richtung Arbeitsplatz. Ich denke, daß ist vielleicht etwas für Leute, die Kontakte brauchen, die eine moralische Unterstützung oder so etwas wie einen Gesprächskreis brauchen. Ich brauche sowas sicher nicht. Ich habe genug Kontakte und eben auch einen entsprechenden Freundeskreis. Und dort bei diesen Selbsthilfegruppen, da werden ja auch keine Arbeitsplätze angeboten.204

Unabhängige Arbeitslosenprojekte, die sich in den frühen 1980er-Jahren in der autonomen bzw. alternativen Szene bildeten, konnten mit Erwerbsarbeit auch nicht dienen, sprachen sie sich doch fundamental gegen eine Erwerbsorientierung von Arbeitslosenhilfen und für Selbsthilfe und Selbstorganisation aus.205 Hingegen bezogen sie, wie bereits im Kapitel zur Rechtsvertretung von Arbeitslosen durch diese Gruppen ausgeführt, eindeutig politische Position. Die Selbstorganisation war für diese Initiativen, personell und organisatorisch mit der »autonomen Be202 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interviews Nr. N 26, S. 29; N 81, S. 21. 203 Vgl. Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interviews Nr. N 58, S. 25 f.; N 60, S. 24; U 15, S. 16; U 26, S. 26. 204 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 29, S. 23. 205 Vgl. Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekte zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 231–240; ders., »Niemandem wird es schlechter gehen…!«, S, 63–71; Rein, Proteste von Arbeitslosen, S. 593–61; Finkeldey, Armut, Arbeitslosigkeit, Selbsthilfe, S. 82; Wolski-Prenger / Rothardt, Soziale Arbeit mit Arbeitslosen, S. 158−161.

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wegung« im nordwestdeutschen Raum (Oldenburg, Bremen, Hamburg) oder der Frankfurter Sponti-Szene verzahnt, politisches Programm. Im Sinn der »autonomen Bewegung« war das autonome Subjekt in kämpferischer Pose gegen das kapitalistische System und seine Organe ihr leitendes Handlungsmotiv. Die Hamburger Erwerbslosen- und Jobberinitiative, die in enger Verbindung zur Hausbesetzerszene in St. Pauli stand, nannte sich »Schwarze Katze«, dem Symbol der »Industrial Workers of the World«, einer Gewerkschaft, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in den USA gegründet hatte und für vernachlässigte Gruppen der traditionellen Arbeiterbewegung eintrat: Frauen, Ungelernte, Wanderarbeiter oder Afroamerikaner. An deren »Kampfform[en] (…) wilde Streiks, direkte Aktion, Sabotage, kollektive Aneignung« wollte man sich anlehnen in Form »dezentrale(r) autonome(r) Netze der gesellschaftlichen Selbstorganisation ohne Sozialarbeiter und ohne grün-alternative Verwalter,« wie es der theoretische Kopf der autonomen Erwerbsloseninitiativen Karl Heinz Roth formulierte.206 Die autonomen Gruppen distanzierten sich also nicht nur von der Arbeitsgesellschaft und ihrer Erwerbsorientierung, sondern auch von alternativer Projekt- und Subsistenzökonomie, die Prekarität und Ausbeutung nur verschleiern würde. Gegenmodell der autonomen Initiativen war ein bewusst instrumentelles Verhältnis zu Erwerbsarbeit und Sozialleistungen. Wie erwähnt, informierten die Aktivisten über die Rechtslagen von AFG und Sozialrecht und riefen zum offensiven Umgang mit Arbeits- und Sozialbehörden in Rechtsangelegenheiten auf. Ihre Renitenz ging aber noch einen Schritt weiter. Kurzfristige »Jobberei« und unangemeldete Erwerbsarbeit sowie das »vollständige Ausnutzen der sozialen Hängematte« sollten Autonomie im Lebensunterhalt soweit wie möglich sichern.207 Der Schulterschluss der linken Szene mit den Arbeitslosen erfolgte aus hegemonialstrategischen Gründen. Man hatte die Arbeitslosen »als zu bewegende Masse« politisch entdeckt, um neu »den Kampf gegen die Arbeit, den Kampf vom Klassenstandpunkt aus zu organisieren.«208 Arbeitslosigkeit galt funktional als ein »abstrakter Mobilisierungspunkt« für linksalternative Politik und Projekte.209 Ziel der Initiativen war es deshalb nicht, in Erwerbsarbeit zu kommen, sondern das Überleben in der Arbeitslosigkeit erträglich zu gestalten. Daneben planten sie, mit gezielten Provokationen, Regelverletzungen und Gesetzesübertretungen öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. Aktivisten der Hamburger Jobber- und Erwerbsloseninitiative nahmen einzelne Sachbearbeiter des Sozialamts ins Visier, denen mangelnde Information über zustehende Rechte, 206 Anzeige »Schwarze Katze«, in: Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft N. F. 11 (1982) erste Umschlagseite; Roth zitiert nach: Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekte zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 237. 207 Afas-Archiv Duisburg, Arbeit für alle oder Abschaffung der Lohnarbeit. Hrsg. v. d. Initiative Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Jobber, Ausländer, 12/1982, S. 1 f. 208 Afas-Archiv Duisburg, Libertäre Tage. Von sozialen Bewegungen zur sozialen Revolution in Frankfurt. 16.4. bis 20.4. [1987], S. 4. 209 Ebd.

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Arroganz oder anderes Fehlverhalten vorgeworfen wurde, besetzte deren Büros bzw. hielt sich mit zehn bis 50 Initiativmitgliedern auf den Amtsfluren auf mit dem langfristigen Ziel, »bestimmte Sachbearbeiter abzusägen.«210 Im Oldenburger Arbeitsamt hatten derartige Aktionen zur Folge, dass von der Amtspraxis, die Existenz »eheähnlicher Gemeinschaften« per Hausbesuch zu überprüfen, abgesehen wurde.211 Arbeitslose Frauen organisierten 1985 bundesweit die Aktionswoche »Frauen melden sich arbeitslos«, um auf die oftmals mit Hausarbeit und Kindererziehung versteckte Erwerbslosigkeit von Frauen aufmerksam zu machen. Mitglieder der Hamburger »Schwarzen Katze« praktizierten kalkulierte Bagatelldelikte und nutzten zum selbst deklarierten Nulltarif öffentliche Verkehrsmittel (provokatives Schwarzfahren), besuchten Schwimmbäder, Theater und Museen, ohne Eintritt zu zahlen oder aßen umsonst in der Kantine des Sozialamts.212 Mit den Aktionen unterstrich man die konkrete Forderung nach Null-Tarifen im öffentlichen Nahverkehr und freien Eintritt in Kultur- und Erholungseinrichtungen für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Darüber hinaus sollten solche Selbstermächtigungen über die allgemeine Rechtsordnung hinaus demonstrieren, dass Arbeitslose nicht wehrlos seien, dass sie sich nicht reibungslos in die Privatheit und Passivität ihrer Arbeitslosigkeit einfinden. Inwiefern die Proteste allerdings lediglich eine in »Kauf genommene Selbstschädigung« seien, für die man »tugendhaft in den Knast geht«, die gesellschaftlich aber wirkungslos blieben, und damit die Stilisierung als »revolutionäres Subjekt« letztlich ins Leere zielte, war in den Arbeitslosenbewegungen durchaus umstritten.213 Der nachweisbare Erfolg der selbstverwalteten Initiativen war gering: »Nulltarifkampagnen, Flugblätter vor den Ämtern, Erwerbslosenfrühstück« konnten »keinen Hund (…) hinterm Ofen« vorlocken.214 Die Rebellion des arbeitslosen Subjekts kam an der eigenen gesellschaftlichen Marginalität in der Arbeitsgesellschaft letztlich nicht vorbei. Mangelnde Partizipation war ein Grundproblem der Arbeitsloseninitiativen, gleich ob autonom linkspolitisch oder erwerbsarbeitsorientiert.215 Perspektivisch zeigen diese Gruppen aber vo210 Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekte zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 239; ähnlich: afas-Archiv Duisburg, Erwerbslosen und Jobberinfo. Hrsg. v. d. Erwerbslosen- und Jobberinitiativen 18/1986, S. 2. 211 Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekte zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 234 f. 212 Ebd., S. 239 f. 213 Thomas Ebermann, Friedensbewegung und Arbeitslosenbewegung. Aktionsformen in den 80-iger Jahren, in: Lutz Finkeldey / Herbert Kant / Helmut Metzger u. a. (Hrsg.), Wohin mit der Arbeitslosenbewegung? Tagung vom 11. bis 31.1.1984 in der Ev. Akademie Loccum. Arbeitslosenzentrum Hannover 1984, S. 56–67, hier: S. 62 f.; Diskussion im Anschluß an die Podiumsbeiträge vom 11.1.1984, in: ebd., S. 68–71; Bericht Arbeitsgruppe 1. Ziele und Situation der Arbeitslosenbewegung, in: ebd., S. 72–75. 214 Afas-Archiv Duisburg, Libertäre Tage. Von sozialen Bewegungen zur sozialen Revolution in Frankfurt. 16.04. bis 20.04.[1987], S. 4. 215 Vgl. hierzu: Finkeldey, Armut, Arbeitslosigkeit, Selbsthilfe.

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raus in die Debatten der 1990er-Jahre, als Arbeitsloseninitiativen im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 und der folgenden Auseinandersetzungen um die Repressionen der »Hartz IV-Gesetze« begannen, Lohnarbeit als solche medienwirksamer infrage zu stellen.216 Die skizzierten Arbeitslosenprojekte machen eines deutlich: eine geschlossene, politisch übergreifend konsensfähige Arbeitslosenbewegung existierte in der Bundesrepublik nicht. Gemeinsame Anliegen zwischen der Beratungstätigkeit der Kirchen, den Mobilisierungsversuchen der Gewerkschaften und den politischen Anliegen der autonomen Gruppen waren nur diffus zu erkennen. Die Bündnisproblematik der Arbeitslosenprojekte war deshalb auch Thema auf den beiden bundesweiten Treffen von Arbeitslosen 1982 in Frankfurt und 1988 in Düsseldorf. Der Frankfurter Kongress zählte ca. 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer und war von Arbeitslosen für Arbeitslose organisiert worden.217 Im Format von Plenumsvorträgen und Arbeitsgruppen entwickelten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Positionspapiere und Erklärungen zu Themen wie Frauenarbeitslosigkeit, Arbeitsverpflichtungen für Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslosigkeit, Gesundheit und Krankheit.218 Daneben stellten sich einzelne Arbeitsloseninitiativen vor. »Arbeitslos, nicht wehrlos« war das Motto des Kongresses, der sich allerdings in Anspruch und Auftreten bescheiden ausnahm. Im Vorwort der Kongresspublikation heißt es zu den Ergebnissen des Treffens, durchaus esoterisch angehaucht, die verschiedenen Arbeitslosengruppen hätten sich in einer »momentanen Ganzheit kennengelernt«.219 Ferner sei das »Ziel (…) Hoffnungen freizusetzen und Mut zu machen (…) ganz gut gelungen.« Die verzagte Rhetorik der Veranstalter wurde von der bürgerlichen Presse genüsslich aufgegriffen und die Arbeitslosen politisch marginalisiert. In der Wochenzeitung »Die Zeit« wurden sie mit »Friedensbewegten und Atomkraftgegnern« verglichen, nur unfröhlicher, grauer, verbissener. (…) Immer wieder gifteten sich Leute mit unterschiedlichen Meinungen und Ansichten so an, daß einem die Berliner Hausbesetzer als vergleichsweise ma nierliche Tanzstunden-Schüler vorkommen konnten.220

Moralisch diffamierend zog der Autor des Artikels darüber her, dass »sich die besonders Verzweifelten mit Bier und dröhnender Rock-Musik« betäubten und

216 Vgl. Rein, Proteste von Arbeitslosen, S. 601 f. 217 Vgl. 1. Bundeskongreß der Arbeitslosen. Protokolle, Presse, Fotos, Initiativen… Frankfurt / Main 1983; Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekte zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 241–255. 218 Vgl. Rein, Proteste von Arbeitslosen, S. 599 f. 219 Hierfür und folgendes Zitat: 1. Bundeskongreß der Arbeitslosen, S. 8. 220 Klaus Pokatzky, Ein Kongreß der Frustrationen. Eine neue Bewegung wurde nicht aus der Taufe gehoben, in: Die Zeit, 10.12.1982. Abgedruckt in: 1. Bundeskongreß der Arbeitslosen, S. 257–260, hier: S. 258; ähnlich: Roland Klein, Auf den DGB können wir verzichten. Erster »Arbeitslosen-Kongreß« in Frankfurt, in: ebd., S. 256.

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»viele (…) frühmorgens schon mit der Flasche Bier« herumliefen.221 Ein »alternatives Arbeitslosen-Festival war das nicht«, fasste der Autor seine Eindrücke zusammen, mit denen er doch nur Klischees von Arbeitslosen als trägen und pessimistischen Outsidern reproduzierte.222 Ähnlich kommentierte der DGB. Lediglich mit einem Grußwort eines GEW-Sekretärs auf dem Kongress ver­ treten, distanzierten sich die im DGB dominanten Industriegewerkschaften von der Veranstaltung und kritisierten die mangelnde Präsenz von »Malochern« und arbeitslosen Handwerkern.223 Der Kongress sei eine Angelegenheit von »Arbeitslosenfunktionären«, »vor allem Akademiker (…) Lehrer, Sozialarbeiter und ­Diplom-Politologen«, gewesen.224 Die Hoffnungen einiger Teilnehmer auf eine breite Arbeitslosenbewegung nach dem Bundeskongress erfüllten sich in den Folgejahren nicht.225 Eine Vernetzung von Arbeitslosenprojekten beschränkte sich auf die von Arbeitslosigkeit besonders betroffenen Regionen Nord- und Westdeutschlands. Auch deshalb wurde die defensive Grundhaltung auch beim zweiten Arbeitslosenkongress in Düsseldorf 1988 nicht aufgegeben, trotz einer Kooperation mit SozialhilfeInitiativen gegen Armut. Politisch mit Stellungnahmen für ein allgemeines, bedingungsloses Existenzgeld nunmehr eindeutiger positioniert, standen dennoch Bündnisproblematiken zwischen den Initiativen im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Im Kulturprogramm konnten sich später kommerziell erfolgreiche Unterhaltungskünstler profilieren (Marlene Jaschke, Helge Schneider), die Bilanz des Kongresses, diesmal seitens der Veranstalter, war dennoch durchwachsen: es sei »nicht die Power« aufgekommen, »die den ersten Arbeitslosenkongreß 1982« gekennzeichnet hätte, hingegen seien die Tage, Streit wurde »um jeden Preis vermieden«, von einer »leicht faden Harmonie« durchzogen gewesen.226 Die Dilemmata der Arbeit an der Arbeitslosigkeit in den 1980er-Jahren zeigen sich hier noch einmal sehr deutlich: die geringe Partizipation durch Arbeitslose, aber vor allem der defensive Grundzug der Arbeitsloseninitiativen. Wurde schon die Lebenslage des einzelnen Arbeitslosen gesellschaftlich verbreitet als defizitär eingestuft, d. h. als volkswirtschaftlich alimentiert und sozial randständig diffamiert, hatten die Arbeitslosenprojekte sich stets damit auseinanderzusetzen, 221 Pokatzky, Ein Kongreß der Frustrationen, S. 258. 222 Ebd., S. 258. 223 Vgl. Willi Dörr, Wo waren denn die Malocher über 50? Arbeitslosenkongreß fordert vom DGB Unterstützung, in: Welt der Arbeit, 09.12.1982. Abgedruckt in: 1. Bundeskongreß der Arbeitslosen, S. 260 f. 224 Ebd., S. 261. 225 Vgl. Wolski-Prenger, Arbeitslosenprojekte zwischen sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, S. 255–277. 226 Düsseldorf: Ein schönes Fest für 1.500 Arbeitslose, in: Quer. Überregionale und unabhängige Zeitung für Arbeitslose 4 (1988), 7, S. 1–7, hier: S. 1 f.; vgl. auch: 2. Bundeskon­ greß der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut. Das Kongreß-Programm, in: Quer. Überregionale und unabhängige Zeitung für Arbeitslose 4 (1988), 6, S. 7–10.

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dass es sie eigentlich nicht geben sollte, da sich niemand in der Arbeitslosigkeit dauerhaft einrichten sollte.227 Selbst beim offensiven Einfordern von Systemänderung, wie die Forderung nach bedingungslosem Existenzgeld der Sozialhilfe-Initiativen oder der Polemik gegen Erwerbsarbeit der autonomen Gruppen war der soziale Begründungszusammenhang dieser Forderungen, die Arbeitslosigkeit, abhandengekommen. Es wundert daher nicht, dass die Arbeitslosenbewegungen in ihrer Verbreitung wie in ihrer soziokulturellen Wirkmächtigkeit bis heute in der Forschung zu Neuen sozialen Bewegungen der Bundesrepublik kaum vorkommen, zudem die soziale Bedingtheit »postmaterieller« Themen in der Forschung zu sozialen Bewegungen lange kaum eine Rolle spielte.228

3.2 Großbritannien: Konflikt und Initiative In Großbritannien umfasste das Verständnis von Arbeitslosenprojekten, die sich gleichfalls vor allem in den frühen 1980er-Jahren formierten, einerseits ein breiteres Spektrum. So zählte als »Unemployment Action« die regionale Behörde für Weiterbildung Schottlands im Jahr 1982 ca. 300 mehr oder minder erfolgreiche Initiativen auf, darunter Projekte, die erwerbsorientiert Jobs organisierten, Aus- und Weiterbildungsangebote, Selbsthilfeinitiativen und Beratung, Freizeitangebote in den Bereichen Kunst, Handwerk und Sport, Freiwilligenarbeit sowie Projekte, die Erwerbsarbeit ablehnten.229 Ein Verzeichnis der »Church Action with the Unemployed« enthält 100 Projekte, an denen protestantische Kirchen (Anglikaner, Reformierte, Methodisten oder Baptisten) oder kirchliches Personal beteiligt war.230 Die vorwiegend in England angesiedelten Projekte waren überwiegend über MSC-Mittel und -Programme (Youth Training Schemes, Community Programme) organisiert. Ein Drittel der Initiativen förderte die Gründung von Kleinunternehmen, um Arbeitslose wieder in Erwerbsarbeit zu bringen. Rund 50 Projekte waren seit den frühen 1980er-Jahren als Arbeitslosenzentren mit regelmäßigen Angeboten zu Beratung, Weiterbildung, Freizeitgestaltung oder zwanglosen Treffen ausgelegt. Überwiegend wurden Arbeitslosenzentren jedoch, anders als in der Bundesrepublik, vom britischen Gewerkschaftsbund TUC getragen. Auf seinem jährlichen Kongress 1980 hatte der TUC beschlossen, dem Thema Arbeitslosigkeit eine eigene Konferenz zu widmen, auf der dann die Unterstützung lokaler Treffpunkte und Aktionszentren zur Unterstützung von Arbeitslosen (»Unemployed 227 Vgl. Finkeldey, Armut, Arbeitslosigkeit, Selbsthilfe, S. 50, 93. 228 Vgl. Rein, Proteste von Arbeitslosen, S. 595. 229 Vgl. Unemployment Action. A Selection of Unemployment Initiatives. An Annotated Directory of Community Based Responses to Unemployment. Hrsg. v. Scottish Community Education Centre, Edinburgh 1982. 230 Vgl. Action on Unemployment. 100 Projects with Unemployed People. Hrsg. v. Church Action with the Unemployed, London 1984.

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Workers’ Centres«) vereinbart wurde.231 Das erste Arbeitslosenzentrum war bereits 1977 in Newcastle vom Newcastle’s Trades Council begründet worden. Wie die kirchlichen Einrichtungen waren auch die von den Gewerkschaften getragenen Zentren vorwiegend über MSC-Programme sowie aus kommunalen Mitteln finanziert. Die Zentren verbreiteten sich rasch. Bestanden 1981 knapp 50 in England, Schottland und Wales, waren es 1986 bereits 210, davon 160 in England, 30 in Wales und 20 in Schottland. Nach der Abschaffung der MSC bzw. Umbenennung in Training Agency sowie aufgrund kommunaler Sparprogramme wurden Ende der 1980er-Jahre zahlreichen Zentren geschlossen, teilweise bestehen sie aber bis heute. Die Zentren variierten in Größe und Ausstattung. Waren einige Zentren disparat untergebracht und personell unterbesetzt, arbeiteten in anderen bis zu zwölf hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in komfortablen Räumlichkeiten. Die Arbeit der Zentren war grundsätzlich derjenigen der Arbeitslosenzentren in der Bundesrepublik ähnlich. An erster Stelle stand die Beratung der Betroffenen in Sozial- und Rechtsangelegenheiten. Weiterbildung, Freizeitgestaltung oder allgemeine Information waren weitergehende Angebote.232 Die Bandbreite der Kursaktivitäten reichte von Theatergruppen, Zeichen- und Malkursen über Floristik bis zu Lokalgeschichte.233 Für Sport und therapeutische Beratung kooperierten die Zentren mit jeweiligen Einrichtungen vor Ort. Weiterbildung war teilweise an etablierte Institutionen der Erwachsenenbildung angegliedert (Northern College / Barnsley, Coleg Harlech, Ruskin College / Oxford). Die Arbeitslosenzentren des TUC bewegten sich in ihrer Arbeit von Beginn an auf einem schmalen Grat zwischen sozialer Dienstleistung mit erwerbsorientierter Beratung in Loyalität zu staatlichen Sozialbehörden und Arbeitsverwaltung und politischer Mobilisierung im Interesse von TUC oder Labour Party, die den Förderungsauflagen der MSC eigentlich widersprachen. Dabei war unstrittig, dass die Zentren grundsätzlich Teil einer politischen Strategie waren, soziale Stabilität in den Kommunen zu wahren, die massiv von Arbeitslosigkeit betroffen waren. MSC und TUC waren sich einig, dass vor allem die »employability« von Arbeitslosen zu sichern sei. Dementsprechend wurden sowohl die Programme des MSC zur Arbeitsbeschaffung als auch die Aktivitäten von Gewerkschaften beworben.234 Die Zentren sollten nicht nur ein Ort von »tea and sympathy« sein.235 231 Vgl. Bagguley, From Protest to Acquiescence? S. 114–140; Forrester / Ward, Organizing the Unemployed; ders., Trade Union Services for the Unemployed; Paul Lewis, Trade Union Policy and the Unemployed, Aldershot 1990; Manlio Cinalli, Contention over Unemployment in Britain. Unemployment Politics versus the Politics of the Unemployed, in: Chabanet / Faniel (Hrsg.), The Mobilization of the Unemployed in Europe, S. 184 f. 232 Vgl. Forrester / Ward, Organizing the Unemployed, S. 50. 233 Vgl. z. B. London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Local TUCs, Waltham Forrest Centre for the Unemployed. [London] 1985. 234 Vgl. Forrester / Ward, Organizing the Unemployed, S. 50. 235 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Pamphlet Boxes, Keith Forrester / Kevin Ward, Servicing the TUC Centres for the Unemployed, Leeds 1985, S. 6; Jimmy Barnes, Unemployed Centres. A Critical View, [o. O. o. J.], S. 9.

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Inwiefern und für welche Zwecke politische Kampagnen mitgetragen bzw. initiiert werden sollten, darüber gingen die Meinungen jedoch auseinander. Akademische Beobachter bemängelten, wenn die Zentren schlicht als Treffpunkte zum Zeitvertreib genutzt wurden (»playing darts, fooling around, playing pool, organising football tornaments«), wohingegen Einrichtungen Anerkennung fanden, die sich politisch profilierten (»fighting welfare right cases and (…) campaigning over  a range of local issues«).236 In Informationsbroschüren der Anlaufstellen selbst stand außer Frage, dass sie als niedrigschwellige »drop-in«Einrichtungen allen Arbeitslosen offenstehen sollten, wie eine 17-Jährige aus Sheffield bezeugte: »it’s a good place to go to enjoy yourself and meet people.«237 Es ging hierbei vor allem darum, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen der Arbeitslosen wiederherzustellen (»restoring lost pride, dignity and confidence«) und Vereinzelungseffekte von Arbeitsplatzverlust mit Angeboten kollektiven Handelns abzumildern.238 Gleichfalls in Sheffield unterstützte das örtliche Arbeitslosenzentrum auch den Bergarbeiterstreik 1984/85 mit Informationsangeboten zu Streikrecht, rechtswidrigen Kündigungen, finanziellen Leistungen für Jugendlichen und bezüglich Wohnungslosigkeit und Hausbesetzung sowie sozialrechtlichen Probleme von Migranten.239 Andere Einrichtungen waren neutraler in ihrer Kampagnenarbeit und setzten sich für Ermäßigungen für Arbeitslose in Busse und Bahnen oder verminderten Eintritt in Freizeiteinrichtungen (Schwimmbad, Veranstaltungen) ein. Kerngeschäft der Arbeitslosenzentren blieben die hochfrequentierten Beratungen in Sozial- und Rechtsangelegenheiten. In Leeds stieg die Beratungsfrequenz innerhalb eines Jahres auf 320 Fälle im Jahr 1985, im walisischen Bangor waren es im gleichen Jahr sogar über 3.000.240 Mitarbeiter des Arbeitslosenzentrums im Londoner Stadtteil Southwark mahnten bereits an, sie könnten professionelle psychosoziale oder juristische Beratung nicht ersetzen.241 Ihr Einwand stellte aber auch auf die politische Schlagkraft der Arbeitslosenzentren im Sinn einer sozialen Bewegung ab, denn, um politisch etwas für Arbeitslose zu erreichen »[it] attempts to take a more collective approach than that based on a 236 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Pamphlet Boxes, Jimmy Barnes, Unemployed Centres. A Critical View, [o. O. o. J.], S. 10. 237 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Local TUCs, What the Users say, in: Sheffield Unemployed and Drop-In Centres. A Guide to the Centres for Unemployed People in Sheffield, Sheffield o. J., [S. 8]. 238 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Pamphlet Boxes, Graeme Huggan / Brian Maurice / Keith Williams, Setting up  a Centre for the Unem­ ployed, Harlech 1982, S. 1. 239 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Local TUCs, SCAU [Sheffield Centre Against Unemployment] Report 1984–85, Sheffield o. J.; ähnliche Aktionen für das Arbeitslosenzentrum in North Tyneside erwähnt: Hordt, Kumpel, Kohle und Krawall, S. 154 f. 240 Forrester / Ward, Organizing the Unemployed, S. 50. 241 London Metropolitan University Library, Special Collections TUC , Local TUCs, South­ wark Unemployed Centre. The First Year. [London 1983], S. 9.

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client / advisor relationship.«242 Offensichtlich wird, dass in den Arbeitslosenzen­ tren sozialpädagogische Konzepte offener, partizipativer Sozialarbeit, die an das Selbstbewusstsein des Einzelnen appellierten, um seine soziale Situation zu verbessern, mit Anrufungen konkurrierten, sich in das Kollektiv der »Community« der Arbeitslosen wie der lokalen Strukturen einzubringen. Selbstredend waren beide Ansätze auch Bestandteile von Empowerment-Strategien, Auswirkungen von Arbeitslosigkeit gouvernemental abzufedern.243 Von vornherein kämpferischer gaben sich die Aktivisten der so genannten »Claimants’ Union«, die sehr viel früher als die autonomen Arbeitslosenprojekte in Deutschland, nämlich bereits seit den späten 1960er-Jahren begannen, die Interessen von gewerkschaftlich Unorganisierten zu vertreten, schwerpunktmäßig von Frauen, Wohnungslosen und Langzeitarbeitslosen, die auf Sozialhilfe angewiesen waren. 1969 wurde in Birmingham die erste der Claimants’ Union von einer Handvoll sozialistischer Pädagogik-Studenten gegründet.244 Die Benennung erfolgte als Protest gegen den Social Security Act von 1966, der Bezieher von Sozialhilfe erstmals als »Claimants« bezeichnete. Die Bewegung der Claimants’ Union verbreitete sich nach eigenen Angaben zügig und war 1977 mit jeweils eigenen Koordinierungsstellen in Nord- und Südengland sowie Schottland und Wales vertreten.245 Mit der in den 1970er-Jahren ansteigenden Arbeitslosigkeit wurden die ­Claimants’ Unions zu Vertretungsinstanzen der Arbeitslosen, denen sie vor allem rechtliche Hinweise zu ihren Unterstützungsansprüchen sowie praktische Hilfestellungen im Umgang mit Behörden (Jobcentern, Auszahlungsstellen, Sozialbehörden) gaben. So wurden alleinerziehende Mütter oder alleinstehende Frauen über Visitationen von Sozialamtsmitarbeitern, die den Wohnungsstatus überprüfen sollten, aufgeklärt und Unterstützung durch anwesende Claimants’ Union-Aktivisten organisiert. Der dabei praktizierte Subjektivierungsmodus kommt dem eines »revolutionären Subjekts« nahe, heruntergebrochen auf alltägliche Guerillakämpfe auf dem Amt. Vorrangiges Instrument, die Interessen der Mandanten durchzusetzen, war die amtliche Beschwerde unter prekären Bedingungen. Die teilweisen rabiaten Verhandlungsmethoden der Claimants’ Union, z. B. ihre Mandanten in Lumpen und zerfetzter Kleidung zu präsentieren, um ihre Bedürftigkeit zu beweisen, waren aber nicht immer sachdienlich. Sowohl die Sozialbehörde als auch die Aktivisten der Claimants’ Unions berichteten von Konflikten, die bereits bei simpler Amtsbegleitung auftraten. Joe 242 Ebd. 243 Vgl. Bröcklings Kritik an »Empowerment«-Bewegungen, auch der 1960er- und 1970erJahre: Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 180–214; anschließend an Cruikshank zum »War on Poverty« der 1960er-Jahre, vgl. Cruikshank, The Will to Empower, S. 67–86. 244 Hilary Rose, Up against the Welfare State: the Claimants Unions, in: Social Register 10 (1993), S. 179–203. 245 Vgl. Claimants Union Guidebook. A Handbook from the Claimants Union Movement, Birmingham [1977], S. 45.

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Kenyon, Mitbegründer der Claimants’ Union und seit den 1930er-Jahren erfahrener Aktivist der kommunistischen Arbeiterbewegung, erinnerte sich, dass er bei Betreten der Sozialbehörde oder des Arbeitsamts grundsätzlich Aufruhr ausgelöst habe: »In fact, it’s very unusual for me to go into an office without at least two people coming running round – the manager or someone – screaming like maniacs, ›Get out, get out,‹ and then sending for the police to put me out.«246 Berichte der Sozialbehörden bestätigten diese Erzählung aus ihrer Perspektive, allerdings hätten die lautstarken Demonstrationen, Sit-Ins, Beschwerden und Provokationen der Claimants’ Union »generally involve some disruption of office routine« und den Angestellten absichtlich die Arbeit erschwert.247 Es sei gar ihre Strategie gewesen, »unlikely to win approval by the staff subjected to the allegation of rudeness.«248 Die Aktivisten bemängelten lückenhafte Beratung durch die Sozialbehörde, verzögerte Auszahlung von Unterstützung oder fehlende Formulare. Antragstellern stellten sie Vordrucke zur Verfügung, um Ansprüche leichter geltend machen zu können. Nicht immer war klar, wieviel und in welcher Form Überzeugungsarbeit geleistet wurde, Antragsberechtigte, unter denen viele Analphabeten waren, davon zu überzeugen, bereits ausgefüllte Vordrucke lediglich zu unterschreiben oder anderweitig Widersprüche geltend zu machen.249 Die Claimants’ and Unemployed Workers’ Union von Bath sorgte im Frühjahr 1971 für behördlichen Unmut, als sie in der Behörde lautstark auftrat, Informationsplakate hochhaltend und Tee an die Wartenden austeilend.250 Im Regionalfunk von Stoke-on-Trent wurde im April 1970 gemeldet, dass im Stadtteil Hanley Claimants’ Union-Anhänger für einen Teekocher und Sanitäranlagen im Wartebereich des örtlichen Sozialamts demonstrierten. Die Aussage eines Unterstützungsempfängers, dessen Wartezeit auf dem Amt sich auf insgesamt fünf Stunden verlängert hätte, da er zwischendurch die öffentliche Toilette im Einkaufszentrum aufsuchen musste, ist eindeutig: (…) in this situation, it made me feel vulgar. I felt Oh! Gosh, what I’m I to do? (…) It’s an act of nature it’s essential. We are not asking for a shower bath, hot and cold water, and a sauna bath. All we want is respect. What we want is an act of respect to the people who must attend the Social Security for some reason.251

246 Joe Kenyon, Claimants and Unemployed Workers Union, in: ders. / Tony Gould (Hrsg.), Stories from the Dole Queue, London 1972, S. 169–178, hier: S. 170. 247 TNA AST 36/99, Westbey, Study of Claimants’ Union, S. 12; Assistant Manager an den Manager Stoke North, Subject: The Claimants’ Union, 29.04.1971. 248 TNA AST 36/99, F. H. Roseblade an SB1 Alexander Fleming House, London 11.08.1971. 249 Vgl. TNA AST 36/99, Westbey, Study of Claimants’ Union, S. 3; Union Hawley an das Department of Health and Social Security in der Sache E. K. Hughes, März / April 1971; zum Analphabetismus: Fulbrook, Administrative Justice and the Unemployed, S. 288. 250 Vgl. z. B. TNA AST 36/99, C.  Beltram to Department of Health and Social Security, 27.07.1971, S. 1. 251 TNA AST 36/99, Report from Radio Stoke, 28.04.1970.

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Die Reaktion des Amts ist in diesem konkreten Fall nicht überliefert. Durchaus selbstkritisch gemahnte man innerhalb der Sozialbehörde zur Mäßigung im Umgang mit den Claimants’ Unions (»to play it very coolly indeed«), denn schließlich gelte: »in democratic societies people have the right to form associations.«252 In Evaluationen des Sozialministeriums werden Angestellte in ihrem Agieren gegenüber den Antragstellern in zwei Gruppen eingeteilt: in diejenigen, die sich mit echtem Interesse dem Wohlergehen der Antragsteller widmen würden und diejenigen, die sich in ihrer Amtsmacht als »Amateurdetektive« profilierten, die Sozialmissbrauch aufzudecken hätten (»those attracted by the prospect of a certain degree of power and the opportunity to act as amateur detectives seeking out fraud«).253 Anweisungen für die Verwaltungspraxis empfahlen zweigleisigen Umgang mit der Claimants’ Union und eine Trennung von den sozialen und politischen Aktivisten.254 Während Amtsbegleitung und Beratung kooperativer und gemäßigter Ehrenamtlicher der Claimants’ Union geduldet und unterstützt werden sollten, waren Verteilung politischer Publikationen oder Erfrischungen in den Wartebereichen sowie Demonstrationen und Aufruhr zu unterbinden. Polizeieinsatz wurde angeraten, wenn Demonstrationen den Arbeitsablauf stören oder nicht auf Anweisung der Behördenmitarbeiter beendet würden. Langfristig wurde gar angestrebt, entsprechende Gesetze auf den Weg zu bringen, die »putting us in the same position as the railway authorities, who are entitled by statute to police assistance in evicting trespassers from their property.«255 Diese polizeiliche Disziplinierungsstrategie fiel nach der so genannten »Operation Major« 1982 in Oxford auf die Sozialbehörde selbst zurück.256 Im September 1982 wurden an die 300 wohnungslose Sozialhilfeempfänger, die teilweise länger als gesetzlich vorgesehen, eine in der Studentenstadt leicht verfügbare »Bed-and-Breakfast«-Unterkunft beansprucht hatten, in einer Schule mehrere Stunden arrestiert und an die 170 von ihnen im Schnellverfahren wegen Sozialmissbrauchs verurteilt. Mitglieder der Oxforder Claimants’ Union waren mit als erste vor Ort und erreichten die Öffentlichkeit abseits der Boulevardpresse, die den Sozialmissbrauch, nicht seine Ursachen skandalisierte, und konnten schließlich auch eine öffentliche Befragung des zuständigen konservativen Sozialministers Norman Fowler durchsetzen. Die Mitarbeiter des örtlichen Department of Health and Social Security (DHSS) waren währenddessen aufgrund

252 TNA AST 36/99, J. H. Lewis, Discussion concerning Claimants Union Activities at Bath ILO; TNA AST 36/100, Draft Circular for LO Staff, Claimants’ Union [Dezember 1971], S. 1. 253 TNA AST 36/99, Westbey, Study of Claimants’ Union, S. 18. 254 TNA AST 36/99, G. Beltram an das Department of Health and Social Security, 27.07.1971, S. 1. 255 TNA AST 36/100, G. Beltram, Claimants’ Unions, 17.12.1971. 256 Vgl. James Sandham, Operation Major: A Backward Glance, in: Probation Journal 30 (1983), S. 29–32; David Archer, Oxford Unemployed Workers and Claimants Union: An Oral History. [ca. 1988], https://vimeo.com/11237122, Min. 14:38–22:17, 30.01.2023.

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ihrer Arbeitsbedingungen und massivem Personalabbau bei ansteigenden Fallzahlen, monatelang im Streik, unterstützt und kritisch begleitet, da Sozialleistungen nurmehr vermindert ausgezahlt wurden, von der Claimants’ Union. Ihr Arbeitsplatz, das Gebäude des Oxforder DHSS wurde inzwischen als Notunterkunft für Wohnungslose genutzt. Ein weiterer Subjektivierungsmodus, der sich durch die Aktivitäten der Claimants’ Union zieht, war einerseits radikaler und explizit gegen Gewerkschaftspolitiken formuliert, andererseits unauffälliger, da zu Passivität und Rückzug auffordernd. Die Einforderung sozialer Grundrechte umfasse, so verbreitete Ansicht in Publikationen der Claimants’ Union, Sozialleistungen offensiv in Anspruch zu nehmen, ohne sich den Anforderungen der Arbeitsgesellschaft zu beugen. In gewisser Weise offensiv-passiv propagierten sie Sozialmissbrauch als Utopie des gesellschaftlichen Ausweichens in alternative Lebensräume und Lebensmöglichkeiten. So kursierten in den Veröffentlichungen der Claimants’ Union Ratschläge, wie man die Registrierung als Arbeitsloser oder nicht erwünschte Arbeitsvermittlung umgehen konnte, z. B. indem man es vermeidet, als »unskilled« und damit leicht vermittelbar klassifiziert zu werden.257 Angesichts der Konjunktur von Sozialmissbrauchsvorwürfen prangerten sie absurde Sanktionierungsfälle von Unterstützungsempfängern an, so im Artikel des »Claimants’ Newspaper« zu »Workshy-Albert«, dem, nachdem er drei Termine zur Anhörung verpasst hatte, ohne weitere Prüfung, vorgeworfen wurde, vermutlich im Bett zu liegen (sein tatsächlicher Aufenthalt blieb ungeklärt).258 An dieser Stelle in deutlicher Abgrenzung zu Gewerkschaften setzten sie deren Forderung des »Right to Work« ein »Right not to work« entgegen, das auch für ökonomisch Schwächere zu gelten hätte. Sie plädierten für eine grundsätzliche Abschaffung von Bedürftigkeitsprüfungen und Unterscheidungen von »undeserving« und »deserving claimants« zugunsten eines garantierten Minimaleinkommens unabhängig von Erwerbsarbeit.259 Arbeitslosigkeit und andere soziale Notlagen sollten ihre soziale Stigmatisierung verlieren, insbesondere dem Vorwurf zeitlichen Schlendrians begegnen. Es ginge darum, »to encourage  a change of attitude to unemployment and the unemployed. Unemployment must be made acceptable and tolerable, a period of personal and social development not possible during full time work.«260 Unabhängige Arbeitslosenprojekte in Großbritannien waren in der Regel kurzlebig und in ihrer Zielrichtung nur schwer von gewerkschaftlichen oder 257 Claimants Union Guidebook, S. 6; On the Dole. A Claimants Union Guide for the Unemployed, London 1985, S. 3. 258 The Claimant and Claimants’ Newspaper, London [1976], S. 12. 259 Ebd., S. 12; Unemployed. The Fight to live. A Claimants Union Handbook, London [1977], S. 2; The Supplementary Benefit Counter Review from the Claimants Union, London [1978], Anhang; On the Dole. A Claimants Union Guide for the Unemployed, S. 34. 260 The Claimant and Claimants’ Newspaper, London [1976], S. 12.

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Claimants’ Union-Projekten zu unterscheiden. So existierte die »Cardiff Unemployed Group« von 1987 bis 1989 weitgehend als Ein-Frau-Unternehmen einer studierten Germanistin, die vor ihrer Arbeitslosigkeit als Sekretärin gearbeitet hatte.261 Die Gruppe wollte sich nicht nur um registrierte Arbeitslose kümmern, sondern die Interessen aller vertreten, die im »limbo«, in der Schwebe, ihren Lebensunterhalt sichern mussten, d. h. in unsicheren und schlecht bezahlten Jobs beschäftigt waren, studierten, arbeitslos waren oder Sozialhilfe bezogen. Ähnlich wie die Claimants’ Union verbreitete die Gruppe Tipps, um beim Arbeitsamt nicht vermittelt zu werden, aber trotzdem den Überprüfungen von Bedürftigkeit und Arbeitsbereitschaft der Verwaltung nachzukommen.262 Den Deutschkenntnissen der Initiatorin verdankten sich lose Kontakte zum Arbeitslosenzentrum in Stuttgart (SALZ). Der Briefwechsel zwischen den deutschen und walisischen Arbeitslosen verdeutlicht allerdings eher das gegenseitige, bereits bei sprachlichen Hürden beginnende Unwissen beider Parteien voneinander als dass eine Kooperation herauszulesen wäre.263 Erfolgreicher war die »Southampton Lesbian and Gay Unemployed Group«, die 1985 entstanden, bereits im Gründungsjahr 400 arbeitslose Mitglieder und an die 100 erwerbstätige Fördermitglieder hatte.264 Ausdrücklich parteipolitische Kampagnenarbeit ablehnend, profilierte sich die Gruppe als pragmatische Interessensorganisation, die gleichzeitig Aktivitäten der Lesben- und Schwulenbewegung bewarb, wie die Gay Pride Paraden in London oder Southampton. Obgleich die Arbeitsloseninitiativen in Großbritannien offensiver operierten, zeigten die assoziierten Subjektformationen letztlich ähnliche Problemlagen wie die Arbeitslosenarbeit in der Bundesrepublik. Ob kirchlich, gewerkschaftlich oder autonom organisiert, ein Grundproblem der Arbeitsloseninitiativen war die mangelnde Partizipation von Arbeitslosen. Das arbeitslose Subjekt, wie es sich auch in den britischen Arbeitslosenprojekten zeigt, war eines, das vor allem nicht mehr arbeitslos sein wollte und in der Regel auch nicht arbeitslos sein sollte. Unter diesem Menetekel, sich selbst im Grunde überflüssig machen zu sollen, stand die Arbeit an der Arbeitslosigkeit der Arbeitslosenprojekte. Wenig Spielraum für längerfristige Organisation bietend, verblieben die Arbeitslosenprojekte in der gesellschaftlichen Defensive.

261 Glamorgan Archives Cardiff D / DX 881/1/1–5, Cardiff Unemployed Group. 262 Glamorgan Archives Cardiff D / DX 881/1/1, Jill Hutt: Unemployed? How to pass the Test. 263 Glamorgan Archives Cardiff D / DX 881/1/2, Briefwechsel Jill Hutt und Stuttgarter Arbeitslosenzentrum (SALZ), 1987–1989. 264 London School of Economics (künftig LSE), HCA / CHE 2/12/60, Southampton Lesbian & Gay Unemployed Group.

Taktiken der Unterlassung

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4. Taktiken der Unterlassung Bei aller Skepsis gegenüber Arbeitslosen als Träger arbeitsloser Aktivität bleibt offen, wie sich der Umgang mit der Untätigkeit während der Arbeitslosigkeit gestaltete bzw. welche Subjektivierungsprozesse mit arbeitslosem Nichtstun verbunden sind. Die Geschichte von Handlungsunterlassung, von Passivität und Nichtstun ist eine Geschichte, die in modernen, erwerbsförmig organisierten Gesellschaften einerseits mit der Geschichte dieser Erwerbsarbeit zusammenhängt, andererseits immer wieder, utopisch aufgeladen, über diese hinausweist und geradezu anachronistische semantische Beharrungskräfte aufweist.265 Umbrüche in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisationsformen beförderten wahrscheinlich die Problematisierungen von Nichtstun und Faulheit, ebenso wie die Konjunktur von Begriffen des Faulenzens im Frühkapitalismus des 18. Jahrhunderts, insbesondere an der Wende zum 19. Jahrhundert. Inwiefern die Sattelzeit als genuine Umbruchsphase auch in der Bewertung von Erwerbsarbeit anzusehen ist, die seitdem nicht mehr nur Mühe und Beschwerlichkeit, sondern auch Wohlstand, Unabhängigkeit und Selbsterfüllung versprach und im Umkehrschluss Faulenzerei nurmehr zum abgewerteten Gegenbegriff von Tätigsein verkam, steht hier nicht zur Debatte.266 Vieles spricht 265 Philosophiehistorisch: Helmut Draxler, Was tun? Was lassen? Passivität und Geschichte, in: Kathrin Busch / Helmut Draxler (Hrsg.), Theorien der Passivität, Stuttgart 2013, S. 196–215; Kathrin Busch, Elemente einer Philosophie der Passivität, in: dies. / Helmut Draxler (Hrsg.), Theorien der Passivität, München 2013, S. 14–31; aus historischer Perspektive: Martina Kessel, Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2001; zu Faulheits­f iguren in anderem Kontext: Tom Lutz, Doing Nothing. A History of Loafers, Loungers, Slackers, and Bums in America New York 2006; essayistisch: Gert Mattenklott, Faulheit, in: ders., Blindgänger. Physiognomische Essais, Frankfurt / Main 1986, S. 43–71; Manfred Koch, Faulheit. Eine schwierige Disziplin, Springe 2012; Rudolf Helmstetter, Austreibung der Faulheit, Regulierung des Müßiggangs. Arbeit und Freizeit seit der Industrialisierung, in: Ulrich Bröckling / Eva Horn (Hrsg.), Anthropologie der Arbeit, Tübingen 2002, S. 259–279. 266 Werner Conze, Art. Arbeit, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 154–215; Jürgen Kocka, Mehr Last als Lust. Arbeit und Arbeitsgesellschaft in der europäischen Geschichte (Reprint), in: Zeitgeschichteonline, Januar 2010, http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/mehr-last-als-lust, 30.01.2023; Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich, Berlin 2008, S. 337; Jürgen Schmidt / Jürgen Kocka, Last und Lust. Wie sich die Bedeutung der Arbeit gewandelt hat, in: WZB -Mitteilungen 127, März 2010, S. 30–34; Jürgen Schmidt, Arbeiter in der Moderne. Arbeitsbedingungen, Lebenswelt, Organisationen, Frankfurt / Main 2015, S. 72 f.; Moser, Jeder, der will, kann arbeiten, S. 15‒42; für längere Kontinuitäten in der Bewertung von Arbeit: Jörn Leonhard / Willibald Steinmetz, Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik von ›Arbeit‹, in: dies. (Hrsg.), Semantiken von Arbeit, S. 56–59.

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dafür, dass die Industriemoderne von einem sich tendenziell verstärkenden Aufwertungsnarrativ regulärer Erwerbsarbeit getragen wurde.267 Nichtstun und Faulenzen wurden in die Bedingungen erwerbsförmiger Arbeit eingepasst und stringent sozial und ethnisch klassifiziert. Einerseits wurde der romantische Müßiggang zu einem elitären Privileg der Aristokratie, das sozialen Status voraussetzte.268 Andererseits galten vor allem arme oder fremde Untätige als arbeitsscheu, verantwortungslos oder sozial parasitär.269 Nicht zuletzt der Umstand, dass sich die sozialpolitische Kategorie des »Arbeitslosen« um 1900 etablieren konnte, weist darauf hin, dass ein neues, staatliches Interesse daran bestand, Erwerbsarbeit begrifflich schärfer zu fassen. Für Großbritannien als auch Deutschland ist dennoch gleichermaßen nachgewiesen, mit welcher Beharrlichkeit gerade Industriearbeiter des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeitliche Eigensinnigkeiten, wie Pausieren, Blaumachen oder Trödeln einforderten oder praktizierten.270 Die Denkfiguren erfüllender Erwerbsarbeit und deklassierender Faulenzerei gestalteten sich in der organisierten Praxis der Arbeitsgesellschaft immer prekär. Theoretische Auseinandersetzungen um die Utopie befreienden Nichtstuns lebten immer wieder auf. Kanonisch ist das Pamphlet Paul Lafargues »Das Recht auf Faulheit« (dt.: 1884, frz.: 1880), in dem er die »Arbeitssucht« der französischen Arbeiterklasse kritisierte, die ihren revolutionären Impetus verloren hätte, und das anarchistische Mittel der »Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden« anrief, um sich den Herrschaftsbedingungen kapitalistischer Produktion zu entziehen.271 Auf dem Weg zu einer besseren, sozialistischen Welt blieb die Position des »enfant gâté« Lafargue, wie Karl Marx seinen Schwiegersohn apostrophierte, allerdings nur der Zierstein eines Diskurses, der weiter um den Altar der Arbeit kreiste.272 Ist bei Marx Arbeit als das »erste Lebensbedürfnis« wesentliches Kennzeichen einer im kommunistischen Sinn höher entwickelten Gesellschaft, diente die semantische Abwertung von Nicht-Arbeit der Arbeiterbewegung insbesondere in ihrer Formierungsphase der Abgrenzung gegenüber dem kapitalistischen Geg267 Das »Aufwertungsnarrativ« ebd. 268 Manuel Bauer, Ökonomische Menschen. Literarische Wirtschaftsanthropologie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2016, S. 293–308. 269 Robert Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit, Weimar 2000; zusammenfassend: Beate Althammer, Devianz, in: Herbert Uerlings / Nina Trauth / Lukas Clemens (Hrsg.), Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, Darmstadt 2011, S. 44 f. 270 Zum zeitlichen Eigensinn vgl. Edward P. Thompson, Work-Discipline and Industrial Capitalism, in: Past and Present 38 (1967), S. 56–97; Lüdtke, Eigen-Sinn, S. 85–160; Jürgen Schmidt, Arbeiter in der Moderne. Arbeitsbedingungen, Lebenswelten, Organisationen, Frankfurt / Main 2015, S.  115–118. 271 Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit, in: Rainer Barbey (Hrsg.), Recht auf Arbeitslosigkeit? Ein Lesebuch über Leistung, Faulheit und die Zukunft der Arbeit, Essen 2012, S. 32–36, hier: S. 36; Leonhard / Steinmetz, Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik von ›Arbeit‹, S. 18. 272 Gert Mattenklott, Faulheit, S. 49.

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ner.273 Bis in die Kampflieder der Internationale tönte der Appell an die »Arbeitsleute«, aufzuwachen und den »Müßiggänger (…) beiseite« zu schieben. Die semantische und gesellschaftspolitische Aufwertung von Lohnarbeit ging erst in den 1970er- und 1980er-Jahren zurück. In diesen Jahren wurden die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit neu ausgelotet und verwischten sich teilweise zunehmend, ohne dass Lohn- und Erwerbsarbeit ihre gesellschaftspolitische und soziale Zentralität eingebüßt hätte.274 Die dahingehende soziologische Debatte in den 1970er- und 1980er-Jahren stand ursächlich unter dem Eindruck von Rationalisierungsbestrebungen und Massenarbeitslosigkeit.275 Häufig genannt werden Autoren wie Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Ivan Illich oder André Gorz, die Schlagworte von der »Krise« oder gar vom »Ende der Arbeitsgesellschaft« aufgriffen und neu akzentuierten.276 André Gorz entwarf, an den Begriff der »schöpferischen Arbeitslosigkeit« von Ivan Illich anknüpfend, das »Goldene Zeitalter der Arbeitslosigkeit«, das die gesellschaftliche Ordnungsmacht von Erwerbsarbeit kritisierte und statt ihrer an die emanzipatorischen Potenziale selbstbestimmter freier Zeit erinnerte.277 Diesen philosophischen und gesellschaftlichen Analysen und Konzepten war durchaus eine gewisse Romantisierung freier Zeit und ihrer emanzipatorischen Effekte eigen. In arbeitspolitischen Debatten der Gegenwart wird das bedingungslose Grundeinkommen, das bereits Gorz favorisiert hatte, vermehrt diskutiert. Daneben feiert das Nichtstun als kommerzielle Einnahmequelle regelrecht Konjunktur. Seit den 1990er-Jahren häuft sich populärkulturell der Typus des »Slackers«, der offensiv geringe Arbeits- und Leistungsbereitschaft zeigt.278 Ratgeberliteratur zu Faulheit und Arbeitsvermeidung lag in den 2000er-Jahren im Trend. Romane und Filme spielten mit dem Motiv der »Generation X«, der vor der Gefahr sozialen Abstiegs in die Trägheit und Entscheidungsschwäche flüchtenden Alterskohorte der zwischen 1960 und 1980 Geborenen. Prokrastination in Studien- und Arbeitssituationen gilt Vertretern der so genannten »digitalen 273 Zitat: Karl Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, in: MarxEngels-Werke. Bd. 19, Berlin 1969, S. 21; zur Arbeiterbewegung: Thomas Welskopp, Von »Geldsäcken« und »Couponabschneidern«. Sozialdemokratische Semantiken der NichtArbeit zwischen der Revolution von 1848 und den 1890er Jahren, in: Leonhard / Steinmetz (Hrsg.), Semantiken von Arbeit, S. 249–267. 274 Leonhard / Steinmetz, Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik von ›Arbeit‹, S. 58 f. 275 Reiner Hoffmann, Gestaltungsanforderungen an die Arbeit der Zukunft: Elf Thesen, in: ders. / Claudia Bogedan (Hrsg.), Arbeit der Zukunft. Möglichkeiten nutzen ‒ Grenzen setzen, Frankfurt / Main, New York 2015, S. 11‒23, hier: S. 11. 276 Insbesondere für Gorz vgl. Dietmar Süß, Autonomie und Ausbeutung. Semantiken von Arbeit und Nicht-Arbeit in der Alternativbewegung der 1980er-Jahre, in: Leonhard /  Steinmetz (Hrsg.), Semantiken von Arbeit, S. 357‒360. 277 André Gorz, Das Goldene Zeitalter der Arbeitslosigkeit, in: ders., Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Frankfurt / Main 1980, S. 123–135. 278 Z. B.: Sarah Dunn, The Official Slacker Handbook. The Bible for the Activity Challenged, London 1994.

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Bohème« seit den 2000er-Jahren als selbstbestimmter und zukunftsweisender Arbeitsstil freiberuflicher Medientätigkeiten.279 Die Marktgängigkeit und Marktförmigkeit dieser Faulheitskonzepte als publizistisches Geschäftsfeld und Coachingstrategie für erwerbsarme Krisenzeiten ist schnell enttarnt.280 So fand der Cambridge-Absolvent Tom Hodgkinson mit seiner Publikation »How to be Idle« (2004, dt. Ausgabe »Anleitung zum Müßiggang«), der Zeitschrift »The Idler« sowie einen im »Idler«-Club organisierten, distinktionssicheren und gebührenpflichtigen Angebot von Kursen in Philosophie, Alten Sprachen, Ukulele-Spielen oder stilsicherer Bekleidung nicht nur eine erwerbssichernde Marktlücke.281 Mit dem Namen der Zeitschrift belebte er das viktorianische Monatsmagazin »The Idler« neu, das in den Jahren 1892–1914 für die wachsende Leserschaft der englischen Mittelschicht produziert wurde und überwiegend unpolitische Anekdoten aus Sport und »upper class« verbreitete. Auch die Kultur- und Sozialwissenschaften interessieren sich gegenwärtig für das Nichtstun. Aktuelle Forschungsprojekte widmen sich Formen und gesellschaftlicher Bedeutung selbstbestimmter Zeitgestaltung angesichts gegenwär­ tiger soziologischer Befunde zeitlicher Verdichtung und Beschleunigung.282 Sie sind eingebettet in allgemeinere Tendenzen kulturwissenschaftlicher Debatten und politischer Theorie, im Nichtstun Potentiale von Verweigerung oder gar Widerstand gegenüber aktivierenden Adressierungen zu erkennen.283 In Begriffen von Müdigkeit, Langeweile, Zaudern, Willensschwäche, Müßiggang oder Faulheit ausgeformt, wird das Nichtstun als Ausdruck mit eigener Sinnhaftigkeit gelesen, der ein spezifisches »Vermögen im Unvermögen« sichtbar machen würde.284 Arbeitslosigkeit war oft Auslöser der Debatten über eine Neubestimmung von Arbeit. Das vermeintliche oder tatsächliche Nichtstun von Arbeitslosen blieb hingegen durchgehend gesellschaftliches Irritationsmoment. Nicht unwesentlich hing sie auch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mit moralischen Bewer-

279 Kathrin Passig / Sascha Lobo, Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin, Berlin 2010. 280 Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 296. 281 Tom Hodgkinson, How to be Idle. A Loafer’s Manifesto, London 2004; Corinne Maier, Die Entdeckung der Faulheit. Von der Kunst, bei der Arbeit möglichst wenig zu tun, München 2005; hierzu: David Frayne, The Refusal of Work. The Theory and Practice of Resistance to Work, London 2015, S. 206–209. 282 SFB 1015 Universität Freiburg seit 2013 vgl. Günther Figal, Muße als Forschungsgegenstand, in: Muße. Ein Magazin 1 (2015), 1, S. 15–23, http://mussemagazin.de/?p=530, 30.01.2023. 283 Vgl. zusammenfassend: Busch, Elemente einer Philosophie der Passivität; dazu auch die Beiträge in: Barbara Gronau / A lice Lagaay (Hrsg.), Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld 2010; jüngst: Jenny Odell, Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen, München 2021. 284 Busch / Draxler, Vorwort, S. 5; Gronau / Lagaay (Hrsg.), Ökonomien der Zurückhaltung.

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tungen von Armut zusammen.285 Politisch und medial ausgreifende »Faulheitsdebatten«, die soziale Devianz Arbeitsloser behaupteten, setzten in Großbritannien und der Bundesrepublik Mitte der 1970er-Jahre im Kontext von Kampagnen zur Diskreditierung des Sozialstaats ein.286

4.1 Faulheitsvorwürfe – Faulheitspraktiken In der Bundesrepublik waren Debatten zur Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen zur Aufnahme von Erwerbsarbeit bei Arbeitslosigkeit Anlass für arbeitsmarktpolitische Kampagnen gegen »Sozialschmarotzer«. Trotz der regierenden sozialliberalen Koalition, die strengere Zumutbarkeitsregelungen des AFG politisch zu verantworten hatte, war es ein Projekt der konservativen Opposition, Faulheitsvorwürfe an Arbeitslose auf die politische Agenda zu setzen. Bis 1981 entwickelte sich das Begriffsfeld allerdings zum parteiübergreifend gebrauchten Klassifizierungsinstrument.287 1975 wurde dem Arbeitsminister Walter Arendt (SPD) wie dem Abgeordneten Egon Lutz (SPD) in Bundestagsdebatten um die Reform des AFG die Diffamierung von Arbeitslosen als »Drückeberger« von der oppositionellen CDU / CSU noch in den Mund gelegt.288 1976 hielt der CDU-Abgeordnete Egon Lampertsbach der Regierungskoalition dann vor, »daß dieses 285 Hierzu auch: Alois Wacker, Arbeitslosigkeit. Soziale und psychische Voraussetzungen und Folgen, Frankfurt / Main 1976, S. 16. 286 Oschmiansky / Kull / Schmid, Faule Arbeitslose; Hans Uske, Das Fest der Faulenzer. Die öffentliche Entsorgung der Arbeitslosigkeit, Duisburg 1991, S. 43–140; Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates. 287 Vgl. hierfür auch: Dorn, Alle in Bewegung, S. 186. 288 Vgl. Oschmiansky / Kull / Schmid, Faule Arbeitslose; deren Annahme, Walter Arendt hätte »mehrfach« über »sozialen Wildwuchs und Leistungsmissbrauch« während der Debatten um das AFG 1975 geklagt, lässt sich anhand der Sitzungsprotokolle des Bundestages allerdings nicht verifizieren, hingegen der »Vorwurf« der CDU an die Regierung, sie »diffamiere« Arbeitslose, vgl. z. B. Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 159. Sitzung. 20.03.1975, S. 11153 f., http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/07/07159.pdf, 30.01.2023; auch Egon Lutz, »Die Opposition wirft uns vor, wir sähen in den Arbeitslosen Drückeberger«, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 200. Sitzung. 06.11.1975, S. 13773, http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/07/07200.pdf, 30.01.2023; an Oschmiansky u. a. kritiklos und verfälschend anschließend: Maximilian Kutzner, »Vom »Fluch der Unterbelastung« zur »Last der reifen Jahre«. Die Wertewandel-Debatte in der bundesdeutschen Presse, in: Dietz / Neuheiser (Hrsg.), Wertewandel in der Wirtschaft und Arbeitswelt, S. 227, bei ihm tritt Arendt, der die Debatte um »Leistungsmissbrauch und Motivation der Arbeitslosen« »angestoßen« hätte, denn auch »im Streit um die Arbeitsmarktpolitik von Bundeskanzler Helmut Schmidt« von seinem Ministeramt zurück, vgl. ebd. Es waren hingegen Differenzen in der Finanzierung der Rentenversicherung, die 1976 zu Arendts Verzicht auf Mitgliedschaft im zweiten Kabinett Schmidt führten, vgl. Hiltrud Naßmacher, Walter Arendt, in: Udo Kempf / Hans-Georg Merz (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949–1998. Biographisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2001, S. 103–107, hier: S. 106.

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soziale Netz [der Sozialversicherung] immer mehr für viele zu einer Hängematte zu werden droht, in die sich ein immer größerer Teil der Mitbürger legt, um sich auszuruhen.«289 Auch in der Debatte des Bundeshaushalts 1980 griff der ehemalige Bundesbildungsminister Helmut Rohde (SPD) noch die »doppelbödige« Diskussion der Union an, die von der »sozialen Hängematte« und »ähnlichen diffamierenden Begriffen« reden würde, um das Sozialbudget der sozial-liberalen Regierung zu diskreditieren.290 Der Missbrauch des »sozialen Netzes« mäanderte 1981 dann als Metapher quer durch die Parteienlandschaft, freilich mit differentem politischem Gehalt. Erich Riedl (CDU / CSU) unterstellte im Hinblick auf linksalternative Aktivisten, dass das »soziale Netz für viele eine Hängematte – man möchte sogar sagen: eine Sänfte – geworden ist«, in der man sich »von Demonstration zu Demonstration, von Hausbesetzung zu Hausbesetzung, von MolotowCocktail-Party zu Molotow-Cocktail-Party und dann zum Schluß zur Erholung in Urlaub nach Mallorca oder sonstwohin tragen« ließ.291 Wenig später berief sich der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Hans-Günter Hoppe vor dem Bundestag auf Äußerungen, die der SPD-Altkanzler Willy Brandt 1976 in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und der amtierende Kanzler Helmut Schmidt 1977 vor dem DGB getätigt hätten. Beide hätten »schon frühzeitig gewarnt, das Netz der sozialen Sicherung als Hängematte misszuverstehen.«292 Im September 1981 erhob dann auch Heinz Westphal von der SPD, aufgrund von Berichten der »Kumpels aus dem Saarland«, mahnend seine Stimme gegen den Missbrauch des »Netz[es] sozialer Sicherung ohne Rücksicht auf die Solidargemeinschaft«, ohne jedoch zu verschweigen, dass es für ihn »leider noch Schlimmeres gibt«, nämlich »Ärzte und Zahnärzte (…), die sich nicht scheuen, für ihren Sohn BAföG zu beantragen.«293 Norbert Blüm, Arbeitsminister der Kohl-Regierung kolportierte wiederholt in den frühen 1980er-Jahren Gerüchte von »Hängematten auf Bali«, in denen deutsche Sozialhilfeempfänger faulenzen würden, durchaus auch als Argu-

289 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 248. Sitzung. 04.06.1976, S. 17664, http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/07/07248.pdf, 30.01.2023. 290 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 191. Sitzung. 11.12.1979, S. 15144, http:// dipbt.bundestag.de/doc/btp/08/08191.pdf, 30.01.2023; zur Metapher der »sozialen Hängematte« vgl. Jürgen Link, Vom Loch zum Sozialen Netz und wieder zurück. Zur Diskursfunktion und Diskursgeschichte eines dominanten Kollektivsymbols der »Sozialen Marktwirtschaft«, in: Gabriele Kleve u. a. (Hrsg.), Wissenschaft – Macht – Politik. Interventionen in aktuelle gesellschaftliche Diskurse, Münster 1997, S. 194–207, hier: S. 197. 291 Vgl. Oschmiansky / Kull / Schmid, Faule Arbeitslose; allerdings unter Vernachlässigung politischer Differenzen der Positionen; auch zitiert in: Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974–1982, S. 328; vgl. auch für Riedl, Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 40. Sitzung. 02.06.1981, S. 2121, http:// dipbt.bundestag.de/doc/btp/09/09040.pdf, 30.01.2023. 292 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 43. Sitzung. 05.06.1981, S. 2468, http:// dipbt.bundestag.de/doc/btp/09/09043.pdf, 30.01.2023. 293 Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 52. Sitzung. 17.09.1981, S. 2974, http:// dipbt.bundestag.de/doc/btp/09/09052.pdf, 30.01.2023.

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ment gegen die neue politische Konkurrenz der Grünen Partei gerichtet, denen man Ambitionen alternativen »Aussteigertums« andichtete.294 Die bundesdeutsche Presse reagierte vergleichsweise moderat auf die Debatte. Genuine Impulse sensationsheischender Appelle von Sozialanklage sind bis 1990 nicht zu verzeichnen. Seit 1977 wurden faule Arbeitslose in der breiteren Presse allerdings thematisiert und damit unter Umständen suggestiv problematisiert. Der Spiegel titelte 1977 »arbeitslos – arbeitsscheu?« und zählte eine Reihe einschlägiger Fälle von Leistungsmissbrauch durch Drückeberger, Langzeiturlauber oder Gelegenheitsarbeiter auf.295 Mit Rückgriff auf Informationen der Bundesanstalt für Arbeit wurden diese Einzelfälle jedoch zum einen statistisch relativiert. Zum anderen wurden Beispiele subjektiv gerechtfertigten Leistungsbezugs aufgeführt. So bei einem 57 Jahre alten Elektromeister aus Ludwigsburg, der nach 24 Jahren Betriebszugehörigkeit entlassen wurde, und der nicht mehr daran [denkt] zu arbeiten. 24 Jahre lang war ich in derselben Firma. Dann haben die uns entlassen, uns Alte zuerst. Ich war was in dem Betrieb, habe mich hochgearbeitet und jetzt soll ich womöglich als Hiwi irgendwo rein. Ich denk’ ja gar nicht dran.296

Angesichts der sozialen Sicherungssysteme und sozialen Sicherungsversprechen der Bundesrepublik war eine solche Haltung, so der Tenor der Spiegel-Autoren, durchaus verständlich und durchaus eine, die auf eine mündige Gestaltung der eigenen Berufsbiographie hindeute und keineswegs ein Verlust von Arbeitsmoral bedeutete. Auch ein im Folgejahr publizierter Artikel »Arbeitslose: jeder vierte ein Drückeberger?« berichtet in mehr oder minder amüsierten Tonfall über gewiefte Strategien von Arbeitslosen zur Verhinderung von Arbeitsaufnahme (»Die Meldekarte fraß der Hund«), jedoch um vor allem auf die Notwendigkeit zu verweisen, die personelle Ausstattung der Arbeitsämter zu verbessern.297 Im Laufe der 1980er-Jahre verlor sich zum Teil die Gründlichkeit in der Argumentation der Berichterstattung. Überregionale, insbesondere konservative Zeitungen verallgemeinerten diffus anekdotische Fallbeispiele »fauler« Arbeitsloser. 1985 wurden in der »Welt« unter der Überschrift »Wie viele Deutsche

294 Uske, Das Fest der Faulenzer, S. 69–74; konservative Polemik der späten 1970er-Jahre (z. B. JU Bayern) vgl. ebd., S. 75–78; zur stereotypisierten Panik vor den Grünen vgl. Silke Mende, »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn.« Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 214 ff. 295 Arbeitslos  – feines Leben auf fremde Kosten?, in: Der Spiegel 31 (1977), 21, S. 24–30, https://www.spiegel.de/politik/arbeitslos-feines-leben-auf-fremde-kosten-a-2ee5a e1a-0002-0001-0000-000040887474, 30.01.2023. 296 Ebd., S. 30. 297 Arbeitslose: jeder vierte ein Drückeberger?, in: Der Spiegel 32 (1978), 48, S. 100–116, Zitat: S. 111, https://www.spiegel.de/wirtschaft/arbeitslose-jeder-vierte-ein-drueckebergera-9e978405-0002-0001-0000-000040605864, 30.01.2023; referiert bei: Uske, Das Fest der Faulenzer, S. 53–56.

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sind wirklich arbeitslos?« vier Fälle von Sozialmissbrauch aufgeführt, wovon drei besserverdienende Akademiker betrafen und einer sich gegen Strategien von Frauen im Allgemeinen richtete, die sich bei drohender Einstellung »gerade wieder zu einem Kind entschlossen« hätten und der pauschalisierend abschloss: »Die Zahl solcher Fälle ließe sich beliebig verlängern.«298 In der FAZ , die 1974 noch auf das Recht des arbeitslosen Staatsbürgers auf soziale Sicherung in einem stabilen System verwies, ist dieses 1982 zu einem »Recht auf dies und das Recht auf das« geworden. Anzulasten sei dieser soziale Egoismus aber weniger den arbeitslosen Lebenskünstlern, die unter Umständen »einen Arbeitsplatz am Fließband« verloren hätten und ihr neues »zwischen Legalität und Illegalität angesiedelte[s] Leben auf »Schwarzarbeit als Gärtner und Unterstützung« aufgebaut hätten, was »viel komfortabler« erscheint »als der alte Arbeitsplatz«, als einem »aus den Fugen geratenen Sozialstaat, der weit über das Normalmaß hinaus versichert und schützt.«299 Relativ diskret agierte bis 1990 die in den 2000er-Jahren mit Negativschlagzeilen über arbeitslose Drückeberger, wie »Florida-Rolf« oder »Deutschlands frechstem Arbeitslosen« Arno Dübel, hervortretende »Bild-Zeitung«, die ausführlich über Arbeitslosigkeit berichtete.300 Berichte über »Drückeberger« waren aber bis Mitte der 1970er-Jahre relativ selten abgedruckt, obgleich »Bild« in der Berichterstattung über Arbeitslose gern Schicksale Einzelner hervorhob. Ihrem Leser, dem fiktiven »kleinen Mann« stand »Bild« aber auch in der Arbeitslosigkeit emotional und lebensnah vorerst zur Seite. Verarmungsrisiken, Schwierigkeiten und Chancen von Arbeitssuche, Umgang in Alltag und Familie waren Themen, die »Bild« durchaus ausgewogen aufgriff. Medienpolitisch mag paternalistische Disziplinierung der von Arbeitslosigkeit bedrohten »Bild«-Leserinnen und -Leser vermutet werden, eine plakative Diskriminierung arbeitsloser Schmarotzer ist jedoch im bundesdeutschen Boulevard bis hierhin noch nicht festzustellen. Der Verdacht des Sozialbetrugs war in Politik und Politikberatung Großbritanniens deutlich präsenter als in der Bundesrepublik, unter anderem als legitimes Argument ökonomischer Diskussionen um die Zuverlässigkeit der Arbeitslosenstatistik oder zu den Ursachen von Arbeitslosigkeit und Armut.301 Träger und Antreiber der aggressiven und rabiaten britischen Faulheitsdebatten war eindeutig die Conservative Party und die mit ihr vernetzte konservative Bou-

298 Ebd., S. 57. 299 Vgl. Fischer, Über das Verhältnis von Zahl und Wirklichkeit, S. 112–115; die Zumutbarkeitsdebatte vor allem als medial inszenierte deutet hingegen: Oschmiansky, Faule Arbeitslose. 300 Thomas Riedmiller, Arbeitslosigkeit als Thema der Bild-Zeitung, Tübingen 1988, spez. S. 73–81, 117–122; zu Arno Dübel: Christian Baron / Britta Steinwachs, Faul, Frech, Dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD -Leser*innen, Münster 2012. 301 Vgl. Frank Field, Making Sense of the Unemployment Figures, in: ders. (Hrsg.), The Conscript Army. A Study of Britain’s Unemployed, London 1977, S. 1–12, hier: S. 8 f.

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levardpresse.302 Die Feindschaft der Konservativen gegen finanziell schlecht ausgestattete soziale Drückeberger war eine traditionelle, die auf Armutspolitiken und Armutsbewertungen des 19. Jahrhunderts zurückgriff. Folie ihrer Argumente waren Bestimmungen des New Poor Law von 1834, das öffentliche Unterstützung von Notlagen an Arbeitsleistung in Arbeitshäusern band und Klassifikationen von würdigen und unwürdigen Armen transportierte.303 In den 1970er- und 1980er-Jahren verbreiteten sich diese Ressentiments politisch im Streit zwischen Labour Party und Konservativen, wobei die Labour Party den Wohlfahrtsstaat stets verteidigte, allerdings im apologetischen Modus versuchte, die Polemik der Konservativen empirisch zu widerlegen und damit ihren inhärenten Generalverdacht des Sozialmissbrauchs weiter verbreitete. Im Zuge wiederholter und massiver Kürzungen und Stopps der öffentlichen Ausgaben im Lauf des Jahres 1976, kulminierend im Bail-out des IWF im Dezember 1976, wurden die Vorwürfe der Konservativen an die knappe Labour-Regierungsmehrheit, sie würde Leistungsmissbrauch tolerieren und Arbeitslosigkeit begünstigen, lauter und die Tonlage, mit der sie Arbeitslose rhetorisch bedachten, schriller. Premierminister Callaghan, seit April 1976 im Amt, verwies im Juli 1976, im Kreuzfeuer der konservativen Empörung stehend, auf »our own people (…) honest, decent and hardworking«, die angesichts der Stimmungslage trotz Berechtigung Sozialleistung nicht in Anspruch nehmen würden.304 Vereinzelte Fälle von Sozialmissbrauch sollten nicht zum Anlass genommen werden, Sozialleistungen als solche zu delegitimieren, so Callaghan. Beflügelt wurden die politischen Kampagnen von der britischen Boulevardpresse, die angeblichen Sozialmissbrauch offensiv anprangerte und darüber hinaus der Conservative Party Stichworte für politische Evidenz in Parlaments­ debatten lieferte.305 Insbesondere die traditionelle konservative Boulevardpresse, wie »Daily Mail«, »Daily Telegraph« und »Daily Express«, aber auch die »Sun«, die in den 1970er-Jahren gleichfalls die Tories unterstützte, griff tief in die Trickkiste des sozialen Vorurteils. 1976 entbrannte eine regelrechte »Scroungerphobia«-Kampagne der Boulevardpresse, die sich an einer Reihe von Einzelfällen vorgeblich besonders dreister Sozialbetrüger entzündete.306 Auslöser war der Fall des so genannten »King Con«, ein 42-jährigen Arbeitslosen aus Liverpool, dem,

302 Golding / Middleton, Images of Welfare; dies., Why is the Press so Obsessed with Welfare Scroungers. 303 Dies., Images of Welfare, S. 65, 95. 304 Sitzung des Unterhauses, 15.07.1976, in: House of Commons. Parliamentary Debates. 5.915 (1975/76), S. 898. 305 Vgl. z. B. Sitzung des Unterhauses, 17.03.1972, in: House of Commons. Parliamentary Debates. 5.833 (1971/72), S. 1036. 306 Golding / Middleton, Images of Welfare; dies., Why is the Press so Obsessed with Welfare Scroungers, in: New Society 46 (1978), S. 195–197; Jean Seaton, The Media and the Politics of Interpreting Unemployment, in: Sheila Allen / A lan Waton / Kate Purcell / Stephen Wood (Hrsg.), The Experience of Unemployment, Basingstoke u. a. 1986, S. 17–28.

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wegen Sozialbetrugs verurteilt, ein luxuriöser Lebensstil angedichtet wurde.307 »Welfare Junkies«, »Parasites«, »Super Scrounger« oder »King Scrounger« waren nur einige der darauf folgenden Schlagzeilen des Boulevards zwischen Juli und September 1977, die gern in einem Themenmix aus »Sex, Crime and Welfare Abuse« präsentiert wurden.308 In Politik und Boulevardpresse Großbritanniens wurde der Generalverdacht des Sozialmissbrauchs in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren mehr und mehr zu einem Argument gegen den Wohlfahrtsstaat selbst. Am rechten Rand der konservativen Partei begann der Abgeordnete Ralph Howell die Werbetrommel für »Workfare«-Modelle nach US -amerikanischen Vorbild zu rühren, die Unterstützung von Arbeitslosen an gemeinnützige Arbeitsverpflichtungen binden sollten. In seiner 1976 publizierten Schrift »Why work« wird deutlich, dass seine Ablehnung des »keynesianischen« Systems von Sozialleistungen eine Kritik an einkommensbezogener Steuerpolitik war, die seiner Argumentation nach Gefahr liefe, Erwerbsarbeit unrentabel zu machen.309 Statt steuerbefreite Sozialleistungen an Bedürftigkeit zu binden, plädierte er für einen steuerlich begünstigten Mindestlohn. Die Boulevardpresse wiederum lieferte Schlagzeilen, die das Sozialsystem als »Giant That’s Gone Out of Control« diskreditierten oder Leistungsmissbrauch dem Staat anlasteten, der »encourages and rewards idleness, mendacity, contumacy, and fraud!«310 Der kurzlebige Konsens des britischen Wohlfahrtsstaates war vollends aufgeweicht. An seine Stelle trat eine zunehmend denunziatorische, diffamierende Sozialpolitik, die soziale Leistungsgewährung engmaschig überwachte. Während der gesamten 1970er-Jahre, d. h. auch unter Labour, stiegen sowohl die Anklagen wegen Sozialmissbrauchs (zwischen 1970 und 1975 von 7.700 auf 15.400) als auch die Anzahl der hauptamtlichen Kontrolleure des DHSS exponentiell (von 248 im Jahr 1970 auf 447 im Jahr 1978).311 Die Legitimität des Wohlfahrtsstaates wurde freilich keineswegs verbessert, sondern in sein Gegenteil verkehrt. Als Labour-Abgeordnete 1980 im Unterhaus ein Klima öffentlichen Misstrauens gegenüber Bedürftigen und die indiskrete, de-individualisierende Arbeitsweise des DHSS beklagten, beschrieben sie damit doch nur die Symptome eines wohl-

307 Golding / Middleton, Images of Welfare, S. 60–63. 308 Zitate nach: Golding / Middleton, Why is the Press so Obsessed with Welfare Scroungers, S. 195–197; dies., Images of Welfare, S. 93 f., 102. 309 Ralph Howell, Why Work? A Challenge to the Chancellor, London 1976; vgl. auch: Martin Daunton, Creating a Dynamic Society. The Tax Reforms of the Thatcher Government, in: Marc Buggeln / Martin Daunton / A lexander Nützenadel (Hrsg.), The Public Economy of Public Finance. Taxation, State Spending and Debt since the 1970s, Cambridge 2017, S. 32–56, hier: S. 51. 310 So »Daily Express«, 30.09.1977 sowie »Daily Telegraph«, 29.07.1976, zitiert nach: Golding /  Middleton, Why is the Press so Obsessed with Welfare Scroungers, S. 196. 311 Golding / Middleton, Images of Welfare, S. 235.

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fahrtsstaatlichen Kontrollregimes.312 Der »Scrounger« war hier nicht mehr nur eine mediale Figur oder eine lässige Utopie, sondern der zu regulierende Risikofaktor eines politisch bereits diskreditierten Systems. Es ist an der Zeit zu fragen, inwiefern politische oder mediale Subjektivierungsappelle an Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger gewissermaßen Wirkung zeigten bzw. mit Subjektivierungspraktiken Arbeitsloser zusammenhängen. Bezüglich des tatsächlichen Sozialmissbrauchs geht die Literatur davon aus, dass dieser ausgesprochen selten vorlag.313 Wie steht es aber mit der Antizipation der »Faulheitsdebatten« bei Arbeitslosen? Inwiefern wird »Faulheit« und Nichtstun zu einer Selbstattribution oder Subjektivierungsstrategie von Arbeitslosen und mit welchen Folgen? Die britischen »Scrounger«-Kampagnen konnten zumindest mit erheblichem Rückhalt in der öffentlichen Meinung rechnen. Laut Umfragen von Eurobarometer 1976 waren die Briten diejenigen, die im Vergleich mit anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften mit Abstand soziale Deprivation am ehesten mit »Faulheit« und individueller Willensschwäche erklären würden. Der Aussage »Arme seien faul und willensschwach« stimmten demnach 43 Prozent der befragten Briten, aber nur 23 Prozent der Bundesdeutschen zu.314 Das Verhältnis hatte sich freilich in den 1980er-Jahren und vermutlich aufgrund der Normalisierung von Arbeitslosigkeit, angeglichen. 1989 stimmten 19  Prozent der Bundesdeutschen und nur noch 18 Prozent der Befragten im Vereinigten Königreich zu, Armut und finanzielle Bedürftigkeit mit »laziness and lack of willpower« zu erklären.315 Andererseits konstatiert Jeremy Seabrook in seinen Reportagen in den 1980er-Jahren die weite Verbreitung und Akzeptanz von Ressentiments gegen Arbeitslose, die »work-shy« oder »benefit scroungers« seien.316 Sozialwissenschaftliche Forschung zu Arbeitslosigkeit bewegte sich bis in die 1980er-Jahre in ihren Wahrnehmungen und Deutungen im hegemonialen Horizont des »Belastungsdiskurses« von Arbeitslosigkeit. In Rezeption der Marienthal-Studie von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel und deren empirischen Ergebnissen zur psychosozialen Deprivation von Arbeitslosen in Ermangelung erwerbsstrukturierter Tagesabläufe, bereitete es sowohl britischen als auch bundesdeutschen Sozialwissenschaftlern offenkundig Schwierigkeiten, 312 Vgl. z. B. Sitzung des Unterhauses, 08.12.1980, in: House of Commons. Parliamentary Debates. 5.995 (1981/82), S. 680. 313 Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, S. 102. 314 Vorstellungen und Einstellungen zur Armut in Europa. Hrsg. v. d. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel 1987, S. 77, 82, http://ec.europa.eu/commfrontoffice/ publicopinion/index.cfm/Survey/getSurveyDetail/yearFrom/1976/yearTo/1977/ surveyKy/65, 30.01.2023. 315 The Perception of Poverty in Europe 3. Hrsg. v. Eurobarometer i.A. d. Commission of the European Communities, Brüssel 1990, S. 36 f., http://ec.europa.eu/commfrontoffice/ publicopinion/index.cfm/Survey/getSurveyDetail/yearFrom/1990/yearTo/1990/ surveyKy/103, 30.01.2023. 316 Seabrook, Unemployment, S. 3–5, 31.

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von diesem Deutungsschema abzurücken und einzuräumen, dass Arbeitslose durchaus ihre freie Zeit zu »sinnvollen Aktivitäten« (Heimwerken, Hausarbeit, Weiterbildung usw.) nutzen könnten.317 Der Argumentationsstrang, die »Zeitstrukturkrisen« Arbeitsloser, den Verlust der Zeitstrukturen geregelter Erwerbsarbeit zu problematisieren, blieb weiter bestehen.318 Vereinzelte Zitate Arbeitsloser, die im Nichtstun keine Zeitverschwendung sahen, wie ein 53-jähriger Arbeitsloser aus der Grafschaft Cleveland, der freimütig bekannte, seine einzige Freizeitbetätigung sei im Allgemeinen Spazierengehen, und den vergangenen Tag hätte er morgens im Sessel gesessen und nachmittags und abends ferngesehen, deuten allerdings auf latent anderweitige Praktiken arbeitsloser Subjektivierung hin.319 Deutlich wird sowohl in den sozialwissenschaftlichen Studien als auch in qualitativen Primärquellen, dass Erwerbsarbeit die hegemoniale Adressierungsstruktur war, in der sich Arbeitslose bewegten, denn arbeitsloses Nichtstun war keinesfalls eine Selbstbeschreibung, die gern zugegeben wurde. Betont wurde das eigene Tätigsein trotz der vom Arbeitsmarkt verordneten Passivität. In Umfragen des »Mass Observation Projects« der Universität Sussex wurde in der Sommerumfrage aus dem Jahr 1983 zum Thema »Work« denn auch verbreitet betont, dass es fast unmöglich sei, »nichts zu tun«. Arbeit sei ihnen, so betonen es vor allem Befragte älterer Kohorten (geboren ca. 1915 bis 1925) als »English way of life« eingepaukt worden.320 Ihre Eltern und Lehrer hätten den Viktorianismus noch erlebt und seien tiefgreifend von der »victorian work ethic« und ihren religiösen Implikationen geprägt gewesen: »to work hard is good, to slack is sinful.«321 Diese Befragten sind es auch, die auf die Frage der Erhebung »How do you react to the statement that if people were willing there are plenty of jobs about?« antworteten, dass es durchaus genug Arbeit gäbe und einige Arbeitslose schlicht »too choosy« oder »too lazy« seien.322 Befragte, die eindeutige politische Präferenz für die Labour Party oder Gewerkschaftspolitiken erkennen lassen und womöglich Kinder im jugendlichen Alter hatten, die von Arbeitslosigkeit betroffen waren, wiesen jedoch die Unterstellung der Frage als »rubbish« oder »nonsense« strikt zurück.323 Eine Universitätsangestellte, die in ihrem Bekanntenkreis Arbeitslosigkeit bei erwachsenen Kindern mit Universitätsabschluss beobachtet hatte, fand klare Worte über 317 Z. B. Fröhlich, Psycho-soziale Folgen der Arbeitslosigkeit; David Fryer / Roy Payne, Unemployed Workers-pro-Activity as a Route into Understandig Psychological Effects of Unemployment, Sheffield 1982. 318 Heinemeier, Zeitstrukturkrisen. 319 Elizabeth M. Crookston, Leisure and Unemployment ‒ Findings from a Survey of Cleveland’s Unemployed, Middlesbrough 1987, S. 3. 320 MOP SxMOA2/2/48, Special Report 208: Unemployment by Mass Observer H1011. 321 MOP SxMOA2/1/12/1/1, Respondents A–K (Summer 1983 Directive: Work) A008. 322 MOP SxMOA2/1/12/1/1, Respondent A–E (Summer 1983 Directive: Work) B090; MOP SxMOA2/1/12/1/1Respondents A–K (Summer 1983 Directive: Work) B056. 323 MOP SxMOA2/1/12/1/1, Respondents A–K (Summer 1983 Directive: Work) B91, B040, B33, B089, B668.

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diese, aus ihrer Perspektive, Verurteilung von Arbeitslosen: »I am appalled by the callousness and undifference of people who say that if people would only try harder they would find work.«324 Auch weil es zukünftig, so die Befragte, immer weniger Erwerbsarbeit geben würde, sollten Räume geschaffen werden, in denen Menschen Zeit hätten, »to enjoy themselves with no sense of guilt or inferiority.«325 Eine Bewohnerin der Isle of Man berichtet gar, dass auf der Insel wenig die Rede sei, von »›layabouts and scroungers‹ except from a few politicians and noisy ›comeovers‹«, führt dies aber auf Eigenheiten der überschaubaren Inselgesellschaft zurück: »one young man told us that a big difference about being unemployed here is that Social Security don’t hassle people the way they do across.«326 Die Antworten der vom Göttinger SOFI 1989 befragten Arbeitslosen auf die Frage »Haben Sie jetzt zu viel statt zu wenig Zeit?« fielen eindeutiger aus. Die Anteile derer unter den ca. 100 Befragten, die angaben, nun »zu viel Zeit« zu haben und denen, die diese Frage verneinten, waren nahezu ausgeglichen. Vor allem diejenigen, deren Zeitbudget erschöpft war, betonten ihr trotz Arbeitslosigkeit anhaltendes Tätigsein. Wiederholt unterstrichen sie: »Langeweile kenne ich nicht.«327 Die verfügbare Zeit wurde vor allem von Frauen (aber nicht nur) für Haushalts- und Care-Arbeit, Kinderbetreuung, Pflege sozialer Kontakte oder vor allem von Männern (aber nicht nur) für Garten- und Renovierungsarbeiten genutzt. Mit dem Vorwurf arbeitsloser Faulheit sahen sich explizit knapp ein Dutzend der Befragten, durchgehend Männer, konfrontiert (»Die sagen einfach, der ist zu faul, der will nicht mehr.«).328 Drei der Befragten bezeichneten von sich aus, ohne explizite Anfrage, andere Arbeitslose als faul (»Es gibt ja Menschen, die von Natur her faul sind. Da kann man ruhig Drückeberger zu sagen.«).329 Selbstkritik an Untätigkeit klingt bei allen Befragten an, die angaben, aufgrund der Arbeitslosigkeit über zu viel Zeit zu verfügen. Ausdrückliche Selbstattributionen eigener Faulheit sind unter den vom SOFI befragten, älteren Arbeitslosen nicht zu finden. Anders sieht dies bei jüngeren Arbeitslosen aus, bei denen die Phase der Berufsorientierung sowohl in sozialwissenschaftlicher Konzeptionalisierung von Jugendarbeitslosigkeit als auch ungefragt im empirischen Primärmaterial als 324 MOP SxMOA2/1/12/1/1, Respondents A–K (Summer 1983 Directive: Work) B668. 325 Ebd. 326 MOP SxMOA2/2/48, Special Report 338: Unemployment by Mass Observer W555. 327 Ähnliche Zitate: Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 99, S. 5; N 14, S. 8. 328 Zitat: Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 7, S. 7; ähnlich Nr. U 63, S. 6 f.; N 68, S. 17; N 9, S. 14; N 18, S. 1; N 29, S. 7; N 113, S. 3. 329 Zitat: Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 21, S. 27; ähnlich: U 41, S. 21; N 107, S. 12. In einer Studie über die Selbstattribution von Arbeitslosen von 1983 und der provokativen Frage des Interviewers nach der »Arbeitsunwilligkeit« Arbeitsloser, thematisierten vier von 22 befragten Arbeitslosen (alle männlich) die »Faulheit« anderer, hierzu: Uwe Grau / K laus Thomsen, Die Attribuierung des Vorwurfs der Arbeitsunwilligkeit, in: Thomas Kieselbach / A lois Wacker (Hrsg.), Individuelle und gesellschaftliche Kosten der Massenarbeitslosigkeit, Weinheim / Basel 1985, S. 107–119.

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potentielle Phase zeitlichen Freiraums problematisiert wird. Es hing dabei vor allem von der sozialen Herkunft ab, inwiefern Jugendliche ihr arbeitsloses Nichtstun als Reflexionsphase oder phlegmatische Zeitverschwendung einstuften.330 Unter den arbeitslosen jungen Frauen, die 1977 von Münchner Sozialwissenschaftlerinnen zu ihren Lebensumständen befragt wurden, war es lediglich eine Minderheit (vier von 29 Befragten), die Arbeitslosigkeit und arbeitslos verbrachter Zeit etwas Positives abgewinnen konnten.331 Die soziale Differenz in der Selbstbewertung wird in den Äußerungen einer 18-jährigen besonders deutlich, die zwei Jahre zuvor aus ihrer Lehrstelle als Friseurin nach Krankheit entlassen wurde und in deren Leben sich seitdem Phasen mehrmonatiger Arbeitslosigkeit und Gelegenheitsjobs abwechselten. Sie lebte bei ihren Eltern, die beide erwerbstätig waren (der Vater war Elektriker, die Mutter arbeitete als Verkäuferin), in deren Mietwohnung und wurde von den Wissenschaftlerinnen dem »Arbeitermilieu« zugeordnet.332 An der Arbeitslosigkeit schätzte sie, so äußert sie im Interview, dass sie »ausschlafen« kann und nichts tuend den Tag verbringen kann: »ich lieg rum, tu überhaupt nichts, geh fort, wenn ich mag.«333 Sie bezeichnet sich selbst wiederholt als »arbeitsscheu« und »faul«, ein ehemaliger Arbeitgeber hätte sie gar »tausendjährige Schildkröte« genannt und stellt einen Zusammenhang zwischen der eigenen vermeintlichen Charakterschwäche und Arbeitslosigkeit her.334 Ihre Trägheit, die, so berichtet sie, Entlassungsgrund bei Lehrstellen oder Aushilfsarbeiten gewesen sei, gewinnt Züge eines »FaulheitsSelbstbildes«, das von den Wissenschaftlerinnen gleichermaßen als Ursache und Symptom ihrer ausweglosen Arbeitslosigkeit gedeutet wird.335 Durchaus angestrengt von einem zähen Interview, vermerken sie im Projektbericht selbst: »E.s [die Befragte] Dumpfheit, Uninformiertheit, Passivität, Selbstbild reizt auf!«336 Anders gingen weibliche Arbeitslose mit beruflicher Tatenlosigkeit um, die, von ihrer sozialen Herkunft her (Eltern gehen künstlerischen, Studien- oder Angestelltenberufen nach) bildungsambitioniert, dennoch aufgrund schlechter 330 In Anlehnung an Arbeitsergebnisse von Helga Bilden / A ngelika Diezinger / Regine Marquardt und Kerstin Dahlke, vgl. Angelika Diezinger / Regine Marquardt / Helga Bilden /  Kerstin Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit und weibliche »Normalbiographie«, Projektbericht, Handlungsspielraum arbeitsloser Mädchen: Zusammenwirken von objektiven Strukturen und subjektiven Strategien, Oktober 1981, Ludwig-Maximilians-Universität München, 1977–1979, Privatbesitz Angelika Diezinger; vgl. auch: Angelika Diezinger /  Regine Marquardt / Helga Bilden / Kerstin Dahlke, Zukunft mit beschränkten Möglichkeiten. Entwicklungsprozesse arbeitsloser Mädchen. Bd. 1. Aktuelle Belastungen und berufliche Konsequenzen, München 1983, S. 292–347. 331 Ebd., S. 292. 332 Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Kurzbiographie Interview Nr. 3/1, S. 1. 333 Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Interview Nr.  3/2, S.  50. 334 Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Interview Nr.  3/1, S.  17. 335 Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Kurzbiographie Interview Nr. 3/2, S. 3. 336 Ebd.

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schulischer Leistungen die Hauptschule besucht hatten. Arbeitslosigkeit wurde als Übergangszeit gewertet, als ein »sich-Aussetzen«, wie es in der wissenschaftlichen Auswertung formuliert wurde. Eines dieser »Mittelschichtsmädchen«, wie die Wissenschaftlerinnen sie nennen, war eine 15-jährige, die seit ihrem Hauptschulabschluss vor fünf Monaten arbeitslos war. Arbeitslosigkeit, sagt sie im Interview, gefalle ihr, und hier gleicht sie der 18-jährigen aus dem »Arbeitermilieu«, weil »ich ausschlafen kann und einfach tun und lassen, was ich will.«337 Hinsichtlich ihrer beruflichen Perspektive zeigt sie sich aber deutlich entspannter als das ›Arbeitermädchen‹: Na ja, wenn ich jetzt arbeitslos bin, ist das schon ganz schön. (…) und wenn ich jetzt weiß, ich brauch keine Lehre machen, meine Eltern verlangen das nicht unbedingt, dann will ich viel lieber auch von selber auch was machen, (…) einfach mit dem Gefühl, du mußt nicht und wenn es dir nicht gefällt, dann kannst du wieder gehen.338

Eine in diesem Sinn erlebte Reflexionsphase von Arbeitslosigkeit schildert gleichfalls ein in der SOFI-Untersuchung befragter 25-jähriger Arbeitsloser, der seit sieben bis acht Jahren arbeitslos und ohne Ausbildung bei seinen Eltern lebend freimütig angibt, dass es genau das »Positive« an der Arbeitslosigkeit sei, »daß ich über viele Dinge nachdenken konnte, daß ich einen Sinn gesucht habe.«339 Zeitliche Ungezwungenheit und Freiheit der Tagesgestaltung jenseits der stetigen Vorgaben von Erwerbsarbeit, führen bei ihm zu einem regelrecht kontemplativen Lebensstil: Das ist so, wenn Du arbeitslos bist, dann bist Du nicht in dem Rhythmus drin, in dem die ganze Gesellschaft drin ist. Aber das hat eben auch seine Vorteile, daß man genau nicht in diesem Rhythmus drin ist, ich finde das dann auch gar nicht so schlecht arbeitslos zu sein, wie immer gesagt wird. Man hat mehr Zeit für sich, um sich mit sich selbst zu beschäftigen.340

In der Auswertung der Sozialwissenschaftler des SOFI wurden solche Aussagen durchaus vernachlässigt. Zwar wird zugebilligt, dass »heute Formen einer positiv erlebten Auseinandersetzung mit der Arbeitslosigkeit, die aus der Forschungsliteratur der 30er Jahre nicht bekannt sind« feststellbar sind, dennoch wird, dies ist sicher im Rahmen der zeitgenössischen, vom regierungsnahen Allensbach Institut von Elisabeth Noelle-Neumann wissenschaftlich vertretenen Polemik um »freiwillige Arbeitslose« und Arbeitsunwilligkeit zu lesen, betont, dass das »Gefühl der Bedrohung« des sozialen Status bei Arbeitslosen überwiege.341 Im 337 Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Interview Nr.  24/1, S.  5. 338 Ebd. 339 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 107, S. 9; zu den biographischen Daten: Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interviewkommentar zu N 107, S. 1 [paginiert: 7]. 340 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr.  N107, S.  9. 341 Zitate: Kronauer / Vogel / Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft, S. 221, 223.

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Primärmaterial zeichnet sich demgegenüber ein verbreiteter pragmatischer Umgang mit der verordneten Freizeit ab, der durchaus heterotope Freiräume eröffnet. Die Vermutungen der Sozialwissenschaftlerinnen im Projekt zur Erwerbslosigkeit junger Hauptschulabsolventinnen weisen aber vermutlich in eine richtige und wichtige Richtung. Die verordnete Freizeit von Arbeitslosen unterlag sozial gestaffelten Adressierungen. Während junge Frauen der »Mittelschicht«, den Wunsch formulierten, sich Zeit zur weiteren Lebensplanung zu lassen und damit womöglich auch zu vermeiden, einen sozial niedrigeren Status festzuschreiben, sind die Befragten des »Arbeitermilieus« gezwungen, dem Stigma des arbeitslosen Taugenichts möglichst schnell zu entkommen und damit womöglich unüberlegt und wahllos, sozialen Abstieg in Kauf zu nehmen. Resistente Potentiale des Nichtstuns scheinen hier in Form einer spezifischen Interessenorientierung auf, sind allerdings nicht in der Eindeutigkeit formuliert, wie sie vom britischen Soziologen Paul Corrigan in seiner Studie zur »street corner culture« von Jugendlichen in Sunderland, die 1979 am Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) publiziert wurde. Nichtstun, »doing nothing« war in seiner Deutung »the main action of British subculture« in diesem Fall Schülern in der nordenglischen Stadt Sunderland.342 Corrigans Begriff von »doing nothing« war jedoch durchaus von Aktion geprägt. Die Jugendlichen, die an den Straßenecken Nordenglands herumlungerten, frotzelten miteinander, machten Witze, schmissen Flaschen oder provozierten Passanten. Beobachtet wurde bei ihnen eher ein nicht konformes, ein unproduktives Verhalten als ein passives Phlegma. Das Problem und die Frage, die Corrigans Suggestivbegriff »doing nothing« evoziert, bleibt jedoch bestehen: inwiefern kann Nichtstun und Passivität als mehr oder minder bewusst praktizierte Resistenz verortet werden und zwar in Situationen von Arbeitslosigkeit, in denen Arbeitslose gegen die Anforderungen des »Beschlagnahmesystems« (Foucault) der Arbeitsgesellschaft mit Passivität protestierten?343 Beate, eine arbeitslose Jugendliche, die im Rahmen des Forschungsprojekts zur Arbeitslosigkeit von Hauptschulabsolventinnen 1981 interviewt wurde, formulierte die Idee, die sie von Arbeitslosigkeit hat, im Gespräch mit den Sozialwissenschaftlerinnen um Helga Bilden und Angelika Diezinger folgendermaßen: Wenn jemand bewußt arbeitslos ist, also wenn er nicht arbeiten will, dann ist er praktisch kein Arbeitsloser, sondern da ist er eigentlich ein Mensch, der sich gegen das ganze Arbeitssystem da wehrt und sich nicht unterordnen will.344

342 Paul Corrigan, Doing Nothing, in: Stuart Hall / Tony Jefferson (Hrsg.), Resistance through Rituals. Youth subcultures in post-war Britain, London 1975, S. 103–105, hier: S. 103. 343 »Beschlagnahmesystem« der Arbeitsgesellschaft bei: Michel Foucault, Die Strafgesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1972–1973, Frankfurt / Main 2015, S. 316. 344 Zitiert nach: Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Kurzbiographie Nr. 21/2, S. 4, dort auch Angaben zum sozialen Hintergrund.

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Beate entwirft für sich eine nur schwer realisierbare Utopie, einen gesellschaftlichen Raum, der im Grunde frei sein sollte, von grundlegenden, sozialen Konventionen moderner Gesellschaften. Eine solche, emphatisch formulierte Heterotopie des »Menschseins« jenseits der Arbeitsgesellschaft ist ein Einzelfall. Wenn es für Arbeitslose darum ging, Arbeitslosigkeit als freie Zeit zur Lebens- und womöglich Arbeitsgestaltung zu nutzen, waren die Gründe, Erwerbsarbeit zu meiden, im Allgemeinen profaner und zum einen im Lebensstil spezifischer, alternativer Milieus, zum anderen in Taktiken alltäglichen finanziellen und sozialen Durchlavierens mittels nicht angemeldeter Erwerbsarbeit oder öffentlicher Wohlfahrtsunterstützung zu finden.345 Je nach sozialer Position und sozialem Kontext war die eigene Erwerbslosigkeit dieser »freiwillig« Arbeitslosen ein offensives politisches Statement von Lebenskünstlern, verschämte Finanzierungsquelle von Bedürftigen oder zusätzlicher Notbehelf in der Mischkalkulation zur Sicherung des Lebensunterhalts.

4.2 Offensives Nichtstun Zum politischen Argument wurde arbeitsloses Nichtstun in beiden Ländern in anarchistischen und alternativen Szenen, die damit ihre Distanz zu erwerbsorientierten Positionen der Gewerkschaften und traditionellen linken Parteien markierten. In Großbritannien zirkulierten im Umfeld der seit 1969 aktiven Gruppen der Claimants’ Unions Konzepte radikalerer Splittergruppen, die einen selbstbewusst-autonom nutznießenden Lebensstil Arbeitsloser als »dole-autonomy« stilisierten. Nur in nachträglichen Erzählungen von Aktiven und in Polemiken seitens der gewerkschaftlichen und sozialpädagogisch orientierten Arbeitslosengruppen gegen »weltfremde Hippies« greifbar, bleiben deren Praktiken bzw. Nicht-Praktiken allerdings diffus. Die Gruppe »Aufheben« aus Brighton behauptete aus der Rückschau der 1990er-Jahre für die 1980er-Jahre eine Blütezeit der »dole autonomy«.346 Die allgemeine Sparpolitik der frühen 1980er-Jahre hätte zum einen für ein rasantes Wachstum der Antragstellenden in der Arbeitslosenverwal345 Angelehnt an zeitgenössische Soziologie, die die Beobachtung dieser Taktiken, den Alltag zu finanzieren, allerdings auf großstädtische Sozialmilieus beschränkt: Godfried Engbersen, Cultures of long-term Unemployed in the New West, in: ders. / Kees Schuyt / Jaap Timmer / Frans van Waarden (Hrsg.), Cultures of Unemployment. A Comparative Look at Long-Term Unemployment and Urban Poverty, Amsterdam 1993, S. 75–96; Gaby Olbrich, Reaktion auf strukturelle Bedingungen oder individuelle Motive? Bürger zwischen Leistungsbereitschaft und Anspruchsdenken, in: Siegfried Lamnek / Jens Luedtke (Hrsg.), Der Sozialstaat zwischen »Markt« und »Hedonismus«?, Eichstätt 1999, S. 386– 403, die von ihr angeführten finanziell gesicherten illegal Arbeitenden konnten im hier untersuchten Material nicht nachgewiesen werden. 346 Aufheben: Dole Autonomy versus the Re-Imposition of Work: Analysis of the Current Tendency to Workfare in the UK , Brighton 1998, https://libcom.org/library/doleautonomy-aufheben, 30.01.2023.

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tung gesorgt, zum anderen hätte die Arbeitsbelastung in den Sozial- und Arbeitsämtern zugenommen. Die wiederum unterbezahlten dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten sich auf das Auszahlen der finanziellen Unterstützung konzentrieren müssen und ihre, wie es heißt, »Polizei- und Schnüffeltätigkeit« eingeschränkt. Zudem hätten die zahlreichen zwischen 1975 und 1988 eingeführten Förderprogramme zur Eindämmung von Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit den paradoxen Effekt gehabt, dass die Arbeitslosenzahl zwar optisch schrumpfte, sich die Freiräume von Arbeitslosen, Erwerbsarbeit zu vermeiden, jedoch durch Zweckentfremdung von Förderprogrammen zur Finanzierung eigener Lebenspläne erweiterten. Eines der beliebtesten Projekte dieser ›freiwilligen‹ Arbeitslosen sei das 1983 eingeführte »Enterprise Allowance Scheme« gewesen, ein Existenzgründungszuschuss, der einer Reihe von Scheinunternehmen mit hastig entworfenen, mit einigen Quittungen belegten Geschäftsideen zur Existenz verhalf und Arbeitslose für ein Jahr von der Meldepflicht befreite. Ähnlich lassen sich vereinzelte sarkastische Äußerungen linker Aktivisten aus den 1990er-Jahren deuten, die den initiierenden Impuls ihrer politischen Tätigkeit ihrer Arbeitslosigkeit bzw. den Sparpolitiken Thatchers zuschreiben: »Maybe it is Mrs Thatcher who should be thanked most because many of our activists were unemployed, early retirees or redundant and were able to give all of their time to fighting the campaign.«347 In der Bundesrepublik waren die politischen Milieugrenzen in puncto Mobilisierung bzw. Nichtmobilisierung von Arbeitslosen weniger scharf gezogen. Performative Praktiken des Nichtstuns gehen hier auf Jugend- und soziale Bewegungen der 1960er-Jahre zurück. So waren die »Gammler« seit Mitte der 1960er-Jahre im öffentlichen Raum unterwegs. Die passive Provokation der auf grob 1.000 Beteiligte geschätzten Gruppe der jugendlichen Gammler beschrieb der Spiegel im September 1966 plastisch: Dann kamen die Gammler. Sie probten keinen Aufstand, sie erhoben sich nicht. Sie legten sich nieder und schlugen nicht zu. Die jungen Helden waren müde. Sie kreierten die langsamste Jugendbewegung aller Zeiten: den Müßiggang.348

Zitiert wurde u. a. »Boris, 25 aus Berlin« mit den Worten »Ich mache das, wozu ich Lust habe: saufen, pennen, lieben. Arbeit schändet!«349 347 Zitiert nach: George McKay, DiY Culture: Notes toward an Intro, in: ders. (Hrsg.), DiY Culture. Party and Protest in Nineties Britain, London 1998, S. 1–53, hier: S. 21. 348 Schalom aleichem, in: Der Spiegel 20 (1966), 39, S. 70–80, hier: S. 75, https://www.spiegel.de/ politik/schalom-aleichem-siehe-titelblld-a-3ae609ab-0002-0001-0000-000046414560, 30.01.2023; vgl. auch: Heiko Geiling, Punk als politische Provokation: Mit den ChaosTagen in Hannover zur Politik des ›gesunden Volksempfindens‹, in: Roland Roth / Dieter Rucht (Hrsg.), Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz?, Opladen 2000, S. 165–182, hier: S. 165; Schildt / Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte, S. 258 f.; Walter Hollstein, Die Gegengesellschaft. Alternative Lebensformen, Bonn 1980. 349 Schalom aleichem, in: Der Spiegel 20 (1966), 39, S. 70–80, hier: S. 75, https://www.spiegel.de/ politik/schalom-aleichem-siehe-titelblld-a-3ae609ab-0002-0001-0000-000046414560, 30.01.2023.

Taktiken der Unterlassung

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Der Protestgestus des Nichtstuns setzte sich in den 1970er-Jahren fort. Eines der wichtigsten Vernetzungstreffen des alternativen Milieus machte Nichtstun zum Motto, wenngleich nicht zum Programm. Die Teilnehmer des »Tunix«-Kongress im Januar 1978 beschrieben sich selbst als »Knastgruppen, Wohngemeinschaften, Zeitungsinitiativen, Theatermacher, Antipsychiatristen, Unifreaks, Arbeitslose, Schwule, Mescaleros, Stadtindianer« und reihten Arbeitslose damit in eine Gruppe marginalisierter Freaks mit Anarchiepotential ein.350 »Tunix ist besser als arbeitslos,« kommentierte Wolfgang Neuss lakonisch die Veranstaltung, mit der er die funktionale Auffassung von Arbeitslosigkeit im alternativen Milieu andeutet.351 Angesichts der Berufsverbote im Zuge des Radikalenerlasses von 1972 war Arbeitslosigkeit unter westdeutschen Akademikern in den 1970erJahren unter Umständen eine politische Markierung, ansonsten Teil einer lässigen Selbstinszenierung, sich von gesellschaftlichen Normierungen zu distanzieren, die aber nicht so weit ging, arbeitslos nichts zu tun. Hinter dem lässigen Gestus von »Tunix« verbargen sich handfeste soziale und politische Anliegen, die sich am innenpolitischen Klima des »Deutschen Herbstes« 1977 festmachten, aber weiterreichende linke Positionen von Umwelt- und Energiepolitik, Fragen von Geschlechterpolitik und alternativer Lebensführung diskutierten und institutionalisierten (Gründung der taz und der Grünen Partei).352 »Für mich (…) hatte der Titel ›Tunix‹ nichts mit Nichtstun oder Rückzug zu tun, sondern im Gegenteil mit einer Suche,« so der spätere taz-Kulturredakteur Mathias Bröckers 2008.353 Es wäre zu platt, mit dieser Suche die »Suche nach Erwerbsarbeit« gleichzusetzen, zudem es bereits Zeitgenossen schwer fiel zwischen dem lebensweltlichen »Reservat, in dem Jugendlichen, die nicht mehr mitmachen wollen, 350 Ronald Glomb, Auf nach Tunix – collagierte Notizen zur Legitimationskrise des Staates, in: Jens Gehret (Hrsg.), Gegenkultur heute. Die Alternativbewegung von Woodstock bis Tunix, Amsterdam 1979, S. 137–144, hier: S. 137; Treffen in Tunix (I), in: Johannes Schütte (Hrsg.), Revolte und Verweigerung. Zur Politik und Sozialpsychologie der Sponti­bewegung, Gießen 1980, S. XXIV–XXVI; hierzu und im Folgenden auch: Wiede, Die glücklichen Arbeitslosen; allgemein auch: Yvonne Robel, Von passiven Gammlern zu professionellen Müßiggängern? Mediale Bilder des Nichtstuns seit den 1960er Jahren, in: Petra Terhoeven / Tobias Weidner (Hrsg.), Exit. Ausstieg und Verweigerung in ›offenen‹ Gesellschaften nach 1945, Göttingen 2020, S. 290–312. Die Schlussfolgerungen von Robel teile ich jedoch nur eingeschränkt. 351 Wolfgang Neuss, Tunix ist besser als arbeitslos. Sprüche eines Überlebenden, Reinbek bei Hamburg 1985. 352 Eine verharmlosende Darstellung des Tunix-Kongresses (anschließend an den 68erChronisten Wolfgang Kraushaar mit den entsprechenden Deutungshoheiten der 68erGeneration über ihre eigene Geschichte)  bei: Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015, S. 146–148; differenzierter: Anina Falasca, »Spaßige Spontis« und »fröhliche Freaks«. Zur theoretischen Neuorientierung der Neuen Linken um 1978, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte 17 (2018), 2, S. 72–87; zeitgenössisch: Tilman Fichter / Siegward Lönnendonker: Von der APO nach TUNIX , in: Claus Richter (Hrsg.), Die überflüssige Generation. Jugend zwischen Apathie und Aggression, Königstein / Taunus 1979, S. 132–150. 353 Zitiert nach: Falasca, »Spaßige Spontis« und »fröhliche Freaks«, S. 75.

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Heterotopien, Gegen-Verhalten, Protest – der Arbeitslosigkeit entwischt?

ein Rentnerdasein auf Staatskosten ermöglicht wird« und dem »Ghetto«, das »Widerstandspotential gegen politischen und kulturellen Konformismus« generierte, substantiell zu unterscheiden.354 Arbeitslossein war in diesen Kontexten mehrdeutig zu lesen: als ökonomische Zwangslage unsicherer Erwerbskarrieren und als Standpunkt, der politischen Handlungsspielraum eröffnete. Das West-Berliner Umwelt-Festival, im Juni / Juli 1978 veranstaltet, widmete den Arbeitslosen einen ganzen Veranstaltungstag unter dem Motto »Arbeit hau ab, wir kommen  – Tag der Arbeitslosen«.355 Ähnlich wie beim »Tunix«Kongress war Arbeitslosigkeit eine Zeit, die für politische Arbeit genutzt werden sollte. Temporär frei von Arbeitshierarchien, boten sich Freiräume politischer Arbeit: wir »denken daran, daß Arbeitslose ja auch frei von Chefs sind. Was wir mit dieser Freiheit machen können, besonders im Zusammenhang mit den jeweiligen Themen, darüber wollen wir nicht nur quatschen.«356 Die vagen Programmvorstellungen dürften sich um die umwelt- und energiepolitischen Fragen des Festivals gedreht haben, fanden aber bei Arbeitslosen »kaum Resonanz.«357 Mangelnde Teilnahme war generell das Problem arbeitsloser Selbsthilfe- und Initiativgruppen, daran änderten auch linksalternative Jobber- und Erwerbslosengruppen nichts, die Anfang der 1980er-Jahre vorwiegend im norddeutschen Raum gegründet wurden, und sich Sozialmissbrauch durch Nichtstun auf die Fahnen geschrieben hatten.358 Die bereits erwähnten Gruppen, wie die »Schwarze Katze« (Hamburg) oder das Arbeitslosenforum Bremen, traten im Rahmen ihrer Arbeitslosenmobilisierung konsequent für die Abschaffung von Lohnarbeit ein und plädierten für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens: Wir begreifen uns nicht als Opfer der Arbeitslosigkeit. Wir führen unseren Kampf nicht darum, möglichst schnell wieder Maloche zu bekommen. (…) Als Schritte in diese Richtung [bedingungsloses Grundeinkommen] schlagen wir vor: 1. Vollständiges Ausnutzen der sozialen Hängematte: Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe, Wohngeld, Kuren, Krankengeld.359

Ihre Aktionen spielten auf Praktiken von Absentismus an, die im linksalternativen Milieu in Ratgeberform bereits in den 1970er-Jahren zirkulierten und in denen Simulation von Krankheiten, Krankfeiern und Blaumachen als politische Protestpraktik gegen krankmachende Verhältnisse von Lohnarbeit gedeutet werden,

354 Fichter / Lönnendonker, Von der APO nach TUNIX , S. 148. 355 Vorläufiges Programm, in: Wer keinen Mut zum Träumen hat – hat keine Kraft zum Kämpfen. Eine Dokumentation des Alternativen Umweltfestivals Berlin (04.06.– 16.07.1978), Berlin 1978, S. 61. 356 Ebd. 357 Ebd., S. 58. 358 Rein, Proteste von Arbeitslosen, S. 597, zur »Schwarzen Katze« vgl. Kap V.3.1. 359 Afas-Archiv Duisburg, Arbeit für alle oder Abschaffung der Lohnarbeit. Hrsg. v. d. Initiative Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Jobber, Ausländer, 12/1982, S. 1 f.

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dennoch nicht für sich stehen, sondern Mittel zum Zweck sind, »um einen klaren Kopf für subversive Gedanken« zu bekommen.360 Ähnlich waren die Ansätze in der westdeutschen autonomen Hausbesetzerszene gelagert, in der es Anfang der 1980er-Jahre Tendenzen gab, im »Kampf gegen die Arbeit, den Kampf vom Klassenstandpunkt aus zu organisieren« und die »Arbeitslosen und Marginalisierten« als »abstrakte[n] Mobilisierungspunkt« zu nutzen.361 Diese kurzlebige Kampagne führten Autonome durchaus im eigenen Interesse, denn spätestens Anfang der 1980er-Jahre stellte sich die Frage, wie es möglich sei, »trotz so genanntem Abbau des Sozialstaats weiterhin locker Kohle« zu ziehen.362 Schnell wurde klar, dass die Erwartungen der Szene an ihre Mobilisierungsobjekte zu hoch waren. Aktionen der Autonomen, wie »Nulltarifkampagnen, Flugblätter vor den Ämtern, Erwerbslosenfrühstück«, lockten »keinen Hund (…) hinterm Ofen« vor.363 Die politische Reichweite der autonomen Szene war vermutlich zu gering, um Arbeitslose in ihren diffusen Interessen anzusprechen. Der Appell zum solidarischen Protest gegen die Arbeitsgesellschaft verhallte ungehört. In den 1990er-Jahren lassen sich in der wiedervereinigten Bundesrepublik Tendenzen feststellen, die Rückzugsmomente als solche zum spontan anmutenden Protest umzugestalten. Gammeln war als politischer Gestus auch in der Artikulation der Interessen Arbeitsloser denkbar. Selbst seitens der Gewerkschaften hinterfragte man auf dem neunten Treffen gewerkschaftlicher Arbeitsloseninitiativen 1994 den Ansatz des »Arbeit um jeden Preis«. Stattdessen bediente man sich der Mittel des öffentlichen Happenings und legte sich in der Bielefelder Fußgängerzone in den Liegestuhl mit dem Hinweis an die Passanten: »Haben Sie ein Glück! Solange ich hier liege, nehme ich Ihnen nicht den Arbeitsplatz weg!«364 Im Kontext der Bundestagswahl 1998 formierten sich außerhalb von Parteiund Gewerkschaftspolitik experimentelle Kunst- und Theateraktionen, die Kritik an der Arbeitsgesellschaft subversiv formulierten. Die Anarchistische Pogo360 Publiziert 1980: AutorInnenkollektiv, Wege zu Wissen und Wohlstand oder Lieber krankfeiern als gesundschuften!, Lollar 1980, hier: S. 102; auch erschienen als: Dr. A. Narcho / Dr. Marie Huana / Privatdozent Dr. Kiff-Turner, Wege zu Wissen und Wohlstand. Oder: Lieber krankfeiern als gesundschuften, Bremen 1981. 361 Afas-Archiv Duisburg, Libertäre Tage. Von sozialen Bewegungen zur sozialen Revolution in Frankfurt / F H. 16.04. bis 20.04 [1987], S. 4. 362 Zitat: ebd.; in Anlehnung an Sebastian Haunss, der davon spricht, dass in der autonomen Szene »ein hohes Sozialstaatsniveau existentielle Fragen des Lebensunterhalts (…) weniger in den Vordergrund treten« ließ vgl. Sebastian Haunss, Antiimperialismus und Autonomie – Linksradikalismus seit der Studentenbewegung, in: Roland Roth / Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt / Main, New York 2008, S. 447–473, hier: S. 451. 363 Afas-Archiv Duisburg, Libertäre Tage, S. 4. 364 Afas-Archiv Duisburg, Gunter Troost, Arbeit um jeden Preis? Arbeitslosenzeitung Dortmund, Nr. 30, September 1994, S. 7.

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Heterotopien, Gegen-Verhalten, Protest – der Arbeitslosigkeit entwischt?

Partei Deutschlands (APPD) trat mit dem Motto an »Arbeit ist scheiße« und plädierte in ihrem Parteiprogramm »in den Traditionen der Punk- und Pöbel-­ Bewegung« auf das »Recht auf Arbeitslosigkeit bei vollem Lohnausgleich.«365 In der informellen Aktionsgruppe »Die glücklichen Arbeitslosen« wurde arbeitsloses Nichtstun schließlich zur Protestform erhoben.366 In den Jahren 1996–2002 und im Kontext der Ostberliner Volksbühne verortet, veröffentlichten sie ein Dutzend Manifeste, Aufrufe und Faulheitspapiere sowie in unregelmäßiger Folge die Zeitschrift »Müßiggangster«. Laut Guillaume Paoli, einem Hauptakteur der Gruppe, war die Namensähnlichkeit zur Zeitschrift »Der glücklichen Arbeitslose«, die der linke Aktivist und Schriftsteller PeterPaul Zahl in seinen 1979 veröffentlichten Roman »Die Glücklichen. Schelmenroman« eingebaut hatte, zufällig, jedoch fühle man sich geistig und politisch verwandt.367 Zahls in Inhaftierung verfasste anarchistische Kapitalismuskritik entstand in Auseinandersetzung mit dem so genannten Radikalenerlass von 1972 und der folgenden Politisierung von Arbeitslosigkeit der Betroffenen.368 Phantasien, wie »Arbeitslosigkeit für alle«, »Arbeits- und Sozialämter [als] Stätten freudiger Begegnung«, »arbeitslos und brünstig – glücklich das ganze Jahr über« oder die Idee einer »Partei gegen die Arbeit« lesen sich gleichwohl als Blaupause für die »Glücklichen Arbeitslosen« der 1990er-Jahre. Im Wesentlichen, so Guillaume Paoli über die Anfänge der »Glücklichen Arbeitslosen«, bestanden ihre »Aktionen« darin, öffentlich nichts zu tun, denn »wer zu Hause nichts tut, nimmt nicht wahr, daß er nichts tut (…), hingegen gewinnt das Nichtstun im öffentlichen Raum gleich eine neue Qualität, etwas wie ein politisches Statement oder eine künstlerische Performance.«369 Ihr subventioniertes Nichtstun rechtfertigten sie als Dienst am Gemeinwohl, denn, so die »Glücklichen Arbeits-

365 Afas-Archiv Duisburg, Die 10 fiktiven Politikleitlinien der Anarchistischen Pogo-Partei Deutschland (APPD), afas 90 II 1995:14; ähnlich: Das APPD -Grundsatzprogramm, Frieden, Freiheit, Abenteuer!, http://www.appd-gdnk.de/appd/programm, 30.01.2023. 366 Vgl. Guillaume Paoli (Hrsg.), Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche. Aufrufe, Manifest und Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen, Berlin 2002; Rein, Proteste von Arbeitslosen, S. 602; Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 293–296. 367 Guillaume Paoli, Aussteigen für Einsteiger. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche, S. 7–27, hier: S. 14; Peter-Paul Zahl, Die Glücklichen. Schelmenroman, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 197–221; Jan Henschen, »Die Glücklichen«. Peter Paul Zahl über Kreuzberger Alternativen, Militanz und Melancholie, in: Cordia Baumann / Sebastian Gehrig / Nicolas Büchse (Hrsg.), Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er-Jahren, Heidelberg 2011, S. 307–322; Torsten Erdbrügger, Ein Schelm, wer da an Arbeit denkt. Peter-Paul Zahls glückliche Arbeitslose, in: ders. / Ilse Nagelschmidt / Inga Probst (Hrsg.), Omnia vincit labor? Narrative der Arbeit – Arbeitskulturen in medialer Reflexion, Berlin 2013, S. 441–458. 368 Zitate: Zahl, Die Glücklichen, S. 198–202. 369 Guillaume Paoli, Einstieg, in: ders. / Anne Hahn (Hrsg.), Sklavenmarkt. Utopie und Verlust. Zum Werden und Vergehen einer Veranstaltungsreihe im Unterleib Berlins, Berlin 2000, S. 7–10, hier: S. 7.

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losen« in ihrem Gründungsmanifest »Auf der Suche nach unklaren Ressourcen«, »da die wenigen Stellen, die es gab, von Menschen begehrt wurden, die partout arbeiten wollten, betrachteten wir es als unsere altruistische Pflicht, sie ihnen zu überlassen und selbst auf die Mangelware Arbeit zu verzichten.«370 In ihren Happenings und Kunstaktionen führten sie unter anderem den »Tauglichkeitstest zur Eignung als Glücklicher Arbeitsloser« oder einen Stellen­ ablehnungsgenerator vor. So genannte »Noworkshops« wurden veranstaltet, die »fit for unemployment« machen sollten oder ein Personality Styling, das Hinweise dahingehend gab, »welche Stilrichtung passt nicht zu mir« oder »wie drückt man am besten Schwachpunkte aus«, denn »für den ersten (schlechten) Eindruck gibt es keine zweite Chance«.371 Das Eintreffen des »Europäischen Marsches gegen Erwerbslosigkeit« in Berlin im Frühjahr 1997 beobachteten sie demonstrativ in Liegestühlen, den hauseigenen Sekt »Chômeur Brut« verkostend und locker plaudernd.372 Spaziergänge der Gruppe, die nicht allzu zielorientiert verlaufen sollten, führten zur kurzzeitigen Besetzung von Räumlichkeiten im Arbeitsamt, zu spontanen Bewerbungsaktionen (Deutsche Bank) oder zu mehr oder minder erfolgreichen Essensschnorrereien (Italiener, Café Einstein). Die Spaßguerilla der »Glücklichen Arbeitslosen« machte sich offenkundig mit gewolltem Dilettantismus, »belanglosen Possen und anarchischem Infantilismus« über gängige arbeitsmarktpolitische Aktivierungsmaßnahmen, wie Bewerbungstraining oder Kompetenzerwerb lustig, distanzierten sie sich aber auch von aktivistischen Formen politischen Protests. Eine Klassifizierung der Gruppe als harmlose Spaßkultur würde ihr widerständiges Potential unterschätzen. Die Kritik der »Glücklichen Arbeitslosen«, so stellte es auch zeitgenössisch Ulrich Beck fest, richtete sich gegen die Aktivitätsappelle der Arbeitsgesellschaft sowie die Gleichsetzung von Arbeitslosigkeit und Nichtstun mit Unglück.373 Ihr Ziel sei hingegen, nicht mehr die Erweiterung einer marginalen Position, sondern die Verringerung der allgemeinen Verzweiflung (…). Vor fünfundzwanzig Jahren war die Vorstellung vom glücklichen Arbeitslosen eine echte Provokation. Das Neue ist heute, daß sie die meisten nicht mehr schockiert, sondern Sehnsucht erweckt.374

Sie beanspruchen die Sagbarkeit des arbeitslosen Glücks und seine breite Akzeptanz:

370 Paoli, Aussteigen für Einsteiger, S. 9. 371 Tauglichkeitstest zur Eignung als Glücklicher Arbeitsloser, Stellenablehnungsgenerator, in: Paoli, Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche, S. 74 f. 372 Wir bleiben liegen. Neuester Untätigkeitsbericht der Glücklichen Arbeitslosen, in: Paoli, Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche, S. 79 f. 373 Ulrich Beck, Das große Los – arbeitslos, in: Süddeutsche Zeitung, 19.06.1998, S. 13. 374 Paoli, Aussteigen für Einsteiger, S. 12.

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Heterotopien, Gegen-Verhalten, Protest – der Arbeitslosigkeit entwischt?

In der Öffentlichkeit darf nur von Arbeitsmangel die Rede sein, erst in privaten Sphären, abseits von Journalisten, Soziologen und anderen Schnüfflern, wagt man aufrichtig zu sein: ›Ich wurde entlassen, geil! Endlich habe ich Zeit jeden Tag auf Parties zu gehen, brauch nicht mehr aus der Mikrowelle zu essen und kann ausgiebig vögeln.‹375

Die »Glücklichen Arbeitslosen« fanden Nachahmer, wenngleich nur vereinzelte und kurzlebige Gruppen, wie die so genannten »Überflüssigen«, die unmittelbar vor Einführung der Hartz IV-Regelungen zum Jahresbeginn 2005 mediale Aufmerksamkeit erlangten, indem sie den Betrieb in Edelrestaurants störten und sich von den Tellern der Anwesenden bedienten.376 Aufzuhalten war die Hartz IV-Sanktionsmaschinerie nicht, und dies war auch ein Grund dafür, dass das Glück der Arbeitslosen die Jahrtausendwende nur kurz überlebte. Das soziokulturelle Milieu, die, wie Paoli schreibt, »Zwischenzeit«, in dem sich die »Glücklichen Arbeitslosen« in den Freiräumen des Nachwende-Berlins bewegten, verlor seine kostengünstige Lebensqualität.377 Berlin wurde Hauptstadt. Brachen und leere Räume wurden neu bebaut und genutzt. Häuser wurden renoviert, Hausbesetzungen geräumt, die Mietpreise zogen an. In Großbritannien sind vergleichbare Gruppierungen wie die der »Glücklichen Arbeitslosen« in diesem Zeitraum nicht zu beobachten. Proteste sozialer Bewegungen bedienten sich in der so genannten »Do-it-Yourself Culture« der 1990er- und 2000er-Jahre ähnlich subversiv-passiver und gewollt dilettantischer Praktiken: Besetzungen (von Straßen und Häusern), Ablehnung von Kapitalismus und Konsum sowie verschwimmenden Grenzen zwischen Party und Protest.378 Ebenso wie autonomer Selbstausdruck und Selbstsorge in den verschiedenen Ausprägungen der DIY-Bewegung gepflegt wird, befürworten ihre Anhänger einen anti-kapitalistischen, hedonistischen Lebensstil der »good-for-nothing layabouts«.379 Arbeitsloses Nichtstun wurde allerdings nicht als politisches Statement formuliert, und explizite Kritik der Arbeitsgesellschaft wurde in Großbritannien erst wieder in jüngster Gegenwart und zwar von Anarchisten formuliert.380 Neben der restriktiveren Sozialpolitik unter Thatcher und Blair, dem teilweise gemäßigteren Charakter sozialer Proteste in 375 Auf der Suche nach unklaren Ressourcen, in: Paoli (Hrsg.), Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche, S. 30–45, hier: S. 32. 376 Susanne Stracke-Neumann, »Widerstand darf auch Spaß machen«. Die Überflüssigen, GALIDA und andere »Provokateure«, in: Hannack / Jirku / Menze (Hrsg.), Erwerbslose in Aktion, S. 113–124. 377 Paoli, Einstieg, S. 8. 378 Zum Folgenden: Paul Byrne, Social Movements in Britain, London, New York 1997; George McKay, Senseless Acts of Beauty. Cultures of Resistance since the Sixties, London, New York 1996; ders. (Hrsg.), Party & Protest in Nineties Britain, London, New York 1998. 379 Zitiert nach: McKay, Senseless Acts of Beauty, S. 1. 380 Vgl. Work. Collaborative Project of Anarchist Federation and Red and Black Leeds, o. O. 2015 (EA).

Taktiken der Unterlassung

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den 1960er- und 1970er-Jahren sowie dem schlichten Fehlen der Ostberliner »Zwischenzeit« und ihrer sozialen Freiräume nach der Wiedervereinigung, dürfte hierfür eine höhere Erwerbsorientierung im sozialistischen Lager ursächlich sein, die Paolis Ansatz nicht nachvollziehbar machte.381 Im Unterschied zu zeitgenössischen Soziologen schätzte Ulrich Bröckling wenige Jahre später das widerständige Potential der »Glücklichen Arbeitslosen« gegen das unternehmerische Selbst, gegen »die Ökonomisierung des Individuums« gering ein.382 Zum einen sei ihr diffuser Ansatz des »passiven Aktivismus« zu leicht in marktgängige Verharmlosungen von Arbeitslosigkeit einzupassen. Zum anderen waren, und hier spielt der Soziologe Bröckling den Historikern den Ball zu, »Protagonisten des geschäftigen Nichtstuns der historische Ort (…) und die begrenzte Lebensdauer dieser Gestalt.«383 Doch gerade den historischen Ort gilt es hier festzuhalten als ein Bedingungsgefüge, subjektiven Spielraum zu eröffnen. Um es mit Foucault zu sagen, produzierten die »Glücklichen Arbeits­ losen« historische Situationen des »Entwischens«, die ihnen für einen historischen Augenblick den freilich milieu- und öffentlichkeitsabhängigen Raum boten, jenseits der subjektivierenden Anrufung als »Arbeitslose«, im Sinn einer sozialen Kategorie, eigensinnig nichts zu tun.

381 Zu den sozialen Bewegungen in Großbritannien: Byrne, Social Movements, S. 4; zu Paoli: The Happy Unemployed Worker and the Work of the Negative, Paris 2017. 382 Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 196 f. 383 Ebd., S. 197.

VI. Soziale Mobilität oder der fast unaufhaltsame Abstieg der Arbeitslosen

Fragen nach der sozialen Bedingtheit von Subjektivierung, wie sie soziale Differenzen und asymmetrische Herrschaftsverhältnisse bezeichnen könnten, bleiben in der Subjektforschung erstaunlich oft ausgeklammert. Dies zeigt sich vor allem in der sozialen Fokussierung historisch argumentierender Subjektstudien, deren relativ unhinterfragter inhaltlicher Schwerpunkt auf bürgerlichen, weißen, zumeist männlichen Lebens- und Denkwelten liegt. Erfolgreiche, im Sinne einer historisch überlieferten, Subjektivierung erfordert, folgt man dem bisherigen historischen Forschungsstand insbesondere hinsichtlich der für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts propagierten Selbst-Techniken von Optimierung, Autonomie und Authentizität, ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Artikulationsfähigkeit, an kulturellem Kapital, wenn nicht sogar »bürgerlicher Tugenden« von Selbstkontrolle und Selbststeuerung.1 Die deutschsprachige Subjektanalyse kann hier ihre Provenienz aus der Kultursoziologie nicht verleugnen. Zwar sind Bezugnahmen von Subjektanalysen zu Problemen sozialer Dynamiken und Asymmetrien wie der Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus unverkennbar und auch teilweise explizit, jedoch zumeist reduziert auf das Subjekt als Habitus-Träger, das sich kultureller Distinktion bedient.2 Inwiefern gesellschaftliche Strukturen reproduziert oder neu produziert werden und welche Subjektivierungsmodelle oder -techniken dies im sozialen Prozess hervorbringt oder erforderlich macht, bleibt gegenwärtig zumeist beschränkt auf diffuse Abstiegsängste oder aufstiegsorientierten Selbstausdruck von »Mittelschichten«, die politische Verwerfungen und gesamtgesellschaftliche Polarisierungen nach sich ziehen würden.3 In abstrakter gesellschaftstheore1 Vgl. Uwe Schimank, Die Moderne als immer noch bürgerliche Gesellschaft. Anmerkungen zu Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt, in: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformation. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008. Bd. 2, Wiesbaden 2010, S. 763‒771; vgl. hierfür vor allem: Reckwitz, Das hybride Subjekt. 2 Vgl. Reckwitz, Subjekt, S. 39–51; an Bourdieu implizit angelehnt: ders., Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, vgl. dort das statische Bild der »Unterklasse«, S. 350–370. 3 Vgl. ders., Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019; die bisherige Fachkritik zusammenfassend und auf die Probleme der sozialstrukturellen Annahmen von Reckwitz hinweisend: Nils Kumkar / Uwe Schimank, Drei-Klassen-Gesellschaft? Bruch? Konfrontation? Eine Auseinandersetzung mit Andreas R ­ eckwitz’ Diagnose der »Spätmoderne«, in: Leviathan 49 (2021), S. 7–32; Reckwitz argumentiert in beiden Büchern allerdings nurmehr indirekt subjektanalytisch.

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Soziale Mobilität oder der fast unaufhaltsame Abstieg der Arbeitslosen

tischer Perspektive geht der Blick auf die konkrete, subjektive Erfahrungen sozialer Mobilität allerdings verloren. Die soziale Wirklichkeit erscheint als ein allzu statisches Tableau symbolischer, subjektivierender Auseinandersetzungen, deren Relevanzkriterien und soziale Ressourcen, oder schlichter: deren materielle und soziale Bedingungen als Erfahrungsraum von Subjekten, die unter Umständen kulturell nicht oder nur indirekt lesbar sind, nur unvollständig einkalkuliert werden. Inwieweit lässt sich Subjektformung aber im sozialen Raum, verstanden als stratifiziertes, soziales Feld, zum einen situieren und zum anderen als Faktor im Prozess von Subjektivierung historisch beschreibbar machen? Der soziale Raum ist bei Foucault in erster Linie als physischer Raum gedacht, der in seinen Ordnungsfunktionen sozial kritisiert wird: so die ausschließenden Räume von Klinik und Gefängnis oder die disziplinierenden Räume von Schule und Fabrik. Zwar auf mikropolitischen Machtverhältnissen basierend und insoweit auf vielfältige Weise sozial stratifiziert und ökonomische Ungleichheiten reproduzierend, benennt Foucault klar die Verankerung von Macht in den Köpfen und Körpern von Subalternen. Die soziale Dynamik dieser Machtapparate ist jedoch eher von Ein- und Ausschluss gekennzeichnet, denn durch soziale Dynamiken von Auf- und Abstieg oder Differenz und Durchlässigkeit. Das Subjekt bewegt sich bei Foucault vor allem in mehrdimensionalen Relationen zu historischen Ordnungen von Wissen und Macht, wird jedoch weniger in Relation zu sozialen und materiellen Prozessen als Ressource von Selbstführung gedacht. An dieser Stelle sind Überlegungen über die Effekte sozialer Positionierung zu ergänzen, um Subjektivierungsprozesse als »Produkt des Eingeschriebenseins bestimmter gesellschaftlicher Erfahrungen in eine gesellschaftliche Ordnung« zu lesen.4 Für die Subjektivierung von Arbeitslosigkeit ist dieser Punkt besonders zu beachten, konstatierten doch Sozialwissenschaftler der 1980er-Jahre, dass Arbeitslosigkeit als sozial heterogene Erfahrung begriffen werden müsse. Die Forderung nach »differentieller Arbeitslosenforschung«, die am nachdrücklichsten vom Sozialpsychologen Alois Wacker vertreten wurde, setzte in erster Linie bei den psychosozialen Auswirkungen längerfristiger Arbeitslosigkeit an, die für verschiedene Gruppen sozial differenziert betrachtet werden sollte.5 In zweiter Linie wurde festgestellt, dass Zugangs- und Verbleibrisiken in Arbeitslosigkeit, finanzielle Belastungen und individuelle Bewältigung in Abhängigkeit von Lebensalter, Qualifikation und Familienstand sozial different verteilt seien und dies in sozialwissenschaftlich abgeleitete Lösungsperspektiven des gesellschaftlichen Problems Arbeitslosigkeit einzubeziehen sei.6 Arbeitslosigkeit traf nicht jeden und jede gleich, sondern abhängig von der Position im sozialen Raum – 4 Pierre Bourdieu, Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997, S. 461. 5 Vgl. Wacker, Differentielle Verarbeitungsformen von Arbeitslosigkeit. 6 Vgl. Heinelt / Wacker / Welzer, Arbeitslosigkeit in den 70er und 80er Jahren.

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so könnte man es trivial zusammenfassen. Das arbeitslose Subjekt, in seinem Selbstverhältnis wie als sozial hergestelltes, ist als sozial positioniertes Subjekt zu perspektivieren, dessen Dispositionen für spezifische Formen des Urteilens und Handelns davon abhängen, welchen »Sinn für die eigene Stellung im sozialen Raum« entwickelt werden kann.7 Die Erfahrungen von Arbeitslosen als Symptome ihrer Positionierung und Bewegung im sozialen Raum zu lesen, bleibt Aufgabe des folgenden Kapitels. Im Aufbau orientiert es sich an der Lebenslaufforschung und den dort als »Übergängen« definierten Ereignissen in Arbeitsbiographien bzw. Arbeitslosenbiographien: zum einen der Berufseintritt, d. h. der Übergang von der Schule in den Beruf bzw. in die Arbeitslosigkeit und zum anderen der Austritt aus dem Erwerbsleben, d. h. der Eintritt in den Ruhestand.8 Ergänzt werden diese Kapitel um Beobachtungen zu den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Mobilität im sozialen Raum, d. h. es wird vor allem darum gehen, dass Arbeitslosigkeit sozial depravierend wirkt. Inwiefern Arbeitslosigkeit sozialen Spielraum, einschließlich des sozialen Aufstiegs, eröffnete, ist empirisch, insbesondere im Ländervergleich schwierig nachzuweisen. Pessimistische Ausgangshypothese für die 1980er- bis 2000er-Jahre bleibt, dass Arbeitslose die »absolute[n] Absteiger« sind.9 Daneben ist aber darauf hinzuweisen, dass industrieller Strukturwandel als solcher, der bildungspolitisch in Form von Bildungsförderung in der Bundesrepublik in den 1960er-Jahren antizipiert wurde, sozialen Aufstieg erleichterte und im Durchschnitt zu höheren Bildungsqualifikationen in betroffenen Regionen führen konnte.10 Strukturpolitisch diente so die präventive Abwehr von Arbeitslosigkeit der sozialen Aufwärtsmobilität. Zeitgenössisch war für die Bundesrepublik die Auffassung, dass »Höherqualifizierte und Besserverdienende das System [der Arbeitslosenversicherung] nutzen, um ›Orientierungsphasen‹ und Lücken zwischen verschiedenen Tätigkeiten zu füllen,« verbreitet.11 Adressaten dieser Annahme, die durchaus dem Topos des arbeitslosen »Sozialschmarotzers« verwandt war, waren die seit den frühen 7 Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la leçon, Frankfurt / Main 1985, S. 17. 8 Zur umfangreichen Lebenslaufforschung vgl. z. B. Reinhold Sackmann / Matthias Wingens, Theoretische Konzepte des Lebenslaufs: Übergang, Sequenz und Verlauf, in: dies. (Hrsg.), Strukturen des Lebenslaufs. Übergang, Sequenz, Verlauf, Weinheim, München 2001, S. 17–48; vgl. auch: Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 297–301. 9 Christoph Weischer, Soziale Ungleichheiten 3.0. Soziale Differenzierungen in einer transformierten Industriegesellschaft, in: AfS 54 (2014), S. 305–342, hier: S. 335. 10 Vgl. Ingrid Miethe u. a., Bildungsaufstieg in drei Generationen. Zum Zusammenhang von Herkunftsmilieu und Gesellschaftssystem im Ost-West-Vergleich, Opladen 2015; für das Ruhrgebiet im Strukturwandel: dies. / Regina Soremski, Bildungsaufstieg und sozialer Wandel. Biographische Verläufe im Kontext des Niedergangs des Ruhrbergbaus, in: SaraMarie Demiriz / Jan Kellershohn / A nne Otto (Hrsg.), Transformationsversprechen. Zur Geschichte von Bildung und Wissen in Montanregionen, Essen 2021, S. 313–327. 11 Vgl. Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, S. 302.

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1980er-Jahren vermehrt von Arbeitslosigkeit betroffenen »Jungakademiker«, d. h. Akademikerinnen und Akademiker nach dem ersten berufsqualifizierenden Studienabschluss.12 Die »Akademikerarbeitslosigkeit« betraf vor allem die Geburtskohorte der um 1960 geborenen und unter ihnen die angehenden Lehrerinnen und Lehrer, die sich nach dem Studium bzw. Referendariat nach beruflichen Alternativen umsehen mussten. Eine Chance des mittelfristigen finanziell gesicherten, sozialen Aufstiegs oder auch nur der sozialen Sicherung bot sich den Akademikerinnen und Akademikern nach arbeitslosen »Orientierungsphasen« jedoch selten. Bestenfalls ließen sich private oder politische Projekte, Initiativen oder Aktivitäten der alternativen Szene kurzfristig umsetzen, sofern keine Per­ spektive von Erwerbsarbeit damit verbunden war und genügend finanzielle und soziale Ressourcen vorhanden waren, den Lebensunterhalt mittelfristig anderweitig zu sichern.13 Bei allem subjektiven Spiel- und Freiraum, die per Arbeitsamt finanzierte berufliche »Orientierungsphasen« u. U. boten, beruflicher Aufstieg gelang dabei, einer Untersuchung des IAB zum Verbleib von Hochschulabsolventinnen und -absolventen, die eine von der Bundesanstalt finanzierte berufliche Weiterbildung besuchten, eher selten. Vor allem männliche Akademiker, die eine Fortbildung im EDV-Bereich absolvierten, profitierten, während Frauen zur Bürokauffrau ausgebildet, vermutlich finanzielle Einbußen zum ursprünglich anvisierten Berufsziel »Lehrerin« hinnehmen mussten.14 Auch eine zeitgenössisch konstatierte, psychisch stabilere »Bewältigung« von Arbeitslosigkeit unter arbeitslosen Lehrerinnen und Lehrern nach absolviertem Referendariat war abhängig von deren finanziellen Ressourcen.15 Der als Akademiker gedachte »ABM-ler«, für Ulrich Herbert eine soziale Symbolfigur der 1980er-Jahre, war in der Regel im sozialen Status unsicher bzw. in prekärer Berufstätigkeit von einem hohen Armutsrisiko begleitet.16 So mag es einerseits einen Zusammenhang geben zwischen einer regen Alternativszene und der Arbeitslosigkeit der 1980er-Jahre oder auch, für Großbritannien, zwischen politischem Aktivismus in den 1990er-Jahren und einer übermäßigen 12 Zur »Lehrerarbeitslosigkeit« in der Bundesrepublik vgl. Sindy Duong, Lückenbüßerinnen. Lehrerarbeitslosigkeit als Frauenarbeitslosigkeit, 1975–1990, in: Zeitgeschichte-online. März 2019, https://zeitgeschichte-online.de/themen/lueckenbuesserinnen, 30.01.2023. 13 Vgl. allgemein zu einer kleinen Gruppe von Arbeitslosen, die ihre Zeit der Arbeitslosigkeit als Chance nutzen konnten: Kronauer / Vogel / Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft., S. 52 ff.; zu den Alternativprojekten und ihrer mangelnden ökonomischen Ergiebigkeit vgl. Henrik Kreutz / Gerhard Fröhlich / Dieter Maly, Alternative Projekte: Realistische Alternativen zur Arbeitslosigkeit?, in: Mitt AB 17 (1984), S. 267–273; Maja Binder, Von den Lebens- zu den Überlebensstilen? Langzeiterwerbslosigkeit in »nachtraditionalen« Lebensstilmilieus in Berlin-West 1994 am Beispiel von zwei Hochschulabsolvent / innen, in: WerkstattGeschichte 10 (1995), S. 29–41. 14 Vgl. Hans Hofbauer, Berufliche Weiterbildung für arbeitslose Jungakademiker, in: ­Mitt AB 18 (1985), S. 307–314. 15 Vgl. Ulich u. a., Psychologie der Krisenbewältigung, S. 219 f. 16 Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 970.

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und Arbeitslosigkeit vorbeugenden Förderung des Hochschulstudiums unter ­Margaret Thatcher.17 Andererseits war damit keine soziale Sicherheit verbunden und Verweise schlussendlich beruflich erfolgreicher Hochschullehrer auf »Phasen produktiver Arbeitslosigkeit« in ihrer akademischen Vita der 1980er-Jahre gehören nicht nur der Vergangenheit an.18 Sie sind auch Teil einer Selbstdistanzierung vom Stigma der unproduktiven Arbeitslosigkeit.

1.

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Die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen erregte in den 1970er- und 1980er-Jahren wissenschaftlich und medial besonderes Aufsehen. Die Erwerbslosigkeit von Schulabgängerinnen und Schulabgängern gefährdete schließlich, so die zeitgenössischen Analysen, nicht nur deren individuellen Berufseinstieg, sondern stellte auch die berufliche Zukunftsfähigkeit der gesamten Erwerbsbevölkerung oder auch des nationalen Arbeitskraftreservoirs in Frage. Tatsächlich waren Jugendliche unter 25 Jahren in beiden Ländern im Durchschnitt quantitativ überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen. In der ersten Hälfte der 1970er-Jahre stieg die Quote der arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren in der Bundesrepublik erheblich an: von 0,4  Prozent im Jahr 1970 auf 6,2 Prozent bei den unter 20-jährigen bzw. 6,5 Prozent bei den 20- bis 25-jährigen im Jahr 1975.19 In den Folgejahren sank die Quote, um seit 1980 wiederum exponentiell auf zweistellige Werte anzusteigen: 1985 lag die Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik bei den unter 25-jährigen bei 11,5  Prozent (14 Prozent bei den 20- bis 25-jährigen, 7,7 Prozent bei den unter 20-jährigen), um bis 1990 auf den Wert von 1980 abzusinken (ca. vier Prozent).20 In Großbritannien war die Lage noch weitaus dramatischer. Seit Mitte der 1960er-Jahre stieg die Quote der arbeitslosen Jugendlichen (unter 20 Jahre alt) nahezu kontinuierlich und zeitweise exponentiell an von 2,5  Prozent bei den Männern bzw. 1,3 Prozent bei den Frauen im Jahr 1967 auf nahezu 9,5 Prozent 17 George McKay, DiY Culture: Notes toward an Intro, in: ders. (Hrsg.), DiY Culture. Party and Protest in Nineties Britain, London 1998, S. 1–53, hier: S. 21. 18 Vgl. die Vita des verstorbenen Wissenschaftshistorikers Prof. Dr. Herbert Mertens / T U Braunschweig, https://www.ifg-braunschweig.de/ehemalige/prof-dr-herbert-mehrtens/, 30.01.2023. 19 Karen Schober / Gerhard Hochgürtel, Bewältigung der Krise oder Verwaltung des Mangels? Die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit 1974–1979, Bonn 1980, S. 11. 20 Schober, Jugend im Wartestand, S. 249; ähnlich: Raithel, Jugendarbeitslosigkeit, S. 14 f. (die Zahlen bei Raithel beziehen sich auf OECD -Angaben, bei Schober sind es Daten der Bundesanstalt für Arbeit).

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bei Männern und Frauen im Jahr 1977, abgesehen von einem kurzfristigen Einbruch der Arbeitslosenquote auf 3,3 Prozent bei den Männern bzw. 2,0 Prozent bei den Frauen 1972, als in England ein weiteres Pflichtschuljahr eingeführt wurde.21 Die Zahlen waren jedoch ein harmloses Vorspiel der Entwicklungen in den frühen 1980er-Jahren, als die Arbeitslosigkeit bei den unter 18-jährigen (Männer und Frauen) in den Sommermonaten 1981 und 1982 bei über 30 Prozent lag und bei den unter 20-jährigen bei 20 bis 25 Prozent.22 Die Zahlen arbeitsloser Schulabgänger verringerten sich in den Wintermonaten und nach einer veränderten Meldepflicht der Arbeitsverwaltungen 1982, wonach nur noch diejenigen Arbeitslosen registriert wurden, die zur Arbeitslosenunterstützung berechtigt waren. Der quantitative Schwerpunkt der Arbeitslosenzahlen verlagerte sich auf die über 20-jährigen, deren Arbeitslosenquote bis 1986 über 20 Prozent lag und dann langsam zurückging auf 13 bis 14 Prozent im Jahr 1989.23 Regional differierte die Jugendarbeitslosigkeit in beiden Ländern stark. In Regionen der strukturell geschwächten Montan- oder Schwerindustrie, d. h. Nordengland und Wales bzw. Nordwestdeutschland, dem Ruhrgebiet und der Saarregion lagen die Quoten erheblich über dem jeweiligen Landesdurchschnitt. So waren im Jahr 1974 im Bundesdurchschnitt 12,4 Prozent aller Arbeitslosen unter 20 Jahren alt, in den Arbeitsamtsbezirken Duisburg und Wesel hingegen 26,3  Prozent und in Saarlouis und Neunkirchen 22,2  Prozent bzw. 20,1  Prozent.24 1983 waren in Nordrhein-Westfalen 11,3 Prozent der Jugendlichen unter 20 Jahren arbeitslos, in Bremen 18,2 Prozent bei einem Bundesdurchschnitt von knapp neun Prozent Arbeitsloser unter 20 Jahren.25 In Liverpool, vom Wegfall der Schiffbau- und Hafenindustrie gebeutelt, waren 1985 nur knapp acht Prozent aller 16-jährigen Schulabgänger im Dezember überhaupt erwerbstätig.26 In einzelnen Straßenzügen waren 1980 im Liverpooler Stadtzentrum 45 Prozent aller Jugendlichen unter 20 Jahren arbeitslos. Die Ursachen der Jugendarbeitslosigkeit lagen in beiden Ländern im Lehrstellenmangel, bedingt in der anhaltenden Rezession und dem wirtschaftlichen Strukturwandel. Hinzu kam das demographische Phänomen der geburtenstarken Kohorte der um und nach 1960 Geborenen, die auf den Ausbildungsmarkt bzw. einige Jahre später auf den Arbeitsmarkt strömten und das Ungleichgewicht zwischen Arbeitskräfteangebot und Bewerbernachfrage noch erhöhten.

21 Angaben nach: David Metcalf, Unemployment in Great Britain. An Analysis of Area Unemployment and Youth Unemployment, Berlin 1979, S. 43, Metcalf nutzt Daten des Department of Employment vgl. Employment Gazette 86 (1978), S. 913. 22 Vgl. Employment Gazette 91 (1983), S. 29. 23 Vgl. Employment Gazette 95 (1987), S. S 26; Employment Gazette 98 (1990), S. S 35. 24 Vgl. Raithel, Jugendarbeitslosigkeit, S. 39. 25 Vgl. ANBA 33 (1985), Arbeitsstatistik 1984, S. 72. 26 Vgl. Kenneth Roberts, Youth Unemployment in Liverpool, in: David M. Downes (Hrsg.), Crime and the City. Essays in Memory of John Barron Mays, Basingstoke 1989, S. 88–110, hier: S. 88.

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Nicht nur im Vergleich mit Großbritannien waren in der Bundesrepublik deutlich weniger Jugendliche arbeitslos als in anderen westeuropäischen Industrieländern (z. B. Frankreich, Niederlande).27 Im Allgemeinen wird dies der weiten Verbreitung und Standardisierung beruflicher Ausbildung im dualen System, d. h. der Kombination betrieblicher und schulischer Ausbildung zugeschrieben. Im Zusammenwirken mit Fördermaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit, wie dem Berufsvorbereitungs- und Berufsgrundbildungsjahr, den einjährigen Berufsfachschulen sowie außerschulischen Berufsvorbereitungsmaßnahmen, die seit Mitte der 1970er-Jahren eingerichtet wurden, wurde damit die Problemlage deutlich abgemildert.28 Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit wurde zu einem Zeitpunkt virulent, als Sozialwissenschaften und Öffentlichkeit das Phänomen der »Jugend«, zwar nicht zum ersten Mal im Lauf des 20. Jahrhunderts, aber wieder einmal neu entdeckten. Der insbesondere für den deutschen Kontext festzustellende Gestaltungsoptimismus dieser politischen und wissenschaftlichen Jugenddiskurse stand allerdings teilweise diametral zu den sozialen Realitäten der aufkommenden Jugendarbeitslosigkeit. Reformmaßnahmen schulischer, beruflicher und universitärer Bildung, versprachen allen Bürgerinnen und Bürgern sozialen Aufstieg durch Bildung. Die Frage nach der »richtigen Berufswahl«, nach dem »Traumjob« in Großbritannien, stand in Folge dieses sozialen Aufstiegsversprechens im Raum, wie auch anlässlich eines vorhergesagten Wandels beruflicher Anforderungsprofile aufgrund zunehmender Automation.29 Sozial verbreitete Veränderungen in der Lebensweise Jugendlicher (höheres Heiratsalter, eigene Konsumgewohnheiten) generierten jugendspezifische Submilieus und Jugendkulturen, die einerseits fasziniert, andererseits besorgt betrachtet wurden.30 Die Frage der Jugendarbeitslosigkeit wurde in den späten 1970er- und 1980erJahren wichtiges Problemfeld der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung mit differierenden Schwerpunktsetzungen und Analysetraditionen in Großbritannien und der Bundesrepublik. In den bundesdeutschen Sozialwissenschaften bewegte man sich einerseits in den Traditionen der soziologischen Generationsforschung und zeichnete das Bild einer »verunsicherten« oder »verlorenen« Generation von Arbeitslosen.31 27 Vgl. Raithel, Jugendarbeitslosigkeit, S. 16. 28 Vgl. Schober, Jugend im Wartestand, S. 249; Raithel, Jugendarbeitslosigkeit, S. 17; John Bynner / Kenneth Roberts (Hrsg.), Youth and Work. Transition in England and Germany, London 1991. 29 Vgl. Bauer / Kornatzki, wechseln sie ihren beruf rechtzeitig; zum IAB: Brinkmann /  Karr / Kühl / Peters / Stooß, 40  Jahre IAB. 30 Vgl. Raithel, Jugendarbeitslosigkeit, S. 87–103; Claire Wallace, For Richer for Poorer. Growing up in and out of Work, London, New York 1987, S. 1–6. 31 Vgl. SINUS -Institut, Die verunsicherte Generation. Jugend und Wertewandel. Im Auftrag des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, Opladen 1983; Claus Richter (Hrsg.), Die überflüssige Generation. Jugend zwischen Apathie und Aggression, Königstein / Taunus 1979.

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Andererseits stellten sich im Kontext des Systems deutscher Berufsbildung deutlicher Fragen nach der gegenwärtigen und zukünftigen Berufsidentität von Jugendlichen, also danach, welche Berufe Zukunft haben und welchen Stellenwert der Beruf für Jugendliche noch hätte.32 In beiden Perspektiven war »Jugend« im Wesentlichen ein Übergang zwischen schulischer Bildung und dem Eintritt in das Erwerbsleben. Demnach stand die Befürchtung im Raum, inwiefern arbeitslose Jugendliche an diesem Übergang gehindert waren oder sogar drohten, gänzlich aus dem Gefüge der Arbeitsgesellschaft herauszufallen. Die britische Forschungsdebatte war in den 1970er-Jahren in erster Linie von den Arbeiten des Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) bestimmt und kultursoziologisch an jugendlicher Subkultur interessiert.33 Stärker als in der bundesdeutschen Debatte wurden Fragen von »Race«, »Class« und »Gender« der Jugendlichen aufgeworfen, mithin war Jugend sozial stratifiziert. Weniger zum Tragen kam in den Birminghamer Diskussionen hingegen das Problem der Arbeitslosigkeit.34 Erst in den 1980er-Jahren befasste sich die Forschung mit dem Übergang der Jugendlichen von der Schule in das Berufsleben, um Ausmaß und Folgen der horrenden Arbeitslosenzahlen abschätzen zu können.35 Die größte Differenz zwischen britischer und deutscher Debatte zeigt sich darin, welcher Stellenwert der sozialen Position arbeitsloser Jugendlicher zugemessen wurde. Die Pädagogin Lynne Chisholm formulierte treffend, dass sich die deutsche Jugendforschung in britischer Sicht »unglaubhaft homogen« gestalte, während aus modernitätsoptimistischer, bundesdeutscher Sicht die britischen Forscherinnen und Forscher »ihre klassenkämpferischen Oldies in immer neuen Variationen« auflegten, »ohne dabei zu merken, daß die moderne Jugend Musik vom CD -Player hört.«36 Die britische Forschung und Berichterstattung war im Vergleich zur deutschen sozial sensibler und hob mehr oder minder explizit auf Klassenunterschiede als Einfluss- und Erklärungsfaktor von Jugendarbeitslosigkeit ab. Die deutsche Debatte führte ein erhöhtes Risiko von Jugendlichen, arbeitslos zu werden, im Allgemeinen auf fehlende Schul- und 32 Vgl. Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend. Arbeit und Identität; Harry Boeseke /  Albert Spitzner (Hrsg.), Jugend ohne Arbeit, Bornheim 1983; Frank Gerlach, Jugend ohne Arbeit und Beruf. Zur Situation Jugendlicher am Arbeitsmarkt, Frankfurt / Main, New York 1983. 33 Vgl. Willis, Learning to Labor; Angela McRobbie, Feminism and Youth Culture. From Jackie to Just Seventeen, Basingstoke 1991. 34 Ausnahme: Merilyn Moos, Government Youth Training Policy and its Impact on Further Education. Stencilled Occasional Paper, CCCS Birmingham 1979. 35 Vgl. Kenneth Roberts, School Leavers and their Prospects, Milton Keynes 1984; Wallace, For Richer for Poorer; Frank Coffield / Carol Borrill / Sarah Marshal, Growing up at the Margins. Young Adults in the North East, Milton Keynes 1986. 36 Lynne Chisholm, Auf der Suche nach einem schärferen Objektiv. Jugendforschung, Jugendliche und sozialer Wandel in Großbritannien, in: Peter Büchner / Heinz-Herrmann Krüger / Lynne Chisholm (Hrsg.), Kindheit und Jugend im interkulturellen Vergleich, Opladen 1990, S. 53–75, hier: 72 f.

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Berufsqualifikationen zurück.37 Die soziale Herkunft wurde eher nachgeordnet betrachtet. In beiden Ländern vermutete die Forschung, dass Jugendliche, die gering qualifiziert, sozial benachteiligt und ohne Berufserfahrung waren, eine äußerst vulnerable Gruppe auf dem Arbeitsmarkt der 1970er- und 1980erJahre und in besonderem Maße mit der Normabweichung von Arbeitslosigkeit in Form ihres misslungenen Berufseinstiegs konfrontiert waren. Der Frage nach den subjektivierenden Effekten von Arbeitslosigkeit auf diese gering qualifizierten bzw. sozial benachteiligten Jugendlichen bzw. ihren Subjektivierungsstrategien wird im Folgenden nachgegangen. Zuvor sei der Erwartungshorizont skizziert, den die öffentliche Debatte um beruflichen Aufstieg und neue Berufschancen für Jugendliche in der Zeit um 1970 eröffnete. Kontrastiv scheint so der subjektive Möglichkeitsraum von Jugendlichen auf zwischen Aufstiegsversprechen und den sozialen Realitäten eingeschränkter Arbeitsmarktchancen.

1.1 Was bin ich? Berufswunsch und Notwendigkeitsarbeit Sowohl in Großbritannien als auch in der Bundesrepublik wurde Ende der 1960er-Jahre die Berufswahl respektive »occupational choice« von Jugendlichen politisch neu thematisiert. In beiden Ländern wurde die Berufsberatung in der Arbeitsverwaltung und die berufliche Bildung an den Schulen ausgebaut. Für jugendliche Schulabgänger war damit ein Subjektivierungsappell verbunden, die Chancen verbesserter Bildungs- und Ausbildungswege wahrzunehmen, sich selbstbestimmt einer Berufsentscheidung zu stellen. Je nach medialen oder administrativen Kontexten in verschiedenen Idealvorstellungen von »Traumberuf«, »dream job«, »Berufswahl« oder »occupational choice« ausgeformt, wurde in diesen Jahren die Entscheidung für eine Erwerbstätigkeit als eine der zentralen Entscheidungen des Lebenslaufs mit weitreichender und ambitionierter Wirkung an Jugendliche adressiert. In der Bundesrepublik war die Berufswahl Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre aufgrund bildungspolitischer Reformen Thema breiterer wissenschaftlicher und öffentlicher Debatten.38 Das bundesdeutsche Berufsbildungsgesetz von 1969 standardisierte das bundesdeutsche System der dualen Berufs­ ausbildung weiter. Das »Lehrgeld« fiel weg, und eine Ausbildungsvergütung wurde eingeführt, d. h. Berufsausbildung sollte jedem und jeder, unabhängig von der sozialen Herkunft offenstehen. Das Bundesinstitut für Berufsbildung wurde 37 Vgl. Karen Schober, Jugend im Wartestand: Zur aktuellen Situation der Jugendlichen auf dem Arbeits- und Ausbildungsstellenmarkt, in: Mitt AB 18 (1985), S. 247–263. 38 Vgl. Knud Andresen, Strukturbruch in der Berufsausbildung? Wandlungen des Berufseinstiegs von Jugendlichen zwischen den 1960er- und den 1980er-Jahren, in: ders. / Ursula Bitzegeio / Jürgen Mittag (Hrsg.), »Nach dem Strukturbruch«? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren, Bonn 2011, S. 159– 180.

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in Bonn gegründet, und damit die Berufsbildungsforschung institutionalisiert. Das Berufsgrundbildungsjahr wurde mit der entsprechenden Rahmenvereinbarung der Kultusministerkonferenz 1973 und sukzessive als erste Stufe der Berufsausbildung in den Bundesländern eingeführt.39 Eines der bildungspolitischen Ziele des Berufsgrundbildungsjahres, wie sie in den Empfehlungen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung 1975 benannt wurden, war die Erleichterung der Berufsentscheidung im Sinne einer gestuften Berufswahlentscheidung. Im Berufsgrundbildungsjahr wie auch in dem seit 1976 eingeführten, einjährigen Berufsvorbereitungsjahr galt es, die »Berufswahlreife« oder »Berufsreife« zu fördern.40 So wurde, analog zu den schulischen Abschlüssen »Mittlere Reife« oder »Hochschulreife«, der anzustrebende Zustand jugend­licher Entwicklung genannt, der es ermöglichen sollte, eine Berufsausbildung zu wählen, die gleichermaßen dem Individuum Zufriedenheit als der Gesellschaft sozioökonomischen Nutzen in Form beruflichen Erfolgs versprach.41 In der Folgezeit der 1970er-Jahre wurde die Berufswahl von Jugendlichen innerhalb der Bundesanstalt neu institutionalisiert, aber vor allem als Förderung ihrer selbstständigen berufskundlichen Information und Berufsentscheidung. Entsprechend didaktisches Material, so das seit 1972 produzierte Informationsheft »Systematisches Trainings- und Entscheidungsprogramm für Abiturienten« wurde an Schulen bzw. Schulabgänger verteilt. Seit 1979 wurden Berufsinformationszentren (BIZ) eingerichtet, die, unabhängig von den Arbeitsämtern, berufsbezogene Informationsmaterialien unverbindlich einsehbar anboten. Psychotechnische Verfahren im Rahmen der beruflichen Beratung des Psychologischen Dienstes der Bundesanstalt wurden seit den späten 1960er-Jahren durch neue standardisierte Testungen per Formular ersetzt, die computergestützt ausgewertet werden konnten.42 Die so genannte Eignungs- und Untersuchungsserie für die Berufsberatung (EUB) enthielt Testelemente zur Beurteilung von Fähigkeiten zur »Eignungsbeurteilung«, aber auch Frageeinheiten zur Erfassung von Berufsinteressen und Selbstbeurteilungen. In Großbritannien waren es die Bestimmungen des Employment and Training Acts von 1973, mit denen die Organe der britischen Arbeitsverwaltung neu sortiert und Einrichtungen der Berufsberatung ausgebaut wurden. Aufgrund wachsender Wahlmöglichkeiten in Bildungs- und Berufsangeboten sollte die Berufsberatung an den Schulen (»Careers Service«) professionalisiert und als

39 Vgl. Bernd Weibel, Berufsgrundbildungsjahr, in: Handbuch zur Berufswahlvorbereitung. Hrsg. v. d. Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1979, S. 151–155; Zitat: ebd., S. 151. 40 Vgl. Joachim Schroeder / Marc Thielen, Das Berufsvorbereitungsjahr. Eine Einführung, Stuttgart 2009, S. 57–62. 41 Vgl. Werner Moosbauer, Berufsreife und Berufswahlreife, in: Handbuch zur Berufswahlvorbereitung. Hrsg. v. d. Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1979, S. 163–168. 42 Michael Brambring, Spezielle Eignungsdiagnostik, in: Intelligenz- und Leistungsdiagnostik. Hrsg. v. Karl-Josef Groffmann / Lothar Michel, Göttingen u. a. 1983, S. 414–481, hier: S. 449 f.

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Angebot der kommunalen Bildungsträger verpflichtend gemacht werden.43 Bis 1973 war an zwei Dritteln der weiterführenden Schulen Berufsberatung Teil des schulischen Curriculums. Daneben wurden seit 1966 den örtlichen Arbeitsämtern »Occupational Guidance Services« angegliedert, die Erwachsenen Berufsberatung anboten. Die neuen Beratungsangebote standen auch für veränderte Beratungskonzepte. Statt eines »fit the man to the job«, der Leitsatz, der den bis 1973 maßgeblichen Youth Employment Service auszeichnete, hieß es nun »fit the job to the man«.44 Weniger eine Serie von Intelligenztests, als eine humanistische, klientenzentrierte Berufsberatung sollte die Jugendlichen ermutigen, mündig und eigenständig eine »Berufsentscheidung« (»occupational choice«, »career choice«) zu treffen. Unter Ägide der 1974 gegründeten MSC wurde das »Careers and Occupational Information Centre« in London eingerichtet, das berufskundliches Informationsmaterial in Form von Prospekten, Handbüchern, Filmen und audiovisuellen Medien produzierte und verbreitete.45 In der Buchreihe »Choice of Careers« oder dem Nachschlagewerk »Careers Guide« wurden, ähnlich den älteren deutschen »Blättern zur Berufskunde« Beschäftigungsprofile und Berufsfelder vorgestellt. Konzeptionelle Ansätze beruflicher Entscheidungshilfen waren in Großbritannien seit den 1960er-Jahren theoretisch an entwicklungspsychologische Studien der Nachkriegszeit (Eli Ginzburg, Donald Super) angelehnt.46 Das »selfconcept« des Individuums war von fundamentaler Bedeutung in der Wahl der beruflichen Laufbahn, denn Arbeits- und Lebenszufriedenheit seien vorrangig von den Optionen des Einzelnen abhängig, seine Interessen, Fähigkeiten und persönlichen Werthaltungen zu verwirklichen – sein Selbst adäquat zur Geltung zu bringen. Auch da die Berufsausbildung in Großbritannien weniger formalisiert und verbreitet war als in der Bundesrepublik, entfiel der Moment der »Berufswahl« als einmalige Entscheidung für einen qualifizierten Ausbildungsberuf.47 Stattdessen hoben die britischen Berufspsychologen auf Entwicklungsprozesse des individuellen Selbst wie der Berufswelt ab: »choice should therefore be based on a clear understanding of self, a broad occupational knowledge and an 43 Vgl. Anthony G.  Watts / Jennifer M.  Kidd, Guidance in the United Kingdom. Past, Present and Future, in: British Journal of Guidance and Counselling 28 (2000), S. 485–502. 44 Vgl. Christine Griffin, Typical Girls? Young Women from School to the Job Market, London, New York 1985, S. 26; Anthony G. Watts / Jennifer M. Kidd, Guidance in the United Kingdom. Past, Present and Future, in: British Journal of Guidance and Counselling 28 (2000), S. 485–502, hier: S. 486. 45 Vgl. TNA LAB 52/37, An Introduction to the… Careers and Occupational Information Centre. Careers Bulletin Winter 1974/75. 46 Vgl. Barrie Hopson / John Hayes, The Theory and Practice of Vocational Guidance: A Selection of Readings, Oxford u. a. 1968. 47 Vgl. John Bynner, Experiencing Vocational Education and Training in England and Germany, in: Education and Training 34 (1992), S. 3–8; Bynner / Roberts (Hrsg.), Youth and Work, passim.

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ability to relate together these two sets of factors.«48 Gewählt wurde ein beruflicher Entwicklungsweg (»career«), der, so das Informationsmaterial der Arbeitsverwaltung Anfang der 1970er-Jahre, von den Jugendlichen in Selbstbefragung über ihren zukünftigen »way of life«, gemeint waren damit Gewohnheiten bei Sozialkontakten, Freizeitgestaltung und der bevorzugte Wohnort, zu ermitteln war.49 In erster Linie sollte die Berufsentscheidung den Jugendlichen zufrieden stellen, dann wäre auch eine zufriedenstellende Arbeitsleistung zu erwarten. Dabei wurde Wert daraufgelegt, dass die Jugendlichen berufliche Alternativen im Blick behalten, die sowohl den »way of life« wie die Vorstellungen beruflicher Tätigkeit jeweils in ähnlicher Weise ermöglichen würden. Der Pragmatismus, der hier herauszulesen ist, wurde Anfang der 1980er-Jahre etwas gedämpft. Nach wie vor warb die britische Arbeitsverwaltung damit, sich in der Wahl der Berufslaufbahn vor allem selbst nach seinen Vorlieben und Interessen zu befragen.50 Das schrumpfende Feld der beruflichen Möglichkeiten wurde nun aber auch mit schulischen Leistungen und beruflichen Qualifikationen verbunden, die Arbeitsmarktchancen erhöhen würden. Die bundesdeutsche Berufsberatung und Vermittlung der Berufswahlentscheidung kam auch aufgrund ihrer institutionellen Anbindung an die staatliche Arbeitsverwaltung Ende der 1970er-Jahre in erster Linie technisch-funktional daher.51 Bezugnahmen auf anglophone Forschungen, u. a. auf Donald Supers Modell vom Selbstkonzept des Jugendlichen als Zentrum der beruflichen Entscheidung, waren von der profanen »Berufswirklichkeit« von beruflichen Anforderungen und Qualifikationen sowie sozialen und technischen Arbeitsbedingungen überlagert. Berufliche Zufriedenheit basierte in der bundesdeutschen Berufsforschung auf beruflicher Bewährung und dem Erfüllen beruflicher Leistungsziele. Emphatische Topoi des »Traumberufs« oder »Wunschberufs«, die an die Fantasie von Jugendlichen appellierten, oszillierten verbreitet in populären Jugendbzw. Teenmagazinen. In den Jahren der philosophischen »Wunschmaschinen« und »Wunschökonomien« um 1970, waren die per Wunschdenken in die berufliche Zukunft der Jugendlichen projizierten Botschaften verheißungsvoll, aber auch stereotyp.52 Nachdem die Illustrierte »Stern« 1963 mit dem Berufsreport über den technologisch bedingten Wandel von Berufsstrukturen vorangegangen war, kam das »Berufsthema« Ende der 1960er-Jahre im Segment der Jugend-

48 TNA ET 24/76, Linda Clarke, Occupational Choice. A Critical Review of U. K. Research Literature. MSC Psychological Services. Report Nr. 60, August 1978. 49 Vgl. TNA LAB 52/44, Choosing your Career. Choice of Careers Nr. 1. Hrsg. v. Central Youth Employment Service, London 1971. 50 Vgl. MSC , Which Way Now. Options, London [1980]. 51 Vgl. Heiko Steffens, Berufswahl, in: Handbuch zur Berufswahlvorbereitung. Hrsg. v. d. Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1979, S. 183–191. 52 Dietmar Kamper, Wunsch, in: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. v. Christoph Wulf, Weinheim, Basel 1997, S. 997–1006, hier: S. 997.

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zeitschriften an.53 In den Themenkosmos der Zeitschriften von Popmusik, Klatsch, Beziehungs- und Sexualberatung fügte sich die mediale Berufsberatung als Teil jugendlicher Interessen ein, war aber auch inkorporiert in die Phantasiewelten von Fortsetzungsromanen, idealen Körpern und Schwärmereien. Die beruflichen Ideale waren, gemäß der heteronormativen Programmatiken der Zeitschriften, stark geschlechtsspezifisch geprägt. Das deutsche Jugendmagazin »Bravo« machte 1968 einen einschlägigen Artikel mit einer »Was soll ich werden« überschriebenen Doppelseite auf, die fünf Jugendliche zeigte, die den »richtigen Beruf« gewählt hatten, und in Berufskleidung optisch eindeutig einem Beruf und einem Geschlecht zuzuordnen waren: eine Krankenschwester, eine Sekretärin und eine Stewardess sowie ein KfZ-Mechaniker und ein Anwalt.54 Die »Bravo« versprach in der wichtigen Frage der Berufswahl, im Artikel prominent mit Einlassungen des Arbeitsministers Hans Katzer (CDU) belegt, quasi als Autoritätsersatz des elterlichen Rats oder der staatlichen Berufsberatung, mit einem »Computer-Berufstest« zu helfen. Das mit willkürlichen Zahlenangaben unterfütterte Problem, unter »9.500 Berufen« den »richtigen« zu finden, denn, so mahnte »Bravo« »nur einer ist für Dich der Richtige. Du kannst also 9.499 mal irren«, sollte wiederum per Berechnung des Computers gelöst werden. In der britischen Mädchenzeitschrift »Jackie«, Sprachrohr einer modern gestylten, konservativen Feminität, findet sich 1972, und dann erst wieder 1982, eine berufskundliche Artikelserie, die neben typischen »Frauenberufen« (Krankenschwester, Sekretärin, Verkäuferin, Model, Kosmetikerin) durchaus über finanziell aussichtsreichere Laufbahnen als Polizistin, Apothekerin, Bauzeichnerin oder in der EDV-Branche informierte, als so genannte »glamour jobs« »for the girl with flair and ambition« hingegen Schauspielerin, Stewardess oder »something in Television« auswies.55 Die Vorstellungskraft und Entscheidungsfreude von Jugendlichen über ihre »Berufswahl« oder gar ihren »Traumjob« wurde zu einem Zeitpunkt angerufen, als Berufswahl bei sich verändernder Berufsstruktur und steigender Arbeitslosigkeit in der sozialen Wirklichkeit komplizierter wurde als für ältere Kohorten, die aus einem größeren, wenngleich unter Umständen standardisierten Arbeitsplatzangebot hatten wählen können. Die Widersprüchlichkeiten zwischen euphorischen Adressierungen und den schrumpfenden Handlungsspielräumen Jugendlicher veranlasste bereits Zeitgenossen zu Spötteleien über den »Traumberuf« und den mit ihm transportierten Verballhornungen von Lebensführung 53 Vgl. Leo Bauer / Jürgen von Kornatzki, wechseln sie ihren beruf rechtzeitig. STERN-­ Report über Berufsaussichten und Berufsausbildung in der Bundesrepublik, in: Stern 16 (1963) 53, S. 32–38, 79–83. 54 Vgl. Was soll ich werden?, in: Bravo 17 (1968), 22.04.1968, S. 38–48; hierfür auch die folgenden Zitate. 55 Vgl. The Glamour Jobs, in: Jackie, 03.061972, S. 14 f.; zur »Jackie« vgl. Angela McRobbie, Jackie Magazine: Romantic Individualism and the Teenage Girl, in: dies.: Feminism and Youth Culture. From Jackie to Just Seventeen, Basingstoke 1991, S. 81–134.

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in kapitalistischen Verwertbarkeitslogiken. Der Schriftsteller Klaus Stiller skizzierte in seinem 1977 publizierten Brevier 25 Berufsprofile von »Traumberufen«, darunter die den Zeitläuften unmittelbar entlehnten »Terrorist« oder »Sympathisant«. Das Buch wird bezeichnenderweise mit einem Kapitel zum Traum­ beruf des »Arbeitslosen« eröffnet, der das Paradox der hochfliegenden Anrufung beruflicher Selbstfindung im Begriff des »Traumberufs« bei gleichzeitiger Unberechenbarkeit des Arbeitsmarktes auf den Punkt bringt: dem Arbeitslosen bliebe »als letzte Rettung oft nur die Umschulung übrig, nach deren erfolgreichem Abschluß der Arbeitslose die Berufsbezeichnung Sozialhilfeempfänger tragen darf.«56 Die »Bild«-Zeitung, ganz Anwalt der bundesdeutschen Produktivitätsgemeinschaft, warnte Anfang der 1980er-Jahre dann explizit davor, den »Traumberuf« zu verwirklichen.57 Stattdessen präsentierte sie seit 1978 Artikelserien zu »Die 100 sichersten Berufe«, »12 Berufe ohne Arbeitslose« oder einfach nur »Berufe ohne Arbeitslose«. Ein derartiges, auf pragmatischen Realismus pochendes Verständnis von Berufswahl spiegelt sich auch in der Überarbeitung der schriftlichen Eignungstests der Bundesanstalt. Diese wurden zwar 1990 durch ein »Berufswahltest« genanntes Verfahren ersetzt, das den Berufswunsch zumindest noch im Titel trug.58 Der Berufswahltest fragte nach wie vor nach »beruflichen Vorlieben und Interessen« und beruflicher »Selbsteinschätzung«. Neu hinzugekommen waren Fragen nach zumutbaren »Unannehmlichkeiten im Beruf« sowie »allgemeinen berufsbezogenen Wünschen«, die nun auch danach fragten, ob es den Befragten »bei der Berufswahl wichtig ist«, einen Beruf zu ergreifen, bei dem man »nicht so schnell arbeitslos wird«. Zumindest im Testdesign der Bundesanstalt wurde die Verantwortung des Einzelnen für seine Berufswahl gestärkt ‒ eine Wahl, die aufgrund seiner Interessen, seiner Neigungen erfolgte und die Risiken der Wahl einkalkulierte. Für Großbritannien, wo die Berufs- und Eignungstests vom schulisch angegliederten »Careers Service« organisiert wurden, sind derartige Anpassungen psychologischer Testbatterien nicht nachweisbar.59 Für einen Großteil der jugendlichen Schulabgänger spielten bei der Berufsbzw. Ausbildungswahl Überlegungen der Berufswahl, geschweige denn des Traum- oder Wunschberufs, aber sowieso keine Rolle. Erhebungen der Bundesanstalt zufolge hatten 45 Prozent der Schulabgänger in der Bundesrepublik von 1977 in betrieblicher Ausbildung, diese nicht in ihrem Wunsch-, sondern in 56 Klaus Stiller, Traumberufe. München, Wien 1977, S. 9–13, hier: S. 12. 57 Vgl. Thomas Riedmiller, Arbeitslosigkeit als Thema der Bild-Zeitung, Tübingen 1988, S. 19 f. 58 Psychologischer Dienst der Bundesanstalt für Arbeit, BWT. Berufswahltest für die Berufsberatung, Nürnberg 1991; Bundesanstalt für Arbeit. Psychologischer Dienst, BWT. Handanweisung für die Berufsberatung, Nürnberg 1991; dies.: BWT. Entwicklungsarbeiten, Nürnberg 1991. 59 Vgl. Ruth Holdsworth, Using Tests in Vocational Guidance, Stourbridge [1980].

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einem so genannten »Ausweichberuf« begonnen.60 Erhebungen der Berufsberatung ergaben ferner, dass 1983/84 von jugendlichen Bewerberinnen und Bewerbern 53 Prozent in einem Beruf arbeiteten, der nicht ihrem vorrangigen Vermittlungswunsch entsprochen hatte. Berufssoziologen konstatierten Ende der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik das Missverhältnis zwischen »Wunschberufen« und tatsächlichem Lehrberuf: Lehrstellenmangel und drohende Arbeitslosigkeit bringen heute viele Jugendliche dazu, eine Lehre in einem Beruf anzufangen, den sie sich zwar gar nicht gewünscht hatten, in dem aber gerade noch eine Lehrstelle zu haben war: Wer Krankenschwester werden wollte, wird vielleicht Dekorateurin, wer vom KfZ-Mechaniker träumt, kann froh sein, wenn er schließlich Metzger wird.61

In einer Stichprobe dieser Untersuchung von 120 männlichen Jugendlichen im ersten Ausbildungsjahr gaben nur 15  Prozent an, in ihrem »Wunschberuf« zu arbeiten. Elf Prozent hätten nie einen anderen als den gewählten Beruf in Erwägung gezogen. Insbesondere Frauen, Hauptschüler oder geringer Qualifizierte, Jugendliche aus Migrantenfamilien, körperlich oder mental Eingeschränkte oder Jugendliche aus dem ländlichen Raum waren von der strukturellen Uneinlösbarkeit von Wunschappellen und deren Realisierung betroffen.62 Der »Modeberuf« oder »Traumberuf« wurde sogar als Argument gegen diese Jugendlichen gerichtet, die sich, trotz der nachgewiesenen hohen Konzessionsbereitschaft in ihrer Berufswahl, nicht flexibel genug dem Arbeitsmarktgeschehen anpassen würden.63 Selbst berufskundliche Literatur der Bundesanstalt hob immer wieder auf den Topos ab, vornehmlich junge Frauen seien in ihrer Berufswahl zu sehr auf eine überschaubare Anzahl von »Modeberufen« fixiert, obgleich die am häufigsten von Mädchen und Jungen angestrebten Berufe überwiegend jene mit dem größten Angebot von Ausbildungsplätzen waren.64 Auch in Großbritannien war die Berufswahl sozial klassifiziert, wenn denn überhaupt davon gesprochen werden kann, dass jugendliche Schulabgänger im Vereinigten Königreich einen »Beruf« wählten. Die Frage von »occupational choice« stellte sich Jugendlichen in den 1980er-Jahren z. B. in den Montanregionen Nordenglands, die in ihren ersten Berufsjahren zwischen Jobs, staatlichen Beschäftigungsprogrammen und Arbeitslosigkeit hin- und herwechselten, gar nicht.65 Die Herausforderung nach Schulabschluss bestand darin, irgendeine 60 Vgl. Schober, Jugend im Wartestand, S. 253. 61 Ulrich Beck / Michael Brater / Bernd Wegener, Soziale Grenzen beruflicher Flexibilität, in: Mitt AB 12 (1979), 4, S. 584–594, hier: S. 584. 62 Vgl. Schober, Jugend im Wartestand, S. 253. 63 Vgl. ebd., S. 254. 64 Vgl. zur angeblich problematischen Berufswahl bei Mädchen: Charlotte Herkommer, Frauenerwerbstätigkeit, in: Handbuch zur Berufswahlvorbereitung. Hrsg. v. d. Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1979, S. 233–241, hier: S. 235; dagegen aber: Schober, Jugend im Wartestand, S. 254. 65 Vgl. Coffield / Borrill / Marshall, Growing up at the Margins, S. 56.

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Erwerbsarbeit zur Sicherung des Lebensunterhalts zu ergattern. In Liverpool waren 59  Prozent aller Jugendlichen in Ausbildung 1987 in einer nicht-betrieblichen Ausbildung (d. h. schulischer Weiterbildung oder Programme der Arbeitsverwaltung) mit schlechter Arbeitsmarktperspektive beschäftigt.66 Erwerbsbiographien der 1970er- und 1980er-Jahre verliefen, so die klassischen kulturwissenschaftlichen Studien von Paul Willis und Christine Griffin, auf den vorgegebenen Bahnen von Class, Race und Gender.67 Für Schulabgänger ohne weiterführenden Schulabschluss war das Arbeitsangebot auf manuelle, ungelernte »blue collar work« limitiert, die bis in die 1980er-Jahre mit der sozialen Klassenzugehörigkeit als so genannte »working class jobs« assoziiert waren.68 Die groben statistischen Klassifizierungen von Erwerbstätigkeit erlauben nur Tendenzaussagen zum beruflichen Verbleib von Jugendlichen, die allerdings eindeutig auf Diskrepanzen zwischen Berufsvorstellungen von Jugendlichen und späterer Erwerbstätigkeit hindeuten. Eine Untersuchung über die Berufschancen Jugendlicher im Alter von 18 bis 21 Jahre im mittelenglischen Leicester, durchgeführt im Sommer 1984, erbrachte, dass ein Großteil der Befragten (ca. 500), sofern sie erwerbstätig waren, nicht in der Branche arbeitete, die sie vor ihrem Schulabschluss favorisiert hätte. Auffallend geschlechtsspezifisch sortiert, hätte ein überwiegender Teil der jungen Frauen gern Büroarbeit oder Care-Arbeit im Krankenhaus oder Kindergarten aufgenommen.69 Ein Drittel der Männer gab an, eine handwerkliche oder technische Erwerbstätigkeit vorgezogen zu haben. Tatsächlich waren diejenigen, die sich in der Befragung rückmeldeten, einer bezahlten Arbeit nachzugehen (ca. 400), überwiegend in Fabrikarbeit beschäftigt.70 Die Unterschiede im Geschlecht waren nun eingeebnet, abgesehen davon, dass Frauen vor allem schlecht bezahlter Arbeit in der Textilindustrie nachgingen und Männer im Sektor von Metallverarbeitung und Elektrotechnik arbeiteten. Welche Subjektivierungsmuster diese Diskrepanzen von beruflichen Erwartungen und Erfahrungen nach sich zogen, wird auch im folgenden Kapitel zu erörtern sein. In beiden Ländern bildete sich statistisch ab, dass Jugendliche ohne Berufserfahrung und ohne Ausbildungszertifikate in besonderem Maße mit der Normabweichung ihres misslungenen Berufseinstiegs konfrontiert waren. Dieser zeigt sich in den schrumpfenden Berufschancen der gering Qualifizierten, die auch eine veränderte Haltung von Personalverantwortlichen impliziert, gering Qua-

66 Vgl. Martina Behrens / Stand Clark / Karen Evans / Peter Kupka, Education and Training, in: Bynner / Roberts (Hrsg.), Youth and Work, S. 49. 67 Vgl. Willis, Learning to Labour; Griffin, Typical Girls. 68 Vgl. John H. Goldthorpe / Catriona Llewellyn / Clive Payne, Social Mobility and Class Structure in Modern Britain, Oxford 1987. 69 Christine Griffin, Black and White Youth in  a Declining Job Market. Unemployment among Asian, Afro-Caribbean and White Young People in Leicester, Leicester 1986, S. 44. 70 Ebd., S. 130.

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lifizierte einzustellen.71 Gestützt auf ihren konstant schrumpfenden Anteil im Sample der Arbeitsmarkteinsteiger im Zeitverlauf wird die Annahme ihrer Leistungsunfähigkeit stetig manifester. Es taucht die Frage auf, welche subjektivierenden Effekte diese statistisch abgebildete Norm auf Jugendliche der Kohorte der um 1960 Geborenen hatte, die in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren auf den Arbeits- und Ausbildungsmarkt drängte? Wie gingen die Jugendlichen mit den erlebten Diskreditierungs- und Demütigungserfahrungen ihrer Schul- und Erwerbslaufbahn um? Wie fügten sie sich ein in Anforderungen und Realitäten von Meritokratie, an denen sie vornehmlich scheiterten? Welchen Einfluss, und dies ist im Rahmen meiner Untersuchung vor allem von Interesse, hatten die Normalisierungspflichten in Schule und Ausbildung auf den Umgang mit Arbeitslosigkeit?

1.2 Die Unbillen des Zertifikats: die Effekte zunehmender Bildungsnormen in der Bundesrepublik Hans Günter Hockerts formulierte im Bezug zur Sozialgesetzgebung der 1950erund frühen 1960er-Jahre, dass in diesen Jahren der Ausgleich »außergewöhn­ licher Einbrüche in die Lebenslage einzelner Bevölkerungsgruppen« durch Kriegs- und Nachkriegseinwirkungen eine verbreitete, soziale Erfahrung gewesen sei.72 Ebenso gängig war die bald folgende Erfahrung beruflicher Kontinuität, die sich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 1950er-Jahre für einen Großteil der männlichen Erwerbsbevölkerung einstellte.73 Für die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geborenen Männer trat erstmals in ihrer Berufslaufbahn erwerbsförmige Kontinuität ein. Für diejenigen, die im Zweiten Weltkrieg und im ersten Nachkriegsjahrzehnt geboren wurden, kann, je nach Soziallage, bis in die 1970er- und 1980er-Jahre kontinuierliche Erwerbstätigkeit ohne längere Phasen von Arbeitslosigkeit auch bei Wechsel des Arbeitgebers, angenommen werden. Noch Ende der 1960er-Jahre wurde auf die beruflichen Möglichkeiten für so genannte »Schwachbegabte«, Abgängern von Sonderschulen oder Hilfsschulen bzw. Volksschüler, die mehrere Klassenstufen wiederholt hatten, hingewiesen, unter

71 Heike Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft. Die Erwerbschancen gering Qualifizierter aus soziologischer und ökonomischer Perspektive, Opladen 2005, S. 296 f.; Raithel, Jugendarbeitslosigkeit, S. 33–35. 72 Hans Günter Hockerts, Vorsorge und Fürsorge: Kontinuität und Wandel der sozialen Sicherung, in: Axel Schildt / Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 223–241, hier: S. 230. 73 Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 678 f.

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denen es die »zielstrebigen, verläßlichen und beständigen Arbeiter, die es schließlich auch beruflich zu etwas bringen,« gäbe.74 Die sozialwissenschaftliche Forschung sprach Anfang der 1980er-Jahre von der männlichen »Normalarbeitsbiographie« und ihrem chronologisch institutionalisierten Ablauf von erfolgreichem Schulbesuch, abgeschlossener Berufsausbildung, kontinuierlicher Erwerbstätigkeit und Ruhestand.75 Das gegliederte Schulsystem mit drei beruflich wegweisenden Schulformen und die formalisierte Berufsausbildung hatten sich im Zuge von Bildungsexpansion und insbesondere der Einführung der Hauptschule in den 1960er-Jahren und der Expansion beruflicher Bildung seit dem Berufsbildungsgesetz von 1969 noch einmal verstärkt als Standards der Ausbildungsnormen der Bundesrepublik institutionalisiert.76 Die Institutionalisierung des standardisierten Lebenslaufs stand allerdings seit Mitte der 1970er-Jahre sowohl in den Erfahrungen der wachsenden Anzahl Arbeitsloser und als auch in der sozialwissenschaftlichen Debatte bereits wieder zur Disposition. Vor allem die nachwachsende geburtenstarke Kohorte der um und nach 1960 Geborenen unterlag einerseits zunehmenden Bildungsnormen in Schulbesuch und Berufsausbildung. Andererseits waren sie beim Berufseinstieg mit Hauptschulabschluss Anfang der 1970er-Jahre von einem erhöhten Risiko, arbeitslos zu werden, betroffen. Im Übergang in das Berufsleben waren Angehörige dieser Jahrgänge eher als ältere Jahrgänge mit erwerbsbiographischen Aporien von Kontinuitätserwartungen an ihre Qualifikation und eigenen Diskontinuitätserfahrungen von Arbeitslosigkeit konfrontiert. Erwachsene lebten ihnen, je nach sozialer Lage, unter Umständen eine von Sicherheit geprägte, kontinuierliche Erwerbsbiographie vor, bei geringerer oder gar fehlender formaler Qualifikation. Die Soziologin Heike Solga problematisierte die Veränderungen in den Ausbildungsanforderungen unter dem Begriff der »Normalisierungspflichten«, die seit den 1970er-Jahren zugenommen hätten und deren Effekte sie für gering qualifizierte Jugendliche, d. h. Jugendliche ohne Schul- oder / und Ausbildungsabschluss durchdekliniert.77 Der statistische Nachweis veränderter 74 Kurt Grubbe, Berufe für Ungelernte. Ein Beitrag zur Berufsberatung der Schwachbegabten, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe – Das Arbeitsamt 17 (1967), S. 171–173. 75 Martin Kohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs: Historische Befunde und theoretische Argumente, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), S. 1–29; ders., Der institutionalisierte Lebenslauf. Ein Blick zurück und nach vorn, in: Jutta Allmendinger (Hrsg.), Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002. Teil I, Opladen 2003, S. 525–545. 76 Walter R. Heinz, Job-Entry Patterns in a Life-Course Perspective, in: ders. (Hrsg.), From Education to Work. Cross-National Perspectives, Cambridge 1999, S. 214–231. 77 Vgl. Heike Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft. Die Erwerbschancen gering Qualifizierter aus soziologischer und ökonomischer Perspektive. Opladen 2005, spez. S. 189–218; dies., Ausbildungslose und die Radikalisierung ihrer sozialen Ausgrenzung, in: Heinz Bude / A ndreas Willisch (Hrsg.), Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte,

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Bildungsnormen gelingt der versierten Statistikerin leicht, ist doch der Anteil der Erwerbstätigen ohne Ausbildung an den Beschäftigten insgesamt seit den 1970er-Jahren kontinuierlich gesunken, ebenso wie der Anteil derer, die mit Volksschul- bzw. Hauptschulabschluss ihre Schullaufbahn beendeten. Infolgedessen veränderten sich Definitionen darüber, was ein geringes Bildungsniveau sei. Der Hauptschul- bzw. Volksschulabschluss, in den 1960er-Jahren mit einem Anteil von 70 bis 80  Prozent eines Jahrgangs an den Schulen noch regulärer Schulabschluss, lag spätestens in den 1980er-Jahren, in denen 60 Prozent eines Jahrgangs mindestens Realschulabschluss nachweisen konnten, unterhalb der Mindestnorm von Schulausbildung. Die Arbeitslosenquote von gering Qualifizierten stieg insgesamt an, wobei arbeitslose Jugendliche ohne Schul- oder / und Ausbildungsabschluss besonders betroffen waren. Das Risiko diskontinuierlicher Erwerbskarrieren, d. h. Phasen einfacher Beschäftigung abwechselnd mit Phasen von Arbeitslosigkeit, für Angehörige der Jahrgänge 1964 und 1971 ohne Schulabschluss hatte sich im Vergleich zu älteren Kohorten signifikant erhöht.78 Die Häufigkeit von Arbeitslosigkeit nahm zu, und der Berufseinstieg verschob sich im Lebenslauf nach hinten, was auch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen (Berufsgrundbildungsjahr, ABM) nicht vollständig abfangen konnten. 1.2.1 Loyale Verlierer: gering qualifizierte Männer Aus zeitgenössischen qualitativen Erhebungen zu Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik ist der Zusammenhang von Selbstattribution eigenen Versagens auf dem Arbeitsmarkt bei Arbeitslosen mit niedriger oder fehlender Schul- oder Berufsausbildung (d. h. Sonderschul- oder Hauptschulabschluss, ohne Ausbildung oder Ausbildung abgebrochen) deutlich herauszulesen, auch wenn dies teilweise der Zusammensetzung der Samples geschuldet ist, in denen der überwiegende Anteil der Befragten über Hauptschul- bzw. Volksschulabschluss verfügte. Es sind die schulisch gering qualifizierten jungen Männer (unter 25 Jahre alt), die ihr Versagen auf dem Arbeitsmarkt sich selbst und insbesondere ihrer schlechten schulischen Leistung zuschreiben. Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg 2006, S. 121–146; in der Tendenz ähnlich: Beate Ehret / Fred Otholf / Karl F.  Schumann, Von der Schule in die Ausbildung. Zur Bewältigung der ersten Schwelle, in: Karl F.  Schuhmann (Hrsg.), Berufsbildung, Arbeit und Delinquenz. Bremer Längsschnittstudie zum Übergang von der Schule in den Beruf bei ehemaligen Hauptschülern. Bd. 1, Weinheim, München 2003, S. 61–88. 78 Die folgenden Angaben nach: Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, S. 212– 216; Solga wertet Daten der Deutschen Lebensverlaufsstudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIfB) sowie der MPIfB / I AB -Kohortenstudie 1964/71 aus, die auf Westdeutschland beschränkt sind und keine Angaben über Migrantinnen und Migranten enthalten; vgl. auch: Walter R. Heinz, Soziale Benachteiligung und berufliche Förderung Jugendlicher im regionalen und internationalen Vergleich, in: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 92 (1996), S. 151–161.

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So beantwortete Freddy, 25 Jahre, von Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern des Göttinger SOFI Anfang der 1980er-Jahre danach gefragt, ob er sich wegen seiner Arbeitslosigkeit selbst Vorwürfe mache: »Wenn ich mich dahinter geklemmt hätte, wäre vielleicht schon etwas passiert, daß ich eine Arbeit bekommen hätte. Ich habe mich eben auch wenig bemüht, wenn ich ehrlich bin.«79 Der Befragte war seit sieben bis acht Jahren arbeitslos, wohnte zum Zeitpunkt der Befragung bei seiner Mutter und dem Stiefvater und hatte, nach Besuch der Sonderschule, den Hauptschulabschluss auf einem Lehrgang des Arbeitsamtes nachgemacht. Neben verschiedenen berufsvorbereitenden Maßnahmen des Arbeitsamtes und dem Zivildienst, bestand seine Arbeitserfahrung aus Hilfsarbeitertätigkeiten am Fließband sowie einer wegen Rückenerkrankung abgebrochenen Ausbildung zum Schlosser. Aufgrund seiner diskontinuierlichen, von Versagen geprägten, Schul- und Ausbildungserfahrung klassifizierten ihn die Wissenschaftler, die ihn befragten, auf die Arbeitsmarktchancen der Untersuchungsgruppe fokussiert, als »Einstiegsverweigerer«. Paradoxerweise beruhte das Urteil auch darauf, dass Freddy seinen Optimismus betonte, sich »flexibel« zeigte und es hauptsächlich von eigener »Einsatzbereitschaft« abhängig machte, ob er wieder Arbeit finden würde.80 In der Bildungsbiographie des Befragten verortet, lassen sich diese Äußerungen auch als Antizipation von Normalisierungspflichten lesen, die er als machbar einschätzt, obgleich er mehr als zehn Jahre lang daran gescheitert war. Ein anderes Fallbeispiel ist Tiger, der arbeitslose Jugendliche, der sich, wie an anderer Stelle erwähnt, seinen gewitzten Umgang mit seinen Arbeitsberatern zugutehält.81 Er verließ, nachdem er die achte Klasse zweimal wiederholte, die Hauptschule ohne Abschluss und schaffte auch im anschließenden Berufsgrundbildungsjahr den angestrebten Hauptschulabschluss nicht. Eine Lehre als Flugzeuglackierer musste er wegen einer Allergie aufgeben, eine Tätigkeit als Aushilfe in einem Sägewerk wegen eines Betriebsunfalls. Seine Arbeitserfahrungen wurden jeweils von mehrmonatiger Arbeitslosigkeit unterbrochen und, nachdem Tiger an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme teilgenommen hatte, ist er auch zum Zeitpunkt des Interviews arbeitslos und hofft, bald zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Seine »Maßnahmenkarriere« stufte Tiger zu keinem Zeitpunkt als ungerecht ein. Teilweise scheint eine fatalistische Akzeptanz eines derartigen Erwerbswegs auf, die nahe legt, so die Folgerung der untersuchenden Wissenschaftler, dass »seine Situation einen Normalitätsgrad besitzt, der ausdrücklicher Reflexion nicht bedarf. Es geht praktisch allen so, die er kennt.«82 Ein wiederkehrendes Detail seiner Interviewerzählung ist das fehlende Zertifikat eines Schulabschlusses. Den Hauptschulabschluss im Berufsgrundbildungs79 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 107, S. 17. 80 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Codierte Kommentare, Interview Nr. N 107, S. 7, Interview Nr. N 107, S. 18. 81 Alheit / Glaß, Beschädigtes Leben, S. 189–242, S. 227; zu Tiger auf dem Amt vgl. Kap. III.3.3. 82 Ebd., S. 194.

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jahr hatte er »ehm natür(lich) och (…) nich geschafft«, weil er »kein Bock mehr auf Schule hatte.«83 Ihm wurde darauf zwar kein »Abschlußzeugnis«, sondern ein »Abgangszeugnis« ausgehändigt, wie er selbst es abstufend formuliert, dieses »war aber insoweit eigentlich gar nich ma so schlecht gewesen«, dank diverser, eher trickreicher Notenhochstufungen einzelner Lehrer oder, wie Tiger sagt: »weil die – beide Augen zugedrückt ham.« Die Wichtigkeit eines an sich wertlosen Zertifikats betonend, kommt er zum Schluss: »Konnt mer (eigentlich) och sehn lassen.« Im Laufe seines Erwerbslebens wird das Abgangszeugnis immer wieder zum verschämt hervorgekramten Zertifikat seiner Schullaufbahn, gegen das er sich beweisen muss und kann. Um seine Lehrstelle beim Flugzeuglackierer bewarb er sich, als ein »Kumpel« ihm gesagt hatte, »die achten nich so offs Zeuchnis, die achten mehr drauf – auf – handwerkliches Geschick und so.«84 Dennoch erwähnt Tiger auch bei diesem, angeblich mehr auf Praxistauglichkeit setzenden Arbeitgeber, dessen negative Erwartungshaltung aufgrund seiner schlechten Zertifikation: »Ham se mein Zeuchnis gesehen, meinen se ›Na ja der is nich so wild‹ und so ne? ›Kannste ma sehn, ob du überhaupt handwerklich gut drauf bist‹ und so.« Auch bei der Bewerbung für die Aushilfstätigkeit im Sägewerk war sein Zeugnis wieder Thema: »Joa – ham bißchen – blöd geguckt wegen meim Zeuchnis und so, aber ham  – nich viel dazu gesacht,« schildert er den Erstkontakt zum zukünftigen Arbeitgeber.85 Eigene Verantwortlichkeit für Arbeitslosigkeit wurde von Tiger nicht explizit erfragt oder thematisiert. Die Normalisierungspflichten des Zertifikats, das ihn unter Umständen daran hindert, sich praktisch zu bewähren, nimmt Tiger unwillig, aber deutlich wahr. In Offenbach wurde 1981 der ca. 20-jährige Peter von zwei Soziologen in einem offenen Interview zu seiner Biographie gefragt.86 Ausgehend von der Frage »In der Schule überlegt man, was man werden will und kann (…) Erzähl doch mal, wie das bei dir gewesen ist,« berichtet Peter zu allererst, dass er seinen »Traumberuf Maschinenschlosser« aufgrund seines »nicht allzuguten« Zeugnisses nicht ergreifen konnte. Peter wollte nach der so genannten Förderstufe (fünfte und sechste Klasse) die Realschule besuchen, denn, so Peter, »mit einem Realschulabschluß hat man halt mehr Chancen als mit einem Hauptschulabschluß,« seine Schulleistungen reichten aber nicht aus.87 Auf der Hauptschule wiederholte er die achte Klasse und bestand knapp seinen Hauptschulabschluss. Die anschließende Lehre als Maurer, einen Ausbildungsplatz im Metallbereich hatte er nicht erhalten, brach er nach einem Jahr ab, und war seitdem arbeitslos. Den Abbruch seiner Lehre bedauerte er im Grunde nicht, denn er hatte 83 Zitate aus dem Interview mit Tiger, ebd., S. 194. Die Transkription ist nach den Regeln »literarischer Umschrift« erfolgt. 84 Ebd., S. 196. 85 Ebd., S. 228. 86 Harald Baerenreiter / Werner Fuchs, Übergangsprobleme. Vier biographische Porträts, in: dies. u. a. (Hrsg.), Nullbock auf euer Leben. Momentaufnahmen aus der Jugendszene. Authentisch, drastisch, direkt, Braunschweig 1983, S. 116. 87 Ebd.

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nur solange durchgehalten wegen dem Geld. Aber es wurde immer schlimmer. Wenn ich schon einen Stein gesehen habe, da ist mir ganz anders geworden. Das hat nichts gebracht, da war keine Perspektive mehr. Ich war richtig froh, so teilweise wenigstens, daß die mich so mehr oder weniger rausgeschmissen haben.88

Die im Interview direkt nachgeschobenen Sätze: »Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn ich das weiter gemacht hätte. Ein Jahr noch, und ich hätte ausgelernt gehabt,« sprechen eher für Ratlosigkeit als Selbstanklage für eine biographische Fehlentscheidung. Zudem er im Laufe seiner Erzählung wiederholt, dass er »bis ans Lebensende Maurer« zu sein, nicht in Erwägung gezogen hatte. Anders lauten seine Aussagen zu seiner schulischen Qualifikation, für die er eindeutig eine Selbstattribution eigenen Versagens formuliert: Wenn ich jetzt noch einmal was anders machen könnte, würde ich versuchen, ein besseres Zeugnis zu haben in der Schule. Vielleicht würde ich versuchen, auf die Realschule zu gehen, also versuchen, einen guten Realschulabschluß zu machen. Naja, daß ich da mehr Chancen hätte. Auf jeden Fall: Ein gutes Zeugnis schon einmal, das wäre wichtig.89

Schließlich ist Skini, der 1984 im Rahmen des Projekts »Jugend und Krise« am Göttinger SOFI interviewt wurde, ein eindrückliches Fallbeispiel für die Ausmaße jugendlicher Selbstattribution beim Versagen gegenüber Normalisierungspflichten.90 Skini hat die Sonderschule bis zur neunten Klasse besucht und danach ein Berufsvorbereitungsjahr im Bereich Maschinenbau durchlaufen. Obgleich er keinen Hauptschulabschluss vorweisen konnte, gelang es ihm, laut eigener Aussage war sein »Abschlußzeugnis auch ganz gut«, im Anschluss eine Lehrstelle zum Maler zu erhalten.91 Die Ausbildung brach er kurz vor der Gesellenprüfung ab. Nach dem Tod der Mutter Halbwaise, mit acht Geschwistern aufgewachsen und von seinem inzwischen invaliden Vater in seinen Jugendjahren teilweise krankenhausreif geprügelt, hat der 21-jährige Skini, der zum Zeitpunkt des Interviews seit zwei Jahren arbeitslos ist, Heim- und Gefängnisaufenthalt und drei Suizidversuche hinter sich. In der Hausbesetzerszene aktiv gewesen, arbeitet er inzwischen während der Arbeitslosigkeit schwarz, um selbstbestimmt und selbstständig in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen. Der biographische Hintergrund Skinis legt es nahe, von ernsthaften Traumatisierungen auszugehen. Dennoch war das Problem, das sich Skini stellte, in gewissem Sinn banaler und wird von ihm selbst auf die mit schulischen und beruflichen Zertifikationen zusammenhängenden Normalisierungspflichten zurückgeführt. Trotz seines »auch ganz guten« Abschlusszeugnisses kreisen Skinis Erzählungen um seine schlechten beruflichen Chancen als gering Qualifizierter. »Wenn da einer von der Hauptschule kommt

88 89 90 91

Zitate: ebd., S. 120. Ebd., S. 123. Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend, Interview Nr.  1311. Ebd., S. 1.

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und hat besserer Zeugnisse als Du, dann siehst Du ein bißchen doof aus,« fasst er seine letztlich dennoch erfolgreiche Suche nach einer Lehrstelle zusammen.92 Die Aussicht auf den nochmaligen Misserfolg, behindert ihn, seine Arbeitsperspektive zu verbessern. Eine entsprechende Interviewfrage, beantwortet er abwehrend: »Wenn man z. B. den Hauptschulabschluß versuchen würde, und man würde es nicht schaffen, dann wäre man ja nachher wieder genau da, wo man angefangen hat.«93 Seine Selbststigmatisierung gipfelt weniger im Verzweifeln an seinem »Schicksal« als in einem »An-sich-selbst-Verzweifeln«, einem Selbst, das ihm nicht erlaubte, an seiner sozialen Deprivation etwas zu ändern: Erstmal hätte ich das Jugendamt einschalten lassen, dann hätte ich die ganze Prügel zuhause nicht mehr gekriegt – das wäre schon gut gewesen. Dann wäre ich auch besser in der Schule gewesen, ich hätte mich auf jeden Fall mehr angestrengt, wenn ich nicht so viel Scheiße, Panik und Hektik zuhause gehabt hätte. Das wäre dann auch wieder gut gewesen. Dann hätte ich mir bestimmt eine dufte Arbeitsstelle gesucht.94

Eine »dufte Arbeitsstelle« ist wiederum etwas, was sich Skini nur als Zufallsprodukt vorstellen kann, das nicht jedem zuteilwird: Das sieht ziemlich beschissen aus. Einige haben Glück, andere haben kein Glück; einige kriegen eine Arbeitsstelle und machen eine Scheißarbeit, andere kriegen eine dufte Arbeitsstelle und kriegen dafür auch noch Schweinegeld. Aber über die Hälfte der Leute hat Pech, nur einige haben Glück.95

Seine Arbeitserfahrungen waren alles andere als »dufte«, und werden von ihm als Erfahrungen autoritärer Willkür von vorgesetzten Gesellen und Meistern geschildert: »Scheißarbeit«, »wie in der Nazizeit«.96 Ohne Zertifikat fanden sich die Befragten in der Gruppe der gering Qualifizierten bzw. der Schul- und Ausbildungsabbrecher überwiegend in körperlich schwer belastender, risikoreicher Erwerbsarbeit und am Ende der Arbeitshierarchie wieder. Mehrheitlich fügten sie sich in die meritokratische Arbeitsrealität und den ihnen gesellschaftlich zugedachten Arbeitsplatz, der ihnen gleichzeitig und nicht zuletzt männlichen Selbstwert sicherte. So betont Tiger, dass ihm »Knochenarbeit (…) auch nich viel ausgemacht« hat.97 Er wolle »möglichst so ne Arbeit haben – wo ich also – keine leichte Arbeit so, wie meinetwegen Bürohengst – könnt ich so nie machen, weil ich den Abschluß dafür nich hab nich? Aber ich muß dann – nja so – bißchen schwere Arbeit haben.«

92 Ebd., S. 5. 93 Ebd., S. 27. 94 Ebd., S. 32; »An-sich-selbst-Verzweifeln« zwei Jugendliche einer Banlieue im Norden Frankreichs bei: Bourdieu u. a., Das Elend der Welt, S. 92. 95 Ebd. 96 Ebd., S. 4, 19. 97 Alheit / Glaß, Beschädigtes Leben, S. 199, folgendes: ebd., S. 236.

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Betrachtet man die geschilderten Fallbeispiele unter der Perspektive des soziologischen Abkühlungstheorems, also der Frage danach, unter welchen Bedingungen und mit welchem Ergebnis, Subjekte ihre Aspirationen gesellschaft­ lichen Aufstiegs aufgeben und sich mit sozialem Abstieg abfinden, in diesem Fall: dem beruflichen Misserfolg, so ist festzuhalten, dass die jungen Männer sich weitgehend loyal in die Position einfügten, die ihnen gesellschaftlich zugedacht war.98 Eine Position, die durchgehend soziale Unterordnung bedeutete: weniger Geld, schlechtere Arbeitsbedingungen, höheres Gesundheitsrisiko als der Rest der Gesellschaft, d. h. Leben am unteren Ende der sozialen Leiter. Die »Loyalität der Zertifikatslosen«, dem meritokratischen System das Funktionieren zu ermöglichen und dem höher Gebildeten die körperlich leichte Arbeit zu überlassen, repräsentiert Tiger idealtypisch, obgleich er Ausbildung und Aushilfsarbeit krankheitsbedingt abgebrochen und eigentlich körperlich bereits die Grenzen der »Knochenarbeit« erfahren hatte.99 Einzig in der nicht dokumentierten Erwerbsarbeit von Skini scheint zumindest steuertechnische Illoyalität gegenüber dem Staat auf. Bei ihm und Freddy, der an der eigenen Einsatzbereitschaft als vorrangige Strategie zur erfolgreichen Arbeitssuche festhält, wird besonders deutlich, dass dieses Einfügen in einfache, manuelle Tätigkeiten, in unangemeldeten Gelegenheits- oder Aushilfstätigkeiten, auch der Weg ist, eigene Autonomie und selbstbestimmte Arbeit zu sichern. Die jungen Männer lernen gewissermaßen das »sich Durchschlagen« als Lebensform schätzen. Die Loyalität in Form der Selbstzuschreibung von Arbeitslosigkeit hängt vor allem mit dem jugendlichen Alter der Befragten zusammen, die in Schule und Ausbildung keine andere Erfahrung als die des eigenen Scheiterns gemacht haben. Ähnliche Ergebnisse liefert Karen Schober in einer 1981 erhobenen Studie, in der festgestellt wird, dass arbeitslose Jugendliche allgemein die »Schuld« für Arbeitslosigkeit häufig bei sich suchen.100 Das Sample der Studie setzte sich überwiegend aus Jugendlichen zusammen, die als gering qualifiziert einzustufen sind: 48,2 Prozent der knapp 1.400 Befragten hatten einen Hauptschulabschluss, 15,6 Prozent keinen Abschluss und 9,1 Prozent einen Abschluss der damaligen Sonderschule für so genannte Lernbehinderte. Knapp zwei Drittel der Befragten hatte die Ausbildung abgebrochen. Ältere Arbeitslose des SOFI-Samples der späten 1980er-Jahre, zu den strukturellen Bedingungen von Arbeitslosigkeit befragt, lasteten in der Regel ihre Arbeitslosigkeit dem Staat, der Arbeitsmarktlage, dem eigenen Alter, der eigenen Krankheit, den Arbeitsbedingungen oder der Marktwirtschaft an. Ein Grund 98 Zum »Abkühlungstheorem« grundsätzlich vgl. Erving Goffman, Cooling the Mark Out. Some Aspects of Adaptation to Failure, in: Psychiatry. Journal of Interpersonal Relations 15 (1952), S. 451–463. 99 »Loyalität der Zertifikatslosen« nach: Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, S. 42–48. 100 Karen Schober, Die soziale und psychische Lage arbeitsloser Jugendlicher, in: Mitt AB 20 (1984), S. 453–478, spez. S. 455, 472.

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für eine Selbstattribution eigenen Versagens bestand nicht, denn wie es ein seit drei Jahren arbeitsloser 50-jähriger formuliert: »(…) ich gebe mich nicht auf, beim besten Willen nicht. Ich bin immer noch der, der ich schon ewig bin.«101 Nur im Ausnahmefall ist eine trotzige Verweigerungshaltung gegenüber den Loyalitätsanforderungen von Qualifikation festzustellen. Dahingehend eindeutig äußert sich lediglich einer der ehemaligen Sonderschüler der SOFI-Untersuchung zu Arbeitslosigkeit, ein knapp 18-jähriger, der nach Sonderschulbesuch, Berufsschule und zwei Jahren Beschäftigung in AB -Maßnahmen seit gut drei Monaten arbeitslos war. Er lastete es der Schule an, die ihn nicht über die mangelnden Berufschancen ohne Hauptschulabschluss informiert hätte (»Das haben die mir damals nicht gesagt.«).102 Generell leuchtete ihm der Sinn der schulischen Qualifikation nicht ein: »Vor dreißig Jahren gab es Arbeit auch für solche ohne Hauptschulabschluß. Überall kriegte man da Arbeit. Jetzt braucht man einen Hauptschulabschluß. Das halte ich für schwachsinnig. Wichtig ist doch nur, daß man arbeiten kann.« Mit dieser eigensinnigen Einstellung weist er auch jede Verantwortung für die, noch kurzfristige, Arbeitslosigkeit von sich: »Ich sage, das ist nicht meine Schuld. Das hängt alles mit dem Hauptschul­ abschluß zusammen.« 1.2.2 Bescheidene Realistinnen: gering qualifizierte Frauen Gering qualifizierte Frauen, die in den 1960er-Jahren geboren sind, waren in spezifischer Weise von Normalisierungspflichten in Schule und Ausbildung betroffen.103 Der für spätere Kohorten (der nach 1970 geborenen) von der quantitativen Forschung nachgewiesene Prozess der De-Feminisierung niedriger Bildungsabschlüsse, zeichnet sich bereits deutlich ab: hatten von den Frauen der Jahrgänge 1929/31 noch 78 Prozent ihre Schulausbildung mit dem Volksschulabschluss abgeschlossen, waren es von den 1971 geborenen nur noch 20 Prozent.104 Die Gruppe der Frauen, die ohne Schulabschluss blieb, verkleinerte sich und war insofern mit Normalisierungsappellen unter Umständen in besonderem Maße konfrontiert, obgleich der Schulerfolg der Frauen nicht mit besseren Chancen korrespondierte, einen Ausbildungsplatz zu erhalten und erfolgreich eine Berufsausbildung zu absolvieren. Das Risiko für Frauen, ohne Ausbildung zu bleiben, war generell höher als für Männer vergleichbarer Kohorten.105 Überdies war das Ausbildungsangebot reglementierter und umfasste vermehrt schulische Ausbildungen statt dualer Berufsausbildungen, die entsprechend schwächer 101 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 56, S. 15. 102 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 110, S. 7, folgende Zitate: ebd., S. 6, 5. 103 Zum Folgenden: Diezinger, Frauen, Arbeit und Individualisierung, S. 15–26, 57; Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, S. 243–259. 104 Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, S. 243. 105 Ebd., S. 244; Raithel, Jugendarbeitslosigkeit, S. 32.

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tarifrechtlich genormt und mit geringeren Aufstiegschancen einer beruflichen Laufbahn verbunden waren und sind. Arbeitslose Frauen, Anfang der 1960er-Jahre geboren, die von den Sozialwissenschaftlerinnen Angelika Diezinger, Helga Bilden, Regine Marquardt und Kerstin Dahlke Ende der 1970er-Jahre im Rahmen eines Projekts zu den Berufschancen arbeitsloser Hauptschulabsolventinnen interviewt wurden, waren in ihrer Berufsorientierung, d. h. in dem, was sie als eigene Berufschancen wahrnehmen, erheblich eingeschränkt und gaben, nach Berufschancen gefragt, in der Regel Friseurin oder Verkäuferin an.106 Im gleichen Zeitraum veränderten sich Standards privater Lebensformen, die ungleich stärker auf die Lebensplanung von Frauen zurückwirkten als auf die der gleichaltrigen Männer. Die Heiratshäufigkeit nahm ab, und das durchschnittliche Erstheiratsalter stieg, nachdem es in den 1960er-Jahren gesunken war, wieder an. Ehescheidungen waren häufiger zu verzeichnen. Die Rückwirkungen dieser Entwicklungen auf Berufsplanung und Berufslaufbahn der Frauen dürften stärker sein als bei den gleichaltrigen Männern. Daneben ist anzunehmen, dass private und berufliche Normalisierungspflichten konkurrierende, einander entgegengesetzte Ansprüche an gering qualifizierte Frauen adressierten und sich die Frage stellt, wie sie mit den normalisierungspolitischen Aporien umgingen.107 Schlussendlich spiegelt die signifikante De-Feminisierung niedriger Bildungsabschlüsse auch, dass es sich um die erstmalige Etablierung bildungsbezogener Normalisierungspflichten für Frauen handelte.108 Die Kohorte der nach 1960 Geborenen unterschied sich hinsichtlich ihrer Schulausbildung signifikant von älteren Kohorten. Auf intergenerationelles Transferwissen, Vorbilder oder eingeübte Handlungsroutinen konnten diese Frauen in Konfrontation mit schulischem oder beruflichem Erfolg oder Misserfolg im Allgemeinen nicht zurückgreifen oder nur, sofern sie die Anforderungen bildungsbezogener Normalisierungspflichten vernachlässigten. In der Untersuchung der Sozialwissenschaftlerinnen Angelika Diezinger, Helga Bilden, Regine Marquardt und Kerstin Dahlke wurden 52 qualitative Interviews mit arbeitslosen Hauptschulabsolventinnen (ca. 15 Jahre alt) im Raum München geführt.109 Einer Erstbefragung im Jahr 1979 folgte eine zweite 1981, für die 29 Frauen ein weiteres Mal interviewt wurden. Eine dritte Befragung von Angelika Diezinger konnte auf dreizehn erneute Interviews aufbauen.110 106 Erhebungen im Vorfeld der Projekte: Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit; Angelika Diezinger, Frauen: Arbeit und Individualisierung, 1987–1988, Privatbesitz Angelika Diezinger. 107 Ebd., S. 41. 108 Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, S. 24, 256. 109 Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Zukunft mit beschränkten Möglichkeiten. 110 Diezinger, Frauen: Arbeit und Individualisierung. Zur Sekundäranalyse stellte mir Angelika Diezinger die in ihrem Privatbesitz noch befindlichen Interviews und Materialien zur Verfügung. Dies waren neun Interviews in der Erst- bis Drittbefragung sowie fünf Interviews in der Erst-, Zweit- oder Drittbefragung.

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Der Effekt der Arbeitslosigkeit war bei allen Befragungsstufen eindeutig der einer verstärkten Marginalisierung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Nur einer Minderheit gelang es, eine Lehrstelle zu finden oder eine schulische Ausbildung zu beginnen und sich auf dem Weg erfolgreich absolvierter Normalisierungspflichten in einem stabilen Arbeitsverhältnis zu etablieren. Die beruflichen Werdegänge der jungen Frauen bewegten sich schwankend zwischen beschränktem Ausbildungsangebot, schlecht bezahlten und körperlich anstrengenden Gelegenheitsjobs (Gastronomie, Reinigung) und Arbeitslosigkeit. Ökonomische Zwangslagen brachten die jungen Frauen dazu, beruflichen Abstieg in Kauf zu nehmen oder auch, anders als geplant, ohne abgeschlossene Ausbildung in die Phase der Familiengründung und Kindererziehung überzugehen. Eine zertifizierte schulische oder berufliche Qualifikation erwies sich dann als fast obsolet. Dennoch spielten Selbstattributionen schulischen Versagens eine Rolle, die häufig mit allgemein defizitärer Selbsteinschätzung einhergingen. Ein Fallbeispiel für biographisch folgenschwere Dequalifizierung im jugendlichen Alter ist Veronika. Zum Zeitpunkt des ersten Interviews 1979 ist sie 17 Jahre alt, lebt bei ihrer Pflegemutter, bei der sie auch aufgewachsen ist und ist seit knapp einem halben Jahr arbeitslos. Sie hat einen Hauptschulabschluss ohne Berechtigung zur weiteren schulischen Qualifikation, weshalb sie ihre Berufswünsche Krankenschwester oder Zahnarzthelferin nicht verwirklichen kann. Im Anschluss an ihren Hauptschulabschluss nahm sie eine Ausbildung als Friseurin auf, »weil’s halt sonst nix« gab.111 Die Lehre brach sie aufgrund einer Allergie nach einem Jahr ab. Aushilfstätigkeiten von sechs Monaten in einer Segelmacherei und drei Monate in einem Floristenbetrieb brach sie ab bzw. wurde gekündigt. Beide Male spielten Konflikte mit männlichen Kollegen bzw. Vorgesetzten eine Rolle. Veronika »mechat lieber an Männerberuf erlernen« und ist der Meinung, dass es »für Buben und Männer mehr Berufe gibt, und so, mehr Berufszweige.«112 Ihre Einschätzung zu Schul- und Ausbildungszertifikaten ist gespalten. Zwar bestätigt sie auf Nachfrage, dass man »schon fast für jede Lehre, die man machen will oder was, mittlere Reife« braucht, ihre eigene Arbeitslosigkeit liegt aber mitnichten, sie beantwortet die entsprechende Frage knapp mit »na«, am Zeugnis, sondern an ihrem Alter und ihrer Berufsschulpflicht.113 Ihre Lehrstelle und Aushilfstätigkeiten hatte sie zudem aufgrund eigener Initiative und nach persönlicher Vorstellung gefunden. Die Vorlage eines Zeugnisses wurde dabei »eigentlich nie« verlangt.114 Im zweiten Interview, 1980 geführt, spielte die Aussicht auf Qualifikation für Veronika insoweit eine Rolle, als sie, nach häufigem Jobwechsel, ihren »Traumjob« in einer Firma für Fotoproduktion 111 Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Interview Nr.  12/1, S.  1, Kurzbiographie Nr. 12. 112 Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Interview Nr.  12/1, S. 9, 18. 113 Zitate: ebd., S. 18, 19. 114 Ebd., S. 16.

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gefunden hatte, wo sie Dias rahmte. Dort wurde ihr eine Ausbildung zur Fotografin angeboten, die sie aber aus finanziellen Gründen nicht aufnehmen wollte. Hier zeigte sich eine erste ökonomische Barriere, die verhindert, auf den zuvor abgebrochenen Pfad der Berufsausbildung wieder zurückzukehren: Veronika kann sich eine Ausbildung schlicht nicht mehr leisten. Acht Jahre später, 1988, war jegliche Perspektive aus ihrem Leben verschwunden. Veronika hatte aufgrund von Teilinvalidität ihre Arbeit in der Fotoproduktion aufgeben müssen, ist nun verheiratet und hat zwei Kinder. Seit fünf Jahren war sie, abgesehen von kurzfristigen Aushilfstätigkeiten an ihrer alten Arbeitsstelle, nicht mehr erwerbstätig. Mit ihrem Mann hat sie, wie sie sagt, »ein bißchen in Dreck neigelangt.«115 Er zahlte, trotz gemeinsamen Haushalts, keinen Unterhalt für sie oder die gemeinsamen Kinder und war ihr gegenüber bereits mehrfach gewalttätig. Aufgrund ihrer Teilinvalidität im Grunde erwerbsunfähig und ohne Ausbildung wird sie, sofern sie sich von ihrem Ehemann trennt, alleinerziehend von Sozialhilfe leben müssen. An ihren »Traumjob« als Diarahmerin denkt sie immer noch wehmütig zurück. Sie »wollt schon immer Fotografin« werden, und das Arbeitsverhältnis in der Fotoproduktion »war halt einfach wenigstens ein bißchen was, von dem was du haben wolltest.«116 »Entsetzliche Bescheidenheit«  – so die Randbemerkung der Wissenschaftlerinnen an dieser Stelle des Interviews, mit der sie Veronikas eingeschränkte Ansprüche kommentieren und in der durchaus, in der Deutungsperspektive einer positiv besetzten Individualisierung, ein normatives emanzipatorisches Subjektideal mitschwingt, dem Veronika nicht entsprechen konnte. In der Interviewinterpretation wird Veronikas Anpassung »normative Bescheidung« genannt, die als solche typisch sei für weibliche Erwerbsbiographien und im Spannungsverhältnis zu beruflichen und privaten Normalisierungspflichten steht, an denen Veronika existentiell gescheitert ist.117 Susanne ist ein weiteres Fallbeispiel für die weitreichenden Effekte, die Arbeitslosigkeit für gering qualifizierte Frauen haben konnte. Ihren Berufswunsch Tierpflegerin konnte sie nicht verwirklichen, da ihr gesagt wurde, »das ist zu schwer für ein Madel.«118 Nach ihrem Hauptschulabschluss begann sie zweimal eine Berufsausbildung (Friseurin, Schuhverkäuferin) und wurde beide Male in der Probezeit gekündigt. Eine erwartungsfroh begonnene Aushilfstätigkeit in einem Betrieb für Medizintechnik beendet sie aufgrund sexueller Belästigung durch den Vorgesetzten nach wenigen Wochen. Im Grunde war Susanne nie kontinuierlich erwerbstätig. Mit zwei älteren Schwestern, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben (technische Zeichnerin und Versicherungsfachangestellte), aufgewachsen, kreist Susannes Selbstbeschreibung in allen Interviews darum,

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Diezinger, Frauen, Interview Nr. 12/3, S. 5. Ebd., S. 21. Hierfür und folgend: Diezinger, Frauen, Kurzbiographie Nr. 12/3, S. 7. Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Interview Nr.  28/1, S.  3.

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»sich selbst und ihrer Umwelt zu beweisen, daß sie nicht dumm ist.«119 Auf ihr schulisches Versagen rekurriert sie selbst noch im dritten Interview, das über zehn Jahre nach ihrem Schulabschluss geführt wurde. Wegen familiärer Umstände, Susanne war zeitweise im Kinderheim untergebracht, sei sie in der Schule »net mitkommen« und »des hat a viel ausg᾽macht.«120 Angesichts ihrer privaten und beruflichen Misere zum Zeitpunkt des dritten Interviews ist diese Aussage kaum nachzuvollziehen. Von ihrem Ehemann, der ihr gegenüber gewalttätig geworden war und keinen Unterhalt gezahlt hat, lebte sie dann getrennt. Nachdem ihr erstes Kind im Alter von drei Monaten verstarb und sie eine Fehlgeburt hatte, finanzierte sie nun mit einem Kind im Kleinkindalter ihr Leben mit Sozialhilfe. Ihre im Grunde über Jahre andauernde Erwerbslosigkeit bettete sie im Laufe der Jahre in eine Erzählung persönlicher »Reife« und Handlungsfähigkeit im Kontext einer sozialen Realität ein, die kaum Handlungsmöglichkeiten zulässt. So berichtete Susanne im zweiten Interview, dass Arbeitslosigkeit »ein gutes Training« sei.121 Sie hätte sich selber kennengelernt »für was man fähig ist, was man kann, ohne daß man irgendwann wieder zusammenfällt. Das war für mich irgendwie körperlich-geistiges Training.« Zwar führte ihre Suche nach Erwerbsarbeit letztlich nicht zum Erfolg, die disziplinierenden, normierenden Anforderungen potentieller Arbeitgeber an Sprache und Auftreten reflektierte sie dennoch als Teil einer Charakterschulung: die schauen dich an von oben bis unten, machen Gesichtskontrolle, dann reden sie mit dir, machen Charakterkontrolle, wie du redest, wie du bist, also, bei Verkäuferin überhaupt, gell, deinen Umgangston und Umgangsart prüfen sie da. Wennst da ein bißl bayrisch redest, bist schon unten durch.122

Beruflich gescheitert, hat sie frühzeitig ihre Ambitionen auf ein »geregeltes Leben« in ihre vorzeitig geschlossene Ehe verlagert. Ihre Normalisierungspflicht im Privaten suchend, gibt sie freimütig zu, sie hätte »damals jeden geheiratet, nur damit ich endlich unter der Haube bin, (…) weil mit de Jobs hat᾽s net hing᾽haut.«123 Ihre Vorstellungen »irgendwo einen Job« zu haben, »wo ich aufsteig« konnte sie, dem Ideal einer »total emanzipierten Frau« nachhängend, nicht verwirklichen, weshalb sie zu dem Schluss kommt: Erstens hast net die Schulbildung, zweitens werst a nie so an Job kriegen und drittens bist net so charakterstark, daß des so weit bringst. Des war eigentlich des, was i am Anfang, ganz am Anfang sagen wollt, daß i lieber was anders g᾽macht hätt.124 119 Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Kurzbiographie Nr.  28/2, S. 7. 120 Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Interview Nr.  28/3, S.  49. 121 Hierfür und folgend: Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Interview Nr. 28/2. 122 Ebd., S. 33. 123 Hierfür und folgend: Diezinger, Frauen, Interview Nr. 28/3, S. 33. 124 Ebd., S. 61.

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Susanne ist eine der Arbeitslosen, deren Alternativrolle als Ehefrau letztlich in der sozialen Sackgasse endet. Den gesellschaftlichen Anpassungsdruck der privaten und beruflichen Normalisierungspflichten, der sie dahin gebracht hat, deutet sie um zum notwendigen Erkennen der Realität. In der Ehe hätte sie »gmerkt, daß i a totaler Realist bin.«125 Mit Ulla aus einer Kleinstadt im Ruhrgebiet, die 1984 im Rahmen des SOFIProjekts »Jugend und Krise« interviewt wurde, tritt auf den ersten Blick ein rebellischer Typ auf den Plan. Auch sie thematisiert im Interview ihr Schulversagen ausführlich. Zum Zeitpunkt des Interviews war Ulla 18 Jahre alt und nach dem Tod der Mutter Halbwaise. Ihr Vater wurde als Maschinenschlosser 1976 auf der Zeche entlassen und hatte die Frühverrentung beantragt. Ulla besuchte wie ihre vier älteren Geschwister die Sonderschule und war nach einem Berufsvorbereitungsjahr und zwei Monaten Tätigkeit als Reinigungskraft, die sie aufgrund einer Allergie nach zwei Monaten aufgeben musste, arbeitslos. Ihre Suche nach einer Ausbildungsstelle im gewünschten Lehrberuf der Friseurin blieb erfolglos. Den Grund hierfür sieht sie im Sonderschulabschluss, zudem ihre Schulzeugnisse schlecht gewesen wären. Durch das Interview zieht sich die Antizipation der Normalisierungspflicht des erfolgreichen Schulbesuchs und die Selbstattribution ihres schulischen Misserfolgs, denn ihre Zeugnisse hätte sie sich »selbst versaut«.126 Wiederholt schildert sie Versagen und Disziplinprobleme in der Schule: Ich meine, ich hatte drei Sechser auf dem Zeugnis, das macht viel aus. Dann war auch immer viel Theater gewesen mit Lehrer, was sich dann auch viel auf ’s Zeugnis ausgewirkt hat. Ich war nicht gerade ein liebes Mädchen in der Schule. Heute bereue ich, daß ich soviel Scheiße gemacht habe.

An anderer Stelle wird die Mechanik der Spirale von Fremd- und Selbstattribution eigenen Versagens deutlicher: Von meinem anderen Bekanntenkreis, die sagen immer, ich bin selbst daran schuld. Klar, bin ich selbst dran schuld. Ich meine, das würde ich auch nie abstreiten. Aufgrund dessen, weil ich mir ja alles selbst versaut habe. Durch meine Zeugnisse erstmal, weil ich nur zur Schule gegangen bin, wenn ich Bock hatte – auf deutsch gesagt.127

Für die auswertenden Wissenschaftler ist Ulla ein »merkwürdiger Fall von Zentralität von Arbeit im Lebenskonzept« und »eine Arbeitslose mit hoch entwickeltem Planungsverhalten.«128 Zum Erstaunen der Wissenschaftler möchte Ulla »sehr gerne einen vernünftigen Beruf lernen«, aus ihrer retrospektiven Perspektive, was sie hätte besser machen können, findet sie jedoch nicht heraus:

125 Ebd. 126 Hierfür und folgend: Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend, Interview Nr. 1301, S. 6. 127 Ebd., S. 17. 128 Ebd., S. 1.

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wenn ich jetzt nochmal neu anfangen könnte, ich würde, auch mit dem Verstand von heute, einiges anders machen, vieles. (…) Schule, die würde ich vernünftig zu Ende machen. (…) Vielleicht hätte ich dann auch eine Lehre angefangen. Und wenn ich dann auch ein besseres Zeugnis gehabt hätte, hätte ich auch vielleicht Friseuse gelernt.129

Auf die Frage nach ihren beruflichen Möglichkeiten »kichert sie ein bisschen« und muss allerdings bekennen: »Möglichkeiten wüsste ich nicht«.130 Dass der lokale Arbeitsmarkt geschlechtsspezifisch sortiert war, erschwerte Ullas Lage zusätzlich. Ulla, so wurde es ihr auf dem Arbeitsamt gesagt, solle sich einen Beruf aussuchen, »wo Frauen reingehören«.131 Während ihre männlichen Mitschüler schon im letzten Schuljahr »fast alle eine Lehre in Aussicht« hatten, »viele sind zur Zeche gegangen, einer ist Bäcker geworden, der eine hat Automechaniker gelernt«, lebte Ulla von Sozialhilfe.132 Bildungsbezogenen und beruflichen Normalisierungspflichten, trotz Bejahung ihrer Notwendigkeit nicht genügend, wendet sie sich dem privaten Bereich zu. Höhepunkt ihres Tagesablaufs ist es zum Zeitpunkt des Interviews, für ihren Freund zu kochen. Selbst die von anderen als angriffslustig bezeichnete Ulla beginnt, sich bescheiden ihrer Chancenlosigkeit zu beugen. Die Arbeitserfahrungen der jungen Frauen waren vergleichbar denen der gleichaltrigen gering qualifizierten Männer und bestanden aus monotoner »Kasperl«- oder »Deppen«-Arbeit, gleichwohl körperlich anstrengend und risikoreich. Der Berufsmisere war nur durch einen glücklichen Zufall oder Beziehungen zu entkommen, z. B. in Büroarbeit, die eigentlich höhere Qualifikationen erforderte. In allen drei Fallbeispielen der jungen, arbeitslosen Frauen gehörten geschlechtsspezifische Nachteile und sexistische Vorurteile zur Tagesordnung des Berufslebens bzw. der Arbeitsplatzsuche der jungen Frauen. Dieser Befund ist in dieser Form repräsentativ und trifft auf alle jüngeren Frauen zu, die im Rahmen des Projekts der Münchner Sozialwissenschaftlerinnen interviewt wurden. Aber auch in den knapperen Interviews der Göttinger SOFI-Projekte werden geschlechtsspezifische Nachteile auf dem Arbeitsmarkt und in Arbeitsverhältnissen mit großer Selbstverständlichkeit thematisiert. Berichtet wird von unsachgemäßen Einstellungsverfahren, wie eine ca. 20-jährige Industrienäherin, die bei einer telefonischen Bewerbung als Schreibkraft nach Größe, Gewicht und Aussehen gefragt wurde. Der Vorfall war zwar »das Dollste«, was ihr bei Bewerbungen passiert sei, und sie hätte sich gefragt, »wollen die eigentlich ein Pin-up-Girl oder was«, erfolglos blieb ihre Stellensuche gleichwohl.133 Reflexion half immerhin einer 19-jährigen weiter, die vor dem Besuch der Fachoberschule

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Beide Zitate: ebd., S. 21. Ebd., S. 6. Ebd., S. 4. Zitat: ebd., S. 5. Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. U 54, S. 12.

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übergangsweise arbeitslos war und zum Zeitpunkt des Interviews 1989 regressive Tendenzen in arbeitsmarktbezogenen Gleichstellungspolitiken feststellte: Wenn du dir mal bei einem Arzt die Frauenzeitschriften anguckst, dann stand da früher immer: Karin, 32, hat es geschafft, das und das zu werden! Jetzt steht da immer: Marion, 45, Hausfrau, engagiert sich so und so! Vor ein paar Jahren wurde eine Frau, die Karriere macht, noch als etwas Tolles dargestellt; jetzt wird eine Frau als toll dargestellt, die sich privat vielleicht noch für irgendetwas engagiert, die sich aber hauptsächlich um ihre Kinder kümmert, die an der Volkshochschule lernt, um ihren Kindern bei den Schularbeiten zu helfen.134

Die hier angedeutete Lösung der arbeitsmarktpolitischen Problematik für Frauen, ihre Abwanderung in die Alternativrollen von Hausfrau und Mutterschaft oder anders ausgedrückt: in die private Normalisierungspflicht, wurde nicht nur politisch seit Anfang der 1980er-Jahre befördert, sondern auch von sozialwissenschaftlicher Seite analytisch hergeleitet und in gewisser Weise affirmiert. In der Tat lässt sich für arbeitslose Frauen, die zum Zeitpunkt der sozialwissenschaftlichen Erhebungen des SOFI 45 bis 50 Jahre alt waren und in finanziell stabil abgesicherter ehelicher Partnerschaft lebten, die Existenz einer akzeptierten Alternativrolle bestätigen. Arbeitslosigkeit ist für diese Frauen kein Problem. Mit Kinderbetreuung und Hausarbeit beschäftigt, fühlen sie sich nun ruhiger und ausgeglichener, was auch gern von Ehemännern (»mein Mann sagt, endlich habe ich mal eine ausgeglichene Frau«) und Kindern bekräftigt wird (»alle fanden es eigentlich ganz gut, daß ich arbeitslos geworden bin«).135 In der Regel sind diese Frauen längerfristig verheiratet und über ihre Ehemänner, die gut verdienten, abgesichert, sodass ein finanzieller Verlust nicht besteht oder zu verschmerzen ist. Frauen, die in den 1980er-Jahren jünger und im Vergleich mit ihrer Alterskohorte gering qualifiziert sind, weichen in der Arbeitslosigkeit gleichfalls auf die Alternativrolle der Ehefrau und Mutter aus, diese führte allerdings nicht mehr in eine ökonomisch stabile Lebenslage bzw. teilweise bedingte sie eine äußerst prekäre Lebenslage. So ist zwar die Hälfte der von Angelika Diezinger 1988 befragten dreizehn Frauen im Alter von ca. 25 Jahren verheiratet. Nur für drei der interviewten Frauen scheint ihre Ehe aber eine Perspektive zu haben, bei den anderen ist eine Scheidung erfolgt oder steht bevor.136 Für alle verheirateten Frauen bestand, neben der Norm der Eheschließung, die Norm der Erwerbsarbeit trotz Heirat fort. Sie waren nach wie vor erwerbstätig oder langfristig auf der Suche nach Erwerbsarbeit, wobei deren Kontinuität, Qualifikationsniveau und Entlohnung sehr unterschiedlich war. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihre Arbeitsmarktrisiken durch Heirat und auch Mutterschaft nicht

134 Baethge / Hantsche / Pelull / Voskamp, Jugend, Interview Nr.  1310, S.  17. 135 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 106, S. 2; N 86, S. 4. 136 Vgl. Diezinger, Frauen, Arbeit und Individualisierung, S. 74; hierzu auch: Schober, Die soziale und psychische Lage arbeitsloser Jugendlicher, S. 459 f.

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mehr abwehren konnten. Familienplanung und Mutterschaft erschwerte zudem die Erwerbstätigkeit der jungen Frauen. Unbenommen von formalen Benachteiligungen bei potentiellen Arbeitgebern aufgrund von Schwangerschaft, Geburt oder Kinderbetreuung, führten sie strukturelle Aporien ihrer Situation auf Selbstressourcen zurück. »Für Mütter gibt es eben keine richtige Arbeit,« stellt eine ca. 25-jährige gelernte Friseurin fest, der nach einem Jahr Erziehungszeit wegen Auftragsmangel gekündigt wurde.137 Auf ihren »Schwangerschaftsurlaub«, sie meint den gesetzlichen Mutterschutz, hätte sie auch »verzichten können.« Ihre Enttäuschung über schlechte Berufsaussichten verdichten sich in der Aussage: »Manchmal denke ich, wenn ich mit Kindern gewartet hätte, dann hätte ich beruflich mehr Erfolg gehabt,« die nur unterstreicht, dass berufliche und private, familiale Normalisierungspflichten hier unvereinbar aufeinandertreffen.138 Die Abkühlungsstrategie der Frauen, ihr subjektives Arrangement mit dem schulischen und beruflichen Misserfolg, ist im Erzählmotiv gebündelt, sie hätten sich »mit der Realität« abgefunden. Berufliche Realitätserfahrungen, schlecht bezahlte und autoritäre Arbeitsverhältnisse, körperlich anstrengende Handlangerdienste, sind im Wechselverhältnis verschränkt mit ihren privaten Lebensverhältnissen, die großenteils ebenso prekär sind. Einfinden in und Zurechtfinden mit diesen beruflichen und privaten Normalisierungspflichten gelten den Frauen aber nicht als Unterordnung oder Abstumpfung, sondern als notwendiger Reifungsprozess. Für sie gilt es, realistisch zu bleiben und sich von der Traumwelt der Adoleszenz zu verabschieden. Nur in Ausnahmefällen bleiben berufliche Ambitionen und Interessen bestehen. Zum einen gelingt dies Frauen, deren familiäres Umfeld unterstützend einwirkt. Zum anderen aber vor allem dann, sofern diese Unterstützung ökonomische Ressourcen bereitstellt.139 Von den dreizehn Frauen, deren Lebensweg von Angelika Diezinger in einem dritten Interview nachverfolgt werden konnte, hat lediglich eine die beruflichen Wunschvorstellungen ihres 17-jährigen Selbst verwirklicht. Verträumt, berichtet die vom Gymnasium abgegangene Hauptschulabsolventin in ihrem ersten Interview 1979, sie wolle Malerin werden oder im Kunsthandwerk tätig sein. Nach Phasen längerer Jobberei in einfachen Tätigkeiten und steter finanzieller Unterstützung durch ihren Vater, der Arzt ist, schafft sie es, fünf Jahre nach ihrem Schulabschluss einen der raren Ausbildungsplätze als Theaterplastikerin zu bekommen. Sie wurde nach der Ausbildung vom Theater übernommen und lebte alleinstehend in einer Wohn137 Hierfür und folgend: Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 111, S. 9. 138 Ebd. 139 Ähnlich im Fall von »Irene«, die Ende der 1980er-Jahre im Rahmen einer Untersuchung zur Arbeitsorientierung Jugendlicher im nordwestdeutschen Raum interviewt wurde, vgl. Zoll u. a., »Nicht so wie unsere Eltern!« S. 105 f., die ökonomische Situation von »Irene«, angelernte Arbeiterin, wurde in der Untersuchung allerdings nicht thematisiert.

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gemeinschaft. Die Aporien beruflicher und privater Normalisierungspflichten, d. h. die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, reflektiert sie kritisch: »Ich habe das Gefühl, (…) daß es gesellschaftlich völlig fehl organisiert ist, so grundsätzlich von der ganzen Lebensweise.«140 Familial ungebunden, kann sie im letzten Interview 1988 aber beruflich vorerst zufrieden resümieren: »also im Prinzip macht mir alles Spaß. Oder sagen wir: grundsätzlich stehe ich in allem dahinter, und mache das schon gerne.«141 1.2.3 Assimilationspflichten jugendlicher Migrantinnen und Migranten Jugendliche der südeuropäischen und türkischen »Gastarbeiterfamilien« hatten es besonders schwer auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt. Sie waren überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen, wie eine Erhebung der Bundesanstalt für Arbeit aus dem Jahr 1975 zeigt.142 Zu diesem Zeitpunkt waren knapp elf Prozent aller erfassten Arbeitslosen unter 21 Jahren Jugendliche mit Migrationshintergrund und damit knapp fünf Prozent mehr als es ihrem Anteil an der altersgleichen Gesamtbevölkerung (6,4 Prozent) entsprechen würde. 1981 lag der Anteil der jungen Migrantinnen und Migranten unter 20 Jahren an allen regis­ trierten Arbeitslosen sogar bei 17,6 Prozent und damit mehr als dreimal so hoch wie ihr Anteil an der gleichaltrigen Gesamtbevölkerung. Für die 1980er-Jahre weisen Erhebungen des Statistischen Amts der Europäischen Union eine durchgehend doppelt so hohe Arbeitslosenquote unter Jugendlichen ausländischer Herkunft im Alter von 16 bis 25 Jahren wie bei ihren deutschen Altersgenossen aus. Dabei dürfte es sich jeweils um Mindestangaben handeln, die das Ausmaß der tatsächlichen Arbeitslosigkeit innerhalb dieser Gruppe beträchtlich unterschätzten, drohte den Jugendlichen migrantischer Herkunft doch bei andauernder Arbeitslosigkeit der Entzug der Aufenthaltserlaubnis. Berechnungen auf Grundlage des Mikrozensus von 1978 erbrachten, dass ein Drittel der jugendlichen Migranten im Alter von 15 bis 20 Jahren (75.000) weder in Schule noch beruflicher Ausbildung war.143 Nur 16.000 davon gaben an, erwerbslos zu sein, davon waren lediglich 8.000 arbeitslos gemeldet. Als ursächlich für die hohe Quote von Erwerbslosigkeit gilt die durchschnittlich geringere schulische und berufliche Qualifikation jugendlicher Migrantinnen und Migranten. Im Schuljahr 1979/80 besuchten 75 Prozent aller Schüler­ innen und Schüler migrantischer Herkunft an allgemeinbildenden Schulen die Hauptschule und ca. vier Prozent die Sonderschule, wobei sich deren Anteil im 140 141 142 143

Diezinger, Frauen, Interview Nr. 37/3, S. 14 Ebd., S. 2. Vgl. Raithel, Jugendarbeitslosigkeit, S. 36 f. Vgl. Karen Schober, Zur Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation ausländischer Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland – gegenwärtige Lage und künftige Perspektiven, in: Mitt AB 14 (1981), S. 11–21, hier: S. 20.

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Laufe der 1970er-Jahre nahezu verdoppelt hatte.144 Ein Fünftel derjenigen, die 1983 die Hauptschule ohne Schulabschluss verließen, waren Jugendliche ohne deutsche Staatsangehörigkeit.145 Für das Jahr 1981 stellte eine IAB -Untersuchung fest, dass nur 16 Prozent der 15 bis 19-jährigen Nicht-Deutschen eine Ausbildung im dualen System durchlief.146 Fünf Prozent besuchten eine berufliche Vollzeitschule. 57 Prozent erhielten zu diesem Zeitpunkt jedoch keine, noch so geringe berufliche Qualifikation. Geringe Ausbildungsbeteiligung zeigte sich auch im Anteil der Personen nicht-deutscher Herkunft an den Ausbildungslosen, der 1984 26 Prozent betrug mit steigender Tendenz.147 Diese Befunde verdeutlichen insgesamt, dass Jugendliche nicht-deutscher Herkunft in den 1980er-Jahren überdurchschnittlich in der Gruppe der gering Qualifizierten vertreten waren. Das in den 1960er-Jahren noch als »Jungarbeiterfrage« formulierte Problem der Eingliederung ungelernter Arbeiter wurde in den 1980er-Jahren zu einem »Ausländerproblem«, und zwanzig Jahre später wurde eine »Ethnisierung« der Gruppe gering Qualifizierter konstatiert.148 Die größte Gruppe unter den Migranten in der Bundesrepublik war türkischer Herkunft. Dementsprechend waren türkische Jugendliche mit einem Anteil von zehn Prozent die größte Gruppe unter den Ausbildungslosen von 1984.149 Diese Quote wuchs bis 1998, trotz der veränderten demographischen Verhältnisse in Folge der Wiedervereinigung, auf 26 Prozent an, während sie für andere ehemalige Anwerbeländer für »Gastarbeiter« (Griechenland, Spanien, Italien) im gleichen Zeitraum von neun auf drei Prozent absank. Vor dem Hintergrund dieser Daten zeichnet sich ab, dass die Frage der Ethnisierung gering Qualifizierter vom »Ausländerproblem« zum »Türkenproblem« wurde.150 144 Vgl. Schober, Zur Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation ausländischer Jugendlicher, S. 15. 145 Vgl. Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, S. 268. 146 Vgl. Schober, Zur Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation ausländischer Jugendlicher, S. 19 f.; die Ausbildungssituation stellt sich für Jugendliche migrantischer Herkunft, die 1977 regulär einen Schulabschluss nachweisen konnten, besser dar; auf die NichtRepräsentativität der Ergebnisse wird allerdings hingewiesen vgl. Heinz Stegmann /  Hermine Kraft, Ausländische Jugendliche in Ausbildung und Beruf, in: Mitt AB 16 (1983), S. 131–136. 147 Vgl. Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, S. 268 f. 148 Vgl. Schober, Zur Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation ausländischer Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland, S. 19; Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, S. 275. 149 Vgl. ebd., S. 269 f. 150 Vgl. die Formulierung bei: Ulrich Herbert / Karin Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Martin H. Geyer (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 6. 1974–1983. Bundesrepublik Deutschland. Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten, Baden-Baden 2008, S. 751– 777, hier: 765; auch: Schober, Zur Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation ausländischer Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland, S. 13; Thomas Faist, From School to Work: Public Policy and Underclass Formation among Young Turks in Germany during the 1980s, in: The International Migration Review 27 (1993), S. 306–331.

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Mit verursacht wurde die unterdurchschnittliche Schul- und Ausbildungsbeteiligung durch die bundesdeutschen Regelungen zum Familiennachzug nach dem Anwerbestopp für Arbeitsmigranten 1974.151 Zum einen zogen aufgrund angekündigter Befristungen der Nachzugsmöglichkeiten schulpflichtige Jugendliche in die Bundesrepublik nach, die, ohne Deutschkenntnisse, schulisch nicht reüssieren konnten. Waren die nachziehenden Jugendlichen bereits nicht mehr schulpflichtig, erhielten sie seit April 1979 erst nach einer »Eingewöhnungszeit« von zwei Jahren eine Arbeitserlaubnis. Die Wartezeit entfiel nur bei Teilnahme einer Arbeitsmaßnahme oder einem erfolgreich abgelegten Halbschulabschluss, der aufgrund von Sprachbarrieren in der Regel unwahrscheinlich war. Die Vermittlung in Arbeits- oder Ausbildungsstellen unterlag zudem dem Inländerprimat. Jugendlichen mit deutschem Pass war bei der Lehrstellenvermittlung Vorrang zu gewähren. In Analysen des IAB, wie denen von Karen Schober, wurden die Probleme der Jugendlichen migrantischer Herkunft an sich frühzeitig analysiert. Auch die Bundesregierung versuchte bereits Mitte der 1970er-Jahre mit Beschäftigungsprogrammen für junge Migranten unter 20 Jahren, die so genannten »Maßnahmen zur sozialen und beruflichen Eingliederung junger Ausländer« (MSBE), die 1980 von den der Bundesanstalt obliegenden »Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und sozialen Eingliederung junger Ausländer« (MBSE) abgelöst wurden, die Arbeitsmarktlage für diese Jugendlichen zu verbessern.152 Die von den Jugendlichen so genannte »Arbeitsamt-Schule« wurde vor allem von männlichen Jugendlichen türkischer Herkunft besucht, deren Anreiz es war, eine Arbeitserlaubnis zu erlangen.153 Insoweit verbesserte das 1987 eingestellte Programm die Einmündungschancen von Jugendlichen in eine Berufsausbildung nur geringfügig. In der zeitgenössischen Literatur wird in Übernahme des Urteils von Berufsberatern des Arbeitsamts den Jugendlichen vorgehalten, ihre Berufserwartungen seien unrealistisch bzw. ihre Berufswahl zu wenig variabel.154 Der Topos zu 151 Hierzu: Schober, Zur Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation ausländischer Jugendlicher, S. 13. 152 Vgl. Herbert / Hunn, Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, S. 767; Peter Auer / Gert Bruche / Jürgen Kühl (Hrsg.), Chronik zur Arbeitsmarktpolitik. National 1978–1986. International 1980–1986, Nürnberg 1987, S. 123 f.; Bodo Scheron / Ursula Scheron, Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und sozialen Eingliederung – Ghettoisierung oder Integration, in: Kurt F. K. Franke (Hrsg.), Jugend und Arbeitswelt, Wiesbaden 1989, S. 162–170; Sara-Marie Demiriz, Betreuung, Bildung und Beteiligung. Bildungspolitik für »Gastarbeiter*innen« im »Migrationsregime Ruhrgebiet«, in: dies. / Kellershohn / Otto (Hrsg.), Transformationsversprechen, S. 167–188, spez. S. 181–184. 153 Vgl. Karen Schober, Was kommt danach. Eine Untersuchung über den Verbleib der Teilnehmer an Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und sozialen Eingliederung junger Ausländer (MBSE) des Lehrgangsjahres 1980/81 ein Jahr später, in: Mitt AB 16 (1983), S. 137–152. 154 Vgl. Ursula Boos-Nünning, Berufswahl türkischer Jugendlicher. Entwicklung einer Konzeption für die Berufsberatung, Nürnberg 1989, S. 22 f.

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geringer Flexibilität in der Berufswahl, bekannt als Vorurteil gegenüber gering qualifizierten Frauen, wurde wiederum referiert und spezifisch der türkischen Herkunft der Jugendlichen angelastet, obgleich die von jungen Türkinnen und Türken bevorzugten Berufe die gleichen waren wie diejenigen deutscher Jugendlicher, nämlich KfZ-Mechaniker von Männern und Friseurin von Frauen. Die Ursachenforschung für die beruflichen Probleme der jungen Türkinnen und Türken tendierte durchaus zu ethnisierter Argumentation. So bemerkte zeitgenössische Literatur, die Berufswahl der Jugendlichen würde einer »Orientierung am Herkunftsland Türkei« unterliegen, wenn ihnen nicht gar, pädagogisch wohlmeinend, eine »türkische Basispersönlichkeit« (spontan, direkt, untereinander zärtlich) unterstellt wurde.155 Teilweise in Kritik der legislativen Regelungen des Familiennachzugs, teilweise in Kritik an familialen Einflüssen, die jeweils dazu beitragen würden, den Berufseinstieg der Jugendlichen in der Bundesrepublik in der Schwebe zu halten, wurden doch die subjektiven Optionen, die eine transnationale Berufslaufbahn den Jugendlichen bot, unterschätzt. Den Jugendlichen wurden »Assimilationspflichten« nach Maßstab des bundesdeutschen Bildungs- und Berufssystems auferlegt, deren Sinnhaftigkeit oder auch nur Funktionsweise subjektiv aber nicht nachvollzogen werden konnten.156 So bei Afifa, die mit 12 Jahren in die Bundesrepublik kam und nach Besuch von Hauptschule und abgebrochener Handelsschule seit gut einem Jahr arbeitslos, mit 21 Jahren im Jahr 1983 zu ihrer Lebenssituation befragt wurde. Afifa würde am liebsten »für immer zurück in die Türkei«, da sie sich vorstellt, dort leichter Arbeit zu finden: Wegen der Sprache und so weiter bestimmt als Dolmetscherin oder so was, könnte ich vielleicht irgendwo anfangen. Ich hab᾽ hier ja auch die kaufmännische Schule besucht, da könnt ich dort schon irgendwo anfangen. Als ich letztes Jahr in den Sommerferien in der Türkei war, da hab᾽ ich mal ein paar Stellenangebote gekriegt. Da könnte ich auch anfangen.157

Ihre Familie ist für sie nicht der Grund, in die Türkei zurück zu gehen, wo sie mehr als die Hälfte ihres Lebens verbracht hat, sondern die Begründung dafür, stattdessen arbeitslos in Deutschland zu bleiben: »Aber weil meine Eltern noch hier sind, hab᾽ ich abgesagt.«158 Auch die als unrealistisch gedeuteten, beruflichen Ambitionen der Jugendlichen sind als subjektive Strategien deutbar, für die strukturellen Dilemmata 155 Boos-Nünning, Berufswahl türkischer Jugendlicher, S. 28; die Basispersönlichkeit bei: Silvia Piott / Gertrud Schwarz / A ndrea Steinmay, Ausländische Jugendliche zwischen Schule und Beruf. Orientierungshilfen für die pädagogische Arbeit, München 1981, S. 32. 156 Zu den »Assimilationspflichten« vgl. Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, S. 281. 157 Zitat: Werner Balsen / Hans Nakielski / Rolf Winkel, Die neue Armut. Ausgrenzung von Arbeitslosen aus der Arbeitslosenunterstützung, Köln 1983, S. 174. 158 Balsen / Nakielski / Winkel, Die neue Armut, S.  172.

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ihrer Ausbildungssituation, eine individuelle Lösung zu finden. Soziale Erwartung der Mehrheitsgesellschaft war es, den Bildungsangeboten gerecht zu werden, die allerdings für die Jugendlichen in mehrfacher Hinsicht gestiegene Bildungsanforderungen waren. Das Verharren auf geringem Bildungsniveau wurde auch für türkische Jugendliche zu einem individuell zugeschriebenen Defizit.159 Schulischer Misserfolg und das Scheitern beruflicher Pläne zogen Enttäuschungen nach sich, die der Selbstattribution eigenen schulischen Versagens der deutschen Jugendlichen gleichkamen. Die 18-jährige Neische, die seit ihrem achten Lebensjahr in der Bundesrepublik lebte, war 1983 seit zwei Jahren arbeitslos. Ihren Hauptschulabschluss hatte sie nicht geschafft, was sie im Nachhinein auf ihre eigene »Dickköpfigkeit« zurückführt. Nach Berufsvorbereitungsjahr, diversen Fortbildungen und unbezahlten Praktika hat sie sich nun entschlossen, den Hauptschulabschluss nachzuholen, denn »dann hätt᾽ ich ja was in der Hand. Wenn ich keinen Abschluß habe, dann ist auch nichts für mich da.«160 Auch Latfa, deren Vater der Meinung war, dass sie Ärztin werden sollte, musste ihre Erwartungen an ihren Beruf herunterschrauben. Sie verließ nach der siebten Klasse die Hauptschule und nahm zum Zeitpunkt der Untersuchung von Bremer Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern Ende der 1980er-Jahre an einem Arbeitsvorbereitungsjahr (vergleichbar dem Berufsvorbereitungsjahr) teil, mit dem Ziel, in der Pflege zu arbeiten. Latfas Vater gab inzwischen zu: »Wenn du nur Arzthelferin wirst, reicht es auch.«161 Latfas Berufsberaterin war aber auch das noch zu ambitioniert und sie gab an, nach Einschätzung der Wissenschaftler berechtigt, noch weiter »abkühlend« auf die ihrer Einschätzung nach unrealistischen Erwartungen des Vaters einwirken zu wollen. Latfa, die selbstattributiv glaubte, sich in der Schule nicht genügend angestrengt zu haben, hatte die Empfehlung ihrer Lehrer, nach der sechsten Klasse die Hauptschule zu besuchen, pragmatisch akzeptiert: »Hab᾽ ich gedacht ist besser, wenn ich in Haupt bin, bin ich vielleicht besser drinne, aber wenn ich jetzt auf Real kommen würde, wäre ich vielleicht schlecht…«162 Unwissenheit über das deutsche Schul- und Ausbildungssystem und die selektierenden Wirkungen seiner Zertifikate waren verbreitet unter den Familien der ehemaligen »Gastarbeiter«.163 So hatte Bert, ein junger Türke, der wegen schlechter Deutschkenntnisse in den 1980er-Jahren auf eine Sonderschule geschickt wurde, zunächst gar nicht begriffen, dass er keine ›normale‹ Schule besuchte. Nach einiger Zeit »habe ich gecheckt, daß ich ’n Lernbehinderter bin. 159 Vgl. Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, S. 281. 160 Zitat: Balsen / Nakielski / Winkel, Die neue Armut, S. 174. 161 Karl F. Schumann / Jutta Gerken / Lydia Seus, »Ich wußt’ ja selber, daß ich nicht grad der Beste bin…« Zur Abkühlungsproblematik bei Misserfolg im schulischen und beruflichen Bildungssystem, Bremen 1991, S. 20. 162 Ebd., S. 20. 163 Vgl. Boos-Nünning, Berufswahl türkischer Jugendlicher, S. 23 f.; Franz Schanda  /  Hildegard Happach-Kaiser, Integration ausländischer Jugendlicher durch MBSE , in: Mitt AB 16 (1983), S. 252–261, hier: S. 258.

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(…) Und das hat mich ’n bißchen geschockt natürlich. Wie sie alle gesagt haben: Sonderschüler, Sonderschüler…«164 Bert blieb dennoch leistungsorientiert und stolz darauf, der Zweitbeste seines Abschlussjahrgangs zu sein. Sein Plan war es, nach einem Berufsgrundbildungsjahr den Hauptschulabschluss nachzuholen und danach Metallbauschlosser zu werden. Die Subjektadressierungen der Bildungs- und Ausbildungsnormen des bundesdeutschen Arbeitsmarktes zeigen sich an den jungen Migrantinnen und Migranten in besonderer Schärfe. Ihre Arbeitslosigkeit konnten sie selbst kaum beeinflussen, dennoch hatten sie Normalisierungs- und Qualifizierungspflichten verinnerlicht, die ihnen selten beruflichen Erfolg versprachen.

1.3 Gelegenheitsmanagement: Chancen nutzen in Großbritannien In Großbritannien war die rhetorische Figur der Meritokratie (»meritocracy«) in gewisser Weise das Pendant zur westdeutschen Bildungsgesellschaft, obgleich die Statuspassage von der Schule in den Beruf nicht in derartiger Weise durch ein zentralisiertes Ausbildungssystem vorstrukturiert war und ist wie in der Bundesrepublik.165 Als Wahlkampf- und Politikinstrument der Labourpartei war der soziale Aufstieg durch Schul- und Arbeitsleistung zentrales Versprechen der britischen Gesellschaft in den Nachkriegsjahrzehnten.166 Die realen Chancen des sozialen Aufstieg des politischen und wissenschaftlichen Idealtypus des britischen »affluent worker« der 1960er-Jahre mögen perspektivabhängig sein, und die Beurteilung der Klassenmobilität nicht eindeutig – die Erfahrung einer stabilen Verfügbarkeit von Erwerbsarbeit war Allgemeingut.167 Bis in die 1970er-Jahre war der direkte Übergang von Schulbesuch (mit oder ohne Abschluss) in Erwerbsarbeit via »on-the-job training« oder die weiter qualifizierende Schullaufbahn Standard.168 Daneben war der spätere Wechsel des Arbeitgebers problemlos, wie sich ein Londoner Dreher, geboren in den späten 1940er-Jahren, noch 164 Schumann / Gerken / Seus, »Ich wußt’ ja selber, daß ich nicht grad der Beste bin…«, S. 25. 165 Begriffsprägend und Begriffskritik: Michael D.  Young, The Rise of the Meritocracy 1970–2033. An Essay on Education and Equality, London 1958; ders., Looking back to Meritocracy, in: Geoff Dench (Hrsg.), The Rise and Rise of Meritocracy, Oxford 2006, S. 73–77; Solga weist auf die Begriffsdifferenzen zwischen Meritokratie und Bildungsgesellschaft hin, die hier allerdings keine Rolle spielen: Solga, Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft, S. 31. 166 Sehr dominant bei: Todd, The People, S. 216–246; vgl. auch: Peter Mandler, The Crisis of the Meritocracy. Britain’s Transition to Mass Education since the Second World War, Oxford 2020. 167 Nicholas Abercrombie / A lan Warde, Contemporary British Society. A New Introduction to Sociology, Oxford 1988, S. 199. 168 Walter R. Heinz, Job-Entry Patterns in a Life-Course Perspective, in: ders. (Hrsg.), From Education to Work. Cross-National Perspectives, Cambridge 1999, S. 214–231.

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erinnern konnte: »You could leave one job in the morning and get another one in the afternoon.«169 Spätestens Mitte der 1970er-Jahre hatte sich auch in Großbritannien die Situa­ tion auf dem Arbeitsmarkt für Jugendliche und im speziellen für gering qualifizierte Jugendliche massiv verschlechtert.170 Die Anforderungen an schulische und berufliche Qualifikationen erhöhten sich. Nach den Daten des »British Election Surveys« verließen von den 1930–39 geborenen Männern 45 Prozent die Schule ohne weitere Qualifikation, von den Männern der Jahrgänge 1960–69 waren es hingegen nur 13 Prozent.171 Der Anteil derer, die weiterführende schulische Qualifikationen erwarb, stieg infolgedessen, insbesondere derer mit dem höchsten schulischen Abschluss (A level). Ihr Anteil (Männer und Frauen) erhöhte sich in den 1980er- und 1990er-Jahren von 17 Prozent im Jahr 1979 auf 36 Prozent im Jahr 1997. Die 1960er-Kohorte der Männer war daneben in ungleich höherem Maße als die 1930 Geborenen von Arbeitslosigkeit betroffen, ihre Erwerbsbiographien verliefen eher diskontinuierlich und der Eintritt in das Erwerbsleben in höherem Alter. Der überwiegende Teil der arbeitslosen Jugendlichen dieser Kohorte hatte die Schule nach der Pflichtschulzeit oder früher ohne weitere Qualifikation verlassen. Eine 1972 durchgeführte Untersuchung ergab, dass 70 Prozent der arbeitslosen Jugendlichen zwischen 16 und 19 Jahren weder einen schulischen noch beruflichen Abschluss hatten.172 1976 waren gleichfalls 70 Prozent der arbeitslosen Jugendlichen ohne qualifizierenden Schulabschluss. Staatliche Trainingsprogramme, die zu einer allgemein üblichen Berufsstation der Jugendlichen wurden, verbesserten die soziale Situation der Jugendlichen nur vorübergehend.173 169 Zitat: McIvor, Working Lives, S. 247. 170 Kenneth Roberts, Career Trajectories and the Mirage of Increased Social Mobility, in: Inge Bates / George Riseborough (Hrsg.), Youth and Inequality, Buckingham 1993, S. 229–245; Gary Pollock, Uncertain Futures: Young People In and Out of Employment since 1940, in: Work, Employment and Society 11 (1997), S. 615–639; David Metcalf, Unemployment in Great Britain. An Analysis of Area Unemployment and Youth Unemployment, Berlin 1979; Walter R. Heinz, Soziale Benachteiligung und berufliche Förderung Jugendlicher im regionalen und internationalen Vergleich, in: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 92 (1996), S. 151–161; Harten, Jugendarbeitslosigkeit in der EG , S. 108–129; Burnett, Idle Hands, S. 269 f.; Kenneth Roberts / Glenny Parsell / Michelle Connolly, Young People’s Transitions into the Labour Market, in: Malcom Cross / Geoff Payne (Hrsg.), Work and the Enterprise Culture, London u. a. 1991, S. 102–125. 171 George Smith, Schools, in: Albert H. Halsey / Josephine Webb (Hrsg.), Twentieth-Century British Social Trends, Houndmills, London 2000, S. 179–220, hier: S. 208 f.; ähnlich: Richard Pearson / Rosemary Hutt / David Parsons, Education, Training and Employment, Brighton 1984, S. 8–22. 172 Harten, Jugendarbeitslosigkeit in der EG , S. 115. 173 Walter R.  Heinz, Soziale Benachteiligung und berufliche Förderung Jugendlicher im regionalen und internationalen Vergleich, in: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 92 (1996), S. 151–161; Roberts, Career Trajectories.

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Britische Forschung untersuchte die Zusammenhänge von Schulleistung und Arbeitslosigkeit von Jugendlichen unter der Maßgabe des erfolgreichen Übergangs von der Schule in die Erwerbsarbeit. Sie hoben vor allem auf klassenspezifische Problematiken dieser Übergangsphase ab. Familial und sozial eingeübte Verhaltensweisen seien ursächlich für die schulische Leistung, den weiteren Erwerbsweg und die soziale Reproduktion. 1.3.1 Self-made Typen: gering qualifizierte Männer Die zumeist bildungssoziologischen Studien zur Jugendarbeitslosigkeit in Großbritannien konzentrierten sich auf die weiße, männliche Arbeiterjugend und versuchten, das Phänomen ihres schulischen Versagens zu erklären.174 Zumindest Teilen der »Working Class«-Männer wurde dabei häufig eine unambitionierte, rebellische und bildungsfeindliche Attitüde in ihrer Schulzeit unterstellt, die ihre spätere sozialen Verortung in manuellen, nicht-qualifizierten, aber gut bezahlten Jobs in gewisser Weise vorweggenommen bzw. zumindest erleichtert hätte. Paul Willis prägte hierfür in seiner ethnographischen Studie über eine kleine Gruppe von Schülern einer weiterführenden Schule in den englischen Midlands, die er während ihrer letzten beiden Schuljahre und der ersten Monate Erwerbsarbeit begleitete, die Formulierung des »Learning to Labour«, des sich Selbst-Einfindens der Arbeitersöhne in Arbeiterberufe.175 Diese Subjektivierungsstrategien beschreiben sicher keine »ideologischen Einfaltspinsel« übereifriger, zugleich bildungsunwilliger wie potentiell revolutionsbereiter Klassenkämpfer und waren zweifellos nur für Teile der »Working Class« zutreffend.176 David Ashton und David Field identifizierten in ihren Forschungen eine als »career-less« bezeichnete Gruppe innerhalb ihres größeren Untersuchungs­ samples von 600 jugendlichen, männlichen Arbeitern, die in ihrer Feindseligkeit gegenüber akademischer Bildung den Nicht-Konformisten von Willis ähnlich waren.177 Daneben existierte ihnen zufolge aber auch eine ambitionierte, aufstiegsorientierte Gruppe von »Working Class Careerists«. Zieht man in Betracht, dass von Schulabbruch bzw. geringer schulischer Qualifikation und anschließender Arbeitslosigkeit seit den 1970er-Jahren vor allem Jugendliche der »Working Class« betroffen waren, stellt sich gleichwohl die Frage, ob und welche Strategien von Subjektivierung weiter funktionierten und 174 Phil Brown, Der Übergang von der Schule ins Erwachsenenleben in Großbritannien, in: Büchner / K rüger / Chisholm (Hrsg.), Kindheit und Jugend im interkulturellen Vergleich, S. 180. 175 Vgl. Willis, Learning to Labour; ähnlich: Paul Willis, Unemployment: the Final Inequality, in: British Journal of Sociology of Education 7 (1986), S. 155–169; Roberts, Career Trajectories, S. 239. 176 So die Kritik von Brown, Der Übergang von der Schule ins Erwachsenenleben in Großbritannien, S. 182. 177 David N. Ashton / David Field, Young Workers. From School to Work, London 1976.

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ob angesichts steigender Arbeitslosenzahlen höhere Bildungs- und Ausbildungsnormen subjektiv reflektiert wurden.178 Dabei kann hier nicht im Mittelpunkt stehen, welche Auswirkungen steigende Arbeitslosigkeit auf die schulischen Leistungen von gering qualifizierten jungen Männern hatte, sondern inwiefern schulischer Misserfolg in späterer Arbeitslosigkeit reflektiert wurde.179 Angesichts des Umstands, dass die von Arbeitslosigkeit betroffenen jugendlichen Kohorten häufiger arbeitslos waren als ältere Kohorten, waren ihre Erfahrungen von Normabweichungen unter Umständen Erfahrungen von Diskrepanz zur Lebens- und Biographiegestaltung ihres Herkunftsmilieus. Der statistisch offenkundige Zusammenhang von geringer Qualifikation und Arbeitslosigkeit wurde durchaus von den britischen Jugendlichen thematisiert. Daneben tauchen aber weitere, diffusere Handlungszusammenhänge auf, die für die jugendlichen, männlichen Subjekte in ihrer Arbeitslosigkeit wichtig waren. Steigende Qualifikationsanforderungen wurden von den männlichen Jugendlichen zwar erwähnt, eine Zuschreibung eigener Unzulänglichkeit, die Selbstattribution, den Qualifikationsanforderungen nicht genügt zu haben und die eigene Arbeitslosigkeit verschuldet zu haben, ist aber zumindest nicht eindeutig nachzuweisen. Obgleich der Journalist Jeremy Seabrook in seiner ethnographischen Studie zur Arbeitslosigkeit in den 1980er-Jahren empirisch großzügig die Aussage in den Raum wirft, er hätte »never heard so many seventeen- and eighteen-yearsolds talk like old men, saying they wish they had paid more attention, made more effort when they were at school.«180 Jedoch sind die von ihm belegend herangezogenen Erzählungen von Jugendlichen, die 1980 in Bristol eine berufliche Fördereinrichtung (»Fred’s Centre«) besuchten, um ihr letztes Schuljahr abzuschließen oder Arbeitslosigkeit zu überbrücken, eindrücklich, aber in sich widersprüchlich. »I wish I could have stayed on or done better when I was there. I suppose I didn’t appreciate what exams would mean to me but I never got interested while I was still at school,« so Roger, der sich seit einigen Monaten zwischen Arbeitslosigkeit und kurzfristigen Jobs bewegte, um mit Kritik an seinen Lehrern fortzufahren: »It used to put me off, being criticised. I never thought I did that bad. He’d show us up in front of everybody. The teachers should have had more time for us.«181 Andrew blickte nach knapp einem Jahr körperlicher Schwerstarbeit in einer Lederfabrik und als LKW-Packer nostalgisch auf seine vergangene Schulzeit. Er vermisst die Ungezwungenheit seiner Schulzeit, den 178 Zur Arbeitslosigkeit der »Working Class«-Jugendlichen insbesondere: Coffield / Borrill /  Marshall, Growing up at the Margins; Willis, Unemployment: the Final Inequality. 179 Dazu Brown, Der Übergang von der Schule ins Erwachsenenleben, allerdings mit widersprüchlichem Ergebnis zwischen Zunahme eines »instrumentellen Verhältnisses« der Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu zur Schule und ihrem nicht nachlassenden Willen sich »in der Schule anzustrengen.« 180 Seabrook, Unemployment, S. 113. 181 Bristol Broadsides Co-op. (Hrsg.), Fred’s People. Young Bristolians speak Out, Bristol 1980, S. 8; zitiert nach Burnett, Idle Hands, S. 290.

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gemeinsamen Spaß mit seinen Freunden, die Hilfsbereitschaft der Lehrer und selbst »pure genuine school boredom – the best boredom in the world.«182 An keiner Stelle bezichtigt er sich selbst irgendeines Versagens. Im Rahmen der standardisierten Erhebungen des Scottish Education Data Archive (SEDA) wurden in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre Kommentare von Jugendlichen gesammelt, die neun Monate nach Schulabschluss zu Verbleib und Berufstätigkeit befragt wurden. Die in Auswahl publizierten Kommentare der Jugendlichen lassen erkennen, dass sie schulischen Qualifikationen und Zertifikate eine gewisse Wichtigkeit zubilligten. »Trying to find work without qualifications and without experience is very hard«, so ein arbeitsloser Jugendlicher ohne qualifizierenden Schulabschluss, der gleichfalls bedauert: »If I knew I was going to be unemployed for so long I wouldn’t have left school.«183 Für vorzeitigen Schulabbruch oder Schulversagen wurden dennoch weniger schlechte schulische Leistungen angeführt. Vorrangig wurde der Schulunterricht gar nicht erst besucht. Lediglich rund ein Drittel aller befragten Jugendlichen, die ohne weiterführende Qualifikation die Schule verließen, gab an, noch nie geschwänzt zu haben.184 Ein Drittel war bereits einen Tag »here and there« dem Unterricht ferngeblieben. Von den Jungen klassifizierte sich ein Drittel selbst als regelmäßige Schulschwänzer und fehlte fortgesetzt einige Tage oder auch Wochen in der Schule. Das eigene Schwänzen, das einen geregelten Schulabschluss verhinderte, war Grundlage der zurückblickenden Selbstattribution. »If I had worked harder at school instead of playing traunt [sic, gemeint: truant], which I regret now, I think I would have made a better career for myself,« berichtet ein junger ungelernter Arbeiter, der »einige Zeit regelmäßig« die Schule geschwänzt hatte.185 Im Fall der SEDA-Stellungnahmen mag es an ihrer äußeren Form als frei formulierte Kommentare einer standardisierten, lösungsorientierten Abfrage liegen, dass Hinweise auf institutionelle Problemlagen des Ausbildungssystems klar formuliert wurden und weniger das eigene Unvermögen. Auch Claire ­Wallace kommt in ihrer Untersuchung zu arbeitslosen Jugendlichen auf der Insel Sheppey von 1979 zu dem Schluss, dass diese eine Selbstattribution der eigenen Arbeitslosigkeit überwiegend scharf zurückwiesen. Laut Wallace, war Arbeitslosigkeit für sie ein »fact of life«, der gewissermaßen zu ihrem Alltag dazugehörte.186 Allerdings war nahezu die Hälfte der Schulabgänger auf der Insel innerhalb eines Jahres nach Ende der Schulzeit arbeitslos und die Schwäche des lokalen Arbeitsmarktes offensichtlich. Sowohl in der SEDA-Untersuchung wie in der Studie von Wallace wird vor allem die Verlängerung der Pflichtschulzeit 182 Bristol Broadsides Co-op. (Hrsg.), Fred’s People, S. 27. 183 Lesley Gow / Andrew McPherson (Hrsg.), Tell them from Me. Scottish School Leavers write about School and Life Afterwards, Aberdeen 1980, S. 87 f. 184 Ebd., S. 41, 115. 185 Ebd., S. 45. Rechtschreibfehler der Jugendlichen wurden in der Publikation nicht korrigiert und werden auch hier nicht berichtigt. 186 Wallace, For Richer for Poorer, S. 76 f.

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um ein Jahr in Schottland 1960 sowie in England und Wales 1972 und daraus folgende Friktionen in der Unterrichtsorganisation ursächlich für schulische Frustration und Lernunwillen genannt. Für Schulabgänger ohne weitere Qualifikationsambitionen oder -möglichkeiten war dieses letzte Schuljahr eines, in dem sie subjektiv Zeit vergeudeten.187 Absentismus praktizierten sie häufig, um Diskriminierungen der Lehrer zu entkommen oder im Nebenerwerb Geld zu verdienen: »Yes I would like to tell you more about myself. I didn’t go to school my last year, as I knew it would be a waste of time. I sell ginger to the public.«188 Die Sheppey-Untersuchung von Claire Wallace ergab, dass Nebenerwerb und informelle Jobberei während des letzten Schuljahrs vor allem bei notorischen Schulschwänzern, diejenigen die gleichfalls frühzeitig die Schule abbrachen, verbreitet war.189 Für eben jene Jugendliche, die am stärksten von Arbeitslosigkeit und bestenfalls unregelmäßiger Gelegenheitsarbeit in den ersten Jahren nach Schulabschluss betroffen waren, gingen unregelmäßiger Schulbesuch und unregelmäßige Erwerbsarbeit gewissermaßen fließend ineinander über und waren Teil zunehmend unberechenbarer Erwerbswege.190 Eine längerfristige, gut bezahlte Erwerbsarbeit oder Berufsausbildung zu erlangen, so die befragten Jugendlichen, hing von kontingenten, teilweise einander widersprechenden Faktoren, wie Region, Alter oder Berufserfahrung ab. Die BBC berichtete 1987 von der vierköpfigen Familie »Smith«, deren Mitglieder teilweise arbeitslos waren.191 Der Vater John sen., hatte siebzehn Jahre als ausgebildeter Techniker in der Materialprüfung gearbeitet, bevor er nach neun Monaten Arbeitslosigkeit eine Weiterbildung der MSC begann. Seine Frau Carol half vier Abende in der Woche in einem Supermarkt aus. Die Arbeitssuche des ältesten Sohnes, John jun., blieb trotz hochqualifizierendem Schulabschluss (sechs »O-Levels«) sowie einjährigem Collegeabschluss nach zwei Jahren und 300 Bewerbungen immer noch erfolglos. Ihm wurde gesagt, dass seine Lohnkosten als 19-jähriger bereits zu hoch wären. Die Erwerbstätigkeit seines jüngeren Bruders Paul, der die Schule mit 16 Jahren verlassen hatte und Vollzeit in einem Schneidereibetrieb arbeitete, schien dies zu bestätigen. Die Familie hatte die Kreditraten für das Eigenheim abzubezahlen, und so war es Paul, derjenige der die geringste schulische und berufliche Qualifikation vorzuweisen hatte, der sämtliche Lebensmittel des Familienhaushalts finanzierte. Berufliche Qualifikationen waren hier obsolet geworden. Andere Stimmen lassen hingegen gegenteilige Schlüsse zu. »All the jobs you see advertised are all for experienced people or over 21s«, »there were jobs only for university graduates«, »trying to find work without qualification and without experience is very hard«  – so die Perspektive ungelernter, arbeitsloser Schul­ 187 188 189 190 191

Gow / McPherson (Hrsg.), Tell them from Me, S. 25. Ebd., S. 40. Wallace, For Richer for Poorer, S. 64. Coffield / Borrill / Marshall, Growing up at the Margins, S. 56. Burnett, Idle Hands, S. 272.

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abgänger in der SEDA-Untersuchung.192 Für die Jugendlichen waren die Aporien des Arbeitsmarkts kaum einzuschätzen. Situative Chancen auf eine Stelle, die ebenso schnell und situativ verpasst werden konnten, eröffneten Jobinterviews bzw. Vorstellungsgespräche. Das oder die Einstellungsinterviews waren die letzte Hürde auf dem Weg zum neuen Job und entsprechend hoch waren die Erwartungen an das eigene Selbst, erfolgreich zu sein. »The trouble is after writing for jobs and going for interviews and being unsuccesful you loose your heart,« formuliert ein ungelernter Arbeiter in einer Wäscherei das Wechselbad der Gefühle einer aus jugendlicher Perspektive unberechenbaren Jobsuche.193 Formale schulische und berufliche Qualifikationen wurden angesichts der kontingenten Arbeitsperspektive in mehrfacher Hinsicht in ihrer Legitimität angezweifelt. Wenn sie nicht ohnehin, wie im Fall der Familie Smith, hinderlich für eine erfolgreiche Arbeitssuche waren, haftete dem schulischen Curriculum daneben der Ruf an, irrelevant für die konkreten Arbeitsvorgänge von praktischer Erwerbsarbeit zu sein. Die in der SEDA-Untersuchung befragten Absolventen erkannten verbreitet die Legitimität von Bildungszertifikaten lediglich pro forma an, im Sinn einer notwendig zu absolvierenden Hürde pragmatischer Laufbahnplanung. Die Empfehlung eines Agraringenieurs in Ausbildung war es, »to get as many qualifications at school as possible even if not required for job.«194 Schulische Inhalte, vor allem des letzten Schuljahrs, wurden akzeptiert, sofern sie der Berufsvorbereitung dienten und nützlich waren, um anschließend einen Job zu finden.195 Sowohl in der schulischen Ausbildung als auch im Bewerbungsprozess würde »too much emphasis (…) on certificates instead of personalities« gelegt.196 Dass höhere schulische Abschlüsse, bessere Arbeitsqualität, vor allem in Bereichen körperlicher, »Working Class«-Arbeit versprechen sollen, ist etwas, wogegen sich insbesondere die Befragten der SEDA-Untersuchung vehement aussprachen. In Aussagen von, z. B. »I don’t really think you need O levels to be a tradesman«, wurden Wahrnehmungen eigener Inferiorität deutlich, völlig antizipiert und an sich selbst adressiert werden die Anforderungen erhöhter Bildungspflichten hingegen nicht.197 Im Gegenteil: sowohl das Bildungssystem als auch die Einstellungspolitiken potentieller Arbeitgeber verloren an Legitimität bei den gering Qualifizierten. Wenn nun die Norm der Bildungspflichten zumindest in Form einer Selbstattribution bei Bildungsversagen nicht in dem Maße nachweisbar ist, stellt sich die Frage, ob andere und welche Subjektivierungstechniken englischer und schotti192 Gow  /  McPherson (Hrsg.), Tell them from Me, S. 287 f.; ähnlich: Coffield  /  Borrill  /  Marshall, Growing up at the Margins, S. 103. 193 Gow / McPherson (Hrsg.), Tell them from Me, S. 88. 194 Ebd., S. 108. 195 Ebd., S. 67 f. 196 Ebd., S. 96. 197 Coffield / Borrill / Marshall, Growing up at the Margins, S. 86.

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scher Jugendlicher feststellbar sind, um ihre Arbeitslosigkeit und ihre schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt aufgrund ihres geringen Qualifikationsniveaus auszutarieren. In Interviews der soziologischen Untersuchungen von Claire Wallace und Ray Pahl zu Schulabgängern und Arbeitslosen auf der Insel Sheppey lassen sich Subjektivierungszusammenhänge gering qualifizierter Jugendlicher exemplarisch nachvollziehen. In drei aufeinanderfolgenden Untersuchungsschritten wurden 1979, 1980 und 1984 Schulabgänger der Insel, die ca. 40 km östlich von London in der Themsemündung liegt, standardisiert befragt, ergänzt um qualitative Interviews und Feldstudien.198 Sheppey entsprach in seiner Altersstruktur dem britischen Durchschnitt.199 Die Arbeitslosenquote war zwischen 1961 und 1981 durchgehend über dem Durchschnitt, folgte aber der nationalen Konjunkturkurve. Einschneidend für den lokalen Arbeitsmarkt war die Schließung der staatlichen Werft 1959 in Sheerness on Sea, bis dahin größter Arbeitgeber vor Ort, und die Entlassung ihrer großenteils hoch qualifizierten 2.500 Beschäftigten. Auf der Insel verblieben Arbeitsplätze in einfach qualifizierter Industriearbeit (Textilfabrikation, Elektromontage)  bzw. diese wurden in den 1960er-Jahren neu angesiedelt. Daneben existierten Arbeitsplätze in der Hafenlogistik oder in der Kneipenszene der Küstenorte. Insgesamt zeichnet sich auf dem Arbeitsmarkt der Insel ein Prozess von Dequalifizierung ab, der gespiegelt wird im überdurchschnittlichen Anteil von Schulabgängern, die lediglich Pflichtschuljahre vorweisen konnten, d. h. gering qualifizierter Jugendlicher. Zu diesen Jugendlichen gehörte Ray, der mit 16 die Schule verließ. Bereits während der Schulzeit half er seinem Vater, der als Kontraktfahrer eines LKWs in den Hafenanlagen arbeitete. Ray war zum Zeitpunkt des Interviews, 1980, 17 Jahre alt und seit einem Jahr arbeitslos, nachdem er eine Reihe von Aushilfstätigkeiten (Sägewerk, Großküche, Großbäckerei) wegen körperlicher Überlastung aufgeben musste. Er wartet darauf 18 Jahre zu werden, um danach eine Fortbildung der MSC zum Stuckateur zu machen. Für eine reguläre Ausbildung war er nach eigener Aussage bereits zu alt bzw. seine schulischen Qualifikationen reichten für die von ihm gewünschten Ausbildungsberuf als Mechaniker nicht aus, denn »they say you need O Level English and things like that, but I don’t see what it’s got to do with mechanics.«200 Im Interview fährt er fort: »You know, you see them up on  a noticeboards, »Apprentice mechanic required, O Level Maths, English and Science‹ things like that. But I find you don’t need them,« und wiederholt diesen Punkt, als er gefragt wird, ob Jugendliche in seiner Lage faire Jobchancen hätten: 198 Hier von Interesse: Wallace, For Richer for Poorer; sowie die überlieferten Interviews der 1980er-Studie: UK Data Archive, Essex, Claire D. Wallace, 17–19 and Unemployed on the Isle of Sheppey, 1980 [computer file], UK Data Service, SN: 4860. 199 Hierzu: Wallace, For Richer for Poorer, S. 11–27. 200 UK Data Archive, Essex, Claire D. Wallace, 17–19 and Unemployed on the Isle of Sheppey, Interview Nr. 006, S. 18.

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No, because all of us ain’t got the qualifications. (…) You know, like, as I say, a mechanical job. You don’t need English and Maths and things like that for doing that. I know full well you don’t. But they still insist that you have them. They just think ›Ah, he’s got C.S.E.a, O Levels.‹ Es worked hard at school, so ›es going to work hard.‹ But no one’s going to work harder than a bloke who ain’t got nothing you know.201

Trotz seiner »Working Class«-Attitude, der Verachtung schulischer Bildung und dem Leistungsstolz auf harte körperliche Arbeitsfähigkeit, war Rays Rückschau auf die Schulzeit ambivalent. Hatte er die Schule verlassen, um möglichst schnell Geld zu verdienen, so war dieses Vorhaben, angesichts seiner Arbeitslosigkeit nicht aufgegangen. Er neigte, nach seinen Ansichten zur Schulzeit befragt, zu Selbstattributionen, bessere Ausbildungs- und Berufschancen verpasst zu haben: »And then, I regret leaving school because I couldn’t have made meself better education than what I did have. (…) Didn’t bother, like, it was me own fault. You felt that the opportunity was there.«202 Rays schwankender Wegweiser auf dem chancenlosen Arbeitsmarkt der Insel war seine Familie. Die Frage, ob er selbstständig arbeiten möchte, bejahte er, im Verweis auf den Vater seiner Freundin und den Wunsch, unabhängig und selbstbestimmt arbeiten zu können.203 Der Beruf war dabei zweitrangig. Ohne es zu erwähnen, folgte er darin auch der Erwerbstradition seines Vaters, von dem er, wie er ausdrücklich sagt, seine zweckoptimistische Lebensperspektive übernommen hat: »I never plan anything. I just take the day as it comes, you know – job comes up, great, you know, glad of it – but I never build me hopes up – me Dad taught us that, he said, ›Never build your hopes up nor nothing.‹«204 Ray befand sich in der Übergangsphase zwischen den familiären »Working Class«-Erwerbstraditionen und seinen geringfügigen Qualifikationschancen. Doch Ray hatte beruflich Erfolg. 1984, zum Zeitpunkt der dritten Erhebung von Claire Wallace, war er in leitender Position in einer der ortsansässigen Fabriken tätig. Sein Ausbildungsgang lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Er selbst führte seinen beruflichen Aufstieg auf eigenes Selbstvertrauen und mutiges Zupacken zurück. Er hätte nicht auf Politik oder Staat gewartet. Seine Erzählung ist die des »Self-Made-Man«: »I’ve done it myself.«205 Doch Ray gehörte nur zur glücklicheren Hälfte der befragten Jugendlichen Sheppeys, für die ihre Arbeitslosigkeit im Teen-Alter nicht die soziale Abstiegsleiter im Twen-Alter bedeutete. Bei 51 Prozent der Jugendlichen des von Wallace 1984 zum dritten Mal befragten Samples ging der steinige Berufsweg weiter abwärts.206 Einer dieser Jugendlichen war Mike, der im Alter von 15 Jahren die Schule vorzeitig und, seinen Schilderungen zufolge, nach eigenem Entschluss 201 Ebd., S. 34. 202 Ebd., S. 20 f. 203 Ebd., S. 24. 204 Ebd., S. 34. 205 Wallace, For Richer for Poorer, S. 135. 206 Ebd., S. 126, 134.

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verließ. Ursächlich dürften seine Nachtschichten in der Reinigungskolonne eines Stahlwerks gewesen sein, wegen denen er regelmäßig dem Schulunterricht fernblieb. Seine Vorstellung, nach der Schule einfacher Fabrikarbeit mit geregeltem Einkommen nachzukommen, konnte er nicht verwirklichen. Stattdessen war er seit sechs Monaten arbeitslos und hatte die drei Jahre seit dem Schulabschluss in Aushilfsjobs im Verkauf sowie in einer unter Tarif bezahlten Arbeitsförderungsmaßnahme in der Pharma-Industrie verbracht. Larmoyant berichtet Mike von Arbeitsaufgaben, die ihn langweilten (Etikettierung) und Mobbereien seiner Arbeitskollegen, mit denen er insgesamt aber gut ausgekommen sein will. Für eine Ausbildung war er inzwischen zu alt und beruflichen Qualifikationsehrgeiz wies er weit von sich, angebend, anspruchslos mit einem »normalen Leben« zufrieden zu sein: »Just have a normal, happy life. Just have a normal life, just be content with what I’ve got.«207 Neigte Mike, der seine Habseligkeiten verkauft hatte, um ausgehen zu können, zeitweise zur unverhältnismäßigen Geldverschwendung, ein Lebensstil, in dem Claire Wallace »dramatized accounts of self-destruction and ›excess‹ hedonism« erkennt, bewies er in der Planung seiner unmittelbaren Zukunft durchaus bescheidenen Geschäftssinn.208 Von seinem verstorbenen Großvater, bei dem er ein Jahr lebte, erbte Mike etwas Geld, das er, als »clever investor«, wie die Interviewerin bemerkt, großenteils in der Baubranche angelegt hatte, und das ihm erlaubte, sich von der Arbeitslosenunterstützung abzumelden.209 Gemäß seinen bescheidenen, »normalen« Lebensansprüchen würde es ihm aber ebenso genügen, seinen Unterhalt in Mischkalkulation von Teilzeitjob und öffentlicher Unterstützung zu finanzieren: »If I had  a sort of part time job doing it early in the morning or something, it would be ideal, ’cos I’m still drawing me money – then I’d have money every week from that – then money from the dole, so I’d be all right, just like that.«210 Obgleich Mike das ›living on the dole‹ nur theoretisch durchspielte, spricht diese Überlegung doch dafür, dass er im Grunde keine beruflichen Ambitionen mehr hatte. Die Varianten, die er zu seiner Unterhaltssicherung erwog – einmalige Zuwendungen, unregelmäßige Arbeit, öffentliche Fürsorge – waren im Grunde klassische Armutsstrategien, die bereits in früheren Jahrhunderten unterbürgerlichen Schichten halfen, ihr Auskommen zu finden. Im Sample der Untersuchung von Claire Wallace ist Mike nur ein Beispiel für derartige Erwerbsambitionen, die sich in der Grauzone zwischen Subunternehmer, prekärem Scheinselbstständigen oder leidlich erfolgreichem Kleinunternehmen bewegten. Ökonomische Unsicherheiten der Gelegenheitsarbeit ausblendend, überwogen Selbstbilder von individueller Unabhängigkeit des »self-made«-Mannes, der sich tatkräftig körperlich 207 UK Data Archive, Essex, Claire D. Wallace, 17–19 and Unemployed on the Isle of Sheppey, Interview Nr. 005, S. 29. 208 Wallace: For Richer for Poorer, S. 92. 209 UK Data Archive, Essex, Claire D. Wallace, 17–19 and Unemployed on the Isle of Sheppey, Interview Nr. 005, S. 9. 210 Ebd., S. 20.

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und gerne »out-doors« herausfordernder Arbeit stellt. Selbstständigkeit und Subunternehmertum wurden optimistisch als Möglichkeiten gesehen, selbstbestimmt und jenseits betrieblicher Hierarchien und Restriktionen zu arbeiten. So hatte Gary, ein anderer Jugendlicher, bereits während der Schulzeit bei seinem Vater, einem selbstständigen Bauhandwerker, ausgeholfen. Nach Arbeitslosigkeit, Teilnahme an einer Fördermaßnahme und diversen Aushilfsjobs, arbeitete er, wie sein Vater und wie er es immer anstrebte, in einem Bauunternehmen. Selbstständige Arbeit malte er sich abwechslungsreich und profitabel aus: I would like to be self-employed, working with this bloke, the chippy. You get jobs through other builders. You’re hired out when you’re self-employed. You do price work, or you get a basic day᾽s pay. There’s no messing about, putting it into books and that, and you earn a lot more. You get more work, and more free time, and you’re not sacked for taking a day off, (…) I would rather do something for two weeks and then do something else at another place. That way, there’s more variety.211

Fünf Jahre später war sein Vater arbeitslos, und Gary hatte die favorisierte Branche gewechselt. Statt im Baugewerbe, wollte er jetzt im Dienstleistungssektor tätig werden. Er zog einen Job als Fußpfleger in Erwägung und hatte sich für Fabrikarbeit, die er einst ablehnte, beworben.212 So wie sich Gary in seinem ungebrochenen Optimismus mit beruflicher Umund Dequalifizierung abfand, war auch bei anderen, die immer auf der Suche nach freier, unabhängiger Arbeit waren, die Begeisterung für Selbstständigkeit und »Out-door«-Arbeit ungebrochen. In ihrer zuversichtlichen Zukunftsperspektive fügen sich die Jugendlichen von Sheppey in die Befunde von Kenneth Roberts ein, der in seinem, Mitte der 1980er-Jahren erhobenem, nationalen Sample von Erwerbswegen 16- bis 19-jähriger, einen normativen Optimismus (»norm of optimism«) unter den Befragten und speziell unter den gering Qualifizierten feststellt, die sich mangelndes Selbstbewusstsein (»lack of confidence in themselves«) nicht nachsagen lassen wollten.213 Schenkt man Selina Todds Andeutungen über einen spezifischen Individualismus der »Thatcher-Kinder« Glauben, derjenigen, die in den 1980er-Jahren aufwuchsen und vor allem materiell und »für sich« etwas ihrem Leben machen wollten, so lassen sich bei den hier untersuchten jungen Männern noch andere, wenn man so will traditionellere Subjektivierungsmuster entdecken.214 Die Jugendlichen antizipierten womöglich eine gewisse Adressierung von Optimismus und Aufstieg, verharrten jedoch in traditionellen »Ökonomien des Notbehelfs«, d. h. Mischkalkulationen von Aushilfstätigkeiten, Tagelohnarbeit, Subunternehmertum oder prekärer Selbstständigkeit, wie sie sich in Armenpopulationen des

211 212 213 214

Wallace, For Richer for Poorer, S. 114. Ebd., S. 127. Roberts, Career Trajectories, S. 239, ähnlich: S. 245. Todd, The People. The Rise and Fall of the British Working Class, S. 237.

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18. Jahrhunderts und des Viktorianismus nachweisen lassen.215 Sie beklagten sich nicht, sondern präferierten Selbstständigkeit gegenüber Autonomieverlusten schlecht bezahlter, unselbstständiger Arbeit. Ihre Arbeitserfahrungen ähnelten damit unter Umständen nicht denen ihrer Vätergeneration, aber ihrer Großvätergeneration und deren Erfahrungen während der Weltwirtschaftskrise.216 Eine in den späten 1980er-Jahren durchgeführte vergleichende Untersuchung zur Wahrnehmung von Arbeitsmarktchancen Jugendlicher in Westdeutschland und England fasste ihre Ergebnisse zum englischen Fall konzise den optimis­ tischen Zweckrationalismus, jede denkbare Jobchance zu nutzen, zusammen: »In Britain, the possibility of ›a good job‹ (…) was always just around the corner.«217 1.3.2 Ausweglose Abhängigkeiten: gering qualifizierte Frauen Gemessen an den Durchschnittswerten britischer Bildungsstatistiken nahmen die Normalisierungspflichten schulischer Bildung für Frauen in Großbritannien in der Nachkriegszeit in stärkerem Maße zu als bei den gleichaltrigen Männern. Vergleichsdaten des »British Election Survey« zufolge, verließen von den 1930–39 geborenen Frauen knapp 60 Prozent die Schule ohne weitere Qualifikation, von den Frauen der Jahrgänge 1960–69 waren es hingegen nur knapp 15 Prozent.218 Äquivalent hierzu stieg der Anteil der Frauen, die den höchsten schulischen Abschluss (A level) erwarb, signifikant von drei Prozent in der 1930er-Kohorte auf 17 Prozent derer, die in den 1960er-Jahren geboren worden waren, an. Das Heiratsalter der Frauen lag in den 1960er bis in die 1980er-Jahre bei durchschnittlich knapp 22 Jahren.219 Erst in den 1980er-Jahren erhöhte es sich auf 25 Jahre. Der Trend für Frauen der Nachkriegsjahre, im Teenageralter (16 bis 19 Jahre alt) zu heiraten, erreichte seinen Höhepunkt im Grunde erst in den frühen 1970er-Jahren.220 Claire Wallace bestätigt in ihrer Untersuchung den lan215 Zur »Ökonomie des Notbehelfs« (economy of makeshifts) im England des 18./19. Jahrhunderts: Steven King / A lannah Tomkins (Hrsg.), The Poor in England 1700–1850. An Economy of Makeshifts, Manchester 2003; vgl. hierzu auch: Inga Brandes / Katrin MarxJaskulski, Armut und ländliche Gesellschaften im europäischen Vergleich – eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Armenfürsorge und Wohltätigkeit. Ländliche Gesellschaften in Europa, 1850–1930, Frankfurt / Main 2008, S. 9–45, hier: S. 18. 216 Für die Ähnlichkeit der Probleme jugendlicher Arbeitsloser in den 1930er-Jahren und den 1970er/1980er-Jahren: Coffield / Borrill / Marshall, Growing up at the Margins, S. 55. 217 Synopsis, in: Bynner / Roberts (Hrsg.), Youth and Work, S. XIV–XXIV, hier: S. XXI. 218 George Smith, Schools, in: Albert H. Halsey / Josephine Webb (Hrsg.), Twentieth-Century British Social Trends, Houndmills, London 2000, S. 179–220, hier: S. 208 f.; ähnlich: Richard Pearson / Rosemary Hutt / David Parsons, Education, Training and Employment, Brighton 1984, S. 8–22. 219 Population Trends 114 (2003), S. 59. 220 David Coleman, Population and Family, in: Albert H. Halsey / Josephine Webb (Hrsg.), Twentieth-Century British Social Trends, Houndmills, London 2000, S. 27–93, hier: S. 56 f.

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desweiten Trend, dass gerade Frauen der »Working Class« in den 1970er-Jahren bereits im Teenageralter heirateten.221 In ihrem Sample der 1984 untersuchten Jugendlichen von der Insel Sheppey waren von 37 befragten 21-jährigen Frauen vierzehn verheiratet. Knapp die Hälfte von ihnen hatte nach der Heirat die Erwerbsarbeit zugunsten der häuslichen Karriere aufgegeben und, so Wallace, »embraced (…) this domestic status wholeheartedly.«222 Die Daten weisen aber auch auf eine größere Bandbreite von Haushaltsstrukturen und Lebensweisen hin. 17 der befragten Frauen waren nach wie vor nicht verheiratet, davon lebten acht nicht mehr bei ihren Eltern und fünf lebten unverheiratet mit einem Partner zusammen. Bei knapp die Hälfte der von Wallace befragten verheirateten Paare gaben beide Partner an, regulär erwerbstätig zu sein. Eindeutige normative Adressierungen von Subjektivierung im Sinn einer Zunahme bildungsbezogener Normalisierungspflichten oder einer Permanenz traditionaler familialer Rollenmuster lassen sich aus dieser Datenlage nicht herauslesen, gleichwohl wäre zu vermuten, dass Adressierungen schulischen Erfolgs bei gering qualifizierten Frauen vergleichsweise wenig Resonanz fanden. Es bleibt im Folgenden zu überprüfen, wie arbeitslose junge Frauen mit geringen schulischen Qualifikationen sich im Einzelfall zwischen dem »economic and social pressure to get a boyfriend«, den Christine Griffin für Schulabsolventinnen der »Working Class« Mitte der 1980er-Jahre in Birmingham feststellte und den Anforderungen des Arbeitsmarktes bewegten.223 Penny Windsor hält für die von ihr interviewten jungen Frauen in Swansea fest, dass sie sehr wohl Wert darauf legten, zwischen Schulabschluss und Heirat beruflich qualifizierter Erwerbsarbeit nachzugehen.224 Generell ist festzuhalten, dass der Arbeitsmarkt, der den gering qualifizierten Frauen offenstand, geschlechtsspezifisch und sozial segregiert war.225 Waren Frauen in den 1970er- und 1980er-Jahren vorwiegend im Büro, Verkauf und Fabrik, so waren, Christine Griffin zufolge, die »white collar«-Jobs im Büro und Verkauf den Mittelschichtsfrauen vorbehalten, während Frauen der »Working Class« in der Fabrik arbeiteten. Griffin führt als Begründung für die klassen­ spezifische Arbeitsteilung an, dass Frauen in ihrem Auftreten und Aussehen sozial klassifiziert worden seien. Die Anforderung an Frauen, in Büro und Verkauf »nice« aufzutreten, erfüllten eher Frauen der weißen Mittelklasse.226 221 Wallace, For Richer for Poorer, S. 83, 155–158. 222 Ebd., S. 83. 223 Christine Griffin, Young Women and Work. Transitions from School to the Labour Market for Young Working Class Women. Stencilled Occasional Paper, CCCS Birmingham 1984, S. 37; Griffin, Typical Girls, S. 49 f. 224 Penny Windsor, Out of Sight. A Study of Young Womens’ Lives on a Swansea Estate, Swansea 1984, S. 46. 225 Hierzu: Susan Yeandle, Women’s Working Lives. Patterns and Strategies, London / New York 1984; Griffin, Young Women and Work; dies., Typical Girls, S. 113‒154; Windsor, Out of Sight, S. 116. 226 Ebd., S. 100.

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Wie die Männer ihrer Alterskohorte hatten auch die jungen Frauen der »Working Class« bereits in ihrer Schulzeit Nebenjobs, allerdings nur in der durchgehend schlechter bezahlten Dienstleistungsbranche als Verkäuferin, Friseurin oder Babysitter.227 Hinzu kamen ihre höheren Verpflichtungen im elterlichen Haushalt mitzuhelfen oder auf jüngere Geschwister aufzupassen. In dieser, auf Familiengründung vorbereitenden sozialen Lage der Frauen, überrascht es nicht, dass ihre Arbeitslosigkeit ein verstecktes, oftmals verharmlostes Phänomen blieb. Bis in aktuelle historische Forschung hinein findet man das Urteil, dass Frauen generell ein geringeres Risiko finanzieller Verarmung bei Arbeitslosigkeit tragen und bedingt durch ihre familialen Alternativrollen Arbeitsplatzverlust besser verkraften würden.228 Inwiefern Arbeitslosigkeit ein Faktor war, der insbesondere gering qualifizierte Frauen dazu motivierte, früher als geplant zu heiraten, um finanzielle Sicherheit zu erlangen und / oder besagte Alternativrolle als Ehefrau und Mutter einzunehmen, lässt sich anhand der Datenlage nicht eindeutig beantworten. Christine Griffin beharrt aus feministischer Perspektive darauf, diese Annahme zu verneinen. Dass sie heiraten, sei für die Frauen ein »inevitable fact of social life rather than a means of avoiding the worst miseries of unemployment« gewesen.229 Sie belegt dies, nicht ganz stringent, damit, dass arbeitslose Frauen nach ihrer Hochzeit unter Umständen – und angesichts der allgemeinen Arbeitslosenquote nicht ganz unwahrscheinlich – mit der Arbeitslosigkeit ihres Ehemannes umzugehen hatten. Trotz einer aufgrund der Bildungsstatistik anzunehmenden, im Vergleich mit ihren männlichen Altersgenossen höheren Erfolgsquote beim Schulabschluss gewöhnten sich auch die jungen Frauen bereits während der Schulzeit mit entsprechenden Ausweichstrategien an spätere Berufs- und Lebenswege, die für ihre soziale Stellung und ihr Geschlecht gesellschaftlich vorgesehen waren. Angela McRobbie legt in ihren Arbeiten aus den 1980er-Jahren Wert darauf, dass auch Mädchen der »Working Class« in der Übergangsphase von Schule zum Beruf Subjektivierungsmuster an den Tag legten, die den Paul Willis beschriebenen Widerstandshaltungen des »learning to labour« der Jungen nahegekommen seien.230 Dabei hätten die jungen Frauen, wie Christine Griffin in ihren Studien in Birmingham feststellt, zwar eine ähnliche Varianz von Resistenz zwischen passiver Konformität und offensiver Provokation an den Tag gelegt, aber sich insgesamt unauffälliger und in kleineren, wechselnden Gruppen, Freiräume innerhalb und außerhalb des Unterrichts geschaffen. An den Inhalten von 227 Ebd., S. 84, 86. 228 Ray Pahl, Does Jobless means Workless? A Comparative Approach to the Survival Strategies of Unemployed People, in: Cornelis H. A. Verhaar / Lammert G. Jansma (Hrsg.), On the Mysteries of Unemployment. Causes, Consequences, and Politics, Dordrecht 1992, S. 209–224, hier: S. 219; Burnett, Idle Hands, S. 274; Arthur McIvor, Working Lives. Work in Britain since 1945, Basingstoke 2013, S. 261; Windsor, Out of Sight, S. 46. 229 Griffin, Typical Girls, S. 180. 230 Angela McRobbie, Feminism and Youth Culture. From Jackie to Just Seventeen, Houndmills, London 1991, S. 17 f.

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Schulfächern, die sie als Wissen »for it’s own sake« einstuften, das für sie keine weitere Relevanz haben würde, nicht interessiert, hätten sie sich in ungestörten Räumlichkeiten der Schule (Treppenhaus, Toilette) zurückgezogen und vor allem über »boys – pop stars – getting married« geplaudert, so Fiona aus der Nähe von Birmingham.231 Ebenso unterlagen sie alltäglichen, aber weitreichenden Klassifizierungen durch ihre Lehrer, die sie sozial abwertend verorteten: »I can see, what sort home you’re from, you’ll never get anywhere,« musste sich Sheila aus Birmingham in ihrem neunten Schuljahr anhören.232 Auch in der SEDA-Studie und ihren Erhebungen zu schulischer Absenz wurde festgestellt, dass Mädchen nicht grundsätzlich zuverlässiger am Schulunterricht teilnahmen. Sie gaben zwar signifikant häufiger als Jungen an, noch nie die Schule geschwänzt zu haben (32 Prozent, bei den Jungen waren es 23 Prozent).233 Aber immer noch rund ein Viertel der Mädchen ordnete sich selbst bei denen ein, die regelmäßig einige Tage oder auch Wochen ohne weiteren Grund der Schule fernblieben. Freimütig schilderten sie den Grund dafür: »To tell you the truth I hated my school,« so eine junge Frau, die zeitweise wochenlang in der Schule fehlte und nun als Verkaufshilfe arbeitete, »because I thought it was a complete waste of time as I did not learn much as that was my own fault of truanting. But now I regreat it and asamed of my self,« kommt auch hier die Selbstattribution des eigenen Versäumnisses zum Tragen.234 Die eigentliche Hürde der erfolgreichen Arbeitsplatzsuche für die jungen Frauen war wie für die gleichaltrigen Männer aber weniger der Qualifikationserwerb, sondern die Einladung zum Job-Interview. Carol aus Bristol, die über ein Jahr nach ihrem Schulabschluss immer noch arbeitslos war, obwohl sie, laut eigener Aussage, jede Woche im örtlichen Jobcenter nachgefragt und in der Zeitung gesucht hätte, schildert die typischen Probleme, die sie vor einem Jobinterview hatte: »When you go for an interview you feel jumpy, sort of ­scared.«235 Sie sorgte sich um ihr Äußeres, ihre Kleidung, über Fragen, die ihr gestellt würden und welche Antworten sie geben sollte. Alles in allem prüft sie sich, ob sie »suitable for the job« sein würde. Bisher hatten ihre Überlegungen zur Selbstpräsentation keinen Erfolg. In der Regel blieb es bei der Ankündigung des Arbeitgebers, sich wieder zu melden. In ihrem beruflichen Werdegang fiel es diesen jungen Frauen generell schwer, auf irgendeine Wiese finanzielle Autonomie zu erlangen, wie drei Fallbeispiele zeigen mögen. Stephanie wurde in den frühen 1980er-Jahren von Sozialwissenschaftlern der Universität Durham interviewt.236 Sie war zum Zeitpunkt des ersten Interviews 17 Jahre alt und lebte in einem kleineren Vorort eines ehe231 232 233 234 235 236

Ebd., S. 46; Griffin, Typical Girls, S. 17. Griffin, Young Women and Work, S. 5; dies., Typical Girls, S. 13. Gow / McPherson (Hrsg.), Tell them from Me, S. 115. Ebd., S. 45. Bristol Broadsides Co-op. (Hrsg.), Fred’s People, S. 9. Coffield / Borrill / Marshall, Growing up at the Margins, S. 15–21, 65.

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maligen Kohlereviers im Nordosten Englands. Ihr Vater hatte in einem Stahlwerk gearbeitet und war aufgrund einer Herzschwäche im Vorruhestand. Sie wohnte, wie zwei Geschwister und ihre Großmutter, bei ihren Eltern. Stephanie war 1982 seit 17 Monaten arbeitslos. Von den Wissenschaftlern als bescheiden und zurückhaltend beschrieben, gehörte Stephanie in der Schule immer zu den schlechtesten Schülerinnen. Sich selbst als »not very brainy, in fact I’m thick« bezeichnend, beendete sie ihre Schullaufbahn nach der Pflichtschulzeit.237 Ihre Selbstattribution geringer intellektueller Leistungsfähigkeit blieb in der Folgezeit konstant. Nach sechs Wochen Arbeitslosigkeit, arbeitete sie im Rahmen einer Trainingsmaßnahme der MSC in einer örtlichen Fabrik, musste dort aber wegen einer Allergie und daraus folgenden Abwesenheitszeiten nach drei Wochen aufhören. Parallel und anschließend besuchte sie Abendkurse an einer Berufsfachschule, bestand aber die Abschlussprüfungen im Englischen und Maschineschreiben nicht. »I don’t seem to be good at studying,« resümiert sie den Fehlschlag.238 Fehlte es Stephanie bei anderen Stellenangeboten zumeist an der erforderlichen Berufserfahrung, so pflasterten weitere Misserfolge, wie ein nicht bestandener Einstellungstest oder eine kurzfristige Kündigung eines Fabrikjobs nach nur einer Woche, ihren Berufsweg. Das Jahr 1984 brachte schließlich eine Wendung in Stephanies Lebensweg. Sie ergatterte einen von der MSC geförderten, auf zwölf Monate befristeten Kantinenjob, wo sie Rob kennenlernte, den sie im Sommer des gleichen Jahres, im Alter von 19 Jahren, heiratete. Sie gab den Job vorzeitig auf und zog mit Rob zusammen in ein Eigenheim in die nächste Kleinstadt. Die Interviewer treffen beide das letzte Mal 1984 in ihrem neuen Haus an. Stephanie und Rob, beide arbeitslos, schauen Fernsehen, »because there’s nothing much else to do.«239 Nach ihrer beruflichen Zukunft befragt, wusste keiner der beiden Auskunft zu geben. Denise, 18 Jahre und für die Sheppey-Studie interviewt, ist in ihrem Lebensentwurf in vielem das Gegenmodell von Stephanie. Gefragt, ob sie heiraten möchte, antwortete sie: »I’d never just marry someone for love, or whatever you like to call it,« und war damit weit entfernt von den jungen Frauen, die Wallace in ihrer Publikation anführt und die es »wholeheartedly« begrüßten, etwas an ihrem ledigen Familienstatus zu ändern.240 Gegenüber privaten wie bildungsbezogenen und beruflichen Normalisierungspflichten zeigte Denise sich obstinat. Zwei Jahre vor dem Interview verließ sie die Schule. Obgleich keine schlechte Schülerin, war sie das letzte Schuljahr »only (…) a few months in the whole year« anwesend, d. h. Denise schwänzte ausgiebig oder trieb sich mit ihren Freundinnen im Schulgebäude herum.241 Erwerbstätig war sie seitdem für vier Monate in 237 Ebd., S. 17. 238 Ebd. 239 Ebd., S. 21. 240 Zitat Interview: UK Data Archive, Essex, Claire D. Wallace, 17–19 and Unemployed on the Isle of Sheppey, Interview Nr. 002, S. 42; Wallace, For Richer for Poorer, S. 83. 241 Ebd., S. 3.

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einer öffentlichen Bibliothek und in einem Altenheim als Teil des Youth Opportunity Programms. Schulische und berufliche Misserfolge erklärte sie einerseits selbstattributiv, andererseits abwehrend mit eigener Faulheit: »I just got sort of lazy.«242 Im Juni 1979 zog Denise aus ihrem Elternhaus aus, wohnte seitdem improvisiert mit einer Freundin zusammen, lebte aber nach wie vor von der finanziellen Unterstützung ihrer Mutter oder von Freunden. Denise war zeitweise in der Punk-Szene aktiv, bis es ihr langweilig wurde, da »everyone sort of jumped on and it got sort of fashion conscious.«243 Derartige Erklärungen eigener Vorlieben gab Denise eher widerwillig preis, sie lässt aber punktuell Zurückweisungen geschlechtsspezifischer Normierungen erkennen. Nach einem »regular boy friend« gefragt, beginnt sie einen kurzen Schlagabtausch mit der Interviewerin, warum sie nicht gefragt würde, ob sie einen »regular boy friend or girl friend« habe.244 Sie hätte zwar auch keine Freundin, aber sie besteht darauf: »but I was just wondering why you hadn’t asked me.« Jenseits solcher punktuellen Widersprüche, hinterlässt das Interview mit Denise den Eindruck, dass sie in Passivität versinkt. Ihren Tagesablauf beschreibt sie mit »buy food, stay in and be bored or go down the pub, get pissed and starve.«245 Obgleich sie Fabrikarbeit kategorisch ablehnt, kommen andere Erwerbstätigkeiten gering qualifizierter Arbeit für sie nicht infrage: »repetitive it’s just that it’s so boring sewing jeans up all day or stacking shelves or stuff like that – no excitement.«246 In aller Eigensinnigkeit ihrer Ablehnung von Normalisierungspflichten, bleibt Denise keine Perspektive. Auch zukünftig ist für sie etwas anderes als »doing nothing« nicht vorstellbar. Die soziale Lage von Karen, gleichfalls im Rahmen der Sheppey-Untersuchungen 1980 interviewt, war ähnlich disparat. Ebenso wie Denise hat Karen mit 16 die Schule verlassen, nach einer Zeit ausgiebiger Absenz vom Unterricht. Aufgewachsen mit zwei Schwestern und vier Brüdern, von denen zwei im Kinderheim untergebracht waren, zog Karen bereits mit 16 aus ihrem Elternhaus aus. Grund dafür war, ihren Angaben zufolge, dass sie »a bit lazy« bezüglich ihrer Mithilfe im Haushalt war.247 In den seit ihrem Schulabschluss vergangenen zwei Jahren waren Karens Arbeits- und Wohnsituationen vor allem vorläufig. Auf zwei Wochen Arbeit im Verkauf, die sie aufgrund von Konflikten mit dem Vorgesetzten beendete, folgte ein Arbeitstag in der Bäckerei, deren Gestank ihr unerträglich war und drei Tage in der Elektroproduktion, die ihr Atemprobleme verursachten. Schließlich arbeitete sie sieben Monate in einer Kartonfabrik in Tilbury und kehrte anschließend nach Sheppey zurück, wo sie zum Zeitpunkt des Interviews zusammen mit drei anderen Jugendlichen wohnte. Karens Lebenslauf weist in der Interviewerzählung immer wieder Lücken und Inkonsistenzen auf. Unklar 242 Ebd., S. 6, auch: S. 16. 243 Ebd., S. 18 f. 244 Hierfür und folgend: ebd., S. 28. 245 Ebd., S. 22. 246 Ebd., S. 37. 247 UK Data Archive, Essex, Claire D. Wallace, 17–19 and Unemployed on the Isle of Sheppey, Interview Nr. 003, S. 9.

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bleibt, inwiefern und wie lang sie zwischen ihren Arbeitsstationen oder zum Zeitpunkt des Interviews arbeitslos war bzw. arbeitslos gemeldet war. Erwähnt sie an einer Stelle, sich nicht mehr arbeitslos zu melden, um bürokratischer Gängelei aus dem Weg zu gehen, ist sie an anderer Stelle dazu bereit, finanzielle Engpässe durch kurzfristigen Bezug öffentlicher Unterstützung auszugleichen. Die angedeutete Mischkalkulation ihres alltäglichen Lebensunterhalts ergänzt sie durch Gelegenheitsjobs (Putzen), Privatkredite im Freundes- und Familienkreis (den diese wiederum teilweise durch Sozialhilfe finanzieren) sowie dem, was Karen »going to the ships« nennt, wobei es sich um Gelegenheitsprostitution auf den Schiffen im Hafen von Sheerness handelt.248 Ihre Freier lernt sie in den örtlichen Pubs kennen und angeblich hinge alles weitere davon ab, »if you like them«.249 Karens weitere Lebensplanung bestand darin, sich den Gegebenheiten anzupassen und nicht vorhandene Autonomie zu erträumen. »It all depends what mood I’m in,« versucht sie sich ihre prekäre Lage schönzureden und mit »all« meint sie vor allem ihren Familienstand, denn »all depends if the right bloke comes along.«250 Die soziale Lage der drei Frauen dieser Fallbeispiele hat eines gemeinsam: finanzielle Unabhängigkeit, auch in Form einer Abhängigkeit von öffentlichen Beihilfen, bestand nicht. Stattdessen waren sie ökonomisch entweder von ihrem Ehemann (Stephanie), ihrer Herkunftsfamilie (Denise)  oder einem instabilen Netzwerk im Freundes- und Bekanntenkreis (Karen) abhängig. Von den Vorstellungen ökonomischer Selbstständigkeit, erst recht im Sinn einer unternehme­ rischen Selbstständigkeit, die Männer ihrer Alterskohorte äußerten, so illusionär diese auch gewesen sein mag, waren die Frauen weit entfernt. Von den Schulabgängerinnen von 1978, die Claire Wallace 1984 zum dritten Mal interviewen konnte, war keine in den vorangegangenen fünf Jahren selbstständig oder informell tätig gewesen, hingegen hatten 16 Prozent der befragten Männer derartige Arbeitserfahrungen gesammelt.251 Von ihnen hatten alle Befragten irgendwann Vollzeit gearbeitet, während bei den Frauen acht Prozent niemals in Vollzeit erwerbstätig gewesen waren. Sie hatten direkt nach dem Schulabschluss geheiratet und Kinder bekommen. Ihre abhängigen Lebenssituationen geben einen Einblick darin, welche prekären Situationen und informellen Abhängigkeiten sich hinter einer quantitativ festgestellten Diversifizierung familialer Strukturen und Lebensformen verbergen konnten. Berufliche Qualifikation spielte in Adressierungen an die Frauen wie in ihren eigenen Lebensentwürfen so gut wie keine Rolle. Ihre Selbstattribution, faul (­Denise, Karen) oder »not very brainy« (Stephanie) zu sein, war insoweit keine, mit dem sie beruflichen Misserfolg erklärten, aber nichtsdestoweniger kreierten sie damit eine defizitäre Selbstzuschreibung. Inwiefern diese Selbst248 Ebd., S. 10, auch: S. 21. 249 Ebd., S. 10. 250 Ebd., S. 15, 28. 251 Wallace, For Richer for Poorer, S. 133 f.

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zuschreibungen Resultate bildungsbezogener Normalisierungspflichten waren, lässt sich aufgrund der vorhandenen Daten nicht sagen. Auch schulisch erfolgreicheren und beruflich aktiveren Frauen setzte die Arbeitslosigkeit und anhaltende Arbeitssuche zu. So Poppy, die im Alter von 16 Jahren die Schule mit guten Noten verlassen hatte. Sie bemühte sich in den folgenden Jahren immer wieder um langfristige, angemessen bezahlte und für sie erträgliche Erwerbsarbeit, doch, obwohl sie jeden Tag im Jobcenter vorsprach, bestand ihre Erwerbskarriere vier Jahre nach dem Schulabschluss aus einer Abfolge von »shit jobs, govvy schemes, and the dole.«252 Poppys Selbstwert war trotz positiver Rückmeldungen verschiedener Arbeitgeber, die sie wegen wirtschaftlicher Probleme und nicht wegen ihrer Arbeitsleistung entlassen hatten, nach wenigen Tagen erneuter Arbeitslosigkeit am Boden: »I’m a useless bloody number.«253 In der Untersuchung von Claire Wallace hatten lediglich vier Frauen von 37, die 1979 nach der Pflichtschulzeit die Schule verlassen hatten, fünf Jahre später keine Abstriche in ihren Erwartungen an das Arbeitsleben hingenommen.254 Kurzfristigen Jobs und Trainingsmaßnahmen entronnen, waren diese vier Frauen in Büro- und Verkaufsberufen untergekommen, die ihnen längerfristige Planungsperspektiven (z. B. finanziell abgesicherten Hauskauf) erlaubten. 1.3.3 Überformte Diskriminierung schwarzer Jugendlicher Bei jugendlichen Schwarzen zeigt sich in besonderer Weise, welche Risiken und Kontingenzen der Eintritt in den Arbeitsmarkt für Jugendliche in Großbritannien barg. Die Gruppe der Jugendlichen, die als »Nicht-Weiß« eingestuft wurden, war eindeutig überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen. In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre waren unter den 16- bis 24-jährigen Angehörige ethnischer Minderheiten nahezu doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen wie gleichaltrige weiße Jugendliche.255 Innerhalb dieser Gruppe waren Jugendliche pakistanischer Herkunft mit einem Anteil von 48 Prozent am häufigsten arbeitslos, gefolgt von Jugendlichen karibischer (34  Prozent) und indischer Herkunft (24  Prozent).256 Auch unter Berücksichtigung des höheren demographischen 252 Coffield / Borrill / Marshall, Growing up at the Margins, S. 87 [»govvy schemes« meint »government schemes«]. 253 Ebd., S. 86. 254 Wallace, For Richer for Poorer, S. 134–136. 255 Vgl. Elizabeth Clough / David Drew, Futures in Black and White, Sheffield 1985, S. 31–33; Ethnic Origin and Economic Status, in: Employment Gazette 95 (1987), S. 18–29; Angaben folgen jeweils den Erhebungen des Labour Force Survey. 256 Ebd., S. 27; aufgrund der Grenzveränderungen auf dem indischen Subkontinent sind die Kategorien »pakistanisch« bzw. »indisch« vermutlich nicht klar zu unterscheiden, dies wird aber in den Erhebungen ebenso wenig problematisiert, wie Migrationsbewegungen zwischen dem indischen Subkontinent und Afrika.

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Anteils Jugendlicher unter den ethnischen Minderheiten, ist dieser Befund unzweifelhaft auf rassistische Diskriminierung schwarzer Jugendlicher auf dem Arbeitsmarkt zurückzuführen. Zwar waren schwarze Jugendliche durchschnittlich häufiger in unqualifizierter Arbeit beschäftigt und oftmals schlechter schulisch qualifiziert, doch waren dies zumeist nicht die entscheidenden Faktoren für ihren geringeren Erfolg auf dem Arbeitsmarkt.257 Rassistische Vorbehalte von Berufsberatern und potentiellen Arbeitgebern waren hingegen ausschlaggebend für die schlechtere Arbeitsmarktperformance schwarzer Jugendlicher. Statistisch war zudem die schlechtere bzw. fehlende Qualifikation ethnischer Minderheiten nicht unbedingt valide nachzuweisen. Die höhere Quote männlicher Arbeitslose, die einer ethnischen Minderheit angehörten, bewegte sich, so ergab es die Erhebung des Labour Force Survey 1985, jeweils konstant um ca. sieben Prozentpunkte höher im Verhältnis zur Quote weißer, männlicher Arbeitslose, unabhängig von der Qualifikation.258 Bei Frauen sah dies anders aus. Die Quote arbeitsloser Hochqualifizierter war, unabhängig der ethnischen Zuordnung, gleich, während sie bei gering oder unqualifizierten Frauen aus den ethnischen Minderheiten um acht Prozentpunkte höher lag. Daneben hingen die statistisch ermittelten Einschätzungen selbstredend von der Form der Kategorisierung ab. Die Untersuchung Christine Griffins vom Sommer 1984 über die Berufschancen Jugendlicher im Alter von 18 bis 21 Jahre, die fokussiert war auf die unterschiedlichen Arbeitsmarktchancen der im mittelenglischen Leicester vertretenen ethnischen Gruppen, differenzierte zwischen Jugendlichen »weißer«, »asiatischer« und »afrokaribischer« Herkunft und stellte fest, dass die Schulleistungen auf weiterführenden Schulen unter »asiatischen« Jugendlichen um ein vielfaches über denen »weißer« oder »afrokaribischer« Jugendlicher lagen.259 Eine Umfrage unter Schulabgängern der Jahre 1981/82 in Sheffield erbrachte, dass die Berufswege von »Weißen« und »Schwarzen«, worunter in letzterem Fall »Asians« und »Afro-Caribbean« verstanden wurden, erst über ein Jahr nach dem ersten Schulabschluss auseinanderdrifteten.260 War der Anteil derer, die weiter zur Schule gingen oder in Maßnahmen der Arbeitsverwaltung teilnahmen, in beiden Gruppen noch gleich, waren 34 Prozent der »Weißen« anderweitig erwerbstätig und nur 16 Prozent der »Schwarzen«. 42 Prozent der »Schwarzen« waren arbeitslos, allerdings nur 31 Prozent der »Weißen«. Es liegt nahe, die höhere Arbeitslosenquote in diesem Fall nicht einer schlechteren Qualifikation

257 Vgl. TNA ET 14/127, Ethnic Minority Youth Employment. A Paper Presented to Government. Hrsg. v. Commission for Racial Equality, o. O. 1980, S. 13. 258 Ethnic Origin and Economic Status, in: Employment Gazette 95 (1987), S. 18–29, hier: S. 27. 259 Griffin, Black and White Youth in a Declining Job Market, S. 9. 260 Vgl. Elizabeth Clough / David Drew, Futures in Black and White, Sheffield 1985, S. 11.

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der »schwarzen« Jugendlichen zuzuschreiben, sondern ihren Schwierigkeiten, Erwerbsarbeit zu finden. Die Berichte schwarzer Jugendliche über Diskriminierung am Arbeitsmarkt sind zahlreich. »An Asian goes for a job and they say there’s no vacancy; and a white person goes and they say you can start from Monday,« berichtet ein Jugendlicher indischer Herkunft aus Leicestershire 1980/81.261 Andere schilderten die in ihrer Wahrnehmung höhere Leistungserwartung an sie: »You have to be ten times, even  a hundred times better than  a white applicant« oder: »Asians work harder than white people but we face colour prejudice.«262 Rassistische Klassifizierung erfolge, so die verbreitete Erfahrung, nach Name und Hautfarbe. »Some phone applications when I apply, when talking to you they think you are English, and when they ask your name they say, ›I didn’t know you were Asian‹, and they put you off«, so ein 21-jähriger Arbeitsloser.263 Eine 18-jährige vermutet ähnlich: »In some stores in town I think they want English girls.«264 Die Benachteiligung aufgrund ihrer Hautfarbe sind die schwarzen Jugendlichen aus Schulzeiten gewöhnt, wo sie ihrer Wahrnehmung nach in die »factory jobs« gedrängt wurden.265 Schülerinnen und Schülern asiatischer Herkunft wurden im »Careers Service« und in der Schule tendenziell überzogene Erwartungen (»over-aspirers«) nachgesagt, afrokaribischen hingegen ihr mangelnder Ehrgeiz (»under-achievers«).266 Gleichermaßen wurden sie dazu angehalten, ihre beruflichen Aspirationen realistisch einzuschätzen und sich den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes anzupassen. Derartige Etikettierungen waren weitreichende Subjektadressierungen, denen sich die Jugendlichen schwer entziehen konnten. Teilweise wurden sie zur Erklärung des schulischen und beruflichen Misserfolgs schwarzer Jugendlicher herangezogen, die auf die inoffizielle Botschaft ihrer Minderwertigkeit reagierten, indem sie dem offiziellen Lehrplan die Mitarbeit versagten, wie es einer der Befragten aus Leicester formulierte: »But it is very important to be treated with respect. I didn’t like the way we were treated, so I didn’t work hard.«267 Der unerschütterliche Optimismus ihrer weißen, gering qualifizierten Altersgenossen ist bei den schwarzen Jugendlichen nicht festzustellen. Lediglich im Rückzug auf die eigene Community und einer zumeist prekären, selbstständigen Tätigkeit oder Beschäftigung bei einem schwarzen Arbeitgeber, waren die Erfahrungen von strukturellem Rassismus und Minderwertigkeit auf dem 261 Vgl. Avtar K. Brah / Peter Golding, The Transition from School to Work Among Young Asians in Leicester, University of Leicester 1983, S. 3.20; vgl. auch Avtar K. Brah, Unem­ ployment and Racism. Asian Youth on the Dole, in: Sheila Allen / A lan Waton / Kate Prucell /  Stephen Wood (Hrsg.), The Experience of Unemployment, Basingstoke 1986, S. 61–78. 262 Zitiert nach: Brah / Golding, The Transition from School to Work, S. 3.20. 263 Zitiert nach: Griffin, Black and White Youth in a Declining Job Market, S. 52. 264 Zitiert nach: ebd., S. 52. 265 Vgl. Brah / Golding, The Transition from School to Work, S. 4.2. 266 Vgl. Griffin, Typical Girls, S. 30. 267 Vgl. Brah / Golding, The Transition from School to Work, S. 4.2.

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Arbeitsmarkt für die Jugendlichen zu umgehen.268 Gesellschaftlich konnten sie dem nicht entkommen, war doch die Ablehnung »weißer« Standards und die Annäherung an das eigene kulturelle Milieu polizeilich beobachtet und insbesondere junge, arbeitslose schwarze Männer mit erhöhten Vorwürfen von Delinquenz konfrontiert.269

2. Arbeitsbedingte Erschöpfung: Versehrte der Rationalisierung Die Soziologin Stefanie Graefe entwarf das Konzept der »arbeitsbedingten Erschöpfung« zur Beschreibung von Subjektivierung im »neoliberalen Kapitalismus« der 2010er-Jahre.270 In Anlehnung an das »erschöpfte Selbst« von Alain Ehrenberg und dessen Ansatz, die Verbreitung depressiver Erkrankungen an die Subjektanforderungen der kapitalistischen Leistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu koppeln, versteht sie »arbeitsbedingte Erschöpfung« als performativen sozialen Akt von Nicht-mehr-Arbeiten-können in Erwerbs- und / oder sozialen Reproduktionssituationen.271 Dieser soziale Akt sei nicht als intentionale Praktik, aber dennoch als subjektive Problematisierung und Ablehnung von Produktivitätsanforderungen zu begreifen. In und mit »arbeitsbedingter Erschöpfung« gleitet das Subjekt mit einem gewissen ›Eigensinn‹ an den Anrufungen des unternehmerischen Selbst, das Graefe mit Ulrich Bröckling als maßgebliche Subjektform des frühen 21. Jahrhunderts ansieht, vorbei, um die Adressierungen von Produktivität mit der »paradoxen ›Fähigkeit‹, (…) vorerst nicht mehr fähig zu sein« zu beantworten.272 Im Folgenden versuche ich, dieses Konzept auf die Subjektivierung von Arbeitslosen seit den 1970er-Jahren anzuwenden. Von »arbeitsbedingter Erschöpfung« möchte ich bei älteren Arbeitslosen sprechen, die aus konjunkturellen Gründen im Vorfeld eines vorzeitigen Ruhestands entlassen wurden, um betriebsbedingte Kündigungen Jüngerer zu vermeiden, aber auch bei leistungsgeminderten Arbeitnehmern, die, meist über 45 Jahre alt, von körperlichem Verschleiß betroffen und erwerbs- oder berufsunfähig wurden. Teilweise über268 Vgl. Griffin, Black and White Youth in a Declining Job Market, S. 52; zur Selbstständigkeit vgl. Avtar K. Brah, Unemployment and Racism. Asian Youth on the Dole, in: Sheila Allen / A lan Waton / Kate Prucell / Stephen Wood (Hrsg.), The Experience of Unemployment, Basingstoke 1986, S. 61–78, hier: S. 62. 269 Vgl. Burnett, Idle Hands, S. 290 f. 270 Vgl. Stefanie Graefe, »Selber auch total überfordert«. Arbeitsbedingte Erschöpfung als performativer Sprechakt, in: Alex Demirović / Christina Kaindl / A lfred Krovoza (Hrsg.), Das Subjekt – zwischen Krise und Emanzipation, Münster 2010, S. 49–64. 271 Vgl. Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. 272 Graefe, »Selber auch total überfordert«, S. 60.

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schnitten sich beide Gruppen in ihren Merkmalen. Die in den Sozialwissenschaften ausführlich diskutierte Frage, inwiefern Arbeitslosigkeit psychisch belastend ist und krank macht, spielt hier keine Rolle, sondern es geht darum, inwiefern »Arbeit krank macht« und Arbeitslosigkeit bzw. vorgezogenen Ruhestand zur Folge hat. Bemerkenswert ist, dass trotz der Konjunktur von Arbeitsmedizin, Verrechtlichung von Arbeitssicherheit oder Forschungs- und Förderprogrammen zur Humanisierung des Arbeitslebens seit Ende der 1960er-Jahre die zeitgenössische sozialwissenschaftliche Literaturlage zum Zusammenhang von physischer Belastung oder Invalidität und Ausscheiden aus dem Arbeitsleben vergleichsweise überschaubar ist.273

2.1 Frührente und Vorruhestand: Entlastung des Arbeitsmarkts in der Bundesrepublik Das Phänomen der »arbeitsbedingten Erschöpfung« im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit ist in der Bundesrepublik keineswegs als marginal einzustufen. Mehr als die Hälfte aller über 45-jährigen Arbeitslosen machten 1978 beim Arbeitsamt gesundheitliche Einschränkungen geltend.274 Auf alle Arbeitslosen bezogen, gaben im gleichen Jahr 30 Prozent von ihnen an, unter gesundheit­lichen Problemen zu leiden. Nach Geschlechtern getrennt, waren 37 Prozent aller männlichen Arbeitslosen und 23 Prozent aller weiblichen Arbeitslosen in der Bundesrepublik davon betroffen. Der Anteil blieb bis in die 1990er-Jahre annähernd konstant. 1991 betrug er für alle Arbeitslose in den alten Bundesländern knapp 29 Prozent, das waren 32 Prozent der männlichen sowie 25 Prozent der weiblichen Arbeitslosen.275 Nur sieben Prozent von ihnen (neun Prozent bei den Männern und fünf Prozent bei den Frauen) war als schwerbehindert klassifiziert. Die Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten in der Bundesrepublik nahm dennoch in den Jahren 1973 bis 1984 numerisch um das siebzehnfache zu (von 8.000 auf 138.000).276 1979 war die Hälfte aller Arbeiter, die Rente bezogen, Frühinvalide, und es war eine ähnliche Tendenz bei Angestellten festzustellen.277 Der größte 273 Als Ausnahme: Detlef Schwefel / Per-Gunnar Svensson / Herbert Zöllner (Hrsg.), Unemployment, Social Vulnerability, and Health in Europe, Berlin u. a. 1987. 274 Vgl. hierfür und folgend: Christian Brinkmann, Arbeitslosigkeit und berufliche Ausgliederung älterer und leistungsgeminderter Arbeitnehmer, in: Knuth Dohse / U lrich Jürgens / Harald Russig (Hrsg.), Ältere Arbeitnehmer zwischen Unternehmensinteressen und Sozialpolitik, Frankfurt / Main, New York 1982, S. 139–156. 275 Vgl. Strukturanalyse 1993. Bestände sowie Zu- und Abgänge an Arbeitslosen und offenen Stellen. Hrsg. v. d. Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1994, S. 20 f. 276 ANBA 33 (1985), Sondernummer Arbeitsstatistik 1984. Jahreszahlen, S. 58. 277 Harald Russig (unter Mitarbeit von Knuth Dohse und Ulrich Jürgens), Sozialversicherungs- und arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen für die Ausgliederung älterer und / oder leistungsgeminderter Arbeitnehmer aus dem Betrieb, in: Knuth Dohse / U lrich Jürgens / Harald Russig (Hrsg.), Ältere Arbeitnehmer zwischen Unternehmensinteressen und Sozialpolitik, Frankfurt / Main, New York 1982, S. 237–282, hier: S. 256.

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Anteil schwerbehinderter Arbeitsloser findet sich 1984 in der Altersgruppe der 25- bis 30-jährigen (14 Prozent) sowie der 55- bis 60-jährigen (16 Prozent).278 Der Grad der Schwerbehinderung in der jüngeren Altersgruppe lag die Jahre über bei konstant 80 Prozent, was darauf hindeutet, dass sich in dieser Angabe Inklusionspolitiken gegenüber denen spiegeln, die vormals als körperlich und mental behindert eingestuft, als nicht erwerbstätig klassifiziert galten. Der hohe Anteil bei den über 55-jährigen und der geringste Anteil schwerbehinderter Arbeitsloser (vier Prozent) in der Altersgruppe der über 60-jährigen lässt darauf schließen, dass in dieser Altersgruppe gesundheitlich Eingeschränkte vermehrt berentet wurden bzw. ihre Verrentung mit Arbeitslosigkeit überbrückten. Inwiefern diese Tendenzen von Frühverrentung sozial oder ethnisch differierten, ist schwer festzustellen. Analysen des Sozio-ökonomisches Panels lassen vermuten, dass unter angelernten Arbeitern und Migranten die Quote der unfreiwilligen Frühverrentung deutlich höher lag.279 Die Altersgrenze für die Ausgliederung aus dem Arbeitsmarkt sank in den 1970er- und 1980er-Jahren in der Bundesrepublik merklich. Waren 1970 71 Prozent aller über 70-jährigen in der Bundesrepublik erwerbstätig, waren es 1978 nur noch 43  Prozent. Bei den verheirateten, geschiedenen oder verwitweten Frauen jeden Alters waren nur 20 Prozent in Lohnarbeit. Nur rund 30 Prozent der Arbeiter und 21,6 Prozent der Arbeiterinnen sowie 44 Prozent der männlichen und 24,2 Prozent der weiblichen Angestellten erreichten 1979 das 63. Lebensjahr, bevor sie aus dem Erwerbsleben ausschieden.280 Die Erwerbsquote von Männern zwischen 60 und 65 Jahren nahm zwischen 1974 und 1982 um ein Drittel ab (von 61,9  Prozent auf 43,6  Prozent).281 Bei den Männern zwischen 55 und 64 Jahren sank die Erwerbsquote in den Jahren von 1982 bis 1989 noch einmal um fünf Prozentpunkte von 44,3  Prozent auf 40,8  Prozent, wobei die demographischen Zuwächse in diesen Altersgruppen die weitere Senkung der Erwerbsquote von Älteren ausbremste. Ursächlich waren diese Entwicklungen politisch gewollt, um soziale Folgen von Betriebsschließungen und Rationalisierungsmaßnahmen abzufedern. Gesundheitliche Einschränkungen spielten hier aber insoweit eine Rolle, als sie ein möglicher Weg für Arbeitnehmer waren, vorzeitig und finanziell akzeptabel in Rente zu gehen. Mit einer ganzen Reihe gesetzlicher, tarifvertraglicher und betriebspolitischer Regelungen wurden im Laufe der 1970er-Jahre flexiblere und frühere Altersgrenzen geschaffen. Seit 1973 lag die Altersgrenze zum Ruhestand 278 Strukturanalyse 1993. Bestände sowie Zu- und Abgänge an Arbeitslosen und offenen Stellen. Hrsg. v. d. Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1994, S. 21. 279 Vgl. Lutz Raphael, Arbeitsbiografien und Strukturwandel »nach dem Boom«. Lebensläufe und Berufserfahrungen britischer, französischer und westdeutscher Industriearbeiter und -arbeiterinnen von 1970 bis 2000, in: GG 43 (2017), S. 32–67, hier: S. 57. 280 Vgl. Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974–1983, S. 330. 281 Ebd., S. 330; Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 7. 1982–1989, S. 259.

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für Männer potentiell im 63. Lebensjahr.282 Mit dem Vorruhestandsgesetz vom 13. April 1984, dessen Regelungen bis 1988 in Kraft traten, konnten Arbeitnehmer mit finanzieller Unterstützung der Bundesanstalt bereits mit Vollendung des 58. Lebensjahres in den Ruhestand treten.283 Vor allem diese so genannte 59er-Regelung sowie das vorgezogene Altersruhegeld für Frauen und Schwer­ behinderte sorgte für einen vorzeitigen Abgang dieser Gruppen aus dem Arbeitsmarkt. Nachfolgeregelung war das Altersteilzeitgesetz vom 20. Dezember 1988, mit dem Arbeitnehmer bei Erreichen des 58. Lebensjahres ihre wöchentliche Arbeitszeit reduzieren und einen Lohnzuschuss der Bundesanstalt beantragen konnten. 1986 wurden mit der so genannten 58er-Regelung, Arbeitslose, die das 58. Lebensjahr vollendet hatten, von Zumutbarkeitsregeln bei Bezug von Arbeitslosengeld entbunden, allerdings mit der Verpflichtung zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Rente zu gehen.

2.2 Ungleichheit im Alter: Effekte von Privatisierungspolitiken in Großbritannien In Großbritannien waren die Tendenzen in der Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung ähnlich. Die zeitgenössische Forschungsliteratur erfasste gesundheitsbedingte Einschränkungen in der Regel in der Kategorie von »disability« und betrachtete ihr Vorkommen noch stärker als die deutsche Literatur utilitaristisch. Als ursächlich für gesundheitliche Probleme von Arbeitslosen wurden oftmals nicht Arbeits- und Produktionsbedingungen während der Erwerbstätigkeit der Betroffenen betrachtet, sondern die Gegebenheiten des Arbeitsmarkts und die Berechnung der Arbeitslosenquote, die als solche, unabhängig vom Gesundheitszustand der Antragsteller die Anzahl der Anträge auf Verrentung in die Höhe treiben würde.284 Bei steigendem Mortalitätsalter blieb die Anzahl derer, die im General Household Survey gesundheitliche Einschränkungen angaben, in den Jahren 1972 bis 1990 nahezu konstant, wenngleich mit dem Alter zunehmend: von ca. 20 Prozent in der Alterskohorte der 50- bis 54-jährigen auf 35 Prozent bei den 65- bis 69-jährigen.285 Dennoch stieg, laut gleicher Datengrundlage, der Anteil der Männer im Alter von 55 bis 59 Jahre, die nicht mehr erwerbstätig waren 282 Vgl. dies., Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 6. 1974–1983, S. 330; Russig, Sozialversicherungs- und arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen, S. 237–282. 283 Vgl. Schmid / Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. Bd. 7. 1982–1989, S. 257–259. 284 Vgl. Neil Doherty, National Insurance and Absence from Work, in: The Economic Journal 89 (1979), S. 50–65. 285 Vgl. James Banks / R ichard Blundell / Antoine Bozio / Carl Emmerson, Disability, Health and Retirement in the United Kingdom, London 2011, S. 18–23; Susan Yeandle / Rob Macmillan, The Role of Health in Labour Market Detachment, in: Pete Alcock / Christina Beatty / Stephen Fothergill u. a., Work to Welfare. How Men become detached from the Labour Market, Cambridge 2003, S. 187–205, hier: S. 188.

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oder Erwerbsunfähigkeitsunterstützung bezogen, in den Jahren 1980 bis 1994 exponentiell an von einem auf knapp drei Prozent. Bei den Frauen war der Anstieg bei den Bezieherinnen von Erwerbsunfähigkeitsrente im gleichen Zeitraum noch stärker von einem auf fünf Prozent, was mit ihren erhöhten Anspruchsberechtigungen zusammenhing. Andere Untersuchungen kamen zu prozentual dramatischeren Ergebnissen. Von ca. 1.700 nicht erwerbstätigen Männern (25 bis 64 Jahre alt) äußerten 1999 knapp 37  Prozent, langfristig gesundheitlich eingeschränkt bzw. invalide zu sein.286 Zum gleichen Zeitpunkt stellte eine andere Umfrage fest, dass bei einem Viertel der 50- bis 64-jährigen befragten arbeitslosen Männern der Grund für ihren Arbeitsplatzverlust in ihrer eingeschränkten gesundheit­ lichen Belastbarkeit lag.287 Bei 40 Prozent waren gesundheitliche Probleme für den Arbeitsplatzverlust durch Entlassung mit verantwortlich. 60 Prozent aller in der gleichen Untersuchung Befragten über 50 Jahre litten unter irgendeiner gesundheitlichen Einschränkung, aber nur 15 Prozent in dieser Altersgruppe waren aufgrund dessen arbeitsunfähig. Im Hinblick auf diese Zahlen überrascht es nicht, dass die Erwerbstätigkeit bei Älteren seit den 1970er-Jahren in Großbritannien generell abnahm und Mitte der 1990er-Jahre das durchschnittlich niedrigste Rentenalter in der Nachkriegszeit erreicht wurde, das für Frauen bei 60 Jahren und für Männer bei 63 Jahren lag.288 Nach Erhebungen des Labour Force Survey stieg die Quote der Nicht-­ Erwerbstätigen bei Männern im Alter von Alter von 50 bis 65 Jahren im Zeitraum von 1977 bis 2000 um 17 Prozentpunkte, von zehn Prozent auf 27 Prozent.289 Im Zeitraum von 1977 bis 1997 ergab sich auf gleicher Datengrundlage ein Rückgang der Erwerbstätigkeit bei Männern um 21 Prozent, während sie bei Frauen nahezu konstant blieb.290 Da die Arbeitslosigkeit in der gleichen Altersgruppe nur in geringem Maß anwuchs, ist anzunehmen, dass die Betreffenden aus dem Erwerbsleben ausschieden.291 Die Rentenpolitik in Großbritannien tendierte besonders in den 1980erJahren nur im Ausnahmefall dazu, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Politisches Ziel war, das staatliche Budget von der Rentenfinanzierung zu entlasten und Renten verstärkt zu privatisieren.292 Insoweit war das Rentensystem darauf ausgerichtet, älteren Bedürftigen ein Minimum an Einkommen zu sichern, u. U. auch durch Bezug von Sozialhilfe. Die Frage von Versicherungsbeiträgen zur 286 Vgl. Christina Beatty / Stephen Fothergill, The Detached Male Workforce, in: Alcock /  Beatty / Fothergill u. a., Work to Welfare, S. 87. 287 Vgl. ebd., S. 151 f. 288 Vgl. McIvor, Working Lives, S. 269. 289 Vgl. Beatty / Fothergill, The Detached Male Workforce, S. 79–110, hier: S. 81. 290 Vgl. Nigel Campbell, The Decline of Employment Among Older People in Britain, London 1999, S. 2. 291 Vgl. ebd., S. 12. 292 Vgl. James Banks / R ichard Blundell / Antoine Bozio / Carl Emmerson, Disability, Health and Retirement in the United Kingdom, London 2011, S. 5; zur Rentenpolitik und den Privatisierungstendenzen: Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat, S. 206.

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staatlichen Rentenversicherung spielte politisch eine viel geringere Rolle als in der Bundesrepublik. Zudem war die Lobby der privaten Versicherungsindustrie ungleich größer. Der erste Gesetzesakt in Großbritannien, der zur Reduktion von Erwerbstätigkeit Älterer führte, war der Redundancy Payments Act von 1965, der vorgab, vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben mit Abfindungen zu belohnen.293 Die Regelung war ausdrücklich vorgesehen, um Überbeschäftigung in der Industrie abzubauen im Gegensatz zum Job Release Scheme von 1977, das namentlich Arbeitsplätze für Jugendliche frei machen sollte.294 Die Zugangsberechtigungen zur Verrentung im Rahmen des Job Release Programms wurde im Laufe seines kurzen Bestehens bis 1988 einige Male in der Altersgruppe, im Geschlecht oder Vollzeitbeschäftigte eingeschränkt oder geändert, sodass sein Erfolg kaum beurteilt werden kann. Der State Earnings-Related Pension Scheme (SERPS) von 1978 erlaubte allen Beschäftigten eine einkommensabhängige Zusatzrente auf Basis von 20 Jahren des höchsten Einkommens ihres Erwerbslebens.295 Allerdings wurde diese Regelung nach bald erfolgten finanziellen Kürzungen mit dem SSA von 1986 endgültig wieder abgeschafft, womit die kurze Phase sozial- bzw. armutspolitisch motivierter Rentenpolitik in Großbritannien zum Ende kam. Erfolgreicher waren Regelungen zu Krankengeld und Arbeitsunfällen auf Branchen- und betrieblicher Ebene. So erreichte die National Union of Mineworkers 1974 eine einkommensabhängige Entschädigungszahlung bei der Diagnose von Staublunge.296 Ebenso existierten in der Stahlindustrie Sozialpläne bei vorzeitigem Ruhestand.297 Grundsätzlich war die Rentenfinanzierung wie auch die Art und Weise der Frühverrentung in Großbritannien sozial gespreizter als in der Bundesrepu­­ blik. Während nicht erwerbstätige leitende Angestellte bzw. Beschäftigte über­ wiegend Vorruhestandsregelungen in Anspruch nehmen konnten, waren ältere Arbeiter und Facharbeiter vor allem unter den Langzeitarbeitslosen und den chronisch Kranken zu finden, wie eine Befragung von 1.700 Nicht-Erwerbstätigen im Jahr 1999 erbrachte.298 Waren britische Arbeiter und niedrig dotierte Angestellte vor allem auf staatliche Renten angewiesen, bezogen leitende Ange-

293 Vgl Banks / Blundell / Bozio / Emmerson, Disability, Health and Retirement in the United Kingdom, S. 5 f. 294 Vgl. ebd., S. 7 f., 17–21. 295 Hierzu auch: Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat, S. 144–154, 202–205. 296 Zur Entwicklung vgl. Arthur McIvor / Ronald Johnston, Miners’ Lung. A History of Dust Disease in British Coal Mining, Aldershot 2007, S. 223–229, 289. 297 Vgl. hierzu: Chris C. Harris / R . M. Lee / Lydia Morris, Redundancy in Steel. Labour-market Behaviour, Local Social Networks and Domestic Organisation, in: Bryan Roberts / Ruth Finnegan / Duncan Gallie (Hrsg.), New Approaches to Economic Life, Manchester 1985, S. 154–166. 298 Vgl. Beatty / Fothergill, The Detached Male Workforce, S. 90.

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stellte und Höherqualifizierte im Ruhestand überwiegend private Pensionen.299 Diese Ungleichheiten wurden durch die Eingriffe der Regierung Thatcher in die Alterssicherung noch verstärkt.300 Neben einer Reduzierung der staat­lichen Rente 1980 auf einen reinen Inflationsausgleich und der Abschaffung von SERPS war es vor allem die gegen den Wohlfahrtsstaat gerichtete konservative Privatisierungsideologie, die betriebliche und private Altersvorsorge favorisierte und so eine zunehmende soziale Polarisierung in der Gruppe der Älteren in Kauf nahm. So war die Altersarmut in Großbritannien deutlich höher als in der Bundesrepublik. Im europäischen Vergleich zählten 1991 knapp 44 Prozent der Älteren in Großbritannien als arm, während in Westdeutschland 1989 der Anteil Älterer in relativer Armut nur bei 21,6 Prozent lag.301

2.3 Abschied vom Malocher. Arbeitsbedingte Erschöpfung in der Montanindustrie Gemeinsam war beiden Ländern, dass die als »arbeitsbedingte Erschöpfung« verstandene Frühverrentung oder Erwerbsunfähigkeit vor allem als ein Problem von Fabrik- und Industriearbeit wahrgenommen wurde.302 Demnach war es zum einen ein Problem männlich geprägter Arbeitszusammenhänge. Die physischen und psychischen Belastungen »typisch« weiblicher Erwerbsarbeit in personen­nahen Dienstleistungen oder unbezahlter Care-Arbeit wurden arbeitsmedizinisch nicht erfasst. Wie gezeigt, unterlag die Erwerbstätigkeit von Frauen aber auch einer gegenläufigen Entwicklung, d. h. dazumal nahm diese in jüngeren Alterskohorten erst zu, und die Alterssicherung erfolgte zumeist über den Ehemann. Zum anderen, und damit zusammenhängend, ist »arbeitsbedingte Erschöpfung« als ein traditionelles Problem der Montan- und Schwerindustrie und ihrer Regionen überliefert.303 Im angelsächsischen Raum ist die Geschichte von Berufskrankheiten und Invalidität aufgrund physischer Arbeitsbelastungen in Montanregionen sogar in einem eigenen lokalhistorischen Genre ausgeformt.304 299 Vgl. ebd., S. 158. 300 Vgl. Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat, S. 177–242. 301 Vgl. ebd., S. 222. 302 Hierzu auch: Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 321–324, 333 f.; ders., Arbeitsbiografien, S. 51, 56–58. 303 Für Großbritannien heben Untersuchungen über Erwerbsunfähigkeit zumeist auf deren regionale Verteilung ab vgl. Beatty / Fothergill, The Detached Male Workforce; Edward Fieldhouse / Emma Hollywood, Life after Mining. Hidden Unemployment and Changing Patterns of Economic Activity amongst Miners in England and Wales, 1981–1991, in: Work, Employment and Society 13 (1999), S. 483–502. 304 Vgl. z. B. McIvor / Johnston, Miners’ Lung, dort weitere Literaturhinweise: S. 14–26; für den deutschen Fall vgl. Lars Bluma, The History of Medicine Meets Labour History: Miners’ Bodies in the Age of Industrialization, in: German History 37 (2019), S. 345–358.

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Zahlreiche Studien sind den riskanten Arbeitsbedingungen unter Tage und am Stahlkocher, den Symptomen und Krankheitsverläufen von Staublungen, Lungenemphysem, Knochenbrüchen und Knochendeformationen gewidmet sowie ihren Auswirkungen auf Arbeitsverständnis und Lebensläufe der Arbeiter. De facto gehörten solche Erkrankungen in den Montanregionen beider Länder zum normalen Berufsverlauf eines Stahl- oder Bergbauarbeiters. In den 1970er- und 1980er-Jahren tat der Rationalisierungsdruck in der Montanindustrie ein Übriges, damit der durchschnittliche Arbeiter in diesen Branchen die Altersgrenze von 60 Jahren an einem Arbeitsplatz unter Tage oder in der Warmindustrie (d. h. am Hochofen) nicht erreichte. Für Montangebiete im englischen Yorkshire erbrachten Studien, dass Mitte der 1990er-Jahre 40 Prozent der ehemaligen Bergleute unter 65 Jahren arbeitslos, erwerbsbedingt erkrankt oder im Vorruhestand waren.305 Betriebsräte der Stahlindustrie im Ruhrgebiet stellten Anfang der 1980er-Jahre nüchtern fest: »über 60 gehört ein Mann nicht mehr in ein Stahlwerk.«306 Nach im Schnitt zwanzig bis dreißig Jahren in der Warmindustrie waren Knochenbrüche an der Tagesordnung und in der Regel stand eine Versetzung an einen körperlich weniger belastenden Leichtarbeitsplatz an. In Folge der Rationalisierungsvorgänge in den Betrieben fehlten diese allerdings häufig.307 Aufgrund starker gewerkschaftlicher Vertretung in der Stahl- und Montanindustrie konnten Betriebsrenten und betriebsinterne Regelungen den Übergang in den Ruhestand oder vorübergehender Arbeitslosigkeit (ohne Vermittlungsverpflichtung in andere Arbeitsplätze) erleichtern. Die medizinische und therapeutische Versorgung der körperlichen Beschwerden der schwer beschädigten Arbeiter war in den 1970er- und 1980er-Jahren sicher besser als in früheren Jahrzehnten, dennoch waren die Betreffenden gesundheitlich stark eingeschränkt und mussten den Verlust ihres beruflichen und bei Verrentung aufgrund von Betriebsschließung unter Umständen auch ihres sozialen Umfelds verkraften. Nicht zuletzt war ihre Lebenserwartung sehr viel kürzer als bei Angestellten und höher Qualifizierten, die ihre Frühverrentung ohne medizinische Indikation unter Umständen aktiver gestalten konnten. Auch in der bereits zitierten SOFI-Studie zur regionalen Struktur von Arbeitslosigkeit nehmen die »arbeitsbedingt Erschöpften« einen hohen Anteil unter den Befragten ein. Im Leitfaden der qualitativen Studie nicht explizit erfragt, bringen 43 von 113 Interviewten, d. h. knapp 38 Prozent in den Interviews vor, dass Krankheit oder gesundheitliche Einschränkungen ausschlaggebend für den Verlust ihres Arbeitsplatzes war. Trotz dieses Befundes werden gesundheitliche Einschränkungen der Arbeitslosen in der Projektveröffentlichung kaum 305 Vgl. Raphael, Arbeitsbiografien, S. 32–67, hier: S. 51. 306 Vgl. »Wer arbeitet denn noch mit 59 Jahren?« Gruppengespräch mit Betriebsräten in der Stahlindustrie, in: Dohse / Jürgens / Russig (Hrsg.), Ältere Arbeitnehmer zwischen Unternehmensinteressen und Sozialpolitik, S. 205. 307 Vgl. Brinkmann, Arbeitslosigkeit und berufliche Ausgliederung älterer und leistungsgeminderter Arbeitnehmer, S. 140.

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erwähnt. Nur marginal ist die Rede von »einigen Fällen«, in denen »eine Krankheitsgeschichte hinzu[kommt], die sich an entscheidenden Knotenpunkten der Biographie auf fatale Weise mit Arbeitslosigkeit verzahnte.«308 An anderer Stelle wird die zeitgenössisch angeblich neue, individualisierende Wirkung von Krankheit und Alter für Arbeitslose kritisiert: »Älter zu werden oder gesundheitlich behindert zu sein, wird für den Arbeitslosen zum ganz und gar persönlichen Schicksal, an dem sich auf dem Arbeitsmarkt gesellschaftliche Diskriminierungen und Sanktionen ungebrochen festmachen können.«309 Ohne die Feststellung der Göttinger Wissenschaftler für den Einzelfall bestreiten zu wollen, sind aus der Analyseperspektive von »arbeitsbedingter Erschöpfung« für die Gruppe der gesundheitlich eingeschränkten Arbeitslosen dennoch gemeinsame Merkmale und Subjektivierungspraktiken festzustellen, die in ihrer Arbeitslosigkeit bzw. vorangegangener Erwerbsarbeit begründet sind. Die Arbeitslosen, die in den Interviews gesundheitliche Belastungen geltend machten, wurden nach oder aufgrund von Krankschreibung entlassen oder kündigten aufgrund untragbarer körperlicher Belastungen ihren Arbeitsplatz. Eine Häufung dieser erwerbsbedingten Krankheitsfälle findet sich bei Beschäftigten des produzierenden Gewerbes. Bei ehemals Beschäftigten in der Reifenherstellung häuften sich Klagen über Asthma oder Sehnenscheidenentzündung. Gleichfalls traten Klagen über körperliche Abnutzungserscheinungen bei Erwerbslosen auf, die vorher in Unternehmen mit den Produktionsbereichen Stahlguss sowie Fahrzeug- und Maschinenbau beschäftigt waren. Nicht überraschend handelte es sich bei den Betroffenen überwiegend um Arbeitslose, die älter als 50 Jahre waren. Die Beurteilung ihrer »arbeitsbedingten Erschöpfung« durch die Arbeitslosen hing auch damit zusammen, unter welchen Umständen das Arbeitsverhältnis beendet wurde. Hatten die Arbeitslosen selbst gekündigt oder wurden in ihrer eigenen Wahrnehmung aufgrund ihrer Krankheit gekündigt, sahen sie die Arbeitslosigkeit in der Regel als Zugewinn von Autonomie. So gab ein 54 Jahre alter LKW-Fahrer mit sechs teilweise erwachsenen Kindern, der nach seinen Angaben gekündigt wurde, weil er sich »geweigert hat, 60 bis 70 Stunden zu arbeiten« zu, aus Altersgründen »das mit den Stunden nicht mehr« hinzubekommen.310 Zwanzig Jahre vor der Kündigung als LKW-Fahrer war er wegen Allergien gegen Lackmittel in einem Unternehmen zur Herstellung von Kleinmöbeln »aus Gesundheitsgründen ausgeschieden. (…) das ging dann nicht mehr weiter so.«311 Er sieht seine Arbeitslosigkeit als »Urlaub auf Staatskosten«, auf den er nach dreißig Beitragsjahren zur Arbeitslosenversicherung

308 Kronauer / Vogel / Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft, S. 191. 309 Ebd., S. 72. 310 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. U 3, S. 1. 311 Ebd., S. 7.

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Anrecht hätte.312 Nebenerwerblich im Gartenbau tätig, bezog er zum Zeitpunkt des Interviews Arbeitslosengeld. Obwohl er seine eigenen Chancen auf dem Arbeitsmarkt altersbedingt als wenig aussichtsreich beschreibt, betonte er in seiner Erfahrungsbilanz von Arbeitslosigkeit die Möglichkeiten zeitlicher und körperlicher Selbstbestimmung: »Daß ich mehr Zeit habe, bekommt auf jeden Fall meiner Gesundheit. Immer der Streß mit schnell, schnell, schnell, das fällt weg, und ich kann mir meine Arbeitszeit völlig frei einteilen.«313 Aus der Einsicht in die eigene »arbeitsbedingte Erschöpfung« folgten Aneignungsformen einer Subjektivität jenseits von Erwerbsarbeit. Ausschlaggebend für den subjektiven Umgang mit erwerbsbedingten Gesundheitsproblemen und folgender Arbeitslosigkeit war jedoch die finanzielle Situation, die mit zunehmendem Alter aufgrund der zu erwartenden Verrentung komfortabler wurde oder auch nicht mehr zu verbessern war. Teile der zeitgenössischen Forschung gingen deshalb so weit zu schlussfolgern, ältere Arbeitslose seien von psychosozialen Problemen weniger betroffen, da sie tendenziell finanziell abgesichert seien.314 Auch im SOFI-Sample waren ältere Arbeitslose in der Regel mit ihrer eigenen Arbeitslosigkeit nicht unbedingt zufrieden, aber führten sie auf ökonomische und arbeitsmarktpolitische Kontexte oder aber auf die Unabänderlichkeit des eigenen Alters zurück – hatten demgemäß ein objektiviertes Verhältnis zu ihrer Erwerbslosigkeit.315 Bei einem männlichen Arbeitslosen, 41 Jahre alt, mit vier Kindern im schulpflichtigen Alter oder jünger, der aufgrund starken Asthmas seinen Arbeitsplatz in der Reifenherstellung aufgeben musste, fiel die Beurteilung von erschöpfungsbedingter Arbeitslosigkeit insofern ambivalent aus. Einerseits hat die Arbeitslosigkeit für ihn »nur gute Seiten.«316 Seine Familie ernährte er mit Hilfe biologischer Landwirtschaft »im Nebenerwerb« und betonte, dass er aufgrund der Arbeitslosigkeit, »mehr Zeit für die Kinder« habe und sich »mehr seiner Familie widmen« konnte.317 Andererseits war er, seit drei Jahren arbeitslos und Empfänger von Arbeitslosenhilfe, von massiver finanzieller Deprivation bedroht. Im Zusammenhang seiner finanziell prekären Lage streicht er nachdrücklich heraus, wieder »Arbeit kriegen« zu müssen.318 Eigenes Engagement im Betriebsrat während seiner Erwerbsarbeit bewertete er nun kritisch und unter dem Menetekel drohender Arbeitslosigkeit:

312 Ebd., S. 1. 313 Ebd., S. 4. 314 Vgl. Alois Wacker, Psychologische Aspekte der Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer und ihrer Ausgliederung aus dem Arbeitsprozess, in: Dohse / Jürgens / Russig (Hrsg.), Ältere Arbeitnehmer zwischen Unternehmensinteressen und Sozialpolitik, S. 157–183. 315 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, beispielsweise Interviews Nr. N 56, S. 15; N 14, S. 12; N 15, S. 11; N 69, S. 12. 316 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 50, S. 1. 317 Ebd., S. 6. 318 Ebd., S. 9.

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Ich war ja mal im Betriebsrat (…), da bin ich aber schnellstens wieder zurückgetreten. (Warum?) Weil jeder war verschiedener Meinung. Da saß der Chef und sagte, entweder krähen Sie mit, oder draußen warten 100 andere. Es ist doch auf dem Arbeitsmarkt so: Entweder putzt Du mir die Schuhe, oder Du kannst gehen. Draußen warten 100 andere.319

Insbesondere die zu befürchtende Lücke in den Rentenbeiträgen verstärkten seine Befürchtungen finanziellen Abstiegs und gesellschaftlichen Ausschlusses. Die Erfahrung »arbeitsbedingter Erschöpfung« verfestigte sich bei ihm unter finanziellem Druck, und erwerbssichernde Arbeit blieb ohne Alternative. Inwiefern die Akzeptanz »arbeitsbedingter Erschöpfung« bei Arbeitslosen mit Idealen eigener Leistungsfähigkeit zusammenhing, kann hier nicht en détail vertieft werden. Die Probleme, die sich aufgrund eigener nachlassender Leistungsfähigkeit für das Selbstbild der nunmehr Arbeitslosen ergeben, deuten sich aber im Zitat eines 53-jährigen gelernten Polsterers an, nennen wir ihn Gerd, der nach eigener Aussage nach dreimonatiger Krankheit selbst gekündigt hat, weil die Betriebsleitung »auf dem Standpunkt« war, »daß ich die Leistung nicht mehr bringe« und der im Laufe des Interviews zugibt, seine »Leistungsfähigkeit ist geringer geworden.«320 Die Frage von erwerbsförmiger Leistungsfähigkeit ist für ihn entscheidend für die Beurteilung anderer arbeitsloser Subjekte, von denen er sich distanziert. Auf die Frage des Interviewleitfadens »Gibt es einen typischen Arbeitslosen und wie sieht er aus?« antwortet er: Arbeitslos und arbeitslos ist doch ein Unterschied. Ein Teil der Arbeitslosen, die sind so beschäftigt, daß sie überhaupt nicht, daß sie sich gar keine Sorgen machen brauchen. Die Alkoholiker, die Gaststättenläufer. Die gibt es hier auch. Das sind bald keine Arbeitslosen mehr, die kriegen sie sowieso nicht mehr in die Arbeit rein. Die Schwarzarbeiter schätze ich bedeutend höher ein, weil das noch Menschen sind, die setzen sich für sich ein. (…) Die Arbeitslosen, die Alkoholiker sind, sind krank. Die echten Arbeitslosen, die sind arbeitslos geworden, weil sie ihr Soll nicht mehr erfüllen.321

An anderer Stelle differenziert er zwischen den »Drückebergern, die wollen wohl nicht mehr. Die stehen morgens auf, die haben ihre Flasche Bier« und den »57/58jährigen, das sind keine Drückeberger, die können nicht mehr.«322 Sich selbst resigniert in den Vorruhestand verabschiedet, hat sich die Bedeutung der arbeitsbedingten Erschöpfung bei Gerd um eine weitere Facette verschoben: der Verlust der eigenen Leistungsfähigkeit und seine Kritik überzogener Leistungsansprüche an Erwerbstätige, führten nicht dazu, vom Subjektanspruch der Leistungsfähigkeit grundsätzlich abzurücken. In Abgrenzung zu »unwürdigen Arbeitslosen«, den Alkoholikern, wurde dieser Selbstbildungsappell erneut nachvollzogen und bestätigt. 319 320 321 322

Ebd., S. 18 f. Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. U 63, S. 10, 8. Ebd., S. 7. Ebd., S. 22.

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Für Großbritannien bzw. Wales liegen Originalinterviews der qualitativen Studie des Gerontologen Bill Bytheway »Retirement Through Redundancy, 1984–1985« zu den Umständen von und dem Umgang mit dem 1980 durchgeführten Frühverrentungsprogramm der British Steel Corporation im wali­ sischen Port Talbot vor.323 Die in den Jahren 1981 bis 1983 interviewten Männer (insgesamt 92, davon sind 45 Interviews überliefert) der Jahrgänge 1916 bis 1925 wurden im Zuge der Reprivatisierung von British Steel in den frühen 1980erJahren entlassen.324 Ihnen wurden Abfindungspakete angeboten, die nach Alter variierten. Diejenigen, die jünger als 55 Jahre alt waren, wurden angehalten, neue Erwerbsarbeit zu finden. Diejenigen, die älter als 55 Jahre waren, und dies waren alle Interviewten, konnten bei freiwilliger Kündigung mit Betriebs­pension und Lohnausgleichszahlungen rechnen. Die Männer waren überwiegend Waliser und hatten 20 bis 35 Jahre bei British Steel gearbeitet. Viele waren vorher im lokalen Bergbau tätig gewesen und verstanden sich nach wie vor als »Miner«. 67 der Befragten gaben gesundheitliche Probleme im Zusammenhang mit ihrer Verrentung an. 41 bezeichneten sich selbst als krank. Die Krankheiten und körperlichen Einschränkungen rührten teilweise vom Bergbau her (»miner’s knee«, Staublunge), teilweise waren es Verschleißerscheinungen körperlicher Schwerstarbeit (Arthrose, Herzkrankheiten). Die Übergänge in den Ruhestand gestalteten sich, obwohl die Arbeiter einer gemeinsamen Alterskohorte angehörten und von einem standardisierten Verrentungsprogramm profitierten, unterschiedlich und überwiegend eingeleitet von Phasen von Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Viele von den Stahlarbeitern nahmen auch im Ruhestand andere Jobs an, um das Einkommen aufzubessern, aber auch, da das eigene aktive und betriebsame Selbstbild mit dem Rentnerdasein nicht vereinbar war.325 Im Laufe von insgesamt drei nacheinander durchgeführten Befragungen variierten die Angaben der nicht erwerbstätigen Arbeiter über ihren Erwerbs- bzw. Rentenstatus. Im Durchschnitt 28 Monate nach der Entlassung bezogen von 75 Befragten 20 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, dreizehn sahen sich selbst als berentet an und 18 waren arbeitslos.326 Bei 17 war die Arbeitslosigkeit von Erwerbsunfähigkeit abgelöst. Bei einer geringeren Anzahl waren die Verläufe von Erwerbslosigkeit diskontinuierlich von abwechselnden Phasen mehrjähriger Arbeitslosigkeit und Erwerbsunfähigkeit sowie teilweise letztlich erreichter Verrentung geprägt. 323 UK Data Archive, Essex, Bill Bytheway, Retirement Through Redundancy, 1984–1985 [computer file], UK Data Service, SN: 7056; teilweise publiziert als: Chris C.  Harris /  R. M. Lee / Lydia Morris, Redundancy in Steel. Labour-market Behaviour, Local Social Networks and Domestic Organisation, in: Roberts / Finnegan / Gallie (Hrsg.), New Approaches to Economic Life, S. 154–166. 324 Zum Folgenden: UK Data Archive, Essex, Bill Bytheway, Retirement Through Redundancy. Research Report. Februar 1984. 325 Vgl. z. B. UK Data Archive, Essex, Bill Bytheway, Retirement Through Redundancy, Interview Nr. 103, S. 12. 326 Vgl. UK Data Archive, Essex, Bill Bytheway, Retirement Through Redundancy, Research Report. Februar 1984, S. 23.

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Ausschlaggebend für die subjektive Perzeption der walisischen Arbeiter von Verrentung, Erwerbsunfähigkeit oder der auslösenden »arbeitsbedingten Erschöpfung« war zum einen die finanzielle Situation, die in Arbeitslosigkeit oder Ruhestand erreicht werden konnte. Sofern eine betriebliche Pension bezogen werden konnte, waren die Befragten zufrieden mit ihrem Ruhestand.327 Ohne Pension sähe die Lage aber anders aus, wie einer der Befragten, seit 20 Jahren im Stahlwerk als Fahrer und Maschinist beschäftigt, bekannte: »I᾽m fortunate to have a pension (…) otherwise it’s hard.«328 Sofern die finanzielle Versorgung aber kritisch war, schreckten sie, wie auch viele Bergarbeiter, davor zurück, sich bei erwerbsbedingten Krankheiten, z. B. Staublunge im Frühstadium, berenten zu lassen.329 Für die Arbeiter der Bytheway-Studie, die vor ihrem Ruhestand arbeitslos waren, bedeutete die Verrentung den Abschied von den finanziellen Unsicherheiten der Erwerbslosigkeit, aber auch von dem »terrible feeling«, das eigene, lange Erwerbsleben »like  a scrounger« in der Arbeitslosigkeit abschließen zu müssen.330 Unter den Befragten dieser Studie begrüßte nur eine Minderheit den Ruhestand und gab dann vor allem resigniert an, arbeitsmüde zu sein (»worked all my life«, »done enough work to deserve a rest«), oder schlicht, genug vom Arbeits­ leben zu haben (»had had enough«).331 Arbeitsbedingt Erschöpfte unterschieden sich in diesem Punkt nur wenig von regulär Verrenteten, die dem Ruhestand mit gemischten Gefühlen entgegensahen.332 Nur wenige der Befragten aus Port Talbot betrachteten optimistisch die Möglichkeiten, ihr Leben abseits des Erwerbslebens neu zu gestalten, so wie es einer der vormaligen Stahlarbeiter ausdrückte: »Now that I no longer have to work, I feel more able to enjoy myself.«333 Erstaunlich selten wurde die Erleichterung, berentet zu werden, ausdrücklich mit arbeitsbedingten Erschöpfungszuständen begründet. Die physischen Symptome mussten schon den Alltag dominieren, wie bei einem vorzeitig berenteten Hausmeister der Margam Stahlwerke, der allerdings als Kriegsinvalide des Zweiten Weltkriegs in sein Erwerbsleben gestartet war. Er litt an Arthrose in den Knien und an der Wirbelsäule und beschreibt seine unvermeidliche Arbeits-

327 UK Data Archive, Essex, Bill Bytheway: Retirement Through Redundancy, z. B. Interviews Nr. 24, S. 4; Nr. 82, S. 6. 328 UK Data Archive, Essex, Bill Bytheway: Retirement Through Redundancy, Interview Nr. 111, S. 16. 329 Vgl. McIvor / Johnston, Miners’ Lung, S. 289. 330 Vgl. UK Data Archive, Essex, Bill Bytheway, Retirement Through Redundancy, Interview Nr. 82, S. 5. 331 Zitiert in: UK Data Archive, Essex, Bill Bytheway, Retirement Through Redundancy, Research Report. Februar 1984, S. 54. 332 Vgl. Stanley Parker, Work and Retirement, London 1982, S. 115. 333 Zitiert in: UK Data Archive, Essex, Bill Bytheway, Retirement Through Redundancy, Research Report. Februar 1984, S. 56.

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unfähigkeit: »Well I’ve worked long enough now and, you know, I was getting arthritis. I’ve got arthritis in me leg. I got spondylosis in my spine. And I was beginning to feel, you know, I was struggling to do it then see.«334 Körperlich ausgelaugt, blieb den meisten der arbeitsbedingt Erschöpften aufgrund ihrer physischen Verfasstheit keine andere Wahl als der Abschied aus dem Erwerbsleben. Terry Sargeant, seit den 1950er-Jahren im Bergbau in Südwales tätig, versuchte sich im Interview dennoch in Zynismus, um seine verzwickte Zwangslage zwischen anhaltendem körperlichem Verschleiß bei fortgesetzter Arbeit unter Tage und Arbeitsplatzverlust bei Zechenschließung 1986 irgendwie in Worte zu fassen: Maggie Thatcher closed the pits, right enough, but I think she saved my life. I was fiftyone when I finished and I would have had another fifteen years underground if they’d stayed open. But what would I have been like with another fifteen years underground?335

Aus solch zweckoptimistischen Kommentaren könnte man leicht schlussfolgern, die Folgen arbeitsbedingter Erschöpfung seien schon nicht allzu schwerwiegend gewesen. Die Versehrten der Rationalisierungsprozesse in Montan-, Schwer- und produzierender Industrie in den Jahren »nach dem Boom« seien vergleichsweise weich in die Versorgungssysteme von Frührente und Sicherungen bei Berufsunfähigkeit gefallen. Bei denjenigen, die finanziell gut abgesichert waren durch Betriebsrenten und Frühverrentungsprogrammen in der Bundesrepublik und durch Branchenregelungen und private Pensionen in Großbritannien mag dies durchaus zutreffen. Ihre Arbeitslosigkeit wurde als Übergang in die erwerbsfreie Zeit des Ruhestands als vorübergehender Zustand erträglich und objektivierbar. Nostalgische Kameradschaftspflege unter ehemaligen Kumpeln und Kollegen in Freizeit- und Ruhestandsvereinen mag darüber hinaus dem einen oder anderen das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben erleichtert und soziale Befriedung der älteren Arbeitslosen erleichtert haben.336 Unabweisbar bleibt aber, dass in beiden Ländern eine arbeitsbedingte Erschöpfung geschuldete Arbeitslosigkeit ein außerordentlicher Eingriff in die physische Autonomie des Subjekts war. An den in ihrer Gesundheit eingeschränkten Bergarbeitern Großbritanniens, wird dies stellvertretend für alle älteren Arbeiter in der Schwerindustrie besonders deutlich. Nach ihrer Entlassung, auch bei offensichtlich nicht selbstverschuldeter Kündigung bei Grubenschließung, hatten sie auf dem Arbeitsmarkt aufgrund ihrer eingeschränkten Gesundheit keine Chance mehr.337 Im Wortsinn waren sie in doppelter Weise 334 Zitiert in: UK Data Archive, Essex, Bill Bytheway, Retirement Through Redundancy, Interview Nr. 93, S. 8. 335 Zitat: David Hall, Working Lives. The Forgotten Voices of Britain’s Post-War Working Class, London u. a. 2012, S. 327, andere Angaben vgl. ebd., S. 314; das Zitat findet sich auch in: Raphael, Arbeitsbiografien, S. 51 bzw. ders., Jenseits von Kohle und Stahl, S. 323. 336 Ebd., S. 323 f. 337 Vgl. McIvor / Johnston, Miners’ Lung, S. 297.

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nicht mehr »fit«: körperlich nicht mehr leistungsfähig und nicht mehr »passend« für die Anforderungen des Arbeitslebens. Ihre Ruhestandsjahre waren geprägt von den Gebrechen ihrer arbeitsbedingt erschöpften Körper.338 Schmerzen, schlechte Atem- und allgemeine Kondition verhinderten, den sozialen Gewohnheiten (Gartenarbeit, Sport, Besuch von Pubs) so nachgehen zu können wie es andere Männer im gleichen Alter taten. Dominant war die Erfahrung des Zerfalls ihres ursprünglich zu Höchstleistungen fähigen Arbeitskörpers zum eingeschränkt arbeitsfähigen Invaliden. Nach dem Abschied von der »Maloche« zehrte dies am Selbstbild der ehemaligen Schwerstarbeiter. Billy, der Jahr 2000 von Arthur McIvor und Ronald Johnston für ihre Studie zur Geschichte der Lungenerkrankungen britischen Bergarbeiter interviewt wurde, bekannte: »I worked a’ my life… but it was a big blow to me to be told that I’d never work again. Eh, your pride’s dented, ken, I mean (…). It definitely hurts your pride.«339 Das arbeitsbedingt erschöpfte Subjekt, mit dem Verlust der körperlichen Leistungsfähigkeit konfrontiert, war dauerhaft versehrt. Die alltägliche Lebensführung auch in der Rente war eingeschränkt, und die Lebenserwartung in der Regel reduziert. Sozial gestaffelt – in Angestelltenberufen und bei höher Qualifizierten war zum einen die finanzielle Absicherung im Ruhestand besser und zum anderen die physische Belastung im Beruf geringer – war das arbeitsbedingt erschöpfte Subjekt zu mehr oder minder komfortablen Bedingungen den Anstrengungen seiner Erwerbsarbeit entkommen. Seine physische Integrität war bleibend und sichtbar verletzt und sein Körper weniger leistungsfähig und für den Arbeitsmarkt seiner Gegenwart ungeeignet.

3. Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt: disqualifizierende Armut von Arbeitslosen »Finanziell ist es Scheiße, auf gut Deutsch gesagt,« so formuliert ein Ende der 1980er-Jahre im Rahmen des Projekts »Sozialstrukturelle Auswirkungen der Arbeitsmarktkrise« am Göttinger SOFI befragter arbeitsloser KfZ-Mechaniker, der zum Zeitpunkt des Interviews Arbeitslosenhilfe bezog, seine soziale Situation.340 In seiner Drastik war der Kommentar keine Ausnahme unter den Interviewten. Für den Großteil der Befragten der SOFI-Studie gehörten finanzielle Einbußen in Folge von Arbeitslosigkeit zu den Hauptproblemen in Folge ihrer Arbeitslosigkeit. »Weniger Geld«, sei »das Wichtigste überhaupt«, »das Geld fehlt«, »sehr wenig Geld«, so beantworteten die Befragten diese Eingangsfrage der Interviews

338 Hierzu: ebd., S. 298 f. 339 Zitiert in: ebd., S. 302. 340 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 6, S. 1.

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oder äußerten sich spontan im Laufe des Gesprächs ungefragt.341 Ein arbeitsloser Handwerker, nennen wir ihn Karl-Heinz, sprach von »allgemeiner Verarmung«, die eingetreten sei.342 Ganz überwiegend gaben die Interviewten auf direkte Nachfrage an, finanzielle Einschränkungen durch Arbeitslosigkeit hinnehmen zu müssen.343 Die finanziellen Einbußen seien »grausam«, so die Aussage von Ulf, ein arbeitsloser Tischlergeselle.344 »Das wenige Geld, das ist sowieso klar«, so ein anderer Befragter über die größte Herausforderung durch Arbeitslosigkeit, obgleich erst seit fünf Wochen arbeitslos, aber auf sein Arbeitslosengeld wartend.345 In einem nationalen Sample von Arbeitslosen, die in Großbritannien Anfang der 1970er-Jahre nach der größten Belastung durch Arbeitslosigkeit gefragt wurden, nannten 72 Prozent den finanziellen Mangel an erster Stelle, dreimal so viele wie diejenigen, die psychische und mentale Belastungen thematisierten.346 Die in der Forschungsliteratur angenommenen geringeren Effekte ökono­ mischen Deprivation während der Arbeitslosigkeit der 1970er- und 1980er-Jahre im Vergleich zur Weltwirtschaftskrise, stehen angesichts solcher Aussagen zumindest zur Disposition.347 Die britische Forschung ist dabei merklich von den Ansätzen des Armutsforschers Peter Townsend geprägt, der den Begriff der »relativen« Armut im Vergleich zum jeweiligen sozialen Umfeld in Abgrenzung zur »absoluten«, existentiell gefährdenden Armut prägte.348 Die Armut der Zwischenkriegszeit wird also potentiell mit anderen Maßstäben gemessen als diejenige der 1970er- und 1980er-Jahre.

341 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 8, S. 3, N 43, S. 1, N 13, S. 1. 342 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. U 67, S. 1. 343 Vgl. auch die Auswertung in: Kronauer / Vogel / Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft, S. 94–96, 115–118, 133–136, 163–166. 344 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 9, S. 1. 345 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 55, S. 2. 346 Vgl. Daniel, A National Survey of the Unemployed, S. 44. 347 Vgl. z. B. in Anlehnung an Aussagen bundesdeutscher Sozialpolitiker: Winfried Süß, Massenarbeitslosigkeit, Armut und die Krise der sozialen Sicherung seit den 1970er Jahren. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, in: Raithel /  Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit, S. 55–66; kritisch für das britische Beispiel (was Süß als Kontrastfolie der bundesdeutschen Sekurität dient): Adrian Sinfield, What Unemployment Means, Oxford 1981, S. 49; McIvor, Working Lives, S. 252–254; Burnett, Idle Hands, S. 279–284; vgl. auch: Christine Stelzer-Orthofer, Erwerbslosigkeit und Armut. Eine theoretische und empirische Annäherung, in: Jeanette Zempel / Johann Bacher / K laus Moser (Hrsg.), Erwerbslosigkeit. Ursachen, Auswirkungen und Interventionen, Opladen 2001, S. 149–169; Frank Field, Unemployment and Poverty, in: ders. (Hrsg.) The Conscript Army. A Study of Britain’s Unemployed, London 1977, S. 28–42, hier: S. 33; IAB -Forschung schätzt die psycho-soziale Belastung hingegen höher ein als die (hohe) Belastung durch finanzielle Einbußen vgl. Christian Brinkmann, Die individuellen Folgen langfristiger Arbeitslosigkeit. Ergebnisse einer repräsentativen Längsschnittuntersuchung, in: Mitt AB 17 (1984), S. 454–473. 348 Vgl. Peter Townsend, Poverty in the United Kingdom. A Survey of Household Resources and Standards of Living, Hammondsworth 1979, S. 588–617.

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Für beide Untersuchungsländer, sowohl Großbritannien als auch die Bundesrepublik ist es zudem Forschungskonsens, dass legislative Regularien, die in den 1980er-Jahren erlassen wurden, die ökonomische Lage für Arbeitslose verschlechterten. Der Absicherungsgrad durch Sozialleistungen sank und die Ausgrenzung aus dem Leistungsbezug nahm zu. Diese legislative, arbeitsmarktpolitische Entwicklung sei im Folgenden in ihren pekuniären Restriktionen kurz rekapituliert. In der Bundesrepublik betrug die finanzielle Unterstützungsleistung bei Arbeitslosigkeit, das beitragsfinanzierte Arbeitslosengeld in den 1970er-Jahren bis zu 68 Prozent des Nettoeinkommens des Vorjahres und wurde, je nach Dauer der vorhergehenden Beschäftigung, für drei Monate bis zu einem Jahr ausgezahlt.349 Im Anschluss bestand ein grundsätzlich unbefristeter Anspruch auf Arbeitslosenhilfe in Höhe von bis zu 58 Prozent des Nettoeinkommens des letzten Erwerbsjahres, die seit 1977 jeweils jährlich neu beantragt werden musste. Beide Unterstützungsleistungen standen nur demjenigen zur Verfügung, der zur Sozialversicherung beigetragen hatte. Ohne Anspruch auf diese Leistungen, konnte die von Kommunen getragene Sozialhilfe beantragt werden, die den Lebensunterhalt sicherte. Die »Bruchstellen« für die Verarmung von Arbeitslosen vermehrten sich seit 1982 aufgrund legislativer Neuregelungen. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenunterstützung wurde eingeschränkt und in der Höhe gemindert. So wurde im Januar 1982 die Mindestbeschäftigungszeit für Bezug von Arbeitslosengeld von 180 auf 360 Kalendertage hochgesetzt und für Arbeitslosenhilfe von 70 auf 180 Kalendertage. 1983 wurde innerhalb einer verlängerten Rahmenfrist die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld verkürzt und die Zeiten der Anwartschaft verlängert, sodass die längste Bezugsdauer von Arbeitslosengeld nun bei acht Monaten lag und die kürzeste Anwartschaft bei einem Jahr beitragspflichtiger Beschäftigungszeit. Zudem wurden, dies ist für längerfristige Verarmungseffekte wichtig, Zeiten der Arbeitslosigkeit in der Rentenversicherung als Ausfallzeiten und nicht, wie bisher, als Beitragszeiten gezählt. Daneben wurden Kürzungen in anderweitigen staatlichen Unterstützungsleistungen vorgenommen, so bei Ausbildungsunterstützung, Kinder- und Wohngeld sowie in der Krankenversicherung.350 In Großbritannien bestand im Rahmen des britischen National Security Systems die Arbeitslosenunterstützung (Unemployment Benefit) aus einer steuerfinanzierten Pauschalzahlung mit Zulagen für unterhaltsberechtigte Personen, 349 Vgl. Richard Hauser / Ingo Fischer / Thomas Klein, Verarmung durch Arbeitslosigkeit?, in: Stephan Leibfried / Florian Tenstedt (Hrsg.), Politik der Armut und Die Spaltung des Sozialstaats, Frankfurt / Main 1985, S. 213–248; Clasen, Reforming European Welfare States, S. 64–72. 350 Vgl. Ingrid Krieger / Birgit Pollmann / Bernd Schläfke, Die mehrdimensionale Erfassung von neuer Armut, in: Klaus Lompe (Hrsg.), Die Realität der neuen Armut. Analysen der Beziehungen zwischen Arbeitslosigkeit und Armut in einer Problemregion, Regensburg 1987, S. 9–51, hier: S. 33.

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die bis zu einem Jahr gezahlt wurde.351 In den ersten sechs Monaten der Arbeitslosigkeit konnte eine zusätzliche Unterstützungsleistung, die sich am Bruttoverdienst des vorangegangenen Steuerjahres orientierte, beantragt werden ­(»Earnings-related Benefit«). Arbeitslose, die keinen Anspruch auf Unemployment Benefit hatten, da keine Berechtigung bestand oder die Unterstützungsleistung nicht ausreichte, konnten Sozialhilfe (»Supplementary Benefit«) beantragen, die bedürfnisgeprüft, auf unbestimmte Zeit gezahlt werden konnte. Bis 1988 konnte jeder über 16 Jahre, der nicht arbeitete und über wenig oder gar kein Einkommen verfügte, Sozialhilfe beantragen. In den 1980er-Jahren unter der Thatcher-Regierung, aber von Labour teilweise schon antizipiert, wurde massiv in die Unterstützungsleistungen eingegriffen. 1980 wurde die Arbeitslosenunterstützung um fünf Prozent gekürzt und zwei Jahre später steuerpflichtig. Der folgenschwerste Einschnitt war die Abschaffung des Earnings-related Benefit 1982, da damit die einzige staatliche Versicherungsleistung des britischen Sozialsystems, die dynamisch mit vorhergehender Entlohnung zusammenhing, wegfiel.352 1988 wurde der Supplementary Benefit vom Income Support abgelöst, der Jugendliche unter 18 Jahre vom Bezug ausschloss und diese stattdessen an die Unterstützung durch die Eltern oder ein Trainingsprogramm des Youth Training Scheme (YTS) verwies.353 Die legislativen Restriktionen wirkten sich unmittelbar und dynamisch auf die ökonomische Lage von Arbeitslosen in der Bundesrepublik und Großbritannien aus. Exemplarisch zeigt dies eine Untersuchung des den kritischen Urban Studies verpflichteten Institute for Community Studies (heute Young Foundation) aus dem Jahr 1978, die Haushaltseinkommen Arbeitsloser in Bristol, Reims und Saarbrücken verglich, finanziert von der Europäischen Kommission im Rahmen ihres »Anti-Poverty-Programme«.354 Haushaltseinkommen wurden in der Studie demnach in Relation zum mittleren Haushaltseinkommen im nationalen Maßstab gesetzt und ein Haushalt als arm definiert, wenn sein Einkommen ohne private Kapitalreserven weniger als drei Fünftel des nationalen Durchschnittseinkommens betrug. Die Arbeitslosenquote, die alle als arbeitslos registrierten Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter umfasste, lag in Bristol bei 6,4 Prozent und in Saarbrücken bei 5,4 Prozent. 70 Prozent der Arbeitslosen in Bristol und 58 Prozent in Saarbrücken waren männlich. Das durchschnittliche Einkommen von Haushalten, in denen der Hauptverdiener (in der Regel Männer) arbeitslos war, betrug an beiden Orten die Hälfte des allgemeinen Durchschnittseinkom351 Hierfür und folgend: Clasen, Reforming European Welfare States, S. 76–79; Wikeley, Unemployment Benefit, the State and the Labour Market; Sinfield, What Unemployment Means, S. 106–118; McIvor, Working Lives, S. 252–254; Field, Unemployment and Poverty, S. 28–30. 352 Vgl. Micklewright, The Strange Case of British Earnings-Related Benefit, S. 527–548. 353 Vgl. Lakhani / Read / Wood u. a., National Welfare Benefits Handbook, S. 87 f. 354 Vgl. Mitton / Willmott / Willmott, Unemployment, Poverty and Social Policy.

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mens.355 Ein erheblicher Anteil der Arbeitslosen beider Städte lebte, laut der Studie, in extremer Armut, d. h. verfügte über ein Einkommen, das weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens ausmachte. Diese extreme Armutsquote war in Bristol und Saarbrücken annähernd gleich hoch. In Bristol lag sie bei ca. 44 Prozent der Arbeitslosen, in Saarbrücken bei ca. 42 Prozent.356 In Saarbrücken war gleichwohl die Quote derer, die über weniger als zwei Fünftel des Durchschnittseinkommens verfügten und damit am untersten Ende der Armutsgrenze verortet wurden, im Erhebungsjahr 1978 mit 20 Prozent signifikant höher als in Bristol mit neun Prozent, vermutlich aufgrund der im Vergleich zu Bristol dort höheren Quote von Langzeitarbeitslosen (länger als sechs Monate andauernde Arbeitslosigkeit), die von Arbeitslosenhilfe leben mussten.357 Die sich hier abzeichnende Annahme einer bis Mitte der 1980er-Jahre höheren Armutsquote unter Arbeitslosen in der Bundesrepublik im Vergleich zu Großbritannien, bestätigt der Blick auf eine vergleichende Auswertung von Haushaltsbefragungen. Den Daten des deutschen Sozio-ökonomischen Panels bzw. des britischen Family Expenditure Survey zufolge gehörte die Bundesrepublik Mitte der 1980erJahre zur Gruppe der europäischen Länder mit der höchsten Armutsquote unter Arbeitslosen.358 Bis Mitte der 1990er-Jahre verschlechterte sich die finanzielle Situation von Arbeitslosen in Großbritannien aber rapide. Das Vereinigte Königreich »überholte« die Bundesrepublik und setzte sich im »Armutsranking« von Arbeitslosen an die Spitze der damaligen Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft. Andere Untersuchungen kamen hingegen zu dem Ergebnis, dass bereits 1979 das Ausmaß von Armut unter Arbeitslosen in Großbritannien, absolut oder relativ, erheblich größer war als in der Bundesrepublik.359 Die Ursachen für diese Entwicklungen lagen, abgesehen von den geschilderten Reduzierungen der Sozialleistungen, in strukturellen Entwicklungen der Arbeitsmärkte. Die Arbeitslosenquote wuchs in beiden Ländern im Lauf der 1970er-Jahre nicht nur schneller (und in Großbritannien Anfang der 1980erJahre exponentiell), die Betroffenen waren auch öfter und länger arbeitslos. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld erlosch bei vielen bzw. war gar nicht erst vorhanden, wie z. B. bei jugendlichen Arbeitslosen. So waren in Großbritannien bereits Mitte der 1970er-Jahre nur zwei Fünftel aller Arbeitslosen für Arbeits­ losenunterstützung berechtigt. Alle anderen waren auf Sozialhilfe angewiesen.360 Ende der 1980er-Jahre lag die Zahl der Arbeitslosen mit Anspruch auf Unem­ 355 Vgl. ebd., S. 79. 356 Vgl. ebd., S. 78. 357 Vgl. ebd., S. 78, S. 94 f. 358 Vgl. Richard Hauser u. a., Unemployment and Poverty: Change over Time, in: Gallie /  Paugam (Hrsg.), Welfare Regimes and the Experience of Unemployment in Europe, S. 25–46, hier: S. 40 f. 359 Vgl. Aldi J. M. Haagenaars, The Perception of Poverty, Amsterdam 1986, S. 275 f. 360 Harris, Beveridge and Beyond, S. 87–117, hier: S. 99; Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, S. 156; Calvert, Social Security Law, S. 155–158; ähnlich: Field, Unemployment and Poverty, S. 33–35.

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ployment Benefit nur noch bei 25 Prozent.361 Fast 1,4 Millionen der 2,5 Millionen regis­trierten arbeitslosen Männer und Frauen im Vereinigten Königreich im Jahr 1987 waren von der Sozialhilfe abhängig.362 In der Bundesrepublik sank der Anteil der Arbeitslosen, die Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenunterstützung hatten, in den Jahren 1975 bis 1985 von 86 auf 67 Prozent. Von 1970 bis 1983 stieg der Anteil der Arbeitslosen, die Sozialhilfe bezogen, von einem Prozent auf 33 Prozent. Eine Regionalstudie der Technischen Universität Braunschweig zur Lebenslage arbeitsloser Sozialhilfeempfänger in Südostniedersachsen ergab, dass der Anteil der Arbeitslosen ohne Arbeitslosengeld im Zeitraum von 1970 bis 1985 von 24 auf 35,2 Prozent gestiegen und der Anteil der Personen, die Arbeitslosengeld bezogen, von 64 auf 36 Prozent gesunken war.363 Die zeitgenössische Sozialforschung weist klar nach, dass die Verarmungsprozesse in Folge von Arbeitslosigkeit, die sich hinter diesen Zahlen verbergen, sozial gestaffelt waren.364 In allen europäischen Ländern waren Gruppen mit schwacher Arbeitsmarktposition wie ethnische Minderheiten, Frauen und Jugendliche besonders vom Risiko der Verarmung betroffen sowie Familien mit einem arbeitslosen Haushaltsvorstand.365 In der Bundesrepublik stellte man bei potentiellem Bezug von Sozialhilfe ein höheres Verarmungsrisiko bei Alleinstehenden, Alleinerziehenden, Arbeitslosen unter 30  Jahren und Familien fest.366 Ein geringeres Verarmungsrisiko trugen hingegen kinderlose Ehepaare, Ehepaare, von denen beide Partner verdienten und Haushalte, deren Vorstand über einen höheren Bildungsabschluss verfügte. Daneben bestanden regionale Unterschiede im Verarmungsrisiko, d. h. es waren in beiden Ländern Regionen der Schwer- und Montanindustrie, die 361 Vgl. Mohr, Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat, S. 131. 362 Vgl. Graham J. Room / Bernd Henningsen, Neue Armut in der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt / Main 1990, S. 85–90; Brian Nolan / R ichard Hauser / Jean-Paul Zoyem, The Changing Effects of Social Protection on Poverty, in: Gallie / Paugam (Hrsg.), Welfare Regimes and the Experience of Unemployment in Europe, S. 87–106; Gallie / Paugam, The Social Regulation of Unemployment, in: dies. (Hrsg.), Welfare Regimes and the Experience of Unemployment in Europe, S. 351–385. 363 Vgl. Ingrid Krieger / Birgit Pollmann / Bernd Schläfke, Die mehrdimensionale Erfassung von neuer Armut, in: Klaus Lompe (Hrsg.), Die Realität der neuen Armut. Analysen der Beziehungen zwischen Arbeitslosigkeit und Armut in einer Problemregion, Regensburg 1987, S. 9–51, hier: S. 33. 364 Vgl. Richard Hauser / Ingo Fischer / Thomas Klein, Verarmung durch Arbeitslosigkeit?, in: Stephan Leibfried / Florian Tenstedt (Hrsg.), Politik der Armut und Die Spaltung des Sozialstaats, Frankfurt / Main 1985, S. 213–248; die britische Forschung zusammenfassend: McIvor, Working Lives, S. 254. 365 Vgl. Room / Henningsen, Neue Armut in der Europäischen Gemeinschaft, S. 85–90; Nolan / Hauser / Zoyem, The Changing Effects of Social Protection on Poverty; Gallie /  Paugam, The Social Regulation of Unemployment; Sinfield, What Unemployment ­Means, S. 51 f.; Krieger / Pollmann / Schläfke, Die mehrdimensionale Erfassung von neuer Armut, S. 23; Horst Friedrich / Ute Brauer, Arbeitslosigkeit. Dimensionen. Ursachen. Bewältigungsstrategien, Opladen 1985, S. 22 f. 366 Vgl. Hauser / Fischer / K lein, Verarmung durch Arbeitslosigkeit, S. 241.

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stärker von Arbeitslosigkeit und finanzieller Deprivation betroffen waren. In Großbritannien waren dies Nordengland und Wales, in der Bundesrepublik das Ruhrgebiet, die Saarregion und die nordwestdeutsche Küstenregion. Inwiefern die regionalen Ungleichheiten in Großbritannien stärker ausgeprägt waren, lässt sich, gerade in Relation zu wirtschaftlich prosperierenden Landesteilen schwer beurteilen, zudem die Erfahrung von Armut in »strukturschwachen« Regionen u. U. weniger stigmatisiert und deshalb seltener attestiert wurde.367 In beiden Ländern trugen Langzeitarbeitslose, d. h. diejenigen, die länger als zwölf Monate arbeitslos waren, das höchste Armutsrisiko. Mit einem Einkommen, das unter 50 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens lag, waren 51,5  Prozent aller registrierten Langzeitarbeitslosen in der Bundesrepublik in den 1980er-Jahren arm und 63,9  Prozent in Großbritannien in den 1990er-Jahren.368 Die Anzahl der Langzeitarbeitslosen stieg in beiden Ländern kontinuierlich und noch einmal beschleunigt in den frühen 1980er-Jahren. Anfang der 1970er-Jahre lag die Dauer von Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik durchschnittlich bei zwei Monaten, 1983 bei über sieben Monaten.369 Waren 1980 noch 12,9 Prozent aller Arbeitslosen länger als ein Jahr arbeitslos gemeldet, waren es 1985 bereits 31 Prozent. In Großbritannien waren 1974 noch knapp 127.000 Männer und Frauen länger als ein Jahr arbeitslos und machten damit 20  Prozent aller Arbeitslosen aus.370 1979 waren es 1,4 Millionen und 1984 schließlich knapp drei Millionen demgemäß definierte Langzeitarbeitslose und damit 25 bzw. 37  Prozent aller registrierten Arbeitslosen.371 Das Risiko langfristig arbeitslos zu werden und dauerhaft arbeitslos zu bleiben, war sozial strukturiert und nahm mit dem Alter und bei gesundheitlich Eingeschränkten zu.372 Faktoren sozialer Vulnerabilität kumulierten. Im Fall von Familien, in denen ein Haushaltsvorstand arbeitslos wurde, wirkte sich das Verarmungsrisiko auf die im Haushalt lebenden Kinder aus. Laut der Breadline Britain-Untersuchung aus dem Jahr 1983 lebten etwa 1,65 Millionen Erwachsene und fast eine Million Kinder in Großbritannien aufgrund von Arbeitslosigkeit in Armut. Etwa die Hälfte der Erwachsenen und mehr als die Hälfte der Kinder lebten in nicht näher definierter »extremer Armut«.373 Die

367 Die regionale Ungleichheit betonend: Winfried Süß, Armut im Wohlfahrtsstaat, in: ders. / Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Soziale Ungleichheit im Sozialstaat. Die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien im Vergleich, München 2010, S. 19–41, hier: S. 32; zur Stigmatisierung: vgl. Burnett, Idle Hands, S. 284. 368 Vgl. Haagenaars, The Perception of Poverty, S. 44 f. 369 Vgl. Hauser  /  Fischer  /  K lein, Verarmung durch Arbeitslosigkeit, S.  217; Heinelt  /  Wacker / Welzer, Arbeitslosigkeit in den 70er und 80er Jahren, S. 265. 370 Department of Employment Gazette 86 (1978), S. 99. 371 Employment Gazette 88 (1980), S. 75; Employment Gazette 93 (1985), S. S35. 372 Vgl. Heinelt / Wacker / Welzer, Arbeitslosigkeit in den 70er und 80er Jahren, S. 265–267; Sinfield, What Unemployment Means, S. 89. 373 Zitiert nach: Room / Henningsen, Neue Armut in der Europäischen Gemeinschaft, S. 88.

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Schätzungen für die Bundesrepublik für die frühen 1980er-Jahre belaufen sich auf ca. 150.000 bis 280.000 Familien, die aufgrund von Arbeitslosigkeit in Armut lebten, d. h. über ein Einkommen am Rande des Existenzminimums verfügten.374 In Erhebungen des IAB gaben 74 Prozent dahingehend befragter Familienväter finanzielle Belastungen an, 42 Prozent, dass ihre Kinder darunter leiden.375 In beiden Ländern waren alleinerziehende Mütter überdurchschnittlich von Armut betroffen.376 Deutsche Forschung betont daneben gern die Abhängigkeit von Armut von der Anzahl der finanziell abhängigen Familienmitglieder.377 Durchaus in distinktivem Ton gegenüber der kinderreichen, arbeitslosen »Unterschicht« konstatieren die Forscher das zunehmende Verarmungsrisiko kinderreicher Arbeitsloser: »Langfristarbeitslose müssen für überdurchschnittlich große Familien sorgen und sich zugleich mit der geringsten Versorgungsleistungen zufrieden geben.«378 Die materiellen Einschränkungen bedeuteten, so die zeitgenössische Sozialforschung, für die Kinder der betroffenen Familien ein »Aufwachsen in Armut«.379 Bei den sozial üblichen Standards an Bekleidung und Spielsachen konnten die Eltern finanziell nicht mithalten. Gleichfalls schränkte sich der finanzielle Spielraum für die Freizeitgestaltung und Ausbildung der Kinder ein. In der Regel wurden in einschlägigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen soziale Stigmatisierungs- und psychische Deprivationsprozesse in Verbindung mit Arbeitslosigkeit in der Familie angenommen, bis hin zur Zunahme innerfamilialer Gewalterfahrungen. Der empirische Nachweis solche Annahmen bewegte sich 374 Vgl. Laszlo A.  Vascovics, Arbeitslosigkeit und Familienarmut, in: Soziale Probleme 2 (1991), S. 3–16, hier: S. 6; allgemein auch: Heinelt / Wacker / Welzer, Arbeitslosigkeit in den 70er und 80er Jahren, hier: S. 304–309. 375 Vgl. Christian Brinkmann, Familiale Probleme durch Langzeitarbeitslosigkeit, in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.), Familie und soziale Arbeit: Familienideal, Familienalltag – neue Aufgaben für die soziale Arbeit, Frankfurt / Main 1987, S. 550–574; Christian Brinkmann, Die individuellen Folgen langfristiger Arbeitslosigkeit. Ergebnisse einer repräsentativen Längsschnittuntersuchung, in: Mitt AB 17 (1984), S. 454–473, hier: S. 467. 376 Vgl. Vascovics, Arbeitslosigkeit und Familienarmut, S. 3; Room / Henningsen, Neue Armut in der Europäischen Gemeinschaft, S. 98 ff.; Angela Coyle, Redundant Women, London 1984, S. 104 f. 377 Vgl. Vascovics, Arbeitslosigkeit und Familienarmut, S. 3; Reinhard Bahnmüller, Die ohnmächtige Wut. Soziale Lage und gesellschaftliches Bewußtsein von männlichen Arbeitslosen mit qualifiziertem Berufsabschluß, Frankfurt / Main, New York 1981, S. 92. 378 Karl G.  Zenke / Günter Ludwig, Kinder arbeitsloser Eltern, in: Mitt AB 18 (1985), S. ­265–277, hier: S. 271. 379 Vgl. Christa Neuberger, Auswirkungen elterlicher Arbeitslosigkeit und Armut auf Familien und Kinder  – ein mehrdimensionaler empirisch gestützter Zugang, in: Ulrich Otto (Hrsg.), Aufwachsen in Armut. Erfahrungswelten und soziale Lagen von Kindern armer Familien, Opladen 1997, S. 79–122, spez. S. 97; Thomas Kieselbach, Familie unter dem Druck der Arbeitslosigkeit. »Opfer durch Nähe« und Quelle sozialer Unterstützung, in: Klaus Menne / K nud Alter (Hrsg.), Familie in der Krise, Weinheim, München 1988, S. 47–76; Burnett, Idle Hands, S. 281.

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jedoch auf brüchigem Boden und, in den deutschen Sozialwissenschaften, auf normativen Voraussetzungen eines spezifischen, die sozialen Chancen per se mindernden »Unterschichtenfamilismus«, der als strukturtheoretischer Interpretationsansatz aus den 1960er-Jahren stammte.380 Die Stimmen, die von arbeitslosen Haushaltsvorständen, z. B. von arbeitslosen Familienvätern überliefert sind, bezeugen hingegen im Einzelfall finanzielle Zwangslagen mit weitreichenden Konsequenzen für die eigene Lebensführung. Der vom SOFI befragte Karl-Heinz, der selbst, wie erwähnt, die finanziellen Einschränkungen durch Arbeitslosigkeit als »allgemeine Verarmung« einschätzte, hatte als Holzbildhauer in der Möbelindustrie gearbeitet und war nach fünf Jahren unregelmäßiger Beschäftigung zum Zeitpunkt des Interviews malwieder arbeitslos. Seine erste Sorge galt seinen acht Kindern: Ich kann den Kindern, die ich habe – einer ist noch minderjährig – nicht mehr den Schutz geben, den sie verdienen. Davon abgesehen gibt es eine Menge Ärgernisse, familiäre Probleme, Freundschaften, die aufgelöst worden sind. Finanziell kommt man einfach nicht mehr mit. Das ist im Prinzip schon Armut.381

Für den 54-jährigen bestand seine »Erfüllung (…) in Arbeit und Einkommen«, da dies ihn »immer befriedigt« und seine »Familie gesichert« hätte.382 Karl-Heinz, ehemals Mitglied im Fußball- und Tennisverein, musste aus finanziellen Gründen seine Freizeitgewohnheiten komplett ändern. Sowohl Sport- als auch Kulturveranstaltungen konnte er sich nicht mehr leisten. Die Familie hatte weder Auto noch Telefon, zudem klagte er im Interview wiederholt über seine überteuerte Mietwohnung, deren Mietvertrag er nicht kündigen könne. Von ähnlichen Problemen berichtete Ulf, erwähnter arbeitsloser Tischlergeselle, dessen finanzielle Einbußen aufgrund seiner bald einjährigen Arbeitslosigkeit »grausam« waren.383 Zum Zeitpunkt des Interviews bezog Ulf noch Arbeitslosengeld. Es war aber absehbar, dass er in drei Monaten Arbeitslosenhilfe zu beantragen hatte, die seine Lebenshaltungskosten nicht ausreichend decken würde, sodass er ergänzend auf Sozialhilfe angewiesen sein würde. Ulf, der eine Lehre als Klavierbauer abgebrochen und auf Tischlerei umgesattelt hatte, war Vater zweier Kinder, davon ein Kleinkind, das im Haushalt lebte und einer, gleichfalls arbeitslosen, erwachsenen Tochter. Die finanziellen Einschränkungen, die er schilderte, griffen in alle Lebensbereiche ein. Auch bei ihm stand die Sorge um seine Kinder im Vordergrund: »Bei der Ernährung, im Kühlschrank 380 Vgl. Zenke / Ludwig, Kinder arbeitsloser Eltern, S. 275 f.; in Bezug auf den »Unterschichtenfamilismus« Neidhardts, erstmals angelegt bei: Friedhelm Neidhardt, Schichtspezifische Vater- und Mutterfunktionen im Sozialisationsprozeß, in: Soziale Welt 16 (1965), S. 339–348. 381 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. U 67, S. 1; auch zitiert in: Kronauer / Vogel / Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft, S. 165. 382 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. U 67, S. 8. 383 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. N 9, S. 1.

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ist selten mal was drin. Bei Erholung und so, vor allem die Kinder, mal in den Zoo gehen, Sachen kaufen, ein Konzert besuchen oder gemeinsam ins Kino ist nicht drin.«384 Die Familie war bereits in eine günstige und kohlegeheizte Wohnung umgezogen, besaß kein Auto und war dennoch verschuldet. Eigenen Konsum stellte Ulf zurück: »Wenn die Kinder mal was brauchen, das ist wichtiger.«385 Eine zeitweilige Trennung von seiner Ehefrau lag, als Ulf interviewt wurde, ein halbes Jahr zurück und wird von ihm wesentlich auf die finanziellen Einschränkungen seiner Arbeitslosigkeit zurückgeführt: Man sitzt sich mehr auf der Pelle und streitet um jede Kleinigkeit, z. B. ich möchte gern mal was Gutes essen. Meine Frau kann dann nichts kaufen. Meine Frau ist noch mehr unzufrieden, weil sie nichts kaufen kann für die Kleine, dann laufen da keine guten Worte mehr.386

In Großbritannien war die finanzielle Situation für Familien mit Kindern, die von Arbeitslosigkeit betroffen waren, den überlieferten Zeugnissen Arbeitsloser nach, noch prekärer. Untersuchungen im Nordosten Englands zum Lebensstandard von Sozialhilfeempfängern in den frühen 1980er-Jahren erbrachten, dass nahezu alle befragten Familien verschuldet waren und bis zu elf Prozent ihres wöchent­ lichen Einkommens für Rückzahlungen aufwenden mussten.387 »We’re not living, we’re just existing,« kommentierte einer der Arbeitslosen seine missliche Lage.388 Oftmals beruhte die Verschuldung auf den Kosten für Miete und Heizung bzw. den Schwierigkeiten, überhaupt geeigneten Wohnraum zu finden. Hauseigentum war in Großbritannien viel verbreiteter als in der Bundesrepublik und aufgrund überteuerter Mietpreise und eines seit den 1960er-Jahre massiv geschrumpften Immobilienangebots für Mietwohnungen die einzige Wohnmöglichkeit für Familien mit Kindern.389 Bezeichnend für die mauen Chancen von Familien auf dem Immobilienmarkt ist, dass sich bereits Anfang der 1970er-Jahre und begünstigt durch eine gesetzliche Regelung, legal leerstehenden Wohnraum beanspruchen zu können, »Family Squatting Associations« in London gründeten, die unbewohnte Häuser zu Wohnzwecken besetzten.390 Assoziiert man »Hausbesetzung« in der Bundesrepublik mit der Protestpraxis jugendlicher Subkultur und einer eigenen »Hausbesetzerszene«, war es in Großbritannien schlichte Selbsthilfe in Notlage und sozial weit verbreitet. Die Abhängigkeit vom Hauseigentum und den da­

384 Ebd. 385 Ebd., S. 2. 386 Ebd., S. 3. 387 Vgl. Burnett, Idle Hands, S. 282. 388 Zitiert nach: ebd. 389 Vgl. Marwick, British Society since 1945, S. 369 f.; Todd, The People. The Rise and Fall of the Working Class, S. 303 f. 390 Vgl. Bishopsgate Institute’s Special Collections and Archives. ASS/7, Squat! Newsletter of the Family Squatting Movement. Nr. 2, Juli 1972.

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raus folgenden finanziellen Verpflichtungen, verschärfte wiederum in gewisser Weise das Problem der Arbeitslosigkeit, da die räumliche Mobilität arbeitsloser Hausbesitzer abnahm.391 So erging es auch einem arbeitslosen, knapp 20-jährigem Familienvater aus Sunderland (Nordostengland), der versucht hatte, in London Arbeit zu finden.392 Nachdem ihm nur Niedriglohnarbeit im Catering angeboten wurde und kein finanzierbarer Wohnraum für seine Familie vorhanden war, kehrte er verschuldet nach Sunderland zurück, wo er mit seiner schwangeren Ehefrau (19 Jahre) und zwei Kindern in der Sozialwohnung seiner Schwiegereltern einen Raum bewohnte. Spärlich möbliert mit Bett und Schrank, herumliegenden Kleidungsstücken, Lebensmittel und Spielsachen – so wird der Wohnraum der Familie vom Journalisten Jeremy Seabrook in seiner Sozialreportage über Arbeitslosigkeit in England in den 1980er-Jahren vorgestellt und damit durchaus auf bildhafte Klischees von Armut und Arbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise Bezug genommen: räumliche Enge, Unordnung und Vernachlässigung. Gleichwohl ist der finanzielle Mangel der Familie nicht überzeichnet, wenn der Arbeitslose zitiert wird: My wife has known nothing but debt and poverty ever since we’ve been married. (…) I know I ought to feel glad, being able to spend so much time with my kids while they’re young. But what can I give them? I just feel empty. I’m ashamed I can’t provide them with everything they need. What kind of father is that?393

Die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Familiengefüge und die Selbstbilder Arbeitsloser im Familienverband, die in diesem Zitat aufleuchten, werden in der zeitgenössischen Literatur einmütig bestätigt. Ein Fünftel der Befragten einer Untersuchung zur sozialen Lage arbeitsloser Männer, die Ende der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik durchgeführt wurde, gab an, dass, »wenn der Mann das Geld für den Unterhalt der Familie nicht mehr beibringen kann (…) auch automatisch seine Autorität« schwindet.394 Andere beschreiben die Mangelerfahrung als eine Erfahrung des Familienverbunds bzw. der Eltern, die den Wünschen ihrer Kinder nicht mehr nachkommen können: The children can’t understand why they never have a holiday. They can’t understand why they don’t get new clothes like their friends do. We try to tell them, but they don’t understand. It’s a strain when they cry (…) At Christmas they won’t go out of the house because the others are bragging about what they’ve got.395

391 392 393 394 395

Vgl. Sinfield, What Unemployment Means, S. 30–32. Vgl. Seabrook, Unemployment, S. 3. Ebd., S. 3. Zitiert nach: Bahnmüller, Die ohnmächtige Wut, S. 101. Zitiert nach: Burnett, Idle Hands, S. 282.

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Die Situation dieser arbeitslosen Männer sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass finanzielle Einbußen aufgrund von Arbeitslosigkeit vor allem bestehende Einkommensunterschiede während der Erwerbsarbeit verschärften. Vormalige ›Randgruppen‹ des Arbeitsmarkts waren sowohl im deutschen einkommensabhängigen Versicherungssystemen als auch im britischen steuerfinanzierten System deutlich schlechter abgesichert als die männliche ›Kerngruppe‹.396 Hauptbetroffene von Armut infolge von Arbeitslosigkeit waren vor allem diejenigen, die aufgrund niedriger Entlohnung aus den Sicherungssystemen herausfielen: un- und angelernte Arbeiter und insbesondere Arbeiterinnen, Migrantinnen und Migranten sowie Jugendliche. Ein Großteil der erwerbslosen Frauen tauchte nicht in den Arbeitslosen­ statistiken auf oder galt per Gesetzesdefinition nicht als arbeitslos. Ihre Armut war dann nicht als Armut Arbeitsloser sichtbar. In Großbritannien wurden arbeitslose, verheiratete Frauen bis 1977 nicht in der Arbeitslosenversicherung geführt, da sie die Option geringerer Beitragszahlungen zum nationalen Versicherungssystem bei Verzicht auf Arbeitslosenversicherung gewählt hatten.397 Als 1980 die Textilfabrik Roger Firth ihre Niederlassungen im englischen Yorkshire schloss, meldeten sich in Konsequenz ein Drittel der entlassenen Frauen gar nicht erst arbeitslos.398 Die finanzielle Lage war in diesem Fall wie allgemein für arbeitslose alleinstehende und erst recht allein erziehende, geschiedene oder verwitwete Frauen dramatischer als für verheiratete Frauen.399 Allerdings berichteten auch verheiratete Frauen über finanzielle Probleme, da die Familie mit dem Einkommen der Ehefrau gerechnet hatte bzw. der Ehemann nicht genug verdiente. In jedem Fall bedeutete Arbeitslosigkeit für die Frauen einen Verlust ihrer finanziellen Autonomie. »I’ve always been very independent, so now I tend to ask his advice on things whereas before I’d have just done it. I’ve felt it terribly, that loss of independence,« berichtet eine der bei Roger Firth entlassenen Frauen, die sich selbst nun dabei ertappte, ihren eigenen Konsum einzuschränken: »Some­times he’ll say, ›Is this your second packet of cigarettes today?‹. Well at one time I’d have said, ›Well who’s buying them?‹ but I can’t now. I say, ›Oh well I’m not buying one tomorrow.‹ You lose your independence.«400 Auch für Jugendliche war Arbeitslosigkeit mit Autonomieverlust verbunden, banden sie die finanziellen Einschränkungen doch länger an ihr Elternhaus. Die fortdauernde finanzielle Abhängigkeit nach Schule oder Ausbildung, das »den Eltern auf der Tasche liegen«, »das Betteln um jeden Pfennig«, schränkte, so zeitgenössische Umfragen, die eigene Selbstwirksamkeit von Jugendlichen 396 Vgl. Hans O. Hemmer / Ingeborg Wahle-Homann (Hrsg.), Auf den Schrott geschmissen? Arbeitslose zwischen Resignation und Selbstfindung, Köln 1986, S. 145 f.; McIvor, Working Lives, S. 254. 397 Freiburghaus, Die Messung der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, S. XXIf.; Garside, The Measurement of Unemployment, S. 86. 398 Vgl. Coyle, Redundant Women, S. 46. 399 Vgl. ebd., S. 105 f. 400 Zitiert nach: ebd., S. 107.

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ein.401 Konsum- und Freizeitverhalten mussten den frugalen finanziellen Mitteln angepasst oder kurzfristig organisiert werden. Biographisch folgenschwerer konnte es sein, wenn der materielle Rückhalt fehlte, die Familienverhältnisse dysfunktional oder die Eltern der arbeitslosen Jugendlichen bereits verstorben waren. Eine Umfrage der deutschen Bundesregierung erbrachte, dass zwar Anfang der 1980er-Jahre nur eine »kleine Minderheit« von jungen Arbeitslosen von existentieller Not betroffen war, d. h. »tagelang nur von Nudeln und Brot« lebte, sich »keine Kleidung« leisten konnte oder auf der Straße betteln ging.402 Die biographischen Konsequenzen für diese »kleine Minderheit« blieben freilich im Dunkeln. Sozialkritische Literatur beider Länder stellte den Bezug zwischen jugendlicher Armut und jugendlicher Delinquenz her. »Und dann hab’ ich angefangen zu klauen. Irgendwie mußt du ja zu Geld kommen. Sonst wirst du bescheuert,« wird Klaus zitiert, 18 Jahre alt, der nur zwei Monate als angelernter Arbeiter in einer Textilfabrik beschäftigt war, bevor diese geschlossen wurde.403 Ohne Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, hatte er keine »Lust« zum Sozialamt zu gehen und begann im Kaufhaus »Hosen, Schallplatten, allen möglichen Scheiß« zu klauen und weiterzuverkaufen, denn »Ich brauchte Geld. Ich mußte ja leben können.«404 Sozialkritisch gewendet, rehabilitierte die Literatur hier auch ein kriminologisches Motiv des 19. Jahrhunderts, demnach delinquentes Verhalten als eine Folgeerscheinung von Arbeitslosigkeit betrachtet wurde, und Arbeitslosigkeit als Faktor sozialer Deprivation deshalb eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellte. Empirisch blieb der Zusammenhang vage und war für die Jugendarbeitslosigkeit der 1970er- und 1980er-Jahre in Großbritannien schwach und in der Bundesrepublik nicht zwingend stichhaltig.405 Die Dimensionen der materiellen Deprivation und des sozialen Abstiegs infolge von Arbeitslosigkeit sind generell schwer abzuschätzen. In der Bundesrepublik waren »verarmte« Arbeitslose statistisch aus den Sozialhilfeempfängern im Grunde nicht herauszurechnen. Annahmen von »Sozialhilfekarrieren«, ob Nicht-Erwerbstätigen in der »Armutsfalle« Sozialhilfe dauerhaft verblieben 401 Zitiert nach: SINUS -Institut, Die verunsicherte Generation. Jugend und Wertewandel. Im Auftrag des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, Opladen 1983, S. 116; vgl. für Großbritannien: Coffield / Borrill / Marshal, Growing up at the Margins, S. 59–62. 402 SINUS -Institut, Die verunsicherte Generation, S. 119. Die Studie wurde bereits unter der sozialliberalen Bundesregierung in Auftrag gegeben. 403 Zitat: Balsen / Nakielski / Winkel, Die neue Armut, S. 167. 404 Zitat: ebd., S. 168. 405 Vgl. Peter Malinowski, Jugendkriminalität: ein Folgeproblem von Jugendarbeitslosigkeit? Diskussion und Revision einer »klassischen« Fragestellung der Kriminalsoziologie, in: Manfred Brusten / Peter Malinowski (Hrsg.), Jugend: ein soziales Problem? Theoretische Positionen, empirische Forschungen und kritische Analysen zu einer immer dringlicheren gesellschaftspolitischen Frage, Opladen 1983, S. 232–264; dagegen: Fiona Carmichael / Robert Ward, Youth Unemployment and Crime in the English Regions and Wales, in: Applied Economics 32 (2000), S. 559–571.

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oder aber, wie es neuere dynamische Armutsforschung der frühen 1990er-Jahre propagierte, der Bezug von Sozialhilfe ergebnisoffen den Sozialhilfebeziehern Handlungsmöglichkeiten eröffnete, waren empirisch kaum schlüssig nachzuweisen.406 Der Transfer in andere Sozialleistungen, wie Rente, machte in den 1980er-Jahren immer noch den größten Anteil derer aus, die Sozialhilfe verließen, damit aber nicht unbedingt ihre prekäre Lebenslage beendeten. Wie bei der Frage nach möglichen Bezügen zwischen Delinquenz und Arbeitslosigkeit war zudem der analytische Blick zeitgenössischer Sozialwissenschaften auf soziale Problemlagen Arbeitsloser und damit die Überlieferung von Daten zur sozialen Mangelsituation Arbeitsloser, mehr oder minder politisch und moralisch überformt. Eine Reihe von Untersuchungen waren advokatorische Sozialreportagen, die nicht auf Repräsentativität ausgelegt waren. Andere – dies gilt insbesondere für die Mittelschichtssoziologie der Bundesrepublik – waren bis in die 1980er-Jahre oftmals überschattet von sozialen Vorannahmen und Vorurteilen gegenüber Problemlagen arbeitsloser »Unterschichten«, die kriminalisiert oder sozial pathologisiert wurden.407 Nicht zuletzt unterlagen Arbeitslose allgemeinen Deprivations- oder fiskalischen Entwicklungen, von denen sie allerdings gravierender finanziell betroffen waren. So stieg in beiden Ländern die Verbraucherverschuldung durch Konsumenten- und Immobilienkredite während der 1970er-Jahre.408 Zwar war Arbeitslosigkeit per se nicht ursächlich für Verschuldung. Aber eine während der Kreditlaufzeit eintretende Arbeitslosigkeit war problematisch, um einen laufenden Kredit zu bedienen. Zahlungsverzug trat ein und Privatinsolvenzen drohten. Auch die Zahl der Wohnungslosen nahm in der zweiten Hälfte der 1970erund in den 1980er-Jahren zu. In der Bundesrepublik wird ihre Zahl 1972 noch auf 60.000 geschätzt und 1982 dann auf 80.000.409 In Großbritannien war das Problem virulenter bzw. statistisch besser erfasst. Allein in England registrierte man einen Anstieg der Wohnungslosen von 53.000 im Jahr 1978 auf 148.000 im Jahr 1991.410 Neben anziehenden Immobilienpreisen oder Wohnungsnot 406 Vgl. Lutz Leisering, Armut hat viele Gesichter. Vom Nutzen dynamischer Armutsforschung, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für Öffentliche und Private Fürsorge 73 (1993), 8, S. 297–305; Herbert Jacobs, Wer dramatisiert denn hier? Anmerkungen zum Forschungsprojekt »Sozialhilfekarrieren«, in: Sozialer Fortschritt 43 (1994), S. 121–128; Christoph F. Büchtemann, Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit, in: Mitt AB 18 (1985), S. 450–466. 407 Vgl. John Payne / Clive Payne, Recession, Restructuring and the Fate of the Unemployed. Evidence in the Underclass Debate, in: Sociology 28 (1994), S. 1–19. 408 Vgl. Udo Reifner, Verbraucherverschuldung und Arbeitslosigkeit. Soziale Problematik und zivilrechtliche Bewertung, in: Arbeitslosigkeit als Problem der Rechts- und Sozialwissenschaften. Hrsg.  v.  d. Vereinigung für Rechtssoziologie, Baden-Baden 1980, S. 355–387; Burnett, Idle Hands, S. 282. 409 Vgl. Hauser / Fischer / K lein, Verarmung durch Arbeitslosigkeit, S. 235. 410 Vgl. Glen Bramley, Explaining the Incidence of Statutory Homelessness in England, in: Housing Studies 8 (1993), S. 128–147, hier: S. 128.

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Soziale Mobilität oder der fast unaufhaltsame Abstieg der Arbeitslosen

wird auch die wachsende Arbeitslosigkeit für diese Entwicklung zur Erklärung herangezogen. Ein arbeitsloser Jugendlicher aus dem vom Niedergang der Werftindustrie gebeutelten Sunderland und aufgewachsen im Vorort Pennywell, einem der größten sozialen Wohnungsbauprojekte der Nachkriegszeit, deutet schließlich die letzte Konsequenz der eigenen Hoffnungslosigkeit an: »You feel like killing yourself; perhaps somebody’d notice you then.«411 Die Suizid-Metapher sei unter den arbeitslosen Jugendlichen der Gegend gängig und bedeutete in der Regel keine ernsthafte Gefahr der Selbsttötung, so der Journalist Jeremy Seabrook in seiner Sozialreportage über Arbeitslosigkeit in England in den frühen 1980er-Jahren. Allerdings wird der Zusammenhang zwischen Suizidrate und Arbeitslosenquote in der Literatur teilweise als hinreichend eingestuft. Eine Untersuchung in einem Edinburgher Krankenhaus über versuchten Suizid von Männern, kam zu dem Ergebnis, dass 1983 zehnmal mehr Arbeitslose versuchten, sich zu suizidieren als Erwerbstätige.412 Andere Studien sprechen von einem doppelt so hohen Risiko von Suizid unter Erwerbslosen im Vergleich zu Erwerbstätigen.413 Dennoch war Arbeitslosigkeit vermutlich nur einer der Gründe unter anderen für parasuizidale Handlungen bzw. Arbeitslosigkeit unter Suizidgefährdeten unter Umständen verbreiteter. Über Annahmen wahrscheinlicher Korrelationen zwischen ansteigender Suizid- und Arbeitslosenquote in den späten 1970er-Jahren kam die deutsche Literatur nicht hinaus.414 Karl-Heinz, erwähnt als arbeitsloser Familienvater, beschreibt Arbeitslosigkeit als eine Erniedrigung, die geradezu erstklassig ist. Man zeigt nicht nur mit Fingern auf Arbeitslose, sondern unterstellt ihnen auch, sie seien nicht mobil usw. Einige sagen auch, wer Arbeit haben will, der kriegt auch welche, das ist so ein Schwachsinn. (…) Man muß alles zurückstellen, Einkäufe, Anschaffungen, einfachstes Essen, um die fixen Kosten pünktlich zahlen zu können.415

Die despektierlichen Zuschreibungen anderer, für ihn Anlass der »erstklassigen Erniedrigung«, waren für ihn unmittelbar mit seinen finanziellen, materiellen Einschränkungen assoziiert. Der Prozess der »allgemeinen Verarmung«, dem er in Folge seiner Arbeitslosigkeit ausgeliefert war, ging mit subjektivierender Abwertung einher. Solche Erfahrungen von Verarmung als Prozess von Deklassierung, der mit sozialer Abwertung einhergeht, bezeichnete der französische Soziologe Serge 411 Zitiert nach: Seabrook, Unemployment, S. 114. 412 Vgl. Stephen Platt, Recent Trends in Parasuicide (›Attempted Suicide‹) and Unemployment among Men in Edinburgh, in: Sheila Allen / A lan Waton / Kate Purcell / Stephen Wood (Hrsg.), The Experience of Unemployment, Basingstoke 1986, S. 150–167; Burnett, Idle Hands, S. 294. 413 Vgl. McIvor, Working Lives, S. 265. 414 Vgl. Klees, Arbeitslosigkeit und Recht, S. 32 f. 415 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. U 67, S. 2.

Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt

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Paugam als »disqualifizierende Armut«.416 Insbesondere in den Ländern Westeuropas, namentlich der Bundesrepublik und Großbritannien, seien pekuniäre Verarmungsprozesse Folge von Arbeitslosigkeit seit Mitte der 1970er-Jahre. Diese Verarmung situiere sich im Verhältnis zur Prosperität von Arbeitsgesellschaften und ihren Soziabilitätsinstanzen. Im Verlauf anhaltender Arbeitslosigkeit werde der oder die Arbeitslose aufgrund seiner eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten sozial disqualifiziert, d. h. vom gewohnten Lebensstandard, vom vertrauten Sozialleben und den Sozialbeziehungen dieser Arbeitsgesellschaften ausgeschlossen. Arbeitslosigkeit als sozial kontingentes Ereignis, das gesellschaftlich weit verbreitet, wenngleich sozial nicht gleichermaßen folgenreich war, führte zu Verarmung – sie war nicht vererbt und insoweit war die soziale Disqualifikation eine Erfahrung des oder der Arbeitslosen, die hier als eine subjektivierende begriffen wird. So wie Karl-Heinz sich in seinen Einkäufen einschränken muss, seinen Vereinstätigkeiten nicht mehr nachkommen konnte und sich sein Freundeskreis aufgelöst hatte, so bedeutete die Erwerbslosigkeit »für viele tagtäglich (…) eine ganze Reihe von kleinen und großen Demütigungen.«417 Das arbeitslose Subjekt, das den Verarmungsprozessen in Folge von Arbeitslosigkeit in den 1970er- und 1980er-Jahren verstärkt ausgesetzt war, lässt sich als ein solches »disqualifiziertes Subjekt« lesen, das aus den produktiven, konsumtiven und sozialen Sphären von Gesellschaft zunehmend ausgegrenzt wurde und diese Ausgrenzung als Abwertung erfuhr.

416 Vgl. Serge Paugam, Die elementaren Formen der Armut, Hamburg 2008, S. 117 f., 213– 269. 417 Ebd., S. 246.

VII. Das arbeitslose Subjekt: Fährten in die Gegenwart

1. Diffamierung und Disqualifizierung Die Subjektivierung von Arbeitslosen in den 1970er- und 1980er-Jahren ist eine Subjektivierung, die sich entgegenzustellen hatte. Die Selbstführung von Arbeitslosen in diesen Jahren nahm Formen einer Selbstbehauptung an, die in erster Linie auf soziale Techniken von Diffamierung und Disqualifizierung zu reagieren hatte. Diffamierung und Disqualifizierung sind hier nicht nur zu verstehen als Vorurteile oder emotive, rhetorische Stereotype, sondern als Subjektivierungstechniken, die in Sozialstrukturen und Sozialpolitiken wirksam waren und sich folgenschwer in die Biographien und Selbstverhältnisse arbeitsloser Subjekte einschrieben. Explizite Konfrontation mit abwertender Diskriminierung als Arbeitslose und soziale Deklassierung, die mit Arbeitslosigkeit einherging, spielten in der Erfahrung von Arbeitslosen ineinander und führten wiederum zu Selbstattributierungen von Minderwertigkeit. Diese Erfahrungen sozialen Abstiegs und sozialer Abwertung bezeichnet Serge Paugam als »soziale Disqualifikation«.1 Spuren dieser diffamierenden und disqualifizierenden Subjektivierungstechniken werden auf verschiedenen Ebenen der sozialen Regierung der Massenarbeitslosigkeit der 1970er- und 1980er-Jahre erkennbar. Offensichtlich sind die Diffamierungstechniken der »Faulheitskampagnen« gegen Arbeitslose, die in der Forschung altbekannt, in beiden Ländern von den konservativen Parteien in Opposition und Regierung ausgingen. In der Bundesrepublik und weit ausgreifender in der britischen »Scroungerphobia« wurden seit Mitte der 1970er-Jahren Arbeitslose als Drückeberger und Sozialschmarotzer diffamiert, sich steigernd bis zu Symbolfiguren des Sozialschmarotzertums wie »Florida-Rolf« im frühen 21. Jahrhundert. In Großbritannien von der Boulevardpresse von Anfang an mitbefeuert, waren die Topoi der arbeitslosen Nichtstuer allemal hinreichend, restriktive Sozialpolitiken gegenüber Arbeitslosen in den 1980er-Jahren zu begründen. 1 Vgl. zur sozialen Disqualifikation: Paugam, Die elementaren Formen der Armut; T ­ homas Gurr analysierte gleichfalls (Langzeit-)Arbeitslosigkeit mit dem Konzept der sozialen Disqualifikation, begreift diese aber vorwiegend als Stigmatisierung. Die Ergebnisse der Untersuchung von 2019 bestätigen aber den hier vorgestellten Ansatz vgl. Thomas Gurr, Untersuchungen Sozialer Disqualifizierung. Beiträge zur Analyse von Arbeitslosigkeit und Sozialen Hilfen, Diss. Phil. Univ. Hannover 2019, https://www.repo.uni-hannover.de/ handle/123456789/4720, 30.01.2023.

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Das arbeitslose Subjekt: Fährten in die Gegenwart

Dabei war der Bestand an Vorurteilsmustern älteren Datums gegenüber so genannten Arbeitsscheuen, faulen Arbeitslosen oder Arbeitsverweigerern mehr als ausreichend.2 Seit dem 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten beide Länder eigene und teilweise verknüpfte Traditionen von Arbeitsethos, Arbeitspflichten und Arbeitsideologie auszuweisen: die Arbeitsorientierung des Sozialismus, in Großbritannien der Viktorianismus und in ganz anderen Ausmaßen die »Arbeitsschlachten« des deutschen Nationalsozialismus, die aber je für sich Anschlussstellen wie Reibungsflächen von Diffamierungsmetaphern von Arbeitslosen waren. Wie penetrant diffamierende »Faulheitsvorwürfe« gegenüber finanziell Bedürftigen sind und dass diese keineswegs der Vergangenheit angehören, sondern bis in die Gegenwart immer wieder aus der Trickkiste politischer Polemik gezogen werden, zeigen hinreichend Diskussionen um das zum 1. Januar 2023 eingeführte Bürgergeld, das in der Bundesrepublik Arbeitslosengeld II (»Hartz IV«) ersetzt und das in seinen geringfügigen Abweichungen von Sanktionspolitiken bereits die Arbeitsmoral von Geringverdienenden gefährden soll.3 Subjektivierungstechniken von Diffamierung und Disqualifizierung waren dicht in die sozialen Regierungsweisen von Arbeitslosigkeit eingewebt. Adressierungen vermeintlicher Inaktivität von Arbeitslosen, wahlweise auch ihrer der Allgemeinheit unzumutbaren beruflichen Ambitionen, durchziehen die legislativen Interventionen dieser Jahre. Die Spielräume sozialer Mobilität für Arbeitslose wurden kleiner bzw. sind gleichzusetzen mit Erfahrungen sozialer Deklassierungen und sozialen Abstiegs. In den zentralen Instanzen der Subjektivierung Arbeitsloser, den Arbeitsverwaltungen und Arbeitsämtern, waren die Abläufe in den 1970er- und 1980erJahren von widerstrebenden Prozessen gekennzeichnet. Einerseits in die Modernisierung staatlicher Verwaltung eingebunden, versandeten andererseits Aufbruch und Reformeifer in Überlastung und Überforderung. Auf konzeptioneller Ebene der aktiven Arbeitsmarktpolitiken wandelten sich die Adressierungen an Arbeitslose von präventiver Verhinderung der Arbeitslosigkeit zu ihrer kurativen Verminderung. In legislativer Regulierung führte dies zu Politiken administrativen Misstrauens gegenüber Arbeitslosen, niedergelegt in aporetischen Adressierungen von Autonomie unter Androhung von Sanktion. So verschärften sich in beiden Ländern die Regelungen, welche Arbeit als zumutbar galt. In der Bundesrepublik gingen entsprechende Gesetzesrestriktionen mit Dequalifizierung einher, die sozial letztlich disqualifizierend wirkte. Arbeitsaufnahme war, auch nach

2 Zusammenfassend auch: Moser, Jeder, der will, kann arbeiten, S. 149–189. 3 Vgl. Christoph Butterwegge, Bürgergeld: Stimmungsmache auf Stammtischniveau, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2022, S. 37–40, https://www.blaetter. de/ausgabe/2022/dezember/buergergeld-stimmungsmache-auf-stammtischniveau, 30.03.2023.

Diffamierung und Disqualifizierung

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Fortbildung oder Umschulung, immer weniger mit Höherqualifikation und beruflichem Aufstieg verbunden. Leitmotivisch war die Anpassung an die Anforderungen des Arbeitsmarkts. Auch im administrativen Alltag mündete die Rhetorik kreativer Selbstentfaltung im Beruflichen in diffamierender bürokratischer Vernachlässigung arbeitsloser Subjekte. In Großbritannien waren Arbeitslose angehalten, unverbindlich in der Mangelware der Arbeitsangebote der Jobcenter zu shoppen. Seit Mitte der 1980er-Jahre traten hier Kontrollansätze aktivierender Maßnahmen zur Aufnahme von Erwerbsarbeit (Job Club, Restart Course) an die Seite wirtschaftsliberaler Marktorientierung. In der bundesdeutschen Arbeitsverwaltung war partnerschaftliche Klientenberatung angesichts überfüllter Arbeitsämter schwer durchsetzbar. Hinzu kamen Traditionen älterer, paternalistischer Eignungsdiagnostik, die durchaus zugewandte, aber machtasymmetrische Beratungsmodelle praktizierte. Überforderung in den Amtsabläufen kumulierte mit teilweise diffamierenden Vorurteilen der Arbeitsberaterinnen und Arbeitsberater gegenüber Arbeitslosen (»bekloppt«, »faul«). In den 1970er- und 1980er-Jahren, die hier im Mittelpunkt der Untersuchung standen, waren Arbeitslose Aporien ausgesetzt, die häufig mit sozialen Dynamiken einhergingen. So waren in der allgemeinen Schul- und Berufslaufbahn zunehmend Bildungspflichten gefragt, in der Situation von Arbeitslosigkeit waren hingegen Fort- und Weiterbildung eingeschränkt und die berufliche Qualifikation wurde tendenziell entwertet. Arbeitsplatzwahl wurde im Job-Shop der Selbstbedienung des britischen Jobcenters suggeriert, aber ohne entsprechendes Angebot. Ebenso konnten Jugendliche die Offerten der Wunschökonomien von »Traumberuf« und »Berufswahl« in ihrer sozialen Wirklichkeit nur bedingt und abhängig von ihrer sozialen Herkunft umsetzen. Sozialstrukturell verfestigte sich die disqualifizierende Subjektivierung in sozialen Abstiegsszenarien arbeitsloser Problemgruppen. Im Laufe der 1970erJahre kristallisierte sich heraus, dass zunehmend gering Qualifizierte persistent von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Sowohl in der Fremdzuschreibung als Bildungsversager als auch ihrer eigenen Selbstbeschreibung waren es besonders diese Gruppe von Arbeitslosen, die sich verantwortlich für die Situation ihrer Arbeitslosigkeit zeigten und meinten, daran »selbst schuld« zu sein. Diese Selbstattributierung war für Jugendliche im deutschen System der dualen, qualifizierenden Berufsausbildung stärker ausgeprägt als in Großbritannien, wo das Motiv, momenthaft biographische Chancen nutzen zu können, die Selbstattributierung abschwächte, jedoch die soziale Durchlässigkeit nicht erhöhte. Im Zeitverlauf prägten sich die gering Qualifizierten als alternde und schrumpfende Kategorie unter den Arbeitslosen aus, was ihre Diffamierung als Verlierer weiter bestärkte. Die mit der Umstrukturierung der Arbeitsmärkte einhergehenden veränderten »Normalisierungspflichten« (Solga)  und Arbeitsanforderungen produzierten eine neue Klasse arbeitsloser »Versager«: Langzeitarbeitslose, gering Qualifizierte und oftmals auch die disponible Reservearmee der Migrantinnen und Migranten.

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Das arbeitslose Subjekt: Fährten in die Gegenwart

Diese ›Randgruppen‹ waren es auch, die im besonderen Maß von »disqualifizierender Armut« in Folge von Arbeitslosigkeit betroffen waren.4 Ihre finanziellen Einbußen aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit führten zu weitreichenden, subjektivierenden Zuschreibungen sozialer Devianz und Erfahrungen sozialer Deklassierung. Unter Gebrauch diffamierender Herabsetzungen wurde in beiden Ländern in den 1980er-Jahren politisch eine pekuniäre und sozial disqualifizierende Verarmung Arbeitsloser in Kauf genommen. Sowohl die sozialstrukturellen Daten wie die qualitativen Aussagen Arbeitsloser zeigen, dass diese von Produktivitätsvorgängen und auch sozialer Vergesellschaftung in Folge ihrer Arbeitslosigkeit zunehmend ausgeschlossen, sich in ihrer Arbeitslosigkeit selbst als Minderwertige erfuhren. In Betrachtung der Wissensbestände, die über Arbeitslosigkeit in den 1970er- und 1980er-Jahren produziert wurden, stellt sich der Eindruck eines wissenschaftlich vernachlässigten Gegenstands ein. Sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Deutungsmuster von Arbeitslosigkeit entbehrten lange einer differenzierten Perspektivierung. Angesicht der gesellschaftlichen Relevanz des Problems fällt die Unangemessenheit der wissenschaftlichen Analysen auf. Der markanteste, wissenschaftliche Kennwert für Arbeitslosigkeit war sicherlich die Arbeitslosenquote. Medial außerordentlich präsent und mit enormem statistischem Aufwand erhoben, war der Aussagewert der hoch aggregierten Quote allerdings empirisch im Grunde wertlos und allenfalls als politische Trendaussage brauchbar. In der Bundesrepublik schwankten die Repräsentationsstrategien der offiziellen Arbeitslosenkurve und ihrer Darstellungsformen zwischen Marginalisierung problematischer Randgruppen und -regionen sowie Ohnmacht angesichts übermächtiger Zahlenflut. Arbeitsmarktpolitisch reduzierten administrative Kriterien die Arbeitslosenziffer, da weite Teile der aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschiedenen, vor allem Frauen, Ältere und Migrantinnen und Migranten, statistisch nicht erfasst wurden. Geradezu legendär sind die Reduktionstaktiken, die von der Thatcher-Administration seit 1987 vorgenommen wurden, um die nationale Arbeitslosenkurve nach unten zu drücken und mit offensichtlicher Datenfälschung die eigene politische Handlungsfähigkeit zu inszenieren. In politökonomischer Theorie wurden Arbeitslose zum Kollateralschaden von Keynesianismus und Monetarismus gemacht, die beide keine theoretisch adäquate Antwort auf Arbeitslosigkeit als Problem des Arbeitsmarkts gaben. Auch hier waren die wissenschaftlichen Deutungsmuster eher Stichwortgeber zur Begründung restriktiver Arbeitsmarktpolitiken, die als fiskalpolitisch alternativlos »verkauft« wurden. Die Sozialwissenschaften schließlich reagierten, obgleich im deutschen Fall die wissenschaftliche Zuständigkeit mit dem IAB sogar bei der Arbeitsverwaltung institutionalisiert war, insgesamt eher langsam auf das gesellschaftlich folgenschwere Problem der Arbeitslosigkeit. Erst seit den beginnenden 4 Vgl. Paugam, Die elementaren Formen der Armut, S. 117 f., 213–269.

Diffamierung und Disqualifizierung

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1980er-Jahren war Arbeitslosigkeit breit im sozialwissenschaftlichen Diskurs der Bundesrepublik vertreten. In Großbritannien war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder der Höhepunkt der Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet überschritten. Hartnäckig präsent blieb in den Sozialwissenschaften die Arbeitslosenforschung der Zwischenkriegszeit und der Topos des unter Arbeitslosen verbreiteten Fatalismus. Ausgangsfrage der Forschungen der Weltwirtschaftskrise war die Frage nach dem revolutionären Potential der Arbeitslosen, die gleichfalls in den Forschungen der 1980er-Jahre virulent blieb als Vorannahme der politischen Unzuverlässigkeit von Arbeitslosen. Spezifikum der deutschen Forschung war die Vermutung, Arbeitslosigkeit und die Konjunktur rechtsradikaler Parteien hingen zusammen, Arbeitslose neigten mithin als ökonomisch Verelendete dazu, rechtsradikale Parteien zu wählen.5 In verkürzter Lesart kritischer Theorie, die sich an den sozialen Verhältnissen im Spätkapitalismus reibt, werden Arbeitslose durchaus als Charakterdeformierte betrachtet, denen politisch nicht zu trauen ist. Für die Arbeitslosenforschung, wie sie sich in den frühen 1980er-Jahren darstellte, war nach wie vor die Frage nach der psychosozialen Belastung durch Arbeitslosigkeit bestimmend. Dabei formierten sich aufgrund der veränderten sozialen Struktur der Arbeitslosen, aber auch veränderter wissenschaftlicher Methoden der Arbeitslosenforschung, Theoriemodelle und Typologien, Arbeitslosigkeit als eine zu bewältigende Herausforderung und Arbeitslose als belastungsfähige Subjekte, zu begreifen. Der arbeitslose »Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft« bzw. inhaltlich präziser die »Unternehmerin ihrer eigenen Arbeitskraft«, von Soziologen Mitte der 1980er-Jahre als Bewältigungstypus von Arbeitslosigkeit geprägt, war die erste begriffliche Ausformung des Arbeitskraftunternehmers, respektive des »unternehmerischen Selbst«.6 Die deutsche Debatte um das unternehmerische Selbst, die bis in die Gegenwart Konjunktur hat, entspringt den sozialwissenschaftlichen Forschungsdiskursen um Arbeitslosigkeit der 1980er-Jahre. Das »unternehmerische Selbst«, so möchte man meinen, war und ist in aller erster Linie ein arbeitsloses Subjekt. In der Rezeption des unternehmerischen Subjektmodells ging diese zeithistorische Ausgangslage freilich unter, und dies zeigt zum einen, dass für eine wissenschaftliche Kritik von Arbeitslosigkeit und ihrer 5 Vgl. z. B. die SOFI-Studie: Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft und ihr Fragebogen, in: Kronauer / Vogel / Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft, S. 261; empirische Studien zur politischen Orientierung von Arbeitslosen der 1980er-Jahre stellten unter Arbeitslosen ein Potential für autoritäre Politikmodelle bzw. radikale Parteien fest, vgl. Michael Beckmann, Radikalisierung oder Apathie? Zu den politischen Verarbeitungsformen der Arbeitslosigkeit, in: Politische Vierteljahresschrift 29 (1988), S. 591–609. 1988 fehlten aber die politischen »Alternativen« (sic, ebd., S. 607), um die Orientierung an der Wahlurne umzusetzen. Damit bleibt das Problem potentieller politischer Radikalität von Arbeitslosen aber auch eines des parteipolitischen Angebots, vgl. auch Niedermayer / Hofrichter, Die Wählerschaft der AfD. 6 Vgl. Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 55; Bezug nehmend auf: Bonß / Keupp /  Koenen, Das Ende des Belastungsdiskurses, S. 183.

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Das arbeitslose Subjekt: Fährten in die Gegenwart

sozialen Regierung das Denkmodell des oder der unternehmerischen Arbeitslosen mit Vorbehalt zu lesen ist, und zum anderen, dass die zeithistorischen Voraussetzungen des »unternehmerischen Selbst« in der soziologischen Subjekttheorie zu wenig mitgedacht werden. Zweifellos trägt die »aktive Arbeitsmarktpolitik«, seit den 1960er-Jahren in west- und nordeuropäischen Ländern eingeführt, ihren Namen nicht zu Unrecht. Die Arbeitsmarktpolitik der 1970er- und insbesondere der 1980er-Jahre ist durchzogen von Subjektadressierungen, sich eigenverantwortlich den Anforderungen des Arbeitsmarkts anzupassen und sich selbstkontrolliert um Aufnahme von Erwerbsarbeit zu bemühen. An diesen auf Verwaltungsvorgaben beruhenden Adressierungen von Autonomie, die zwar berufliche Entfaltung im Zuge verschärfter Zumutbarkeit sozial sortiert einschränkten, aber immer noch zur Basis hatten, geht der zeitgenössische Interpretationsrahmen des »Unternehmers der eigenen Arbeitskraft«, mit dem zudem weitgehend die Bemühungen von Frauen denunziert wurden, im Dienstleistungssektor Fuß zu fassen, vorbei. Etwas anders stellt sich die Lage für die »aktivierende Arbeitsmarktpolitik« Großbritanniens in den 1980er-Jahren und der Bundesrepublik in den späten 1990er-Jahren dar. Das von der angelsächsischen Soziologie in den 1990er-Jahren beobachtete »enterprising subject« zeichnete sich in den Welfare-to-WorkPolitiken der Thatcher-Regierung und ihrer Nachfolger deutlich ab. In der Bundesrepublik waren es bekanntlich die so genannten Hartz IV-Reformen, die einen gleichsam umfassenden, wie inhaltlich entkernten Aktivierungsbegriff umsetzten. Aktivierung bedeutete nun einfach und in aller praktischen Konsequenz, dass die Arbeitsverwaltung bei Androhung vertragsrechtlich abgesicherter Sanktionen die Aufnahme von Erwerbsarbeit einforderte.7 Das arbeitslose Subjekt wurde und wird empfindlich finanziell diszipliniert, sofern es den Aktivierungsappellen nicht nachkommt und Nicht-Erwerbsarbeit fortschreitend diffamiert. Der Sozialstaat gebärdete sich »zunehmend autoritär«, und Aktivierung meinte schlicht »Arbeitszwang« und »die moralisierende Delegitimierung nicht-erwerbstätiger Lebensformen«.8 Damit wird aber auch klar, dass es nicht der unternehmerische Appell ist, der die Subjektivierung von Arbeitslosen in Kontexten aktivierender Arbeitsmarktpolitik ausmacht bzw. wissenschaftlich zu problematisieren wäre, sondern die »Zuschreibung von Verantwortung auch unter Bedingungen, unter denen wir nach üblicher Betrachtung gerade nicht in der Lage sind, wirklich Verantwortung zu übernehmen.«9 7 Vgl. Ludwig-Mayerhofer / Behrendt / Sondermann, Auf der Suche nach der verlorenen Arbeit, S. 27–31. 8 Christa Sonnenfeld, Erzwungene Angebote. Beschäftigungsförderung zu Niedriglöhnen, in: Stolz-Willig (Hrsg.), Arbeit und Demokratie, S. 100–119, hier: S. 109; Stephan Lessenich, Der Arme in der Aktivgesellschaft – zum sozialen Sinn des »Förderns und Forderns«, in: WSI-Mitteilungen 4/2003, S. 214–220, hier: S. 218; vgl. auch: Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, S. 244 f. 9 Hermann Kocyba, Aktivierung, in: Bröckling / K rasmann / Lemke, Glossar der Gegenwart, S. 17–21, hier: S. 20.

Diffamierung und Disqualifizierung

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Das arbeitslose Subjekt ist und war kein Subjekt, das sich, kreativ und selbstexpressiv Adressierungen von Selbstoptimierung und Selbstvermarktung beugen wollte oder könnte – wie es soziologische Subjekttheorien für hegemoniale Subjektkulturen der Gegenwart oder jüngsten Zeitgeschichte betonen. Entscheidend für die Subjektivierung von Arbeitslosen ist die soziale Situation von Arbeitslosigkeit, die auch in den Verwaltungssettings der mit den Hartz IV-Reformen eingerichteten bundesdeutschen Jobcenter, so neuere Forschungsliteratur, weniger »unternehmerisches« Verhalten als althergebrachte Arbeitstugenden wie Pünktlichkeit, Bescheidenheit oder Ordnungssinn adressieren und insoweit »Folgsamkeit« herstellen.10 Zurückkommend auf die sozialwissenschaftliche Forschung zur Arbeits­ losigkeit in den 1980er-Jahren, ist der Typus des »Unternehmers seiner eigenen Arbeitskraft« in eine Reihe von Deutungsmodellen zu stellen, die eine subjektive Bewältigungsoption von Arbeitslosigkeit betonten. In Alternativrollen jenseits von Arbeitslosigkeit, der Handlungsfähigkeit (Agency) von Arbeitslosen oder robuster mentaler Ressourcen in der Stresssituation von Arbeitslosigkeit, machten Forschungen zur Arbeitslosigkeit in den frühen 1980er-Jahren zunehmend Subjekttypen aus, die mit Arbeitslosigkeit umgehen konnten und die nicht zufällig ihre empirische Grundlage in Untersuchungen zur Arbeitslosigkeit weißer, qualifizierter Angestellter oder akademisch Gebildeter hatten. Die in den frühen 1980er-Jahren sich abzeichnende veränderte Wahrnehmung von Arbeitslosen ging sozial distinktiv vor sich und Prädispositionen von Arbeitslosen wurden insoweit verändert wahrgenommen, als zunehmend Akademiker und Angestellte, die »weiße« Mittelschicht, von Arbeitslosigkeit betroffen war. Deren psychische und mentale Robustheit wurde verbreitet höher eingeschätzt als diejenige arbeitsloser Arbeiterinnen und Arbeiter der 1970er-Jahre. Arbeitsfähig und arbeitswillig, verkörperten diese belastbaren Arbeitslosen nahezu eine moderne, geläuterte Variante des frühneuzeitlichen »starken Bettlers«, der körperlich unversehrt und arbeitsunwillig den Armenordnungen des 16. Jahrhunderts keiner Fürsorge wert war.11 Als zeitgenössischer Gegentypus zu den problematischen Randgruppen, war der oder die »starke Arbeitslose«, der seine oder ihre Arbeitslosigkeit bewältigen und möglichst überwinden konnte und wollte, vorerst eine soziologische Kategorie. In dieser Kategorie deuten sich allerdings Veränderungen im sozialen Denken über Arbeitslose an, die begriffliches Instrumentarium für politisches Regierungshandeln vorprägten, das es der sozialen Disposition des arbeitslosen Subjekts anheimstellte, die Herausforderung der Arbeitslosigkeit zu meistern und diejenigen zu diffamieren, die an der Herausforderung scheiterten. 10 Vgl. Grimmer, Folgsamkeit herstellen, S. 246–250; Grimmers Ergebnisse hängen freilich mit der Anlage ihrer Forschungen zusammen, die sich auf das »Jobcenter« als Raum von Interaktionen konzentrieren, soziale oder politische Faktoren, Handlungsmacht zu generieren (z. B. Gewerkschaftsmitgliedschaft der Arbeitsvermittlerinnen) bleiben unberücksichtigt. Dass die Vf.in dazu neigt, offenkundig benutzte, historische Literatur nicht nachzuweisen, mag an den getrennten Fachdisziplinen liegen (vgl. ebd., S. 40, 248). 11 Vgl. Schubert, Duldung, Diskriminierung und Verfolgung.

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Das arbeitslose Subjekt: Fährten in die Gegenwart

2. Autonomie in der Defensive Die Annahme politischer Passivität von Arbeitslosen gehörte zum Inventar der zeitgenössischen Betrachtung von Arbeitslosen. In beiden Ländern steht Protestforschung und allgemeine historische Forschung aus unterschiedlichen Gründen dem Widerstandspotential von Arbeitslosen skeptisch gegenüber. Soziale Unruhen, so stellt es britische Forschung immer wieder fest, sind mit Arbeitslosigkeit nur ungenügend erklärt. Gemessen an den medienwirksamen, parteipolitisch erfolgreichen sozialen Bewegungen waren Proteste, Eigensinnigkeiten und Widersetzlichkeiten arbeitsloser Subjekte der deutschen Forschung zu defensiv. Beide Perspektiven eint, dass Arbeitslose nur marginal in der Forschung Beachtung finden. Vergleichende Forschung, aus der europäischen Vogelperspektive einschlägiger Sammelbände argumentierend, kann nur ansatzweise Ausgleich schaffen. Aus dem Blick geraten in beiden Ländern die durchaus zahlreichen, verstreuten Aktionen arbeitslosen »Gegen-Verhaltens«: die Selbsthilfegruppen und Arbeitsloseninitiativen vor Ort, Proteste und Streiks anlässlich von Betriebsschließungen, der Widerspruch vor Gericht, die Randale im Arbeitsamt oder auf der Straße, die Netzwerke gegen behördliche Willkür, der Rückzug in die Passivität oder der alternative Lebensstil. Die Widersprüche auf dem Rechtsweg waren diejenigen, mit denen arbeitslose Subjekte kurz- bzw. mittelfristig am effektivsten ihre personale Autonomie behaupten konnten. Sie wahrten mit dem Einspruch vor Gericht einerseits ihre Interessen in der Rechtssache, andererseits verwirklichten sie ihre Rechte als Subjekte im grundlegenden Sinn staatsbürgerlicher Anerkennung. Die »Subjektivierung des Rechts« bewirkte die verrechtlichte Subjektivierung – vice versa. Die verdichtete Regulierung von Arbeitslosigkeit insbesondere in den 1980erJahren beförderte den juridischen Widerstand. Die schnelle Abfolge der erlassenen Regulierungen, die sich in Geltung und Inhalten überschnitten oder widersprachen, ermöglichten den Erfolg der eingelegten Rechtsmittel. Daneben verbreitete die Verhandlungsdichte aber auch Rechtsunsicherheit über die Legitimität staatlicher Verordnungen. Hinter der Selbstermächtigung des arbeitslosen Rechtssubjekts, das nicht mehr nur Rechtsobjekt war und sein Recht einforderte, verbarg sich der zumindest subjektive Eindruck der Entgarantierung des Rechts bzw. der Lückenhaftigkeit eines vormalig zumindest nicht angezweifelten Rechtssystems. In beiden Ländern setzten sich Initiativen von Rechtsberatung und Rechtsbeihilfe seit Mitte der 1960er-Jahre dafür ein, die gerichtliche Durchsetzung von geltendem Recht sozial auszuweiten. Waren in Großbritannien dafür soziale Hürden zu überwinden, um die Akzeptanz von Arbeits- und Sozialrecht zu erhöhen, waren in der Bundesrepublik die im Gesetzestext verbliebenen Relikte autoritärer Wohlfahrtsstaatlichkeit Barriere subjektiver Rechtsforderungen. Theoretische Option in beiden Rechtssystemen war es, im Widerspruch qua Rechtsmittel das bestehende Recht nicht zu verlassen, sondern weiter zu

Autonomie in der Defensive

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entwickeln. Arbeitslose Rechtssubjekte erwiesen sich gerade in ihrem autonomen Widerspruch als notwendiges Korrektiv staatlicher Rechtsvorschriften. Der »Rechtstrouble«, den die Arbeitslosen veranstalteten, trat für die Sicherung beruflicher Qualifikationen, für die Geltung korporativer Arbeitsbeziehungen oder die Kontrolle behördlichen Ermessenspielraums ein.12 Relativ schnell war das Sozialrecht, das die Arbeitslosen einforderten, mit den geltenden Grundlagen bzw. methodischen Geltungslogiken des jeweiligen Rechtssystems konfrontiert. In den 1980er-Jahren häuften sich in der Bundesrepublik die Rechtsmittel von Arbeitslosen, die sich auf die Grundrechte der Verfassung beriefen. In Großbritannien nahmen die richterlichen, auf Wirtschaftsliberalismus basierenden Kontrakturteile der 1980er-Jahre die vertragsrechtliche Regulierung von Arbeitslosigkeit in den 1990er-Jahren vorweg. Das arbeitslose Subjekt wurde quasi in letzter Instanz den verfassten Rechtsordnungen beider Länder ausgesetzt. Sofern individuell der Widerspruch gelang und Recht erlangt wurde, änderte sich gleichwohl nichts an den repressiven Sozialgesetzgebungen beider Länder, die wiederum beständige Klagefluten in diesem Rechtsgebiet nach sich zogen. In der Bundesrepublik war deren vorläufiger Höhepunkt 2019 erreicht, als das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass ein Verstoß gegen die im Grundgesetz garantierte Menschenwürde vorliegt, wenn der Gesetzgeber durch wiederholte finanzielle Sanktionen von Grundsicherungsleistungen das Existenzminimum des Anspruchsberechtigten unterschreitet.13 Im individualisierten Widerspruch konnten Arbeitslose punktuell Autonomie erlangen – das ist in gewisser Weise das Muster, das sich in den verschiedenen Situationen von Eigensinn, Entwischen oder Gegen-Verhalten zeigt, die aber durchaus, ebenfalls punktuell zu Schwärmen kollektiven Protests führen konnten, so in den gewerkschaftsgestützten Protesten gegen Betriebsschließungen der 1980er-Jahre, die mittelfristig die Folgen des Strukturwandels abzufedern halfen. Auch die Straßenrandale in englischen Migrantenvierteln in den frühen 1980er-Jahren, die teilweise mit hoher Arbeitslosigkeit erklärt wurde, zeigten Momente kollektiven Handelns, das sich allerdings unter den sozialen Bedingungen intersektional verschränkter Diskriminierung formieren musste.14

12 Susanne Baer übernimmt diesen Begriff von Katharina Ahrendts und in Anlehnung an Judith Butlers »Gendertrouble« vgl. Susanne Baer, Inexcitable Speech. Zum Verständnis von ›Recht‹ im postmodernen Feminismus am Beispiel von Judith Butlers ›Excitable Speech‹, in: Antje Hornscheidt / Gabriele Jähnert / A nnette Schlichtert (Hrsg.), Kritische Differenzen – geteilte Perspektiven. Zum Verhältnis von Feminismus und Postmoderne, Opladen 1988, S. 229–252, hier: S. 250. 13 BVerfG, Urteil vom 05.11.2019, 1 BvL 7/16. 14 Sie dürften, neben dem Hauptargument der Immobilienspekulation auch zur Aufwertung der entsprechenden Viertel und Repräsentation ihrer Bewohnerinnen und Bewohner beigetragen haben vgl. z. B. die Black Cultural Archives am Windrush Square in LondonBrixton. Die Einrichtung erinnert u. a. an die Brixton Riots, https://blackculturalarchives. org/, 30.01.2023.

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Das arbeitslose Subjekt: Fährten in die Gegenwart

Das defensive Auftreten vieler Arbeitsloseninitiativen und -projekte war aber augenfällig und vor allem in der paradoxalen sozialen Lage Arbeitsloser begründet. Arbeitsloseninitiativen, so ihr mehr oder minder offensichtlicher gesellschaftlicher Auftrag, sollten keinesfalls dazu beitragen, dass sich Arbeitslose mit ihrer Arbeitslosigkeit arrangierten und womöglich gern darin verblieben. Eine stabile soziale Basis von Arbeitslosen, die eine Arbeitslosenarbeit tragen würden, war also per se ausgeschlossen. Unbesehen ob Arbeitslose in anderen sozialen und alternativen Initiativen hochaktiv waren, in den Arbeitsloseninitiativen waren sie in paradoxer Weise zum »erwerbsarbeitlichen Nichtstun verdammt.«15 In diesem Nichtstun sollten sie es sich wiederum nicht zu bequem einrichten, um dem Vorwurf ›parasitären‹ Daseins keine Angriffsfläche zu bieten. Das Nichtstun zur Ausdrucksform von Gegen-Verhalten zu machen, liegt da nur nahe. Angesichts weitreichender Traditionen arbeitsethischer und leistungsorientierter Adressierungen waren im Grunde alltägliche Situationen von Ruhe, Muße und Bei-sich-sein unter Umständen bereits subversive Praktiken, der Subjekthaftigkeit von Arbeitslosigkeit zu entwischen. Den Freiwilligen des britischen Mass Observation Projects fiel es, vermutlich auch dem Aktivitätsappell der Erhebungssituation folgend, schwer, Untätigkeit einzuräumen oder hochzuschätzen. Nur in allgemeiner Leistungsschau zahlreicher Freizeit­ beschäftigungen (Lesen, Musikhören und zwar vor allem französische Chansons der 1950er-Jahre, Malen und Collagen anfertigen, Sammeln und Anfertigen von Miniaturmöbeln, Fotografieren, Postkarten sammeln, Notizbücher gestalten, Zeitungsausschnitte sammeln, Handarbeiten, Floristik, Stempelarbeiten) gab eine Freiwillige des Mass Observation Projects überhaupt zu, dass sie es ebenfalls beherrsche, »good at doing nothing« zu sein, freilich mit der Einschränkung »on a cold winter’s evening«.16 Ein 53-jähriger Arbeitsloser aus der Grafschaft Cleveland bekannte hingegen schon freimütiger, seine einzige Freizeitbetätigung sei im Allgemeinen Spazierengehen, und den vergangenen Tag hätte er morgens im Sessel gesessen und nachmittags und abends ferngesehen.17 Offensiver traten politisch motivierte ›Nichtstuer‹ aus der bundesdeutschen linken Szene auf, die dazu aufriefen, arbeitslos »locker Kohle« zu ziehen, um die freie Zeit politisch zu nutzen.18 Jeglichen Adressierungen von Aktivität entzog sich die Spaßguerilla der »Glücklichen Arbeitslosen«, wenngleich erst in den 1990er-Jahren. Ambitionslos und flüchtig produzierten die ›Glücklichen Arbeitslosen‹ Situationen des Entwischens von ihrem Dasein als ›Arbeitslose‹ oder ›Arbeitsloser‹ im Sinn einer sozialen Kategorie. Sie entzogen sich konsequent und in ihrem Glück selbstbewusst den Anforderungen der Arbeitsgesellschaft, tätig zu sein. Im frühen 21. Jahrhundert mag Faulheit in Form von Ratgeberliteratur und Achtsamkeitskursen bereits wieder in den publizistischen Mainstream 15 Finkeldey, Armut, Arbeitslosigkeit, Selbsthilfe, S. 100. 16 Vgl. MOP SxMOA2/1/12/1/1, Respondents A–K (Summer 1983 Directive: Work) B73, S. 9. 17 Crookston, Leisure and Unemployment, S. 3. 18 Afas-Archiv Duisburg, Libertäre Tage, S. 4.

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eingespeist, zum Geschäfts- und Coachingfeld für erwerbsarme Krisenzeiten geworden sein. Eine Differenz zwischen funktionalem Nichtstun als Erholung und Ersatzhandlung und der Zurücknahme als politischem Subjekt-Gestus, wie von den »Glücklichen Arbeitslosen« Ende der 1990er-Jahre praktiziert, bleibt aber nicht nur in der Wahrnehmung derjenigen, die Passivität (nicht) ausüben und noch dazu dabei eigensinnig glücklich sind, bestehen.

3. Subjektivierung nach dem Boom Die Erfahrung von Arbeitslosigkeit war ein Basisprozess der Jahre »nach dem Boom« in Westeuropa. Sie betraf die Biographien von Arbeitslosen und die Sozialität ihrer Familien. Arbeitslosigkeit veränderte Nachbarschaften und Regionen, die übermäßig von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Aufgrund drohender Arbeitslosigkeit blieben Berufswünsche unerfüllt. Ansprüche an Selbstentfaltung und finanzielle Absicherung wurden zurückgestellt oder den sozialen Realitäten knapper Erwerbsarbeit angepasst. Umbrüche in den Arbeitsanforderungen zogen neue Ungleichheiten nach sich und trugen zu veränderten Geschlechterordnungen bei. Politisch diente die persistente Arbeitslosigkeit nicht nur in der Arbeitsmarktpolitik, sondern in vielen anderen Bereichen als Argument restriktiver Haushaltspolitik – nicht zuletzt beförderte sie die Regierungswechsel in beiden Ländern 1979 bzw. 1982. Die Geschichte der Arbeitslosigkeit in den 1970er- und 1980er-Jahren ist zweifellos eine »Vorgeschichte der Gegenwart«, denn obgleich die Arbeitslosenquote in beiden Ländern seit Mitte der 1980er-Jahre tendenziell sank, diese Tendenz in Großbritannien mit Schwankungen bis heute anhält und sich die Arbeitslosenquote im wiedervereinigten Deutschland seit 2005 halbiert hat, bleibt Arbeitslosigkeit eine bis in die Gegenwart hinein virulente soziale Problemlage. Dies macht sich nicht nur daran fest, dass die gegenwärtigen Arbeitslosenquoten keineswegs Vollbeschäftigung suggerieren, sondern dass man sich politisch an Arbeitslosenzahlen gewöhnt hat, die sich in Großbritannien auf dem Niveau der frühen 1970er-Jahre bzw. in der Bundesrepublik der späten 1970er-Jahre eingependelt haben. Vor allem aber ist die sozialpolitische Bekämpfung von Arbeitslosigkeit in politische Agenden eingeflossen, und die Erfahrung von Arbeitslosigkeit hat sich in die Lebensläufe und Handlungsmuster (ehemals) arbeitsloser Subjekte eingeschrieben. Ehemalige Jugendarbeitslose treten inzwischen in die Rente ein und sind von einem höheren Risiko von Altersarmut betroffen. Frühverrentete Männer oder frühzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Frauen hatten mittlerweile mit ihrem erhöhten Pflegerisiko finanziell umzugehen. Montanund Küstenregionen, aber auch von produzierender Industrie geprägte Regionen, waren im besonderen Maß von Strukturveränderungen der Arbeitsmärkte betroffen und veränderten sich landschaftlich und vor allem soziogeographisch.

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Das arbeitslose Subjekt: Fährten in die Gegenwart

In der wiedervereinigten Bundesrepublik überlagerte allerdings die disruptive und rasant steigende Arbeitslosigkeit der neuen Bundesländer in den 1990erJahren die hier beschriebenen westdeutschen Entwicklungen der 1980er-Jahre. Berthold Vogel spricht zu Recht davon, dass der »Verlust der Erwerbsarbeit (…) die subjektive Schlüsselerfahrung der ›Wende‹« gewesen sei.19 Die Arbeitsmarktpolitik der 1970er- und 1980er-Jahre war in vielem der Auftakt zur »aktivierenden Arbeitsmarktpolitik« späterer Jahrzehnte, ohne sie letztlich in der eingesetzten und politisch kritikwürdigen Form zwingend erscheinen zu lassen. Im Gegenteil: aus der Perspektive einer Geschichte arbeitsloser Subjekte wird zum einen deutlich, wie problematisch und unangemessen Regierungstechniken sind, die Ergebnis diffamierender und disqualifizierender politischer Adressierungen sind. Zum anderen macht der deutsch-britische Vergleich vor allem die Differenzen in Politik, Recht, Wissenschaft und Verwaltungsorganisation beider Länder deutlich. Eine gouvernementale Annäherung der Sozialpolitik, wie im »Dritten Weg« der deutschen und britischen Sozialdemokratie entworfen, hat die grundlegende Verschiedenheit der wohlfahrtsstaatlichen, aber auch rechtlichen Systeme und ihrer Subjektivierungseffekte nicht bedacht. Deutlich treten die nationalen Pfadabhängigkeiten der differenten Systeme zu Tage, die vor allem erklären, dass es in Großbritannien zu einem sehr viel schnelleren Abbau wohlfahrtsstaatlicher Verbindlichkeiten kam als in der Bundesrepublik. Der Vergleich verhilft hier ganz klassisch dazu, historische Entwicklungen zu präzisieren, konkret: in der sozialen Regierung arbeitsloser Subjekte. An dieser Stelle zeigt sich auch die Sinnhaftigkeit national vergleichender Studien für die Gesellschaftsgeschichte von Subjektivierungen. Ein Vergleich  – und insbesondere der Vergleich kon­ trastiver wohlfahrtsstaatlicher Modelle – eröffnet die sozialen Spektren, durch die sich Subjektivierungen lesbar machen lassen in besonderer Weise, werden doch vermeintlich kulturtheoretische Tendenzen und Transformationen – Individualisierung, Psychologisierung, Kreativität, Eignung oder Leistung (um nur einige zu nennen), an ihre konkreten sozialen, und das meint im Betrachtungszeitraum, nationalen Situiertheiten zurückgebunden. Die Subjektivierung von Arbeitslosigkeit wirft in diesem Sinn umso mehr ein neues Licht auf Subjektivierungsprozesse in den Jahren »nach dem Boom«. Bisherige Forschungsliteratur zur Zeitgeschichte des Selbst, das ist in der Einleitung bereits dargelegt, sind in der Regel wissenshistorisch ausgelegt und identifizieren einen grundlegenden Wandel in Subjektkulturen seit den 1970er-Jahren im Zuge eines »Psychobooms nach dem Boom«. Expandierendes populäres Psychowissen und Therapie- und Beratungsangebote, zumeist im linksalternativen Milieu fabriziert und in Diskursen gesteigerter Selbsterfahrung und Selbstexpressivität 19 Berthold Vogel, Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland. Konsequenzen für das Sozialgefüge und für die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Wandels, in: SOFI-Mitteilungen Nr. 27/1999, S. 15–23, hier: S. 15; allgemein: ders., Ohne Arbeit in den Kapitalismus. Der Verlust der Erwerbsarbeit im Umbruch der ostdeutschen Gesellschaft, Hamburg 1999.

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normativ ausgeformt, hätten in diesen Jahren epistemische Brüche in hegemonialen Subjektkulturen mit sich gebracht. Kulturell und politisch wird die Bedeutung der 68er-Bewegung bzw. alternativer, gegenkultureller Bewegungen des globalen Nordens bzw. Westens unterstrichen. In der Betrachtung arbeitsloser Subjekte wird einmal mehr deutlich, und das haben soziologische Governmentality Studies, bei aller Skepsis gegenüber ihren teilweisen illiberalen Vorstellungen staatlicher Kontrolle im »Neoliberalismus«, bereits erkennen lassen, dass sich Subjektivierungsprozesse sozial different abspielen oder auch in aller sozialhistorischen Selbstverständlichkeit: nicht unabhängig von sozialen Machtverhältnissen ablaufen. Die soziale Dynamik in den Jahren »nach dem Boom« in Westeuropa war nicht unwesentlich ausgelöst durch und ausgeprägt in der auftretenden Arbeitslosigkeit, die als Sortiermaschine sozialer Chancen die Regierungsweisen des Selbst in jenen Jahren erkennbar verändert hat. Subjektivierungsweisen von Arbeitslosigkeit zeigen weniger in Richtung expressiven Selbstausdrucks als verhaltener Selbstbehauptung. Die zeitgenössische differentielle Arbeitslosenforschung weist den Weg in die Aporien der Subjektivierung von Arbeitslosen in den 1970er- und 1980er-Jahren, die gleichzeitig breit und sozial ungleich verbreitet war.20 Arbeitslosigkeit konnte im Grunde jeden und jede treffen, traf aber nicht jeden oder jede gleich und wirkte höchst unterschiedlich je nach Lebensund sozialer Lage des oder der Arbeitslosen. Unter der administrativ gleichmachenden Adressierung von Arbeitslosigkeit spielten sich differente, gleichwohl sozial strukturierte Subjektivierungsprozesse ab, die vorhandene Instabilitäten der Erwerbsbiographien verstärkten. Um es mit zeitgenössischen Beobachtern des deutschen Arbeitsmarktes kurz zu sagen: »Das Risiko, überhaupt arbeitslos zu werden, ist sozial ungleich verteilt.«21 Konkret betraf dieses Risiko vor allem ältere Erwerbslose, gesundheitlich Eingeschränkte, unzureichend Qualifizierte, Berufsanfänger, Migrantinnen und Migranten sowie Frauen in Abhängigkeit von ihrer Qualifikation und ihrem Alter. Ein Großteil der Arbeitslosen dieser Gruppen wurde, trotz dieses Risikos, paradoxerweise gar nicht als Arbeitslose adressiert, da sie aus dem Erwerbsleben ausschieden, allerdings aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit: Frauen, die sich der Care-Arbeit in den Familien widmeten; ältere Männer, die frühzeitig, oftmals erwerbsgemindert, in Rente gingen; Mi­ grantinnen und Migranten, die Arbeitslosigkeit durch Rückwanderung ver­ mieden oder Jugendliche, die ihre Schul- und Ausbildungszeiten verlängerten. Darüber hinaus sind aber die sozial ungleich verteilten Effekte von Arbeitslosigkeit auf soziale Mobilität als subjektivierendes Moment von Selbst- und Fremdregierung herauszustreichen. Arbeitslosigkeit war eine sozial differente Erfahrung, beeinflusste aber auch die Erwartungen an die eigene soziale Beweglichkeit, die eigenen Ambitionen und das Zutrauen in die eigene Selbstführung.

20 Vgl. Heinelt / Wacker / Welzer, Arbeitslosigkeit in den 70er und 80er Jahren. 21 Ebd., S. 262.

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»It stops people demanding improved conditions, or pay rises. (…) It affects what you have to put up with at work,« so eine gewisse Jan über ihre Erfahrungen, wie Arbeitslosigkeit auf Interessenvertretung in Erwerbsarbeit zurückwirkt, überliefert in den Formulierungen einer Teilnehmerin am Sozialforschungsprojekt Mass Observation der Universität Sussex 1984.22 Jan fährt fort über einen Fall von Selbstselektion im Kontext unsicherer Erwerbsarbeit zu berichten: »Someone I know has been given 3 hours time off work a week to improve his reading and writing, but he won’t take it. He thinks it may go against him when redundancies are in the offing.«23 Arbeitslosigkeit dämpfte die eigenen beruflichen Ambitionen oder wurde gleich in diese eingepreist. Mit ganz anderer administrativer Technik hatte die bundesdeutsche Arbeitsverwaltung in den frühen 1980er-Jahren das Risiko, arbeitslos zu werden, als Faktor der Berufsentscheidung dem oder der (jugendlichen) Arbeitssuchenden anheimgegeben – so zumindest bildet es sich in den Adressierungen von Berufswahltests ab, in der die Selbsteinschätzung bezüglich beruflicher Interessen auch die Bereitschaft umfasste, Arbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen. In der sozial statischen und je nach schulischer Qualifikation massiv eingeschränkten Berufswahl Jugendlicher in den 1980er-Jahren schlug sich auch nieder, welche sozial disziplinierende Wirkung Arbeitslosigkeit hatte. Arbeitslosigkeit bremste soziale Aufwärtsmobilität aus und sorgte tendenziell dafür, dass Subjekte »am Platz blieben«, d. h. ihre soziale Lage und Situation konstant blieb bzw. Situationen von Benachteiligung sich verschlechterten. »Dass man sich alles gefallen lassen muß, jetzt aufgrund der Selbstkündigung,« beschwerte sich Ende der 1980er-Jahre Gerd, der arbeitsbedingt erschöpft, mit 53 Jahren seinen Job als Polsterer in der Möbelindustrie nach dreimonatiger Krankenzeit freiwillig aufgegeben hatte und zwei Jahre arbeitslos war.24 Seine »Aufmüpfigkeit«, ein gesundheitsschädliches Arbeitsverhältnis beendet zu haben, ist für ihn nun, da er arbeitslos ist, ein zu hoher Preis. Gerd hält es, aufgrund seiner körperlichen Konstitution für unwahrscheinlich, wieder Erwerbsarbeit zu finden und hadert, sich selbst körperlich disziplinierend, mit seinem arbeitslosen Selbst: »Man ist nicht mehr vollwertig, vielleicht nur ein halber Mensch,« antwortet er auf die Frage, ob er sich manchmal nutzlos vorkomme.25 Beruflich in seinem Ausbildungsberuf chancenlos, war Gerd in seiner Position als arbeitsloses Subjekt in sozialer Marginalisierung fixiert. Ganz anders die hier schon bekannte Beate, die knapp 18 Jahre alt, eine Ausbildung auf einer Graphikschule abgebrochen hatte und, wie sie in den 1980erJahren angibt, zum wiederholten Mal, aber erst seit zwei Monaten arbeitslos war. Bei ihren Eltern lebend, die sie finanziell unterstützten, schaute sie hoffnungsvoll

22 MOP Sx MOA 2/2/16/55, Special Report 208: Unemployment by Mass Observer C352. 23 Ebd. 24 Kronauer / Vogel / Gerlach, Arbeitsgesellschaft, Interview Nr. U 63, S. 11. 25 Ebd.

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in die Zukunft. Ihrer Arbeitslosigkeit gewann die sozial stabil situierte Beate Seiten ab, die sie in ihrer bereits zitierten Selbstentfaltung bestärkten: Wenn jemand bewußt arbeitslos ist, also wenn er nicht arbeiten will, dann ist er praktisch kein Arbeitsloser, sondern da ist er eigentlich ein Mensch, der sich gegen das ganze Arbeitssystem da wehrt und sich nicht unterordnen will.26

Sich selbst als »Mensch« betrachten oder nicht  – so könnte man zwar wissenschaftlich unscharf, aber historische Subjektivität zulassend, die Differenzen in der Selbstführung von Gerd und Beate, beide arbeitslos, zusammenfassen. Die beiden Fälle illustrieren, wenngleich ohne Anspruch auf Repräsentativität, wie Arbeitslosigkeit in den 1970er- und 1980er-Jahren dazu beitrug, soziale Ungleichheiten zu verfestigen und dies auf die Selbstbetrachtung und Selbstführung arbeitsloser Subjekte durchschlug. Eine Individualisierung von Ungleichheiten, die vielmehr aus individuellen Situationen statt aus sozialen Lagen resultiert, wie sie gegenwärtige Soziologie für die letzten Jahrzehnte annimmt und von der britischen Historiographie für die 1980er-Jahre etwas verknappt auf den Begriff der »public lottery« gebracht wird, lässt sich insoweit für arbeitslose Subjekte in den 1970er- und 1980erJahre nachvollziehen.27 Versteht man Individualisierung aber als Entwicklungs­ prozess des Übergangs von der Fremd- zur Selbstbestimmung, so zeichnet sich für arbeitslose Subjekte in den 1970er- und 1980er-Jahren eine sozial ge­staffelte, unvollständige Individualisierung ab. Die Fremdbestimmung Arbeitsloser überlagerte, je nach sozialer Lage und Situation, ihre Selbstbestimmung oder auch: ihre autonome Selbstführung. Sozial disqualifiziert, verminderten sich für Arbeitslose Möglichkeiten der Teilhabe und Selbstentfaltung  – und das in den unterschiedlichen administrativen sowie sozioökonomischen Kontexten der Bundesrepublik wie auch Großbritanniens. Arbeitslose Subjekte waren in diesen Arbeitsgesellschaften im Umbruch eher unterworfen als ermächtigt. Die Geschichte »arbeitsloser Subjekte« in den 1970er- und 1980er-Jahren macht die Dimensionen eines sozialhistorisch zu beobachtenden Strukturbruchs deutlich. Die vielfältigen gesellschaftlichen Problembezüge von Arbeitslosigkeit ziehen verschiedene Zeithorizonte ihrer Veränderung nach sich. Pfadabhängigkeiten von Rechts- und Verfassungssystemen sowie von wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen verhinderten disruptive Änderungen ihrer alltäglichen Abläufe. In Abhängigkeit von der jeweiligen staatlichen Organisation waren u. U. politisch implementierte Änderungen in Subjektivierungsformen langsamer oder schneller durchzusetzen, wobei der Hinweis auf den Zentralstaat Großbritanniens und

26 Zitiert nach: Diezinger / Marquardt / Bilden / Dahlke, Jugendarbeitslosigkeit, Kurzbiographie Nr. 21/2, S. 4. 27 Vgl. Weischer, Soziale Ungleichheiten 3.0, S. 342; Harris, Tradition and Transformation, S. 108.

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den Föderalismus der Bundesrepublik unterschiedliche Ausformungen staatlichen Handelns nur oberflächlich anreißt. Politische und soziale Funktionslogiken staatlicher Institutionen, die sich mit Arbeitslosigkeit befassten, reichten für beide Länder insbesondere in die Nachkriegszeit zurück. Die Zwischenkriegszeit war wiederum Zeithorizont der wissenschaftlichen Beobachtung von Massenarbeitslosigkeit und Bezugsrahmen, vor allem in Großbritannien, für Arbeitslosenproteste. Prozesse längerer Dauer sind für Ausprägung und Tradierung von Stereotypen über Arbeitslose anzunehmen, die auf die Regierung von Armut im 19. Jahrhundert oder in der Frühen Neuzeit verweisen und die unter neo-konservativen und wirtschaftsliberalen Vorzeichen in den 1980er-Jahren aktualisiert wurden. Die Geschichte des arbeitslosen Subjekts verweist auch darauf, dass Subjektivierung als historische Methode ihre Aussagekraft in der Analyse subjektprägender Machtverhältnisse von Institutionen und sozialen Ordnungen entfaltet. Historische Subjektivierungsprozesse anhand von Subjektivierungsprogrammen in Form politischer, wissenschaftlicher oder populärer Anleitungen des Subjekt-seins zu schreiben, ist nicht unmöglich, lässt aber gerade die Problematiken institutionell ausgeformter, sozialer Machtbeziehungen von Subjektivierung außer Acht und tappt unter Umständen den Selbstdeutungen der Zeitgenossen hinterher. Die Regierungsweisen des Subjekts in modernen Gesellschaften sind, so wäre es mit Foucault zu formulieren, in den Koordinaten von Wissen, Macht und Selbst zu verstehen. In der Konkretion der historischen Bearbeitung sozialstaatlicher Probleme moderner Gesellschaften verankern sich Subjektivierungsprozesse im Dreischritt von sozialem Wissen, sozialpolitischen und wohlfahrtlichen Institutionen und sozialen Praktiken. Das arbeitslose Subjekt ist in den subjektprägenden politischen und sozialen Prozessen dieses Koordinatensystems zu verorten, um seine historische Betrachtung nicht nur als rein fremdbestimmende Objektivierung erscheinen zu lassen.

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Zeitungen und Periodika

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Periodika

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Abkürzungsverzeichnis

ABM

Maßnahme zur Arbeitsbeschaffung / Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Archiv für alternatives Schrifttum AFG Arbeitsförderungsgesetz AFKG Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz ANBA Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, seit 1969: Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit AVAVG Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung BArch Bundesarchiv BGBl. Bundesgesetzblatt BIZ Berufsinformationszentrum BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerwG Bundesverwaltungsgericht DHSS Department of Health and Social Security EG Europäische Gemeinschaft GG Geschichte und Gesellschaft HZ Historische Zeitschrift ILO International Labour Organisation ITB Industrial Training Boards IWF Internationaler Währungsfonds JCP Job Creation Programme KDA Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt LArbA Landesarbeitsamt LArch Landesarchiv LAV NRW R Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland LSE London School of Economics and Political Science LSG Landessozialgericht MittAB Mitteilungen der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung MOP Mass Observation Project MSC Manpower Services Commission NUWM National Unemployed Workers’ Movement NJW Neue Juristische Wochenschrift OECD Organisation for Economic Co-operation and Development PER Professional and Executive Recruitment SG Sozialgericht SGB Sozialgesetzbuch SIS Stelleninformationsservice SOFI Sozialwissenschaftliches Institut Göttingen SS Social Security SSA Social Security Act STEP Special Temporary Employment Programme afas

488 TNA TOPS TUC UB UBO UK WEP YOP YTS

Abkürzungsverzeichnis

The National Archives Training Opportunities Scheme Trades Union Congress Unemployment Benefit Unemployment Benefit Office United Kingdom Work Experience Programme Youth Opportunity Programme Youth Training Scheme

Sachregister

Anwerbestopp  104, 170, 172, 360 Arbeitsamt  18, 31, 55–60, 72, 80, 99, 103 f., 107–109, 118–122, 124–130, 141, 143–145, 148–156, 158–162, 168–174, 176–178, 196–198, 207, 212–216, 219, 233 f., 243, 249, 263, 280, 283, 288, 305, 321, 328, 331, 334, 338 f., 344, 355, 358, 360, 385, 387, 422 Arbeitsbeschaffungsmaßnahme  104, 109, 215, 282, 328, 343 f. Arbeitsförderungsgesetz  80, 102–107, 118, 127, 130, 143, 171, 195–198, 209–211, 214–217, 231, 233, 287, 303 Arbeitsförderungskonsolidierungsgesetz ​ 105 f., 195, 216 f., 219 Arbeitslosengeld siehe Arbeitslosenunterstützung Arbeitslosenhilfe siehe Arbeitslosenunterstützung Arbeitslosenkongress siehe Bundes­ kongress der Arbeitslosen Arbeitslosenunterstützung  66, 103, 105 f., 108, 113, 116 f., 141, 149 f., 158, 161, 171 f., 174, 179, 208 f., 213, 217, 219–222, 224 f., 227 f., 232 f., 259, 286, 318, 387, 393, 398–400, 402 f., 406, 410, 416 Arbeitslosenzentrum  231, 233, 236, 238, 280–284, 291–294, 298 Arbeitsvermittlung  47, 55 f., 66, 104, 111, 114, 123, 125 f., 128–132, 134 f., 138 f., 141 f., 144 f., 147 f., 150 f., 158 f., 166, 176, 182, 205, 216, 297 Armut  20, 54, 74, 93, 227, 235, 290, 303, 306 f., 309, 372, 390, 399, 402, 404 f., 408–411, 413, 418, 430 AufRuhr-Festival  268 Bergbau siehe Montanindustrie

Beruf  12, 59, 90, 98, 103, 125, 133, 137 f., 143, 210 f., 215, 217, 224, 327, 332, 337–339, 351, 354 f., 358, 361–363, 371, 376, 398 Berufsausbildung  59, 101, 106, 108, 110 f., 114 f., 333, 335, 342 f., 349, 352, 360, 368, 417, 428 Berufsberatung  56, 120 f., 123, 125–127, 129, 131–133, 141–143, 145 f., 148, 334–337, 339 Berufsforschung  80 f., 109, 336 Berufsgrundbildungsjahr  106, 334, 343–345, 363 Berufsunfähigkeit  174, 384, 397 Berufsverbot  231, 317 Berufsvorbereitungsjahr  106, 334, 346, 354, 362 Berufswahl  121, 123, 132 f., 331, 333– 335, 337–339, 360 f., 417, 428 Beveridge-Report  131, 199, 221 f. British National Front  19, 255–257, 259, 277 Bundesanstalt für Arbeit siehe Arbeitsamt Bundeskongress der Arbeitslosen  263, 280, 290 Bundestag  46, 105, 212, 215, 231, 304 Bundesverfassungsgericht  218–220 Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS)  314, 332 Chaos Z  258 Chelsea  254 Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU)  47, 102, 214 f., 337, 415 Claimants’ Union  236, 243, 279, 294–298, 315 Coal not Dole  275 Commission for Racial Equality  180, 182, 184, 186

490 Common Law  201, 237 Conservative Party  47, 63, 205, 271–273, 275, 277, 296, 306–308, 415 Deklassierung  247, 250, 412, 415 f., 418 Department of Employment  62, 67 f., 111 Department of Health and Social ­Security (DHSS)  296, 308 Development area  63 Diffamierung  303, 415–417, 426 Disqualifizierung  415–418, 426, 429 Dole queue  133 f., 157, 159 f., 162 Eignungstest  334, 338 Employment Exchange  31, 131, 133– 135, 137 Enterprise Allowance Scheme  115, 316 Europäische Union (EU)  358, 402 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)  63, 172 Gastarbeiter  168, 172, 174, 358 f., 362 Gewerkschaft  13, 18, 37, 46, 49, 54, 60, 62, 102, 107 f., 110 f., 118, 134, 149–151, 198, 212–214, 230, 233, 236, 243, 264 f., 268, 271 f., 274–276, 281, 287, 289, 292, 297, 315, 319 Glückliche Arbeitslose  320–323, 424 Grundrechte  121, 192–194, 201, 217– 220, 297, 423 Hartz IV-Gesetze  22, 289, 322, 416, 420 f. Hausbesetzer  216, 237, 253, 268, 287, 289, 293, 304, 319, 322, 346, 407 ILO  55, 100–102, 221 Industrial Training Board (ITB)  110, 114 Inflation  39, 43, 45, 47 f., 50, 101, 113, 274, 390 Institute for Community Studies  166, 401 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufs­ forschung (IAB)  72, 80, 82 f., 119 f., 124, 328, 359 f., 405, 418

Sachregister

Institut zur Erforschung sozialer Chancen (ISO)  77–79, 98 Internationaler Währungsfonds (IWF)  49 f., 113, 307 IRA  246, 270 Jarrow Crusade  270, 272 f. Jobcenter  31, 66, 94, 116, 135–140, 152, 159, 163–167, 182–187, 206, 381, 417, 421 Job Creation Programme (JCP)  112 Jobseeker’s Agreement  205 f., 229 Jobseeker’s Allowance  205 Keynesianismus  39–41, 45 f., 48–50, 418 Klasse  22, 64, 176, 200, 239, 246, 248, 256, 269, 275 f., 279, 287, 319, 332, 340, 363, 365, 417 Kommunisten  262, 271, 295 Konfliktpartnerschaft  269 Labour Exchange  54, 62, 130 f., 135, 185 Labour Force Survey  67, 382, 388 Labour Party  47, 96, 277, 279, 292, 307 f., 310, 363, 401 Langzeitarbeitslosigkeit  14, 18 f., 58 f., 66 f., 76 f., 83, 85, 88 f., 101, 107–109, 112, 115 f., 139, 145, 165, 167, 236, 294, 316, 389, 402, 404, 417 Manpower Services Commission (MSC)  111 f., 114 f., 133, 135, 139, 159, 164–166, 182 f., 186, 205, 291 f., 335, 368, 370, 378 Marienthal-Studie  74–76, 78, 85, 87, 162, 240, 309 Migration  67, 106, 168–171, 173, 175–185, 187 f., 237 f., 254, 293, 339, 358–360, 363, 386, 409, 417 f., 423, 427 Monetarismus  39 f., 43, 45–47, 49 f., 204, 418 Montanindustrie  173, 179, 274, 281, 391, 395, 397, 404 National Insurance Act  62, 130, 202 f., 220, 223, 225

Sachregister

Neoliberalismus  11, 21, 23 f., 39, 50, 53, 115, 205, 384, 427 New Labour  95 New Poor Law  130, 227, 307 Newtown Neurotics  258 OECD  55, 63, 96, 100–102, 110 f., 131

Ordoliberalismus  39, 51

People’s March for Jobs  255, 272 f. Policy Studies Institute  76, 165, 184 Political and Economic Planning (PEP) ​ 76 Privatisierung  205, 261, 390 Professional and Executive Recruitment (PER)  87, 137–139, 164 Punk  246–249, 251–254, 256 f., 259 f., 320, 379 Randgruppen  57 f., 61, 106, 109, 409, 418, 421 Restart Course  116, 139 f., 167 Revolutionäre Zellen  149–151 Rheinhausen  267 f. Right to Work  243, 254, 271 f., 297 Riot  276–278 Ruhestand  14, 58, 66, 83, 104, 106, 109, 195, 214, 268, 327, 342, 378, 384–386, 389, 391, 394–398 Schiffbauindustrie  13, 265, 268 Schlüsselqualifikationen  81 Schule  110, 127, 132, 312, 327, 332–334, 341, 343–346, 348 f., 353–355, 358, 360–365, 367 f., 370 f., 374, 377–379, 381–383, 409 Schwarze Katze  233, 287, 318 Scroungerphobia  70, 307, 415 Sex Pistols  247, 249, 254 Ska  256 Skinheads  278 Social Security Act (SSA)  66, 116 f., 203–205, 226–228, 275, 294, 389 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)  44–47, 102, 105, 172, 212–214, 231, 268, 303 f. Soziale Bewegungen  31, 260 f., 291, 316, 322, 422

491 Sozialgericht  174 f., 191–193, 197 f., 207, 210, 212–214, 218 f., 233 Sozialhilfe  66, 113, 172, 194, 201, 203, 207, 220, 232, 236 f., 288–291, 294, 304, 309, 318, 338, 352 f., 355, 388, 400, 403, 406, 411 Sozialmissbrauch  66, 70, 117, 139, 193, 206, 216, 296 f., 306–309, 318 Sozialpartnerschaft  265, 269 Sozialstaat  14, 110, 113, 141, 192 f., 205, 209, 217, 303, 306, 319, 420, 430 Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut (SOFI)  35, 89, 155 f., 250 f., 285 f., 311, 313, 344, 346, 348 f., 354–356, 391, 393, 398, 406 Special Temporary Employment Programme (STEP)  112, 115, 186 Sperrfrist  106, 117, 153, 207 f., 211, 213, 215, 218, 225, 228 Stellen-Informations-Service (SIS)  128 Streik  49, 63, 111, 150, 208, 223, 260, 263 f., 271, 274 f., 287, 293, 297, 422 Subjekt  12, 14, 16, 24–27, 32, 34, 38, 60 f., 64, 71, 90–100, 118, 151, 153, 157, 167 f., 170 f., 173, 179 f., 182, 187 f., 190 f., 193 f., 200, 206, 213, 219, 229, 231, 233 f., 237–239, 242, 244, 255, 268, 270, 275, 278 f., 285, 287 f., 294, 298, 325–327, 348, 352, 366, 384, 394, 397 f., 413, 415, 417, 419–423, 425–430 Subjektivierung  13–16, 20–28, 31–33, 38, 50–52, 59, 71, 73, 82, 93 f., 97, 99, 124, 133, 135 f., 139 f., 148, 152, 167, 169, 188–191, 193 f., 200, 208, 217, 219, 226, 243, 245, 252, 257, 260, 262, 270, 284, 294, 297, 299, 309 f., 325 f., 333, 340, 365, 369 f., 373, 375 f., 384, 392, 415–417, 420–422, 426 f., 429 f. Suizid  346, 412 Supplementary Benefit  113, 203, ­236–238, 294, 296, 298, 380, 401 f., 407 Tavistock Institute for Human Relations ​ 76 The Clash  253 f. Ton, Steine, Scherben  253

492 Tories siehe Conservative Party Trades Union Congress (TUC)  112, 236, 254 f., 272–274, 291 f. Training Opportunities Scheme (TOPS)  112 Traumjob  331, 337, 351 f. Tunix-Kongress  317 f. UB 40  242, 253, 255, 259

Sachregister

Wohlfahrtsstaat  14, 20 f., 28 f., 31, 37, 39, 52, 54, 70, 72, 100, 113, 131, 199 f., 202 f., 206, 220–222, 234, 307 f., 390, 422, 426, 429 Work Experience Programme (WEP)  112 Working Class  234, 246 f., 279, 340, 365, 369, 371, 375 f.

Unemployment Benefit  66, 113, 117, 134, 205, 242, 400, 403 Unternehmerisches Selbst  24, 92, 94–98, 323, 384, 419 f.

Youth Opportunity Programme (YOP)  112, 114, 186, 379 Youth Training Scheme (YTS)  66, 114 f., 401

Vorruhestand siehe Ruhestand

Zumutbarkeit  58, 149, 196, 208–212, 214, 216 f., 219 f., 225, 303, 387, 420

Winter of Discontent  49, 274